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German Pages 327 Year 2002
RUTH HADAMEK
Art. 10 GG und die Privatisierung der Deutschen Bundespost
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 884
Art. 10 GG und die Privatisierung der Deutschen Bundespost
Von
Ruth Hadamek
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hadamek, Ruth: Art. 10 GG und die Privatisierung der Deutschen Bundespost / von Ruth Hadamek. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 884) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10742-X
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10742-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Für Angela Löcherbach geb. Gerhardus f *
Katharina Binz geb. Haas *
Ursula Löcherbach geb. Binz f *
Charlotte Ursula Renate Hadamek
Vorwort Die Gewährleistung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses in Art. 10 GG droht angesichts der sich fortlaufend revolutionierenden Kommunikationstechnologie zugunsten der moderneren grundrechtlichen Gewährleistung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in eine Randexistenz gedrängt zu werden. Durch die 1989 eingeleitete Postprivatisierung ist die Bedeutung des Grundrechts darüberhinaus insoweit in Frage gestellt worden, als ein wesentlicher Grundrechtsverpflichteter, die ehemals staatliche Deutsche Bundespost, weggefallen ist. Die vorliegende Untersuchung hat sich die Aufgabe gestellt nachzuweisen, daß Art. 10 GG nur scheinbar der klassischen Entstehungsphase der Grundrechte verhaftet ist. Er kann durch seinen partiellen Funktionswandel vom Abwehrrecht zur Schutzpflicht seinen Bedeutungsverlust abwenden. Aus diesem Grundrecht lassen sich in Verbindung mit den von der neueren Grundrechtsdogmatik entwickelten Maßstäben Vorgaben für die Einhaltung von Schutzpflichten im Privatisierungszusammenhang ableiten. Dies läßt sich als Ergebnis der Anwendung einer hier entworfenen Strukturnorm für Schutzpflichtverletzungen auf einzelne Vorschriften des Telekommunikationsgesetzes darstellen. Die Schrift habe ich in den Jahren während meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft bzw. Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Joachim Wieland an der Universität Bielefeld (1996/97) begonnen und in der ersten Erziehungszeit unserer Tochter Charlotte in Bonn und Berlin abgeschlossen. Die Arbeit hat der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld im Herbst 2000 zur Annahme als Dissertation vorgelegen. Herrn Prof. Dr. Joachim Wieland, dem Erstgutachter, danke ich auf das Herzlichste für seine stets ermutigende Haltung, die mich womöglich noch mehr als seine Anregungen in der Sache bewogen hat, mit der Arbeit auch nach Unterbrechungen fortzufahren und sie 1999/2000 noch einmal grundlegend zu überarbeiten. Wie sehr die Bedingungen und die Atmosphäre an seinem Lehrstuhl in Bielefeld wissenschaftlicher Arbeit zuträglich waren, konnte ich erst während der Arbeitsphasen am heimischen Schreibtisch ganz ermessen. Herrn Prof. Dr. Christoph Gusy danke ich herzlich für die bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens und für die weiterführenden Anregungen darin.
Vorwort
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Herrn Rechtsanwalt Dr. A. Heribert Lennartz bin ich für die kritische Lektüre der Erstfassung der Arbeit, für seine ständige Diskussionsbereitschaft und für seine ansteckende Begeisterung für wissenschaftliche Fragen zu sehr herzlichem Dank verpflichtet. Frau Susanne Schröder, Deutsche Post AG, und Herrn Christian Mielke, Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, danke ich für manche aktuelle Information in der Sache und Herrn Dr. Rupert Schaab für fachkundige Hinweise zum Literaturverzeichnis. Bei Andrea und Antje Heyer bedanke ich mich für das Korrekturlesen. Angelika und Pit Ohlig haben viel Zeit mit Charlotte verbracht, um mir die Schreibtischarbeit zu ermöglichen. A m allerherzlichsten danke ich meinem Ehemann Thomas. Seine Unterstützung war vielfältig, seine Solidarität wahrhaft partnerschaftlich, seine Zuversicht unerschütterlich und sein juristischer Sachverstand in vielen Gesprächen von unschätzbarem Wert. Dem Bundesministerium des Innern bin ich für den großzügigen Druckkostenzuschuß sehr dankbar. Berlin, im Herbst 2001
Ruth Hadamek
Inhaltsübersicht A. Das Problem I. Die Postreformen II. Fragestellung und Gang der Untersuchung III. Die mit der Privatisierung verbundene Diskussion um Art. 10 GG IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes
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B. Die I. II. III.
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Geschichte des Grundrechts und der Post Überblick über die Geschichte der deutschen Post Die Geschichte des Grundrechts Folgerungen aus der Geschichte der Post und des Postgeheimnisses....
C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung I. Unmittelbare Drittwirkung von Art. 10 GG? II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG III. Ergebnisse: Grundrechtsverpflichtung der Nachfolgeunternehmen
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D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG I. Die Diskussion um die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte . . II. Empfänglichkeit des Art. 10 GG für objektiv-rechtliche Gehalte III. Verhältnis von Schutzpflichten, Ausstrahlungs- oder Drittwirkung und Vorgaben für Organisation und Verfahren IV. Die Trennung zwischen der Schutzpflichtenfunktion und Grundrechtswirkungen für Organisation und Verfahren bei Art. 10 GG
88 88 90
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E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG I. Die allgemeine Begründung von Schutzpflichten II. Privatisierungsspezifische Begründung für Schutzpflichten III. Schutzpflichten aus Art. 10 GG
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F. Die Struktur objektiver Schutzpflichten aus Art. 10 GG: Der schutzpflichtenauslösende Tatbestand 147 I. Die Berührung des grundrechtlichen Schutzbereiches 149 II. Grundrechtsgefährdung 151 G. Die Rechtsfolgenseite, insbesondere die Maßstäbe für die Erfüllung von Schutzpflichten 156 I. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 156 II. Entschließungsermessen? 157 III. Die Art des Schutzes 157 IV. Die Maßstäbe für die Erfüllung von Schutzpflichten 161 V. Selbstschutz als Grenze der Schutzpflicht: Verschlüsselung 174
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Inhaltsübersicht VI. Zusammenfassung: Der bei Art. 10 GG an die Erfüllung der Schutzpflicht anzulegende Maßstab 179
H. Subjektive Rechte aus grundrechtlichen Schutzpflichten gem. A r t 10 GG 180 I. Die Ansichten zur Subjektivität der Schutzpflichten 180 IL Bewertung der Begründungswege 188 III. Justitiabilität: Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde 190 J. Der Schutzbereich von Art. 10 GG und Eingriffe I. Der persönliche Schutzbereich II. Der sachliche Schutzbereich III. Eingriffe in Art. 10 GG IV. Abgrenzung zu anderen Grundrechten K. Erfüllung von Schutzpflichten nach der bestehenden Gesetzeslage: Zentrale Regelungsbeispiele aus dem Telekommunikationsgesetz I. Die Systematik der §§ 85 ff. TKG II. Das Fernmeldegeheimnis, § 85 TKG IK. Schutzpflichtverletzung durch § 87 TKG? IV. Datenschutz in der Telekommunikation, § 89 TKG V. Schutz durch Organisation und Verfahren VI. Die Erfüllung privatisierungsbedingter Schutzpflichten bei der Telekommunikationsüberwachung VII. Ergebnis des Anwendungsteils
198 198 205 220 221 232 232 236 249 257 277 289 303
Literaturverzeichnis
305
Sachwortverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis A. Das Problem I. Die Postreformen II. Fragestellung und Gang der Untersuchung III. Die mit der Privatisierung verbundene Diskussion um Art. 10 GG 1. Die Diskussion zur ersten Postreform: Verfassungsrechtliche Lösung? 2. Die Diskussion zur zweiten Postreform: Einfach-rechtlicher Schutz von Art. 10 GG 3. Die Diskussion zur dritten Reformstufe: Der Meinungsstand 4. Zusammenfassung und offene Fragen IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes 1. Die normativen Bedingungen im dritten Reformabschnitt a) Europäisches und internationales Recht b) Nationales Recht 2. Die tatsächlichen Bedingungen im dritten Reformabschnitt: Verbreitung neuer Technik und Dienste, mehr Wettbewerb 3. Schutzbedarf für Art. 10 GG a) Die Einschaltung Privater in Überwachungsvorgänge b) Gefährdungen unter Privaten. aa) Gefährdungen durch Anbieter bb) Gefährdungen durch andere Teilnehmer c) Fazit B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post I. Überblick über die Geschichte der deutschen Post 1. Die Thum- und Taxissche Post 2. Das Ende der Taxisschen Post und die Konkurrenz durch die Territorien 3. Die preußische Post 4. Die Deutsche Reichspost 5. Die Deutsche Bundespost II. Die Geschichte des Grundrechts 1. Die strafrechtlichen Wurzeln des Briefgeheimnisses 2. Der Schutz des Postgeheimnisses in den preußischen Postordnungen von 1712 und 1782 . 3. Von den Anfängen verfassungsrechtlicher Kodifikation bis zur Weimarer Reichs Verfassung a) § 142 der Paulskirchenverfassung
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Inhaltsverzeichnis aa) Die Frage des Gesetzesvorbehaltes bb) Brief- oder Postgeheimnis: Entstehung des Kompensationsgedankens cc) Gewährleistung oder Unverletzlichkeit? b) Die anschließenden Verfassungen 4. Art. 117 WRV a) Das Postgeheimnis (Briefgeheimnis im engeren Sinn) b) Das Briefgeheimnis im weiteren Sinn c) Der Rechtszustand nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bis zum 23. Mai 1949 d) Das Grundrecht in der Deutschen Demokratischen Republik.... 5. Entstehungsgeschichte des Art. 10 GG a) Der Entwurf von Herrenchiemsee b) Art. 10 GG im Parlamentarischen Rat aa) Die einzelnen Gewährleistungsbereiche bb) Der Gesetzesvorbehalt 6. Die Einfügung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG III. Folgerungen aus der Geschichte der Post und des Postgeheimnisses.... 1. Positivierung als Reaktion auf staatliche Eingriffstätigkeit 2. Zusammenhang der Geschichte des Grundrechts und der organisatorischen Entwicklung der deutschen Post a) Grundrechtsschutz und staatliches Monopol b) Das Schutzbedürfnis in den Fällen des privaten Monopols und der Liberalisierung der Postdienste 3. Historische Festlegung auf den Abwehrrechtscharakter? 4. Hinweise aus der Entstehungsgeschichte auf andere Grundrechtsfunktionen, insbesondere auf Schutzpflichten aus Art. 10 GG
C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung I. Unmittelbare Drittwirkung von Art. 10 GG? II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG 1. Indienstnahme Privater a) Zustellung durch private Postdienstunternehmen b) Die Einschaltung privater Anbieter in die Kommunikationsüberwachung 2. Die Nachfolgeunternehmen a) Die Fiskalgeltung der Grundrechte b) Typologie der Privatisierungsformen aa) Die Deutsche Post AG: Die Grundrechtsbindung bei alleiniger Anteilseignerschaft des Bundes (1) Die Argumente aus Art. 87f und Art. 143b GG gegen die Grundrechtsbindung der Deutschen Post AG (2) Materielle Privatisierung als Zielvorstellung (3) Funktionale Betrachtung des Privatisierungsstadiums...
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Inhaltsverzeichnis bb) Die Deutsche Telekom AG: Grundrechtsbindung bei beherrschender staatlicher Beteiligung III. Ergebnisse: Grundrechtsverpflichtung der Nachfolgeunternehmen D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG I. Die Diskussion um die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte . . 1. Die Kritik an der Ausweitung objektiv-rechtlicher Gehalte 2. Das hier gewählte Vorgehen II. Empfänglichkeit des Art. 10 GG für objektiv-rechtliche Gehalte 1. Die Unverletzlichkeitsanordnung in Art. 10 Abs. 1 GG a) Entstehungsgeschichtliche Aspekte b) Textbefund im Grundrechtsteil 2. Objektiv-rechtliche Gehalte von Art. 10 GG in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 3. Der Charakter von Art. 10 GG als Prinzip mit Optimierungsgebot nach Alexy 4. Zusammenfassung III. Verhältnis von Schutzpflichten, Ausstrahlungs- oder Drittwirkung und Vorgaben für Organisation und Verfahren 1. Ausstrahlungswirkung a) Ausstrahlungswirkung und Drittwirkung b) Ausstrahlungswirkung und Schutzpflicht 2. Schutzpflichten a) Bipolarität oder Grundrechtsdreieck? b) Schutzpflichtentypische Dreieckskonstellation bei der Kommunikationsüberwachung? c) Folgerungen für den untersuchten Normenkreis 3. Grundrechts Wirkungen für Organisation und Verfahren IV. Die Trennung zwischen der Schutzpflichtenfunktion und Grundrechtswirkungen für Organisation und Verfahren bei Art. 10 GG E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG I. Die allgemeine Begründung von Schutzpflichten 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Schutzpflichten aus allen Grundrechten b) Die Begründungselemente 2. Darstellung der Begründungselemente aus Rechtsprechung und Literatur und Bewertung ihrer Tragfähigkeit a) Staatstheorie, Ideen- und Grundrechtsgeschichte b) Die Grundrechtsimmanenz c) Der Wertordnungsgedanke und die Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte aa) Der Wertordnungsgedanke bb) Die Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte d) Die Begründungsfunktion von Art. 1 Abs. 1 GG
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Inhaltsverzeichnis aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bb) Die Lehre cc) Analyse der Begründungsfunktion von Art. 1 Abs. 1 GG.. . dd) Folgerungen für Art. 10 GG e) Die Ableitung von Schutzpflichten aus der abwehrrechtlichen Dimension (Murswiek) 3. Resultate aus der allgemeinen Begründung von Schutzpflichten für Art. 10 GG II. Privatisierungsspezifische Begründung für Schutzpflichten 1. Grundrechtliche Schutzpflichten als Staatsaufgabenbeschreibungen . a) Staatsaufgaben als juristischer Bezugspunkt der Privatisierungsdiskussion b) Staatsaufgaben und Privatisierung in ihrem Verhältnis zu den Grundrechten aa) Grundrechte und Privatisierung bb) Grundrechte und Staatsaufgaben 2. Die Ingerenzpflicht a) Der Ingerenzbegriff und die ursprüngliche Begründung der Ingerenzpflicht mit dem Demokratieprinzip b) Die Ingerenzpflicht in der neueren Privatisierungsdiskussion.... c) Analyse des Ingerenzgedankens aa) Das Kausalitätsargument bb) Die grundrechtliche Fundierung der Ingerenzpflichten 3. Zwischenergebnis ID. Schutzpflichten aus Art. 10 GG
F. Die Struktur objektiver Schutzpflichten aus Art. 10 GG: Der schutzpflichtenauslösende Tatbestand I. Die Berührung des grundrechtlichen Schutzbereiches II. Grundrechtsgefährdung 1. Gleichstellung schutzpflichtenspezifischer Grundrechtsgefährdung mit abwehrrechtlichem Eingriffsbegriff? 2. Die Kriterien in Rechtsprechung und Literatur 3. Die inhaltliche Ausfüllung des Gefährdungskriteriums: Die Notwendigkeit der Zuordnung von Grundrechtspositionen unter Privaten . . . G. Die Rechtsfolgenseite, insbesondere die Maßstäbe für die Erfüllung von Schutzpflichten I. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers II. Entschließungsermessen? III. Die Art des Schutzes 1. Keine Subsidiarität strafrechtlichen Schutzes 2. Schutzmodalitäten nach dem Konzept gestufter Verwaltungsverantwortung
120 121 124 126 127 129 130 131 132 134 134 135 137 137 141 142 142 144 145 145 147 149 151 151 153 155 156 156 157 157 158 159
Inhaltsverzeichnis IV. Die Maßstäbe für die Erfüllung von Schutzpflichten 1. Ausgangsbasis: Die Absage an umfassenden Schutz 2. Die mittleren Maßstäbe a) Einhaltung des abwehrrechtlichen Schutzniveaus b) Schutzoptimum c) Ablehnung des ingerenzverhafteten Status-quo-ante-Maßstabes. . 3. Maßstäbe im unteren Bereich: Evidenz, Wirksamkeit, Untermaß . . . a) Das Untermaßverbot b) Die Analyse des Untermaßverbotes aa) Die Reaktionen in der Literatur bb) Die näheren Umstände der Begriffsprägung cc) Die Rolle der Zuordnung in der verfassungsgerichtlichen Prüfung der Schutzpflichtenerfüllung (1) Subsumtion unter die Evidenzformel und das Untermaßverbot (2) Zuordnungsentscheidungen (3) Evidenzformel und Zuordnung c) Zwischenergebnis V. Selbstschutz als Grenze der Schutzpflicht: Verschlüsselung 1. Die Kryptokontroverse 2. Vorgaben aus dem Schutzpflichtenauftrag aus Art. 10 GG für die Kryptoregulierung 3. Beschränkung der Schutzpflichten aus Art. 10 GG durch Verschlüsselung? VI. Zusammenfassung: Der bei Art. 10 GG an die Erfüllung der Schutzpflicht anzulegende Maßstab H. Subjektive Rechte aus grundrechtlichen Schutzpflichten gem. Art. 10 GG I. Die Ansichten zur Subjektivität der Schutzpflichten 1. Das Bundesverfassungsgericht 2. Die Lehre a) Die Einwände gegen Schutzansprüche b) Entkräftung der Einwände c) Positive Begründung von Schutzansprüchen aa) Optimierung der Grundrechtswirkung bb) Begründung aus dem Charakter der Grundrechte als Menschenrechte cc) Differenzierungen anmahnende Auffassungen II. Bewertung der Begründungswege III. Justitiabilität: Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde 1. Gesetzgeberisches Unterlassen als Beschwerdegegenstand a) Relatives (unechtes) Unterlassen b) Absolutes (echtes) Unterlassen
161 161 162 162 163 164 165 165 167 167 168 170 170 171 173 174 174 175 177 178 179 180 180 180 182 183 184 185 186 187 188 188 190 191 192 192
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Inhaltsverzeichnis c) Bewertung 2. Das Erfordernis der Unmittelbarkeit 3. Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit 4. Perspektiven
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J. Der Schutzbereich von Art. 10 GG und Eingriffe 198 I. Der persönliche Schutzbereich 198 1. Natürliche Personen 198 2. Juristische Personen 199 a) War die Deutsche Bundespost grundrechtsberechtigt? 200 aa) Die Argumente 200 bb) Stellungnahme 201 b) Grundrechtsberechtigung nach der zweiten Postreform 203 IL Der sachliche Schutzbereich 205 1. Gemeinsamkeiten der Gewährleistungsbereiche 205 a) Schutzgut und Schutzumfang 205 b) Immanente Grenzen 207 c) Verzichtbarkeit 208 2. Art. 10 Abs. 1 GG als einheitliches Grundrecht? 210 3. Verschiedene Gewährleistungsbereiche in Art. 10 Abs. 1 GG 211 a) Die Abgrenzung vor der Privatisierung 211 b) Die Abgrenzung nach der Privatisierung: Wegfall des Postgeheimnisses? 212 c) Der Inhalt der Geheimnisbereiche im einzelnen 215 aa) Das Postgeheimnis 215 bb) Das Briefgeheimnis 215 cc) Das Fernmeldegeheimnis 216 (1) Grenzfälle, insbesondere die Computertelefonie 218 (2) Verzicht auf das Echtzeiterfordernis im Rahmen des Art. 10 GG 219 III. Eingriffe in Art. 10 GG 220 IV. Abgrenzung zu anderen Grundrechten 221 1. Der Schutz der Privatheit 221 a) Die Unverletzlichkeit der Wohnung gem. Art. 13 GG 222 b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG 223 aa) Die Spezialität des Art. 10 GG 223 bb) Die Erstreckung der Geltung des Art. 10 GG auf die weitere Verwendung von Kommunikationsdaten 226 cc) Die Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG 228 c) Folgerung: Die Nähe des Art. 10 GG zu Art. 1 Abs. 1 GG 229 2. Die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 1,1. Alt. GG 230 3. Die Rundfunkfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. GG 230
Inhaltsverzeichnis K. Erfüllung von Schutzpflichten nach der bestehenden Gesetzeslage: Zentrale Regelungsbeispiele aus dem Telekommunikationsgesetz I. Die Systematik der §§ 85 ff. TKG 1. Die Vorschriften 2. Systematische Friktionen - Schutzpflichtverletzung? II. Das Fernmeldegeheimnis, § 85 TKG 1. Gegenstand des Fernmeldegeheimnisses, § 85 Abs. 1 TKG 2. Die Adressaten, § 85 Abs. 2 TKG a) Der persönliche Geltungsbereich von § 85 Abs. 2 TKG und die Schutzpflicht aus Art. 10 GG aa) Berührung des Schutzbereiches bb) Grundrechtsgefährdung cc) Evidentes Schutzdefizit b) Der sachliche Geltungsbereich 3. Die Verhaltensregeln, § 85 Abs. 3 TKG a) Überblick b) Kritik aa) „... oder andere", § 85 Abs. 3 Satz 1 TKG bb) Das „für die geschäftsmäßige Erbringung der Telekommunikationsdienste erforderliche Maß", § 85 Abs. 3 Satz 1 TKG 4. Ergebnis in. Schutzpflichtverletzung durch § 87 TKG? 1. Überschneidungen mit dem Post- und Telekommunikationssicherstellungsgesetz und den §§ 85 und 89 TKG 2. Ist eine Verlagerung der Zuordnungsentscheidung auf die Erstellung des Kataloges von Sicherheitsanforderungen gem. § 87 Abs. 1 Satz 3 TKG unter Schutzpflichtgesichtspunkten zulässig? a) Die Zulässigkeit der Delegierung von Zuordnungsentscheidungen b) Liegt in § 87 Abs. 1 TKG eine Delegierung der Zuordnungsentscheidung? 3. Verfahrensrechtliche Absicherung von § 87 TKG und des Kataloges von Sicherheitsanforderungen a) Die Befugnisse der Regulierungsbehörde b) Bewertung IV. Datenschutz in der Telekommunikation, § 89 TKG 1. Die Regelungen des § 89 TKG im Überblick 2. Daten gem. § 89 TKG 3. Die Bestimmung des Adressatenkreises telekommunikationsspezifischen Datenschutzes im Spannungsfeld zwischen alter Verordnung und neuer Ermächtigung a) Der Kreis der Verpflichteten gem. § 89 Abs. 1 TKG 2 Hadamek
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Inhaltsverzeichnis b) Der Kreis der Verpflichteten gem. § 1 Abs. 1 Satz 2 TDSV 1996 c) Die Auflösung der Diskrepanz 4. Keine Möglichkeit anonymer Nutzung - Schutzpflichtverletzung? . . a) Das Argument aus § 90 Abs. 1 TKG b) Schutzbereichsberührung und Grundrechtsgefährdung c) Evidentes Schutzdefizit d) Ergebnis 5. Weitergabe von Verbindungsdaten zum Inkasso - Schutzpflichtverletzung? a) Berührung des Schutzbereiches b) Grundrechtsgefährdung c) Nichteinhaltung des Evidenzmaßstabes aa) Zuordnung bb) Evidentes Schutzdefizit 6. Ergebnis V. Schutz durch Organisation und Verfahren 1. Die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post a) Die Wahrung des Fernmeldegeheimnisses als vorrangiges Regulierungsziel b) Das System der Befugnisse zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses und des Datenschutzes c) Bewertung d) Die regulatorische Praxis aa) Die Statusproblematik bb) Die Tätigkeit der Regulierungsbehörde in bezug auf das Fernmeldegeheimnis und den Datenschutz cc) Die innere Organisation der Behörde e) Zusammenfassung 2. Die Kontrolle durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz . . a) § 91 Abs. 4 TKG b) Die tatsächliche Wirkung der Kontrolle 3. Ergebnis VI. Die Erfüllung privatisierungsbedingter Schutzpflichten bei der Telekommunikationsüberwachung 1. Die der Überwachung zugrundeliegende Personenkonstellation 2. Die technische Umsetzung von Überwachungsmaßnahmen gem. § 88 TKG: Schutzpflichtverletzung durch das Nichterlassen einer Telekommunikations-Überwachungsverordnung? a) Die fehlende Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens nach § 88 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 TKG b) Berührung des Schutzbereiches c) Grundrechtsgefährdung d) Evidentes Schutzdefizit
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Inhaltsverzeichnis 3. Auskunftsersuchen gem. § 90 TKG a) Kritik am Abrufverfahren b) Der institutionelle Schutzmechanismus gem. Art. 10 GG c) Der institutionelle Schutzmechanismus unter den Bedingungen der Privatisierung d) Umgehung des institutionellen Schutzmechanismus im Rahmen des automatischen Abrufverfahrens gem. § 90 TKG? 4. Ergebnis VII. Ergebnis des Anwendungsteils
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Literaturverzeichnis
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Sachwortverzeichnis
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A. Das Problem I. Die Postreformen Motiviert durch Gemeinschaftsrecht, 1 die international fortschreitende Öffnung der Kommunikationsmärkte 2 und Gründe der Wirtschaftsförderung 3 ist 1989 mit der ersten Postreform der dreistufige Privatisierungsprozeß der Deutschen Bundespost eingeleitet worden. Das am 1. Juli 1989 in Kraft getretene Poststrukturgesetz vom 8. Juni 1989, Bestandteil der ersten Postreform, hatte zunächst die Trennung des hoheitlichen und politischen Aufgabenbereiches einerseits von dem betrieblich-unternehmerischen Teil der Postaufgaben andererseits zum Gegenstand.4 Der erstgenannte Bereich verblieb bei dem Bundesministerium für Post und Telekommunikation, der letztere wurde den drei Unternehmen Telekom, Postdienst und Postbank übertragen, 5 welche in der Zeit zwischen den beiden Postreformen Teilsondervermögen 6 des Bundes waren. Es blieb bei dem Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG a.F., nach dem die Bundespost Gegenstand bundeseigener Verwaltung war. 7 1
Vgl. das (erste) Grünbuch über die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes für Telekommunikationsdienstleistungen und Telekommunikationsgeräte - KOM (87) 290, BT-Drs. 11/930, entsprechend Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für das Post- und Fernmeldewesen (15. Ausschuß), BT-Drs. 11/2014, ferner: Kühn/Reimann, Postreform II, S. 3 Buchst, b) zu der europarechtlichen Motivation der zweiten Postreform. 2 Man denke an die vielfältigen grenzüberschreitenden Beteiligungen an Telekommunikationsgesellschaften, auf die im Zusammenhang mit der geplanten Fusion der Deutschen Telekom mit der Telecom Italia aufmerksam gemacht wurde, Frankfurter Rundschau Nr. 91 vom 20.4.1999, S. 13. Auch die Deutsche Post AG ist mittlerweile durch die Einkäufe ausländischer Unternehmen international engagiert: In der Schweiz und den Niederlanden, Handelsblatt (Nr. 77) vom 22.4.1999, S. 17. 3 Kühn/Reimann, Postreform II, S. 2 ff. 4 Gesetz zur Neustrukturierung des Post- und Fernmeldewesens und der Deutschen Bundespost (Poststrukturgesetz) vom 8.6.1989 (BGBl. I S. 1026), im folgenden auch: Postreform I. Vgl. zu den Gesetzesänderungen im Zuge der Postreformen I und II z.B. Grämlich, NJW 94, 2785; Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, S. 181 ff.; Schulz, JA 1995, 417; Stern/Geerlings, Kommentar Postrecht, Teil B, Rn. 74 ff. Auf zehn Jahre Postreform zurückblickend Büchner, Post und Telekommunikation (1999). 5 § 1 Abs. 2 Postverfassungsgesetz (PostVerfG) vom 8. Juni 1989 (BGBl. I S. 1026). 6 Vgl. § 2 Abs. 2 Satz 2 PostVerfG.
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A. Das Problem
Erst die Änderung des Art. 87 GG sowie die Einfügung der Art. 87f und Art. 143b GG schufen den verfassungsrechtlichen Rahmen für die Überführung der staatlichen Teilsondervermögen in Unternehmen privater Rechtsform. Die Bundespost wurde von den Gegenständen unmittelbarer Bundesverwaltung in Art. 87 GG ausgenommen, die Restbestände hoheitlicher Tätigkeit im Bereich der ehemaligen Bundespost wurden in Art. 87f GG festgelegt und Modalitäten für die Privatisierung in Art. 143b GG normiert. Der im Rahmen der zweiten Postreform 8 in das Grundgesetz eingefügte Art. 87f GG bestimmt nunmehr in seinem Abs. 2 Satz 1, daß Dienstleistungen im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation privatwirtschaftliche Tätigkeiten sind. Mit der dritten Stufe der Postreform ist beabsichtigt, die Monopole im Post- und Telekommunikationswesen zu beschränken bzw. abzubauen. Dabei war der Gesetzgeber gemeinschaftsrechtlich 9 gehalten, die Liberalisierung der öffentlichen Sprachtelefondienste ab dem 1. Januar 1998 durchzuführen. 10 Zur Erfüllung dieser Verpflichtung ist das Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 31. Juli 1996 11 erlassen worden. 12 Das Postgesetz (PostG) vom 22. Dezember 1997 13 sieht noch eine bis Ende 2002 befristete 7
Zu Art. 87 a.F. GG und der Deutschen Bundespost zwischen den ersten beiden Postreformen Mayer, Leistungsbehörde, 1990. 8 Gesetz zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation (Postneuordnungsgesetz-PTNeuOG) vom 14.9.1994 (BGBl. I S. 2325). Im folgenden auch: Postreform II. 9 Aufgrund der Entschließung des Rates vom 22. Juli 1993 (ABl. EG Nr. C 213, S. 3) war das Fernmeldeanlagengesetz (FAG) bis zum 31.12.1997 befristet worden, § 28 FAG. Siehe ferner: Richtlinie 90/387/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 zur Verwirklichung des Binnenmarktes für Telekommunikationsdienste durch Einführung eines offenen Netzzugangs (Open Network Provision - OPN), ABl. EG Nr. L 192 vom 24.7.1990, S. 1; Richtlinie 90/388/EWG der Kommission vom 28. Juni 1990 über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsdienste, ABl. EG Nr. L 192, S. 10. 10 Daher waren durch die Postreform II das Fernmeldeanlagengesetz (FAG) vom 3.7.1989 (BGBl. I S. 1455) in der Fassung des Postneuordnungsgesetzes und das Postgesetz (PostG) i.d.F. d. Bekanntmachung vom 3.7.1989 (BGBl. I S. 1449), ebenfalls geändert durch das Postneuordnungsgesetz, in ihrer Geltungsdauer bis zum Ablauf des Jahres 1997 beschränkt worden, § 31 PostG, und § 28 FAG. Bis zum 31.12.1997 ist auch nur die Zuständigkeit des Bundesbeauftragten für Datenschutz (BfD) für den Telekommunikationsbereich verlängert worden, vgl. S. 36 f. des 15. Tätigkeitsberichts des Bundesbeauftragten für den Datenschutz (BfD). 11 BGBl. I S. 1120. 12 Dies beruht auf einer Änderung des § 1 Abs. 4 Fernmeldeanlagengesetz (FAG) durch § 99 Abs. 1 Nr. 1 b) TKG, wodurch der Deutschen Telekom AG bis zum Ablauf des Jahres 1997 das ausschließliche Recht gewährt wurde, Sprachtelefondienst zu erbringen. 13 BGBl. I S. 3294.
II. Fragestellung und Gang der Untersuchung
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Exklusivlizenz für die Beförderung von unter 200 Gramm schweren Briefen und adressierten Katalogen zugunsten der Deutschen Post A G vor. 1 4 Die Frage, ob und in welchem Umfang die Exklusivlizenz verlängert werden wird, ist im Zusammenhang mit den Vorschlägen der Kommission der Europäischen Union für eine schrittweise Öffnung der Postmärkte bereits aufgeworfen worden. 15
II. Fragestellung und Gang der Untersuchung Die Frage ist, welche Bedeutung Art. 10 GG vor dem im Sinn von Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG privatwirtschaftlichen Hintergrund zukommt. Über seine klassische Funktion als Abwehrrecht des einzelnen gegenüber dem Staat hinaus könnte Art. 10 GG nunmehr im Rahmen einer objektivrechtlichen Funktion (unten D.) staatliche Schutzpflichten zu entnehmen sein (unten E.). Die Untersuchung der Struktur von Schutzpflichten aus Art. 10 GG (unten F. und G.) wird ergeben, daß eine Orientierung an den abwehrrechtlichen Kategorien von Schutzbereich und Eingriff auch im Rahmen der Schutzpflichtenfunktion erforderlich ist. In diesem Zusammenhang wird auch behandelt, ob aus der Verletzung objektiver Schutzpflichten aus Art. 10 GG Schutzansprüche (Schutzgewährrechte) folgen können (unten H.). Der Schutzbereich von Art. 10 GG und die typischen Eingriffe werden als Vorlage für den abschließenden Anwendungsteil dargestellt (unten J.). Als Vorschriften, auf die die erlangten Ergebnisse angewendet werden sollen, sind Regelungen aus dem elften Teil des Telekommunikationsgesetzes 16 ausgewählt worden. Sie werden anhand des herausgearbeiteten Maßstabes für die Erfüllung von Schutzpflichten auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft (unten K.). Außerdem könnten Art. 10 GG Vorgaben für den verfahrensrechtlichen Schutz des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu entnehmen sein (unten K. V ) . 1 7 Zunächst aber soll nach einem Überblick über den Diskussionsstand und die Konfliktfälle (A. III. und IV.) versucht werden, aus der Geschichte des Grundrechts Vorgaben für den Untersuchungsgegenstand abzuleiten (unten B.) und Fragen zur Grundrechtsverpflichtung zu klären (unten C.).
14
§ 53 Abs. 1 Satz 1 PostG. Vgl. etwa Frankfurter Rundschau (Nr. 126) vom 31.5./1.6.2000, S. 11. 16 §§ 85 ff. TKG. 17 Diese Frage wird wegen ihrer Nähe zu den Schutzpflichten (dazu unten D. III. 3. und IV.) jeweils im Zusammenhang mit der Frage geprüft, ob eine Schutzpflichtverletzung vorliegt. 15
A. Das Problem
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III. Die mit der Privatisierung verbundene Diskussion um Art. 10 GG 1. Die Diskussion zur ersten Postreform: Verfassungsrechtliche Lösung? Art. 10 GG wurde in die Diskussion vor der ersten Postreform unter der Fragestellung einbezogen, ob er Vorgaben für die Verfaßtheit der Deutschen Bundespost enthalte. 18 Zum einen wurde in der Literatur die Ansicht vertreten, Art. 10 GG enthalte keine zwingende Aussage über die Organisationsform der Deutschen Bundespost. 19 Einschränkender meinten einige Autoren, nur soweit die Deutsche Bundespost in den wesentlichen Dienstleistungsbereichen Aufgaben der Daseins Vorsorge erfülle, stünden Art. 10 G G 2 0 oder andere Grundrechte 21 der Privatisierung entgegen. Einhellig erwartete man ein Defizit an Grundrechtsschutz für die Zeiten der Privatisierung. Die Meinungen gingen aber darüber auseinander, ob dieses Defizit durch gesetzgeberische Maßnahmen oder mittels anderer Grundrechtswirkungen behoben werden könnte. Überwiegend erschien den Autoren der Grundrechtsschaden durch den Erlaß von Vorschriften des einfachen Rechts reparabel. 22 Die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Schutz des Art. 10 GG wurde in erster Linie mit dem Benutzungszwang begründet, weniger mit dem Grundrecht selbst. 23 Damit ist der mit der Geschichte des Briefgeheimnisses eng verknüpfte Kompensationszusammehhang angesprochen: Im Gegenzug zu der zum Monopolerhalt notwendigen Benutzungsverpflichtung schulde der Staat den Postbenutzenden den Diskretionsschutz. 24 18
Auf diese Fragestellung hat am Rande ihrer Untersuchung zu Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG hingewiesen, Mayer, Leistungsbehörde, S. 14 mit Fn. 5. 19 A. Arndt, ArchPF 1970, 3 (5); Lerche/P estalozza, Bundespost als Wettbewerber, S. 31. 20 So Wiechert,, Jahrb. DBP 1986, 119 (126); Wussow, RiA 1981, 107 (108). 21 Roßnagel/Wedde, DVB1. 1988, 562 (565); Schatzschneider, NJW 1989, 2371 (2373): Art. 12 GG. 22 Vgl. z.B. Alke, DuD 1989, 445 (446): „Es kommt daher im wesentlichen darauf an, daß die Vorschriften zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses auch für künftige private Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen Verbindlichkeit haben und ihre Verletzung unter Strafandrohung gestellt wird." 23 A. Arndt, ArchivPF 1970, 3 (6). Roßnagel/Wedde, DVB1. 1988, 562 (565) sehen im Hinblick auf die Grundversorgung die Schutzfunktion der Grundrechte herausgefordert. 24 s. u. B. IL a) bb) und III. 2. und 3.
III. Die Diskussion um Art. 10 GG
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Teilweise wurden strafrechtliche Schutzvorschriften als ausreichend angesehen,25 besondere gesetzliche Grundlagen für die Überwachung durch Sicherheitsbehörden und Geheimdienste angemahnt und Regelungslücken aufgezeigt 26 oder hinsichtlich der bereichsspezifischen datenschutzrechtlichen Verordnungen aufgrund § 30 PVerfG auf den Wesentlichkeitsgrundsatz aufmerksam gemacht. 27 Vereinzelt wurde als eine verfassungsrechtliche Lösung die Ausweitung von Art. 10 GG angesprochen. 28 Soweit ersichtlich sah aber allein Fangmann in Art. 10 GG ein absolutes Hindernis für die Postprivatisierung. Privatisierung sei allgemein ein die „Nichtanwendung der Grundrechte, besonders des Datenschutzes" bewirkender Vorgang. 29 Er forderte, daß der Gesetzgeber dem Postbenutzer durch die öffentlich-rechtlich ausgestaltete Grundversorgung mit Telekommunikationsdiensten die Möglichkeit erhalten müsse, dem Verlust seines Datenschutzrechtes gegenüber einem privaten Anbieter zu entgehen; anderenfalls sei die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG nicht erfüllt. 3 0 2. Die Diskussion zur zweiten Postreform: Einfach-rechtlicher Schutz von Art. 10 G G Gleichsam als Anwälte des Art. 10 GG sind die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder im Gesetzgebungsverfahren zum Postneuordnungsgesetz aufgetreten. Vergeblich forderten sie einen verfassungsrechtlichen Ausgleich für den Verlust eines „historisch gewachsenen wesentlichen Adressaten des grundrechtlich geschützten Post- und Fernmeldegeheimnisses." 31 Als verfassungsrechtliche Lösung schlug der Bundesdatenschutzbeauftragte Jacob in den Ausschußberatungen eine Wortlautergänzung des 25 So A. Arndt, ArchPF 1970, 3 (5). Nicht abgedeckt ist damit aber das Risiko staatlicher Eingriffe z.B. bei Durchführung des G 10 und bei Maßnahmen nach §§99 ff. StPO. Kritisch zum lückenlosen strafrechtlichen Schutz angesichts des § 354 StGB a. F. Müller-Dehn, DVB1. 863 (866). 26 Schatzschneider, NJW 1989, 2371 (2373/2374). 27 Hustädt/Bach, DuR 1989, 294 (303/304). Vgl. a. BVerfGE 85, 386 (400 ff.) Fangschaltung: Das Bundesverfassungsgericht hielt § 30 PostVerfG für eine nicht gem. Art. 80 GG ausreichende Ermächtigungsgrundlage. 28 Schapper/Schaar, CR 1994, 309 (312): Art. 10 GG solle auf alle Informationen ausgeweitet werden, die bei privaten Diensteanbietern anfallen. Unklar bleibt dabei, ob die Autoren damit eine verfassungsrechtliche Lösung in Form einer Wortlautänderung des Art. 10 Abs. 1 GG meinen (dazu sogleich unter 2.), oder ob sie nur für seine extensive Auslegung („Ausweitung") eintreten. 29 Fangmann, RDV 1988, 53 (62) formuliert: „Jede Privatisierung ... entzieht demjenigen, der Kommunikationsdienstleistungen in Anspruch nimmt, den unmittelbaren Grundrechtsschutz. Im Ergebnis bewirkt die Privatisierung die Nichtanwendung der Grundrechte, besonders des Datenschutzes." 30 Fangmann, RDV 1988, 53 (62).
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A. Das Problem
Art. 10 GG um die Anordnung einer unmittelbaren Drittwirkung oder einen entsprechenden Hinweis in Art. 87f GG vor. 3 2 Andernfalls sei der Wesentlichkeitsgrundsatz des Art. 19 Abs. 2 GG verletzt, da mit dem Wegfall eines wesentlichen Adressaten die Aushöhlung des Grundrechts drohe. 33 Unter Berufung auf den Ausnahmecharakter einer solchen verfassungsrechtlichen Lösung, die allenfalls in Art. 9 Abs. 3 GG ein Vorbild gehabt hätte, auf die vorrangige Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte und auf die prozessualen Folgen setzte sich aber die vom Bundesministerium für Post und Telekommunikation bevorzugte einfach-gesetzliche Lösung durch, Art. 10 GG als staatlichen Schutzpflichtenauftrag zu verstehen. 34 Die Vertreter der unterschiedlichen Lösungen waren sich darüber einig, daß das Schutzniveau nicht herabgesetzt werden dürfe, 35 wobei auf den Einwand des Bundesdatenschutzbeauftragten nicht eingegangen wurde, der einfachrechtliche Schutz sei gegenüber dem grundrechtlichen von minderer Qualität. In der Literatur findet sich überwiegend Zustimmung zu der einfachrechtlichen Lösung. 36 Vereinzelt geblieben ist der Vorschlag, wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Rundfunk und Telekommunikation 37 eine Parallele zu der Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu 31
Roy, DuD 1995, 135; Rieß, Telekommunikationsrecht, S. 215. Vgl. a. den Beschluß der 47. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder zum PTNeuOG, abgedruckt im 15. Tätigkeitsbericht des Bfl), Anhang 6. 32 Vgl. die Redebeiträge von Jacob im unveröffentlichten Kurzprotokoll der 62. Sitzung des Ausschusses für Post und Telekommunikation vom 27.4.1994, S. 19 und 22. Garstka, Landesbeauftragter für Datenschutz, Berlin, schlug alternativ die Aufnahme eines ausdrücklichen staatlichen Schutzauftrages nach dem Vorbild des Art. 6 Abs. 5 GG vor, Kurzprotokoll S. 21; ähnlich Schräder, CR 1994, 427 (429/ 430). 33 Redebeitrag Jacob, Kurzprotokoll der 62. Sitzung des Ausschusses für Post und Telekommunikation vom 27.4.1994, S. 19. 34 Kurzprotokoll der 62. Sitzung des Ausschusses für Post und Telekommunikation vom 27.4.1994 S. 24 und 29. Dem zuneigende Äußerungen von Parlamentariern: Kurzprotokoll S. 30 (Abg. Penner, SPD); S 23, 25, 31 (Abg. Timm, F.D.P.). 35 Kurzprotokoll der 62. Sitzung des Ausschusses für Post und Telekommunikation vom 27.4.1994 S. 21, 31/32 und passim. Vgl. zum dritten Reformabschnitt: Aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation: die Eckpunkte eines künftigen Regulierungsrahmens im Telekommunikationsbereich, ArchPT 1995, 149 (153). 36 Eine eingehende Auseinandersetzung findet sich bei Grämlich, Art. 10 GG nach der zweiten Postreform, CR 1996, 102 ff. und Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 43 und Rn. 72. Vgl. ferner Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 864 f.); Rottmann ArchivPT 1994, 193 (196); Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag y Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 49 ff. (51); Schräder, CR 1994, 427 (429 f.); Bizer, KJ 1995, 50 (454); SchocK DVB1. 1994, 962 (971) mit Fn. 130. 37 Dazu unten J. III.3.
III. Die Diskussion um Art. 10 GG
27
ziehen. 38 Zunächst hat sich Grämlich eingehender der Frage nach den Auswirkungen der Privatisierung auf Art. 10 GG gewidmet. 39 Trotz veränderter Gefahrenlage habe Art. 10 GG einen Schutzzweck im staatlichen wie im nichtstaatlichen Bereich. 40 Der Schutzzweck könne grundrechtsfunktional eher durch staatliche Schutzpflichten aus Art. 10 GG als durch eine Drittwirkung des Grundrechts erfüllt werden. 41 Die Begründung der Schutzpflicht folgt für Grämlich aus dem Infrastrukturgewährleistungsauftrag gem. Art. 87f Abs. 1 GG und auch aus dem Umstand, daß der Staat die Veränderung der Schutzrichtung des Art. 10 GG bewirkt habe und folglich den Verlust an Grundrechtsschutz ausgleichen müsse. Im Bereich der Gefährdungen von Art. 10 GG von staatlicher Seite deckt er Regelungslücken beim strafrechtlichen Schutz und im Postgesetz auf. 4 2 Die einfach-rechtlichen Regelungen haben bereits innerhalb der zweiten Postreform die besondere Beachtung des Gesetzgebers erfahren und sind präzisiert worden. 43 Auch im Rahmen des dritten Reformschrittes sind Änderungen erfolgt. 44 Skeptisch gegenüber der die Diskussion im zweiten Reformabschnitt dominierenden einfach-gesetzlichen Lösung blieb Fangmann. M i t der fortschreitenden Privatisierung der Deutschen Bundespost gehe eine Privatisierung des Grundrechtsschutzes einher, die gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoße: Den Grundrechten - neben Art. 10 GG zumindest auch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 GG - werde der Adressat entzogen. Darin liege ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 3 GG, dem Grundsatz der unmittelbaren Geltung der Grundrechte gegenüber der öffentlichen Gewalt. Es verbiete sich zu argumentieren, wegen der Änderung von Art. 87 und Art. 87f GG sei die ehemalige Deutsche Bundespost nicht mehr zu dem Kreis der Grundrechtsadressaten zu zählen. Denn diese Verfassungsänderungen müßten sich an Art. 79 Abs. 3 GG messen lassen 4 5
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Di Fabio, Rechtliche Rahmenbedingungen, S. 126 bis 129. Grämlich, CR 1996, 102 ff. 40 Grämlich, CR 1996, 102 (108 f.). 41 Grämlich, CR 1996, 102 (110); so auch Dreier/Hermes, Art. 10 Rn. 72 ff. 42 Grämlich, CR 1996, 102 (112 f.); vgl. a. Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 (866 ff.). 43 § 10 FAG a. F. und § 5 PostG a.F. 44 §§ 85 ff. TKG und §§ 39 ff. PostG. 45 Fangmann/Lörcher/Scheurle/Schwemmle/Wehner, Telekommunikations- und Postrecht, S. 3 Rn. 4. Blahk/Fangmann/Uammer, Art. 10 Rn. 4, schließt sich aber der h.M. an und sieht in Art. 10 GG eine „gesteigerte Schutzpflicht". 39
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A. Das Problem 3. Die Diskussion zur dritten Reformstufe: 46 Der Meinungsstand
Der Diskussionsgegenstand ist nach der zweiten Postreform von dem abstrakteren und umfassenderen Thema der staatlichen Informationsordnung abgelöst worden. 47 Kristallisationspunkt ist hier der Ausgleich des Rechts auf Zugang zu Informationen mit dem Recht auf - auch urheberrechtlichen Schutz von Daten 4 8 vor dem Hintergrund ordnungspolitischer Grundwerte, insbesondere der Freiheit des Datenverkehrs. 49 Das grundrechtsdogmatische Augenmerk hat sich von Art. 10 GG abgewendet und auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und das Datenschutzrecht gerichtet, 50 ohne daß in tatsächlicher Hinsicht für den Diskretionsschutz in der Kommunikation eine Änderung eingetreten wäre. 51 Erst das Bundesverfassungsgericht hat in seiner neuesten Entscheidung über Abhörermächtigungen für den Bundes46 Der Beginn der dritten Reformstufe wird mit dem Erlaß des TKG angesetzt, so z.B. Grämlich, VerwArch 1997, 598 (629 ff.). Vgl. a. die „Grundsätze für die Postreform III), Antrag des Abg. Kiper und der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, BT-Drs. 13/1931, und den Bericht des Ausschusses für Post und Telekommunikation, BT-Drs. 13/4463. 47 Vgl. Schoch und Trute zu dem zweiten Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1997, VVDStRL 57, 158 ff.: Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung. Dazu auch Ebsen, Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung, DVB1. 1997, 1039 ff. und Trute, Der Schutz personenbezogener Informationen in der Informationsgesellschaft, JZ 1998, 822. Ferner Kloepfer, Gutachten D für den 62. Deutschen Juristentag (1998 in Bremen), Geben moderne Technologien und die Europäische Integration Anlaß, Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen? in: Verhandlungen des 62. DJT in Bremen. Die Thesen Kloepfers sind abgedruckt in NJW 23/1998, Beilage S. 21. Vgl. zu der gleichen Fragestellung a. Garstka, Begleitheft zum Juristentag, DVB1. 1998, 981. Die Thesen Kloepfers, der eine Neuorientierung im Datenschutzrecht und die Schaffung eines umfassenden Informationsgesetzbuches forderte (25. These), fanden auf dem DJT Zustimmung, vgl. den Bericht von Stüer, DVB1. 1998, 1211 (1212 ff.), harsche Kritik aber von Hoeren, MMR 3/1999, S. XIII. S.a. das Thema der 36. Assistententagung Öffentliches Recht 1996: „Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft", Winkler, Bericht, DÖV 1996, 646 ff. Vgl. ferner die Berichte der Enquete-Kommission „Zukunft der Medieninsbesondere Band 7 (Sicherheit und Schutz im Netz). 48 Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen Informationsschutz und -verbot als Hintergrund für den zivilrechtlichen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (232 ff.). 49 Dazu im Zusammenhang mit dem Informations- und KommunikationsdiensteGesetz (IuKDG) Gounalakis/Rhode, K&R 1998, 321. 50 Vgl. etwa Ladeur, DuD 2000 12 ff. Zu dem Zusammenhang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung mit Art. 10 GG unten J. IV. 1. b). 51 Vgl. nur die vielfältigen im 17. Tätigkeitsbericht des BfD, BT-Drs. 14/850, S. 79 bis 106 dargestellten Konfliktfälle. Im Vergleich mit dem vorherigen Berichts-
III. Die Diskussion um Art. 10 GG
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nachrichtendienst nach dem Gesetz zu Art. 10 GG in der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes 52 die Spezialität des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung betont 53 und so ein Signal für die Rückführung der Diskussion auf Art. 10 GG gesetzt. 54 Auch wenn die Kontroverse im Zusammenhang mit der zweiten Postreform um das Schicksal von Art. 10 GG die Problematik, wie Fangmann zu Recht aufgezeigt hat, nicht erschöpft hat, 5 5 ist es doch nun müßig den Fragen nachzugehen, ob Art. 10 GG ein Privatisierungshindernis dargestellt hätte oder ob die verfassungsrechtliche Lösung in Form einer Anordnung unmittelbarer Drittwirkung von Art. 10 GG der einfach-rechtlichen Lösung vorzuziehen gewesen wäre. I m Mittelpunkt rechtlichen Interesses kann allein die Konkretisierung von Schutzpflichten aus Art. 10 GG und die Frage stehen, ob die bereits wirksamen einfach-rechtlichen Regelungen diese Schutzpflichten erfüllen. Zeitraum hat die Zahl der datenschutzrechtlichen Konfliktfälle im Telekommunikationsbereich nicht abgenommen, vgl. den 16. Tätigkeitsbericht, S. 194 ff. 52 BVerfGE 100, 313 - Verbrechensbekämpfungsgesetz. 53 BVerfGE 100, 313 (1. Leitsatz und S. 358 f.) - Verbrechensbekämpfungsgesetz. 54 Dieses neueste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 10 GG wurde unterschiedlich aufgenommen. Es gibt Beiträge, die das Urteil ohne eigene Stellungnahme erläutern, indem sie im Blick auf die Hinweise des Gerichts an den Gesetzgeber mögliche Konsequenzen der Entscheidung aufzeigen: Huber, NVwZ 2000, 393 ff.; von Münch5 /Löwer, Art. 10 Rn. 52 ff.; Sachs, JuS 2000, 597 (599) allerdings mit Kritik an dem Bundesverfassungsgericht „als Ersatz- bzw. Interimsgesetzgeber". Wie hier (vgl. zur Argumentation unten J. IV. 1. b) stimmen der Entscheidung aus in Art. 10 GG liegenden Gründen zu: C. Arndt, NJW 2000, 47 ff.; Gusy, KritV 2000, 53 (56); Möstl, DVB1. 1999, 1394 (1399); Schräder, DuD 1999, 650, (651, 654): „ein Gewinn vor allem für den Schutz des Fernmeldegeheimnisses." Vorsichtig zustimmend Müller-Terpitz, Jura 2000, 296 (301 f.). Skepsis findet sich bei Paeffgen, StV 1999, 668 ff. bzgl. der - nach Meinung des Autors im Urteil umgangenen - Frage nach der Kooperation zwischen Nachrichtendiensten und Polizei (zu diesem Aspekt des „Trennungsgebotes" auch kritisch Paeffgen/Gärditz, KritV 2000, 65 ff.; dem Urteil in diesem Punkt zustimmend MüllerTerpitz, Jura 2000, 296 (302)). Kritik auch bei Suff, KJ 1999, 586 ff., bzgl. der Begründung der Bundesgesetzgebungskompetenz mit dem Titel der Auswärtigen Angelegenheiten gem. Art. 73 Nr. 1 GG in BVerfGE 100, 313 (3. Leitsatz und S. 368 ff.). 55 So auch Groß, JZ 1999, 326 (329). Anders Rottmann, ArchPT 1994, 193 (196): „... ist recht ausführlich diskutiert worden, welche Auswirkung die Reform auf das Post- und Fernmeldegeheimnis haben kann." Vgl. a. Börnsen, ZG 1996, 323 (342): Der Datenschutz sei „Nebenkriegsschauplatz" im Gesetzgebungsverfahren zu der zweiten Postreform gewesen. Ein klärendes Wort des verfassungsändernden Gesetzgebers zu Art. 10 GG vermißt auch von Münch 5 ! Löwer, Art. 10 Rn. 12 und 56.
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A. Das Problem
Dem folgt auch der weitere Verlauf der Diskussion. Die Dimension der Grundrechte als staatliche Schutzpflichten wird von der Lehre als normatives Gestaltungsinstrument in den Mittelpunkt gestellt 56 und konkret in Bezug auf Art. 10 GG ein partieller Funktionswandel des Grundrechts angenommen. 57 Die Begründungen für das Bestehen von Schutzpflichten aus Art. 10 GG nach der Postprivatisierung lassen sich im wesentlichen in zwei Argumenten zusammenfassen, die auch kombiniert werden. Zum einen wird auf die Schutzfunktion der Grundrechte hingewiesen. 58 Angesichts von Liberalisierung und Privatisierung sei das Schutzbedürfnis für Art. 10 GG gleichgeblieben. 59 Durch die hinzukommende Entwicklung neuer Kommunikationsmedien seien darüber hinaus neue Gefährdungslagen entstanden und das Risiko für Grundrechtsverletzungen sei noch gestiegen. 6 0 In diesem Zusammenhang wird auch mit dem hohen Rang des Schutzgutes von Art. 10 GG argumentiert 61 und auf die Funktion von Schutzpflichten hingewiesen, einen gesetzgeberischen Ausgleich zwischen Eigen- und Fremdbestimmung in bezug auf die Geheimhaltungspflichten zu schaffen, der wegen der zumindest faktisch noch nicht ganz durchgeführten Liberalisierung nicht dem freien Wettbewerb überlassen werden könne. 62 Zum anderen habe der Staat die Schutzrichtung des Art. 10 GG durch den Wegfall oder zumindest die Reduktion der Monopole verändert und somit die Ursache für die Grundrechtsgefährdungen gesetzt. 63 56 Vgl. Schock, WDStRL 57, 158 (206 ff.) und Hassemer, Frankfurter Rundschau (Nr. 90) vom 19.4.1999, S. 11. 57 Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 72 ff.; Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 48 ff.; Groß, JZ 1999, 326 (332 ff.); von Mangoldt/Klein/Gw^, Art. 10 Rn. 37; von Münch5¡Löwer, Art. 10 Rn. 12 ff.; Sachs2¡Krüger, Art. 10 Rn. 21; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 763; Jarass/Vieroih 5, Art. 10 Rn. 12; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 10 Rn. 1. Nur für das Postgeheimnis Müller-Dehn, DVB1. 1996, 863 (865) zu § 5 PostG a. F. und Tettinger, NVwZ 2000, 633 (636) zu § 39 PostG. 58 So ausdrücklich Groß, JZ 1999, 326 (330). Ferner Möstl, Grundrechtsbindung, S. 193 ff. zu der objektiven Funktion von Art. 10 GG vor der zweiten Postreform und S. 196 ff. zu der Schutzpflichtenfunktion und dem Schutzniveau nach der Privatisierung. Ähnlich von Münch5¡Löwer, Art. 10 Rn. 14. 59 Grämlich, CR 1996, 102 (108). 60 So insbesondere Blank/Fangmann/Hammer, Art. 10 Rn. 4. 61 Müller-Dehn, DÖV, 863 (864) unter Hinweis auf BVerfGE 67, 157 (171) strategische Überwachung; von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 62. 62 Von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 61 f. 63 Grämlich, CR 1996, 102 (111); ebenso Sachs2¡Krüger, Art. 10 Rn. 22. Ähnlich Möstl, Grundrechtsbindung, S. 193 ff.: Schutzpflicht als Resultat der Privatisierungsfolgenverantwortung u.a. im Anschluß an Kämmerer, JZ 1996, 1042 (1048 f.).
IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes
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Das fortbestehende Schutzbedürfnis für Art. 10 GG - verstärkt durch das gefährdungsverursachende staatliche Handeln - aktiviert also aus dieser Sicht den objektiven Gehalt von Art. 10 GG in Form der Schutzpflichtenfunktion. 4. Zusammenfassung und offene Fragen Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß zwar besonders während der ersten und der zweiten Postreform zu der Frage nach dem Schicksal von Art. 10 GG Stellung genommen worden ist. Eine allein auf die Grundrechtsgefährdung und das Verursacherprinzip abstellende Herleitung 64 bleibt aber die grundrechtsdogmatische Begründung der Schutzpflichten für das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis schuldig.
IV. Gefahrdungen des Diskretionsschutzes Einigkeit besteht darüber, daß das Bedürfnis nach Schutz für das Rechtsgut des Art. 10 GG, die Gewährleistung der Diskretion bei der Kommunikation auf Distanz, ungeachtet der erfolgten Privatisierungsschritte unvermindert fortbesteht. 65 Charakteristisch für Gefährdungen des Diskretionsschutzes ist das zeitliche Zusammentreffen privatisierungsspezifischer Risiken, also solcher Gefahren, die aus der Aufgabenübernahme durch Private folgen, mit den neuen Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie, die durch die digitale Technik und den Mobilfunk vor allem in der Telekommunikation hinzugetreten sind. Der Akzent soll in dieser Arbeit auf denjenigen Gefährdungen liegen, die gerade durch die Privatisierung entstanden sind, soweit sie sich überhaupt von den technischen Risiken trennen lassen.
1. Die normativen Bedingungen im dritten Reformabschnitt a) Europäisches und internationales Recht In normativer Hinsicht steht die dritte Reformstufe im Zeichen der Umsetzung sekundären 66 Gemeinschaftsrechts: A m 24. Oktober 1998 lief die Umsetzungsfrist sowohl für die allgemeine Datenschutzrichtlinie 95/46/ 64
So im wesentlichen Grämlich, CR 1996, 102 (110). Vgl. Grämlich, CR 1996, 102 (108 ff.); Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 17 f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 762; von Münch57Ld'wr, Art. 10 Rn. 13 f.; Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 51; von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 37; Groß, JZ 1999, 326 (330). 65
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A. Das Problem
E G 6 7 als auch für die Telekommunikations-Datenschutzrichtlinie (auch: ISDN-Richtlinie) 97/66/EG 6 8 ab, ohne daß eine Umsetzung in nationales Recht erfolgt wäre. Mittlerweile ist die allgemeine Datenschutzrichtlinie in drei Landesdatenschutzgesetze eingearbeitet worden. 69 Die Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes steht bevor. 70 Die ISDN-Richtlinie ist in den Entwurf einer Telekommunikations-Datenschutzrichtlinie eingearbeitet worden, der der Bundesrat gem. Art. 80 Abs. 2 GG noch zustimmen muß. 7 1 Die genannten Richtlinien ergingen vor dem Hintergrund einer Fülle von Dokumenten und Rechtsakten der Union zur Beschleunigung der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte. 72 Ziel ist die Schaffung eines 66 Im primären Gemeinschaftsrecht sind Regelungen über den Datenschutz bei den EU-Organen enthalten: Art. 255 und 207 Abs. 3 des Amsterdamer Vertrages (Recht auf Zugang zu den Dokumenten des EP, des Rates und der Kommission); Art. 286 Abs. 1 (Regelungen über den Datenschutz bei den Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft); Art. 286 Abs. 2 (Einrichtung einer unabhängigen Datenschutzkontrollinstanz). 67 ABl. EG Nr. L 281 vom 23.11.1995, S. 31. 68 ABl. EG Nr. L 24 vom 30.1.1998, S. 1. Bereits im September 1996 war die Annahme des Gemeinsamen Standpunktes des Rates erfolgt, ABl. C 315 vom 24.10.1996, S. 30 ff. Die Richtlinie ist auch abgedruckt in RDV 1998, 78 ff. Dazu Schild, EuZW 1998, 69. Zur Entstehungsgeschichte der Richtlinie: Königshofen, ArchPT 1994, 198 ff. und Dix, DuD 1997, 278 ff. 69 Informationsstand von Mai 2000. Vgl. LDSG Hessen vom 11.11.1986 (GVB1. I S. 309), i.d.F. vom 7.1.1999 (GVB1. I S. 98); BbgDSG i.d.F. der Bekanntmachung vom 9.3.1999 (GVB1. I S. 66); LDSG Schleswig-Holstein vom 9.2.2000 (GVB1. Schl.-H. 4/2000, S. 169). In Nordrhein-Westfalen befindet sich ein Gesetzesentwurf im Gesetzgebungsverfahren; zum zentralen Umsetzungsaspekt der Unabhängigkeit der Datenschutzkontrolle im nicht-öffentlichen Bereich, Art. 28 RL 95/ 46/EG: Hellermann/Wieland, DuD 2000, 284 ff. 70 Am 14. Juni 2000 verabschiedete das Kabinett seinen Entwurf i.d.F. vom 25.5.2000 (abrufbar unter http://www.dud.de (Datenschutzserver)). 71 Vgl. den Beschluß des Bundeskabinetts über eine Telekommunikations-Datenschutzrichtlinie vom 17. Mai 2000; abrufbar unter http://www.dud.de (Datenschutzserver). 72 Vgl. die Übersichten von Schmittmann/de Vries in AfP 1996, 360 (363 f.); AfP 1997, 879 (886 ff.); AfP 1998, 584 (598 f.). Von einschneidender Bedeutung ist die Richtlinie über die Liberalisierung des Sprachtelefondienstes und der Infrastruktur 96/ 19/EG, ABl. EG Nr. L 74 vom 22.3.1996, S. 13 ff., welche die vierte Änderungsrichtlinie zu der Richtlinie 90/388/EWG vom 28.6.1990 über die Einführung vollständigen Wettbewerbs auf dem Markt für Telekommunikationsdienste, ABl. EG Nr. C 263/6-1, ist. Vgl. zu den Texten der (Änderungs-)Richtlinien Fangmann, Telekommunikationsgesetz, S. 113 ff., 187 ff.; die Richtlinie 96/19/EG ist auch abgedruckt in EWS 1996, 161 ff. Sie setzte den rechtlichen Rahmen für den vollständigen Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikationsdienste ab dem 1.1.1998. „Roter Faden" sind die Rechtsakte und Dokumente im Gefolge der ersten Richtlinie über den offenen Netzzugang im Sprachtelefondienst Open-Network-Provision
IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes
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transeuropäischen Netzes, in dem der Universaldienst zu einem Mindeststandard gewährleistet ist. Der Telekommunikationsbereich hat aufgrund der technischen Entwicklung die Vorreiterrolle übernommen: 73 Vorschriften über die Liberalisierung der Märkte für Postdienstleistungen sind in weit geringerem Maß ergangen. 74 Die Kommission der Europäischen Union strebt - nach einer Liberalisierungsetappe im Jahr 2003 - erst für 2007 den weitgehenden Abbau der Monopole öffentlicher Unternehmen im Bereich der Postdienste an. 7 5 Die europäische Gesetzgebung ist wiederum vor dem Hintergrund der Privatisierung in anderen Staaten und im Zusammenhang mit der weltweiten Verknüpfung der (Telekommunikations-)Netze zu sehen. Diese Bestrebungen haben ihren Niederschlag in Leitlinien der O E C D 7 6 und Ergänzungen des WTO-Vertragswerks gefunden: 77 A m 17. Februar 1997 trafen die 70 Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation ein multilaterales Abkommen über den Zugang zum Markt für Telekommunikationsdienste, Investi(ONP)-Richtlinie 95/62/EG , Abi. 321 vom 30.12.1995, S. 6 ff. Diese Richtlinie wurde durch die am 26.2.1998 vom EP verabschiedete ONP-Richtlinie 98/19/EG , ABl. EG Nr. L 101, S. 24 ff. ersetzt. Schmittmann/de Vries , AfP 1998, 584 (600, zu Nr. 66): „Diese Richtlinie legt gemeinsame Voraussetzungen für den Betrieb der Festnetze und die Erbringung öffentlicher Telefondienste in der Gemeinschaft fest. Sie definiert die Reichweite des Universaldienstes und legt Mindestanforderungen bzgl. der Qualität dieser Dienste fest. Nur einige der Bestimmungen (z.B. solche bzgl. Telefonbücher und Verträge) sind auf Mobilfunk anwendbar." Zum Spannungsverhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Verfassungsrecht in Fragen der intranationalen Netzzusammenschaltung Wieland/Enderle , MMR 1999, 379 ff. Eine Völker- und europarechtliche Analyse der datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen gibt Gridl , Datenschutz in globalen Telekommunikationssystemen (1999). 73 Wohingegen die Geschichte der Fernkommunikation mit den Postdiensten begann, dazu unten B. I. 74 Vgl. die Postdienste-Richtlinie 97/67/EG , ABl. EG vom 21.1.1998 Nr. L 15, S. 14 ff. Zum Problemkreis nationales Monopol und Marktöffnung: Everling , Der Beförderungsvorbehalt der Post und das Gemeinschaftsrecht, EuR 1994, 386; Basedow , Europarechtliche Grenzen des Postmonopols, EuZW 1994, 359 ff.; Gröner / Knorr , Die Liberalisierung der Postdienste in der EU, EWS 1996, 225. 75 Eine vollständige Liberalisierung soll es auch 2008 noch nicht geben. Ab 2003 soll das Beförderungsmonopol für grenzüberschreitende Zustellungen nur noch für Briefe bis 50 Gramm bestehen bleiben, vgl. Frankfurter Rundschau (Nr. 126) vom 31.5./1.6.2000, S. 11. 76 OECD/GD (97) 14: New Technologies and their impact on the Accounting Rate System. Siehe auch die Kryptographie-Richtlinie der OECD, dazu unten G. II. 4. Leitlinien (Guidelines/Directives) der OECD entfalten - anders als EU-Richtlinien - keine Bindungswirkungen für die Mitgliedstaaten, sondern haben lediglich Empfehlungscharakter gem. Art. 5 b) OECD-Konvention vom 14.12.1960. 77 Insgesamt dazu: Heilbock , Neueste Entwicklungen im internationalen Telekommunikationsrecht, MMR 1998, 129 ff. 3 Hadamek
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A. Das Problem
tionen und regulatorische Prinzipien zur Sicherung des Wettbewerbs, welches nach der Ratifizierung durch alle Mitglieder Bestandteil des völkerrechtlichen Vertrages werden wird. 7 8 Die noch ausstehende Umsetzung der Datenschutzrichtlinien 95/46/EG (allgemeiner Datenschutz) und 97/66/EG (Telekommunikationdatenschutz) wirft die Frage nach deren unmittelbaren Anwendbarkeit auf. 7 9 Die Richtlinie 97/66/EG enthält Vorschriften, die in den Regelungsbereich der aufgrund von § 89 Abs. 1 T K G zu erlassenden Telekommunikations-Datenschutzverordnung fallen: Bestimmungen über Einzelgebührennachweis, Rufnummernanzeige, Anrufweiterschaltung, Verzeichnisse und Fangschaltungseinrichtungen. Der Erlaß der Verordnung, in die die europarechtlichen Vorgaben eingearbeitet sein werden, ist noch für 2000 zu erwarten. 80 Art. 5 der Richtlinie über den Telekommunikationsdatenschutz 97/66/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, durch innerstaatliche Vorschriften die Telekommunikationsdienste für die Öffentlichkeit so zu gestalten, daß die „Vertraulichkeit in der Kommunikation" nicht durch andere Personen als die Benutzer durch Mit- und Abhören usw. verletzt wird. Die Bestimmung ist die ausdrückliche Anordnung eines grundrechtlichen Schutzauftrages für die gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung der Vertraulichkeit in der Kommunikation. Die staatliche Überwachung ist nicht Regelungsgegenstand der Richtlinie. 81 Art. 5 der Richtlinie 97/66/EG schützt ausweislich der Erwägungsgründe die Vertraulichkeit in der Kommunikation im Einklang mit Art. 8 E M R K . 8 2 Somit ist die Verbindung zwischen der internationalen Konvention und dem gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz für das Kommunikationsgeheimnis hergestellt, ohne daß auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückgegriffen werden müßte. 83 78 Zum WTO-Abkommen: Barth, Die Liberalisierung der Telekommunikationsdienstleistungen in der Welthandelsorganisation, ArchPT 1997, 112; Moritz, Liberalisierung des internationalen Handels mit Basistelekommunikationsdienstleistungen, MMR 1998, 393. Vgl. a. F. A. Z. Nr. 40 vom 17.2.1997, S. 13. 79 Zur unmittelbaren Anwendung der allgemeinen Datenschutz-Richtlinie 95/46/ EG: Unentschieden Trosch, DuD 1998, 724; für eine unmittelbare Anwendung Haslach, DuD 1998, 693 ff.; differenzierend Schild, EuZW 1999, 69 ff. Skeptisch gegenüber einer direkten Wirkung dieser Richtlinie wegen fehlender Bestimmtheit im Range einer self-executing-Qualität Jacob, RDV 1999, 1 (3), der Umsetzungsansätze im Referentenenwurf für die BDSG-Novellierung hervorhebt, ebenda S. 1 ff. 80 Vgl. den Beschluß des Bundeskabinetts über eine Telekommunikations-Datenschutzrichtlinie vom 17. Mai 2000; abrufbar unter http://www.dud.de (Datenschutzserver). 81 Vgl. die Gründe zu (12). 82 Vgl. die einleitenden Gründe zu (2). 83 Dreier/Hermes, Art. 10 Rn. 7.
IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes
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Art. 8 E M R K , 8 4 der entgegen seinem Wortlaut nicht nur die Privatheit des Briefverkehrs, sondern durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte auch die der Kommunikation beim Einsatz anderer Medien schützt, 85 gewährleistet einen wesentlich intensiveren Schutz als Art. 12 A E M R . 8 6 Art. 8 EMRK geht sogar über Art. 10 GG hinaus, indem er nicht nur - negativ - den Schutz der Geheimnisse vorschreibt, sondern - positiv - Schutz vor Kommunikationsverboten, -Unterbrechungen und -Verzögerungen bietet. 87 Ferner schließt Art. 8 Abs. 2 EMRK durch die Fixierung der Eingriffszwecke implizite Beschränkungen des Schutzbereiches aus, 88 wie sie das Bundesverfassungsgericht im Strafgefangenen-Beschluß auf der Grundlage der gleichsam auslaufenden Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis noch befristet akzeptierte. 89 Hervorzuheben ist, daß der Diskretionsschutz in der Kommunikation auf Distanz in Art. 8 EMRK, Art. 12 AEMR und Art. 5 der Telekommunikationsdatenschutz-Richtlinie 97/66/EG als Teil des Schutzes der Privatheit dargestellt wird, 9 0 ein Zusammenhang, der für Art. 10 GG erst hergestellt werden muß. 9 1 b) Nationales Recht Das wegen seiner liberalen Grundphilosophie begrüßte 92 Telekommunikationsgesetz trat mit dem überwiegenden Teil seiner Bestimmungen am 84
Art. 8 EMRK lautet: „(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privatund Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. (2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechtes ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist", BGBl. 1952 II S. 686, mit den Änderungen vom 20.12.1971. 85 Vgl. die Nachweise bei von Mangoldt/Klein/Gusy, Art. 10 GG Rn. 6 mit Fn.
22.
86 Von Mangoldt/Klein/Gw-sy, Art. 10 Rn. 7. Art. 12 AEMR lautet: „Niemand darf willkürlichen Eingriffe in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jedermann hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen." 87 Dreier /Hermes, Art. 10 Rn. 6 mit Nachweisen. 88 Dazu Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 6 mit Hinweis auf EGMR EuGRZ 1975, 91 (100) - Golder; von Mangoldt/Klein/Gw.sy, Art. 10 Rn. 8. 89 BVerfGE 33, 1 (12 f.) - Strafgefangenenbeschluß. 90 Vgl. a. von Mangoldt/Klein/Gwyy, Art. 10 Rn. 4. 91 Vgl. die Konzeption des Privatsphärenschutzes im GG bei Schmitt Glaeser, HBStR VI, § 129 Rn. 1 ff. (3, 5).
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A. Das Problem
1. August 1996 in Kraft. 9 3 Der Deutschen Telekom A G wurde bis Ende 1997 das ausschließliche Recht zur Erbringung von Sprachtelefondienst auf der Basis selbst betriebener Telekommunikationsnetze eingeräumt. 94 Gleichfalls im Juli 1997 erging das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG) 9 5 , welches in seinem Art. 2 das Teledienstedatenschutzgesetz (TDDSG) und in seinem Art. 3 das Signaturgesetz (SigG) beinhaltet. 96 Das postrechtliche Pendant zum Telekommunikationsgesetz, das Postgesetz (PostG), 97 konnte trotz der lang anhaltenden Kontroverse um den Umfang des der Deutschen Post A G vorzubehaltenden Exklusivbereiches 98 zum Jahresbeginn 1998 in Kraft treten. 99 Fast zeitgleich erging das Begleitgesetz zum Telekommunikationsgesetz (BegleitG), 1 0 0 mit dem Ziel, andere Vorschriften an die durch das Telekommunikationsgesetz vorgegebenen Rahmenbedingungen anzupassen und aufgetretene Gesetzeslücken zu schließen. 101 Telekommunikationsgesetz, Teledienstedatenschutzgesetz und Postgesetz enthalten Regelungen zum Schutz des Fernmelde- und Postgeheimnisses sowie zum Schutz von personenbezogenen Daten. § 85 TKG und § 39 PostG sollen jeweils die „einfachgesetzliche Ausprägung" des Fernmeldebzw. Postgeheimnisses sein. 1 0 2 In dieser Begründung kommt zum Ausdruck, daß sie als gleichwertiger Ersatz für den teilweisen Wegfall des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 10 GG gedacht sind: Das Schutzniveau 92
Börnsen, ZG 1996, 323 (343). Telekommunikationsgesetz (TKG) vom 25. Juli 1996 (BGBl. I S. 1120). 94 § 99 Abs. 1 Nr. lb) TKG. 95 Sogenanntes „Multimediagesetz", i.e. Gesetz zur Regelung der Rahmenbedingungen für Informations- und Kommunikationsdienste vom 22.7.1997, BGBl. I S. 1870. 96 Der Kern des Anwendungsbereiches des neuen Gesetzes ist in Art. 1 (Teledienstegesetz) § 2 Abs. 2 IuKDG exemplarisch beschrieben: Telebanking, Datenaustausch, Datendienste, z.B. Börsendaten, Angebote zur Nutzung des Internets, Dienstleistungsangebote mit unmittelbarer Bestellmöglichkeit (E-Commerce). Zur Abgrenzung von Telediensten und Telekommunikationsdiensten, unten J. II. c) cc). 97 Vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3294). 98 Einen anderen Streitpunkt bildete die Frage, ob ein Verbot geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse für die Konkurrenten der Deutschen Post AG im Postgesetz verankert werden sollte, F. A. Z. (Nr. 286) vom 9.12.1997, S. 17. 99 § 58 PostG. 100 Begleitgesetz zum Telekommunikationsgesetz vom 17. Dezember 1997, BGBl. I S. 3108. 101 Vgl. die Zielsetzung des Regierungsentwurfs, BR-Drs. 369/97, S. 1. 102 Ygi jeweils die Begründungen der Regierungsentwürfe: BT-Drs. 13/3609, S. 53 (zu § 82 des Entwurfs), zu § 85 TKG; BR-Drs. 147/97, S. 45 zu § 39 PostG. 93
IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes
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soll unter der Bevorzugung der einfach-rechtlichen Lösung 1 0 3 vor der verfassungsrechtlichen 104 Lösung nicht leiden.
2. Die tatsächlichen Bedingungen im dritten Reformabschnitt: Verbreitung neuer Technik und Dienste, mehr Wettbewerb Bestimmend für die dritte Reformstufe ist die zunehmende Verbreitung von I S D N , 1 0 5 für das noch die Deutsche Bundespost auf der Cebit 1989 eine Konzeption präsentierte. 106 Infolge der Digitalisierung der Telekommunikation hat sich die Zahl der Telekommunikationsvorgänge vervielfacht. 1 0 7 Ende März 1999 war schon rund jeder vierte Telefonanschluß, den die Deutsche Telekom A G eingerichtet hatte, mit ISDN-fähigen Geräten nutzbar. 108 Die ISDN zugrundeliegende Technik, mit der durch die Zerlegung von Informationen in die Werte „0" und „ 1 " eine enorme Erleichterung der Datenverknüpfung, -weitergäbe und -speicherung erreicht wurde, bedeutet einen Zuwachs an datenschutzrechtlichen Risiken. 1 0 9 Mit der her103
Gemeint ist die Annahme einer Schutzpflicht aus Art. 10 GG, vgl. die dazu oben unter III. 2. anhand des Kurzprotokolls wiedergegebene Diskussion im Ausschuß für Post und Telekommunikation vom 27.4.1994. 104 Gemeint ist die ausdrückliche Anordnung einer unmittelbaren Drittwirkung in Art. 10 GG, auch dazu oben II. 2. 105 Integrated Services Digital Network, d.h. diensteintegrierendes Digitalnetz, mit dem alle Dienste, am häufigsten Fax und Telefon insgesamt aber Sprach-, Daten-, Text- und Bildkommunikation, in einem Netz übermittelt werden können, während dies nach der herkömmlichen analogen Technik mehrere Netze (Leitungen) erforderte. Mittels ISDN können auch einzelne Dienste ausgebaut werden, vgl. z.B. die Anrufweiterschaltung, das Anklopfen, die Rufnummernanzeige und -speicherung beim Telefonieren. 106 So die Informationstechnische Gesellschaft (ITG) im Verband Deutscher Elektrotechniker, Datenschutz im ISDN, S. 13. 107 Vgl. den Bericht der 59. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 14./15.3.2000 in DuD 2000, 302 (303, dort im Zusammenhang mit Eingriffen in Art. 10 GG durch Telekommunikationsüberwachung). 108 Nach Auskunft der Pressestelle der Deutschen Telekom AG vom 26.5.1999 gab es am 31.3.1999 46,9 Mill. Telefonanschlüsse, davon 10,9 Mill. mit ISDN ausgestattet, wovon 4,5 Mill. auf private Kunden und 6, 4 Mill. auf Geschäftskunden entfielen. Dies bedeutet einen starken Zuwachs an ISDN Anschlüssen gegenüber dem Vorjahr, als zum selben Zeitpunkt auf 45,4 Mill. Anschlüsse 8 Mill. ISDN-Einrichtungen entfielen. 109 Vgl. zu den datenschutzrechtlichen Problemen im ISDN den 12. Tätigkeitsbericht des BfD, BT-Drs. 11/6458 S. 37 ff., und den 13. Tätigkeitsbericht des BfD, BT-Drs. 12/553, S. 49 f. Die Risiken wurden aus technischer Sicht von Anfang an für beherrschbar gehalten, vgl. die Handlungsempfehlungen der Informationstechnische Gesellschaft (ITG) im Verband Deutscher Elektrotechniker, S. 31 ff., zur Kommunikationsdatenverarbeitung und -erfassung, des Einzelgebührennachweises, der Rufnummernanzeige.
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A. Das Problem
kömmlichen analogen Technik wären für die Übertragung von Sprache, Daten, Text und Bild weitgehend unterschiedliche Übertragungswege und Endgeräte vorzusehen gewesen, womit eine faktische Barriere für Datenverknüpfungsmöglichkeiten bestünde. Konkret ermöglicht die Digitalisierung den Anbietern eine zentrale, umfangreiche und beliebig lange Speicherung von Verbindungsdaten. 110 Gleichzeitig erhalten einige Dienste neue Merkmale, die aus Verbrauchersicht ambivalent sind: Zum einen gewährleisten Anrufweiterschaltung, die Anzeige der Rufnummer des Anrufers sowie des Angerufenen und der Einzelverbindungsnachweis einen besseren Komfort in der Telekommunikation. Zum anderen stellen diese sogenannten Komfortmerkmale Herausforderungen für den Datenschutz dar. 1 1 1 Die Pluralität unter den Anbietern stellt den Datenschutz vor kaum regelbare Fragen: Welcher Anbieter ist z.B. verpflichtet, eine Fangschaltung gem. § 89 Abs. 2 Nr. 3 b) T K G i.V.m. § 8 Abs. 1 TDSV 1996 einzurichten, wenn, wie im Call-by-Call-Verfahren, Teilnehmernetzbetreiber und Fernverbindungsnetzbetreiber auseinanderfallen oder wenn der Belästigende ein Lokalnetz nutzt? 3. Schutzbedarf für Art. 10 G G Es fragt sich, in welchen Wirklichkeitsbereichen der Schutz des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses infolge der Privatisierung der Deutschen Bundespost gefährdet ist. Es lassen sich zwei Bereiche unterscheiden: Zum einen sind Private in die klassische, das Abwehrrecht herausfordernde Überwachungssituation eingeschaltet (unten a). Zum anderen haben statt der ehemaligen staatlichen Bundespost nun Private unmittelbaren Zugang zu dem Nachrichtenverkehr (unten b).
110 Vgl. dazu OVG Bremen, NJW 1995, 1769 (1770): „Während die elektromechanische Vermittlung und die summarische Gebührenberechnung in den zentralen Ortsvermittlungsstellen keine »Datenspur4 hinterließen, fallen bei der programmgesteuerten ISDN-Vermittlung und der von ihr abgekoppelten zentralen Entgeltabrechnung große Mengen personenbezogener Daten an, die - nachdem der Betrieb einmal so eingerichtet ist - »betriebsbedingt4 gespeichert werden müssen." Das OVG Bremen hielt eine Speicherfrist von 80 Tagen von entgeltrelevanten, um die letzten drei Stellen der Zielrufnummer gekürzten Verbindungsdaten für angemessen, OVG Bremen, NJW 1995, 1769 (1773), vgl. nun § 6 Abs. 3 Satz 2 TDSV 1996. S. zu der Verbindungsdatenspeicherung im ISDN auch den 15. Tätigkeitsbericht des BfD, S. 288 ff. 111 Vgl. §§ 6 ff. TDSV 1996 und Art. 7 ff. 97/66/EG (ISDN-Richtlinie).
IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes a) Die Einschaltung Privater
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in Überwachungsvorgänge
Aufgrund der Ermächtigungen zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs zugunsten der Justizbehörden in §§99 ff. StPO und § 12 F A G 1 1 2 sowie zugunsten der Staatsschutzbehörden vor allem nach dem Gesetz zu Art. 10 G G 1 1 3 ist die klassische Abwehrfunktion des Grundrechts aufgerufen, welche im Verhältnis des einzelnen gegenüber dem Staat auf das Unterlassen von staatlichen Eingriffen zu Lasten des einzelnen in Form des Abhörens und der Beschlagnahme usw. gerichtet ist. Nunmehr sind Private in diesen Vorgang eingeschaltet: Sie wurden im Telekommunikationsgsetz verpflichtet, technische Einrichtungen zur Vorbereitung und Durchführung von Überwachungsvorhaben auf ihre Kosten bereitzustellen und Kundendateien zum Abruf vorzuhalten. 114 I m Bereich der Postdienste ist durch § 40 PostG ihre Mitteilungspflicht über zustellfähige Anschriften geschaffen worden. Gem. § 99 StPO sind nun alle Personen oder Unternehmen, die Post- oder Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, verpflichtet, die Beschlagnahme von an den Beschuldigten gerichteten Postsendungen oder Telegrammen zu dulden. Tatsächlich wurde der Schutz des einzelnen vor staatlichen Eingriffen durch Privatisierung und Liberalisierung der Dienste verbessert: Im Hinblick auf die Pluralität der Anbieter besonders im Telekommunikationsbereich fragt es sich jetzt schon vor der Durchführung einer Überwachungsmaßnahme, welchem Teilnehmernetz der zu Überwachende angehört, während sich die berechtigte Stelle vor Aufhebung des Monopols eindeutig an die Deutsche Bundespost bzw. ihre Nachfolgerin wenden konnte. So ist der Art. 10 GG eigene Schutzmechanismus, der ursprünglich darin bestand, daß „die Post" als ein organisatorisch isolierter Bestand personeller und sachlicher Betriebsmittel von der sonstigen Verwaltung distanziert war, 1 1 5 durch die Privatisierung obsolet geworden: 116 Durch die Privatisierung tritt die 112
Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 6.4.1892 (RGBl. 1892, 467), neugefaßt durch Bekanntmachung vom 3.7.1989 (BGBl. I S. 1455). Die Geltung des § 12 FAG ist durch die Änderung des § 28 FAG in Art. 2 Abs. 35 BegleitG bis zum 31.12.1999 und durch Gesetz vom 20.12.1999 (BGBl. I. S. 2491) bis zum 31.1.2001 verlängert worden. Seine Verfassungsmäßigkeit ist problematisch, vgl. etwa R. P. Schenke AöR 2000, 1 (S. 4 mit Fn. 12); ferner Klesczewski, JZ 1997, 719 ff., zu der zunächst durch Art. 5 des PTNeuOG angeordneten Fortgeltung des § 12 FAG bis zum 31.12.1997; ferner Rieß, Telekommunikationsrecht, S. 235. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 12 FAG werden auch in BGH NJW 1993, 1212 (1213) deutlich. 113 Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz - G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.6.1999 (BGBl. I S. 1334). 114 § 88 und § 90 Abs. 2 bis 7 TKG.
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A. Das Problem
Bewerkstelligung der Fernkommunikation tendenziell ganz aus dem staatlichen Bereich hinaus und überbietet so den Schutz, den eine organisatorisch-personelle Trennung innerhalb des staatlichen Bereiches leisten konnte. Daher stellen Überwachungssituationen nicht die typischen, durch die Privatisierung geschaffenen Gefährdungslagen für Art. 10 GG dar. 1 1 7 Ebenso ist die Gefahr, daß bei der Überwachung von Mobiltelefonen Bewegungsprofile des Überwachten erstellt und von dem Mobilfunknetzbetreiber an die anordnende Stelle weitergegeben werden können, 1 1 8 kein privatisierungs-, sondern ein technikspezifisches Risiko, bei dem die Einschaltung Privater eher einen Schutz des Überwachten als eine Bedrohung seiner Grundrechte darstellt. b) Gefährdungen unter Privaten Noch zwischen der ersten und der zweiten Postreform wurden die Deutsche Bundespost und ihre Unternehmen POSTDIENST und TELEKOM als „Hüterin, Garantin, Wahrnehmerin, Schützerin" des Postgeheimnisses bezeichnet. 119 M i t dem Titel „Private sind schneller, schlauer und billiger als der Staat" seines Plädoyers für ein auf der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte aufbauendes novelliertes Datenschutzrecht besonders gegenüber Privaten brachte Hassemer dagegen die neuartigen Gefährdungen der die Privatsphäre schützenden Grundrechte zum Ausdruck: 1 2 0 Wie die Debatte um das Verbot kryptographischer Verfahren belege, 121 ginge es für den Staat nur noch darum, mitlesen zu können, was Private übereinander in Erfahrung brächten.
115 Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs, 1974, S. 40 ff.; Welp, Strafprozessuale Funktionen der Post, ArchPF 1976, 763 (767 ff.); Schlink/Wieland/Welp, ArchPT 1994, 5 (25 f.). 116 Welp, FS Lenckner, S. 619 (628). 117 Vgl. aber unten die Ausführungen zu §§ 88, 90 TKG unter K. 118 Dazu erst die neuerliche Warnung der Datenschutzbeauftragten, Frankfurter Rundschau (Nr. 197) vom 26.8.1999, S. 1 und 4. 119 Müssig, ArchPF 1991, 86 (87). 120 Frankfurter Rundschau (Nr. 90) vom 19.4.1999, S. 11. 121 Zu der sogenannten Kryptokontroverse unten G. 3. a).
IV. Gefährdungen des Diskretionsschutzes
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aa) Gefährdungen durch Anbieter Abgesehen von der Verbreitung von ISDN nehmen auch Angebot und Nutzung neuer Dienste in den Netzen zu. Aufgrund der elektronischen Datenspur können weiter interpretierbare persönliche Profile erstellt werden. 1 2 2 Diese Risikopotentiale werden auch im vierten Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft; Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" beschrieben. 123 Für die Unternehmen bedeuten Kundendaten stets einen Wettbewerbsvorteil: Zum einen sind Daten an sich Handelsware geworden. 124 Zum anderen geben sie Aufschluß über die Bedürfnisse der Konsumenten und zukünftige Trends im Verbraucherverhalten. Programme zur Bearbeitung der maßgeblichen Daten werden von der Softwareindustrie des Data-Warehousing entwickelt. 1 2 5 Auch für den Bereich der Telekommunikation - Teledienste sollen hier nicht untersucht werden 1 2 6 - besteht diese Problematik, hat sich doch der Wettbewerb unter den Telekommunikationsunternehmen seit der Liberalisierung des Sprachtelefondienstes zum 1. Januar 1998 1 2 7 verschärft: In Deutschland sind derzeit über 1700 Anbieter von Telekommunikationsdiensten registriert. 128 Bis Ende 1999 erhielten 252 Unternehmen eine Netz- oder Sprachtelefondienst-Lizenz. 129 Bei dem zunehmend härteren Kampf um einen Kundenstamm werden auch kleine Wettbewerbsvorteile ausgenutzt: Daten über einen Telefonkunden, seine Telefoniergewohnheiten 122
Vgl. Gounalakis/Rhode, K&R 1998, 321 (328 mit Fn. 129). Enquete-Kommission „Zukunft der Medien", Band 7, S. 53 ff. 124 Die Vorstellung, daß möglichst vollständige Teilnehmerverzeichnisse einen Wettbewerbsvorteil bedeuten, liegt auch der Regelung des § 12 TKG zugrunde, der die Lizenznehmer verpflichtet, ihre Verzeichnisse Konkurrenten zugänglich zu machen, vgl. a. Beck'scher TKG-Kommentar2¡Büchner, § 12 Rn. 1. Vgl. ferner die Fälle im 16. Tätigkeitsbericht des BfD, S. 391 ff. Vgl. a. Kubicek, DuD 1995, 656 (658). 125 Möncke, DuD 1998, 561 und Bizer, DuD 1998, 570 ff. Data-Warehouses sind Datenbanken, die dem Management eines Unternehmens dazu dienen können, durch die Isolierung und Kombination bestimmter Daten Tendenzen der Verbraucher zu erkennen. Die datenschutzrechtliche Bedenklichkeit könnte durch die Anonymisierung der Daten ausgeräumt werden, Möncke, DuD 1998, 561 (567). Zu den Risiken des Data-Warehousing vgl. die Entschließungen der 59. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder vom 14./15. März 2000, DuD 2000, 302 (305). 126 Zur Abgrenzung unten J. II. 3. c) cc). 127 Vgl. § 97 Abs. 2 und § 99 Abs. 1 Nr. 1 b) TKG. 128 Vgl den Jahresbericht 1999 der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, S. 11. Erfaßt sind die Betriebe, die ihre Anzeigepflicht aus § 4 TKG erfüllt haben. 129 Jahresbericht 1999 der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, S. 11. 123
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A. Das Problem
und seine wichtigsten Gesprächspartner sind von besonderem Interesse, um spezielle Angebote zu entwerfen und zu verbreiten. Um die Erstellung von Mandantenprofilen zu verhindern und einer Verletzung des Anwaltsgeheimnisses vorzubeugen, hat daher die Anwaltschaft ihren Mitgliedern empfohlen, der gem. § 89 Abs. 7 Satz 1 T K G zum Zwecke der Werbung, Kundenberatung oder Marktforschung zulässigen Verarbeitung von Vertragsdaten durch die Anbieter zu widersprechen bzw. die Einwilligung nicht zu erteilen.130 bb) Gefährdungen durch andere Teilnehmer Die unübersichtliche Vielzahl der beteiligten Akteure infolge des Zerfalls des Netzes in Komponenten 131 begünstigt das Eindringen von Unbefugten. Dazu zu zählen sind auch sogenannte Hacker, die sich durch die Überwindung von Sicherungsmechanismen Zugang zu fremden Datenbanken verschaffen. Auch das Abhören mit privaten Funkgeräten gehört zu diesem Risikobereich. c) Fazit Das Zusammentreffen von Privatisierung und Liberalisierung mit dem „Quantensprung" in der Kommunikationstechnologie von der analogen zur digitalen Übermittlungstechnik hat nicht etwa zu einer Verringerung der Gefährdungen des Art. 10 GG geführt. Während früher das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis vor allem im Überwachungskontext bedroht war, sind nunmehr durch die Überlassung der Nachrichtenübermittlung an private Dritte neue Quellen für Grundrechtsgefährdungen entstanden. Nach wie vor besteht ein Schutzbedürfnis für die Gewährleistungsbereiche des Art. 10 GG.
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BRAK-Mitt. 1996, 188 f. Dieser Aufruf ist nicht unbestritten geblieben: Vgl. einerseits die Kritik an § 89 Abs. 7 TKG von Billig, NJW 1998, 1286; andererseits das Lob dieser Vorschrift bei Gundermann, NJW 1999, 477 (478). 131 Zu dieser Gefahrenquelle für das Fernmeldegeheimnis Rieß, Telekommunikationsrecht, S. 207.
B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post Zunächst soll ein Überblick über die Geschichte der deutschen Post als Institution gegeben werden (I.). Anschließend wird die historische Entwicklung der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses aufgezeigt (II.). Seine Entwicklungsstadien sollen dem geschichtlichen Werdegang der Post als Institution gegenübergestellt werden (III.), um aufzuzeigen, ob dieses Grundrecht in einem Zusammenhang mit der jeweiligen Verfaßtheit der Post steht.
I. Überblick über die Geschichte der deutschen Post1 Das Postwesen in Deutschland kennt zwei Gründungsvorgänge: die Thum und Taxissche Reichspost2 und die Preußische Post.3 Die Entstehung der Thum und Taxisschen Reichspost war durch das Bedürfnis der Habsburger begünstigt, sich für die Regierung ihres durch ihre Heiratspolitik ausgedehnten und unzusammenhängenden Herrschaftsgebietes ein reichsweites Kurierwesen zu schaffen. A m Anfang der Geschichte des Postwesens in Deutschland steht also ein privates Monopol. 4 Bei der Preußischen Post liegt die Initiative bei dem an politischer und militärischer Bedeutung zunehmenden preußischen Territorialstaat, der auf die Reichsgründung 1871 den bestimmenden politischen Einfluß ausübte.
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Einen detaillierten geschichtlichen Überblick bieten insbesondere: BK/Badura, Art. 10 Rn. 3 bis 11; Eidenmüller, Post- und Femmeldewesen, S. 3 bis 86; Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 87 bis 98; Mayer, Leistungsbehörde, S. 25 bis 35; North, Die geschichtliche Entwicklung des Post- und Femmeldewesens, Archiv für Deutsche Postgeschichte, 1974, 6; Stephan, Geschichte der Preußischen Post von ihrem Ursprünge bis auf die Gegenwart (1859); Stern/Geerlings, Kommentar Postrecht, Band 1, Teil B; Wieland, Die Verwaltung 1995, 315 (319 bis 325). 2 1695 stieg die Familie, aus Cornello bei Bergamo in Oberitalien stammend, unter dem Namen „Thum und Taxis" in den erblichen Reichsfürstenstand auf; ab 1748 war sie fortdauernd mit dem Prinzipalkommissariat, also mit der ständigen Vertretung des Kaisers, am Immerwährenden Reichstag in Regensburg betraut; vgl. Eidenmüller, Post- und Fernmeldewesen, S. 3; Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 88 mit Fn. 3. Ausführlich zur Taxisschen Post Piendl, Thum und Taxis 1517— 1867, Archiv für deutsche Postgeschichte 1967, 5. 3 So auch Eidenmüller, Kommentar Postrecht, Einführung A, S. 3. 4 So Wieland, Die Verwaltung, 28 (1995), 315 (319).
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post 1. Die Thurn- und Taxissche Post
Als Gründer der Taxisschen Post gilt Franz von Taxis (1459-1517). Ein Vertrag mit Philipp I. von Spanien (1478-1517) im Jahre 1505 unterstellte ihm die niederländischen Staatsposten. Als Familienoberhaupt - die Taxis besetzten die wichtigsten Niederlassungen an Knotenpunkten der Postlinien mit Familienangehörigen - fiel Franz von Taxis damit die Leitung des gesamten Unternehmens zu. 5 Kaiser Rudolf II. (1576-1612) verlieh Leonhard I. von Taxis 1596 das Reichspostgeneralat mit weitreichenden Vollmachten und erhob ihn und das Haus Taxis 1608 in den erblichen Reichsfreiherrenstand. Unter der Ägide von Lamoral Freiherr von Taxis erweiterte Kaiser Matthias am 27. Juli 1615 das Generalat zum erblichen Reichspostlehn.6 Das damit übertragene Postregal wird als dingliches, 7 d.h. als nutzbares und alle anderen auschließendes Recht 8 angesehen, was ordnungspolitisch die Schaffung eines Monopols bedeutete. Es erhielt also ein nach heutigen Begriffen „privates" Wirtschaftsunternehmen ein Monopol für den Postverkehr. 9 Die Taxis waren gegenüber dem Kaiser verpflichtet, die zum Postbetrieb notwendigen Einrichtungen vorzuhalten, insbesondere ein Netz 1 0 von Relaisstationen, auf denen Pferde gewechselt und Postillione abgelöst wurden. 11 Hierin kann eine historische Parallele zu dem Infrastrukturgewährleistungsauftrag des Art. 87f Abs. 1 GG gesehen werden. 12 Zur Deckung der Aufwendungen dafür und zur Erwirtschaftung eines standesgemäßen Lebensunterhalts forderten die Taxis kaiserlichen Schutz und Beistand gegenüber Konkurrenzunternehmen. 13 Parallel zu den Anfän5
Auch zum folgenden: Eidenmüller, Kommentar Postrecht, Einführung A S. 3 f. Das Reichspostlehn wurde durch das Privileg des Kaisers Ferdinand II. vom 27.10.1621 noch erweitert: das Postgeneralat sollte den Nachkommen der Taxis für immer gesichert werden, indem es - mangels männlicher Anwärter - auch auf die Töchter übergehen könne, vgl. Eidenmüller, Kommentar Postrecht, Einführung A, S. 3/4. 7 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 339. 8 Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 89. 9 Wieland, Die Verwaltung 28 (1995), 315 (S. 319). 10 Dies bestand aus einzelnen „Kursen", z.B. dem niederländisch-spanischen, dem niederländisch-deutschen und dem französischen Kurs, vgl. Piendl, Archiv für deutsche Postgeschichte 1967, S. 6. 11 Die kaiserlichen Rechte im Verhältnis zu den Taxis ergaben sich im wesentlichen aus dem Lehensrevers von 1615. In ihm hatte Lamoral von Taxis für sich und seine Nachkommen auch die Erhaltung und Erweiterung des Postwesens auf eigene Kosten versprochen, vgl. Eidenmüller, Kommentar Postrecht, Einführung A, S. 5. 12 Vgl. Wieland, Die Verwaltung 28 (1995), 315 (319). 13 Eidenmüller, Kommentar Postrecht, Einführung A S. 4. 6
I. Überblick über die Geschichte der deutschen Post
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gen eines staalichen Postwesens war nämlich im Mittelalter ein Botenwesen einzelner Städte und Vereinigungen, vor allem der Hansestädte, der Zünfte, der Klöster und Universitäten entstanden, das in erster Linie den Mitgliedern der jeweiligen Korporationen offenstand. 14 Sie verfügten dabei teilweise über eigene Kuriere und ließen ihre Mitteilungen im übrigen durch umherfahrende Handwerker, insbesondere Metzger, durch Pilger, wandernde Musiker, Kaufleute oder einzelne Privatunternehmen transportieren. Während einzelne geschäftstüchtige Postmeister seit 1516 gewinnträchtig Privatbriefe gegen Entgelt beförderten, geriet die Taxissche Post in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten. 15 Durch das Verbot des Nebenbotenwesens durch Kaiser Rudolf II. im Jahre 1597 und nachfolgende Untersagungen, die Einführung des Reichspostregals 1596 und seine Erweiterung zum erblichen Reichspostlehn 1615 ließen sich die Schwierigkeiten des Taxisschen Postwesens nicht beheben. Es wurde fortwährend einerseits von der privaten Konkurrenz bedroht, welche sich durch kaiserliche Verbote nicht ausräumen ließ, und andererseits besonders von einem Teil der Reichsstände im protestantischen Norden des Reichs mißachtet, die den kaiserlichen Vorrechten widerstrebend gegenüberstanden.
2. Das Ende der Taxisschen Post und die Konkurrenz durch die Territorien Erst recht mit den durch den Westfälischen Frieden gestärkten Territorialstaaten bekam die Taxissche Post Konkurrenz: Die einzelnen Fürsten zuerst, 1649, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst, später die Landesherren Kursachsens, Braunschweig-Lüneburgs, Mecklenburgs und Oldenburgs - errichteten staatliche Landespostanstalten; auch sie beanspruchten das Ausschließlichkeitsrecht für die Postbeförderung. Das Interesse der Landesherren am Postwesen entsprang fiskalischen Motiven: Man betrachtete es als Einnahmequelle, die den Territorien kraft ihrer Souveränität zuständen. Dieser staatliche Zweig der Postbeförderung erstarkte im modernen Absolutismus, während sich der durch die Thum und Taxis getragene private Zweig wegen der abnehmenden Bedeutung des Postwesens auf Reichsebene infolge des fortschreitenden Niederganges des deutschen Kaiserreiches im 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zurückbildete. 16 14 15 16
Auch zum folgenden: Mayer, Leistungsbehörde, S. 37. Hierzu und zum folgenden Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 88 bis 95. So auch Mayer, Leistungsbehörde, S. 41.
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
M i t dem Ende des Deutschen Reiches 1806 erlosch das kaiserliche Postregal im Reich und für das Haus Thum und Taxis das Generalat der Reichspost. 17 Die Thum und Taxis verwalteten nur mehr als Lehnsträger der jeweiligen Landesfürsten ein im wesentlichen in Mitteldeutschland liegendes größeres Postgebiet. Diese Doppelgleisigkeit des Postwesens fand mit dem Sieg der Preußen über Österreich 1866 bei Königgrätz ihren endgültigen Abschluß. 18 Aufgrund einer Regelung in den Friedensverträgen schlossen der preußische Staat sowie die übrigen Länder des Deutschen Bundes 19 am 28. Januar 1867 mit dem Haus Thum und Taxis einen Ablösungsvertrag: Das Fürstenhaus trat die ihm verbliebenen Postrechte und postalischen Einrichtungen gegen eine Abfindung von 3 Millionen Talem an den preußischen Staat ab. 2 0 3. Die preußische Post Bereits unter dem Großen Kurfürsten (1640-1688) wurde die Einrichtung von Poststationen als ein ausschließliches Vorrecht des Staates angesehen. Privatfuhranstalten, die bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllten, wurden aufgehoben, den anderen eine Konzession erteilt. 21 Darin kann ein Vorläufer der heutigen Lizenzsysteme gem. §§ 6 ff. T K G und 5 ff. PostG gesehen werden: Im Bereich der „gelben Post" stellt die Lizenzierung auch heute noch das zentrale Instrument zur Regulierung des Verhältnisses von Exklusivbereich und freiem Wettbewerb dar. Gleichwohl bestand zumindest anfänglich kein Postzwang 22 also eine „Verpflichtung des Publicums, für gewisse Arten von Sendungen oder Reisen sich nur der Posten oder der Extraposten zu bedienen". 23 Auch in Preußen hatten die staatlichen Postanstalten die private Konkurrenz zu fürchten. Friedrich I. (1688-1713) griff zum Schutz seiner Posten in den Reglements, die für jeden Post-Cours einzeln erlassen wurden, zu 17 Nach Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 339, ist zu differenzieren zwischen der Reichslehenbarkeit, die 1806 erlosch, und der auf dem Nachfolger in der staatlichen Souveränität übergangsfähigen Lehnsherrlichkeit. 18 Vgl. auch zum Folgenden Mayer, Leistungsbehörde, S. 45. 19 Cremerius, DÖV 1957, 174. 20 Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 92; Mayer, Leistungsbehörde, S. 42 und S. 44 mit Fn. 53. 21 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 51. 22 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 51. 23 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 117. Als Postzwang bezeichnet wird also eine dem einzelnen auferlegte Verhaltenspflicht, die der Schaffung des Monopols dienen soll, nicht aber das Monopol selbst.
I. Überblick über die Geschichte der deutschen Post
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unterschiedlichen Maßnahmen: So durften Privatanstalten an bestimmten Posttagen gar nicht oder nur dann betrieben werden, wenn die staatliche Post ausgelastet war. Den zunftangehörigen Fuhrleuten wurden bestimmte Taxen vorgeschrieben und eine Einschreibepflicht bei einem staatlich bestellten Fuhrkommissariat auferlegt, dessen Weisungen sie unterworfen waren. Auch wurden Privatunternehmer, die staatliche Fahrposten gepachtet hatten, subventioniert, um einen Verdrängungswettbewerb gegen andere Private einzuleiten. 24 Friedrich I. hatte den Postzwang zunächst gebietsweise eingeführt. Die Preußische Postordnung vom 10. August 1712, „das erste größere, organische Gesetz über das Postwesen, der Ausgangspunkt und die Grundlage der späteren Gesetzgebung", 25 statuierte den ausschließlichen staatlichen Vorbehalt, Beförderungsanstalten mit Posteigenschaften (i.e. Regelmäßigkeit, Wechsel der Transportmittel) anzulegen. 26 In einzelnen Bereichen bestanden jedoch Ausnahmen zugunsten Gewerbetreibender, wie auch das Monopol insgesamt nicht rigoros in die Praxis umgesetzt wurde. Die Taxissche Post durfte auf preußischem Gebiet nicht tätig werden. Sie mußte die an preußische Adressen gerichteten Briefe bei dem zuständigen preußischen Postamt abgeben und erhielt als Gegenleistung die Hälfte des Portos. 27 Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) formte den Postzwang in seinem Edikt vom 20. Juli 1715 deutlich aus: Alle verschlossenen Briefe und bis zwanzig Pfund schwere Pakete zählten von nun an zum Staatsmonopol. 28 Dies erinnert an den heutigen gewichtsorientierten Beförderungsvorbehalt bis Ende 2002 im Rahmen der Exklusivlizenz für die Deutsche Post A G gem. § 53 Abs. 1 Satz 1 PostG. Auch der öffentliche Bereich wurde angehalten, die Staatspost zu benützen: Die Ordonnanzen der Regimenter durften nur noch Dienstbriefe befördern; die Gerichte und Fakultäten wurden angewiesen, für die Aktenversendung nicht mehr eigene Boten einzusetzen, sondern die staatliche Post zu benützen. 29 Die folgende Epoche unter Friedrich II. (1740-1786) war durch die Ausdehnung des Postzwanges gekennzeichnet. Dies wurde durch teilweise drük24
Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 117. Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 119. 26 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 119. 27 „Die in den einzelnen Landestheilen noch passirenden Taxisschen Posten waren gehalten, bei Strafe sofortiger Arretirung, sich aller Colligirung und Distribuirung von Briefen zu enthalten, die nach Preußischen Orten bestimmten Briefe aber bei dem betreffenden Postamte, gegen die Hälfte Antheil am Porto, abzugeben.", Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 119. 28 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, 178. 29 Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 179. 25
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
kende 30 Gesetze bewerkstelligt, deren Befolgung durch ein „förmliches Spionir- und Denuncianten-Corps" 31 überwacht wurde. Die Allgemeine Postordnung vom 26. November 1782 führte die vereinheitlichenden Tendenzen ihrer Vorgängerin für das preußische Postwesen fort. Im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 finden sich detaillierte Regelungen über den Inhalt des Postregals, 32 aber keine Vorschriften über die Organisation der Preußischen Post. Wegen der territorial zersplitterten Post enthielten die von der Nationalversammlung 1848 ausgearbeitete gesamtdeutsche Verfassung und die revidierte preußische Verfassung von 1850 keine institutionellen Regelungen über das Postwesen.33 Erst die Ablösungsverträge mit den Taxis im Zusammenhang mit der Einigung der Territorien im Norddeutschen Bund 3 4 bildeten die Grundlage, eine gesetzliche Einheit des Post- und des Telegraphenwesens in Art. 48 ff. der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 35 zu schaffen. 36 4. Die Deutsche Reichspost Die Bestimmungen in der Reichsverfassung von 1871 waren eng an die Vorgängerregelungen aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes angelehnt und weitgehend mit diesen wortgleich. 37 Eine wichtige Etappe auf dem Werdegang der Post war im Kaiserreich, daß 1876 das Generalpostamt und die Generaldirektion zu einer „ReichsPost-und Telegraphen-Verwaltung" zusammengefaßt wurden. 38 Im darauf30
Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 268. Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 268. 32 2. Teil, 15. Titel, 4. Abschnitt ALR: „I. Begriff des Postregals. §. 141. Der Staat hat die ausschließliche Befugniß, Posten und Marktschiffe anzulegen, und den Lauf derselben zu ordnen. § 142. Damit der Staat diese Anstalten zum gemeinen Besten unterhalten könne, und wegen deren Benutzung gesichert sey, darf niemand etwas unternehmen, welches unmittelbar zur Schmälerung der Posteinkünfte gereicht." Sowie die Konkretisierung des Postregals in §§ 143 bis 151. 33 E. R. Huber, Dokumente, Bd. 1 S. 375 ff. und 501 ff. 34 Dazu oben I. 2. a.E. 35 Art. 48 lautete: „Das Postwesen und das Telegraphenwesen werden für das gesammte Gebiet des Norddeutschen Bundes als einheitliche Staatsverkehrs-Anstalten eingerichtet und verwaltet ...", zitiert nach E. R. Huber, Dokumente Bd. 2, S. 384 (394). Auch in den nachfolgenden Regelungen wird die Einheitlichkeit des Postwesens betont, so auch Großfeld/Janssen, DOV 1993, 424, vgl. z.B. auch Art. 49: „Die Einnahmen ... sind für den ganzen Bund gemeinschaftlich ...". 36 Vgl. a. Cremerius, DÖV 1957, 174. 37 Vgl. Art. 48 ff. der Bismarckschen Reichsverfassung vom 16. April 1871, in E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2 S. 384 (394 ff.). 38 Die Anfänge der Telegrafíe in Deutschland fallen in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1849 eröffnete der preußische König auch Privaten die Nutzung 31
I. Überblick über die Geschichte der deutschen Post
49
folgenden Jahr setzte Generalpostmeister Stephan 39 durch, daß der technisch gerade ermöglichte Telefonverkehr der Verwaltungszuständigkeit seines Ressorts als alleinige Aufgabe zugeschlagen wurde. 40 1889 bestätigte das Reichsgericht diese Rechtsansicht.41 Dies bedeutete eine Absage an alle privaten - auch ausländischen - Initiativen, in deutschen Städten Telefonnetze zu errichten. Auf die Initiative von Stephans geht auch der Abschluß des Weltpostvertrages von 1874 zurück, mit dem die 22 Vertragsstaaten nach den Grundsätzen eines einheitlichen Postgebietes, eines Welteinheitsportos und des Fortfalls von Transitporti einen völkerrechtlichen Vertrag schufen, der - novelliert - noch heute die Rechtsgrundlage für die Entscheidung aktueller zwischenstaatlicher Fragen im Postwesen ist, wie etwa für den Streit um das sogenannte Remailing. 42 Erst die Weimarer Reichsverfassung bildete die Grundlage für die Einrichtung eines Reichspostministeriums. 43 Durch das Reichspostfinanzgesetz vom 18.3.1924 44 wurde das Vermögen der Reichspost als Sondervermögen des bis dahin nur staatlichen Zwecken dienenden Telegrafennetzes, was auch zu dessen Finanzierung beitrug. 39 1831 bis 1897, seit 1885 Heinrich von Stephan. Seit 1870 führte er den Titel eines Generalpostdirektors, ab 1876 den des Generalpostmeisters und ab 1880, nach der Gründung des Reichspostamtes, den des Staatssekretärs. Von Stephan prägte die Entstehung der preußischen Post und der Reichspost in ganz außerordentlicher Weise: Postboten wurden seinerzeit sogar als „Stephansboten" bezeichnet. Neben der effizienten Gestaltung der Reichspost wird ihm als Verdienst die Schaffung des Weltpostvereins vom 9.10. 1874 - er hatte den Vertrag entworfen - angerechnet. Vgl. das Porträt von Ostermeyer in F. A. Z. vom 9.4.1997 (Nr. 82), S. 10, aus Anlaß des 100jährigen Todestages von Stephans. Vgl. ferner J.-O. Hesse, Die Diskussion um die Stephan-Nachfolge im Frühjahr 1897, Post- und Telekommunikationsgeschichte 1998, 111 ff.; North , Archiv für Deutsche Postgeschichte 1967, 6 (16 ff.). 40 Dazu z.B. Herrmann , Deutsche Bundespost, S. 93. 41 RGSt 19, 55 (58) aus 1889: Das Reichsgericht folgte der Ansicht von Stephans, das Fernsprechen sei als eine besondere Art des Fernschreibens, d.h. der Telegrafíe, anzusehen. Vgl. § 1 Abs. 3 des Gesetzes über das Telegrafenwesen von 1892 (RGBl. S. 467): „Die Fernsprechanlagen sind in den Telegrafenanlagen inbegriffen." 42 Zum Remailing (Einlieferung von Briefsendungen im Ausland, um ein höheres inländisches Porto zu umgehen) vgl. Art. 25 WPV, in: BT-Drs. 13/9574, S. 60 (74). Zum Entwurf eines Gesetzes (gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG) zu den Verträgen vom 14. September 1994 des Weltpostvereins, mit dem Art. 25 WPV umgesetzt wurde, ebenda S. 5 ff. (Art. 3 Abs. 3 des Vertragsgesetzes), ferner BT-Drs. 13/9694, 13/10262, 13/10648. 43 Art. 6 WRV bestimmte, daß das Post- und Telegraphenwesen Gegenstand ausschließlicher Reichsgesetzgebung war, gem. Art. 88 WRV gehörte das Post- und Telegraphenwesen zur ausschließlichen Reichsverwaltung (E. R. Huber , Dokumente, Bd. 4, S. 152 und 164). Der Bildung des Ministeriums waren die Abfindun4 Hadamek
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
mit eigener Haushalts- und Rechnungsführung aus dem allgemeinen Reichsvermögen ausgegliedert. Als (Teil-)Sondervermögen des Bundes sollte die Rechtsstellung der Deutschen Bundespost bis zur zweiten Postreform 1994 definiert werden. 45 In die Zeit der Weimarer Republik fällt auch die Erweiterung des Aufgabengebietes der Reichspost um das neue Medium des Rundfunks. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurden zur Durchsetzung des Führerprinzips die Mitspracherechte des Reichspostverwaltungsrates so zurückgeschnitten, daß diesem Gremium nur noch eine beratende Funktion verblieb 4 6 Die Deutsche Reichspost unter dem Reichspostminister Ohnesorge erwies sich als ein gefügiges Instrument in den Händen der Nationalsozialisten und leistete dem Unrechtsregime propagandistische, finanzielle und militärisch-strategische Unterstützung 4 7 Insbesondere setzte die Leitung willig und teils sogar vorauseilend die rassenideologisch motivierten Personalmaßnahmen und Benutzungseinschränkungen gegen die Juden u m . 4 8 1935 wurde der Fernseh-Rundfunk als neuer Dienst der Deutschen Reichspost aufgenommen, entwickelte sich jedoch während der NS-Zeit noch nicht zum Massenmedium. 49 Auch die Technik des Fernschreibens, die im Krieg erhöhte Bedeutung erlangte und unter diesem Druck weiterentwickelt wurde, hatte die Post an sich gezogen. 50 Im Anschluß an den von den Besatzungsmächten übernommenen Nachrichtenverkehr 51 entstand 1949 in der sowjetisch besetzten Zone die Deutsche Post und in den westlichen Zonen wurde durch das Postverwaltungsgesetz vom 24. Juni 1953 52 die Deutsche Bundespost gegründet.
gen der bis dahin noch selbständigen Postverwaltungen Bayerns und Württembergs vorangegangen, Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 94. 44 RGBl. I S. 287. 45 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1. Auflage 1980, § 21 Rn. 10. 46 Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 97. Ausführlich zum „Vereinfachungsgesetz" (Gesetz zur Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung) vom 27. Februar 1934, RGBl. I S. 10, Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 132 bis 136. Vgl. a. Stern/Geerlings, Kommentar Postrecht, Band I Teil B, Rn. 51. 47 Stern/Geerlings, Kommentar Postrecht, Band I Teil B, Rn. 51 ff. 48 Stern/Geerlings, Kommentar Postrecht, Band I Teil B, Rn. 51 und 56, sowie eingehend Postler, Sozial wissenschaftliche Analyse, S. 197 ff. 49 Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 183 f. 50 Postler, Post- und Fernmeldewesen, S. 181. 51 Zu der Nachrichtenübermittlung in der frühen Nachkriegszeit Steinmetz, Die staats- und verfassungsrechtliche Stellung der Deutschen Bundespost, ArchPF 1978, S. 1 bis 4. 52 BGBl. I S. 676.
I. Überblick über die Geschichte der deutschen Post
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5. Die Deutsche Bundespost Fragen der Organisation der Deutschen Bundespost waren zuvor Gegenstand der Beratungen von Herrenchiemsee 53 und im Parlamentarischen Rat gewesen. 54 Mayer kommt bei ihrer Analyse des authentischen gesetzgeberischen Willens in bezug auf die Organisationsform zu dem Ergebnis, daß beabsichtigt wurde, die Bundespost als nicht-rechtsfähigen Teil der Bundesverwaltung zu führen; rechtlich selbständige Organisationsformen des öffentlichen Rechts sollten ebenso ausgeschlossen werden wie eine Führung als juristische Person des Privatrechts. 55 Der bis zur zweiten Postreform insoweit unveränderte Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG a.F. bestimmte, daß die Bundespost in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau zu führen sei. 56 So war die Deutsche Bundespost sowohl vor der ersten Postreform als Einheit als auch noch in der Zeit zwischen den beiden Postreformen in der Form jeder der drei Bereiche Bestandteil unmittelbarer Staatsverwaltung. Trotz der von § 4 Postverwaltungsgesetz (PostVwG) 57 eingerichteten Möglichkeit, unter dem eigenen Namen „Deutsche Bundespost" zu handeln, zu klagen und verklagt zu werden, waren ihre Handlungen der Bundesrepublik zuzurechnen. Auch das Bundesministerium an ihrer Spitze verdeutlicht, daß sie ihre Aufgaben nicht etwa als eigenständige Trägerin wahrnahm. Die Selbständigkeit der Bundespost war also lediglich eine vermögensmäßig-organisatorische. Sie war Sondervermögen des Bundes mit der Folge, daß beide Vermögensmassen, ohne eine gegenseitige Einstandspflicht für Verbindlichkeiten, voneinander getrennt waren, § 3 Abs. 1 und 2 PostVwG. Die Bundespost hatte ihren eigenen Haushalt nach dem Grundsatz der Eigenwirtschaftlichkeit zu führen, § 15 PostVwG.
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Dazu ausführlich Mayer, Leistungsbehörde, S. 63 ff. Mayer, Leistungsbehörde, S. 66 ff. 55 Mayer, Leistungsbehörde, S. 71. 56 Eine Zusammenstellung der Materialien findet sich bei Von Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 (1951), zu Art. 87 GG a.F. ebenda S. 644 ff. Eingehend Mayer, Leistungsbehörde, S. 56 ff. 57 Gesetz über die Verwaltung der Deutschen Bundespost vom 24.7.1953, BGBl. I 1953, S. 676. 54
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
II. Die Geschichte des Grundrechts 1. Die strafrechtlichen Wurzeln des Briefgeheimnisses Zur Zeit des mittelalterlichen Botenwesens bestand ein - freilich nicht besonders wirksamer - Schutz des Briefgeheimnisses durch die in einzelnen Postordnungen vorgesehene Vereidigung der Boten. 58 Bedeutender war der Schutz durch eine strafrechtliche Bewehrung. I m Mittelalter erfolgte die Ausdehnung der in den Digesten enthaltenen Lex Cornelia de falsis 59 auf das Delikt der Brieferbrechung im allgemeinen. 60 M i t falsum war eine Verletzung der inhaltlichen Wahrheit einer Erklärung gemeint. 61 Die ansonsten ganz unterschiedlichen 62 Straftaten der Deliktsgruppe der falsi hatten gemeinsam, daß sie außer dem dolus einen Schaden oder eine Gefährdung von Vermögenswerten Rechtsgütern voraussetzten, so daß sich die Schutzwürdigkeit des Briefgeheimnisses aus seiner Einordnung in die private Vermögenssphäre ergab: 63 Bei der Brieferbrechung im ursprünglichen Sinn handelte sich also um ein Vermögensdelikt, welches Schädigungs- oder Fälschungsabsicht voraussetzte und von jedem gegen jeden begangen werden konnte. Diese Herkunft des Geheimnisschutzes dominierte noch die Pönalisierung der Verletzung des Postgeheimnisses in dem Codex juris Bavarici criminalis von 1751 und der Constitutio Criminalis Theresiana von 1768. 64
2. Der Schutz des Postgeheimnisses in den preußischen Postordnungen von 1712 und 1782 Anhand der preußischen Bestimmungen läßt sich ein Neuansatz ausmachen. Die Postordnung vom 10. August 1712 und, den Anwendungsbereich von den Briefen auf die gesamte Korrespondenz ausdehnend, die Preußische Allgemeine Postordnung vom 26. November 1782 bezweckten nicht nur den Schutz der Korrespondierenden, sondern auch den der Reputation der Post. Nicht nur die Brieferbrechung, sondern auch die Vorenthaltung 58
Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 3 f. L. 1, § 5 D. 48, 10. 60 Dazu ausführlich Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 5 ff. 61 Nawiasky, Postrecht, S. 150. 62 Vgl. die Aufzählung bei Nawiasky, Postrecht, S. 150. mit Fn. 6: z.B. Fälschung, Unterschlagung und widerrechtliche Eröffnung von Testamenten und anderen Urkunden. 63 Nawiasky, Postrecht, S. 150. 64 Die älteste gesetzliche Regelung findet sich in der Tiroler Landesordnung von 1532, so Waldschmidt, HRG III, Artikel „Postgeheimnis", Spalte 1840. 59
. Die Geschichte des Grundrechts und Unterschlagung durch Postbedienstete waren unter Strafe gestellt. 65 Es handelte sich also um einen Schutz vor Gefahren, die gerade aus der Anstaltsbenutzung hervorgingen. 66 Das Preußische Allgemeine Landrecht vom 5. Februar 1794 fügte dem in Teil I I Titel 15, § 204 eine entsprechende Bestimmung hinzu. 6 7
3. Von den Anfängen verfassungsrechtlicher Kodifikation bis zur Weimarer Reichsverfassung Die erste Kodifikation des Briefgeheimnisses in einer der deutschen bürgerlich-liberalen Verfassungen findet sich in § 38 der Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen vom 5. Januar 1831. 68 Inhaltlich weitgehend übereinstimmend ist Art. 22 der Verfassung Belgiens vom 7. Februar 1831. 69 Weder die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution vom 26. August 1789 noch die nachfolgenden französischen Revolutionsverfassungen hatten eine entsprechende ausdrückliche 70 Gewährleistung enthalten. Lediglich das Dekret der Assemblée Constituante vom 10. August 1790 bestimmte den lückenlosen Schutz des Briefgeheimnisses 65 Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 19; Nawiasky, Postrecht, S. 151. Vgl. Kap. VIII, § 4 PostO 1712 und Abschnitt V, § 1370 PostO 1782. 66 Nawiasky, Postrecht, S. 151. 67 „Die Postbediensteten müssen die ankommende und abgehende Correspondenz verschwiegen halten, und mit wem jemand Briefe wechsele, keinem anderen offenbaren." Diese Vorschrift wurde ergänzt durch die Strafvorschriften der § 205 ALR (Teil 2 Titel 15 Abschnitt 4 - Amtsdelikt) und §§ 1370 f. ALR (Teil 2 Titel 20 Abschnitt 15 - von jedermann begehbare Delikte). 68 E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 238 ff. (243): „Das Briefgeheimniß ist auch künftig unverletzt zu halten. Die absichtliche unmittelbare oder mittelbare Verletzung desselben bei der Postverwaltung soll peinlich bestraft werden." Ein verfassungsrechtlicher Vorläufer anderer Art war die Garantie der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses auf allen deutschen Postwegen in einem Reichsverfassungsartikel von 1690 und seine Aufnahme in die Josephinische Wahlkapitulation gewesen, vgl. Waldschmidt, HRG III, Artikel „Postgeheimnis", Spalte 1841. 69 Commichau, Menschen- und Bürgerrechte, S. 82/82: „Art. 22. Le secret des lettres est inviolable. La loi détermine, quels sont les agents responsables de la violation du secret des lettres confiées ä la poste." Ebenda übersetzt: „Das Briefgeheimnis ist unverletzlich. Das Gesetz bestimmt die Beamten, welche für die Verletzung des Geheimnisses der Briefe, die der Post anvertraut sind, verantwortlich sind." 70 Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 45 mit Fn. 1, sieht das Briefgeheimnis in der Französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung implizit in anderen Freiheitsrechten (Eigentum, individuelle Freiheit) gewährleistet.
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
gegenüber der Verwaltung und den Privaten. 71 Dem wird teilweise verfassungsrechtliche Bedeutung zugesprochen. 72 a) § 142 der Paulskirchenverfassung Auf Reichsebene ist es erstmals in § 142 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, der nicht in Kraft getretenen Paulskirchenverfassung, zu einer grundrechtlichen Regelung gekommen. Da diese Bestimmung Vorbild insbesondere für die entsprechende Regelung in der Weimarer Reichsverfassung war, an welcher man sich wiederum bei den Beratungen zu Art. 10 GG orientierte, ist es gerechtfertigt, ihre unmittelbare Entstehung zu untersuchen. 73 Diese Vorschrift lautete: „Das Briefgeheimniß ist gewährleistet. Die bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in Kriegsfällen nothwendigen Beschränkungen sind durch die Gesetzgebung festzustellen." 74 In den Beratungen dazu 75 hat dieses Grundrecht „die eingehendste Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand in der deutschen Verfassungsgeschichte" 76 erfahren. Die Diskussion konzentrierte sich auf drei Streitfragen. Die vordringlichste Frage war, ob das Grundrecht vorbehaltlos zu gewähren oder mit einem einfachen oder einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt zu versehen sei. Diese Frage wurde zugunsten des qualifizierten Gesetzesvorbehaltes entschieden (aa). Die zweite Frage war, ob das Grundrecht auf das Post- oder das Briefgeheimnis zu lauten habe (bb). Schließlich war zwischen der Fassung, das Brief- oder Postgeheimnis sei „unverletzlich", oder derjenigen, es werde „gewährleistet", zu entscheiden (cc). 71 „Que le secret des lettres est inviolable et que, sans aucun prétexte, il ne peut y être porté atteinte, ni par les individus ni par les corps administratifs.", zitiert nach BKJBadura, Art. 10 Rn. 5; vgl. a. Nawiasky , Postrecht, S. 152 mit Fn. 11. 72 So Ste rn/Berna rds/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 2. Im Gegensatz dazu spricht BK/Badura, Art. 10 Rn. 5, von einem „Akt der einfachen Gesetzgebung". Für die Auffassung von Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag spricht zwar der vorausgegangene sogenannten Ballhausschwur, mit dem sich die Nationalversammlung den Auftrag zur Verfassungsausarbeitung gab. Da die neue Verfassung aber erst am 3.9.1791 verkündet wurde, ist der Ansicht von Badura zu folgen, daß es sich bei dem Dekret nicht um einen Rechtsakt mit Verfassungsrang handelt. 73 Auch nachfolgende Landesverfassungen nahmen, orientiert an dem in der Paulskirche erarbeiteten Entwurf, das Briefgeheimnis auf: vgl. die Nachweise bei Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 26 ff. 74 Zitiert nach E. R. Huber, Dokumente, Bd. 1 S. 375 ff. (391). 75 Wigard, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 3. Bd. Nr. 63, S. 1598 bis 1608. Auszüge daraus bei Scholler, Grundrechtsdiskussion, S. 146 bis 149. 76 BYUBadura, Art. 10 Rn. 7.
. Die Geschichte des Grundrechts aa) Die Frage des Gesetzesvorbehaltes Insofern standen drei Fassungen zur Diskussion. Eine Minderheit im volkswirtschaftlichen Ausschuß trat dafür ein, das Grundrecht vorbehaltlos zu fassen. Ein Vertreter dieses Antrages betonte die Wichtigkeit der Gewährleistung für den Schutz des geistigen Eigentums sowie die Sicherheit des geistigen Lebens überhaupt und sah in ihm ein „Heiligthum ... in Bezug auf das ganze geistige Leben des Menschen ... Es ist mir lieber, daß ein einzelnes Verbrechen ganz unentdeckt bleibe, als daß hundert redliche Leute sich vielleicht unverdient einer solchen Verletzung unterwerfen müssen." 77 Für die vorbehaltlose Gewährleistung wurde ferner ein Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber und die Gefahr der Aushöhlung durch zu weitgehende Gesetze angeführt. 78 Der Verfassungs-Ausschuß schlug einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Inhalts vor, daß bei strafgerichtlichen Untersuchungen und im Kriegsfall von der Gesetzgebung festzustellende Beschränkungen zulässig sein sollten. Dieser Antrag wurde mit der Begründung verteidigt, daß ein Ausgleich zwischen dem Schutz der individuellen Freiheit und dem „Gesammtinteresse für Sicherheit und Ordnung" zu schaffen sei, der insbesondere i m Kriegsfall nicht dem Zufall überlassen werden dürfe, 79 wie es ein Vertreter der Minorität im volkswirtschaftlichen Ausschuß gefordert hatte. 80 Außerdem könne so schon durch den Verfassungstext Einfluß auf ohnehin notwendige Ausnahmen genommen werden. 81 Demgegenüber unterstützte die Mehrheit i m volkswirtschaftlichen Ausschuß, welche sich im Plenum aber nicht durchsetzen konnte, die einen einfachen Gesetzesvorbehalt enthaltende Fassung. 82 Dafür wurde im wesentlichen ins Feld geführt, daß Detailregelungen zu vermeiden seien und die Verfassung sich auf allgemeine Prinzipien zu beschränken habe. 83
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So der Abgeordnete Eisenstruck aus Chemnitz, in: Wigard, Stenographischer Bericht, S. 1602. 78 Redebeiträge von Osterrath, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1600, rechte Spalte und Nerreter, ebenda S. 1603, rechte Spalte. 79 Redebeitrag Beseler, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1605. 80 Redebeitrag Nerreter, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1603, rechte Spalte. 81 Redebeitrag Beseler, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1605, linke Spalte. 82 Zu den Anträgen Wigard, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1598/1599. 83 Redebeitrag Francke, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1604, rechte Spalte.
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post bb) Brief- oder Postgeheimnis: Entstehung des Kompensationsgedankens
Angesichts der Vorbilder aus der kurhessischen und der belgischen Verfassung von 1831, in denen das ßne/geheimnis geschützt wurde, lag die Begründungslast bei denjenigen Abgeordneten, die die Fassung als Postgeheimnis bevorzugten. Interessant an den im Ergebnis erfolglosen Stellungnahmen für das Postgeheimnis ist nicht etwa eine begriffliche Prägung, mit deren Hilfe die bis heute nicht übereinstimmend festgelegte Binnensystemat i k 8 4 in Art. 10 GG geklärt werden könnte. 85 Vielmehr ist das Argument bemerkenswert, es solle mit diesem Grundrecht „eine Bürgschaft gegeben werden ... gegen den Mißbrauch, welchen die Behörden mit der Post als Staats-Anstalt, der wir genöthigt sind, unsere Geheimnisse anzuvertrauen, treiben können. Die Post soll nicht benutzt werden, von solchen Behörden, die sich mit ihr identificiren, ... Wenn wir unsere Briefe einem Boten übergeben, und er erbricht sie, so wird er ein Verbrechen, eine strafbare Handlung begehen. Das wird aber kein Grund sein, um den Schutz gegen diese Contractverletzung in die Grundrechte aufzunehmen. Die Grundrechte nehmen eine solche Bestimmung nur darum auf, weil sie gegen die Post als Staats-Anstalt Garantie geben wollen. Dieser Gedanke wird bestimmter ausgedrückt durch die Fassung: ,Das Postgeheimnis ist unverletzlich,' als durch die Fassung: ,Das Briefgeheimnis ist unverletzlich. 4"86 Daraus geht das wichtigste und am nachhaltigsten vertretene Motiv für den spezifisch verfassungsrechtlichen Schutz 87 dieses Grundrechts hervor. Es soll hier als Kompensationsgedanke bezeichnet werden: Die Aufnahme in den Grundrechtskatalog sollte als Kompensation dafür erfolgen, daß der einzelne für die Beförderung seiner Poststücke sich nur an eine Institution wenden konnte. Eine weitere Begründungskomponente war der Umstand, daß es sich dabei um ein staatliches Monopol handelte. Die Kodifikation als Grundrecht sollte somit einen Ausgleich für die Lage schaffen, daß ein besonderes Näheverhältnis des an Überwachung prinzipiell interessierten Staates zu der öffentlich-rechtlichen Beförderungsanstalt bestand. 88 Hier 84
So der Begriff bei von Mangoldt/Klein/Gws)>, Art. 10 Rn. 6. Dazu unten J. II. 3. a). 86 Redebeitrag Riesser, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1601, rechte Spalte; Hervorhebungen nicht im Original. 87 Darüber, daß der strafrechtliche Schutz nicht ausreichen konnte, sondern ein spezifisch verfassungsrechtlicher Schutz bestehen müsse, bestand Einigkeit in der Paulskirche. Vgl. die Redebeiträge von Cnyrim, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1599, rechte Spalte u. 1600, linke Spalte, Francke, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1604, rechte Spalte. 88 Vgl. a. den Redebeitrag von Francke, in: Wigard, Stenographischer Bericht, S. 1604, rechte Spalte: „... man will dem Einfluß der höher gestellten Behörden auf die Post, welcher so oft zum größten Nachtheil geübt wurde, vorbeugen, ...". 85
. Die Geschichte des Grundrechts zeigt sich bereits bei der Genese des Grundrechts die spezifisch verfassungsrechtliche Schutzrichtung des Grundrechts gegen die postfremde Exekutive. Der Ausgleichsgedanke wurde im Zusammenhang mit den Postreformenausdrücklich als Erklärung des Schutzzweckes von Art. 10 GG angeführt. 89 Ebenso war der Kompensationszusammenhang auch für das Bundesverfassungsgericht im Fangschaltungsbeschluß wesentlich, um die spezifische Schutzrichtung gegen Zugriffe durch die postfremde Exekutive zu begründen. 9 0 Heute scheint der Kompensationsgedanke vor dem Hintergrund der Privatisierung der Deutschen Bundespost an Relevanz verloren zu haben, entfällt-doch zumindest bei der Ziel Vorstellung des Gesetzgebers von einer materiellen Privatisierung aller ehemaligen Postbereiche die staatliche Nähe zum Beförderungs- bzw. Telekommunikationsvorgang. 91 Die Deputierten in der Nationalversammlung 1848/49 folgten der für das Postgeheimnis sprechenden Kompensationsargumentation jedoch nicht. Es blieb gemäß dem Vorbild aus der belgischen Verfassung bei der Fassung des Grundrechts als Briefgeheimnis, weil dieses als im Vergleich zum Postgeheimnis als umfassenderer Begriff angesehen wurde: Das Briefgeheimnis gelte für alle Briefe, nicht nur für die von der Post beförderten. 92
89 Vgl. BK/Badura, Art. 10 Rn. 3; Gusy, JuS 1986, 89 bis 91; von Münch 4 / Löwer, Art. 10 Rn. 11; C. Arndt, DÖV 1996, 459 (461). Einen engen Zusammenhang zwischen der grundrechtlichen Gewährleistung und dem Post- und Fernmeldemonopol sehen auch Schapper/Schaar, CR 1990, 773 (777 mit Fn. 34). 90 s. die Passage in BVerfGE 85, 386 (396): „Gegenstand des Schutzes sind Kommunikationen, die wegen der räumlichen Distanz zwischen den Beteiligten auf Übermittlung durch Dritte, typischerweise die Post, angewiesen sind. Das Grundrecht soll jener Gefahr für die Vertraulichkeit der Mitteilung begegnen, die sich gerade aus der Einschaltung eines Übermittlers ergibt. Seine besondere Bedeutung gewinnt es aus der Erfahrung, daß der Staat unter Berufung auf seine eigene Sicherheit sowie auf die Sicherheit seiner Bürger häufig zum Mittel der Überwachung privater Kommunikation gegriffen hat. Dabei kommt es ihm zustatten, daß als Vermittler überwiegend die staatlich betriebene Post auftritt. Der Zugriff wird dadurch sowohl leichter als auch unauffälliger." 91 Zu diesem Wegfall des Art. 10 GG inhärenten Schutzmechanismus im Sinne Welps oben A. IV. 3. a). 92 Osterrath, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1601, rechte Spalte; Eisenstuck, ebenda S. 1602, rechte Spalte; Nerreter, ebenda S. 1603, linke Spalte; mit anderer Begründung gegen das Postgeheimnis Wiesner, ebenda S. 1604, linke Spalte; kritisch („Brief' sei zu einem eng verstandenen, technischen Ausdruck geworden) aber im Ergebnis zustimmend Francke, ebenda S. 1604, rechte Spalte.
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post cc) Gewährleistung oder Unverletzlichkeit?
M i t der Wortwahl „wird gewährleistet" wurde die Vorstellung einer Staatsgarantie, die den Staat verpflichte, durch Strafbestimmungen die Wahrung des Briefgeheimnisses abzusichern, verbunden. 93 Von dem Vertreter des erfolgreichen, auf die Gewährleistung lautenden Antrages wurde dies jedoch abgeschwächt: Es solle „angedeutet werden, daß wir hier das Briefgeheimnis in einem bestimmten, technischen Sinne genommen haben, daß wir nämlich nicht allgemein sprachen von einer Garantie des Staates, welche gegen die Verletzung eines Briefes übernommen werden soll, - das wäre ja geradezu unmöglich - sondern daß hier das Briefgeheimnis in sofern anerkannt und geschützt wird, als es überhaupt in der Hand des Staates liegt, dieses zu thun." 94 Dabei handele es ich im Vergleich zu der Fassung „ist unverletzlich" um ein „Mehr." 9 5 Von hier aus kann ein - freilich noch abzustützender - Bogen geschlagen werden zu dem Schutzauftrag, in den sich Art. 10 GG aufgrund der Postprivatisierung teilweise gewandelt hat: Die Entstehungsgeschichte des verfassungsrechtlich geschützten Briefgeheimnisses legt nahe, daß zur Wahrung dieses Grundrechts ein bloßes Unterlassen des Staates nicht ausreicht, vielmehr sein positives Handeln zum Schutz - auch gegen Eingriffe von dritter Seite - erforderlich sein kann.
93 So kritisch fragend Nerreter, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1603, linke Spalte: „Andererseits weiß ich nicht, warum der Verfassungs-Ausschuß das Wort , gewährleistet4 gebraucht hat. Hat er vielleicht daran gedacht, daß wir das Versprechen einer Staatsgarantie haben müssen, weil die Postanstalt eine Staatsanstalt sei, und es sich hier um Eingriffe der Staatsgewalt handle? Nun, dann frage ich, warum bei den vorigen Paragraphen nicht auch dieses Wort gebraucht worden ist? Versteht es sich dort von selbst, daß, wo ein Gesetz ist, sich auch nothwendig Strafbestimmungen daran knüpfen müssen, dann versteht es sich ja auch hier von selbst, und es ist überall kein Grund vorhanden, die Conformität der Sätze aufzugeben, welche doch jedenfalls das Verständniß und die Uebersicht erleichtert." 94 Redebeitrag Beseler, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1605, linke Spalte. 95 Beseler, in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1606, rechte Spalte. Umgekehrt wird in der neueren Grundrechtsdogmatik versucht, Unverletzlichkeitsanordnungen wie die in Art. 10 Abs. 1 GG als Anhaltspunkt im Wortlaut des GG als Begründung für Schutzpflichten heranzuziehen, vgl. Dietlein, Schutzpflichten, S. 53, und Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 186; vgl. a. BVerfGE 10, 302 (322) - Unterbringung Entmündigter. Näher dazu unten D. II. 1.
. Die Geschichte des Grundrechts b) Die anschließenden Verfassungen Die oktroyierte Verfassung für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850 96 enthielt eine dem § 142 der Paulskirchen Verfassung fast gleichlautende Bestimmung: Art. 33 ordnete jedoch die ,Unverletzlichkeit' des Briefgeheimnisses statt seiner »Gewährleistung 4 an, eine Wortwahl, die sich über die Weimarer Reichs Verfassung bis in Art. 10 GG fortsetzen sollte. Der Gesetzes vorbehält in Art. 33 der preußischen Verfassung von 1850 zur Einschränkung des Briefgeheimnisses bei strafgerichtlichen Untersuchungen und im Krieg wurde nie genutzt. 97 Der Schutz des Briefgeheimnisses ging in Sachsen und Braunschweig in die Postgesetze ein. 9 8 Außer dem Strafgesetzbuch Österreichs enthielten nur die deutschen Strafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts den (deliktsrechtlichen) Schutz des Briefgeheimnisses. 99 Die Verfassung des Norddeutschen Bundes beinhaltete ebenso wie die Reichsverfassung von 1871 keinen Grundrechtsteil, jedoch umfangreiche Bestimmungen über das staatliche Post- und Telegraphenwesen. 100 Als Substitut 1 0 1 für eine grundrechtliche Gewährleistung wurde das Briefgeheimnis einfach-gesetzlich durch § 58 Abs. 2 des Gesetzes über das Postwesen des Norddeutschen Bundes vom 2.11.1867, 102 dem Vorläufer des § 5 PostG 1969, und im Kaiserreich durch den mit seinem Vorgänger fast wortgleichen § 5 des Gesetzes über das Postwesen des deutschen Reiches vom 96
E. R. Huber, Dokumente, S. 501 ff. (504). E. R. Huber, Dokumente, S. 504 mit Fn. 14. Vgl. die von Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 30 f., dargestellte Argumentation, mit der sich die preußische Postbehörde gegen polizeiliche Beschlagnahmeverlangen wehrte und in der der Kompensationsgedanke auftaucht: „Der bestehende Postzwang nötigt die Untertanen, Briefe lediglich mit der Post zu versenden, und deshalb hat der Staat auch die Pflicht, das Publikum, welches seine Briefe der Post anvertraut, gegen Nachteile zu schützen. Dieser Schutz ist durch die gesetzlichen Vorschriften über das Briefgeheimnis zugesichert ... [§§ 204 f., 1370 f. ALR ]. Eine Beschränkung des Briefgeheimnisses zugunsten der Polizeibehörden existiert nicht." 98 Wolcke, Postrecht, S. 64. 99 Vgl. die Nachweise bei Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 31 ff. 100 Art. 48 ff. der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 in: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2 S. 272 (279 ff.); Art. 48 ff. der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871, ebenda S. 384 (393). 101 So BYJBadura, Art. 10 Rn. 8. 102 Er lautete: „Das Briefgeheimnis ist unverletzlich. Die bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in konkurs- und zivilprozessualischen Fällen notwendigen Ausnahmen sind durch Bundesgesetz festzustellen. Bis zu dem Erlaß eines Bundesgesetzes werden jene Ausnahmen durch die Landesgesetze bestimmt" (zitiert nach BK/ Badura, Rn. 8). 97
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
28.10.1871 103 geschützt. Dem mit dem Aufkommen der zunächst optischen, später der elektrischen Telegrafie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbundenen Geheimnisschutz in diesem Bereich diente eine Bestimmung des Telegraphengesetzes von 1892; 1 0 4 sie war der Vorläufer der entsprechenden Regelung im Fernmeldeanlagengesetz (FAG) von 1928. 1 0 5
4. Art. 117 W R V Wegen der einfach-gesetzlichen Übergangslösung zwischen 1867 und 1919 führt eine direkte Linie von § 142 der Paulskirchenverfassung über die damit insofern gleichlautende revidierte preußische Verfassung von 1850 zu der Gewährleistung in Art. 117 der Weimarer Reichsverfassung (WRV). Art. 117 WRV lautete: „Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind unverletzlich. Ausnahmen können nur durch Reichsgesetz zugelassen werden." In Art. 117 WRV treten durch die gehäufte Nennung der Geheimnisbereiche Definitionsfragen zu Tage, die teilweise in der Paulskirche angeklungen waren, 1 0 6 aber keinen Niederschlag in der Fassung des Grundrechts gefunden hatten. Da Art. 117 WRV unmittelbarer Vorläufer und Vorbild für Art. 10 GG ist, soll insbesondere die Abgrenzung von Brief- und Postgeheimnis näher betrachtet werden. Die Nennung des Telegraphen- neben dem Fernsprechgeheimnis in der Weimarer Reichsverfassung ist bedeutungslos geblieben. Die Teilgarantien sind Ausprägungen des einfach-rechtlichen Schutzes gem. § 5 PostG von 1871 und § 354 RStGB, 1 0 7 durch den der grundrechtliche Schutz zwischen 1867 und 1919 substituiert worden w a r . 1 0 8 Es wurde ein verfassungsrechtliches Verständnis des Briefgeheimnisses in einem weiteren und in einem engeren Sinne zugrundegelegt. Das Briefge103
RGBl. S. 358. RGBl. 467. 105 RGBl. I S. 8. Bei dem Gesetz über Fernmeldeanlagen handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Gesetzes über das Telegraphenwesen, vgl. Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 95. 106 s.o. 3. a. bb). 107 § 354 RStGB lautete: „Ein Postbeamter, welcher die der Post anvertrauten Briefe oder Packete in anderen, als den im Gesetze vorgesehenen Fällen eröffnet oder unterdrückt, oder einem Anderen wissentlich eine solche Handlung gestattet, oder ihm dabei wissentlich Hülfe leistet, wird mir Gefängniß nicht unter drei Monaten bestraft.", Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 14.6.1871, RGBl. Nr. 24, S. 128, 195. 108 Dazu oben zu 2. 104
. Die Geschichte des Grundrechts heimnis im weiteren Sinn sollte jedermann verpflichten, das Postgeheimnis (Briefgeheimnis im engeren Sinn) nur die Beamten der Post- und Telegraphenverwaltung. 109 In das Verfassungsrecht eingeführt wurde damit ein neues Kriterium: Nicht der Sachbereich (Beförderung durch Private oder durch die Post), sondern der statusbezogene, institutionelle Aspekt sollte die Abgrenzung leisten. a) Das Postgeheimnis (Briefgeheimnis
im engeren Sinn)
Nach diesem Verständnis diente das Postgeheimnis dem Schutz vor der Post und ihren Beamten, bildete also § 354 RStGB und § 5 PostG auf der verfassungsrechtlichen Ebene ab. Damit trat aber ein Verlust an grundrechtlicher Substanz 110 ein, ging die eigentliche Spitze des Grundrechts, der Schutz gegen die postfremde Exekutive, doch verloren. 111 Diese schied als Grundrechtsverpflichtete aus, obwohl der Schutz vor ihr das eigentliche Motiv für die Aufnahme der Bestimmung in den Grundrechtekanon gewesen w a r . 1 1 2 Der Schutz des einzelnen vor der postfremden Exekutive konnte nach diesem Verständnis nur mittelbar durch die Verpflichtung der Post zur Geheimhaltung gegenüber anderen Behörden erreicht werden, nicht aber selbständig im Sinne der Polizeifreiheit des Postverkehrs. 113 b) Das Briefgeheimnis
im weiteren Sinn
Aus der Prägung des Grundrechts durch die Vorschriften des einfachen Rechts wurde von einer Minderheit in der Literatur 1 1 4 gefolgert, das verfassungsrechtliche Briefgeheimnis im weiteren Sinn verpflichte jedermann, also neben dem Staat auch Private. Daraus entstand Unklarheit darüber, wie denn das Briefgeheimnis nach Art. 117 WRV als Grundrecht und damit als Abwehrrecht des einzelnen nur gegen den Staat private Dritte verpflichten könne. Anschütz lehnte vor dem Hintergrund dieser Fragestellung die Auslegung ab, das Briefgeheimnis gem. Art. 117 WRV schütze auch vor den 109 NipperdeyIBovensiepen, S. 388. Ähnlich Anschütz, Verfassung des deutschen Reiches, Art. 117 Anm. 1; hier wird daneben eine Unterscheidung nach den beförderten Gegenständen eingeführt: Das Briefgeheimnis beziehe sich nur auf Briefe, nicht auf Telegramme und Ferngespräche. 110 BK/Badura, Art. 10 Rn. 13. 111 BYJBadura, Art. 10 Rn. 16. 112 So schon Francke während der Beratungen in der Paulskirche: „... man will dem Einfluß der höher gestellten Behörden auf die Post, welcher so oft zum größten Nachtheil geübt wurde, vorbeugen, ...", in: Wigard, Stenographischer Bericht S. 1604, rechte Spalte. 113 B¥J Badura, Art. 10 Rn. 6. 114 Nachweise bei BK/Badura, Art. 10 Rn. 17.
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
Eingriffen Privater. 115 Überwiegend wurde die Gewährleistung des Briefgeheimnisses in Art. 117 WRV als Auftrag an den Gesetzgeber verstanden, für einen ausreichenden zivil- und strafrechtlichen Schutz des Briefgeheimnisses gegenüber Privaten zu sorgen. 116 An dieser Kontroverse um den Adressatenkreis des Briefgeheimnisses zeigte sich schon in der Weimarer Zeit die auch unter Privatisierungsvorzeichen bedeutsame Frage der (un-)mittelbaren Verpflichtung Privater aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung. 117
c) Der Rechtszustand nach der nationalsozialistischen Machtergreifung bis zum 23. Mai 1949 Art. 117 WRV wurde zusammen mit den anderen wesentlichen Grundrechten durch die Verordnung des Reichspräsidenten von Hindenburg zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 1 1 8 außer Kraft gesetzt. Gemäß der nationalsozialistischen Rechtsideologie wurden subjektive Rechte gegen den Staat zugunsten einer „Gliedstellung" in der Gemeinschaft abgelehnt, daher das verfassungsrechtliche Postgeheimnis als liberalisitisch und individualistisch verworfen. 119 Bejaht wurde die aus dem Postbenutzungsverhältnis folgende strafrechtlich bewehrte Diskretionspflicht der Post und ihrer Beamten, 120 die allerdings nicht im positiven Recht, sondern „nur durch die Verwaltungspraxis bestimmt (sei), die sich bei ihren Entscheidungen hauptsächlich auf das im Laufe der Jahrhunderte innerhalb der Post gewachsene Rechtsbewußtsein stützte." 121 115
Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 117 Anm. 1. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 8. Aufl., 1931, Art. 117 Anm. 1; Hofacker, Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, 1926, S. 27; PoetzschHeffter, Handkommentar der Reichsverfassung, 3. Aufl. 1928, Art. 117 Anm. 1. Die Position der Minderheit ist noch anfänglich zu Art. 10 GG nachdrücklich vertreten worden. Vgl. von Mangoldt, Grundgesetz, 1953, Art. 10 Anm. 2: Das Postgeheimnis richte sich allein gegen den Staat, während das Briefgeheimnis in erster Linie die Pflicht jedes einzelnen bedinge, jedes unbefugte Eindringen in das Geheimnis fremder Briefe zu unterlassen. Ähnlich Neumann/Nipperdey/Scheuner/ Oehler (1954), S. 609 und von Mangoldt¡Klein, Grundgesetz (1957), Art. 10 Anm. III. 2.: Neben die Grundrechtsadressaten Staat (einschl. Gesetzgeber) sowie Behörden und Beamte treten Private als Grundrechtsverpflichtete. 117 Dazu eingehend unten C. I. 118 Verordnung Nr. 530 (Nr. 524) vom 28. Februar 1933 (RGBl. I S. 83); zitiert nach E. R. Huber, Dokumente, Bd. 4, S. 663. 119 Exemplarisch für die Anwendung der NS-Rechtsideologie auf das Postgeheimnis, Fritz, Das Postgeheimnis im nationalsozialistischen Staat, JahrbPost 1937, 172 (180 ff. und passim). 120 Fritz,, JahrbPost 1937, 172 (183 ff.). 116
. Die Geschichte des Grundrechts Die Post- und Telefonüberwachung in den drei westlichen Besatzungszonen 1 2 2 wurde durch Art. 5 Abs. 2 des Deutschlandvertrages 123 auf eine rechtliche Grundlage gestellt, welche bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zu Art. 10 GG vom 13. August 1968 die Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in Art. 10 GG durch die Überwachungsbehörden der Alliierten bildete. 1 2 4 d) Das Grundrecht in der Deutschen Demokratischen Republik Auch in die Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik fand das Post- und Fernmeldegeheimnis in Art. 117 WRV ähnlichen Fassungen Eingang. 1 2 5 Diese grundrechtlichen Verbürgungen haben nicht die bekannte umfangreiche Überwachungspraxis des Ministeriums für Staatssicherheit gehindert, für welche eine Fülle von dienstlichen Befehlen, Richtlinien, Dienstanweisungen und Ordnungen die Voraussetzungen schufen. Diese wurden von den Mitarbeitern des Überwachungsministeriums als unmittelbar verbindlich begriffen, so daß die verfassungsrechtliche Gewährleistung - isoliert von den einfach-rechtlichen Vorschriften und der Überwachungspraxis - ganz ausgehöhlt wurde. 1 2 6
5. Entstehungsgeschichte des Art. 10 G G a) Der Entwurf von Herrenchiemsee Bereits Art. 11 des Entwurfs von Herrenchiemsee lehnte sich eng an Art. 117 WRV an. Jedoch war der in Art. 11 Abs. 2 des Entwurfs vorgeschlagene Vorbehalt weiter gefaßt, indem auch Ausnahmen durch die Rechtsprechung zugelassen werden sollten. 1 2 7
121
Fritz, JahrbPost 1937, 172 (185, vgl. a. S. 179). Gleichsam als flankierende Maßnahmen hält Fritz gesetzliche Regelungen zur Beschränkung des Postgeheimnisses für „zweckmäßig", ebenda S. 194. 122 Vgl. dazu die Darstellungen von C. Arndt , FS Schäfer, S. 147; AKJSchuppen, Art. 10 Anm. 1.2.2.2.; von Mangoldt¡Klein, Art. 10 Anm. 6. 123 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Drei Mächten vom 26.5.1952 (BGBl. II S. 305). 124 AK/Schuppen, Art. 10 Anm. 1.2.2.2. 125 Vgl. Art. 8 der Verfassung von 1949 (bei E. R. Huber, Quellen, S. 292 (294)) und Art. 31 der Verfassung vom 6.4.1968, GBl. I S. 199. 126 Dazu Reuter, Die ungesetzlichen Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis in der DDR, NJ 1991, 383. 127 BYJBadura, Art. 10, Anm. I.
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post b) Art. 10 GG im Parlamentarischen
Rat
Schon zu Beginn der Beratungen des Parlamentarischen Rates zu dem späteren Art. 10 GG wurde vorgeschlagen, sich eng an frühere Verfassungen, insbesondere an die Weimarer Reichsverfassung, anzulehnen. 128 Im Ergebnis kam es dann zu der ursprünglichen Fassung von Art. 10 GG, die gegenüber Art. 117 WRV nur zwei geringfügige Abweichungen aufwies. 1 2 9 Dementsprechend lassen sich in den Beratungen keine großen Kontroversen finden. Die Materialien geben jedoch Aufschluß zum einen über den Inhalt der einzelnen Gewährleistungsbereiche, zum anderen über Fragen im Zusammenhang mit dem Gesetzesvorbehalt. aa) Die einzelnen Gewährleistungsbereiche Man einigte sich darauf, daß das Fernmeldegeheimnis als Oberbegriff das Fernsprech- und Telegraphiegeheimnis umfasse. 130 Darin zeigte sich bereits die dem Fernmeldegeheimnis eigene Dynamik, die es heute gegenüber den neuen Medien besitzt. Aus einer Anmerkung des allgemeinen Redaktionsausschusses131 geht die Begründung für die selbständige Gewährleistung des Brief- und Fernmeldegeheimnisses neben dem Postgeheimnis hervor: „Das Briefgeheimnis ist teils enger, teils weiter als das Postgeheimnis. Auch Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis gehen über den Bereich des Postalischen hinaus (vgl. z.B. die Benutzung der Fernsprech- und Telegrafeneinrichtungen der Eisenbahn für den Privatverkehr)." Erfaßt werden sollte von der grundrechtlichen Gewährleistung der Diskretion für Briefe und Ferngespräche auch der außer128
6. Sitzung des Grundsatzausschusses am 5.10.1948 in: Der Parlamentarische Rat: 1948-1949; Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und dem Bundesarchiv, 1993, Dok. Nr. 7, S. 119. 129 Die Fassung des Art. 10 GG lautete bei Verkündung des GG: „Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Femmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden." (BGBl. 1949 S. 2). Die Abweichungen gegenüber Art. 117 WRV liegen darin, daß es in Satz 2 nicht „können", sondern „dürfen" heißt und „angeordnet" statt „zugelassen". Vgl. a. die Zusammenstellung der Materialien zu Art. 10 GG einschließlich der im Herrenchiemseer Entwurf enthaltenen Bestimmung von Von Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 (1951), 125 bis 127. 130 25. Sitzung des Grundsatzausschusses am 24.11.1948 in: Der Parlamentarische Rat: 1948-1949; Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und dem Bundesarchiv, 1993, Nr. 32, S. 679. Vgl. femer die entsprechende Abstimmung im Hauptausschuß, 3. Lesung, 47. Sitzung vom 8.2.1949, StenBer. S. 616. 131 Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom 13./16.12.1948 zur Fassung der 1. Lesung des Hauptausschusses in: Parlamentarischer Rat, GG für die Bundesrepublik Deutschland (Entwürfe), Bonn 1948/1949, S. 85 ff. (88).
. Die Geschichte des Grundrechts postalische Bereich, also zum einen die Strecken des Übermittlungsvorganges, die zwischen dem Bereich der Korrespondierenden und der postalischen Einrichtung liegen, zum anderen auch ganze Übermittlungsvorgänge, die nicht von der Post ausgeführt werden, etwa durch private Boten beförderte Briefe oder über postfremde Netze vermittelte Ferngespräche. In diesem Motiv zeigt sich die privatisierungsoffene Binnenstruktur der Gewährleistungsbereiche in Art. 10 GG: Aus der Aufteilung der Gewährleistungsbereiche geht hervor, daß der Schutz der Diskretion in der Kommunikation auf Distanz unabhängig von der Verfaßtheit der befördernden Instanz vom Verfassungsgeber gewollt ist. bb) Der Gesetzesvorbehalt Zum einen war Diskussionspunkt, ob der Gesetzesvorbehalt mit der Schranken-Schranke erfolgen sollte, eine Beschränkung des Grundrechts dürfe nicht zu politischen Zwecken angeordnet werden. 1 3 2 Zum anderen wurde entsprechend der Stellungnahme des allgemeinen Redaktionsausschusses der Gesetzesvorbehalt insofern geändert, als die Zulassung von Beschränkungen „durch Gesetz" durch die Fassung „aufgrund eines Gesetzes" ersetzt wurde, 1 3 3 um zu verdeutlichen, daß Art. 10 GG auch durch Rechtsverordnungen einschränkbar sei. 6. Die Einfügung des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 G G Im Rahmen des 17. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, 134 der „NotstandsVerfassung", erfuhr Art. 10 GG seine Aufteilung in zwei Absätze und die Ergänzung um Absatz 2 Satz 2. Die Novelle ermöglicht es, daß dem in seinem Recht aus Art. 10 Abs. 1 GG beschränkten Grundrechtsträger die eingreifende Maßnahme nicht mitgeteilt wird, wenn sie dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dient. Ferner wurde in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG der Rechtsweg durch die Nachprüfung einer parlamentarischen Kontrollkommission ersetzt, 135 was die Anfügung von 132 6. Sitzung des Grundsatzausschusses am 5.10.1948 in: Der Parlamentarische Rat: 1948-1949; Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und dem Bundesarchiv, 1993, Dok. Nr. 7, S. 119 f.; 25. Sitzung des Grundsatzausschusses am 24.11.1948 S. 676 ff. ebenda. 133 Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses zur Fassung der 2. Lesung des Hauptausschusses (Stand 25.1.1949) in: Parlamentarischer Rat, GG für die Bundesrepublik Deutschland (Entwürfe), Bonn 1948/1949, S. 117 ff. (123). 134 Vom 24.6.1968 (BGBl. I S. 709). 135 Vgl. § 9 G 10. Dazu C. Arndt, FS Schäfer, S. 147 (152 ff.). 5 Hadamek
B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
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Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG erforderlich machte. Auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG wurde das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses 136 erlassen. In seinem heftig kritisierten 137 Abhör-Urteil vom 15. Dezember 1970 befand das Bundesverfassungsgericht die Änderung des Art. 10 GG in seiner verfassungskonformen Auslegung für vereinbar mit Art. 79 Abs. 3 G G . 1 3 8 Auch die angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes zu Art. 10 GG hielt es bis auf diejenige Bestimmung des G 10 für verfassungsgemäß, die das Unterbleiben der Unterrichtung des Betroffenen über Beschränkungsmaßnahmen auch dann vorsah, wenn die Unterrichtung auch ohne Gefährdung des Zwecks der Beschränkung erfolgen könne. 1 3 9 Im Rahmen der beiden Postreformen 1989 und 1994 hat Art. 10 GG keine äußerlichen Änderungen erfahren. 140
III. Folgerungen aus der Geschichte der Post und des Postgeheimnisses 1. Positivierung als Reaktion auf staatliche Eingriffstätigkeit Schon auf den ersten Blick ist ein Zusammenhang zwischen den Kodifikationsbestrebungen und dem Ausmaß festzustellen, in welchem der Staat in die individuelle Fernkommunikation eingriff: Die Positivierung des Grundrechts und seine Entwicklung stellt eine Reaktion auf die zeitweise uneingeschränkte staatliche Eingriffstätigkeit dar. Das Briefgeheimnis ist im Zuge des Liberalismus und Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts in den Grundrechtskanon gelangt. Zuvor hatten absolutistische Herrscher sogenannte Schwarze Kabinette eingerichtet, in 136
Gesetz zu Art. 10 Grundgesetz (G 10) vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.6.1999 (BGBl. I S. 1334). 137 Vgl. - neben dem Sondervotum der Bundesverfassungsrichter Geller, von Schlabrendorff und Rupp, BVerfGE 30, (33 ff.) - zum Abhörstreit insbesondere die Darstellung in Maunz/Dwrig, Art. 10 Rn. 36 ff. Vgl. zur kritischen Resonanz, die das Urteil in der Lehre fand, vor allem die veröffentlichten Gutachten von Evers und Dürig, Zur verfassungsändernden Beschränkung des Post-, Telefon- und Femmeldegeheimnisses, 1969, sowie Schlink, Der Staat 12 (1973), 85; femer Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 377; AYJSchuppert, Art. 10 Rn. 27 ff. (30 und 32). 138 BVerfGE 30, 1 (17 bis 29). Dagegen das Sondervotum von Geller/von Schlabrendorff/Rupp, BVerfGE 30, 1 (34). 139 BVerfGE 30, 1 (31 f.). 140 Im Zuge der Postreform II wurden im GG allein die Art. 87f, 143b eingefügt und die Art. 73 und 87 angepaßt. Es blieb sogar bei dem ,»Fernmeldegeheimnis" in Art. 10 GG, wohingegen in Art. 73 Nr. 7 GG „Fernmeldewesen" durch „Telekommunikation" ersetzt wurde.
III. Folgerungen
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denen nicht nur in Kriegszeiten Post systematisch kontrolliert wurde. 1 4 1 Dies gilt zwar in diesem Ausmaß nur für Frankreich in den Zeiten Richelieus und Mazarins, ansatzweise und im Kriegsfall aber auch für Preußen 142 sowie andere Staaten 143 und mag für jeden Landesherrn ein verlockendes Mittel zum Machterhalt und eine willkommene Informationsquelle gewesen sein. Jedenfalls befürchtete man zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Ausbreitung der französischen Zustände. 144 Wolcke hält die Möglichkeiten eines privaten Monopolunternehmens, seine Kunden vor dem staatlichen Ausforschungsverlangen zu schützen, für ein Argument, das den Anspruch der Taxis auf die Verleihung des Postregals wesentlich unterstützte. 145 Dieser Zusammenhang zwischen staatlichen Beeinträchtigungen des Briefgeheimnisses und seinem Schutz durch Gesetze läßt sich weiterverfolgen: Der Paulskirchenverfassung ging die Zeit der Koalitionskriege und der Karlsbader Beschlüsse von 1819 voraus, als im Deutschen Bund unter dem Vörwand der der Staatsräson dienenden „Demagogenverfolgung" intensive Freiheitsbeschränkungen, vor allem die Vorzensur und die Einrichtung einer zentralen Überwachungsbehörde, durchgeführt wurden. Der Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung folgte auf einen kriegs- und revolutionsbedingten Ausnahmezustand. Art. 10 GG ist vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Willkürherrschaft, der massiven Postkontrolle während des Zweiten Weltkrieges und der Überwachung durch die Alliierten in der Besatzungszeit entstanden. Postler hat schwerpunktmäßig für die Zeit des Nationalsozialismus nachgewiesen, wie die Deutsche Reichspost, insbesondere durch die Pervertierung ihrer Gemeinwohlorientierung aus der Weimarer Zeit, zur Durchsetzung spezifischer nationalsozialistischer Ziele funktionalisiert wurde. 1 4 6 Schon in der Vorkriegszeit war die Deutsche Reichspost in die Wirtschaftspolitik des NS-Staates eingebunden, 147 diente propagandistischen Zwek141
Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 8 f. Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 52. 143 Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 9: Österreich, Spanien; weitere Beispiele für die Verletzung des Briefgeheimnisses in den deutschen Territorialstaaten und durch den Kaiser bei Stephan, Geschichte der Preußischen Post, S. 52 f. 144 Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 25. In absolutistischen Zeiten waren - nicht nur in Frankreich - sogenannte Schwarze Kabinette üblich, in denen der Briefverkehr überprüft wurde. 145 Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 9. 146 Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 129 ff. (166 ff.), 237 ff. Vgl. a. Stern/Geerlings, Kommentar Postrecht, Band I Teil B, Rn. 53 ff. 147 Postler, Sozial wissenschaftliche Analyse, S. 187 ff., 195 f.: Die Post wurde z.B. für die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit in die Pflicht genommen und verschaffte dem „Führer" über die Herausgabe von Briefmarken mit Zuschlägen Finanzmittel. 142
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
k e n 1 4 8 und wurde zum Instrument des Terrorstaates, indem sich durch sie die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs und die allgemeine Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Postkunden bewerkstelligen ließ. 1 4 9 Im Krieg erlangte sie nicht nur durch ihre Dienste militärische Bedeutung, sondern auch durch ihre Forschungspolitik, 150 sie kooperierte mit Wehrmacht und S S 1 5 1 und baute in den besetzten Gebieten das Post- und Fernmeldewesen auf, um es für Kriegsziele einzusetzen. 152
2. Zusammenhang der Geschichte des Grundrechts und der organisatorischen Entwicklung der deutschen Post a) Grundrechtsschutz
und staatliches Monopol
Die Kodifikation des Briefgeheimnisses in § 142 der Paulskirchen Verfassung erfolgte zur Zeit des Niederganges des privaten Postmonopols der Taxis, als die staatlichen Postanstalten in den Territorien bereits erstarkt waren und eine Vereinheitlichung der Post in den Blick kam, die das hegemoniale Preußen mit dem einheitlichen Postwesen im Norddeutschen Bund vollzog. Art. 117 WRV ist für die bereits durch Art. 48 ff. RV 1871 reichseinheitlich verfaßte Staatspost und Art. 10 GG für die Post als Gegenstand bundesunmittelbarer Verwaltung nach Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG a.F. geschaffen worden. Die Genese der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses vollzog sich also während des Prozesses der Vereinheitlichung und Monopolisierung des staatlichen Postwesens. Erst in dem Kontext der Konzentration der Postfunktionen in unmittelbarer Staatsnähe ist das Bedürfnis hervorgetreten, das Postgeheimnis gerade grundrechtlich zu schützen. Vor diesem Hintergrund wird die spezifisch verfassungsrechtliche Schutzrichtung gegen die postfremde Exekutive deutlich. 148
Postler, Sozial wissenschaftliche Analyse, S. 209 ff.: Briefmarken wurden zum Mittel des „Führerkultes" und der politischen Propaganda. 149 Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 197 ff. Die rassistischen Maßnahmen erreichten ihren Höhepunkt im Krieg: Beispielsweise wurden der jüdischen Bevölkerung im Juli 1940 die Fernsprechanschlüsse gekündigt, ab Juli 1941 gab es nur noch besondere Schalterstunden für Juden, Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 204 f. Weitere Stichworte sind: die Diskriminierung der jüdischen Postbeschäftigten und die Ausschaltung jüdischer Lieferanten der Reichspost. 150 Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 217 f. 151 Postler, Sozialwissenschaftliche Analyse, S. 219 ff., 225 ff. 152 Postler, Sozial wissenschaftliche Analyse, S. 227 ff.
III. Folgerungen
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Der einfach-rechtliche Schutz in Form der Straftatbestände, insbesondere § 354 RStGB, und der verwaltungsrechtliche Schutz, vgl. § 5 PostG, ist demgegenüber auf den Schutz vor Zugriffen der Postbediensteten gerichtet. Dies wird - mit Hinweis sowohl auf das private Monopol der Taxis ab Erlangung des Postregals 1615 als auch auf das staatliche Monopol der preußischen Post nach 1648 - damit begründet, daß die Monopolisierung der Post zu einer Beschränkung der Postkundschaft in der Personalauswahl führt: Der einzelne kann sich nicht mehr eine beliebige, ihm vertrauenswürdige erscheinende Person für die Beförderung seiner Briefe aussuchen, sondern muß das vom Monopolunternehmen bereitgestellte Personal mit der Beförderung betrauen. 153 Hier zeigt sich die einfach-rechtliche Auswirkung des Kompensationsgedankens. Im Gegenzug zu der gesetzlich verfügten Konzentration der Postbeförderung in einer Hand „schuldet" der Staat Regelungen, die den Diskretionsbereich schützen.
b) Das Schutzbedürfnis in den Fällen des privaten Monopols und der Liberalisierung der Postdienste Schon für den Dies gilt auch für werden.
aus der Vorgeschichte des Grundrechts ist der faktische Bedarf Diskretionsschutz in der Kommunikation auf Distanz ablesbar. für die Konzentration der Postdienste in privater Hand, kann aber einen Zustand der vollständigen Liberalisierung nicht geleugnet
So findet sich in der Literatur die Einschätzung, bereits das private Monopol der Taxis habe dem Kaiser den Zugriff auf die Briefe erleichtert. 154 Allein die Organisation der Post in einer (privaten) Hand gefährde die Geheimnisse und erfordere den Schutz der Postbenutzer - und der Post gegen Ausforschungsversuche durch den Staat. Dies wird nachvollziehbar, führt man sich vor Augen, daß durch die Bündelung der Dienstleistungen bei einem Unternehmen der Staat nur einen Adressaten hat, von dem er die Aufdeckung der Geheimnisse verlangt, bei einer Mehrheit von Anbietern sein Ausforschungsverlangen aber mehrfach und möglicherweise immer wieder neu durchsetzen muß. 1 5 5 153
Aubert, Fernmelderecht, S. 43. Wolcke, Brief- und Telegraphengeheimnis, S. 9; Aubert, Fernmelderecht, S. 44. Vgl. aber auch Herrmann, Deutsche Bundespost, S. 102: Der Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses als Grund für die Zuordnung der Post zur Bundesverwaltung sei im Parlamentarischen Rat mit dem Argument verworfen worden, auch die Wahrung des vergleichbar bedeutenden Bankgeheimnisses werde erfolgreich privaten Instituten anvertraut. 155 Zu der Verbesserung des Schutzmechanismus aus Art. 10 GG infolge der Privatisierung bereits oben A. IV. 3. a). 154
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B. Die Geschichte des Grundrechts und der Post
Für diese Schutzrichtung gegen das Beförderungsunternehmen und seine Mitarbeiter besteht bei einem privaten - oder staatlichen - Monopol wie unter den Bedingung vollständiger Liberalisierung ein praktisches Bedürfnis, wie der Rechtszustand vor der Verstaatlichung des Postwesens zeigt, als das Briefgeheimnis allein strafrechtlich geschützt war. Schließlich hat der Verfassungsgeber an der Aufzählung der Teilgewährleistungsbereiche festgehalten, um die Diskretion in der Kommunikation auf Distanz auch bei nicht von der Post vermittelten Korrespondenzen freilich gegen staatliche Eingriffe - zu schützen. 156 3. Historische Festlegung auf den Abwehrrechtscharakter? Mit dieser Parallelisierung der Geschichte des Grundrechts und der Verfaßtheit der Post läßt sich vor allem der „abwehrrechtliche Duktus" 1 5 7 von Art. 10 GG historisch belegen. Unterstützt wird dies durch die Deutung der Entstehungsgeschichte mit dem Kompensationsgedanken und die Hervorhebung der Schutzrichtung des Grundrechts gegen die postfremde Exekutive. Auch die Positivierung als Reaktion auf die staatliche Ausforschung zeigt eindeutig den Abwehrrechtscharakter. Andererseits läßt sich dem jedoch nicht entnehmen, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis habe nur Bedeutung bei einer staatlich verwalteten Post. Denn der Werdegang des Grundrechts und die Entwicklung des staatlichen Postwesens fallen zwar zeitlich zusammen, bedingen sich aber nicht notwendig gegenseitig. Die „Verstaatlichung des Postwesens (kann) nicht die Geburtsstunde der Verschwiegenheitspflicht der Postbediensteten gewesen sein" 1 5 8 , wie die strafrechtlichen Wurzeln 1 5 9 des Briefgeheimnisses nahelegen. Der Kompensationsgedanke in seiner ursprünglichen Form nimmt nur vordergründig an Begründungskraft in dem Maß ab, in dem die Monopole der Nachfolgeunternehmen schwinden. Ist das Ziel der materiellen Privatisierung einmal erreicht, wird die Grundlage für den unmittelbaren Kompensationszusammenhang „Sicherheit gegen Benutzungszwang" fehlen. Der Grund für das unbestritten fortbestehende Schutzbedürfnis für dieses Grundrecht liegt in der Abwesenheit der Beteiligten bei der Übermittlung der Nachricht, also in ihrer Angewiesenheit auf Mittelsleute und Übermittlungstechnik. Dafür ist im Hinblick auf das Schutzgut der Privatheit auch unter 156
Dazu oben 5. b) aa). Isensee, HBStR V, § 111 Rn. 9 und 18. Als vorrangig bezeichnet auch von Münch 5 ! Löwer, Art. 10 Rn. 56 die abwehrrechtliche Dimension des Art. 10 GG. 158 Eidenmüller, Kommentar Postrecht, § 5 PostG, S. 66 Anm. 1. 159 Dazu oben II. 1. und 2. 157
III. Folgerungen
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den Bedingungen der Privatisierung und Liberalisierung Ausgleich durch den Schutz des Grundrechts zu leisten. I m Bereich staatlicher Überwachung des Nachrichtenverkehrs bleibt die ursprüngliche abwehrrechtliche Bedeutung von Art. 10 GG erhalten. 160 4. Hinweise aus der Entstehungsgeschichte auf andere Grundrechtsfunktionen, insbesondere auf Schutzpflichten aus Art. 10 G G In der Auseinandersetzung um die sprachliche Fassung von Art. 142 der Paulskirchenverfassung und Art. 117 WRV als Brief- oder Postgeheimnis ist die Frage der Bindung Privater durch das Grundrecht angesprochen worden. Dieses Problem wird heute als unmittelbare Drittwirkung bezeichnet und ist auch im Zusammenhang mit Art. 10 GG aufgeworfen worden. 1 6 1 In der Debatte um die Wortwahl zwischen Unverletzlichkeit und Gewährleistung wurde in der Paulskirche die Erforderlichkeit gesetzgeberischer Maßnahmen zum Schutz des Grundrechts und damit das Thema grundrechtlicher Schutzpflichten angeschnitten. Die Geschichte des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zeigt, daß einfach-rechtliche Normen eine wesentliche Komponente des Diskretionsschutz der Kommunikation auf Distanz sind. Als einen Hinweis auf einen staatlichen Schutzpflichtenauftrag aus Art. 10 GG kann es insbesondere gedeutet werden, daß der Diskretionsschutz zeitweise sogar nur durch Vorschriften des einfachen Rechts, insbesondere des Strafrechts und des Postrechts, gewährleistet wurde. Dies zeigen der Rechtszustand vor der ersten verfassungsrechtlichen Kodifizierung 1831, in der im wesentlichen nur strafrechtliche Schutzvorschriften vorlagen, und die Zeit von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (1867 bis 1919). In dieser Zeit ergingen die Schutz Vorschriften des Strafrechts und des Postrechts i.w.S., die die Vorbilder der noch im Rahmen der zweiten Postreform geltenden § 5 PostG und § 10 FAG gewesen sind. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Art. 10 GG trotz deutlicher historischer Akzente auf seiner abwehrrechtlichen Funktion für objektive Grundrechtsfunktionen offen ist.
160
Vgl. z.B. Pieroth/SchlinK Gusy, Art. 10 Rn. 34, 37. 161 s.u. C. I.
Grundrechte, Rn. 763, 775; von Mangoldt/Klein/
C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung Der ursprüngliche Zweck des Grundrechts besteht in der Abwehr von Eingriffen der postfremden Exekutive. 1 Art. 10 GG nimmt also die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, die Nachrichtendienste, die Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie die Polizei in die Pflicht. 2 Zu Zeiten bundeseigener Verwaltung der Postaufgaben gem. Art. 87 Abs. 1 Satz 1 GG a.F., also bis zur zweiten Postreform, war es aber auch gesicherte Erkenntnis, daß neben der postfremden Exekutive die Bundespost selbst und ihre Bediensteten gem. Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebunden waren. 3 Infolge der Privatisierung der Deutschen Bundespost ist die Frage aufgetreten, ob und inwieweit die Nachfolgeunternehmen und ihre freien Wettbewerber grundrechtsverpflichtet sind. Eine unmittelbare Grundrechtsverpflichtung könnte aus zwei, sich einander ausschließenden Tatbeständen gefolgert werden: Zum einen könnte Art. 10 GG unmittelbare Drittwirkung entfalten und so private Unternehmen binden (unten I.). Zum anderen ist zu prüfen, ob die Nachfolgeunternehmen im Sinne einer nur formellen Privatisierung in einem so geringen Ausmaß dem privaten Sektor zuzurechnen sind, daß sie noch der Grundrechtsverpflichtung gem. Art. 1 Abs. 3 GG unterfallen (unten II.).
I. Unmittelbare Drittwirkung von Art. 10 GG? Angesichts des Umstandes, daß sich die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung ausgehend von der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts4 seit langem durchgesetzt hat, 5 rechtfertigt sich das Aufwerfen der 1
Das ist durch die Geschichte des Grundrechts, insbesondere durch seinen Entstehungszeitpunkt, belegt, s.o. Teil B., insbesondere B. II. 3 ) - Beratungen in der Frankfurter Paulskirche und III. 1. - Positivierung als Reaktion auf staatliche Eingriffstätigkeit. 2 Sehr deutlich BK/Badura, Art. 10 GG Rn. 7, 13, 16, 21, und Aubert, Fernmelderecht, S. 44. 3 BVerwGE 6, 299 (301); vgl. aus der Lit. etwa BK/Badura, Art. 10 Rn. 21; Aubert, Femmelderecht, S. 44; von Münch3'IPappermann, Art. 10 Rn. 6; Gusy, JuS 1986, 89 (91); AYJSchuppert, Art. 10 Rn. 18; von Münch4 /Löwr, Art. 10 Rn. 7. 4 BVerfGE 7, 198. 5 Vgl. Stern, Staatsrecht III/l, S. 1511 ff. (1532 f.), der selbst eine differenzierende, der mittelbaren Drittwirkung nahestehende Lösung vorschlägt, ebenda
I. Unmittelbare Drittwirkung von Art. 10 GG?
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Frage nach der unmittelbaren Drittwirkung hier dadurch, daß hinsichtlich Art. 10 GG konkrete Anknüpfungspunkte vorliegen: Das Briefgeheimnis wurde anfänglich als unter Privaten geltend von dem Postgeheimnis unterschieden.6 Die Frage nach der unmittelbaren Drittwirkung wurde hinsichtlich der Geltung des Art. 10 GG zugunsten Minderjähriger gegenüber ihren Eltern diskutiert. 7 Als ein Beispiel für eine anerkannte unmittelbare Grundrechtsgeltung im Privatrechtsverkehr wird das dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis nahestehende8 allgemeine Persönlichkeitsrecht aufgeführt. 9 Außerdem ist der Gedanke der unmittelbaren Drittwirkung im Gesetzgebungsverfahren zur zweiten Postreform als verfassungsrechtliche Lösung zum Schutz des Art. 10 GG unter Privatisierungsbedingungen angesprochen, wenngleich auch sofort wieder verworfen worden. 10 Schließlich ist der Gedanke der unmittelbaren Drittwirkung des Art. 10 GG auch in der Literatur aufgegriffen 11 oder sogar vertreten worden, 12 um die Bindung der privaten Anbieter an das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses auch unter Privatisierungsbedingungen zu erreichen. Sowohl im Zusammenhang mit der Minderjährigen- als auch mit der angesprochenen Abgrenzungsproblematik zwischen den Teilgewährleistungen ist die unmittelbare Drittwirkung in der Literatur 13 und selbst von dem der S. 1556 ff. In neuerer Zeit wird die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung nur vereinzelt vertreten, etwa von Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373 ff., und hinsichtlich einzelner Grundrechte auch von Lücke, Die Drittwirkung der Grundrechte anhand des Art. 19 Abs. 3 GG, JZ 1999, 377 ff. 6 s.o. B. II. 3. b). Vgl. insbesondere von Mangoldt, Art. 10 Anm. 2 und von Mangoldt/Ä7ew, Art. 10 Anm. II. 2. 7 Maunz/Dürig, Art. 10 Rn. 24 ff. 8 Vermittelt über das aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung, zu dem Nähe Verhältnis zwischen Art. 10 GG und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung unten J. IV. 1. b). 9 Badura, FS Molitor, S. 1 (9), im Anschluß an Canaris, AcP 184 (1984), 201 (203, 208, 231). 10 Vgl. das Kurzprotokoll der 62. Sitzung des Ausschusses für Post- und Telekommunikation vom 27.4.1994, S. 19, 22, 29. Dazu bereits oben A. I. 2. 11 Ablehnend Müller-Dehn, DVB1. 1996, 863 (864/865). 12 Schapper/Schaar, CR 1990, 773 (778) halten die Ablehnung der unmittelbaren Drittwirkung vor dem Hintergrund der ersten Postreform für unhaltbar. Dezidiert für eine unmittelbare Drittwirkung des Art. 10 GG Skouris, EuR1998, 111 (125 ff.). 13 Über die Frage der unmittelbaren Drittwirkung wurde schon z.Zt. der Geltung des Art. 117 WRV gestritten; dazu oben B. II. 4 b). Unter der Ägide des Grundgesetzes geht der Streit von der ersten Kommentierung von Mangoldts aus, Art. 10 Anm. 2: „... richtet sich das Postgeheimnis nur gegen den Staat, während das Briefgeheimnis in erster Linie die Pflicht eines jeden einzelnen bedingt, ... Seine Hauptbedeutung gewinnt ... (das Briefgeheimnis) daher für die Beziehungen privatrechtlicher Art zwischen jedem einzelnen und seiner Umwelt."; dagegen BK¡Badura, Art. 10 Rn. 20: Dem Briefgeheimnis komme nicht einmal als Programmsatz oder
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung zuneigenden Bundesarbeitsgericht14 aus den allgemein gegen sie sprechenden Gründen 15 einhellig abgelehnt worden. Entscheidend ist gegen die unmittelbare Drittwirkung von Art. 10 GG einzuwenden, daß die Bindung von Privaten an dieses Grundrecht durch das einfache Recht vermittelt werden kann, also dem System des Grundgesetzes konform über die mittelbare Drittwirkung zu erreichen ist, welche gleichbedeutend mit dem wieder gebräuchlicheren Begriff der Ausstrahlungswirkung 16 ist und letztlich einem Schutzpflichtenauftrag gleichsteht. 17
II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG Art. 1 Abs. 3 GG bindet alle inländische öffentliche Gewalt. 18 Ob darunter auch das Handeln privatrechtlicher Einrichtungen fällt, die im Alleinbesitz des Staates stehen oder von ihm beherrscht sind, ist umstritten. 19
Grundsatznorm Bedeutung für die Regelung von Beziehungen unter Privaten zu; ebenso Maunz/Dür/g, Art. 10 Rn. 27 f.; von Münch3'l Pappermann, Art. 10 GG Rn. 6; Gusy, JuS 1986, 89 (92); anders Gusy, JZ 1992, 1018 mit Fn. 6 (= Anmerkung zu BVerfGE 85, 386 - Fangschaltung); Schmitt Glaeser, HBStR VI, § 129 Rn. 66; von Münch4'/Löwer, Art. 10 Rn. 5, 8; gegen eine unmittelbare Drittwirkung von Art. 10 GG auch Dreier /Hermes, Art. 10 GG Rn. 42 f., 80 (implizit); Grämlich, CR 1996, 102 (110); Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 (865); Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 44; von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 55 (implizit); Groß, JZ 1999, 326 (328). 14 BAGE 52, 88 (97/98) - Beschluß vom 27.5.1986. In diesem Fall wollte der Arbeitgeber eine Telefonanlage in seinem Unternehmen installieren, die Zeitpunkt, Dauer und Zielnummern der extem ausgehenden Gespräche aufzeichnete. Das BAG hielt die Beschwerde des Betriebsrates mangels Schutzberührung jedoch für unbegründet. 15 Vgl. Canaris, AcP 184 (1984), 201 (202-210). 16 Vgl. schon BVerfGE 7, 198 (207) - Lüth. 17 Oeter, AöR 119 (1994), 529 zeigt dies anhand der für die unmittelbare Drittwirkung am empfänglichsten gehaltenen Bereiche des Ehrschutzes, des Arbeits- und Mietrechts. Zu den Zusammenhängen der objektiven Grundrechtsfunktionen und der zentralen Stellung der Schutzpflichten unten E. III. 18 ißraw/Pieroth 5, Art. 1 Rn. 20. Einen Verstoß gegen Art. 10 GG erblicken Palm/Roy, NJW 1998, 3005 (3006) auch in der Weitergabe von durch das MfS erstellten Telefongesprächsaufzeichnungen von dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes an einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß. 19 Jarass/Fieroth 5-, Art. 10 Rn. 24.
II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG
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1. Indienstnahme Privater Die privaten Wettbewerber der Nachfolgeunternehmen trifft grundsätzlich keine Grundrechtsverpflichtung. 20 Dies gilt nicht, wenn sie zur Ausführung hoheitlicher Aufgaben herangezogen werden, so wie Postdienstunternehmen zur Durchführung der förmlichen Zustellung (unten a)), oder wie die Wettbewerber beider Nachfolgeunternehmen zur Kommunikationsüberwachung und Postbeschlagnahme (dazu unten b)). a) Zustellung durch private Postdienstunternehmen In § 33 Abs. 1 Satz 2 PostG ist die Beleihung im Bereich der Postdienste für die Durchführung förmlicher Zustellungen ausdrücklich gesetzlich angeordnet. Beliehene Unternehmen behalten zwar ihren privaten Status, sind jedoch funktionell in den hoheitlichen Bereich einbezogen und stellen insoweit Elemente mittelbarer Staatsverwaltung dar. 21 Folglich unterliegen sie in diesem Bereich auch der Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG. b) Die Einschaltung privater Anbieter in die Kommunikationsüberwachung Nicht ausdrücklich im Gesetz benannt ist hingegen die Stellung der Anbieter bei der Durchführung der Postbeschlagnahme bzw. der Telekommunikationsüberwachung. 22 Die (Nachfolge-)Unternehmen wirken an der Maßnahme mit, 2 3 ohne über die für die Beleihung kennzeichnende Weisungsungebundenheit und Selbständigkeit zu verfügen. Bei der Postbeschlagnahme gem. § 99 StPO sind die Postdiensteanbieter verpflichtet, die Postsendung auszusondern und auszuliefern. 24 Sie dürfen dabei selbst nicht ermittelnd tätig werden und nicht - mit Ausnahme der Fälle gem. § 138 StGB 2 5 - aus eigenem Antrieb Postsendungen herausgeben. 2 6 Eine Beschlagnahme gem. § 94 Abs. 2 StPO liegt erst vor, wenn die 20
Vgl. nur Dreier¡Hermes, Art. 10 Rn. 42. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 56. 22 Zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Indienstnahme Privater für die Durchführung von Telekommunikationsüberwachungen R. P. Schenke, AöR 125 (2000), 1 (38). 23 Vgl. etwa die Darstellung bei KK-StPO/Afacfc, § 99 Rn. 3, 6. 24 Kleinknecht/Aieyer-Goßner, StPO, § 99 Rn. 5. 25 Dies sind Fälle, in denen das Unternehmen davon erfährt, daß Straftaten gem. §138 StGB, also die dort aufgeführten Verratsverbrechen, schwere und gemeingefährliche Straftaten, geplant sind. 21
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
Postsendung sichergestellt ist. 2 7 Die Sicherstellung erfolgt erst durch Verfügung des Richters oder der Staatsanwaltschaft. 28 Die Überwachung der Telekommunikation ist gem. §§88 und 90 T K G so ausgestaltet, daß die Betreiber von Telekommunikationsanlagen zwar verpflichtet sind, die technischen Voraussetzungen für die Überwachbarkeit der Telekommunikation zu schaffen, aber an der konkreten Überwachungsmaßnahme nicht mitwirken. 2 9 Als rechtliche Qualifizierung für die Stellung der Anbieter von Post- und Telekommunikationsdiensten im Überwachungsvorgang bietet sich ihre Einordnung als unselbständige Werkzeuge und damit als Verwaltungshelfer an. 3 0 Es kommt auch eine unspezifische Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben in Betracht. 31 In beiden Fällen sind die Betreiber grundrechtsverpflichtet, soweit sie an der Überwachung als hoheitlicher Aufgabe beteiligt sind. 2. Die Nachfolgeunternehmen Die Grundrechtsbindung der Deutschen Post A G und der Deutschen Telekom A G wird unterschiedlich beurteilt. Zum Teil wird die Geltung des Art. 1 Abs. 3 GG auch für sie bejaht. 32 Dabei stehen sich zwei Argumentationen gegenüber. 26
KK/Nack, StPO, § 99 Rn. 3. SK-StPO/Rudolphi, § 99 Rn. 9. 28 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 99 Rn. 2. 29 Vgl. insbesondere § 90 Abs. 2 Satz 2 TKG. 30 Zur Abgrenzung Beliehener/Verwaltungshelfer Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 60; ebenso Peine, DÖV 1997, 353 (357). Ossenbühl, VVDStRL 29 (1971), 138 (159 ff.) begreift die zulässige Privatisierung überhaupt als die Frage nach zulässiger Verwaltungshilfe; Gallwas, ebenda, S. 211 (222) schlägt weitergehend eine Lösung von der „Rechtsstellungstheorie" hin zu einer Annäherung an die Aufgabentheorie vor. Mit dieser Fragestellung ist die neuere Privatisierungsdiskussion eingeleitet worden, vgl. Osterloh, VVDStRL 54 (1995), 206 (207). 31 Dazu Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 62. Parallelen für die Indienstnahme Privater zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben finden sich in BVerfGE 22, 380 (385) - Verpflichtung der Banken zur Einbehaltung und Abführung der Kuponsteuer; BVerfGE 30, 292 (311) - Erdölbevorratung; BVerfGE 57, 139 - Pflichtplatzquote gem. SchwerbehindertenG; BVerfGE 68, 155 (170) - Pflicht privater Beförderungsunternehmen, Schwerbehinderte unentgeltlich zu befördern. 32 Von Arnauld, DÖV 1998, 437(442); Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 (865); Spannowsky, ZGR 1996, 400 (410); von Mangoldt/Klein/Gw^, Art. 10 Rn. 51; Grzesczick, DVB1. 1997, 878 (882). Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 772: Abnahme der Grundrechtsbindung mit dem Übergang von staatlichen Anteilen auf Pri27
I
Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG
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Einerseits wird vertreten, die Grundrechtsbindung der Postunternehmen richte sich nach den Grundsätzen über die Fiskalgeltung der Grundrechte. 33 Diese Ansicht setzt voraus, daß es sich bei den von den Nachfolgeunternehmen wahrgenommenen Tätigkeiten immer noch um Verwaltungsaufgaben handelt, eine materielle Privatisierung also nicht vorliegt. Demgegenüber wird unter Hinweis auf Art. 87f Abs. 2 Satz 1 und Art. 143b Abs. 1 GG angenommen, von Verfassungs wegen handelten die Nachfolgeunternehmen privatwirtschaftlich und seien daher nicht grundrechtsgebunden. 34 Zunehmend wird aber - wie hier 3 5 - eine funktionale, 36 nach dem Privatisierungsstadium differenzierende Beurteilung der Grundrechtsbindung vorgenom-
a) Die Fiskalgeltung der Grundrechte „Gedankliche Wurzel" 3 8 der mit der Fiskalgeltung der Grundrechte in bezug genommenen Lehre vom Verwaltungsprivatrecht ist der wandlungsunterworfene Fiskusbegriff, 39 worunter die i m 19. Jahrhundert entwickelte Fiskustheorie den in privatrechtlichen Rechtsformen handelnden Staat verstand. Diesen stellte sie den anderen Privatrechtssubjekten gleich, um den einzig vorhandenen - ordentlichen Rechtsweg für das Entschädigungsverlangen Privater zu eröffnen. 40 Die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht hat vate. Differenzierend für die Zeit vor und nach der dritten Postreform Möstl, Grundrechtsbindung, S. 167 (Telekom AG), S. 173 ff. (Post AG): Vor Inkrafttreten des TKG: Grundrechtsbindung des Nachfolgeunternehmens; nachher: keine Grundrechtsbindung; entsprechend wird die Post AG beurteilt, wobei sie auch nach Inkrafttreten des PostG im Bereich ihrer Exklusivlizenz grundrechtsverpflichtet bleiben soll. 33 So zunächst Pieroth/Schlink, Grundrechte, 12. Auflage, Rn. 836; zustimmend Grämlich, CR 1996, 102 (104). Zu dem Begriff zuerst wohl Low, DÖV 1957, 179. 34 Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 46 f.; Stern, DVB1. 1997, 309 (310); Ipsen, Staatsrecht I, S. 179 Rn. 646; Dreier/Hermes, Art. 10 Rn. 43; von Münch 5 ! Löwer, Art. 10 Rn. 9. 35 s. unten b) aa) - Deutsche Post AG - und bb) - Deutsche Telekom AG. 36 Möstl, Grundrechtsbindung, S. 159; von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 52 f. 37 Möstl, Grundrechtsbindung, S. 153 ff. und nunmehr Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 772. 38 Röhl, Verwaltung und Privatrecht, VerwArch 86 (1995), 531 (539). 39 Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Fiskusbegriffs: Wolff/Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht I, §23 Rn. 17; Zeidler, VVDStRL 19 (1961), 208 (221 ff.). 40 Zu jener Zeit war der Fiskusbegriff eine „Zweckschöpfung im Interesse des Rechtsschutzes", um die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für Entschädigungsfragen („Dulde und liquidiere") annehmen zu können, Zeidler, VVDStRL 19 (1961), 208 (221 ff.).
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
vor allem im Auge, die Bindung an das öffentliche Recht weitgehend auch dort zu fordern, wo sich der Staat privatrechtlicher Formen bedient. Der Staat darf vor seiner Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG nicht die „Bucht ins Privatrecht" 41 antreten, indem er privatrechtliche Rechtsformen wählt, was ihm grundsätzlich freisteht. Diese Freiheit gilt sowohl für die Handlungsform (privatrechtlicher (Dienst-/Werk-)-Vertrag oder öffentlichrechtliches Benutzungsverhältnis) als auch für die Organisationsform (AG oder GmbH einerseits, Anstalt oder Körperschaft öffentlichen Rechts andererseits). Sie unterscheidet dazu im allgemeinen 42 zwischen drei Gebieten, um zu einer sachgerechten und differenzierten Anwendung der Grundrechte im fiskalischen Bereich zu gelangen: den privatrechtlichen Hilfsgeschäften der Verwaltung, der erwerbswirtschaftlichen Betätigung der Verwaltung und der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben in den Formen des Privatrechts. 43 Obwohl die Lehre vom Verwaltungsprivatrecht als unklar kritisiert und durch andere Ansätze ersetzt wird, 4 4 kann doch ihre Kernaussage als unbestritten angenommen werden, daß bei der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben in den Formen des Privatrechts die Bindung an die Grundrechte gem. Art. 1 Abs. 3 GG besteht. Ausfluß aus der Lehre vom Verwaltungsprivatrecht sind die Grundsätze über Eigengesellschaften und gemischt-wirtschaftliche Unternehmen. 45 Danach sollen nach überwiegender Auffassung Eigengesellschaften, also solche privatrechtsförmigen Gesellschaften, bei denen die Anteilsgesamtheit in staatlicher Hand ist, als solche grundrechtsverpflichtet sein. 46 Ist hingegen der Staat lediglich an der Gesellschaft beteiligt, erfaßt die Grundrechtsbindung nicht die Eigengesellschaft als solche, sondern ist der Staat gehalten, seine Grundrechtsverpflichtung im Rahmen des Gesellschaftsrechts zu erfüllen. 47 41
Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl., § 23 Rn. 32 mit Hinweis auf Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, S. 326. Zum Ausgangspunkt dieser Lehre in den 50er Jahren: Stern, Staatsrecht III/1 S. 1396 ff. 42 So Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 170 ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 23 Rdnr. 18 ff. Zu der ganzen Bandbreite der unterschiedlichen Ansichten: Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, S. 212 f. 43 Dreier/Dreier, Art. 1 III Rn. 48 mit Fn. 48; Pieroth/Schlink Rn. 203ff; Höfling, JA 1995, 431 (435); Sachs2/Höfling, Art. 1 Rn. 94; ähnlich Wolff/Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht I, § 23 Rn. 18 ff. 44 So Röhl, Verwaltung und Privatrecht, VerwArch 86 (1995), 531 (539). 45 Zu diesen Grundsätzen: Sachs 2'/Höfling, Art. 1 Rn. 96; Höfling JA 1995, 431 (436); Dreier/Dreier, Art. 1 III Rn. 52; Stern, Staatsrecht m/1, S. 1421 f. in Auseinandersetzung mit Püttner. 46 Sachs 2 /Höfling, Art. 1 Rn. 96; Höfling, JA 1995, 431 (436); Dreier/Dreier, Art. 1 in Rn. 52; so auch BGHZ 52, 325 (328); BGHZ 91, 84 (97 f.); Stern, Staatsrecht m/1; S. 1421 f.
II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG
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Die Grundrechtsbindung gem. Art 1 Abs. 3 GG von gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaften, womit Unternehmen gemeint sind, deren Anteile teils in öffentlicher, teils in privater Hand liegen, wird von manchen an den Umfang der staatlichen Anteilseignerschaft geknüpft. 48 Bei einer Minderheitsbeteiligung kann die Grundrechtsverpflichtung mit den Mitteln des Gesellschaftsrechts nicht wirksam ausgeübt werden 49 und entfällt, da sie in der Grundrechtsberechtigung der Gesellschaft gem. Art. 19 Abs. 3 GG und derjenigen der übrigen Anteilseigner ihre Grenze findet. 50 Auch bei einer Mehrheitsbeteiligung verpflichtet Art. 1 Abs. 3 GG die Gesellschaft nicht als solche. 51 Da aber die Exekutive in dem betreffenden Unternehmen eine beherrschende Stellung innehat, fällt ihre Betätigung nicht aus dem staatlichen Funktionsbereich hinaus; folglich ist der Staat insoweit nicht von der Grundrechtsverpflichtung entbunden, als er Grundrechtsverletzungen mit seinen mitgliedschaftsrechtlichen Mitteln verhindern kann. 5 2 Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht scheint sich eine auf die öffentlich-rechtlichen Bindungen erodierend wirkende Tendenz abzuzeichnen, indem dem Gesellschaftsrecht - von einigen Autoren auch bei den Eigengesellschaften - der Vorrang eingeräumt wird. 5 3
b) Typologie der Privatisierungsformen Die Fiskalgeltung scheidet aus, wenn die Aufgabe umfassend in den privaten Sektor verlagert wurde, wie es für eine sogenannte materielle Privatisierung, oder auch Aufgabenprivatisierung, vorausgesetzt wird. Zu Beginn der Privatisierungsdiskussion stellte Vitzthum das Modell der materiellen Privatisierung der vor allem im kommunalen Bereich aufgetretenen formellen Privatisierung, auch Organisationsprivatisierung genannt, gegenüber. 54 Bei der formellen Privatisierung (Organisationsprivatisierung) streift der Hoheitsträger zwar gewisse Bindungen ab, bleibt aber für die Aufgabenerfüllung verantwortlich. Er schaltet einen privaten Dritten ein oder bedient 47 Stern, Staatsrecht III/l, S. 1422; ähnlich Rüfner, HBStR V, § 117 Rn. 48, der für eine Grundrechtsbindung nur der Mutterkörperschaft nicht aber der Eigengesellschaft eintritt. 48 Allgemein von Arnauld, DÖV 1998, 437 (443 f.). Für die Nachfolgeunternehmen Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 772; Wieland, Die Verwaltung 28 (1995), 315 (318). 49 Stern, Staatsrecht III/l, S. 1421, insoweit Püttner folgend. 50 Sachs2/Höfling, Art. 1 Rn. 96. 51 Von Arnauld, DÖV 1998, 437 (444). 52 Stern, Staatsrecht III/l, S. 1421/1422. 53 R. Schmidt, ZGR 1996, 345 (350 f.) 54 Vitzthum, Privatisierung kommunaler Wirtschaftsunternehmen, AöR 104 (1979), 580 (586 ff.).
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
sich einer privatrechtlichen, dem öffentlichen Zweck dienstbar gemachten Organisationsform. 55 Dagegen wird bei der materiellen Privatisierung (Aufgabenprivatisierung) die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe in ihrer Substanz Privaten überlassen. 56 Es ist anerkannt, daß es sich bei der materiellen und formellen Privatisierung nicht um Rechtsbegriffe, sondern um heuristische Bezeichnungen für eine ganze Skala von Privatisierungsformen handelt, die sich anhand von unterschiedlichen Indikatoren, über die allerdings nicht im Sinne eines festgelegten Kanons Einigkeit besteht, bestimmen lassen. 57 Die Nachfolgeunternehmen können jedenfalls besonders im Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG („privatwirtschaftliche" Tätigkeit der Nachfolgeunternehmen) und dem Infrastrukturgewährleistungsauftrag gem. Art. 87f Abs. 2 GG nicht ohne weiteres in das Schema Aufgaben- oder Organisationsprivatisierung eingepaßt werden. 58 Als wesentliche Kriterien für den Grad der Privatisierung können angesehen werden: die Rechtsform des Aufgabenträgers, der Umfang staatlicher Beteiligung sowie der Möglichkeiten staatlicher Einflußnahme auf betriebliche Entscheidungen, eine Monopolstellung und der Status der Funktionsträger. Hier soll anhand dieser Indikatoren der Privatisierungsgrad der Nachfolgeunternehmen Deutsche Post A G (unten aa)) und Deutsche Telekom A G (unten bb)) festgestellt werden, um eine Aussage darüber treffen zu können, ob dem jeweiligen Privatisierungsstadium eine Grundrechtsbindung entspricht. 55
„Die öffentliche Hand verzichtet zwar auf eine Aufgabenerledigung in eigener Regie; aber nur die Erstellung der Leistung, nicht die Leistung selbst wird privatisiert.", Vitzthum, AöR 104 (1979), 580 (586). 56 Vitzthum, AöR 104 (1979), 580 (593). 57 Kämmerer, JZ 1996, 1042 (1043 ff.), der formelle und materielle Privatisierung als „überkommene Typisierungsansätze" (S. 1043) bezeichnet und eine Objekts- und subjektsbezogene Typisierung vorschlägt. Vgl. femer schon die Aussagen zur Typologie der Privatisierungsformen anläßlich der Staatsrechtslehrertagung 1995: So die vier Grundmodelle der Privatisierungstypen bei Schoch, DVB1. 1994, 962 f. Ebenso Schuppert, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, 541 (543) und Schmidt, ZRG 1996, 345 (347 f.). Vgl. femer Osterloh, VVdStRL 54 (1995), 203 (210), die zwar an dem Begriffspaar festhält, jedoch als maßgeblich auf die für die Kategorisierung entscheidenden Kriterien verweist; Bauer, ebd., S. 243 (251 ff.); Lecheler, BayVBl. 1994, 555 (559) macht angesichts „gemischtwirtschaftlicher Unternehmen... Mischformen" aus; differenzierend auch Püttner, LKV 1994, 193 (195). 58 Vgl. z.B. Lerche, FS Kreile, S. 377 (378/379), ihm folgend Möstl, Grundrechtsbindung, S. 151 f. Teils wird eine unechte Aufgabenprivatisierung angenommen, so Spannowsky, ZGR 1996, 400 (402), teils eine Organisationsprivatisierung, so Wieland, Die Verwaltung 28 (1995), 315 (318).
II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG
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aa) Die Deutsche Post AG: Die Grundrechtsbindung bei alleiniger Anteilseignerschaft des Bundes Durch Art. 143b Abs. 1 GG i.V.m. § 1 PostUmwG 59 ist das Teilsondervermögen Deutsche Bundespost POSTDIENST 6 0 in eine Aktiengesellschaft, also in eine juristische Person des Privatrechts, umgeformt worden. Art. 143b Abs. 2 Satz 2 GG schreibt die Einhaltung einer fünfjährigen Frist für die Aufgabe der staatlichen Kapitalmehrheit vor. Da der Fristbeginn an das Inkrafttreten des Postneuordnungsgesetzes am 1. Januar 1995 61 geknüpft ist, wird der Bund mindestens bis zum Ende des Jahres 2000 die Kapitalmehrheit an der Deutschen Post AG innehaben. Gegenwärtig hält er alle Anteile. Der Gang an die Börse soll am 6. November 2000 stattfinden; zwischen einem Viertel und einem Drittel der Anteile sollen ausgegeben werden. 62 Aus der Anwendung des Grundsatzes von dem Verbot der Flucht ins Privatrecht folgt, daß sich der Staat nicht allein durch eine privatrechtliche Formenwahl öffentlich-rechtlichen Bindungen, insbesondere der Grundrechtsverpflichtung, entziehen darf, also zunächst einmal auch die Deutsche Post A G grundrechtsverpflichtet ist. Daher bejahen diejenigen Autoren die Grundrechtsbindung, die in dem derzeitigen, durch die noch alleinige oder überwiegende Anteilseignerschaft der öffentlichen Hand gekennzeichneten Privatisierungsstadium auch im Hinblick auf die Exklusivrechte der Deutschen Post A G und den Beamtenstatus ihrer Funktionsträger lediglich eine formelle Privatisierung sehen. 63 Diese Ansicht muß sich des Argumentes der Gegenseite erwehren, von Verfassungs wegen seien die Postdienstleistungen aus der staatlichen Aufgabenverantwortung in den privaten Sektor überführt worden. 64
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Vom 14.9.1994 (BGBl. I S. 2325, 2339). So noch § 1 Abs. 2 PostVerfG vom 8.6.1989 (BGBl. I S. 1026). 61 Art. 15 Abs. 1 PostNeuOG. 62 Frankfurter Rundschau (Nr. 194) vom 22. 8. 2000, S. 12, und (Nr. 217) vom 18.9.2000, S. 8. 63 So Wieland,, Die Verwaltung 28 (1995), 315 (318, 325) unter Berufung auf das Mehrheitseigentum des Bundes, die ausschließlichen Rechte der Deutschen Post AG und den Beamtenstatus der Funktionsträger; ihm folgend Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 (865) und von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 53. Zur Annahme einer Organisationsprivatisierung der Nachfolgeunternehmen auch Lerche, FS Kreile, 377 (381). 64 So insbesondere Ste rn/Berna rds/Dünchhe im/Huf schlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 47; ihnen folgend Sachs2¡Krüger, Art. 10 Rn. 20. 60
6 Hadamek
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
(1) Die Argumente aus Art. 87f und Art. 143b GG gegen die Grundrechtsbindung der Deutschen Post AG Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG bestimmt, daß die Tätigkeit der Nachfolgeunternehmen wie die ihrer Wettbewerber privatwirtschaftlich ist. Dieser Begriff ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens an die Stelle der Formulierungen von der privaten oder privatrechtlichen Tätigkeit getreten, um den Gegensatz zur staatswirtschaftlichen Tätigkeit zu verdeutlichen bzw. über eine bloße Beschreibung der Rechtsform hinauszugehen.65 Mit dieser Wortwahl soll zum Ausdruck kommen, „daß mit der Änderung der Verfassung eine Aufgabenprivatisierung gewollt ist." 6 6 Es sollte die vollständige Verlagerung postalischer Aufgaben in den privaten Sektor, also eine materielle Privatisierung, verfassungsrechtlich verankert werden. Vor dem Hintergrund der Wortwahl in Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG liegt in der Tat keine staatliche Aufgabe mehr vor. Daraus haben viele Stimmen in der Literatur gefolgert, auch schon während der Übergangszeit liege keine Grundrechtsbindung vor. 6 7 Für diese Ansicht wird neben dem Wortlautargument angeführt, aus Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG folge die Gleichstellung der Nachfolgeunternehmen mit den anderen privaten Anbietern: Es würde die Nachfolgeunternehmen der Bundespost gegenüber ihren Wettbewerbern benachteiligen, wenn allein jene Grundrechtsbindungen - über Art. 10 GG hinaus kämen auch Verpflichtungen aus Art. 3 GG und dem Sozialstaatsprinzip in Betracht - zu berücksichtigen hätten. 68 Daneben wird angeführt, wegen der in Art. 143b Abs. 1 GG verfassungsrechtlich angeordneten Umwandlung in private Wirtschaftsunternehmen bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken; es läge keine Flucht ins Privatrecht vor. 6 9 65
Sachs2'/Windthorst, Art. 87f Rn. 27. Kühn/Reimann, Postreform II, S. 9. Ähnlich Sachs1 /Windthorst, Art. 87f Rn. 31: „Erbringen von Dienstleistungen als privatwirtschaftlicher Tätigkeit verlangt zwingend eine Aufgabenprivatisierung." Diese entschiedene Aussage findet sich nicht mehr in Sachs2-/Windthorst, Art. 87f Rn. 26 bis 28. 67 Dreier/Hermes, Art. 10 Rn. 43; Rottmann, Archiv PT 1994, 193 (194); Königshofen, ArchivPT 1995, 112 (119 f.); Martina, ArchPT 1995, 105; Walz, CR 1995, 52; Küppers, ArchPT 1995, 109 (110); Grämlich CR 1996, 102 (108); Stern/Dünchheim/Bernards/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 48; Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 (865); von Arnauld, DÖV 1998, 437 (445) lehnt die Grundrechtsbindung der Deutschen Telekom AG ab und befürwortet die der Deutschen Post AG; von Münch5/Löwer, Art. 10 Rn. 9. Möstl, Grundrechtsbindung S. 176, nimmt eine Grundrechtsverpflichtung der Deutschen Post AG nur im Exklusivbereich an. 68 Stern/Dünchheim/Bernards/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Art. 10 Rn. 48. 69 Ipsen, Staatsrecht I, § 11 Rn. 646. 66
II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG (2) Materielle Privatisierung
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als Zielvorstellung
Das Argument aus Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG für eine materielle Privatisierung und damit gegen eine Grundrechtsbindung kann jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Es ist nicht zu übersehen, daß die die zweite Postreform einleitenden Verfassungsänderungen Kompromißcharakter 70 aufweisen: So wird in der Entwurfsbegründung im Zusammenhang mit der Aufgabenübertragung stets auch von künftig staatlich wahrzunehmenden Einzelaufgaben gesprochen, 71 was in Art. 87f Abs. 3 GG seinen Niederschlag gefunden hat. Das Argument von der verfassungsrechtlich gewählten Zwischenlösung wird hinsichtlich der Deutschen Post A G dadurch unterstützt, daß Art. 87f GG im Zusammenhang mit dem gleichzeitig eingefügten Art. 143b Abs. 2 Satz 2 GG zu lesen ist, welcher eine fünfjährige Sperrfrist für die Aufgabe der Kapitalmehrheit an der Deutschen Post A G vorsieht. Dies erhellt, daß Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG einer gesetzgeberischen ZiWvorstellung Ausdruck gibt. 7 2 Dem entspricht auch die amtliche Beschreibung, eine Aufgabenprivatisierung sei mit den Verfassungsänderungen „gewollt." 7 3 Aus dem Hinweis auf Art. 143b Abs. 1 Satz 1 GG ergibt sich nichts anderes, sieht er doch lediglich die private Rechtsform der Nachfolgeunternehmen vor. Diese entbindet jedoch nach den allgemein anerkannten Grundsätzen nicht von der Grundrechtsverpflichtung. (3) Funktionale Betrachtung des Privatisierungsstadiums Der Annahme, eine materielle Privatisierung der Nachfolgeunternehmen sei qua constitutione erfolgt, 74 widerspricht auch das vorläufig erreichte Privatisierungsstadium, welches durch die übrigen Indikatoren gekennzeichnet wird. Der der Deutschen Post A G vorbehaltene Exklusivbereich gem. § 51 PostG ist eine denkbar einschneidende staatliche Maßnahme, die, zusammen mit der alleinigen Anteilseignerschaft des Bundes, die Umwandlung der Deutschen Bundespost POSTDIENST als einen Schritt mit überwiegend organisatorischem Charakter erscheinen läßt. 75 Bestätigt wird dies durch die weit gefaßte Bestimmung der Regulierungsziele in § 2 Abs. 2 PostG, die 70
So auch Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 43 im Anschluß an Rottmann, ArchPT 1994, 193. Ferner Lerche, FS Kreile, 377 (379 f.). 71 Vgl. den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. BTDrs. 12/6717, S. 3 f. 72 Auch Möstl, Grundrechtsbindung, S. 153 und passim, argumentiert mit dem Privatisierungsziel, das von der Prozeßhaftigkeit des Privatisierungsvorganges getrennt werden müsse. 73 Kühn/Reimann, Postreform II, S. 9. 74 So Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 47; Ipsen, Staatsrecht I, § 11 Rn. 646. 6*
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
mit dem Ressortzuschnitt des früheren Bundesministeriums für Post und Telekommunikation weitgehend übereinstimmen, 76 und die der Regulierungsbehörde in § 45 PostG erteilten entsprechenden Befugnisse. Auch die in Art. 143b Abs. 3 GG getroffene Regelung über die Wahrung der Rechtsstellung der Bundesbeamten zeigt, daß das Nachfolgeunternehmen während des Übergangsstadiums noch eine spezifische Staatsnähe aufweist und nicht mit anderen Privatunternehmen vergleichbar ist. Ferner belegt die Angewiesenheit des Staates auf die Deutsche Post A G zur Erfüllung seines Infrastrukturgewährleistungsauftrages aus Art. 87f Abs. 1 GG, daß das Nachfolgeunternehmen seiner Funktion nach der Erfüllung staatlicher Aufgaben dient. 77 Im Fall der Deutschen Post A G ist eine Aufgabenprivatisierung noch nicht erreicht. Dementsprechend ist zumindest bis zur Aufgabe der staatlichen Kapitalmehrheit, die frühestens 2001 erfolgen kann, von einer Grundrechtsbindung dieses Nachfolgeunternehmens auszugehen. bb) Die Deutsche Telekom AG: Grundrechtsbindung bei beherrschender staatlicher Beteiligung Zwischen beiden Nachfolgeunternehmen liegen derzeit noch Unterschiede hinsichtlich der staatlichen Beteiligung und des Exklusivbereiches vor. Seit dem Auslaufen ihres Monopoles für den Sprachdienst im Festnetz zum Ende 1998 verfügt die Deutsche Telekom A G nicht mehr über einen gesetzlichen Exklusivvorbehalt. Es fragt sich, ob diese Unterschiede zu einer anderen Beurteilung der Grundrechtsbindung als bei der Deutschen Post A G führen. 78 Der Bund hält derzeit - teils direkt, teils über die Kreditanstalt für Wiederaufbau - 65 Prozent der Aktien der Deutschen Telekom A G . 7 9 Die 75
Vgl. a. Lerche, FS Kreile, S. 377 (381): „Eine wirkliche Freigabe der Unternehmen - abgesehen von den allgemeinen hoheitlichen Regulierungsaufgaben des Bundes - konnte jedenfalls nicht erreicht werden .. 76 Zu den explizit ministeriellen Aufgaben der Regulierungsbehörde Grämlich, CR 1998, 463 (466). 77 Von Mangoldt/Klein/Gwsy, Art. 10 Rn. 52. 78 Nach dem für November 2000 vorgesehenen Börsengang der Deutschen Post AG werden die folgenden Ausführungen auch für die Deutsche Post AG - allerdings nur außerhalb ihres gesetzlichen Monopoles nach § 51 PostG - gelten. 79 Information der Pressestelle der Deutschen Telekom AG von Mai 2000: Demnach liegen bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau 21,6% der Aktien und 43,4% unmittelbar beim Bund. Aus ausländischer Sicht behindert diese hohe Staatsquote transnationale Fusionsvorhaben der Deutschen Telekom AG: Die italienische Regierung äußerte sich aus diesem Grund skeptisch über das - schließlich gescheiterte - Fusionsvorhaben der
II. Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3 GG
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Frage, ab welchem Beteiligungsverhältnis die Grundrechtsgebundenheit gegeben sein soll, ist bisher nicht beantwortet worden. 80 Es wird in bezug auf staatlich beherrschte Unternehmen die Grundrechtsbindung zumindest insoweit bejaht, als der Staat Grundrechtsverletzungen verhindern kann. 81 Allerdings gelten für die Nachfolgeunternehmen Besonderheiten, die die unveränderte Anwendung der Regeln über die Grundrechtsbindung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen erschwert: Die staatliche Einflußnahme auf die Nachfolgeunternehmen erfolgt nicht in erster Linie über das gesellschaftsrechtliche Instrumentarium, sondern über die spezifisch gesetzlich ausgestaltete Aufsicht durch die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post. 82 Für die gesonderte Beurteilung der Grundrechtsbindung der Deutsche Telekom A G spricht die nähere Betrachtung der Rolle der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post. De lege wie de facto 83 trifft die Regulierungsbehörde im großen Umfang Entscheidungen, die bei privaten Unternehmen der betrieblichen Autonomie unterfallen. Dies gilt in erster Linie für die in §§23 bis 32 T K G geregelte Entgeltregulierung, 84 aber auch für die Aufgaben zur Infrastrukturgewährleistung nach §§ 17 bis 22 TKG. Hier sind für Leistungen, die aufgrund ihres hohen Marktanteiles zu einem großen Teil nach wie vor von der Deutschen Telekom A G erbracht werden, 85 die Erbringung und ihre Modalitäten gesetzlich vorgeschrieben oder der Regulierungsbehörde zur Entscheidung übertragen. Diese ist Deutschen Telekom AG mit der Telecom Italia im Frühjahr 1999. Es ist nicht auszuschließen, daß die hohe staatliche Beteiligung an der Deutschen Telekom AG ein wesentlicher Grund für das Scheitern der Fusion war. 80 Spannowsky, ZGR 1996, 400 (411). Vgl. aber von Arnauld, DÖV 1998, 437 (442 ff.), der sich für die Frage der Grundrechtsverpflichtung der Nachfolgeunternehmen stark an den Quoten orientiert. 81 Stern, Staatsrecht III/1, S. 1421 im - gar nicht so scharfen - Gegensatz zu Püttner, Öffentliche Unternehmen, S. 119, der die Grundrechtsbindung staatlich beherrschter Unternehmen ablehnt und meint, der Staat könne nur über seine gesellschaftsrechtliche Mitgliedstellung Einfluß auf den Schutz der Grundrechte nehmen. 82 Vgl. insoweit Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 43. 83 Zur ersten Entscheidungspraxis der Regulierungsbehörde Eschweiler, K&R 1998, 530 (534 ff.). 84 Vgl. das Verfahren über die Höhe der Entgelte für den Zugang zu den Teilnehmeranschlußleitungen, im Zusammenhang dargestellt bei Eschweiler, K&R 1998, 530 (534). 85 1999 hat die Deutsche Telekom AG 80% der Verbindungsminuten im Festnetz erbracht; ihr Anteil an den Fem Verbindungsminuten betrug 60%, Jahresbericht 1999 der Regulierungsbehörde, S. 13. Man denke auch an das nun erst langsam aufbrechende faktische Monopol der Deutschen Telekom AG für ISDN-Anschlüsse und im Ortsbereich, wo der Wettbewerb nur schwach entwickelt ist, vgl. zu letzterem das Sondergutachten der Monopolkommission, S. 19 ff. und S. 51.
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C. Fragen der Grundrechtsverpflichtung
sowohl zur Durchsetzung dieser Vorschriften als auch für die Umsetzung der übrigen Regulierungsziele u.a. mit Auskunfts-, Einsichts- und Betretungsrechten gem. § 72 T K G ausgestattet. Im übrigen gelten auch hier die zur Grundrechtsverpflichtung der Deutschen Post A G angestellten Überlegungen: Die Deutsche Telekom A G ist in die Erfüllung des Infrastrukturgewährleistungsauftrages aus Art. 87f Abs. 1 GG eingebunden und weist - letztlich bedingt durch ihren auf ihre ehemalige Monopolstellung zurückgehenden hohen Marktanteil - eine mit ihren Konkurrenten nicht vergleichbare spezifische Staatsnähe auf. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Grundrechtsverpflichtung eigentlich an die Größe des Unternehmens anknüpft. Da diese aber auf dem früheren Monopol beruht, sprechen bis zum Erreichen des Stadiums der materiellen Privatisierung, in der sich die Regulierungsbehörde aus ihren Aufgaben zurückgezogen hat, 8 6 auch Ingerenzgesichtspunkte für die Annahme einer Grundrechtsverpflichtung. 87 I m übrigen stellt sich das Problem der Grundrechtsbindung der Nachfolgeunternehmen im Kern als Frage nach der Reichweite der Schutzpflichten aus Art. 10 GG dar. Darin sind sich Gegner und Befürworter der Grundrechtsverpflichtung einig. 8 8 Sobald die Grundrechtsbindung - nach allen Auffassungen - entfällt, weil die Nachfolgeunternehmen das Stadium der materiellen Privatisierung erreicht haben, sind sie wie ihre privaten Wettbewerber aufgrund der einfach-gesetzlichen Regelungen verpflichtet, das Fernmelde- und Postgeheimnis einzuhalten. Diese einfach-rechtlichen Vor86
Zum wirtschaftspolitischen Ziel der Regulierungsbehörde, sich selbst überflüssig zu machen, Eschweiler, K&R 1998, 530 (534). Schließlich soll die Wettbewerbskontrolle auf das Bundeskartellamt übergehen. 87 Vgl. zum Zusammenhang von Grundrechtsverpflichtung gem. Art. 1 Abs. 3 GG und dem ingerenzpflichtenbegründeten Schutzpflichtenauftrag Spannowsky, ZRG 1996, 400 (411): Es müsse berücksichtigt werden, „daß mit der Verlagerung der Aufgabenerfüllung auf den Privaten die Grundrechtsbindung des öffentlichen Aufgabenträgers nicht erlischt. Er bleibt dem Grundrechtsträger gegenüber verpflichtet. Die Verpflichtung bezieht sich, da die Eigengesellschaft kraft ihrer unmittelbaren Grundrechtsbindung den Abwehransprüchen des Bürgers ausgesetzt ist, primär auf die Schutzfunktion der Grundrechte. Aus dieser Schutzfunktion resultiert die Verpflichtung des öffentlichen Aufgabenträgers, den Grundrechtsschutz durch die Absicherung der entsprechenden Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten auch für den Fall sicherzustellen, daß die Beteiligungsgesellschaft in ein gemischt-wirtschaftliches Unternehmen überführt wird und die unmittelbare Grundrechtsbindung der in die Aufgabenerfüllung eingeschalteten Gesellschaft verloren geht." Zur - insofern nicht tragenden - Begründung von Schutzpflichten aus dem Ingerenzgedanken unten E. II. 2. c). 88 Für die ablehnende Auffassung Dreier ¡Hermes, Art. 10 Rn. 43 und Stern/Bernards/Dünchheim/Hufschlag, Kommentar Postrecht, Band I Teil C, Art. 10 Rn. 49. Für die die Grundrechtsbindung befürwortende Auffassung von Mangoldt/Klein/ Gusy, Art. 10 Rn. 54.
III. Ergebnisse
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Schriften 89 wiederum sind in Erfüllung der gesetzgeberischen Schutzpflicht aus Art. 10 GG ergangen. Gerade die extensive Gestaltung des Adressatenkreises 90 ist geeignet, den Funktionswandel des Grundrechts, der durch den Wechsel der Akteure infolge der Privatisierung mit steigendem Wettbewerb zunehmend eintritt, 91 umzusetzen und einen Bedeutungsverlust von Art. 10 GG zu vermeiden. Die Grenze zwischen der unmittelbaren Grundrechtsverpflichtung gem. Art. 1 Abs. 3 GG und einer durch Schutzpflichtenaufträge vermittelten Bindung an die Grundrechte ist ebenso fließend wie die Übergänge zwischen den Privatisierungsformen. Ein Blick auf den hohen Marktanteil der Deutschen Telekom A G und auf die gegenwärtigen Regulierungsthemen - insbesondere die Kosten für den Zugang zu den Teilnehmeranschlußleitungen - zeigt aber, daß das liberale Ordnungsmodell des Telekommunikationsgesetzes noch nicht verwirklicht ist.
III. Ergebnisse: Grundrechtsverpflichtung der Nachfolgeunternehmen Die funktionale Perspektive ergibt unter Berücksichtigung der staatlichen Beteiligung, des Infrastrukturauftrages gem. Art. 87f Abs. 1 GG, der Rolle der Regulierungsbehörde, der Exklusivlizenz (Deutsche Post AG) bzw. der faktisch beherrschenden Stellung am Markt (Deutsche Telekom AG), daß beide Nachfolgeunternehmen auch noch nach der zweiten Postreform grundrechtsgebunden sind.
89
§ 85 TKG für das Fernmeldegeheimnis und § 39 PostG für das Postgeheimnis. Vgl. § 85 Abs. 2 TKG bzw. § 39 Abs. 2 PostG und die weite Ausdehnung des Adressatenkreises über den Geschäftsmäßigkeitsbegriff nach § 1 Nr. 5 TKG bzw. § 4 Nr. 4 PostG. Zu § 85 Abs. 2 TKG im einzelnen unten K. II. 2. Vgl. zu der Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes durch die Ausdehnung des Täterkreises: § 354 StGB a. F. und § 206 StGB i.d.F. des Begleitgesetzes vom 17.12.1997 (BGBl. I S. 3108, 3114). 91 Dazu unten E. II. - privatisierungsspezifische Begründungen für Schutzpflichten. 90
D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG I m folgenden geht es darum aufzuzeigen, daß Art. 10 GG nicht nur die Funktion eines klassischen Abwehrrechts hat, wie seine Entwicklungsgeschichte nahelegt1 und ein Teil der Literatur annimmt 2 , sondern auch einen objektiv-rechtlichen Gehalt 3 aufweist (I. und II.). Anschließend soll eine Systematik der für Art. 10 GG in Betracht kommenden Grundrechtsfunktionen erarbeitet werden (III. und IV.).
I. Die Diskussion um die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechte Das Fundament für die Ableitung von über die abwehrrechtliche Dimension hinausgehenden Grundrechtsfunktionen hat das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil gelegt. 4 Heute ist es allgemein anerkannt, daß den Grundrechten objektiv-rechtliche Gehalte zukommen. Dabei hat sich die h.L. 5 sehr an der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung 6 orien1
Dazu oben B. Rohlf Privatsphäre, S. 167, bezeichnet die Ansicht von der Beschränkung des Art. 10 GG auf die abwehrrechtliche Funktion als h.M. Vgl. femer BK/Badura, Art. 10 Rn. 20 und 28; Gusy, JuS 1986, 89 (92). 3 Wie bei Stern, Staatsrecht I I I / l S. 919/920 soll dieser Begriff hier in Abgrenzung zu der abwehrrechtlichen Grundrechtsdimension verwendet werden. 4 Vereinzelt wird die „Grundsteinlegung" zurückdatiert: Lübbe-Woljf, Eingriffsabwehrrechte, S. 283/284, sieht schon im Elfes-Urteil (BVerfGE 6, 32) den Ausgangspunkt; Dreier, Dimensionen, S. 11 mit Fn. 6, weist darauf hin, daß bereits in der Entscheidung zur Ehegattenbesteuerung (BVerfGE 6, 55) mehrere Grundrechtsfunktionen unterschieden wurden, wobei es aber an der „selbstbewußten Grundsätzlichkeit" der Lüth-Entscheidung gefehlt habe. Wegen der Ausdrücklichkeit in BVerfGE 7, 198 und im Hinblick auf die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. z.B. nur die Bezugnahme in BVerfGE 73, 261 (269), wird hier von der LüthEntscheidung als der fundamentalen Entscheidung zu den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten ausgegangen. 5 Vgl. statt vieler Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 290: Es sei ausgeschlossen, die Bedeutung der Grundrechte als objektive Prinzipien von ihrer ursprünglichen und primären Bedeutung als Menschen- und Bürgerrechte zu lösen. 6 So nach Anklängen in BVerfGE 6, 55 (72) - Ehegattenbesteuerung - zuerst in BVerfGE 7, 198 (204) - Lüth: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat." 2
I. Diskussion
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tiert. 7 Die Betonung der vorrangigen Bedeutung der Grundrechte als Abwehrrechte zählt zu den ganz akzeptierten Kernaussagen. Ebenso einmütig wurde - auch von den Kritikern - der Kanon der einzelnen Grundrechtsfunktionen aufgenommen, den das Bundesverfassungsgericht allmählich aus dem objektivrechtlichen Gehalt gefolgert hat: Die Grundrechte können Vorgaben für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts, insbesondere des Privatrechts, enthalten, sie können Schutzpflichten des Staates begründen, als Maßstäbe für die Gestaltung staatlicher Einrichtungen und Verfahren dienen und Teilhabe- und Leistungsrechte gewähren. 8
1. Die Kritik an der Ausweitung objektiv-rechtlicher Gehalte Teilweise wird vor der Ausweitung objektiv-rechtlicher Funktionen der Grundrechte gewarnt, 9 ihr Gehalt als liberale Abwehrrechte rekonstruiert 10 und die Eingriffsdogmatik stattdessen ausgebaut.11 Die Kritik an der Annahme objektiv-rechtlicher Gehalte knüpft sich grob gefaßt - im wesentlichen an zwei Punkte: Zum einen würden die Grundrechte durch die Funktionsausweitung überfordert; so trete ein Verlust an dogmatischer Struktur ein, der letzlich zu der Beliebigkeit der Einzelfallentscheidung führe. 12 Zum zweiten sei die Ausweitung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungsspielräume zulasten deijenigen des Gesetzgebers, kurz die Entwicklung zu einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, 13 zu befürchten. 7 Vgl. den von Stern , Staatsrecht III/l, S. 890 bis 922 dargestellten Verlauf der Diskussion. Die Entwicklung der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts stellt Böckenförde in NJW 1974, 1529 und Der Staat 29 (1990), 1 (4 ff.) dar. 8 So die Aufzählung bei Stern , Staatsrecht I I I / l S. 922 und Jarass, AöR 120 (1995), 345 (347 ff.) sowie Grimm , Die Zukunft der Verfassung, S. 221; Dreier , Dimensionen, S. 42 teilt die objektiven Grundrechtsfunktionen in drei Hauptfallgruppen ein: a) Ausstrahlungswirkung b) Organisation und Verfahren, Teilhabe und Leistung c) Schutzpflichten. Zur Systematik der einzelnen objektiv-rechtlichen Funktionen unten D. III. 9 Böckenförde , Der Staat 29 (1990), 1 ff.; Jeand'Heur , JZ 95, 161 (162 ff.). 10 Schlink , EuGRZ 1984, 457 ff. 11 Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, 1988, schlägt vor - mittels eines erweiterten Eingriffsbegriffs (ebenda 69 ff.) - die traditionelle Eingriffsdogmatik auszubauen (ebenda S. 21, 23), so daß auch Fragen der Leistung und Teilhabe von ihr erfaßt werden können. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik (1985), leitet unter Zugrundelegung der Thesen von Schwabe , Probleme der Grundrechtsdogmatik (1977), die Schutzpflichten aus der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte ab. 12 Schlink, EuGRZ 1984, 457 (463); Böckenförde , Staat 29 (1990), 1 (9): Unbestimmtheit der Ausstrahlungswirkung nach Inhalt und Umfang.
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D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
2. Das hier gewählte Vorgehen Ließe sich der Einwand der Unbestimmtheit objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte entkräften, so wäre auch der andere Strang der Kritik, die Schmälerung des gesetzgeberischen Einflusses zugunsten eines Machtzuwachses der Verfassungsrechtsprechung, geschwächt, weil der verfassungsgerichtlichen Wertung durch bestimmte Vorgaben Grenzen gesetzt würden. Ein auch für die Skeptiker gangbarer Weg ist es, auf das einzelne Grundrecht zuzugreifen und es zunächst auf seine Empfänglichkeit für einen objektiven Gehalt überhaupt zu überprüfen. Damit ist zwar noch nicht viel gewonnen, hat doch das Bundesverfassungsgericht bei den meisten Grundrechten den Charakter als objektive Grundsatznorm ausdrücklich angenommen und bisher für kein Grundrecht abgelehnt. 14 Daher ist anschließend der konkrete Gehalt von Art. 10 GG im Hinblick auf die jeweilige Funktion (Schutzpflichtenauftrag, Drittwirkung, Verfahrens- und Organisationsvorgaben) zu untersuchen und zu benennen. 15 Es stellt sich hier die grundrechtsdogmatische „Aufgabe, für jedes einzelne Grundrecht das grundrechtsgebotene Minimum an positivem Gehalt herauszupräparieren." 16 Diesem Vorgehen entspricht auch die Entwicklung der objektiv-rechtlichen Funktion in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Böckenförde hat aufgezeigt, daß sich die objektive Dimension der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in zwei zeitlich nicht voneinander trennbaren Etappen etabliert hat: 1 7 Zum einen wird der Grundrechtsabschnitt insgesamt als Wertordnung oder -system bezeichnet, 18 zum anderen werden die Einzelgrundrechte für sich als objektiv-rechtliche wertentscheidende Grundsatznormen ausgelegt. 19
IL Empfänglichkeit des Art 10 GG für objektiv-rechtliche Gehalte Vom Wortlaut ausgehend ist festzustellen, daß „Geheimnis" als negativer Begriff, als Gegensatz zum Allgemeinbekanntsein, 20 einen dem einzelnen 13
Dazu Böckenförde, Staat 29 (1990), 1 (26 ff.). So der Befund von Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (7). Eine Auseinandersetzung mit Böckenfördes Kritik findet sich bei Dreier, Dimensionen, S. 53 ff. 15 Ein solches Vorgehen schlägt Jeand'Heur, JZ 1995, 161 (165) vor. 16 Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 240. 17 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (4). 18 Dies belegt Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (4 f.) anhand BVerfGE 7, 198 (205 ff.) - Lüth. 19 Dafür zieht Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (6 f.), BVerfGE 6, 55 - Ehegattenbesteuerung - heran. 14
II. Empfänglichkeit für objektiv-rechtliche Gehalte
91
vorbehaltenen Bereich bezeichnet, gleichsam ein Reservat, eine Enklave, innerhalb der offen zu Tage liegenden Lebensumstände. Als Wort deutschen Ursprungs ist es in der Schriftsprache des 16. Jahrhunderts an die Stelle des griechischen mysterium und des lateinischen secretum 21 getreten. 2 2 Aus dem - nicht nur ursprünglich - religiösen Verwendungszusammenhang rührt der Nimbus des Heiligen, 23 Unantastbaren. Damit ist ein allseitiger Schutz gegenüber jedermann nahegelegt, der der Annahme einer objektiven Dimension des Grundrechts zumindest nicht entgegensteht. 1. Die Unverletzlichkeitsanordnung in Art. 10 Abs. 1 G G Ein Anhaltspunkt für eine objektiv-rechtliche Funktion im Wortlaut der Vorschrift könnte in der Unverletzlichkeitsanordnung des Art. 10 Abs. 1 GG liegen. Ebenso wie aus dem Wörtsinn des Geheimnisbegriffes kann aus dem Unverletzlichkeitsterminus nicht geschlossen werden, die Teilgewährleistungen könnten tatsächlich nicht verletzt werden, sondern nur, daß sie nicht rechtswidrig verletzt werden dürfen. 24 a) Entstehungsgeschichtliche
Aspekte
Bei Art. 10 GG sind zunächst entstehungsgeschichtliche Besonderheiten zu berücksichtigen: Während der Beratungen in der Frankfurter Paulskirche wurden gerade in einer Gewährleistungsanordnung im Gegensatz zu einer Unverletzlichkeitsanordnung Verpflichtungen des Staates zum Schutz des Briefgeheimnisses gesehen.25 Dies mag der Grund sein, weshalb in der oktroyierten preußischen Verfassung von 1850 nur die Unverletzlichkeitsanordnung zu finden ist, die dann über Art. 117 W R V in Art. 10 GG 20
Nawiasky, Postrecht, S. 149. Vgl. a. den Wortgebrauch von Welp, Überwachung, S. 32, 36 f. und passim: Welp spricht von der formellen Sekretur des Nachrichtenverkehrs, die jedes Eindringen in den Inhalt ausschließt." (Hervorhebung im Original). Dabei handelt es sich um eine Wortschöpfung, vgl. Welp, Überwachung (1974), S. 32 mit Fn. 57, und Duden, Rechtschreibung (1973), zu „secret" und „sekret." 22 Im Grimmschen Wörterbuch findet sich zur frühesten Verwendung des Wortes ein Zitat Luthers von 1528: „ich kann heutigs tags kein deudsch wort finden auf das wort mysterium ... es heiszt ja so viel als secretum, ein solch ding, das aus den äugen gethan und verporgen ist ... als wenn etwas gesagt wird das man nicht verstehet, spricht man das ist verdackt, da ist etwas hinden." Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Stichwort „Geheimnis", Anmerkung 2a). 23 s. den Zusammenhang von secretum und sacramentum, dazu Grimmsches Wörterbuch, Stichwort: „Geheimnis", Anm. 2a). 24 Vgl. etwa Sachs 2'/Krüger, Art. 10 Rn. 29 und von Münch 5 /Löwer, Art. 10 Rn. 26: „keine Siegfried-Hoffnung." 25 Dazu oben B. II. 3 a) cc). 21
92
D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
gelangte. Auch läßt sich der Wortlaut schlicht mit der Anlehnung an das historische Vorbild aus der belgischen Verfassung von 1831 erklären. 26 Das Vorbild aus der belgischen Verfassung ist jedoch nicht unkritisch in den Verfassungsentwurf von 1849 übernommen worden, wie die Protokolle aus der Paulskirche belegen. M i t der Formulierung von der Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses sollte ausgedrückt werden, daß nicht etwas staatlicherseits gewährt und garantiert, sondern ein Schutz für eine vorgegebene Rechtsposition errichtet werde. 27 In dieser Vor-Staatlichkeit zeigt sich der Charakter des Briefgeheimnisses als Abwehr- und Freiheitsrecht im Sinn der liberalen Grundrechtstheorie. 28 Insoweit wird also nur die These von Art. 10 GG als dem klassischen liberalen Abwehrrecht bestätigt.
b) Textbefund
im Grundrechtsteil
Vergleicht man die Wortwahl mit anderen Grundrechtsformulierungen, so ergibt sich, daß das Adjektiv „unverletzlich" in Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 4 Abs. 1, 13 Abs. 1 GG, „gewährleistet" in Art. 4 Abs. 2, Art. 7 Abs. 4 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verwendet wird. A m häufigsten sind subjektive Formulierungen wie in Art. 2 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht . . . " 2 9 Dieser Befund sowie der Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 GG („unverletzlich") und Abs. 2 des gleichen Artikels („gewährleistet"), worin gleichwohl ein einheitlicher Schutzbereich gesehen wird, 3 0 legen zwar nicht den eindeutigen Schluß auf einen objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 10 GG nahe, verschließen jedoch andererseits auch nicht eine solche Möglichkeit. Eine Beziehung zwischen Wortlaut und objektiv-rechtlichem Gehalt läßt sich jedenfalls nicht feststellen. So steht der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 2 26
So Dreier/Hermes, Art. 10 Rn. 1 mit Fn. 3, Rn. 2, der den Wortlaut rein historisch deutet: Nur wegen des Vorbildes aus der belgischen Verfassung von 1831 hieße es - als Übersetzung von »inviolable4 - in § 142 der Paulskirchenverfassung und den nachfolgenden Bestimmungen „unverletzlich". Ebenso von MünchS'/Löwer, Art. 10 Rn. 27. 27 So auch BKIBadura, BK, Art. 10 Rn. 7 S. 9. Er hält die Argumentation des den Änderungsantrag unterstützenden Abgeordneten Beseler aber lediglich für „subtile Erwägungen", »unverletzlich* für das „bildhaftere" und »gewährleistet4 für das „schwerfälligere" Wort. Die oktroyierte preußische Verfassung von 1850 verwandte dann den „bildhafteren" Ausdruck der Unverletzlichkeit, der auch in Art. 117 WRV Eingang fand. 28 Liberale Grundrechtstheorie hier nach Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1530 bis 1532) im Unterschied zu der institutionellen, der demokratisch-funktionalen, der sozialstaatlichen Grundrechtstheorie und der Werttheorie der Grundrechte. 29 Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ähnlich: Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4, Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 17, Art. 20 Abs. 4, Art. 33 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1 GG „Anspruch". 30 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 506.
I
Empfänglichkeit für objektiv-rechtliche Gehalte
93
Abs. 2 Satz 1 GG angesichts der seit der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch 31 gefestigten Schutzpflichtendogmatik außer Frage, obwohl der Wortlaut eine subjektive Formulierung enthält. 32 Das Bundesverfassungsgericht hat die Unverletzlichkeitsanordnung in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG als Anhaltspunkt für eine objektive Wertentscheidung genommen. 33 Dies wird von einigen Stimmen in der Literatur auf andere Grundrechte, auch auf Art. 10 Abs. 1 GG, übertragen. 34 Ferner werden Unverletzlichkeitsanordnungen zur verfassungsdogmatischen Begründung für ein Recht auf Schutz herangezogen. 35 Angesichts des obigen Textbefundes überzeugt es jedoch nicht, die objektive Dimension eines Grundrechts auf die ausdrückliche Anordnung seiner Unverletzlichkeit zu stützen. 36 Gerade wenn man die grundlegende Entwicklung der Schutzpflichtendogmatik zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG betrachtet, spielt die textliche Fassung eines Grundrechts, die im Vergleich der Grundrechte untereinander eher zufällig wirkt, noch die geringste Rolle bei der Ausbildung seiner objektiven Dimension. In den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Schutzpflichten für das Leben und die körperlicher Unversehrtheit wird das Fehlen einer Unverletzlichkeitsanordnung in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht einmal vermerkt. 37 Schutzpflichten31
BVerfGE 39, 1. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." 33 BVerfGE 10, 303 (322) - Unterbringung: „Mag auch aufgrund eines Gesetzes in die körperliche Freiheit eingegriffen werden können, so weist doch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG: ,Die Freiheit der Person ist unverletzlich4 gerade in dem Pathos der Formulierung deutlich auf die grundsätzliche Tendenz, die Wertentscheidung der Verfassung hin. Eine solche verfassungsrechtliche Grundsatznorm enthält, wie das Bundesverfassungsgericht bereits ausgesprochen hat (BVerfGE 6, 55; vgl. a. BVerfGE 7, 198), eine objektive Wertentscheidung, die für alle Bereiche des Rechts gilt." 34 Dietlein, Schutzpflichten, S. 53; Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941). Dagegen Starck, Schutzpflichten, S. 57. 35 Robbers, Sicherheit, S. 186: „Wenn die Freiheit der Person, des Glaubens, das Briefgeheimnis für unverletzlich erklärt werden, wenn das Eigentum gewährleistet oder jedem das Recht auf Meinungsfreiheit zugesprochen wird, so deuten diese Formulierungen eher auf eine Sicherung der genannten Schutzgüter gegenüber Verletzungen jeder Art und aus jeder Richtung." 36 Im Ergebnis so auch Unruh, Schutzpflichten, S. 28, und Starck, Schutzpflichten, S. 57. 37 In BVerfGE 39, 1 (36 ff.) - erste Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch - wird sich mit dem Wortlaut des Grundrechts nur in bezug auf den Schutzbereich auseinandergesetzt. In den weiteren Leitentscheidungen finden sich keine auf den Wortlaut abstellenden Begründungen: BVerfGE 46, 160 (164) - Schleyer; BVerfGE 49, 24 (53 f.) - Kontaktsperre; BVerfGE 49, 89 (142) - Kalkar; BVerfGE 53, 30 32
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D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
begründend wirken vielmehr das Vorliegen einer schutzpflichtentypischen Dreieckskonstellation und die Abwägung der sich darin gegenüberstehenden Grundrechte. 38 Der Unverletzlichkeitsanordnung in Art. 10 Abs. 1 GG selbst kann nicht die Aussage entnommen werden, dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis komme eine objektive Dimension zu. 2. Objektiv-rechtliche Gehalte von A r t 10 G G in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In den Leitentscheidungen 39 zu Art. 10 GG sind mehrmals Passagen zu finden, die die Annahme des Gerichts erkennen lassen, Art. 10 GG verfüge über eine objektiv-rechtliche Dimension. Im Abhörurteil setzt das Gericht Art. 10 GG in Beziehung zu „elementaren Grundsätzen des Grundgesetzes und seiner Wertordnung" 40 wie dem der streitbaren Demokratie, dem Menschenbild des Grundgesetzes sowie zu dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und gibt damit zu verstehen, daß es Art. 10 GG selbst als Bestandteil der objektiven Ordnung ansieht. Im Volkszählungsurteil ist fortgesetzt vom Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung die Rede, 41 womit vor dem Hintergrund der unmittelbar gegen das Volkszählungsgesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden nur gesetzgeberische Schutzpflichten gemeint sein können 4 2 In derselben Entscheidung wird der Schutz durch organisatorische und verfahrensmäßige Vorkehrungen angemahnt, 43 was i m Beschluß zur verdachtslosen Rasterfahndung aufgegriffen wird. 4 4 Die i m ersten Beschluß zur strategischen Überwachung betonte Hochrangigkeit von Art. 10 GG und seiner Funktion für die Wahrung der Menschen(57) - Mülheim-Kärlich; BVerfGE 56, 54 - Fluglärm: Hier finden sich Ausführungen zum Schutzbereich „körperliche Unversehrtheit"; BVerfGE 170, 170 (214) C-Waffen; BVerfGE 79, 174 (201 f.) - Verkehrslärm; BVerfGE 81, 242 (254 f.) Handelsvertreter; BVerfGE 88, 203 (251)- zweite Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch. 38 Vgl. etwa BVerfGE 39, 1 (44 ff.) - erste Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch. 39 Dazu werden hier gezählt: BVerfGE 30, 1 - Abhörurteil; BVerfGE 33, 1 Strafgefangenenbeschluß; BVerfGE 65, 1 - Volkszählungsurteil; BVerfGE 67, 157 strategische Überwachung ; BVerfGE 85, 386 - Fangschaltungsbeschluß; BVerfGE 93, 181 - Rasterfahndung (auch: zweites Abhörurteil); BVerfGE 100, 313 - Verbrechensbekämpfungsgesetz (auch: drittes Abhörurteil, G 10- oder BND-Urteil). 40 BVerfGE 30, 1 (19 ff.). 41 Zum engen systematischen Zusammenhang von Art. 10 GG mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung unten J. III. 1. b). 42 BVerfGE 65, 1 (43 ff., 49). 43 BVerfGE 65, 1 (44 bis 46). 44 BVerfGE 93, 181 (193).
II. Empfänglichkeit für objektiv-rechtliche Gehalte
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würde 4 5 wird für die Begründung von Schutzpflichten herangezogen. 46 In derselben Entscheidung wird Art. 10 GG schließlich ausdrücklich als objektives Prinzip bezeichnet. 47 Letztlich kommt durch die enge Verknüpfung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und Art. 10 GG, die in der zweiten Entscheidung zur strategischen Überwachung vor dem Hintergrund des Volkszählungsurteils vorgenommen wird, 4 8 zum Ausdruck, daß das Gericht keine grundlegenden Unterschiede in den Dimensionen beider Grundrechte erblickt.
3. Der Charakter von Art. 10 G G als Prinzip mit Optimierungsgebot nach Alexy Als mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt ausgestattetes Grundrecht ist Art. 10 GG auf eine abwägungsorientierte Lösung für das Problem angewiesen, wie der Grundrechtsbindung auch außerhalb der Wesengehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG Geltung verschafft werden kann. 4 9 Diese Abhängigkeit von Abwägung und damit vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient Alexy als Beleg für seine mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im denkbar engsten Zusammenhang 50 stehende Prinzipientheorie. 51 Danach normieren Grundrechte keine Regeln, sondern Prinzipien. Beide Kategorien von Normen unterscheiden sich durch ihr Verhalten im Konflikt- bzw. Kollisionsfall. Der Regelkonflikt ist nur entweder mit einer Ausnahmebestimmung oder mit der Ungültigkeit einer der beiden konfligierenden Regeln zu lösen. 52 Kollidieren hingegen Prinzipien, muß zwar eine der beiden Normen zurücktreten. Das zurücktretende Prinzip wird aber nicht ungültig, ohne daß es dafür einer Ausnahmebestimmung bedarf: 53 Beide Belange werden unter Normierung einer bedingten Vorrangrelation, dem Kollisionsgesetz, 54 gegeneinander abgewogen. 55 45
BVerfGE 67, 157 (171). Müller-Dehn, DÖV 1996, 863 (864). 47 BVerfGE 67, 157 (185). Ebenso Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 373: „... wesentliche Bestandteile der Unverletzlichkeit der Privatsphäre als ein Stück objektiver Ordnung ..."; von Münch 3/Pappermann, Art. 10 Rn. 6; von Münch 5/Löwer, Art. 10 Rn. 5. A. A. Schmitt Glaeser, HBStR III § 81 Rn. 66 mit Fn. 227: Art. 10 GG sei aber keine „Grundsatznorm, durch die alle öffentliche Gewalt aufgerufen wäre, Verletzungen durch Private zu verhindern." 48 BVerfGE 100, 313 (358 bis 362, insbesondere 359). 49 Vgl. Alexy, Theorie, S. 112 ff. 50 Alexy, Theorie, S. 100. 51 Alexy, Theorie, S. 71 ff. 52 Alexy, Theorie, S. 77/78. 53 Alexy, Theorie, S. 79. 46
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D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
Diese von Alexy offengelegte Struktur spiegelt sich deutlich im Beschluß zur strategischen Überwachung wider: Das Bundesverfassungsgericht wendet seine Wechselwirkungslehre 56 auf das Verhältnis zwischen Art. 10 GG zu Belangen des Gesetzes zu Art. 10 GG an. 5 7 Im Rahmen der Gesamtabwägung formuliert das Gericht mehrere Kollisionsgesetze. 58 Die Eigenschaft als Prinzip mit Optimierungsgebot eröffnet nach Alexy die objektive Grundrechtsdimension. 59 4. Zusammenfassung Die Wortlautauslegung des Geheimnisbegriffes läßt nicht zwingend auf eine objektive Dimension des Grundrechts schließen, legt aber einen allseitigen Schutz der Geheimnisbereiche gegen staatliche Eingriffe und gegen Beeinträchtigungen durch Privatpersonen nahe. Ein historischer Hinweis auf die Schutzrichtung des Grundrechts gegen das Eindringen von Privaten in den Diskretionsbereich ist die Teilgewährleistung des Briefgeheimnisses, das noch zu Beginn der Geltungsgeschichte von Art. 10 GG als den Schutz unter Privaten bewirkend vom Fernmelde- und Postgeheimnis abgegrenzt wurde. Der Vergleich mit anderen Grundrechten, insbesondere mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, zeigt, daß die Unverletzlichkeitsanordnung in Art. 10 Abs. 1 GG keinen Hinweis auf die objektive Dimension des Grundrechts bedeutet. 6 0 Vor dem Hintergrund der Wortlautoffenheit des Grundrechts geben dogmatische Begründungen für eine objektive Dimension von Art. 10 GG den Ausschlag. An der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läßt sich zeigen, daß dieses Grundrecht trotz der typischen abwehrrechtlichen Komponente empfänglich für objektiv-rechtliche Gehalte ist. 6 1 Anhand der Leit54
Alexy, Theorie, S. 84. Alexy, Theorie, S. 79 ff. (81 und S. 96 zu BVerfG 30, 1 - Abhörurteil). 56 Dazu etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 595. 57 BVerfGE 67, 157 (172/173). 58 BVerfGE 67, 157 (179): „Die Bundesregierung muß im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Verantwortung für die äußere Sicherheit die Maßnahmen ergreifen können, die zur rechtzeitigen Aufklärung der Gefahr bewaffneter Angriffe auf das Bundesgebiet unumgänglich sind. ... Allerdings müssen in dem Antrag des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes ... schriftlich die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Maßnahme dargelegt werden. Das bedeutet im Einzelfall...". 59 Alexy, Theorie, S. 130 ff., 134 ff., 422, 477. 60 In dieser Richtung aber BVerfGE 10, 303 (322) - Unterbringung; Dietlein, Schutzpflichten, S. 53; Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (941). 61 Vgl. a. Starck, Schutzpflichten, S. 59, der im Volkszählungsurteil, BVerfGE 65, 1, „ansatzweise ... eine Schutzpflicht des Staates auch vor privater Datenverar55
III. Verhältnis von Schutzpflichten
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entscheidungen zu Art. 10 GG - insbesondere am Volkszählungsurteil 62 ist nachweisbar, daß das Gericht den Schutz der Diskretion in der Kommunikation auf Distanz als Prinzip mit Optimierungsgebot im Sinne Alexys einsetzt. Diese Prinzipieneigenschaft von Art. 10 GG erschließt dem Grundrecht seine objektive Dimension, insbesondere die Möglichkeit, daß aus ihm Schutzpflichten ableitbar sind. 63
III. Verhältnis von Schutzpflichten, Ausstrahlungs- oder Drittwirkung und Vorgaben für Organisation und Verfahren Die aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten gefolgerten Grundrechtsfunktionen sind vom Bundesverfassungsgericht von Fall zu Fall hinsichtlich einzelner Grundrechte entwickelt worden. In der Literatur werden sie nebeneinander aufgezählt. 64 Eine feststehende Systematik ist nicht auszumachen. Ein dogmatisches Schema für die Folgerungen aus der objektivrechtlichen Funktion der Grundrechte fehlt bisher. 65 Aus den Eigenschaften der Grundrechtsfunktionen lassen sich aber einzelne Vorgaben für ihr Verhältnis zueinander ableiten. Daraus soll hier eine Arbeitsgrundlage gebildet werden. Die Grundrechtsfunktion des Leistungs- und Teilhaberechts kommt im Rahmen des Art. 10 GG von vorneherein nicht in Betracht. 66 Art. 10 GG bezweckt den Schutz der von den Kommunikationsteilnehmern hergestellten Privatheit, die staatlicherseits allenfalls geschützt, nicht aber erbracht werden kann. 67 Daher erübrigt sich hier die Abgrenzung der Leistungs- und Teilhaberechte von den anderen Grundrechtsfunktionen.
beitung" judiziert sieht und von Münch 5 /Löwer, Art. 10 Rn. 5 mit Berufung auf BVerfGE 67, 157 (185) - strategische Überwachung; ferner Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 373. 62 BVerfGE 65, 1. 63 Alexy, Theorie, S. 422. 64 Vgl. etwa Stern, Staatsrecht 1/IIIS. 922 und Jarass, AöR 120 (1995), 345 (347 ff.). 65 Lübbe-Wo Iff, Eingriffsabwehrrechte, S. 19/20. Ein allgemein konsentiertes Schema liegt auch bis jetzt nicht vor, allenfalls umfassende Darstellungen wie z.B. die bei Stern, Staatsrecht m/1, § 65 ff. Vgl. a. Dreier/Dreier, Vorb. zu Art. 1 Rn. 57 a. E. 66 Dies ist allgemein anerkannt, vgl. etwa von Münch 5 / Löwer, Art. 10 Rn. 4; im einzelnen Dreier/Hermes, Art. 10 Rn. 71. 67 Dreier!Hermes, Art. 10 Rn. 71. 7 Hadamek
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D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG 1. Ausstrahlungswirkung a) Ausstrahlungswirkung
und Drittwirkung
Das Bundesverfassungsgericht verwendete den Begriff der Ausstrahlungswirkung im Lüth-Urteil im Sinn der Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht. 68 I m konkreten Zusammenhang diente er zur Beschreibung der Reichweite verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenz. Später kennzeichnete der Begriff allgemeiner die Eigenschaft der Grundrechte als Elemente einer objektiven Ordnung. 69 Diese allgemeinere Wortbedeutung wird in der Literatur teilweise bevorzugt. 70 Häufiger wird er aber neuerdings wieder verstanden als Kennzeichnung der Einwirkung der Grundrechte nicht nur auf das Privatrecht (mittelbare Drittwirkung), sondern auch auf andere Rechtsgebiete71 und nicht nur über unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln, sondern mittels verfassungskonformer Auslegung überhaupt. 72 In dieser Bedeutung ersetzt der Begriff der Ausstrahlungswirkung denjenigen der Drittwirkung.
b) Ausstrahlungswirkung
und Schutzpflicht
Der systematische Zusammenhang von objektiver Grundrechtsdimension, Ausstrahlung oder unmittelbarer Drittwirkung und grundrechtlicher Schutzpflichtenfunktion ist eng und wechselseitig. 73 Wo ein objektiv-rechtlicher Gehalt vorliegt, dort ist auch eine Ausstrahlungswirkung gegeben und es kann daraus eine Schutzpflicht folgen. 74 So stellt die Schutzpflicht tendenziell den „zentralen Begriff' 7 5 der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte dar: Sie drängen durch ihren normativen Gehalt auf Verwirklichung durch positives staatliches Handeln, 76 in erster Linie durch Gesetze, die wiederum infolge der Ausstrahlungswirkung grundrechtskonform zu interpretieren 68
BVerfGE 7, 198 (207) - Lüth. Vgl. z.B. BVerfGE 73, 261 (269) - Sozialpläne. 70 Stern, Staatsrecht III/l, S. 923; Bleckmann, NJW 1988, 938 ff. 71 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 107; Hermes, NJW 1990, 1764 (1767); Jarass, AöR 110 (1985), 363 (378). 72 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 107/108; Dreier ¡Dreier, Vorb. zu Art. 1 Rn. 57; Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 221 (231). 73 Vgl. etwa Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (13): Die eine Funktion ,setze die andere aus sich heraus4. 74 Starck, Schutzpflichten, S. 65, spricht von einer „unterirdischen Verbindung" zwischen Drittwirkung und Schutzpflichten. Vgl. a. Hermes, NJW 1990, 1764 (1768) zur mittelbaren Drittwirkung als Aspekt des Grundrechts auf Schutz. 75 Böckenförde, Der Staat 29 (1990, 1 (12). So auch Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 221 (234). 69
III. Verhältnis von Schutzpflichten
99
sind. 77 Es wird bereits von der Ersetzung der „Drittwirkung" durch Schutzpflichten gesprochen. 78 Beiden Grundrechtsfunktionen ist die gleiche Zwecksetzung eigen, grundrechtlich geschützte Rechtsgüter vor nichtstaatlicher Gefährdung zu bewah-
2. Schutzpflichten Ebenso wie Teilhabe- und Leistungsrechte sind objektive Schutzpflichten auf staatliche Aktivität gerichtet. 80 Im Unterschied zu dem unmittelbar aus den Grundrechten abgeleiteten Anspruch auf Teilhabe- und Leistung, 81 ist die Schutzpflicht gesetzesmediatisiert, 82 ist also ihrem Inhalt nach auf den Erlaß einfach-rechtlicher Normen durch den Gesetzgeber gerichtet. Sie rückt auch dadurch nicht wieder in die Nähe der Rechte auf Teilhabe und Leistung, daß der objektiven Schutzpflicht nach h. M. ein subjektiver Schutzanspruch zuerkannt wird. 8 3 Denn auch dieser bedarf der Umsetzung durch den Gesetzgeber. 84 Sekundär sind auch Exekutive und Judikative bei der Gesetzesanwendung Adressaten objektiver Schutzpflichten. 85 Die Schutzpflichten 76
Vgl. etwa Böckenförde, Der Staat 29 (1990, 1 (12) und E. Klein, NJW 1989, 1633 (1639). 77 Daher läßt sich sagen, daß die Ausstrahlungswirkung für Exekutive und Judikative bedeutsam ist, Schutzpflichten sich aber primär an den Gesetzgeber richten, Jarass, AöR 110 (1985), 363 (378). 78 Oeter, AöR 119 (1994), 529 (539 ff., 549). 79 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 99. Ein umfassender Vergleich von Drittwirkungslehre und Schutzpflichten findet sich bei Langner, Die Problematik der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, S. 235 ff. 80 Vgl. etwa Alexy, Theorie, S. 395 ff. Dafür, daß sich darin die Gemeinsamkeiten beider Funktionen erschöpfen Dreier/Dreier, Vorb. zu Art. 1 Rn. 62. Dietlein, ZG 1995, 131(140): „Schutzpflichten sind möglicherweise nichts weiter als die Kehrseite der objektiven Leistungspflicht des Gesetzgebers." Alexy, Schutzpflichten, S. 104/105 betont die strukturellen und dogmatischen Unterschiede zwischen den grundrechtlichen Schutzpflichten und den vom BVerfG für die Errichtung und Organisation von Hochschulen sowie die Finanzierung von Privatschulen entwickelten Schutz- und Förderungspflichten, die aus der Diskussion um die Teilhaberechte hervorgegangen sind. Vgl. zur Trennung und möglicher Konvergenz beider Institute Hund, FS Zeidler, S. 1445 (1455 ff.) und Kopp, NJW 1994, 1753 ff. 81 BVerfGE 33, 303 (331) - Numerus Clausus: „..., so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben." 82 Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 44. 83 Zu den Schutz- und Förderungspflichten zwischen originären Teilhaberechten und subjektiven Schutzansprüchen Hund, FS Zeidler, S. 1445 (1457). Zu Schutzansprüchen unten H. 7*
100
D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
aus Art. 10 GG richten sich auch an die Exekutive, 86 insbesondere an die Regulierungsbehörde, die einfach-rechtlich ausdrücklich durch das Regulierungsziel gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 TKG bzw. § 2 Abs. 2 Nr. 1 PostG zur Wahrung des Fernmelde- und Postgeheimnisses verpflichtet ist. Ebenso ist die Judikative schutzpflichtengebunden, indem die Gerichte bei den Art. 10 GG berührenden Rechtsfragen gehalten sind, einfach-rechtliche Normen im Sinn der grundrechtlichen Schutzpflichtenwirkung auszulegen und anzuwenden. 87
a) Bipolarität oder Grundrechtsdreieck? Es fragt sich, ob Schutzpflichten ein dreipoliges Verhältnis (Staat - Schädiger - Opfer) voraussetzen oder ob sie gleichermaßen auch im zweipoligen Verhältnis zwischen Staat und einzelnem bestehen. Einige Autoren verorten staatliche Schutzpflichten auch im zweipoligen Staat-Bürger-Verhältnis. 88 Diese Ansicht hätte hier zur Folge, daß auch der Schutz gegen die postfremde Exekutive, d.h. die sich aus der Anwendung des G 10 und der §§99 ff. StPO ergebenden Eingriffslagen, dem Themenkreis der staatlichen Schutzpflichten zuzurechnen wäre. Typisch für die Schutzpflichten im Sinn der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte ist jedoch das Grundrechtsdreieck Staat-Schädiger-Opfer. 89 84
Um dies auch für die Gewährung von Schutzansprüchen sicherzustellen, wird die Anwendung der Schutznormtheorie auf objektive Schutzpflichten gefordert: Dietlein, Schutzpflichten, S. 171. Dazu unten J. I. 1. 85 Vgl. etwa Dreier ¡Dreier, Vorb. zu Art. 1 Rn. 63. 86 Die Schutzpflichtengebundenheit der Exekutive betont Dietlein, Schutzpflichten, S. 181 ff. Zum Einfluß von Schutzpflichten auf behördliche Entscheidungen am Beispiel des Baunachbarrechts grundlegend Wahl, DVB1. 1996, 641 (647 ff.), femer Oeter, Baurechtsvereinbarung, Drittschutz und die Erfordernisse wirksamen Rechtsschutzes, DVB1. 1999, 189 (193 f.); am Beispiel der Versammlungsfreiheit Burgi, DÖV 1993, 633 (637ff). 87 Hier verschwimmt jedoch vollends die Grenze zu der Ausstrahlungswirkung, vgl. dazu oben D. III. 1. zum Zusammenhang von verfassungskonformer Auslegung, Schutzpflichten und Ausstrahlungswirkung. 88 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 12. Auflage, Rn. 92: „Der Staat soll sich schützend vor die Grundrechte stellen. Das gilt sowohl, wenn Grundrechtsverletzungen von Seiten des Staates selbst, als auch wenn sie von einzelnen drohen." Dies erklärt sich mit der von Schlink in EuGRZ 1984, 457 (463 ff.) gestellten Forderung, die grundrechtliche Abwehrfunktion zu rekonstruieren (dazu oben E. I. 1.), oder zumindest die Schutzpflichten auf die Abwehrfunktion zurückzubeziehen, Pieroth/Schlink, Grundrechte, 14. Auflage, Rn. 92. Femer E. Klein, NJW 1989, 1633 (1636): „... könnte eine daraus (aus dem Verhältnis Individuum - Staat) abgeleitete Schutzpflicht auch nur Vorkehrungen zum Schutz gegen drohende Gefährdungen von staatlicher Seite auslösen. Auch solche Schutzpflichten gibt es."
III. Verhältnis von Schutzpflichten
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Der Staat kann nicht Schädiger und Schützender zugleich sein. 90 Im bipolaren Verhältnis handelt es sich um den status negativus im Jellinekschen Sinn, nicht aber um den status positivus, aus dem der einzelne aktives Verhalten des Staates und nicht das bloße Unterlassen als Eingriffsabwehr verlangen kann. Positives Verhalten vom Staat zu fordern ist aber gerade die Existenzberechtigung dieser zusätzlichen Grundrechtsfunktion im Rahmen der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension. Allerdings ist die Besetzung der Rolle des Schädigers vielgestaltig: Es kann sich um eine natürliche Person handeln, um eine Gruppe von solchen, um eine juristische Person privaten Rechts, einen fremden Staat oder einen im Ausland handelnden Privaten. 91 Gemeinsam ist diesen Akteuren allein die fehlende unmittelbare Bindung durch bundesstaatliches Verfassungsrecht. 92 Dieses Kriterium bürgt aber nicht für Trennschärfe. Es ergeben sich Grauzonen bei staatlicher Mitwirkung, worunter auch das Handeln gemischt-wirtschaftlicher Unternehmen zu verstehen ist, ferner bei Konstellationen, in denen der Staat als Zweckveranlasser auftritt, sowie bei zeitlich und räumlich gestreckten Verursacherketten und Wirkungszusammenhängen. Gleichwohl ist das Grundrechtsdreieck für die Schutzpflicht kennzeichnend. Die Schenkel dieses Dreiecks lassen sich als bipolare Beziehungen darstellen, in denen sich unterschiedliche Grundrechtsfunktionen entfalten. 9 3 Im Verhältnis Staat - Schädiger liegt eine abwehrrechtliche Beziehung vor: Das Tätigwerden des Staates zum Schutz des Opfers kann dem Schädiger gegenüber ein Eingriff sein. Die Beziehung Opfer - Staat ist durch den die Schutzpflicht kennzeichnenden status positivus geprägt. Die Gleichordnungsbeziehung zwischen Schädiger und Opfer ist empfänglich für Drittwirkungen.
89
So am deutlichsten Isensee, HBStR V, § 111 Rn. 5 und Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 f. Auch: Robbers, Sicherheit, S. 121 („Beeinträchtigungen von nichtstaatlicher Seite"); Dietlein, Schutzpflichten, S. 35 („Angriffe privater Dritter"); Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (556); Preu, JZ 1991, 265 (267); Stern, Staatsrecht III/l, S. 946; Kirchhof, DVB1. 1999, 637 (652): „Wenn nicht der Staat Urheber einer Freiheitsgefährdung ist, sondern ein anderer Freiheitsberechtigter, drängt dieser Angreifer den Staat aus der Rolle des Widersachers in die Rolle des Garanten der Freiheit."; Jarass, AöR 120 (1995), 345 (351). 90 Isensee, HBStR V § 111 Rn. 116. 91 Diese Differenzierung und Aufzählung findet sich bei Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 37. 92 Vgl. a. zum folgenden Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 37. 93 Grundlegend: Wahl/Masing, JZ 1990, 553 ff.
102
D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG b) Schutzpflichtentypische Dreieckskonstellation bei der Kommunikationsüberwachung?
Hinsichtlich Art. 10 GG erhebt sich diese Frage, weil hier die Grundrechtsgefährdungen in beiden Konstellationen zu finden sind. Zum einen ergeben sich die Gefährdungen im bipolaren Verhältnis des einzelnen zu der postfremden Exekutive (Nachrichtendienste, Justizbehörden). Die Überwachungskonstellation wird hier so eingeschätzt, daß sich durch die Einschaltung von privaten Unternehmen nichts an der Bipolarität ändert, weil sie als Beliehene bzw. Werkzeuge dem staatlichen Bereich zuzurechnen sind. 9 4 Die Grundrechtsbeeinträchtigung ist deshalb als Eingriff dem Staat zuzurechnen. Zwar läßt sich die Überwachungskonstellation auch als ein dreipoliges Verhältnis „Staat - Unternehmen - Bürger" beschreiben. Dabei handelt es sich jedoch nur um die Beteiligung dreier Personengruppen, ohne daß zwischen ihnen die schutzpflichtentypische Dreiecksbeziehung besteht. Für diese ist erforderlich, daß die Beeinträchtigung vom „privaten" Schädiger ausgeht. In der Überwachungssituation wäre dies das Unternehmen. Die Schutzbeziehung muß im schutzpflichtentypischen Grundrechtsdreieck zwischen Staat und Geschädigtem/Bedrohtem bestehen. In der Überwachungssituation geht jedoch der Eingriff vom Staat aus und wird über das Telekommunikationsunternehmen verwirklicht. Dies macht deutlich, daß der Überwachungseingriff an sich keine schutzpflichtentypische Lage schafft. Erst in zweiter Linie kommt bei der Überwachungssituation eine schutzpflichtentypische Dreieckskonstellation zustande: Durch die Einschaltung in den Überwachungsvorgang könnte der Erbringer von Telekommunikationsdiensten die Möglichkeit erhalten, in den Diskretionsbereich des Abgehörten einzudringen. Der Anbieter könnte etwa im Rahmen des Abhörvorganges Daten über den Abgehörten erlangen, die zur Erbringung des Dienstes nicht erforderlich sind. 95 Solche drohenden Beeinträchtigungen durch den Betreiber schaffen eine Schutzbeziehung zwischen dem einzelnen und dem Staat. 96
94
Dazu bereits oben C. I. II. 1. b) - Grundrechtsverpflichtung der in die Überwachung eingeschalteten Anbieter als Verwaltungshelfer („Werkzeuge") oder als unspezifisch Indienstgenommene. An der Bipolarität dieser Überwachungssituation ändert sich nichts dadurch, daß sich die anordnende Behörde des privaten Unternehmens zur Durchführung der Abhörmaßnahme oder der Postbeschlagnahme bedient. 95 Vgl. § 85 Abs. 3 Satz 1 TKG. Im einzelnen dazu unten K. VI. 96 Zu der Erfüllung der Schutzpflichten aus Art. 10 GG bei der Telekommunikationsüberwachung unten K. V.l.
III. Verhältnis von Schutzpflichten
103
c) Folgerungen für den untersuchten Normenkreis Vor diesem Hintergrund der grundrechtsdogmatischen Gegebenheiten erfolgt an dieser Stelle eine Weichenstellung für den Gang der Untersuchung. Untersucht werden sollen nur schutzpflichtentypische Gefährdungslagen, also solche Konstellationen, in denen sich das Grundrechtsdreieck findet, in dem zwischen Staat und Bedrohtem eine Schutzbeziehung besteht. Daher werden die Überwachungssituationen nur in dem soeben dargestellten Umfang untersucht werden. 97 Der Akzent liegt also auf den privatisierungsspezifischen Risiken, die Art. 10 GG durch die Nachfolgeunternehmen und ihre Wettbewerber dort drohen, wo diese nicht wie in Überwachungssituationen im staatlichen Auftrag handeln, sondern als Nachfolger der Deutschen Bundespost deren Leistungen erbringen. Bedingt durch die Postprivatisierung gerade in einer Zeit der datenschutzrechtlich sensiblen Entwicklung der Kommunikationstechnologie ist Art. 10 GG in den Beziehungen zwischen Privaten, d.h. sowohl zwischen dem Kunden und dem Kommunikationsunternehmen als auch unter den Kunden, bedroht. 98
3. Grundrechtswirkungen für Organisation und Verfahren Gemeint ist die Einwirkung der materiellen 99 Grundrechte auf Organisation und Verfahren. Diese Grundrechtsfünktion kann jedem Grundrecht zukommen, 1 0 0 kommt also auch für Art. 10 GG in Betracht. Die Grundrechtswirkung auf Organisation und Verfahren liegt „ q u e r " 1 0 1 zu den übrigen Aspekten der objektiven Dimension der Grundrechte. Auch sie ist ein Teil der Lehre von der Ausstrahlungswirkung. 102 Von den Teilhabe- und Leistungsrechten unterscheidet sie sich dadurch, daß sie nicht unbedingt das bipolare Verhältnis des anspruchstellenden Bürgers zum Staat zur Grundlage hat. 1 0 3 Besonders groß ist die Nähe hingegen zu der Schutz97
Dazu unten K. II. s. dazu oben A. IV. - Gefährdungen des Diskretionsschutzes. 99 Im Gegensatz zu den aus sich heraus verfahrensrechtlich bedeutsamen Grundrechten wie Art. 19 Abs. 4, 101, 103 Abs. 1, 104 GG. 100 Stern, Staatsrecht m/1, S. 967. 101 Jarass/PicToth 5', Vorb. vor Art. 1 Rn. 13; Jarass, AöR 120 (1995), 345 (353); Pieroth/Schlinh Grundrechte, Rn. 93. 102 Stern, Staatsrecht III/l, S. 967, 923 ff. 103 In anderer Beziehung tritt die Nähe zu den Teilhaberechten in BVerfGE 35, 79 (114 bis 116) - Hochschule - hervor: Die Bereitstellung organisatorischer Mittel soll für eine funktionsfähige Institution sorgen, die die Grundrechtswahrnehmung ermöglicht. Wegen ihrer großen Nähe zu den Leistungs- und Teilhaberechten (Kon98
104
D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
pflichtenfunktion: 104 Eine grundrechtlich gebotene Schutzvorschrift kann gerade in organisations- und verfahrensmäßigen Regelungen bestehen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt Anlaß, hierin einen dem materiellrechtlichen Schutz gleichgeordneten verfahrensrechtlichen Schutzaspekt zu sehen. 105 Über den Begriffsinhalt von Organisation und Verfahren besteht keine Klarheit. 1 0 6 Er ist gekennzeichnet durch die Prozeduralisierung des Grundrechtsschutzes und seine Vorverlagerung in den Bereich der Verwaltung. 107 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Grundrechtswirkung erstmals der Wissenschaftsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG für die organisatorische Ausgestaltung des Wissenschaftsbetriebes entnommen. 108 Aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hat es im Mülheim-Kärlich-Beschluß Grundrechtswirkungen für die Gestaltung des Genehmigungsverfahren zur wirtschaftlichen Nutzung der Atomenergie abgeleitet. 109 In Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. hat es Vorgaben für die Ausgestaltung des Asylverfahrens gesehen 110 und der Rundfunkfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Leitlinien für die Rundfunkordnung im Hinblick auf privaten Rundfunk unter den Bedingungen knapper Frequenzen entnommen. 111 Aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat das Gericht Grundsätze über die Behandlung personenbezogener Daten abgeleitet, insbesondere für solche personenbezogenen Daten, die für statistische Zwecke erhoben würden. 1 1 2 Die Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 kretisierung der Leistungsfunktion durch Verfahrensrecht) wird ihr die Eigenständigkeit als Grundrechtsfunktion z.T. abgesprochen, Jarass, AöR 120 (1995), 345 (353); Dreier, Dimensionen, S. 42. 104 Vgl. a. die enge Verschränkung in BVerfGE 53, 10 (57 f., 65) - MülheimKärlich: „Dieser Schutzpflicht ist der Staat in der Weise nachgekommen, daß er die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie von einer vorherigen staatlichen Genehmigung und die Erteilung solcher Genehmigungen von näher geregelten materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen abhängig gemacht hat.", BVerfG 53, 10 (57). 105 So Enders, Menschenwürde, S. 336. Er weist auf die Kalkar-Entscheidung (BVerfGE 49, 89) als Schnittpunkt von verfahrensrechtlichem und materiellrechtlichem Schutzaspekt hin, S. 341. 106 Alexy, Theorie, S. 430 ff.; Stern, Staatsrecht I I I / l S. 959 ff. 107 Vgl. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 221 (233). 108 BVerfGE 35, 79 (114 bis 116) - Hochschule I; vgl. a. BVerfGE 55, 37 (68 und 70) - Hochschule II. 109 BVerfGE 53, 30 (57 ff.). 110 BVerfGE 56, 216 (236) - Asyl: Keine Abschiebung vor Ende des Anerkennungsverfahrens. 111 BVerfGE 57, 295 (320) - Privatfunk im Saarland; vgl. a. BVerfGE 73, 118 (158) - Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz. 112 BVerfGE 65, 1 ( 44 ff., 47 ff.) - Volkszählung.
IV. Schutzpflichtenfünktion und Grundrechtswirkungen
105
GG setzt auch Maßstäbe für die Bewertung von Prüfungsergebnissen im gerichtlichen Verfahren. 113 Diese Grundrechtsfunktion hat zum Substrat also sowohl ganze Ordnungen bestimmter, materiell-rechtlich geprägter Lebensbereiche (Hochschule, Rundfunk), als auch die verfahrensrechtlichen Annexe materiell-rechtlich geprägter Bereiche (kernenergierechtliches Genehmigungsverfahren) und ohnehin technisch-verfahrensrechtlich geprägte Lebensbereiche wie die Datenverarbeitung. Der von Art. 10 GG erfaßte Bereich läßt sich allen drei Aspekten zuordnen: Es geht sowohl um die diesem Grundrecht gemäße Ausgestaltung der Kommunikationsordnung insgesamt als auch um die Berücksichtigung von Art. 10 GG in den Lizenzvergabeverfahren. 114 Außerdem ist der Bereich des Fernmeldegeheimnisses unter den Bedingungen moderner Kommunikationstechnologie ebenso technisch-verfahrensrechtlich geprägt wie die automatische Datenverarbeitung, stellt er doch daraus einen spezifischen Ausschnitt dar. 1 1 5
IV. Die Trennung zwischen der Schutzpflichtenfunktion und Grundrechtswirkungen für Organisation und Verfahren bei Art. 10 GG Wegen der Prägung des Art. 10 GG zugrundeliegenden Sachbereiches durch verfahrensrechtlich-technische Fragen, des engen Zusammenhangs zwischen beiden Grundrechtsfunktionen und der zentralen Stellung von Schutzpflichten bei den objektiven Grundrechtsgehalten soll hier zum Schutz durch Organisation und Verfahren nur die Kontrolle durch die Regulierungsbehörde und den Bundesbeauftragten für den Datenschutz gezählt werden. Überdies verschwimmen gerade im Privatisierungskontext die Grenzen zwischen materiellen und verfahrensrechtlichen Regeln, dadurch daß die Steuerungsfunktion des Rechts im Rahmen der Regulierung durch verfahrensrechtliche Instrumente umgesetzt w i r d . 1 1 6 Der enge Zusammenhang beider Funktionen tritt gerade i m Volkszählungsurteil, in dem vom Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen die Rede ist, hervor. 1 1 7 Zum Schutz durch Organisation und Verfahren werden dort die bereichsspezifische und präzise Bestimmung des Verwendungszwecks der 113 114 115 116 117
BVerfGE 84, 34 - Multiple-Choice. §§ 6 ff. TKG bzw. §§ 5 ff. PostG. s.u. J. in. 1. b). Schuppen, Die Verwaltung 31 (1998), 415 (424 ff.). BVerfGE 65, 1 (44).
106
D. Der objektiv-rechtliche Gehalt von Art. 10 GG
Daten, der Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabe- und Verwertungsverbote, ferner Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten sowie die Beteiligung unabhängiger Datenschutzbeauftragter gezählt. 118 Teils haben diese Schutzinstrumente eine materiell-rechtliche Ausrichtung (die Bestimmung des Verwendungszwecks), teils einen eindeutig verfahrensrechtlichen Einschlag (Beteiligung der Datenschutzbeauftragten). Weil auch verfahrensrechtliche Vorschriften dem Schutz des Grundrechts dienen, sollen sie hier im Zusammenhang mit den Schutzpflichten geprüft werden. 1 1 9 Nur dort, wo der verfahrensrechtliche Schutz institutionalisiert ist - durch die Regulierungsbehörde oder den Bundesdatenschutzbeauftragten - soll hier von Grundrechtswirkungen für Organisation und Verfahren die Rede sein. 1 2 0
118 119 120
BVerfGE 65, 1 ( 45/46). Dies gilt für § 89 TKG, s.u. K. IV. s.u. K. V.
E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG Von der Existenz eines Grundrechts allein kann nicht auf die Existenz einer konnexen Schutzpflicht geschlossen werden. 1 Der Begründungsbedarf bildet ein notwendiges Regulativ für die Annahme von Schutzpflichten und von korrespondierenden Schutzansprüchen. So kann die Gefahr der Ausuferung, einer der gewichtigsten Einwände gegen objektive Grundrechtsgehalte, 2 begrenzt werden. Es gibt verschiedene Begründungselemente und teilweise parallel verlaufende Begründungsstränge. Hier soll im Anschluß an die Darstellung der allgemeinen Begründung staatlicher Schutzpflichten (I.) eine spezifische, auf Art. 10 GG und die Postprivatisierung zugeschnittene Begründung herausgearbeitet werden (II.).
I. Die allgemeine Begründung von Schutzpflichten 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Schutzpflichten
aus allen Grundrechten
Das Bundesverfassungsgericht hat der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten mit der ersten Entscheidung zu § 218a StGB 3 Grund gelegt und in seiner weiteren Rechtsprechung in drei Phasen prägend ausgeformt. Die erste Phase ist gekennzeichnet durch die Ableitung von Schutzpflichten aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in den ersten sechs Leitentscheidungen.4 Die mittlere Stufe zeichnet sich dadurch aus, daß das Gericht, was Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG betrifft, auf seine bisherige Rechtsprechung ohne wesentliche Änderung aufbaute, und darüber hinaus anderen Grundrechten Schutzpflichten entnahm. Markstein ist hier die Handelsvertreter-Entschei1 Gusy, DÖV 1996, 573 (578) und passim; vgl. a. Isensee, HBStR V § 111, Rn. 13 a.E., 18. 2 Vgl. vor allem Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (24 ff.). Dazu oben D. I. 1. 3 BVerfGE 39, 1. 4 BVerfGE 39, 1 - Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 46, 160 - Schleyer; BVerfGE 49, 24 - Kontaktsperre; BVerfGE 49, 89 - Kalkar; BVerfGE 53, 30 Mühlheim-Kärlich; BVerfGE 56, 54 - Fluglärm.
108
E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG
dung, 5 in der der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs.l GG ein Schutzauftrag für die Privatautonomie entnommen wurde. 6 Für die dritte Stufe ist charakteristisch, daß Schutzpflichten fester Bestandteil der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung sind, was sich auch darin zeigt, daß sie zu wesentlichen Erwägungen in bloßen Kammerentscheidungen gehören. 7 Insgesamt gesehen sind Schutzpflichten in erster Linie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 8 teilweise i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG 9 abgeleitet worden. Außerdem hat das Gericht schon früh Art. 6 Abs. 1 und 4 G G 1 0 und der Privatschulfreiheit gem. Art. 7 Abs. 4 G G 1 1 Schutz- und Förderungspflichten entnommen, die jedoch von den aus der objektiven Grundrechtsdimension abzuleitenden Schutzpflichten zu unterscheiden sind. 1 2 5
BVerfGE 81, 242 - Handelsvertreter. BVerfGE 81, 242 (256) - Handelsvertreter. Ähnlich die Entscheidungen zu den Bürgschaftserklärungen Vermögensloser, BVerfGE 89, 214 (231 ff.) und BVerfG WM 1996, 948 f. (Kammerentscheidung). 7 Vgl. z.B. BVerfG EuGRZ 1998, 172 - Passivrauchen, Kammerentscheidung. 8 BVerfGE 39, 1 (41) - Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 46, 160 (164) Schleyer; BVerfGE 49, 24 (53) - Kontaktsperre; BVerfGE 49, 89 (142) - Kalkar; BVerfGE 53, 30 (57 f.) - Mühlheim-Kärlich; BVerfGE 56, 54 - Fluglärm; BVerfGE 79, 174 (201) - Straßenverkehrslärm; BVerfG NJW 83, 2931 - Waldsterben; BVerfGE 88; 203 (251) - zweite Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch; BVerfGE 90, 145 (195) - Cannabis; BVerfG EuGRZ 1996, 120 - Ozon, Kammerentscheidung; BVerfG NVwZ 1997, 158 - Kernkraftwerk Obrigheim, Kammerentscheidung; BVerfG JZ 1997, 897 - Transformatorenstation, Kammerentscheidung; BVerfG NVwZ 1997, 1206 - Erstattungsfähigkeit eines noch nicht bestandskräftig abgelehnten Arzneimittels, Kammerentscheidung; BVerfG NJW 1998, 975 - staatliche Beteiligung an Raumfahrt, Kammerentscheidung; BVerfG EuGRZ 1998, 172 — Passivrauchen, Kammerentscheidung. 9 Das BVerfG zieht Art. 1 Abs. 1 GG zusätzlich heran in BVerfGE 39, 1 (41); BVerfGE 46, 160 (164); BVerfGE 49, 89 (142); BVerfGE 53, 30 (57 f.); BVerfGE 56, 54; 79, 174 (201); BVerfG NJW 83, 2931; BVerfGE 88; 203 (251); BVerfGE 90, 145 (195). Eingehend dazu unten 5 a). 10 BVerfGE 6, 55 (72) - Ehegattenbesteuerung, Art. 6 Abs. 1 GG; BVerfGE 52, 357 (365) - Mutterschutzgesetz, Art. 6 Abs. 4 GG; aus neuerer Zeit z.B.: BVerfG DVB1. 1996, 195 (Nichtannahmebeschluß) - aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG; BVerfG NVwZ 1997, 54 - Rückwirkung von § 125b Abs. 1 BRRG zugunsten einer werdenden Mutter, Art. 6 Abs. 4, Kammerentscheidung; BVerfG NJW 1998, 2043 (Kammerentscheidung) - Sonderurlaub für Niederkunft nichtehelicher Lebensgefährtin, Art. 6 Abs. 1 GG. 11 BVerfGE 75, 40 (61 ff.) - Privatschule; BVerfGE 90, 107 (114 ff.) - Waldorfschule I; BVerfGE 90, 128 (138) - Waldorfschule II. Vgl. dazu Hund } FS Zeidler, S. 1445 ff. 12 A. A. Isensee, HBStR V § 111 Rn. 14 ff., der Art. 6 GG als das „Paradigma einer Schutzpflicht im Grundgesetz" bezeichnet. Wie hier Dreier ¡Dreier, Vorb. zu Art. 1, Rn. 65. Die in Art. 6 Abs. 1 und 4 GG sowie in Art. 7 GG genannten Schutzund Förderungspflichten sind „spezielle Normierungen" (Dreier), wohingegen die aus 6
I. Die allgemeine Begründung von Schutzpflichten
109
Aber auch in Gleichheitsrechten 13 und in solchen Grundrechten, die ihrem Wortlaut nach typische Abwehrrechte sind, können nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Schutzpflichten enthalten sein: in spezifischer Weise in dem Recht auf Eigentum gem. Art. 14 G G , 1 4 ferner in der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG, 1 5 in der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 G G 1 6 und in der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. 1 7 Das Bundesverfassungsgericht spricht erst seit einem neueren Beschluß zum Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung ausdrücklich von einer „Schutzpflicht der staatlichen Organe, die sich auch auf die Gewährleistung der für die Persönlichkeitsentfaltung konstitutiven Bedingungen bezieht," und folgert damit eine Schutzpflicht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. 1 8 Die dort zitierten vorangehenden Entscheidungen gingen lediglich implizit von einer Schutzpflicht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus. 19 Die Entscheidungen lassen insgesamt erkennen, daß keinem Grundrecht die Schutzpflichtenfunktion abgesprochen wird. den abwehrrechtlich formulierten Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten sich erst erweisen lassen müssen, so Isensee selbst, HBStR V § 111 Rn. 12, 18, 21. Es bestehen auch strukturelle Unterschiede: Die Schutz- und Förderungspflichten gleichen eher den Teilhabe- und Leistungsrechten als den das Grundrechtsdreieck voraussetzenden Schutzpflichten; zur Hypothese einer Annäherung der Schutz- und Förderungspflichten an die Schutzpflichten Hund, FS Zeidler, S. 1445 (1457). 13 Vgl. z.B. BVerfG EuGRZ 1994, 135 (138) - Art. 3 Abs. 2 GG: Zugang zu „Männerberufen." Jarass, AöR 120 (1995), 345 (348 ff.), trennt die Nichtdiskriminierungsfunktion von der Abwehr- und der Schutzpflichtenfunktion. 14 Hier übernimmt die Institutsgarantie Funktionen, die bei anderen Grundrechten die Schutzpflicht erfüllt, Dreier /Wieland, Art. 14 GG Rn. 145. Vgl. a. Starck, Verfassungsauslegung, S. 61 mit Fn. 62 und 63. 15 Ausgehend von der Handelsvertreterentscheidung, BVerfGE 81, 242 (255): BVerfGE 84, 133 (146 f.) - Einigungsvertrag/freie Arbeitsplatzwahl I; anschließend zur ähnlichen Problematik BVerfGE 85, 360 (372 f.); BVerfGE 92, 26 (46) - Handelsflotte; BVerfGE 92, 140 (150) - Sonderkündigung aufgrund EinigungsVertrages; BVerfG NJW 1998, 1475 - Kündigungsschutz. 16 BVerfGE 55, 37 (68) - Hochschule. 17 BVerfGE 89, 214 (231) - Bürgschaft; anschließend BVerfG WM 1996, 948 (949) (Kammerentscheidung). 18 BVerfGE 96, 56 (64). 19 Vgl. vor allem die in BVerfGE 96, 56 (64) zitierten Entscheidungen BVerfGE 79, 256 - beide: Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung - und die für die Annahme des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als unbenanntes Freiheitsrecht mit seiner offenen Anzahl an möglichen Ausprägungen grundlegende Entscheidung BVerfGE 54, 148 - CDU-Wahlkampfrede (Eppler). In diesen Entscheidungen ist nur von der Erhaltung der Grundbedingungen für die engere persönliche Lebenssphäre die Rede; BVerfGE 79, 256 (268); BVerfGE 54, 148 (153). Vgl. a. schon BVerfGE 35, 202 (220) - Lebach und BVerfGE 65, 1 (43) - Volkszählung.
110
E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG b) Die Begründungselemente
Die Begründungselemente sind bereits im Lüth-Urteil und der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch enthalten. In der erstgenannten Entscheidung ist die verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die alle Rechtsbereiche betreffende Errichtung einer objektiven Wertordnung im Grundrechtsabschnitt Fundament für die Annahme einer Ausstrahlungswirkung der Grundrechte. 20 Sie dient der prinzipiellen Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte. 21 In der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch tritt als eigentlicher Schutzpflichtenbegründungsvorgang die grundrechtsimmanente Deduktion auf: Von der durch Auslegung gewonnenen Zugehörigkeit des Schutzgutes zum grundrechtlichen Schutzbereich 22 wird auf die Schutzwürdigkeit des bedrohten Rechtsgutes23 und davon unmittelbar auf die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben geschlossen.24 Angefügt wird, daß die Schutzpflicht sich „darüber hinaus auch" aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ergebe. 25 Zu Recht wurden in der Literatur die Begründungsversuche lediglich als Anstöße zu einer kohärenten Dogmatik gewertet. 26 Auch wird auf die mangelnde Stringenz der grundrechtsimmanenten Deduktion hingewiesen. 27 So fehlt beispielsweise bei der neueren Entscheidung zur Kenntnis der eigenen Abstammung 28 jede schlußfolgernde dogmatische Begründung zu der Ableitung von Schutzpflichten aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, obwohl sie im Blick auf die Herleitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG in Gestalt des Rückgriffs auf die Schutzpflicht für die Menschenwürde nahegelegen hätte. Eine kategorische Ablehnung der Schutzpflichten als solche findet sich in der Literatur gleichwohl nicht. Vielmehr sind alle Begründungselemente des Bundesverfassungsgerichts - also die grundrechtsimmanente Deduktion (dazu unten 2. b)), der Wertordnungsgedanke (dazu unten 2. c) aa)), die Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte (dazu unten 2. c) bb)), sowie das Argument aus Art. 1 Abs. 1 GG (dazu unten 2. d)) - aufgegrif20
BVerfGE 7, 198 (205). BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth. 22 BVerfGE 39, 1 (37 bis 40) - erste Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch. 23 BVerfGE 39, 1 (40). 24 BVerfGE 39, 1 (41). 25 BVerfGE 39, 1 (41). 26 Vgl. etwa Hermes, NJW 1990, 1764, (1766) (Anmerkung zu BVerfGE 81, 242 - Handelsvertreter). 27 Isensee, HBStR V § 111 Rn. 20, 80 ff. 28 BVerfGE 96, 56 - Kenntnis der eigenen Abstammung. 21
I. Die allgemeine Begründung von Schutzpflichten
111
fen worden. Als Ergänzungen sind die staatstheoretische Begründung (dazu unten 2. a)) sowie der Versuch, die Schutzpflichten aus der Abwehrrechtsfunktion zu entwickeln (dazu unten 2. e)), hinzugefügt worden.
2. Darstellung der Begründungselemente aus Rechtsprechung und Literatur und Bewertung ihrer Tragfähigkeit a) Staatstheorie,
Ideen- und Grundrechtsgeschichte
Die Lehre hat der Rechtsprechung mit der der Staatstheorie zugrundeliegenden Ideengeschichte29 und mit der Grundrechtsgeschichte 30 wichtige Ergänzungen geliefert. Staatstheoretisch, auf der Grundlage der Ideen von Hobbes und Locke, 3 1 stellt die Staatsaufgabe Sicherheit den anfänglichen Legitimationsgrund für die Errichtung des Staates dar: Dem Staatsvertrag liegt nach Hobbes die Hingabe der Freiheit gegen die Gewährleistung der Sicherheit durch den Staat zugrunde. 32 Locke stellt mit den Instituten zur Beschränkung staatlicher Gewalt (Gewaltenteilung, Repräsentation, Bindung der Staatsgewalt an das Recht) den Gesichtspunkt der den Staat ausgrenzenden Sicherheit vor dem Staat neben den Aspekt der den Staat einbeziehenden Sicherheit durch den Staat. Wie Hermes nachgewiesen hat, ist der Aspekt der Sicherheit durch den Staat im 19. Jhdt. gegenüber demjenigen der Sicherheit vor dem Staat in den Hintergrund getreten: Die Staatsaufgabe Sicherheit wird in der Staatsrechtslehre jener Zeit nicht mehr normativ verankert, sondern stellt ein „Teilergebnis einer deskriptiven Analyse tatsächlich wahrgenommener Staatsaufgaben dar." 3 3 Die stärkste Kraft entfaltet die staatstheoretische Begründung in dem dogmatischen Modell von Isensee. 34 Für ihn steht die Schutzpflicht auf einem außergrundrechtlichen Fundament, der Staatsaufgabe Sicherheit, 35 29
Vgl. insbesondere Isensee, Sicherheit, S. 3 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 27 ff.; Hermes 145 ff.; Dietlein, Schutzpflichten, 21 ff. 30 Dazu Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 177 ff. 31 Dazu insbes. Isensee, Sicherheit, S. 3 ff. 32 Vgl. die Darstellung bei Isensee, Sicherheit, S. 4. 33 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 159 ff. (162). 34 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, sowie Isensee, HBStR V, § 111. Auch für Robbers stellt die Ideengeschichte der Staatsaufgabe Sicherheit eine wesentliche Grundlage für das subjektive Recht auf Schutz dar; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 27 f., 36 ff. Skeptisch hinsichtlich der Tragfähigkeit der staatstheoretisch-ideengeschichtlichen Begründung von Schutzpflichten sind Enders, Der Staat 35 (1996), 351 (362 ff.) und Gusy, DÖV 1996, 573 (577).
112
E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG
die das Legitimationsprinzip des neuzeitlichen Staates darstellt. 36 Dabei wird die Staatsaufgabe Sicherheit im Sinne des Schutzes der Bürger vor dem Übergriff anderer verstanden. 37 Es tritt der gewährende, leistende, den sozialen Rechtsstaat38 kennzeichnende Aspekt hervor, der sich im aktiven Schutz des Staates für den einzelnen zeigt. Dadurch wird das Grundrecht auf Sicherheit dem status positivus libertatis im Jellinekschen Sinn zugewiesen. 39 Damit ist das Grundrechtsdreieck Staat - Störer - Opfer impliziert. 4 0 Diese außergrundrechtliche Fundierung der Schutzpflichten schließt es für Isensee nicht aus, die grundrechtsimmanente Deduktion der Schutzpflicht durch das Bundesverfassungsgericht zu befürworten: 41 Positiv verankert sei das Grundrecht auf Sicherheit in der Gesamtheit der in den Einzelgrundrechten enthaltenen Schutzaspekte.42 Andere räumen der Grundrechtsgeschichte und der Staatstheorie nur unterstützende, nicht aber tragende Bedeutung bei der Begründung von Schutzpflichten ein. 4 3 Hermes sieht die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Standort des staatlichen Schutzes vor Dritten durch den aus seiner Sicht ungeklärten Zusammenhang von grundrechtlicher Schutzpflicht und der Staatsaufgabe Sicherheit als nicht beantwortet an. 4 4 Für ihn ist die Grundrechtsinterpretation maßgeblich, für die auf die allgemeinen Lehren über Funktion und Wirkung der Grundrechte zurückzugreifen ist. Nur im Rahmen dieses Rückgriffs wird die in die Ideengeschichte der Staatstheorie eingebettete Geschichte der Grundrechte relevant. Die Analyse der Grundrechtsgeschichte bei Hermes ergibt, daß zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ausschließliche Abwehrfunktion der Grundrechte in den 35
Isensee, HBStR V, § 111 Rn. 83 unter der Überschrift: „Die Verknüpfung der Staatsaufgabe Sicherheit mit den Grundrechten." 36 Isensee, Sicherheit, S. 17. 37 Isensee, Sicherheit, S. 21. 38 Isensee sieht das Grundrecht auf Sicherheit in drei Entwicklungsstufen entstanden: der hobbesianischen, gekennzeichnet durch das staatliche Gewaltmonopol, der liberalen, charakterisiert durch die Eindämmung staatlicher Gewalt, der sozialen, auf der der einzelne durch den Staat vor den wirtschaftlichen Risiken des gesellschaftlichen Daseins geschützt wird; Isensee, Sicherheit, S. 17. 39 Isensee, Sicherheit, S. 21 f. 40 Isensee, Sicherheit, S. 34 f. 41 Isensee, HBStR V § 111 Rn. 80. 42 Isensee, Sicherheit, S. 33; Isensee, HBStR V § 111 Rn. 80: „Insofern liegt die sedes materiae in den positivrechtlichen Grundrechtsnormen, und zwar in jener Dimension, die neben den subjektiven Abwehrrechten besteht." 43 Vgl. etwa E. Klein, NJW 1989, 1633 (1636): Die Bewahrung der Friedensordnung als Staatszweck sei zwar eine wichtige dogmatische Erklärung für die Notwendigkeit staatlicher Schutzpflichten, sie trage jedoch nicht eo ipso die grundrechtliche Ableitung staatlicher Schutzpflichten. 44 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 145 ff.
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Vordergrund trat, dahinter jedoch versteckte Hinweise auf das Fortwirken des Schutzpflichtgedankens zu finden sind. 45 Staatstheorie, Ideen- und Grundrechtsgeschichte vermögen zwar die objektive Dimension der Grundrechte zu erklären. Als Erkenntnisquellen schlechthin, als Legitimation für die Ableitung von Schutzpflichten aus den Grundrechten des Grundgesetzes, sind sie aber überfordert. Durch die Betrachtung der Entstehung des Staates und seines Funktionswandels wird nur der Hintergrund deutlich, vor dem den Grundrechten des Grundgesetzes eine bestimmte Funktion zufallen kann, nämlich Schutzpflichten zu statuieren. Schutzpflichten müssen sich aus dem Kontext der geltenden Verfassung entnehmen lassen, um nicht eine funktionell-rechtlich nicht hinnehmbare Verschiebung im grundgesetzlichen Kompetenzgefüge zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit und zulasten des parlamentarischen Gesetzgebers zu bewirken. 46 Nur in diesem Zusammenhang kann auch die mit der Bejahung einer Schutzpflicht wesentlich verbundene Frage nach dem Maßstab, an dem ihre Erfüllung gemessen werden soll, beantwortet werden. Das Maßstabsproblem läßt sich auch nur im Zusammenhang mit der Zuordnung gegebenenfalls kollidierender Grundrechtspositionen aus Abwehrrechten lösen. Auch deren Reichweite kann nur im Kontext des Grundgesetzes bestimmt werden. Da das Grundgesetz - wie hier hinsichtlich Art. 10 GG zu zeigen ist - dieses leisten kann, ist eine außergrundrechtliche Fundierung der Schutzpflichten entbehrlich. Hinzu tritt die Fragwürdigkeit des staatstheoretischen Begründungsversuchs an sich: 4 7 Die Aufgabenwahrnehmung im Obrigkeitsstaat läßt sich, was die Eingriffsbegrenzung betrifft, eher als bloße Organisationsleistung 48 bzw., was die Gemeinwohlpflege angeht, als die Wahrnehmung von Zuständigkeiten und Befugnissen 49 begreifen denn als Schutzpflichtenerfüllung. Außerdem stand die eingriffseindämmende Funktion der Grundrechte deutlich im Vordergrund; ihre sichernde Funktion war unterschwellig und trat nur punktuell hervor. 50 Die staatstheoretische Begründung der Schutzpflichten tendiert letztlich dazu, jede schützend wirkende Tätigkeit des Staates als Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht zu werten. Die Vörrangigkeit der traditionellen, typischen Abwehrfunktion der Grundrechte, die auch schützend wirkt, gerät ihr dabei aus dem Blick. 5 1 45 46 47 48 49 50
Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 184 f., auch zum Folgenden. So auch Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 187. Dazu im einzelnen Enders, Der Staat 35 (1996), 351 (362 ff.). So Enders, Der Staat 35 (1996), 351 (367). Enders, Der Staat 35 (1996), 351 (370). Enders, Der Staat, 35 (1996), 351 (372).
8 Hadamek
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Der grundrechtsgeschichtliche und staatstheoretische Begründungsansatz liefert allerdings schlagende Argumente in dem Streit, ob Schutzpflichten eine Schöpfung des Bundesverfassungsgerichts sind: 5 2 Im besonderen Fall hat die Betrachtung der Grundrechtsgeschichte von Art. 10 GG punktuell gezeigt, daß selbst bei diesem „klassischen Abwehrrecht" 53 und zu Zeiten des typischerweise eingreifenden Obrigkeitsstaates damit argumentiert wurde, der Staat müsse die Voraussetzungen der Grundrechtswahrnehmung - durch den Erlaß von Strafrechtsnormen - absichern. 54 Bei den Schutzpflichten handelt es sich also um eine latente Grundrechtsfunktion, die durch das Bundesverfassungsgericht aktualisiert wurde. b) Die Grundrechtsimmanenz Besonders von Hermes 55 und später von Dietlein 5 6 ist dann das einzelne Grundrecht in den Mittelpunkt gerückt worden. Dem folgen die meisten Stimmen in der Literatur. 57 Hermes konkrete Herleitung von Schutzpflichten betrifft das Recht auf Leben und Gesundheit. Es ist jedoch denkbar, seine abstrakten Ergebnisse direkt auf andere Grundrechte zu übertragen oder dort mittelbar anzuwenden, wo strukturell vergleichbare Fragestellungen vorliegen. 58 So ist sein 51 Vgl. a. oben D. III. 2. a) dazu, daß Schutzpflichten das sogenannte Grundrechtsdreieck voraussetzen: In der Eingriffsabwehrkonstellation bestehen zwar auch schützende Wirkungen durch einfache Gesetze, die den Eingriff begrenzen. Dieser Schutz ist jedoch nicht derjenige, der der typischen Schutzpflicht zugrundeliegt. Grundrechtliche Schutzpflichten sind auf ein originär positives Handeln des Staates gerichtet. Daher ist auch die These ihrer Verwandtschaft mit den Leistungs- und Teilhaberechten aufgestellt worden, im einzelnen dazu (ablehnend) Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 113 ff. 52 Als Basis für seine Fortentwicklung der vorhandenen Lösungsansätze sieht Hermes die WWerentdeckung des Schutzpflichtgedankens durch das Bundesverfassungsgericht, welche ihrerseits auf den objektivierenden Grundrechtslehren der Weimarer Zeit, insbesondere Smends, beruhen; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 185, vgl. a. S. 147.; ebenso Isensee, Grundrecht auf Sicherheit, S. 27 und 33; Isensee, HBStR V, § 111 Rn. 22, 30 ff.; s. femer die Differenzierungen bei Dreier, Dimensionen, S. 14 ff. A. A., für die Schutzpflichten als Schöpfung durch das Bundesverfassungsgericht, Starck, Schutzpflichten, S. 64. 53 Vgl. BYJBadura, Art. 10 Rn. 20 „typisches liberales Abwehrrecht" und Rohlf, Privatsphäre, S. 167 mit Fn. 183. 54 s. zu den Beratungen in der Paulskirche oben B. II. 3. a) cc). 55 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987. 56 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1991. 57 Vgl. etwa Erichsen, Jura 1997, 85 (87 f.); Grimm, Liberales Grundrechtsverständnis, S. 240; Gusy, DÖV 1996, 573 (578); Jeand'Heur, JZ 1995, 161 (162); H. H. Klein, DVB1. 1994, 489 (492).
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Ansetzen beim Gewährleistungsgehalt des einzelnen Grundrechts 59 nicht nur auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zugeschnitten. Gleiches gilt für die funktionale Betrachtung der Grundrechte als das zentrale Begründungsmoment für Schutzpflichten: 60 Die Grundrechte bezwecken die umfassende Gewährleistung individueller Autonomie. 61 Grundrechte erhalten eine Funktion als Schutzpflichten, wenn und soweit dies der Gewährleistung individueller Autonomie dient. In Betracht kommt insbesondere die Anwendung der Feststellungen von Hermes zu den abstrakten Voraussetzungen der Schutzpflichten: Die Schutzbereichsbeeinträchtigung durch Dritte kennzeichne die schutzpflichtenauslösende Situation. 62 Diese liege schon bei einer Grundrechtsgefährdung vor, wenn eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, 63 die prinzipiell auch das Restrisiko einschließe, 64 für die Verletzung gegeben sei. Die Grundrechtsbeeinträchtigung durch Dritte könne staatlichen Eingriffen nicht gleichgestellt werden, weil dadurch Schutzpflichten in ihrer Reichweite überdehnt würden. 65 Denn als Rechtsfolge ausgelöst werde eben ein positives Tun des Staates, nicht bloß ein Unterlassen. 66 Einzelne Anleihen beim Abwehrrecht seien nicht ausgeschlossen. Im konkreten Fall müsse geprüft werden, ob Umstände, die die abstrakte Schutzpflicht für den jeweiligen Sachverhalt auslösten, vorliegen. 67 Auch für Dietlein ist die Ableitung von objektiven Grundrechtsgehalten keine Frage der zutreffenden Grundrechtstheorie, sondern der Legitimierbarkeit durch die Verfassung. 68 Dazu ergibt die von ihm vorgenommene textorientierte Grundrechtsinterpretation, daß sich eine Beschränkung auf die abwehrrechtliche Funktion nicht bestätigen läßt. 6 9 Zu diesen Anhalts58
Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 2. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 190 ff. 60 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 192 ff. 61 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 199. 62 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 222 ff. 63 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 222. 64 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 236 ff., 240. An dieser Stelle mögen sich bei anderen Grundrechten, insbesondere bei Art. 10 GG, Unterschiede zu Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergeben. 65 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 219 f. 66 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 221. 67 Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 221. 68 Dietlein, Schutzpflichten, S. 60 f. 69 Dietlein, Schutzpflichten, S. 55 sowie S. 53: Es sei „unverkennbar, daß das Pathos der Formulierungen einiger sogenannter »klassischer4 Grundrechte durchaus eine »grundsätzliche Tendenz4 erkennen läßt, diese in ihrer konkreten Aussage also über den rein staatsabwehrenden Gehalt hinausgehen." 59
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punkten im Verfassungstext zählt er auch die Unverletzlichkeitsanordnungen, also u.a. Art. 10 Abs. 1 G G . 7 0 Bereits den Einwänden gegen die objektiven Grundrechtsfunktionen ist die Notwendigkeit entgegengehalten worden, zur Annahme objektiver Dimensionen das einzelne Grundrecht zu prüfen. 71 So kann ein sachgerechtes Regulativ für die Akzeptanz objektiver Gehalte gefunden werden. Dies trifft genauso auf Schutzpflichten zu, die in das Zentrum der Dogmatik zu den objektiven Grundrechtsgehalten gerückt sind. 7 2 Als Richtschnur dabei nach der Grundrechtsfunktion zu greifen und sie, wie Hermes, als möglichst umfassende Gewährleistung individueller Autonomie zu begreifen, ist keine Festlegung im voraus, sondern gewährleistet einen Rückbezug auf den zutreffend bestimmten abstrakten Zweck der Grundrechte bei einer möglichst konkreten Begründung von Schutzpflichten. Als konkrete Basis für die Annahme von Schutzpflichten mit Blick auf ein bestimmtes Grundrecht kommt nur der - abwehrrechtlich nicht anders zu bestimmende - Schutzbereich in Betracht. 73 Auch darüber hinaus kann nicht darauf verzichtet werden, Anleihen beim Abwehrrecht zu machen, hat doch diese Dimension den Gehalt des Grundrechts erst geprägt. Dies betrifft besonders die Frage nach dem Maßstab für die Erfüllung von Schutzpflichten. 74 Für eine konkrete Begründung von Schutzpflichten ist das Abstellen auf die schutzpflichtenauslösende Grundrechtsgefährdung folgerichtig. Diese ist jedoch je nach Grundrecht unterschiedlich zu bestimmen. c) Der Wertordnungsgedanke und die Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte A m Anfang der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den objektiven Grundrechtsgehalten steht die Verknüpfung des Argumentes von der objektiven Wertordnung (dazu a)) mit dem der Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte (dazu b)). 7 5
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Dietlein, Schutzpflichten, S. 52 ff. (53). Dazu oben D. I. 2. 72 Dazu oben D. III. 2. bis 4. 73 Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 222. Vgl. femer Isensee, HBStR V § 111 Rn. 89. 74 Vgl. dazu unten G. 75 BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth: „Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will (...), in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt." 71
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aa) Der Wertordnungsgedanke Der Wertordnungsgedanke hat dem Gericht überwiegend und nachhaltig Kritik eingetragen. 76 Unter dem Schlagwort der „Tyrannei der Werte" 7 7 ist kritisiert worden, daß die Zugrundelegung einer wie auch immer gearteten Wertordnung letzlich das Dominieren der Werte des Entscheiders legitimiere. 78 Ferner ist befürchtet worden, die Bejahung einer grundrechtlichen Werteordnung führe doch zu dem vor dem Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung nicht gewollten pflichtenbegründenden Charakter der Grundrechte. 79 Entscheidend ist jedoch gegen einen reinen Wertordnungsgedanken einzuwenden, daß es unmöglich ist, eine allseitig konsentierte „harte" Wertordnung im Sinn einer festen Rangfolge der Grundrechte zu schaffen. 80 Dies wird durch die weitere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt: Es findet sich darin keine Festlegung auf eine Rangordnung grundrechtlicher Werte. Allenfalls die Einstufung des in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verbürgten menschlichen Lebens als Höchstwert 81 gibt in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Anhaltspunkt für eine Hierarchie der Grundrechte, also einer generellen, der Einzelentscheidung vorgeordneten Rangfolge der Grundrechte untereinander. 82 Auf eine materiale Wertethik hat sich das Bundesverfassungsgericht nicht festgelegt. 83 Diese inhaltliche Entwicklung schlägt sich auch in der Terminologie des Gerichts nieder: Die Wertebegrifflichkeit ist der Hinwendung des Gerichts zu den Begriffen von den objektiv-rechtlichen Gehalten oder Elementen objektiver Ordnung gewichen. 84 Als Wendepunkt kann das Mitbestimmungsurteil angesehen werden, 85 in dem das Bundesverfassungsgericht der An76
Vgl. Forsthoff,; Der Staat in der Industriegesellschaft, 1971, S. 149 ff. Stellvertretend für die Gegenmeinung Dürig, AöR 81 (1955/56), 115 ff. 77 C. Schmitt, FS Forsthoff (1967), S. 37 (44, 48 ff., 59 ff.). Für das Schlagwort von der Tyrannei der Werte hat C. Schmitt auf N. Hartmann, Ethik (1949), S. 57 4 ff., zurückgegriffen. 78 So Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1533 f.) zur „Werttheorie": „Die Logik des Wertdenkens geht vielmehr dahin, daß der jeweils höhere Wert sich gegenüber allen niederen Werten bedingungslos durchsetzt und bestehende Fundierungsverhältnisse mißachtet... Praktisch gesehen bedeutet ... (die Berufung auf eine Weitordnung) eine Verhüllungsformel für richterlichen bzw. interpretatorischen Dezisionismus." Beispielhaft für die neuere Kritik Dreier, Dimensionen, S. 18. 79 Zu dieser Kritik Götz, Grundrechte, S. 35 (45). 80 Alexy, Theorie, S. 142. 81 BVerfGE 39, 1 (42) und BVerfGE 88, 203 (251). 82 Vgl. a. den Befund von Dreier, Dimensionen, S. 23 ff. (26), das Bundesverfassungsgericht habe sich im Laufe seiner Rechtsprechung nicht auf eine materiale Wertethik festgelegt. 83 Dreier, Dimensionen, S. 23 ff. (26).
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nähme eine Absage erteilte, die Grundrechte ließen sich von ihrem eigentlichen abwehrrechtlichen Kern lösen und zu einem Geßge objektiver Normen verselbständigen, in dem der ursprüngliche und bleibende Sinn der Grundrechte zurücktrete. Dem entspricht die Tendenz in der Literatur, hinter dem ursprünglich eng interpretierten Wertordnungsgedanken nicht die Festlegung des Gerichts auf eine Rangordnung der Grundrechte zu erblicken, sondern die Begründung für die objektive Dimension der Grundrechte. 86 So erweist sich der Wertterminus als entbehrlich und der Streit um den Wertordnungsgedanken als vordergründig. Es kommt die Kernfrage zum Vorschein, ob die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension staats- und verfassungsrechtlich zu begründen ist. 8 7 Diese Frage läßt sich jedoch nur im Zugriff auf das einzelne Grundrecht lösen. 88 Es findet sich kein anderer materialer Maßstab für die Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht. Die Frage nach dem „Ob" der Schutzpflichtenerfüllung läßt sich von der Frage nach dem „Wie" nicht trennen. 89 Letztere kann nicht unabhängig von der Zuordnung 90 des zu schützenden zu dem beeinträchtigten Grundrecht beantwortet werden. I.d.S. konkret entscheidet auch das Bundesverfassungsgericht: Unter der Überschrift der objektiven Wertordnung trifft es letztlich doch eine Abwägungsentscheidung. 91 bb) Die Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte Die Begründung der Schutzpflichtenfunktion mit der Verstärkung grundrechtlicher Geltungskraft kann relative Selbständigkeit beanspruchen, unterscheidet sie sich doch durch ihren beschreibenden Charakter wesentlich von dem ethisch-dogmatisch geprägten Wertordnungsgedanken, mit dem sie im Lüth-Urteil 9 2 kombiniert wurde. Die Begründung mit der Geltungskraftver84
Vgl. die einzelnen Nachweise bei Dreier ¡Dreier, Vorb. zu Art. 1 Rn. 55 mit Fn. 233. 85 So auch Freu, JZ 1991, 265 (271). 86 Vgl. etwa /arass/Pieroth 5, Vorb. vor Art. 1, Rn. 4 f.; Jarass, AöR 1985, 110 (1985), 363 (365, 367). 87 Dreier, Dimensionen, S. 26 f. 88 Dazu oben c). 89 Vgl. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (13); Hesse, FS Mahrenholz, S. 541 (545). 90 Zuordnung wird hier verstanden als die Entsprechung zur Abwägungsentscheidung bei Grundrechtseingriffen im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Vgl. Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553 (557 ff.) zur Notwendigkeit, durch die Annahme von Schutzpflichten rechtsstaatliche Voraussetzungen nicht zu umgehen. 91 Vgl. die Analyse von Alexy, Theorie, S. 143 ff.
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Stärkung läßt sich dahin interpretieren, daß Grundrechte auch in solchen Personenbeziehungen gelten sollen, in denen sie als reine Abwehrgrundrechte keine Geltung beanspruchen können: zwischen Privaten, wo der Schutzbedürftige unter der Freiheitswahrnehmung eines sozial oder wirtschaftlich Überlegenen leidet, soll mit Hilfe der Schutzpflichtenfunktion seine grundrechtliche Position aktiviert werden. 93 Die Schutzpflichtenfunktion ist dazu bestimmt, diese „offene Flanke des Grundrechtsschutzes" 94 im Grundrechtsdreieck zu schließen. Damit ist jedoch zunächst nur der Bedarf für eine Verstärkung grundrechtlicher Geltungskraft aufgedeckt und beschrieben, nicht aber die objektivrechtliche Grundrechtsdimension dogmatisch begründet. Es bleibt offen, weshalb die Verstärkung grundrechtlicher Geltungskraft gerade durch die Schutzpflichtenfunktion erfolgen soll. Außerdem ist das Argument der Geltungskraftverstärkung nicht in der Lage, Anhaltspunkte für die Art und das Maß der Schutzpflichtenerfüllung, insbesondere für eine Begrenzung „nach oben", zu geben. M i t dieser Begründung ließe sich eine Tendenz zu optimalem Schutz rechtfertigen, der angesichts der funktionalen Konsequenzen der Annahme von Schutzpflichten bedenklich ist. Die Frage des Maßstabs muß wegen der berechtigten Befürchtung hinsichtlich der Ausuferung objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte aber bereits bei der Begründung von Schutzpflichten ins Auge gefaßt werden. d) Die Begründungsfunktion
von Art. 1 Abs. 1 GG
I m Hinblick auf den engen Zusammenhang von Art. 10 GG mit dem aus Art. 2 Abs. 1 GG i . V . m . Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung 95 ist die Begründung der Schutzpflicht mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG näher zu untersuchen. Kommt Art. 1 Abs. 1 GG tragende Bedeutung für die allgemeine Begründung von Schutzpflichten zu, so gewinnt die Schutzpflicht für die Menschenwürde erst recht im besonderen Fall dort an Begründungskraft, wo das konkrete Grundrecht eine spezifische Nähe zur Menschenwürde aufweist.
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BVerfGE 7, 198 (205). Vgl. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1535 f.) zur „sozialstaatlichen Grundrechtstheorie". Vgl. a. von Mangoldt/Klein/Gwsj, Art. 10 Rn. 61: hier wird der Zweck der Schutzpflichten in der „Überwindung des Widerspruchs zwischen grundrechtlich verbürgter Selbstbestimmung einerseits und wirtschaftlich oder sozial bedingter Fremdbestimmung andererseits" gesehen. 94 Isensee, HBStR V § 111, Rn. 85. 95 s.u. J. IV. b). 93
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E. Objektive Schutzpflichten aus Art. 10 GG aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Zur Begründung von Schutzpflichten greift das Bundesverfassungsgericht auch auf Art. 1 Abs. 1 GG zu, ohne daß deutlich wird, ob und inwiefern die Schutzpflicht für die Menschenwürde tragende Funktionen bei der Ableitung von Schutzpflichten aus anderen Grundrechten hat. In der ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch 96 hat das Bundesverfassungsgericht zunächst auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abgestellt: Aus der Feststellung, auch das ungeborene Leben sei schutzwürdig, folgert es die „Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, ... deshalb bereits unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG". Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG stellt eine weitere, parallele Begründung dar, indem das Gericht die Schutzpflicht „