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German Pages 152 Year 2011
Klassiker der Wissenssoziologie Herausgegeben von Bernt Schnettler
Band 14 Die Bände dieser Reihe wollen in das Werk von Wissenschaftlern einführen, die für die Wissenssoziologie – in einem breit verstandenen Sinne – von besonderer Relevanz sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um Autoren, zu denen bislang keine oder kaum einführende Literatur vorliegt oder in denen die wissenssoziologische Bedeutung ihres Werkes keine angemessene Würdigung erfahren hat. Sie stellen keinesfalls einen Ersatz für die Lektüre der Originaltexte dar. Sie dienen aber dazu, die Rezeption und das Verständnis des Œuvres dieser Autoren zu erleichtern, indem sie dieses durch die notwendigen biografie- und werkgeschichtlichen Rahmungen kontextualisieren. Die Bücher der Reihe richten sich vornehmlich an eine Leserschaft, die sich zum ersten Mal mit dem Studium dieser Werke befassen will. Bd. 1 »Thomas Luckmann« von Bernt Schnettler (ersch. 2006) Bd. 2 »Marcel Mauss« von Stephan Moebius (ersch. 2006) Bd. 3 »Alfred Schütz« von Martin Endreß (ersch. 2006) Bd. 4 »Anselm Strauss« von Jörg Strübing (ersch. 2007) Bd. 5 »Robert E. Park« von Gabriela Christmann (ersch. 2007) Bd. 6 »Erving Goffman« von Jürgen Raab (ersch. 2008) Bd. 7 »Michel Foucault« von Reiner Keller (ersch. 2008) Bd. 8 »Helmuth Plessner« von Jochen Dreher (ersch. 2012) Bd. 9 »Karl Mannheim« von Amalia Barboza (ersch. 2009) Bd. 10 »Harold Garfinkel« von Dirk vom Lehn (ersch. 2012) Bd. 11 »Robert K. Merton« von Ingo Schulz-Schaeffer (ersch. 2012) Bd. 12 »Émile Durkheim« von Daniel Šuber (ersch. 2011) Bd. 13 »Claude Lévi-Strauss« von Michael Kauppert (ersch. 2008) Bd. 14 »Arnold Gehlen« von Heike Delitz (ersch. 2011) Bd. 15 »Maurice Halbwachs« von Dietmar J. Wetzel (ersch. 2009) Bd. 16 »Georg Simmel« von Uwe Krähnke (ersch. 2012) Bd. 17 »Peter L. Berger« von Michaela Pfadenhauer (ersch. 2010) Weitere Informationen zur Reihe unter www.uvk.de/kw
Heike Delitz
Arnold Gehlen
UVK Verlagsgesellschaft mbH
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ISSN 1860-8647 ISBN 978-3-86496-157-1
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© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011 Einband: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandfoto: Caroline von Lieven, Augsburg Satz: Bernardo Fernández, Barquisimeto Druck: Rosch-Buch Druckerei GmbH, Scheßlitz
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Inhalt
I
Der Basilisk: Einleitung ...............................................
7
II
Akademisches Leben und Wirkung ..............................
23
III
Werk: Leitmotive .........................................................
37
IV
Der Mensch I: Die Philosophische Anthropologie .......
45
V Der Mensch II: Die soziologische Theorie der Institutionen ..........................................................
71
VI Gesellschaftsdiagnose 1: Das moderne Weltund Selbstverhältnis .....................................................
93
VII Gesellschaftsdiagnose 2: Soziologie des Ästhetischen .... 101 VIII Der Mensch III: Die anthropo-soziologische Theorie der Moral..................................................................... 109 IX Aufgaben der Soziologie: Allgemeine Soziologie, Angewandte Soziologie, »Autosoziologie« .................... 123 X
Fazit ............................................................................. 127
Literatur ............................................................................... 131 Zeittafel................................................................................ 146 Personenregister ................................................................... 147 Sachregister .......................................................................... 150
I
Der Basilisk: Einleitung1 »Unter den wenigen bedeutenden Rechtsintellektuellen dieses Jahrhunderts steht er neben Heidegger und Carl Schmitt, umstritten wie sie und ähnlich diskreditiert. Der sachlichen Wertschätzung seines Werkes tat das kaum Abbruch. Zustimmung erfuhr Gehlen von ganz unterschiedlicher Seite; Adorno bekundete sie wiederholt […]. Ein böser Blick fördert zuweilen die Hellsicht – da nimmt man gewisse blinde Flecken im Auge des Beobachters in Kauf […]. Unter den Denkern der Gegenwart ist Gehlen Kulturphilosoph im emphatischen Sinn, er ist der Antinaturalist und der große Antisponti« (Güntner 1993).
Arnold Gehlen war das »Zugpferd« der Philosophischen Anthropologie (Fischer 2006: 334) und der Schlussstein ihrer Theorieproduktion (Rehberg 1981: 174). Und er war ein umstrittenes Zugpferd: mit jenem distanzierten, kühlen ›Basiliskenblick‹, den er nicht nur auf das menschliche Lebewesen, sondern ebenso auf die moderne Gesellschaft warf, in ihrer Subjektformung gegenüber derjenigen vergangener Hochkulturen und der Subjektformung der elementaren Formen des sozialen Lebens. Diese soziologische Theorie beruht in allen ihren Entscheidungen und Diagnosen auf einer philosophisch-anthropologischen Grundlage, einer komplexen, ausgefalteten Theorie des physisch-psychischen Lebewesens Mensch in seinen singulären Potenzialen und Risiken, seinen faktisch ergriffenen Möglichkeiten, seiner ebenso kultivierbaren wie bedrohlichen Vitalität. Mit Nietzsche (1999a: 3 § 62) hat Gehlen dieses bemerkenswerte Wesen stets als das »nicht festgestellte« Tier gedacht (M2: 4). Oder, formaler und mit anderem Akzent: als das handelnde Wesen. Nicht festgestellt, das 1 Für den Schub zu diesem Buch danke ich Joachim Fischer; für Ergänzungen und Korrekturen Max Breger, Mario Marino, Marlen Rabl, Karl-Siegbert Rehberg, Bernt Schnettler und Robert Seyfert. 2 Die Hauptwerke sind mit Siglen zitiert: M = Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt; US = Urmensch und Spätkultur; MH = Moral und Hypermoral; Seele = Die Seele im technischen Zeitalter; ZB = Zeit-Bilder.
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heißt eben sowohl instinktentsichert, an festen Reiz- und Bewegungsvorgaben mangelnd, wie auch formbar, produktiv, sich selbst kultivierend. Es heißt ebenso sich selbst gefährdend wie sich immer wieder neu erfindend. Diese Doppelfigur von Belastung und Entlastung, Negativität und Positivität ist es, die Gehlen uns stets vor Augen stellt. Faktisch hat das menschliche Lebewesen eine Reihe singulärer biologischer Merkmale, auch noch im Vergleich zu den ihm evolutionär am nächsten stehenden Tieren: eine Instinkt-Entbundenheit; einen chronischen Antriebsüberschuss statt hormonell begrenzter Triebe; eine lange Reifezeit außerhalb der Gebärmutter; eine aufrechte Haltung mit damit verbundener Zweifüßigkeit und Frontalität des Gesichts; eine besondere Art der Gegenüberstellung von Daumen und übrigen Fingern und so fort. Gehlen bietet mehr als diese Philosophische Anthropologie, mit der sein Name verbunden ist und die für sich schon komplex genug ist. Er ist – in deren konsequenter Weiterentfaltung – auch und zutiefst ein soziologischer Autor. Das fulminante Werk Urmensch und Spätkultur (Mensch II) verfolgt die ›Selbststeigerung‹ des Menschen von den nichtmodernen Kulturen, namentlich dem Totemismus, bis hin zur ›Spätkultur‹ der modernen Gesellschaft. Faktisch gibt es eine Vielzahl menschlicher Sozialformen und kultureller Einrichtungen, eine noch größere Zahl an Artefakten, sowohl historisch als auch global; und doch findet Gehlen in dieser Varianz Gemeinsamkeiten, Kategorien wie die ›Hintergrunderfüllung‹ oder ›Objektivität‹ der Institutionen. Philosophische Anthropologie und Soziologische Anthropologie gehören derart eng zusammen, oder anders formuliert: Anthropologie (deutsch verstanden, mit Bezug auf die Biologie) und Anthropologie (französisch verstanden, mit Bezug auf die Ethnologie), die allgemeine Theorie des Menschen und die vergleichende Theorie der Vielfalt und Emergenz der soziokulturellen Formen. Das Werk Gehlens ist seit den 1950er-Jahren zweifellos stets bekannt gewesen. Er ist ein Klassiker der Soziologie geworden. Aber was man wahrnahm und wahrnimmt, scheint nur allzu oft ein Vulgär-Gehlen zu sein – so wie es auch einen Vulgär-Marx gibt, der in der Idee des Unter- und Überbaus und des zwanghaftkonfliktreichen Ablaufs der Weltgeschichte besteht (worin Marx nicht aufgeht). Dieser schnell verstandene, schnell abgestellte Geh8
len besteht dann in den schlagwortartigen, einseitig negativen Kategorien des ›Mängelwesens‹, das ›Ordnung‹ und ›Zucht‹ nötig hat. Zweifellos ist etwas dran an solchen Lesarten, sie lassen sich aus dem Text herausdestillieren. Aber sie verkürzen und verzerren ihn. Und dies in einer Wissenschaft, die nicht nur »antitechnische« und »antiästhetische« Haltungen kennt (Eßbach 2001), sondern – als kritische Wissenschaft der Gesellschaft – vor allem auch antiinstitutionelle Haltungen. In einem solchen anti-institutionellen Affekt, der sich gegen jede Theorie der ›Ordnung‹, der Einrichtung von Handlungsweisen und Subjektivierungen wendet, werden dann im Werk Gehlens alle positiven Beschreibungen, die sich darin ebenso finden, gern übersehen: die Betonung der singulären Potenziale des Menschen und der produktiven, ermöglichenden Aspekte des Institutionellen. Ebenso wird oft übersehen, dass der Begriff der ›Zucht‹ im Sinn der Selbstdisziplinierung des Menschen gegenüber seinen Begierden benutzt wird wie bei Platon, Aristoteles und Kant (vgl. M: 430). Für Gehlen war die Person Kant sogar das ›Zuchtwesen‹ par excellence: Kant, der sich »methodisch, täglich, umsichtig und gewissenhaft mit äußerster Selbstzucht« umgeschaffen habe, allein orientiert an seinem Werk, ein zielstrebiges und asketisches Kant-Werden vollzog (Gehlen 1980e: 400; vgl. Rehberg 1993: 781.17). Gehlen selbst forciert solche Lektüren, wenn er einseitig die ›Ausartungsbereitschaft‹, die lauernde Chaotik des Menschen betont, wie etwa 1952 in Das Bild des Menschen im Licht der modernen Anthropologie. »Zurück zur Kultur«, so heißt es in diesem Vortrag gegen alle neomarxistischen Entfremdungstheoretiker. Es sei, so Gehlen, »Zeit für einen Gegen-Rousseau, für eine Philosophie des Pessimismus und des Lebensernstes« (1983d: 132f.; vgl. Rehberg 1990a). In Vorträgen nimmt man zuweilen scharf geschnittene, verkürzte Positionen ein, geht strategisch vor. Selbstverständlich zeigen diese Texte Gehlens ›wahres‹ Gesicht in der Frage der politischen Haltung (zur Begriffspolitik jenseits des anthropologischen Hauptwerkes siehe Rehberg 2000: 153f.). Über die Komplexität einer soziologischen Theorie ist damit aber noch nicht entschieden, vor allem nicht über die weitreichenden Züge des »Jahrhundertbuches« Urmensch und Spätkultur (ebd.). Gehlen gilt zudem stets als der Denker eines biologisch unmöglichen Lebewesens. Unterstellt wird dann nicht nur ein einseitig9
negatives, sondern auch ein ganz unplausibles evolutionistisches Bild. Der Mensch sei bei Gehlen das »Wesen, das ›trotzdem‹ lebt«, so heißt es bei Blumenberg (2006: 635). Noch Peter Sloterdijk wird in diesem Sinn von einer »Mängelwesen-Fiktion« sprechen. Gehlen konstruiere den Menschen »all seinen kreativen Potentialen zum Trotz« als »tiefenarmes Tier« (Sloterdijk 2004: 702; vgl. Popitz 1995: 47–53). Die umgekehrte Betonung der bemerkenswerten Steigerungsfähigkeiten des Menschen beansprucht der Kritiker dann ganz für sich. Gehlen hat nun gar keine evolutionäre (und schon gar nicht eine derart unlogische) Sicht. Es gibt für ihn keine prähistorische, evolutionär aus dem Affen sich entwickelnde »Wildform des Menschen«, die vor der artifiziellen Einrichtung von Welt und Selbst irgendwie überlebte (Gehlen 1983d: 131), wie er gegen Konrad Lorenz richtig stellt. Im Übrigen nennt Gehlen neben allen Betonungen der Riskanz des Menschen ausdrücklich auch die Luxusphänomene – als dessen Wesenszüge, des Strebens nach dem Mehr-Leben (Gehlen 2004i, 2004j). Auch als Biologismus verstand man Gehlens Theorie bereits früh (Mahn 1945) – wie die Soziologie überhaupt oft nicht zwischen einer biologistischen und einer biologisch informierten Position unterscheidet. An diesem Gehlen-Bild war später Helmuth Plessner nicht unbeteiligt, der es doch besser wusste. Auch Jürgen Habermas (1973: 101) sprach von der »anthropologischen Reduktion des Geistes in allen seinen Momenten aufs unmittelbar Lebensdienliche« – wie er auch in der Institutionentheorie eine Reduktion des Sozialen auf biologische Notwendigkeiten sah (Habermas 1981a: 101f.).3 Gehlen hat sich stets gegen diesen Vorwurf gewehrt, dabei auf seine psychophysisch neutrale Kategorienforschung hinweisend (M: 9, 14ff.). Bereits Nicolai Hartmann hatte Gehlen in diesem Zusammenhang erstens gegen jedes evolutionistische Missverständnis schützen wollen. Er machte den Autor selbst darauf aufmerksam, dass dessen eigentliche Zentralkatego3 Habermas wird später sagen, er sei »auf den starken Institutionalismus, überhaupt auf die Sozialpsychologie von Arnold Gehlen negativ fixiert« gewesen und habe sich deshalb (1968, in Erkenntnis und Interesse) zu einer »abstrakt entgegengesetzten Theoriestrategie verleiten lassen« (Habermas 2000: 14). Vgl. zum Verhältnis beider Fischer (2008a: 312ff.) und Wöhrle (2010: Kap. 3.3).
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rien andere sind als das ›entsicherte, riskierte Mängelwesen‹: nämlich die Nicht-Festgerücktheit und damit eben neben der Entsicherung, gleich ursprünglich und weiterführend, die überschießende Potenzialität; unter anderem auch die bemerkenswerte Fähigkeit, sich in der Phantasie bewegen zu können. Und gegenüber dem Biologismus-Verdacht überredet Hartmann Gehlen zweitens dazu, seine Schichtentheorie – die in einer Art OsmoseRelation zu denkenden ›Schichten‹ des Physischen und Kognitiven – zu übernehmen (Hartmann 1958: 389; Fischer 2008a: 177ff.). Spätestens seit Friedrich Jonas’ Einführung (1966), den umfangreichen Vor- und Nachworten Karl-Siegbert Rehbergs und der Studie Joachim Fischers zur Philosophischen Anthropologie kann man hier, in der Theorie des Menschen bei Gehlen, genauer hinschauen – man sieht dann nicht grundlos (wenn auch überspitzt) sogar einen »Kulturalisten« (Ottmann 1994). Hermann Lübbe ist ein souveräner Kurzüberblick über das »kulturanthropologische« Gesamtwerk zu verdanken, das er gut kannte (Lübbe 2004). Zur Junius-Einführung in Gehlens Philosophie (Thies 2007) ist die hier vorliegende Einführung das Komplement. Ihr Ehrgeiz wird dahin zielen, Gehlens soziologische Theorie auszubereiten. Legt man einmal die Vorurteile beiseite und vertieft sich in die Texte, dann fällt ein in der deutschen Soziologie seltener Ton auf: eine grundlegende Betrachtung des Sozialen unter Einbezug zahlreicher ethnologischer Befunde – eine Vorgehensweise, wie man sie eher bei Claude Lévi-Strauss findet. Man denke etwa an den Beginn der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft, in dem sich der Ethnologe ja dieselbe Frage stellt wie Gehlen: Worin unterscheidet sich der Mensch aktiv vom Tier, zumal von seinen nächsten Verwandten, den Menschenaffen? Lévi-Strauss zufolge unterscheidet er sich durch die Einführung von Regeln in den elementarsten Bereichen menschlichen Lebens, insbesondere hinsichtlich der sexuellen Aktivität. Daraus entspringen alle Formen des Sozialen: die zunächst duale Organisation der Gruppe, dann die Integration in komplexere soziale Strukturen, und dies von vornherein mit einer bemerkenswerten Artifizialität (LéviStrauss 1993: Kap. I). Es könnte sich also lohnen, dieses Werk einmal an anderen Maßstäben als denen der materialistischen Gesellschaftstheorie zu messen, mit deren verfestigtem, in die 11
›Hintergrundserfüllung‹ (Gehlen) gerückten Verdacht einer Fixierung des Menschen in der Philosophischen Anthropologie. Zum Beispiel wäre der Maßstab der Institutionen- und Religionssoziologie Émile Durkheims angemessener: sofern dieser ebenfalls von der weder rationalistisch noch utilitaristisch erklärbaren Emergenz des Sozialen ausgeht.4 Auch Gehlens Totemismus-Theorie ist Durkheim sehr nahe, bis hin zur Interpretation des Totemismus als einer Sozialform, in der die »Tierform die Grundform« ist (Durkheim 1994: 102).5 Gehlen hat Durkheim übrigens vornehmlich durch die Brille von Maurice Pradines (Rehberg 2004b: XV) und Claude Lévi-Strauss gelesen. Er war tief beeinflusst von französischen Autoren; er hat nicht zuletzt von Bergson inspirierte Philosophen und Soziologen gelesen, die ihn – abgesehen von Marcel Mauss’ Gabentheorie – offenbar mehr interessierten als die Durkheimianer. Hinsichtlich der Betonung der Nicht-Festgestelltheit des Menschen und der je verschiedenen SubjektFormung in den Epochen und Kulturen wäre Gehlen ebenso mit den Augen Michel Foucaults zu lesen. Auch hat er sich selbst ›amerikanisiert‹, in der Lektüre und produktiven Verarbeitung der amerikanischen Kulturanthropologie (Margaret Mead, Ruth Benedict) mit deren Analyse der »kleinen primitiven Gesellschaften«, die die »phantastische Vegetation menschlicher Möglichkeiten« vor Augen stellen (Gehlen 1983f: 172); sowie in der frühen Lektüre des Pragmatismus vor allem John Deweys und George Herbert Meads6, deren Ideen entschei4 »Wir wählen den Ausdruck Funktion und nicht Zweck oder Ziel, gerade weil die sozialen Phänomene im allgemeinen nicht im Hinblick auf die nützlichen Ergebnisse, die sie hervorbringen, existieren« (Durkheim 1961: 181). 5 Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle Kursivierungen in den Zitaten von den Autoren selbst. 6 Beide hat Gehlen bereits in den 1930ern zitiert; Ende der 1940er hat er umfangreiche Exzerpte angefertigt, die sich im Aachener (und in Kopie im Dresdner) Gehlen-Archiv befinden. Bei Dewey notiert er etwa die Idee der ›Entlastung‹ im situationsunabhängigen sprachlichen Symbol (Dewey 1929: 146ff.) und die wechselseitige Erwartung von Erwartungen; bei Mead das Theorem der signifikanten Geste, der ›doppelten Gegebenheit des Lautes‹, der Entstehung des Selbst und der Institution (Mead 1973). Zu Gehlen-Mead siehe Joas (1980), Rehberg (1985).
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dende Thesen seiner philosophischen und soziologischen Anthropologie verstärkten und inspirierten. Gehlen war in der Tat der erste wirkmächtige Entdecker des Pragmatismus in der deutschen soziologischen Theorie, und so ereignete sich »ausgerechnet in Deutschland« jene »unbeachtet gebliebene, aber äußerst wirkungsvolle Rezeption des amerikanischen Pragmatismus […]. Gehlens Werk Der Mensch ist die erste großangelegte Anwendung pragmatistischer Grundsätze in der deutschen Wissenschaft« (Oehler 1995: 54f.). Zu erwähnen ist weiterhin – jenseits dieser französischen und amerikanischen Quellen – Vilfredo Pareto, den Gehlen genial fand und dessen Werke er herausgeben wollte. Pareto ist wie Gehlen (oder auch Gabriel Tarde) ein AffektTheoretiker, einer, der die Triebkraft affektiven Begehrens im Sozialen betont (Gehlen 1983b: 264). Nicht zuletzt ist Gehlens Theorie Nietzsche nahe, bei gleichzeitiger Distanz. An Nietzsche hat Gehlen vielleicht ebenso tiefgreifend anschließen können, wie es Foucault tat: in jenem »tiefsitzenden Nietzscheanismus«, den Gilles Deleuze in jedem Werk Foucaults nicht umhin kam zu erkennen (Deleuze 1987: 100). Man kann Gehlen hier an jeder Stelle einsetzen, an der Deleuze über Foucault spricht (auch wenn die Nietzsche-Skepsis demgegenüber bei Gehlen stets blieb). Die »großen Thesen Foucaults über die Macht« entfalten sich Deleuze zufolge in »drei Rubriken«. Die Macht ist erstens ihrem »Wesen nach nicht repressiv (da sie ›anregt, veranlasst, produziert‹)«: Die Institutionen sind nicht bloße Zwangseinrichtungen; sie sind vielmehr kanalisierend, produktiv, sie steigern das Leben. Die Macht wird zweitens »eher ausgeübt als besessen«: Die Institutionen sind Institutionalisierungen, in ihrer Performanz zu beobachten. Die Macht verläuft drittens »genauso durch die Beherrschten wie durch die Herrschenden«: Die Institutionen sind grundlegend, in allem da, was wir tun, und vor allem sind es Selbstveranstaltungen (ebd.). Das Mitmachen macht den Menschen zum großen Teil aus. Gehlen sagte im Übrigen einmal, dass »ein Mensch gar kein Mensch« sei (zitiert in Lorenz 1973: 272). Es gibt also einen ›tiefsitzenden‹ und sich selbst widerstrebenden Nietzscheanismus, in Der Mensch (das nicht festgestellte Tier), in Urmensch und Spätkultur (das sich verändernde Tier) und in Moral und Hypermoral (das sich verkleinernde Tier). 13
Nun hat es eine genauere, theorieinteressierte Gehlen-Rezeption insbesondere im soziologischen Feld schwer, zumal sich diese Disziplin seit den späten 1960ern auch als kritische, linke Wissenschaft etablierte. Die Etikettierung seiner Soziologie als konservativ ist hier ebenso wirkmächtig gewesen wie die als Biologist im philosophisch-anthropologischen Feld. Explizit Gehlen gewidmete soziologische Arbeiten in den 1970ern und 1980ern waren oft ideologiekritisch (z.B. Weiß 1971, Lepenies & Nolte 1971, Böhler 1973, Hagemann-White 1973, Rügemer 1979, Brede 1980; vgl. Ottmann 1979) oder, später und vereinzelt, rechtfertigend (Weißmann 2000). Der Name Gehlen war, wie Wöhrle im Blick auf Habermas, Luhmann und die »orthodoxen Linken« schreibt, eine »›diskurspolitische‹ Spielmarke« (2010: 249). Rezeptionserschwerend war insbesondere Gehlens akademische Karriere im Nationalsozialismus im Verbund mit der konservativen und als solcher nie verleugneten Sicht, die sich in seiner Theoriebildung niederschlug – und dies eben in jener gesellschafts-, also institutionenkritischen Wissenschaft, deren eine historische Wurzel Marx ist. Andererseits muss man auch hier genauer hinsehen. Weit entfernt, eine durchgängig konservative, Moderne-kritische Haltung einzunehmen, gelingt es Gehlen zuweilen – etwa am Phänomen der abstrakten Kunst (das gesellschaftstheoretisch nicht gering zu schätzen ist) – eine positive Leistung zu sehen, eine »Reflexionskunst«. Gehlen war gewiss kein Freund der Kontingenz moderner Vergesellschaftung, ganz im Gegenteil. Das hinderte ihn aber insbesondere nicht daran, die Varianz des Menschen zu sehen, so, wie es vielleicht radikaler nicht geht, ohne andererseits zum Konstruktivisten zu werden. Ähnlich ist es mit der Frage nach der Institution: Gehlen war ohne Zweifel ein Befürworter starker Institutionen, ein Denker des sozialen Zwangs wie Durkheim – und auch bei diesem ist dies keineswegs alles, geht die soziologische Theorie darin nicht auf. Vielmehr sind es die Institutionen, die etwas einrichten, ermöglichen, ohne welche die Einzelnen nicht zu denken sind – und umgekehrt. Gehlen fürchtete daher den Verlust der unhinterfragten Geltung der derart subjektformenden Institutionen und das darauf folgen müssende ›freie Flottieren‹ der Subjektivität: sofern dies keine Möglichkeit für die Selbstkultivierung des Lebewesens Mensch zu bieten schien. Er 14
war daher vor allem kein Freund der modernen Institutionen. Man nannte ihn nicht umsonst den »Ruinenmaler«, den »Piranesi« der Institutionen (Kulenkampff 1970: 393, 395). Und doch kann man nicht umstandslos behaupten, dass er deshalb ein Plädoyer für das »Unbewussthalten von Ordnungen« gehalten hätte (Sloterdijk 2004: 479, auch Thies 2007: 108f.). Vielmehr war sich wohl keiner der Notwendigkeit des ›Außenhalts‹, der Darstellung, der ›Theatralität‹ der Institution derart bewusst wie Gehlen in Urmensch und Spätkultur; und keiner hatte es bisher so detailliert und ethnologisch und archäologisch so fundiert beschrieben. Die Kunst der Paradoxie beherrschte er. Gehlen reagierte zudem durchaus auf Kritik, etwa auf die seines ehemaligen Assistenten und Freundes Helmut Schelsky. Schelsky hatte gegen Gehlen von der »sozio-taktischen« Anpassungsgabe von Organisationen gesprochen (Schelsky 1979b: 291): Sie können sich auf die moderne Reflexivität einstellen, sie mit institutionalisieren. Kritik ist also keineswegs immer Institutionen ›zerdampfend‹ (vgl. Wöhrle 2010: Kap. 3.2; Lepenies 2009). Institutionalisierungen sind vielmehr auch im »Säurebad« der öffentlichen Diskurse moderner Vergesellschaftung nicht nur denkbar, sondern real (Habermas 2001: 67). Die Kritiken galten stets dem als konservativ verstandenen und sich so verstehenden Soziologen. In einer wissenssoziologischen Perspektive (wie es dieser Reihe angemessen ist) ist nun der Konservative weniger zu rechtfertigen als vielmehr zu analysieren, auf seinen Denkstandort hin zu relationieren, auf die Gesellschaft, in der er schreibt. Gehlens Konservatismus besteht in der sozialtheoretischen Suche nach Ordnung und der Entfaltung einer derart akzentuierten Theorie der Institutionen (die darin gleichwohl nicht aufgeht). Bezieht man dieses Begehren nach Stabilität auf die Gründung der Bundesrepublik, dann ist der Wunsch nach stabilen Institutionen gar nicht so reaktionär, wie es zunächst scheint – angesichts des zu lösenden Grundproblems der jungen Republik, die demokratischen Verfassungsinstitutionen zu verankern, sie stabil zu machen und den Rechtsstaat wiederherzustellen. Gehlen selbst hat im Übrigen öfters betont, wie seine pessimistische oder realistische Anthropologie und die entsprechende Institutionentheorie sowie Gesellschaftsdiagnose biografisch zu erklären sein könnten: Er hat eben nahezu alle Umstürze des 15
langen 20. Jahrhunderts erlebt, vier Regierungsformen, zwei Weltkriege, einen ungeheuren Schwund an Institutionen bis hin zur Auflösung ganzer Staatsapparate. Schließlich würde man Gehlens Utopielosigkeit im Vergleich zum zeitgenössischen Marxismus adäquat vielleicht auch als »Desillusionsrealismus« bezeichnen können (Mannheim 1984: 210). Gleichwohl hat sich Gehlen mit den neuen Verhältnissen nicht anfreunden können; er empfand sich Anfang der 1970er, am Ende seines Lebens, gar als posthum, er habe nichts mehr zu sagen – angesichts erneuter anti-institutioneller Affekte in einer Gesellschaft, die nicht mehr die seine war. Die Wahrnehmung Gehlens in der Soziologie scheint sich aktuell anzureichern und zu vervielfältigen, was mit dem Ende der großen neomarxistischen Theoriebewegung zusammenhängen dürfte. Jüngst erschienen explizite größere Arbeiten: Einerseits zu Werk und Wirkung in der bundesdeutschen Soziologie, sich dabei in bemerkenswert akribischer und skeptischer Lektüre nicht nur auf die »Denkmotive«, sondern auch und vor allem auf die untergründigen »Denkzwänge« Gehlens konzentrierend, um »von dort aus dann eventuell zu einem erweiterten und verbesserten Verständnis der menschlichen Handlung zu kommen« (Wöhrle 2010: 21). Der Gewinn von Gehlens soziologischer Handlungstheorie ist, die Handlungen im Vollzug zu beobachten, jenseits geläufiger dualistischer Trennungen. Dabei kommt er en passent auch zu einer Artefaktsoziologie. Andererseits ist seit kurzem der Schatz von Gehlens Religionstheorie und -soziologie gehoben (Ley 2009). Weitere theorieinteressierte Arbeiten kündigen sich an, solche, die die Theorie der elementaren Strukturen des Sozialen – zentriert um das Dritte, Nichtmenschliche, die Identifizierung mit dem Tier – in das französische Diskursfeld stellen. Überraschende Einsichten ergeben sich dabei von Gilles Deleuze (Seyfert 2010b) und Cornelius Castoriadis her (Gregorio 2011). Auch ich selbst interessiere mich – man wird es merken – insbesondere für diese frankophile Seite Gehlens, nun für seine Anknüpfung an Bergsonianer, 7 die für sich hochinteressant sind. Zweifellos hat Gehlen gegenüber diesen Autoren zu viel von Nietzsche: zu viel vom Pathos der Distanz, vom Zynismus, vom Pessimismus. Es gibt eine überall durchscheinende, »Melancholie und Stoizismus zusammenbindende, aristokratische Attitüde« 16
ebenso wie einen »fatalistisch-stoischen Zynismus« (Rehberg 1973: 16, 94) und einen »Heroismus des Stillstands« (Lepenies 1972: 253). Man muss mit einem kühlen Autor rechnen. Schelsky sprach gar von einer »submarine[n] Kühle« (1976). Andere Zeitgenossen haben ihn mit einem »Basilisken« verglichen (Duve 1976). Basiliscus plumifrons ist ein Leguan mit hohen Kopflappen, einem Rücken- und Schwanzkamm sowie einer je nach Stimmung wechselnden Hautfarbe. Die Basilisken besitzen Hautsäume an den Zehen, die es ihnen ermöglichen, auf den Hinterbeinen und sogar über Wasserflächen zu laufen. Sie sind für jede Lage eingerichtet, geradezu opportunistisch. Mehr noch, durch ihr Zischen verjagen sie alle Schlangen; sie bewegen sich dabei nicht »durch vielfache Windungen«, vielmehr gehen sie »stolz und halb aufgerichtet einher«. Die Basilisken lassen ferner (antiken Beobachtern zufolge) durch ihre Berührung und ihren Atem »Sträucher absterben«. Nicht zuletzt ist der Blick dieses Tierchens bemerkenswert: er versteinert. Eine »solche Stärke« hat dieses Tier 7 (Plinius 1976: Kap. 33, § 78). In dieser einführenden Lektüre in Gehlens soziologisches Werk wird die Theorie vom Pessimismus des Autors getrennt. Dies und Gehlens Spott gegenüber den Subjekten der Konsumgesellschaft sei einmal dahingestellt; beides ist offensichtlich und oft betont. Weit entfernt also von einem »Domestikationsversuch« durch »leichtfertige Affirmation« (Wöhrle 2010: 430) ist vielmehr die Frage, was man interessant findet, womit man sich beschäftigen will; mehr noch: worin der Klassikerstatus und daher auch die Aktualität Gehlens liegen könnte. Die Abhebbarkeit der theoretisch weitreichenden Gedanken vom Unbehagen gegenüber der Polemik und dahinterstehenden politischen Haltung gilt wohl selbst für Gehlens provozierendste Schrift: für Moral und Hypermoral, deren »Sofortreaktion« stets einem »affektgeleiteten Kritizismus« verhaftet blieb (Ley 2009: 8; vgl. Rehberg 2004b). Auch 7 Interessant, sofern es ebenfalls – wie die deutsche Philosophische Anthropologie – Denkansätze sind, welche das organische Leben im Menschen ernst nehmen. Vgl. zu solchen Denkansätzen (u.a. in Bezug auf Simmel) Seyfert (2008); in Bezug auf Deleuze, Castoriadis, Bataille: Delitz (2008); in Bezug auf Gehlen und die Bergsonianer Pradines, Hauriou, Przyluski: Delitz (2011); in Bezug auf Maffesoli: Keller (2004).
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hier haben Ton und inhaltliche Aussagen möglicherweise je ihren eigenen Wert. Dies gilt in viel stärkerem Maße für Gehlens zweites Hauptwerk, für Urmensch und Spätkultur. Gerade hier lohnt es sich in Hinsicht auf die (Wissens-)Soziologie, sich auf die Theorie zu konzentrieren und alle Einsprengungen zum ›überbordenden Subjektivismus‹, zum Institutionenverlust in der Moderne einzuklammern und auf die Erörterung der Gegenwartsanalyse zu verschieben.8 Gehlens Polemik sowie seine Verständnislosigkeit gegenüber der eigenen Gegenwartsgesellschaft sind dabei vorausgesetzt, als stets mitzudenkende Grenze oder Denkstandort, um es mit Mannheim zu formulieren. Interessanter ist die Theorie über Eigenart und Genese des Sozialen, denn dazu bietet Gehlen eine grundlegende, spannende, verblüffende These, zentriert um das Tier: um das Totemtier. Das Folgende hat zwei Fragen zu beantworten. Zunächst, weshalb Gehlen in einer Reihe der Klassiker der Wissenssoziologie steht. Dies ist die Frage, inwiefern es lohnt, ihn nach wie vor zu lesen. Es interessiert in dieser Frage nach dem Klassiker-Status als soziologischer Autor insbesondere sein soziologisches, sozial- und gesellschaftstheoretisches Werk. Dabei ist, da Gehlen stets ›im Kreise‹ denkt, ebenso seine Philosophische Anthropologie als Denk- und Begriffsgrundlage seiner Soziologie mitzuführen. Zweitens wird zu klären sein, weshalb Gehlen in einer Reihe der Klassiker der Wissenssoziologie auftaucht. Hier wäre zuallererst zu umreißen, was man selbst unter ›Wissenssoziologie‹ versteht, denn es gibt durchaus verschiedene Möglichkeiten. Begründet bei Max Scheler und Karl Mannheim, ist es zunächst die Beziehung von Denkstilen auf soziale Standorte, auf unbewusst bleibende, weil ganz das eigene Denken bestimmende Interessen und Motive in der Art eines sozialen Aprioris. In den 1970ern dann meint ›Wissenssoziologie‹ – mit dem Buch von Berger und Luckmann, für das Gehlens Anthropologie und Institutionentheorie wichtig war – eine allgemeine Beobachtung der Konstruktion von Wirklichkeit, jenseits identifizierbarer oder auch nur interessierender Machtfragen und Gesellschaftsstrukturierungen. In der französi8 Zu dieser »Strategie« (Wöhrle 2010: 223 u.ö.) riet auch Schelsky; ebenso Rehberg.
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schen Soziologie gibt es eine Wissenssoziologie als Theorie der kollektiven Grundlage unserer Raum- und Zeitbegriffe zunächst bei Émile Durkheim und Marcel Mauss; dann die Beobachtung der Selbstklassifizierung sozialer Gruppen in den Mythen bei Claude Lévi-Strauss; die Frage nach der produktiven Machtfunktion von Wissens-Ordnungen bei Foucault und die Suche nach dem kollektiven Imaginären bei Cornelius Castoriadis. Wenn man Gehlen in eine so verstandene, reichhaltige und gesellschaftstheoretisch grundlegende Wissenssoziologie einordnen wollte, wäre die von Maurice Hauriou übernommene Kategorie der ›Leitidee‹ (idée directrice) zentral. Was Gehlen in Urmensch und Spätkultur und erneut – zugespitzt für das moralische Wissen – in Moral und Hypermoral beobachtet, ist die Selbstbild-Herstellung des Menschen. Stets macht man sich ein Bild von sich und der Welt, und dieses bestimmt, wie man sich behandelt, wie sich die Einzelnen klassifizieren und hierarchisieren und was man – kollektiv, gesellschaftlich – je als die eigene Aufgabe versteht: kurz, um welche Subjekt- und Weltform es sich handelt. Es geht um elementare Kategorien des ›Wissens‹, nämlich um die (gesellschaftlich variable und sozial konstituierte) Form der inneren und äußeren Wirklichkeit. Dazu ist die in Mensch entfaltete Philosophische Anthropologie die unverzichtbare Grundlage. Auf deren erster Seite heißt es, der Mensch sei das zu sich selbst »Stellung nehmende« Wesen. »Das von nachdenkenden Menschen empfundene Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins ist kein bloß theoretisches Bedürfnis. Je nach den Entscheidungen, die eine solche Deutung enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied in seinem Verhalten zu wirklichen Tatsachen ausmachen; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören. […] Es gibt ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ›Bild‹, eine Deutungsformel notwendig ist. Zu sich selbst heißt: zu den eigenen wahrgenommenen Antrieben und Eigenschaften – aber auch zu seinesgleichen, zu anderen Menschen, denn auch deren Behandlung wird davon abhängen, für was man sie hält, und für was man sich hält« (M: 3). 19
Der Schwerpunkt wird im Folgenden auf der ›Mensch-Trilogie‹ liegen: zunächst auf Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (M [1940/1950]), als der für alles Weitere grundlegenden Theorie des Menschen (Kap. IV); sodann auf Urmensch und Spätkultur oder »Der Mensch. Zweiter Teil«9 (US [1956]), dem soziologischen Grundlagenwerk (Kap. V). Es enthält die Theorie der Institutionen und damit zugleich eine fundamentale Wissenssoziologie sowie eine Artefakt- und Religionssoziologie. Es ist, wie auch Der Mensch, ein dichtes, ideenreiches, »bahnbrechendes« (Fischer 2008a: 292) Buch. Die Argumentationswege sind vor allem in diesen beiden Hauptwerken recht verschlungen. Gehlen nennt als Grund dafür seinen Versuch, im Kreis zu denken: weil eben im Menschen alles mit allem zusammenhängt. Andere nennen es ein Gedanken-Labyrinth. Es wird zu entwirren sein. Zusätzlich zur anthropologisch-soziologischen Theorie werden darauf – chronologisch geordnet – die beiden gesellschaftsdiagnostischen Werke interessieren: Die Seele im technischen Zeitalter (Seele [1947/57]) und Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei (ZB [1960]), in denen auch die These eines Post-Histoire enthalten ist (Kap. VI und VII). Die ins allgemeine Gedächtnis der bundesdeutschen Soziologie eingegangene Zeitdiagnose Gehlens lautet: Die Gegenwartsgesellschaft ist eine im Wohlstand der Einzelnen zentrierte, durch die ›Superstruktur‹ von Wissenschaft, Technik, Industrie gesteuerte Gesellschaft nach dem Ende aller ›Schlüsselattitüden‹ einer vollständigen Umwälzung. Sofern für diese Gesellschaft das (technische) Wissen entscheidend ist, es sich um eine Wissensgesellschaft handelt, ist auch die Gesellschaftsdiagnose wissenssoziologisch einschlägig. Anschließend interessiert Moral und Hypermoral (MH [1969]) oder »Der Mensch. Dritter Teil« (Kap. VIII): die Soziologie moralischer Überzeugungen als weiterer Aspekt einer Wissenssoziologie. Schließlich ist die Frage zu stellen, was Gehlen selbst eigentlich als Aufgabe der Soziologie verstand (Kap. IX). Neben der Allgemeinen und Angewandten war das die ›Autosoziologie‹, die Soziolo-
9 Gehlen selbst hat das Gefüge seiner Werke so aufgefasst: Rehberg (2004b: 639).
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gie der Intellektuellen, vor allem jener, die vom Standpunkt der Soziologie zu sprechen beanspruchten. Es gibt also mehrere gute Gründe, Gehlen als einen Klassiker der Wissenssoziologie zu verstehen – im Sinn einer grundlegenden soziologischen Perspektive. Umgekehrt wäre der resignative und zuweilen zynische Ton Gehlens selbst noch einmal wissenssoziologisch aufzuklären: Welcher ›Denkstil‹ (Mannheim) steckt darin, von welchem Standpunkt, für wen spricht diese Soziologie? (vgl. dazu Rehberg 1976, 1978, 2001b, Wöhrle 2010) Die beiden Fragen – die nach dem Klassikerstatus in der Soziologie und die nach dem wissenssoziologischen Aspekt – werden im Folgenden stets in einem Zug beantwortet: Die Einführung in seine Wissenssoziologie ist eine Einführung in seine Soziologie. Zur Textlage sind noch wenige Worte zu sagen: Gehlens kulturdiagnostische Schriften hatten hohe Auflagen, nicht zuletzt dank der Aufnahme in die erfolgreiche rde-Reihe (rowohlts deutsche enzyklopädie, die Vor-Suhrkamp-Buchkultur). Auch das Hauptwerk Der Mensch war und ist ein Bestseller, mittlerweile in fünfzehnter Auflage im Aula-Verlag, nach mindestens zwölf Auflagen im Athenäum-Verlag, weiteren Auflagen in der Verlagsgesellschaft Athenaion und der 1993 erschienenen kritischen Edition als Band 3 der Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe. In dieser von KarlSiegbert Rehberg herausgegebenen, auf zehn Bände angelegten Ausgabe fehlen derzeit noch Urmensch und Spätkultur und andere Schriften zur Philosophie der Institutionen (GA 5), Zeit-Bilder (GA 8), Moral und Hypermoral und andere Schriften zur Ethik (GA 9) sowie Vermischtes (Diskussionen, Rezensionen), Bibliographie, Biographisches (GA 10). Zitiert wird aus dieser Ausgabe. Im Fall von Urmensch und Spätkultur und Moral und Hypermoral werden die Studienausgaben (2004) herangezogen, im Fall der ZeitBilder die zweite Auflage (1986).
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II
Akademisches Leben und Wirkung »Der Verfasser dieser Arbeit, Arnold Gehlen, wurde am 29.1.1904 als Sohn des Verlagsbuchhändlers Dr. Max Gehlen in Leipzig geboren. Ostern 1923 verließ er mit dem Zeugnis der Reife das Thomasgymnasium. Auf den Universitäten Leipzig und Köln studierte er Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik. Den Herren Professoren Driesch, Litt und Hartmann verdankt er entscheidende Förderung und Belehrung« (Gehlen 1927).
So fasst Arnold Gehlen selbst sein Leben bis zur Dissertation 1927 zusammen. Zu ergänzen sind – neben einer kurzen Zeit als Bankangestellter und Buchhändler vor dem Studium – Studien der Psychologie und in den »naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern« (vor allem der Zoologie) (ebd.). Gehlens akademischer Lehrer war Hans Driesch, bei dem Helmuth Plessner 1913 noch Biologie studiert hatte, und bei dem Gehlen nun, 1927, seine philosophische Dissertation über dessen Erkenntnistheorie schrieb (Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch, 1978a). 1930 wurde Gehlen habilitiert, begutachtet von Driesch, Hans Freyer, Felix Krueger und Theodor Litt (Wirklicher und unwirklicher Geist, 1978c). 1933 vertrat er bereits eine Professur, nämlich den Frankfurter Lehrstuhl von Paul Tillich (den dieser wegen des nationalsozialistischen Berufsbeamtengesetzes hatte räumen müssen, Tilitzki 2002: 600f.). 1933/34 war Gehlen Assistent Freyers am Institut für Kultur- und Universalgeschichte der Universität Leipzig. Es folgte die steile Karriere eines gerade einmal 30jährigen Philosophen: 1934 erhielt Gehlen seinen ersten Lehrstuhl für Philosophie, nämlich den seines Hochschullehrers und Doktorvaters Driesch – eine Hausberufung, skeptisch beäugt von den Parteigängern, deren Kritik das Idealismus-Buch (Theorie der Willensfreiheit, 1980a) auf sich zog (vgl. Tilitzki 2002: 633ff.). 1938 wurde Gehlen nach Königsberg auf den renommierten Kant-Lehrstuhl berufen; 1940 ging er nach Wien. Die dortige Lehrtätigkeit (im Fach Psychologie) sei »überaus erfolgreich« gewesen, seine »enorme Begabung als Katheder23
redner und der wissenschaftliche Gehalt seiner Vorlesungen zogen viele Hörer an« (Rehberg 1993: 753.37). Zwischenzeitlich, 1941/42, war er in der Prager Personalprüfstelle des Heeres. Er ließ sich hier als Heerespsychologe vom Wehrdienst freistellen, wurde 1943 aber einberufen und noch 1945 schwer verwundet. Diese Karriere machte den für die Soziologie der Bundesrepublik wichtigen und erfolgreichen Autor stets zu einem heißen Eisen. Gehlen trat 1933 in die NSDAP ein; er unterzeichnete wie Heidegger, Gadamer und 900 andere Professoren das »Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat«. »Obwohl der Landeskommissar für die politische Säuberung in Rheinland-Pfalz Arnold Gehlen 1948 als ›Nichtschuldigen‹ einstufte, lag seine ›Nazi-Vergangenheit‹ als ein dunkler Schatten auf seinem Werk. Und während andere mehr oder weniger offen über ihre Verstrickungen in das Naziregime sprachen, schwieg Arnold Gehlen beharrlich über seine Rolle in der NSDAP. Zugleich machte er keinen Hehl aus seiner Ablehnung der neuen Verhältnisse der Bundesrepublik. Sie war für ihn eher ein »Sozialverein, der alle möglichen Interessengruppen bediente, als der starke Staat, der den Pluralismus moderner Subjekte zu bändigen, zu regulieren und vernünftig auszurichten in der Lage ist […]. Es ist dieses sperrige politische Profil gewesen, das seine wissenschaftliche Leistung bis zu seinem Tode 1976 überdeckt hat und auch bis heute eine gründliche und kritische Sichtung seiner Schriften erschwert« (Eßbach 2009: 147f.). Gehlen war fasziniert von der Disziplinierungsdynamik des Nationalsozialismus; einem Philosophen kann man dies am wenigsten verzeihen. Gleichwohl entzieht sich das Werk der nationalsozialistischen Identifikation (auch im Nachhinein). Gehlen ist spätestens in seiner Philosophischen Anthropologie »kein NS-Philosoph« gewesen (Rehberg 1994c: 130).10 Selbst wenn die erste Auflage von Der Mensch 1940 mit opportunen Formulierungen schließt (die der Autor mit der Gewagtheit einer Theorie des universell verstandenen Menschen rechtfertigt), handelt es sich an keiner Stelle um eine rassistische Anthropologie. Dies hat auch der marxistische Philo10 Diese Einschätzung z.B. bei Ottmann (1993) und Thies (2007: 16ff.), anders z.B. Klinger (1989).
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soph Wolfang Harich stets betont (Harich 2004: 136). Bereits die Theorieanlage, die Argumentationsweise, selbst die Begriffe (›Mängelwesen‹) widersprachen dem nationalsozialistischen Denken, was 11 zu entsprechenden Rezensionen Anlass gab. Nachdem Versuche scheiterten, ihn in Wien weiter zu beschäftigen, erhielt Gehlen 1947 an der von der französischen Militärregierung neu gegründeten Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer ein Ordinariat für Philosophie, Psychologie und Soziologie. 1948 wurde er ›entnazifiziert‹. »Davon, daß Herr Professor Gehlen sich in seinen Schriften als ›überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erwiesen hätte‹, kann gar keine Rede sein«, schrieb Nicolai Hartmann 1946 im Gutachten (in Holz 1993; vgl. Rehberg 2004a: 642.10). Von 1962 bis 1969 lehrte er schließlich Soziologie an der Technischen Hochschule Aachen. Eine Berufung nach Bonn (auf den Lehrstuhl Rothackers) scheiterte am Widerspruch von Adorno und Horkheimer; eine Berufung nach Heidelberg (auf den Lehrstuhl Löwiths) an dem von König und Plessner. Plessner bezeichnet Gehlen hier als politische Gefahr (in König 2000: 253); er schimpft ihn darüber hinaus wegen dessen Zitier- oder eher Verschweige-Strategie einen »Lump« (Dietze 2006: 462). Wenig später, nach Erscheinen der Zeit-Bilder, will er ihn andererseits zu seinem Nachfolger in Göttingen machen: »Gehlen ist der beste Mann!« (zit. in Fischer 2008a: 292; vgl. Rehberg 1994c: 130). Den verschlossenen Möglichkeiten standen also neue Wege akademischen Lebens gegenüber. Schüler im eigentlichen Sinne, Promovierende, Habilitierende und Assistenten Gehlens waren zunächst Helmut Schelsky und Gotthard Günther. Schelsky habilitierte bei Gehlen 1941 in Königsberg mit einer Arbeit über Hobbes, in welcher vier implizite Menschenbilder des politischen Denkens identifiziert werden, von denen Hobbes das ›aktivistische‹ zugeordnet wird. Zugleich bezog 12 Schelsky hier seine »politische Position« (Schelsky 1981: 11). Günther promovierte 1933 über Die logisch-methodischen Voraus11 Zur Reaktion nationalsozialistischer Autoren auch Gehlen selbst (1980d: 360ff.); vgl. Rehberg (1993: 754.7). 12 Die Arbeit erschien erst 1981. Zu den Umständen der Habilitation Tilitzki (2002: 727f.).
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setzungen zu Hegels Theorie des Denkens. Der Kritiker des dualistischen Denkens und Begründer einer mehrwertigen Logik – den Luhmann schätzte – hat mit Hegel und Gehlen eine Theorie der Kybernetik entfaltet, in welcher der »Dualismus von Leib und Seele […] gegenstandslos« ist (Günther 1963: 201). Gehlen habe gezeigt, dass der Mensch in einem »Begriffssystem beschrieben werden kann, das den Unterschied von Leib und Seele nicht mehr kennt«. Kybernetisch reformuliert hört sich Gehlen dann so an: Es gibt ein »geschlossenes System […], das regulierte Kontaktstellen mit der Außenwelt besitzt. Jeder solche Kontakt muß als Information verarbeitet werden können. Und das geschlossene System muß ein Informationssystem von in sich reflektiertem Charakter sein« (ebd.). Gehlen selbst hat im Übrigen 1957 seine Beschreibung des Menschen als die eines »rückgekoppelten Systems« bezeichnet (1983h: 211), als »Kreisprozess« (1983e: 157). Nach 1945 sind es Hanno Kesting und Friedrich Jonas, in denen Gehlen seine potentiellen Nachfolger sah. Jonas trat 1968/69 mit einer vierbändigen, in ihrem Detailreichtum vielleicht bis heute unübertroffenen Geschichte der Soziologie hervor; Kesting arbeitete (vor seiner Zeit bei Gehlen, zusammen mit Hans Paul Bahrdt, Heinrich Popitz und Ernst August Jüres) an der berühmten Studie zu Gesellschaftsbild und Selbstverständnis der Arbeiter im Nachkriegs-Ruhrgebiet: Industriearbeit und Technik und Das Gesellschaftsbild des Arbeiters (Popitz u.a. 1957a, 1957b). Von Friedrich Jonas stammt auch eine der ersten Einführungen in Gehlens Werk, gegen die verkürzte Rezeption anschreibend: Die »Bestimmung des Menschen als eines ›Mängelwesens‹« weise vielmehr auf die »spezifischen und großartigen Leistungen«, zu denen der Mensch im Unterschied zum Tier fähig ist (Jonas 1966: 79). Der letzte Doktorand Gehlens, Karl-Siegbert Rehberg, ist Herausgeber der kommentierten Werkausgabe im Verlag Klostermann. Er hat Gehlens Institutionentheorie seit seiner Dissertation (1973) kritisch weiterentwickelt, indem er der entlastenden Leistung der Institutionen ihre belastenden Effekte zur Seite stellte. Die so korrigierte, zudem soziologisierte und historisierte sowie durch Aspekte von Luhmann, Cassirer und Foucault ergänzte »Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen« wurde zur Theoriegrundlage im interdisziplinären Forschungsverbund des 26
Sonderforschungsbereiches »Institutionalität und Geschichtlichkeit« der Technischen Universität Dresden (1997–2008). Dabei betont Rehberg stets neben den blinden Flecken und politisch problematischen Denkgrundlagen das Potenzial Gehlens: Max »Webers Konstruktion von typischen Handlungslagen und Chancenkonstellationen tendierte aufs Gleiche, dabei die Prozesse des institutionellen Einfrierens von Handlungsalternativen und Affektpotenzen nicht so gut treffend« (Rehberg 1973: 213). Gehlen hat Rehberg zufolge einen entscheidenden Anteil an der Transformation des anthropologischen Denkens vom Modell »biologisch determinierter« Handlungen zu dem eines »historisch bestimmbaren Handlungsgeflechts«: den Institutionalisierungen (ebd.: 214; vgl. u.a. ders. 1998, 2001a, 2001b). Nicht zuletzt kann Rehberg in seiner Kultursoziologie an Gehlens Perspektive anknüpfen. »Auf nichts, soweit ich mich zurückerinnern kann, hat man in Fachkreisen der deutschen Philosophie so sehnlich gewartet wie auf einen neuen, grundlegenden Ansatz der philosophischen Anthropologie« (Hartmann 1958: 378). Ganz so emphatisch wie Nicolai Hartmann 1941 hat man es seither nicht formuliert. Beeindruckt waren von Gehlen gleichwohl viele – über seine Schüler und über die Soziologie und Philosophie hinaus. Von ihnen können hier nur stellvertretend wenige erwähnt werden. Dabei war Gehlen stets ein unbequemer Autor. Man konnte sich an ihm reiben, und viele haben sich an ihm gerieben, biografisch und politisch: an der (auf den ersten Blick) wenig schmeichelhaften Sicht auf den Menschen; am skeptischen Realismus, den ungeschönten, zuweilen dystopischen Gegenwartsdiagnosen. Nicht nur für René König war Gehlen stets die zu bekämpfende »Symbolfigur der bundesrepublikanischen Karrierekontinuitäten aus der Nazi-Zeit« (Rehberg 2004a: Anm. 648.9; König 1987: 255 u.ö.); auch die Anthropologiekritik aus historisch-materialistischer Perspektive bezog ihre Kraft aus der Gehlen-Aversion (Lepenies & Nolte 1971). Noch aktuell gilt Gehlen gleichsam als Schreckgespenst (Honneth 2009a). Oft gelesen, diskutiert, kritisiert, entfaltete sich eine beachtliche Sekundärliteratur.13 Die spannendste Konstellation wurde die zwischen Adorno und Gehlen. Adorno erkannte die Schärfe von Gehlens Blick an und 13 Verzeichnisse bei Rehberg (1994b) und Ley (2009: 3–20).
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suchte die Begegnung. In Briefen aus den 1960ern versichern sich die beiden stets erneut, auf singulären Höhen miteinander zu verkehren (Lepenies 2003). Es gibt berühmte Rundfunk-›Streitgespräche‹, in denen sich beide, wie Adorno beschrieb, »wie zwei riesige Doggen« benahmen, die »ohne zu beißen ihres Weges zogen« (Demirovic 1999: 817). Das klingt so: »Ja, ja. Mal sehen. Wir müssen doch endlich den Streitpunkt finden. Er liegt vielleicht darin, daß ich geneigt bin, wie Aristoteles […] dem Gesichtspunkt der Sicherheit eine große Rolle einzuräumen. Ich glaube, daß die Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft des Menschen sind. Ich glaube auch, daß die Institutionen den Menschen vor sich selbst schützen. Gewiß auch Freiheit beschränken. Aber man sieht ja immer wieder, daß es Revolutionäre gibt. […] Obzwar ich das Gefühl habe, daß wir uns in tiefen Prämissen einig sind, habe ich den Eindruck, daß es gefährlich ist und daß Sie die Neigung haben, den Menschen mit dem bißchen unzufrieden zu machen, was ihm aus dem ganzen katastrophalen Zustand noch in den Händen geblieben ist« (Gehlen in Adorno & Gehlen 1974: 226, 245). Verbunden durch die gleichermaßen scharfsichtig-schonungslose Kritik der ›spätkulturellen‹ Gesellschaft, beschnupperten sie sich gegenseitig also wie in »anmutig grotesken Tanzritualen« (so der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Karl Korn, zit. in Thies 1997: 49). 1962 schrieb Gehlen an Adorno: »Es bestehen zwischen unseren Positionen sehr wesentliche Übereinstimmungen: von der Abdankung des Subjekts […] bin ich auch überzeugt, von der Übermacht des Bösen […] ebenso; wir sind in der Epoche des ›Weitermachens um seiner selbst willen‹ […], in einer Erstarrung der Verhältnisse, die nirgendwo zu tauen sich anschicken […]. Insofern könnte ich […] sagen ›bin schon da‹. Schon lange habe ich das Wort ›verwirklichen‹ gestrichen, das sich bei Ihnen noch kürzlich fand. Es gibt nichts zu hebeln und nichts zu verwirklichen‹« (zitiert in Lepenies 2003; vgl. u.a. ders. 1972: 252; Landmann 1979, Thies 1997). Ein Verhältnis des Respekts bestand offenbar auch an anderer Stelle, an der man es noch weniger erwartet hätte: zwischen Hannah Arendt und Gehlen. »Wie zur Zeit Ariadnes«, so schrieb Gehlen inmitten der Studentenrevolte und der unüberschaubaren ›Superstruktur‹ der industriellen Gesellschaft, sind es »heute Damen, 28
die in den Labyrinthen Bescheid wissen« (MH: 173). Umgekehrt zeigte sich Arendt angetan von Gehlens Rezension ihres Buches im Merkur: Arendt gehöre »zu den sehr wenigen Denkern, die bemerken, wie sich heute erstmalig […] biologische Probleme in Drastik als solche stellen. […] In der Gelehrtenrepublik hat die Verfasserin auf einen hohen Rang Anspruch« (Gehlen 1961: 483). Daraufhin zeigte sich Arendt an einem (aus kontingenten Umständen nicht zustande gekommenen) Rundfunkgespräch über Öffentlichkeit »sehr interessiert«, »besonders da ich es mit Herrn Gehlen führen könnte« (zit. in Boll 2004: 240). Hans Blumenberg hielt Gehlen zwar in der Zielrichtung für ›dubios‹, nicht aber in der Theorieanlage. Er betrachtet Gehlens Anthropologie vielmehr als grundlegend für jede weitere Beschäftigung mit dem Menschen. In der Suche nach fundamentalen anthropologischen Kategorien hat er selbst daran angeschlossen. So ist für dessen Werk, nicht zuletzt für die Metaphorologie, wohl der an Gehlen und Alsberg anschließende Gedanke grundlegend, dass der menschliche Wirklichkeitsbezug stets »indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹« sei (Blumenberg 1981: 115). Ebenso wichtig ist der Ausgang von der Energie-Überschüssigkeit des Menschen als Grundlage aller Kultur (Blumenberg 2006: 615ff.). Gehlen war für weitere Autoren bedeutsam, etwa für die Sprachphilosophie und Diskursethik von Karl Otto Apel und Jürgen Habermas, die »mit und gegen Gehlen« die »Vernunftmoral« aus der »Gegenseitigkeits-Struktur« des sprachlichen Handelns begründen (Apel 2002: 31; vgl. ders. 1973 und Wöhrle 2010: Kap. 3.3.7). Sehr pointiert kann man sagen: Habermas, der von Rothacker her sehr gute Kenntnisse der Philosophischen Anthropologie hatte und sich stets an Gehlen rieb, hat sich durch dessen Institutionentheorie von der Kritischen Theorie entfernt, um sie dann besser – systematischer – durch die Sprache als Institution begründen zu können. In der Praktischen Philosophie nimmt Odo Marquard Gehlens Entlastungstheorem produktiv auf, etwa zugunsten einer »Apologie des Zufälligen« gegen moralische Letztbegründungen und -ansprüche (1986). Kürzlich scheint die Moralphilosophie auch unter dem Druck der Evolutionswissenschaften auf ähnliche Denkfiguren wie Gehlen zu kommen (Illies 2006), wodurch sich vielleicht eine neue (kritische) Lektüre29
chance auch für Moral und Hypermoral ergeben könnte. Für Peter Sloterdijk wiederum hat Gehlen mit der ›Entlastung‹ einen zentralen Begriff der Kulturwissenschaften erfunden (Sloterdijk 2004: 707). Es gibt eine veritable Wirkungsgeschichte in der Soziologie (vgl. Wöhrle 2010) – über die Begegnungen mit Adorno hinaus und oft implizit. Im Folgenden kann sie nur kurz, nur an den prominentesten und expliziten Stellen aufgerufen werden. Joachim Fischer hat Gehlen als Vertreter der Philosophischen Anthropologie in das »Dreieck der deutschen Soziologie« einbezogen. Neben der Kölner und Frankfurter Schule bildet die Philosophische Anthropologie (zwischen den Rivalen Plessner und Gehlen) demnach ein weiteres Paradigma der bundesdeutschen Soziologie (Fischer 2006). Darüber hinaus gibt es eine Wahrnehmung vornehmlich der zeitdiagnostischen Bücher Gehlens, die sehr viele Namen einschließt. In der Frage, in welcher Gesellschaft man in der Bundesrepublik lebt, ist Gehlen allgegenwärtig. Diese Omnipräsenz seiner Theoreme gilt auch für sein Bild des Menschen sowie für die daraus entwickelte soziologische Theorie des Institutionellen. »Der Begriff der Entlastung – diese reifste und fundamentale Kategorie der philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens – erweist sich als der tragende Begriff für unsere Frage nach den dynamischen Stabilitätsgesetzen sozialer Institutionen«, schreibt etwa Schelsky (1979a: 57). Er nimmt hier, 1949, Gehlens soziologisches Theorieprogramm vorweg (welches in Ansätzen in Mensch skizziert war), zentriert es in der deutschen Wirklichkeit und baut zugleich die Reflexivität, die Reformierbarkeit der Institution als theoretische Erfordernis eines ›stabilen‹ institutionellen Wandels ein. »Die Soziologie hat die Frage nach der Stabilität sozialer Systeme, nach der Dauerhaftigkeit von Institutionen, bisher kaum ausdrücklich […] gestellt, obwohl vielerlei Theorien und Beobachtungen sozialer Geschehnisse vorliegen, die eigentlich zu dieser Fragestellung hätten führen müssen. Vielleicht bedurfte es des Erlebnisses der Unstabilität unserer eigenen sozialen Umwelt, des Zusammenbruches oder wenigstens der Gefährdung nahezu aller überkommener Institutionen, um diese Frage zu einem allgemeinen Bedürfnis der Besinnung zu machen« (Schelsky 1979a: 33). Hans Freyers Analyse des gegenwärtigen Zeitalters als eines der ›sekundären Systeme‹ ist in enger Nähe zu Gehlen entstanden. 30
Auch er identifiziert (wie auch Alfred Weber) historische ›Kulturschwellen‹, epochale Entscheidungen menschlichen Lebens: Die erste ist der Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit unter Errichtung eines »ganzen Komplexes von Techniken, die ein bodenständiges Leben ermöglichen«, das Verhältnis zur Erde intensivieren und mit der Schrift auch die Geschichte erfinden. Die zweite Kulturschwelle besteht in der Erfindung der industriellen Technik: des »sekundären Systems«, das sich von Natur und Tradition löst (Freyer 1955: 222). Das Industriesystem ist die (kontingente) Idee, die Natur nach dem Prinzip der Maschine zu organisieren, und das Festhalten am kulturellen Gedächtnis durch die Orientierung auf das Neue zu ersetzen. Die Subjektform dieser Gesellschaft ist der funktionalisierte Einzelne, der sich gegen die Imperative der Systeme einen Panzer, eine dicke Haut schafft, in dessen unbeanspruchtem Innenraum sich zugleich neue Möglichkeiten des Lebens eröffnen. Deutlich für Kenner, die um seine akademische Blitzentfaltung im Schelsky-Umkreis wissen, ist die Nähe Niklas Luhmanns zu Gehlen. Luhmann »verwandelte in seinem Theorieansatz Schritt für Schritt die Institutionenbegrifflichkeit von Gehlen und vor allem von Schelsky […] in systemtheoretische Kategorien« (Fischer 2008a: 430; vgl. Baier 1994, Hahn 2004, Rehberg 2005, Wöhrle 2010: Kap. 3.4). Dass das Ausgangstheorem der ›Reduktion von Komplexität‹ Gehlens Entlastungsbegriff nahe steht, hat Luhmann zunächst noch selbst notiert; erst später wird er solche anthropologische Überlegungen als ›alteuropäisch‹ abqualifizieren. So heißt es 1970 noch: menschliche organische Systeme mit ihrer Fähigkeit, sich »andere Möglichkeiten des Erlebens vorzustellen«, steuern sich »gerade durch diese Überforderung«, also durch »Prozesse der Reduktion übermäßiger Komplexität. Sie benötigen dazu Steuerungssysteme besonderer Art, die auf einer sinnhaften Verbindung von Ereignissen beruhen […]. Sinnsysteme dieser Art sind z.B. die Sprache und andere kulturelle Symbolsysteme, die individuellen Persönlichkeiten […] und die sozialen Systeme«. Luhmann wird hinzufügen, statt von Komplexitätsreduktion könne man mit Gehlen von »Prozesse[n] der ›Entlastung‹« sprechen. Man müsste dann allerdings sagen: »Entlastung von der Komplexität des eigenen Entwurfs. Überhaupt trifft die hier skizzierte Theorie sozialer Sys31
teme sich in wesentlichen Punkten mit einer anthropologischen Soziologie, welche die ›Weltoffenheit‹ und die entsprechende Verunsicherung des Menschen zum Bezugspunkt von (letztlich funktionalen) Analysen macht« (Luhmann 1970b: 115, 131, Anm. 9). Luhmann hatte seine Nähe zu Gehlen zuerst in der Dissertation betont. Die Idee, Personen als Aktionssysteme zu verstehen, die in soziale Systeme verflochten sind, ihnen aber nicht selbst angehören, werde von Gehlens »Darstellung des handelnden Menschen […] vorweggenommen« (Luhmann 1964: 25). Nicht zuletzt ähnelt sich wohl die Problemstellung, aus der heraus sich sein Werk entfaltet. So ist auch Luhmann interessiert an der Stabilisierung sozialer Systeme, namentlich ›Gesellschaften‹; dies, so Luhmann nun in Reaktion auf Gehlen (und mit Schelsky), geht am besten durch Steigerung von Komplexität respektive Reflexivität (Luhmann 1970a: v.a. 104–107). Gehlens Institutionentheorie wird vor allem für den Pioniertext der Neuen Wissenssoziologie wichtig. Sie ist sogar die Denkvoraussetzung dieser Theorie der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Peter L. Berger und Thomas Luckmann übernehmen Gehlens Anthropologie und Institutionentheorie; sie schließen insbesondere an den Entlastungsgedanken, die Selbststeigerung des Menschen durch das Institutionelle an – ihn durch Plessner und Durkheim sowie die Subjekt-Perspektive Webers ergänzend.14 Gehlens Kategorien sind in diesem wichtigen Text nicht zu verkennen: »Gewöhnung […] befreit den Einzelnen von der ›Bürde der Entscheidung‹ und sorgt für psychologische Entlastung, deren anthropologische Voraussetzung der ungerichtete Instinktapparat des Menschen ist. Habitualisierung sorgt für eben die Richtung und Spezialisierung des Handelns, die der biologischen Ausstattung des Menschen fehlen und baut auf diese Weise Spannungen ab, welche von ungerichteten Trieben kommen. Dadurch, daß sie 14 Beide waren nicht nur, aber vor allem von der Institutionentheorie beeindruckt. Luckmann knüpfte an diese auch in seiner Theorie des sozialen Handelns an (1992: 156ff.); Berger schrieb die Einführung der Übersetzung von Die Seele im technischen Zeitalter; sowie – mit Hansfried Kellner (1965) – die emphatische Besprechung von Urmensch und Spätkultur. Umgekehrt hat Plessner das Vorwort der deutschen Ausgabe des Erfolgsbuches von Berger & Luckmann geschrieben.
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einen gesicherten Hintergrund bietet, vor dem sich menschliche Tätigkeit abspielen kann […], setzt sie außerdem Energien […] frei […]. Mit anderen Worten: vor dem Hintergrund habitualisierten Handelns«, und, noch mehr vor dem des Institutionellen, öffnen sich Spielräume für »Einfall und Innovation« (Berger & Luckmann 1969: 57, Herv. HD). Im Rückgriff auf Gehlen, aber weniger materialreich, formaler argumentierend und damit weniger labyrinthisch, werden also einerseits die »Emergenz objektiver symbolischer Sinnwelten« und deren Immunisierung verstehbar gemacht (das Institutionalisierte, die Gesellschaft als »objektive Wirklichkeit«). Andererseits geht es Berger und Luckmann auch um die Internalisierung dieser Wirklichkeit: um die »Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit« (Fischer 2008a: 424ff.; vgl. Schnettler 2006: Kap. III). Gehlen hatte dies in den historisch und kulturell variablen Welt- und Selbstbildern verfolgt. Dieter Claessens hat Gehlens Anthropologie in deren Konzentration auf den individuellen, mit Dingen hantierenden Menschen soziologisiert. Er entfaltet eine »milieutheoretische«, genetische Betrachtung der Vergesellschaftung in den sozialen »Inseln«, und dies unter dem Aspekt der Distanzierung von der eigenen körperlichen Natur, dabei Gehlens Anthropologie als eine »Theorie der existentiellen Verunsicherung des Menschen« verstehend (Claessens 1970: 28–43). In diagnostischer Zuspitzung, aber auch grundlegend sozio-anthropologisch wird dies 1980 von ihm weiter verfolgt, in Analogie zu Urmensch und Spätkultur. An Stelle der durch die Geschichte des Menschen hindurch analysierten Rationalisierung (Gehlen) steht hier die »Abstrahierung« vom Anschaulichen, die auch bei Heinrich Popitz in eine Theorie der »artifiziellen« Gesellschaft (Popitz 1995) mündet. Rezipiert wird Gehlen auch von Hans Joas und Axel Honneth. Sein Werk gehöre »sicher zu den großartigsten Entwürfen einer handlungstheoretischen und nicht-intellektualistischen Sprachtheorie« (Joas 1980: 66f.). Aber das scheint auch alles zu sein, während nun im Gegenzug das vermeintliche intersubjektivistische Defizit bei Gehlen markiert wird: Gehlen verdecke, indem er von der Kommunikation mit Dingen ausgehe, Meads ›eigentliche‹ Kommunikationstheorie, die nun zur »Grundvoraussetzung einer Anthropologie sozialen Handelns« wird (ebd.). Damit wird 33
in dieser soziologischen Theorie der soziologische Kern Gehlens, zumal von Urmensch und Spätkultur, ignoriert. Zu nennen wären weitere (durchaus Gehlen-kritische) Lektüren: in der Kultursoziologe (neben Rehberg u.a. Lipp 1994); in der Techniksoziologie (aktuell bei Werner Rammert und Jost Halfmann); in der Artefaktsoziologie (Popitz 1995). Zu nennen wären zudem Lektüren über die Soziologie hinaus, auch in Pädagogik und Psychologie (vgl. Fischer 2008a). Nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass Gehlens Werke in sehr viele Sprachen übersetzt sind, etwa ins Japanische, Koreanische, Chinesische. Im angloamerikanischen Bereich gibt es bisher allerdings kaum eine Rezeption, obwohl Die Seele im technischen Zeitalter seit 1980 und Der Mensch seit 1988 in Englisch verfügbar sind. Auch im Französischen ist die Resonanz (wegen fehlender Übersetzungen) gering, obgleich Gehlen ein ausgesprochen frankophiler Autor ist.15 Andererseits ist soeben eine zweite französische Übersetzung von Aufsätzen Gehlens erschienen. Bereits angesprochen wurde jene Tendenz der Rezeption, Gehlen verkürzt wahrzunehmen, sowie die Tendenz, ihn wegen seiner biografischen Verstrickung in den Nationalsozialismus und seinem theoretischen Faible für ›Ordnung‹ auf Verdacht hin zu lesen. Gleichwohl, Gehlen war einer der wichtigen Intellektuellen der Bundesrepublik, berühmt wie Adorno und Gadamer, skeptisch gegenüber deren politischem System – und ihm dennoch mit seiner (durch Schelsky korrigierten) Institutionentheorie eine »liberalkonservative Grundlage« bietend (Hacke 2006: 136–146; dagegen Wöhrle 2010: 197f.). Er war präsent in der Öffentlichkeit, in Rundfunk-Beiträgen, Fernsehdiskussionen und Zeitschriften sowie, als ›Aufklärer‹ über die eigene Gesellschaft, in Unternehmerkreisen.16 Die Wirkung Gehlens erstreckt sich daher kaum auf ein begrenztes disziplinäres Lager; und auch nicht auf ein als 15 Ich selbst werde einige Parallelen ansprechen. Alois Hahn entdeckt eine weitere: »Für Gehlen besteht jedes Gebiet sozialer Aktivität aus einem System verkörperter und koordinierter Habitus […]. Sucht man, was seine Theorie der Institutionen und des Habitus anbelangt, in Frankreich nach einem Denken, das dem Gehlens verwandt ist, so stößt man auf Bourdieu« (Hahn 2004: 281). 16 Die Vorträge finden sich in GA 7: Einblicke (Gehlen 1978).
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›konservativ‹ sowieso zu schnell erledigtes Lager (zum tiefen Umbruch des Konservatismus nach 1945 vgl. Nolte 2000). Auch der linke, sich als »Aufklärer« begreifende Intellektuelle muss vielmehr »immer daran denken: Der Konservative könnte recht haben! Arnold Gehlen könnte recht haben!« (Schnädelbach 1986: 268). Dabei ist die Bedeutung gerade der informellen Gesprächskreise, in denen Gehlen wirkte, hier nicht akzentuierbar; dies bedürfte einer geschichts- oder politikwissenschaftlichen Arbeit. Kaum zu erahnen ist auch, welche Wirkmächtigkeit Gehlens Theorie des Menschen (verkürzt auf das ›Mängelwesen‹) und seine Gesellschaftsdiagnose (verkürzt auf das ›technische Zeitalter‹) auf das Lesepublikum der frühen Bundesrepublik hatten. Gehlen kann in jedem Fall – wie Adorno – als maßgeblicher Autor im antimodernen Moderne-Diskurs der 1950er-Jahre verstanden werden. Dass dies nicht in einem rückwärtsgewandten Konservatismus aufgehen muss, hat Gehlens Assistent Jonas betont: ›Kultur‹ bestehe für Gehlen weniger im »Festhalten gefundener Sicherungen und Gleichgewichte, sondern viel eher in den Aufgipfelungen einer Energie, die durch Risiko gereizt wird« (Jonas 1966: 79).
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III Werk: Leitmotive Gehlen selbst hat den sukzessiven Wechsel seines Denkstandortes betont: den Übergang von einer existentialistischen, sich phänomenologisch nennenden Position (1) in eine »objektiv-idealistische« (2) zu einer erfahrungswissenschaftlichen Denkweise (3) (Rehberg 1993: 756f.). Zugleich existieren durchgängige Denkmotive, die sich auch daran zeigen, dass Gehlen einige wenige grundlegende, stets wiederkehrende Kategorien benutzt. Nicht umsonst wollte er seine Bücher einfach Mensch. Erster Teil; Mensch. Zweiter Teil17; und Mensch. Dritter Teil18 nennen. Einzugehen ist im Folgenden daher kurz auf den Beginn des Werkes, um die Spuren der Hauptwerke aufzudecken, die sich bereits in den frühen Schriften zeigen. Interessant sind hier vor allem die beiden Qualifikations-Schriften sowie Reflexionen über Gewohnheit (1927 [1978b]); Theorie der Willensfreiheit (1933 [1980a]); Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln (1935 [1980c]) und Vom Wesen der Erfahrung (1936 [1983a]). Gehlen schreibt zunächst als Philosoph, und er schreibt mit großer Selbstverständlichkeit durch Hume, Spinoza, Leibniz hindurch. Fasziniert ist er von Schopenhauer, dessen größte Funde, so Gehlen, die ›Philosophie vom Leibe aus‹ (Gehlen 1983a: 29) sowie die Denkfigur einer Umwelt-Organismus-Harmonie (M: 765) seien. Darin besteht das erste durchgängige Motiv des Werkes: im Nicht-Cartesianismus gegenüber dem geläufigen KörperGeist-Dualismus. Wohl noch mehr fasziniert ist er von Fichte, von der hier erreichten Raffinesse des idealistischen Denkens. Aus Fichte zieht Gehlen den zentralen Schluss, dass die »Bedingung der Realität die Handlung« ist (Gehlen 1978c: 254). Diese Betonung der Handlung gegenüber dem Subjekt-Objekt-Dualismus wäre das zweite, kaum vom ersten zu trennende Leitmotiv. Die Fichte-Faszination wird schrittweise in die eigene Position verwandelt, nämlich auf die Ebene des ›Leibes‹ gezogen. Fichte war auch für Plessner zentral, und insgesamt für die deutsche Philosophische 17 D.i. Urmensch und Spätkultur. 18 D.i. Moral und Hypermoral.
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Anthropologie, sofern sie den Idealismus lebenstheoretisch um19 wandelt (Fischer 2008a: T. II). Zunächst legt Gehlen allerdings einen Text über die Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch vor. Diese Dissertation ist »schnell heruntergeschrieben« (Rehberg 1993: 785.10) und dreht sich wohl – im Begriff der Setzung – mindestens ebenso um Fichte wie um Driesch. Driesch bietet Gehlen andererseits die später wichtige Idee des ›Hiatus’‹, der Verzögerungs- und Hemmungsfunktion im menschlichen Leben, die Entlastungen und Höherentwicklungen ermöglicht. Driesch hatte nach einer Formel für das Eigentümliche lebendiger Prozesse generell gesucht und dieses darin gesehen, dass die lebendigen Körper gegenüber der Entropietendenz der anorganischen Materie (dem Energieverlust) eine aufhaltende, Spannung aufbauende Funktion besitzen. Er nennt diese Funktion ›Entelechie‹. Heute würde man dazu wohl ›Negentropie‹ sagen.20 Entelechie »suspendiert« mögliches Geschehen temporär; es geht Driesch um jenen Prozess der Verzögerung von »Reaktionen, welche zwischen den in einem System vorhandenen Verbindungen möglich sind und ohne die Dazwischenkunft von Entelechie geschehen würden« (Driesch 1928: 2, 181f.). Das Kennzeichen lebendiger Systeme ist demnach die »Suspension« chemisch-physikalischer Abläufe, die Verzögerung der Energiepotenzialverluste, die dem zweiten thermodynamischen Gesetz zufolge gleichwohl notwendig sind. In Reflexionen über Gewohnheit übt sich Gehlen 1927 in die nicht-cartesianische Denkweise ein, in das Denken der untrennbaren Verschränkung von ›Körper‹ und ›Geist‹. Er stellt hier die abschwächende Wirkung der Gewöhnung (die kognitive Abstumpfung) einer stärkenden Wirkung im physischen Bereich gegenüber: Der Muskel wird durch Übung »immer kräftiger und handlungslustiger« (Gehlen 1978b: 100), während die kognitive 19 Die Fichte-Lektüre Gehlens wird hier nicht erschöpfend behandelt; einzugehen wäre dazu auf weitere Schriften in GA 2. Vgl. Samson (1976: v.a. 99ff., 208–237), Rehberg (2001b: 326ff.). 20 Erwin Schrödinger 1944 hat so das ›Leben‹ definiert: »Das, wovon ein Organismus sich ernährt, ist negative Entropie« (1989: 126); lebendige Wesen exportieren Entropie (›Unordnung‹) in die Umwelt und halten die eigene Entropie niedrig (›Ordnung‹).
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Aufmerksamkeit im Sehen desselben herabsinkt. Die Wiederholung wird von Gehlen hier als Gleichheit und Differenz gefasst: Sie ist schöpferisch, besteht im Willen zum »Nichtidentischen«. Die so verstandene ›Wiederholung‹ ist, so heißt es nun lebenstheoretisch, der Charakter des Vitalen, in dem Gehlen den ständigen Versuch der »Aufhebung des Selbst-Seins« vermutet, in einem antiplatonischen, anti-idealistischen Affekt (Gehlen 1978b: 102f.). Leben und damit das, »worauf es ankommt«, ist das »Dazwischen« zwischen Geist und Materie (ebd.): ein ständiges und unvorhersehbares Werden, wie es Bergson zuvor als Bewegung des Lebens schlechthin verstanden hatte, das mit einem geringeren oder größeren Grad an kognitiver Aktivität einhergeht (Bergson 1912). Vielleicht, so heißt es nun hingegen bei Gehlen, »würde die Natur« am liebsten ständig »phantastische und unerhörte Organe« neu bilden. Faktisch gibt es aber stets ein »Moment des Identischen in ihr«, ein Beharrendes. Faktisch ist es so (so Gehlen), dass das Leben sich festlegt und eingrenzt. Jede Gewohnheit trägt so zu jenem »langsamen Anorganischwerden bei, das wir Altern nennen«. Dies ist die »Gewohnheit lähmender Art«. Es müsse, so Gehlen in diesem frühen Text weiter, demgegenüber »unser ernster Wille sein, keine Gewohnheiten sich bilden zu lassen«, nämlich durch die Kraft der Phantasie immer Neues zu finden. Es gäbe aber auch eine stärkende Gewohnheit, jene Disziplinierung der Organe, welche die »Souveränität über das Leben« bedeute (Gehlen 1978b: 106ff.). Offensichtlich handelt es sich hier um Gehlens charakteristischen Weg der Korrektur des deutschen Idealismus und zugleich der Einhegung der vitalistischen Lebensphilosophie, wenn er sowohl im menschlichen Leben als auch im Leben überhaupt die Gewohnheit ins Zentrum stellt. Später taucht sie in den Kategorien der AufDauer-Stellung, der Routine, der Institution erneut auf, sozialtheoretisch gewendet. Damit ist ein drittes Leitmotiv angedeutet: das »existentielle« Motiv in den Themen Personwerdung, Ordnung und Gewohnheit. Gehlen ist durchweg »fasziniert und bestimmt von der Grundproblematik des Menschen, sich ›in Form‹ bringen zu müssen« (Rehberg 1994a: 491; vgl. Großheim 2002: 204– 227). ›Existentiell‹, das heißt also existentialistisch oder aktivistisch: Es geht in der Betonung der Form und der Handlung stets auch um deren wertende Bevorzugung gegenüber der (bildungsbür39
gerlichen) Reflexion. In den Texten steckt somit auch eine Intervention in eine als krisenhaft empfundene Gesellschaft – die Anthropologie ist auch pragmatisch angelegt, als politische Affektenlehre, und zwar als »Verhaltenslehre der Kälte« (Lethen 2003: 99). Die Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine
philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie entfaltet 1931 in diesem dreifachen Rahmen eine »Psychologie der Philosophie« (1978c: 119) oder eine »absolute« Phänomenologie, der es auf die Wahrnehmung der Realität im Handlungsvollzug ankommt. Im Vollzug der Handlung sind wir, so Gehlen mit Bergson, ›eher in den Dingen als die Dinge in uns‹ (vgl. Gehlen 1978c: 275). Dies ist ein Affront gegen die klassische Erkenntnistheorie, und man könnte Gehlens ›absolute Phänomenologie‹ daher auch als einen neuen Empirismus verstehen, sofern Gehlen den Begriff des individuellen Bewusstseins im Gegensatz zur Phänomenologie verabschieden will zugunsten einer Innen und Außen zusammen schließenden Perspektive. In Wirklicher und unwirklicher Geist geht es um den Kampf gegen die Metaphysik, gegen das Absolute (›unwirklicher Geist‹), für die Erfahrungswissenschaft und das Wissen des Lebendigen selbst (›wirklicher Geist‹). Gehlen stellt hier den Begriff der Situation gegen das Erkenntnismodell des kontemplativen, einem Äußeren sich gegenüber befindlichen Subjekts. Vor allem hier hebt er die Handlung als das »große Mittel« hervor, sich aus der »Zerstreutheit zu heben« und zur »Realität im eigentlichen Sinne« zu finden (Gehlen 1978c: 226). Die Frage ist in diesem Text nicht zuletzt, welche Lebens-Probleme es sind, die zu spezifischen philosophischen Problemen führen. So wird etwa die Möglichkeit der Erkenntnis nur in einer bestimmten Gesellschaftslage zweifelhaft. Was hier bereits wissenssoziologisch klingen mag, wird tatsächlich noch streng philosophisch (existenzialistisch) durchgeführt, wobei die weiteren Akzente von Gehlens Philosophie – die Verankerung des Bewusstseins im Handeln –, bereits deutlich sind. Die Phantasie wird dabei allerdings als ›minderwirkliche‹ kognitive Aktivität verstanden, in jenem sich durch den ganzen Text hindurch ziehenden, existenzphilosophischen Ton. Demgegenüber wird Gehlen später seine Anthropologie und die sie begründende Institutionentheorie gerade auf dieser genuin menschlichen Fähigkeit aufbauen. Die 40
Phantasie hat dann nicht zuletzt eine götterschaffende Kraft. In ihr hebt sich der Mensch über seine ›Unstabilität‹, ›Riskiertheit‹ und ›Ohnmacht‹ hinaus, wie er andererseits elementar auf sie angewiesen ist: nämlich in der Bewegungsphantasie, die an Stelle der tierischen, instinktiv vorgegebenen Bewegungsfiguren steht, welche stets auf je spezifische Auslöser passen. In Der Mensch heißt es, die Phantasie des Menschen sei dessen »lebensfördernde« Fähigkeit, die ihn unaufhörlich in die »Zukunft stößt« (M: 454, 296). In Theorie der Willensfreiheit (1933) wird Gehlen erneut auf Drieschs Theorie des Lebens zurückgreifen; auch wird er hier gegen eine vorgebliche zeitgenössische Überbetonung des Indeterminierten erneut das sich Wiederholende (entweder Triebhafte oder Institutionalisierte) betonen. Das Ziel dieser Schrift ist der »Beweis« absoluter Freiheit eines biologisch zu verstehenden Wesens; dieser wird durchgeführt in dialektischer Gedankenkunst. Erwähnenswert ist neben dem weiterhin aktivistisch-existenzialistischen Ton, dass Gehlen bereits vom »Triebüberschuss« spricht (Gehlen 1980a: 14), auch schon seine Kategorie der sekundären Zweckmäßigkeit hat (»Nebenerfolg«, 23) sowie – wie Scheler – die »Neinsagefreiheit« des Menschen gegenüber den natürlichen Bedürfnissen hervorhebt. Worum es geht, ist also eine negative Freiheit (ebd.: 31). In Vom Wesen der Erfahrung werden 1936 weitere Grundgedanken von Der Mensch sichtbar: Sich erneut an der »romantischen Reflexionskultur des ›ewigen Gesprächs‹« reibend (Eßbach 2005a: 342) und demgegenüber wie Hans Freyer eine »Wirklichkeitswissenschaft« fordernd, will Gehlen spätestens hier herausfinden, wie sich im Mensch-Umwelt-Kontext und in der »warmen Finsternis unseres Körpers«, Erfahrungen aufbauen, stabilisiert werden und sich steigern (Gehlen 1983a: 10). An diesem Punkt entdeckt Gehlen nun den seinerseits zentralen Begriff der Entlastung, mit dem er zunächst die »Entlastungsfunktion der Erfahrungssymbole«, das ›Höherlegen‹ der Tasterfahrung in die visuelle Wahrnehmung meint. Indem man nicht mehr alles stets erneut antasten muss, kürzt man Handlungen ab und gibt sich Raum für neue, »eigentlich menschliche Leistungen: intelligente Arbeits- und Bewegungsfiguren, Planung und Vorgriff, Verständigung und Gesittung« (ebd.: 15f.). Sukzessive geht Gehlen weiter, sich zuneh41
mend für die organischen und physiologischen Besonderheiten interessierend, für eine konkrete Lebenstheorie des Menschen. Dies ist nun ein erheblicher Umschwung im Werk: die Abkehr von der idealistisch bleibenden Bewusstseinsphilosophie zugunsten der philosophischen Anthropologie, die sich um 1935 vollzieht. In Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln will Gehlen die Philosophische Anthropologie als Betrachtung des Menschen von ›Außen‹ und ›Innen‹ zur Ersten Philosophie machen – in einem Text, der zugleich noch eng mit einer praktischen Intention verknüpft wird, denn es geht um eine politisch nützliche Handlungslehre als Sozialethik (Gehlen 1980c: 333f.). Auch hier gibt es noch jenen existentialistischen, an Heidegger erinnernden21 Ton; die ›Verfallenheit‹ lauert überall, das ›Uneigentliche‹, ›Verstreute‹ – etwa, wenn ›niedere‹ und ›höhere‹ Seinsgrade nach ihrer Konzentriertheit oder ›Zerstreutheit‹ differenziert werden; oder wenn Gehlen die Reflexion gegenüber der (souveränen) Handlung herabwürdigt. Ein bereits angesprochenes Leitmotiv ist hier aber erneut erkennbar: Die Suche nach einer Perspektive, die gegenüber dem Unterschied von Physischem und Psychischem neutral ist – wie es Aristoteles’ Begriff der techné, des praktischen Könnens gewesen sei (Gehlen 1981a: 6). Dazu muss man, so Gehlen, die idealistische Philosophie verabschieden, deren Probleme uns nicht einmal mehr verständlich seien. Eine weitere Grundidee zeigt sich nun ebenfalls bereits in diesen Texten: die Betonung der Indirektheit der menschlichen Verhältnisse (Gehlen 1980a: 110, 165). Gehlen folgt dabei durchaus noch der idealistischen oder ›dialektischen‹ Denktechnik, die nun in den organischen Körper versenkt wird (Fischer 2008a: 524) – ob es um Entlastung geht, die aus der organischen Belastung gewonnen wird (Gehlen 1983a: 18); um die Verschiebbarkeit der Triebe im chronischen Triebüberschuss (Gehlen 1980a: 14, 27) oder die sekundären Erfolge des Handelns (ebd. 23): Stets ist es eine mit Dialektiken arbeitende Denkweise (vgl. Fonk 1983). Man kann es auch so formulieren: Gehlen arbeitet zunächst, in der Habilitation, an einer »Anthropologie von Innen«, bis er 1936 21 Gehlen verweist darauf, dass er Heidegger erst später gelesen habe (1978c: 219, Fn.). Es wird eben, wie Plessner hübsch formulierte, »in der Welt mehr gedacht, als man denkt« (1975: XXIII).
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mit der ›Entlastung‹ die psychophysische Blickrichtung auf die motorische Handlung und die entsprechende kognitive Aktivität einführt (Rehberg 1983: 391). Hindurch zieht sich also ein nichtcartesianisches Denken, die Betonung des ›Vollzugs‹ (der Verschränkung von Kognitivem und Motorisch-Sensitivem; des ›Machens‹). Hindurch zieht sich auch das Denken einer sekundären Positivität, die aus der Negativität entsteht.22 Überblickt man das Werk, so kann man den drängenden Gedanken auch in einer Frage sehen: Fraglich ist das Verhältnis von Selbst-Werdung und Ordnung, Freiheit und Determination. Die letzte Quelle der Individualität und Kreativität ist dabei für Gehlen jenes asubjektive, überschüssige, arationale Energiezentrum Nietzsches: die anonyme Vitalität, das organische Leben im Menschen. Damit ist schließlich die vitalistische Basis dieses Denkens angesprochen, die (stets skeptisch betrachtete) Tendenz des Lebens zu ›mehr Leben‹ (vgl. Rehberg 1994a: 493, 504), wie sie bei Nietzsche und – viel optimistischer – bei Bergson auftritt. Einen durchlaufenden Faden bilden also nicht zuletzt lebenstheoretische oder vitalistische Motive (gepaart mit der Modernekritik), die Betonung der Selbstformungsaktivität und Variabilität des Menschen (auch wenn diese oft pessimistisch eingeschätzt wird). Immer durchgängiger finden sich daher Denkfiguren des Werdens, gegenüber dem anfänglichen Idealismus – der Annahme, man müsse an einem Begriff des Seins ansetzen. Gehlen selbst hat das Durchgehende und die Veränderungen so erläutert: »Das Buch von 1931 blies erst den ganzen Schaum von Bildung und Pädagogik weg, und dann hielt ich mich an Fichte, um den Aktivismus zu begründen, dann an die Pragmatisten, weil sich Fichte bei genauer Bekanntschaft als zu verrückt herausstellte« (zit. in Rehberg 1993: 774.24). Die nun erreichte Philosophie wird er »empirisch« nennen – sofern sie die Ergebnisse der Wissenschaften (Biologie, Psychologie, Ethnologie, Archäologie) in die philosophische Betrachtung des Menschen einbezieht und sich dabei aller Metaphysik im Sinne einer ›Spekulation auf das Ganze‹ enthält. 22 Gehlen wie Durkheim verbleiben damit noch in negativen Kennzeichnungen des Institutionellen, gegenüber anderen, ›positiven‹ Weisen: so Seyfert (2010).
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Sukzessiv wird in der Abwendung vom Idealismus auch eine
soziologische, sozialtheoretische Perspektive entfaltet, wozu nicht zuletzt die (früh einsetzende) Lektüre des Pragmatismus beigetragen haben dürfte. Das Denken Fichtes sei, so heißt es 1952 in Die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, »absurd« (1983c: 367) und sogar »böse«, weil es ein Denken ist, nach dem der Mensch allein sein will (Gehlen 1978c: 268). Das Theorem der Ich-Setzung führe zu »fatalen Paradoxien« (Gehlen 1980a: 79). An dessen Stelle wird die Idee des indirekten Kontakts, der Selbstund Wirklichkeitserfahrung im Anderen gesetzt. Die Kommunikationstheorie Gehlens ist hier, in sozialtheoretischer Hinsicht, zentral, selbst wenn sie zunächst einem ›Dingfetischismus‹ folgen mag (das ›Anplappern‹ der Dinge als Kommunikationsmodell). Die Anthropologie verweist auf eine soziologische Theorie. Rehberg hat die Leistung der Philosophischen Anthropologie insgesamt und Gehlens im Besonderen als »Soziologisierung des Wissens vom Menschen« bezeichnet, als Übergang des Denkens über den Menschen von der (Geschichts-)Philosophie in die »Sozialund Kulturanthropologie« (1981: 177). Gehlen vollzieht diesen Übergang insbesondere in Urmensch und Spätkultur, vorbereitet bereits in Der Mensch.
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IV Der Mensch I: Die Philosophische Anthropologie »Es gibt ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein ›Bild‹, eine Deutungsformel notwendig ist.« (M: 3) Diese Deutungsformel, so heißt es auf den ersten Seiten des ersten Hauptwerkes Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt weiter, muss wohl etwas »Außermenschliches sein«. Zu vermuten ist, dass der »Mensch nicht aus sich selbst begriffen werden« kann, er vielmehr nur indirekt zu erfassen ist – von den Göttern oder Tieren her. Gehlen sucht nun kontrastive Kategorien, Begriffe, die nur für den Menschen zutreffen: für dieses merkwürdige Wesen, das sich vor »Aufgaben« gestellt sieht, in seiner Entwicklung nie fertig ist, das »nicht festgestellte Tier«. (M: 4) Liest man diese Sätze des Hauptwerkes sorgfältig, zeigt sich bereits der erste Hinweis auf eine charakteristische Denkfigur: Gehlen verfolgt sowohl eine biologisch als auch historisch informierte Anthropologie (wie es Helmuth Plessner seinerseits durchführte: in der Kombination der ›exzentrischen Positionalität‹ und des ›homo absconditus‹, der ›Unergründlichkeit‹ dieses Lebewesens für sich selbst). Für beide Autoren bleibt dabei der Durchgang durch die biologische Seite tragend. Dies unterscheidet die deutsche Philosophische Anthropologie von der französischen Variante, etwa von Foucault. Eine Anthropologie, die in eins mit der relativen ›Instinktunsicherheit‹ und der spezifischen Morphologie des Menschen seine historische Variabilität zu denken vermag – das ist dann vor allem das Thema von Urmensch und Spätkultur. Aber es ist hier, in Der Mensch, angedeutet, wie auch die Institutionentheorie in der Überarbeitung von 1950 bereits eingefügt ist. Das Buch ist viergeteilt: nach einer einführenden Exposition der Gesamtidee (90 Seiten) folgt zunächst eine Betrachtung der ›morphologischen Sonderstellung‹ des Menschen (45 Seiten), zweitens die des Zusammenhangs von Wahrnehmung, Bewegung, Sprache (220 Seiten) und drittens die der ›Antriebsgesetze‹, des 45
Charakters und des ›Geistproblems‹ (60 Seiten). Man sieht schon, wo die Schwerpunkte liegen, wie viel Raum vor allem die Sprach-, Bewegungs- und Phantasietheorie einnehmen – in einer ›AnthropoBiologie‹, einer biologischen Betrachtung des Menschen, die gerade auch seine kognitiven Aspekte berücksichtigen will, sind sie zentral. Gehlen geht es in dieser Anthropo-Biologie nun nicht darum, den »›Geist‹ auf das ›Leben‹ zurückzuführen‹«. Ihm geht es nicht um biologische Reduktion. Vielmehr gilt es, diejenigen »Kategorien zu finden, die ›durchlaufen‹« (M: 7). Er will also erstens eine Begriffsstrategie und damit Denkweise finden, die sowohl den Körperbau, die organischen Aspekte, als auch die kognitiven und affektiven Aspekte des Menschen verbindet. Dabei setzt Gehlen zweitens ›den Menschen‹ in Anführungszeichen, eine Feinheit, die von jeder Essentialismuskritik an Gehlen (dass er das Wesen des Menschen feststelle) übersehen wird. Gehlen hat in der Tat das Kunststück vollbracht, eine sowohl biologisch als auch kulturwissenschaftlich informierte, historisch-soziologische Anthropologie vorzulegen. Der erste Punkt, die Anthropo-Biologie, wird in Der Mensch entfaltet. In deren Darstellung wird im Folgenden eine gewisse Ausführlichkeit nötig sein, ist dies doch die Grundlage des zweiten Punktes in Urmensch und Spätkultur. »Streng genommen, gebe ich nur eine elementare Anthropologie, aber dieses Elementare reicht eben beim Menschen ganz außerordentlich weit […]. Im Menschen liegt ein ganz einmaliger […] Gesamtentwurf der Natur vor« (M: 8). Daher verbietet sich die umstandslose Ableitung aus dem Tierreich, jede Theorie der geradlinigen Abstammung des Menschen vom Affen. Man sei dann nämlich, so Gehlen, stets gezwungen, die kognitiven Leistungen zu niedrig anzusetzen: etwa als Verlängerung des Selektionsgeschehens. Einfache evolutionistische Theorien gibt es nur um den »Preis ganz rücksichtsloser Vernachlässigung des menschlichen Innenlebens oder ganz kindlicher Vorstellungen von dessen Inhalten« (M: 9). Gehlen könnte so auch gegen aktuelle Evolutionsbiologien argumentieren. Im »evolutionsbiologischen Zeitalter« (Illies 2006) macht ihn dies möglicher Weise unter den soziologischen Autoren (neben Plessner) besonders interessant. Auch in aktuellen Evolutionstheorien wird ja erneut versucht, die herausragenden artifiziellen Phänomene des Menschen, die Kunst, die 46
Rituale, die Ernährungs- und Sexual-Variabilitäten und so fort allein in ihrer Funktion als »Selektionsvorteil« zu verstehen – womit letztlich alles in der Überlebensdienlichkeit aufgeht. Gegen eine solche Argumentation trifft bereits Bergsons Vorwurf gegen Darwin: Dieser erkläre positiv nichts, sondern könne allenfalls Aussagen darüber treffen, wieso sich etwas hat erhalten können (Bergson 1912; Darwin 1860).23 Um es anders zu machen als die Naturalisten, aber auch anders als die Idealisten, muss man, so nun wieder Gehlen, einige »hartnäckige Denkgewohnheiten« überwinden; insbesondere den Cartesianismus, die Trennung von Ausgedehntem/Unausgedehntem, Körper/Geist, Subjekt/Objekt. Zudem muss man einiges »einklammern«: eben die evolutionistischen Vorstellungen, in denen sich tierische und menschliche Sozialitäten und Tier- und Menschenintelligenz nicht wesentlich unterscheiden. Kurz, man muss Gradunterschiede von Wesensunterschieden trennen (M: 170f.). Gehlens grundlegende Frage lautet in dieser Voraussetzung einer Wesensdifferenz des Menschen: Was sind die »Existenzbedingungen« jenes merkwürdigen Wesens? »Vor welchen Aufgaben« steht ein Lebewesen von gerade dieser »leiblichen Verfassung« und gerade dieser »ganz untierische[n] und einmalige[n] Antriebsstruktur«? (M: 11ff.) Seine Vermutung ist: Vom »aufrechten Gang bis zur Moral« gibt es einen Zusammenhang, den es herauszufinden gilt. Es geht um ein System gegenseitiger Verwiesenheit – und dies ohne Kausalannahmen. Die »Frage nach den ›Ursachen‹ bleibt ausgeschlossen«. Weder hat die Intelligenz die »Sprache ›bewirkt‹ oder der aufrechte Gang die Intelligenz oder umgekehrt«. Mehr noch, der Begriff der Ursache habe in solchen Überlegungen »zu verschwinden« (M: 13), da es sich hier, in der Theorie des Menschen, ja nicht um eine experimentelle Wissenschaft handele und da ferner auch keine ›erste Ursache‹, kein ›erster Beweger‹ mehr in Sicht sei, also eine Metaphysik nach klassischem Muster obsolet. Ausdrücklich heißt es bei Gehlen etwa, dass die »Kunst, die Religion, das Recht« nicht als »bloße Reflexe des organischen Lebens verstanden werden können« (M: 14). 23 Vgl. ähnlich bereits Lorenz 1965 sowie Huxley 1954, auf dessen biologische Autorität sich Gehlen öfters beruft.
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Zuweilen könnte man meinen, Gehlen falle selbst hinter das Vorhaben einer nicht-evolutionistischen und nicht-kausalistischen Sicht zurück; zumindest gibt es Bemerkungen wie diese, dass der Mensch ein handelndes Wesen sei, »weil er unspezialisiert ist« (M: 37). Aber man sollte einen Autor stets stärker, nicht schwächer machen, als er ist – nur das ist produktiv. Gehlen, und dies ist seine Stärke, erhebt nun den Anspruch einer nicht biologistischen, gleichwohl aber bio-logischen Perspektive, und dies auch in der soziologischen Theorie. Statt also weiter den geläufigen Cartesianismen zu folgen, interessiert er sich für eine Lebens-Theorie, dafür, Phantasie, Sprache, Kunst und Gesellschaft und so fort im Vollzug, im Zusammenhang mit dem organisch verstandenen Körper zu betrachten. Die Frage ist: Was sieht man, wenn man berücksichtigt, dass es sich bei allen kognitiven und sozialen Handlungen immer auch um körperliche Aktivitäten handelt, in die bestimmte vitale Motive und Antriebsenergien eingehen und die spezifische Effekte auf das ›Innenleben‹, auf die Subjektform haben? Und womit muss man sie zusammen denken, was ist die fundierende Basis dieser kulturellen Fähigkeiten, ohne dass diese eben auf jene zu reduzieren wären? Gehlen stellt in diesem Sinne fest, dass »Denken, Vorstellen und Phantasieren« und alle weiteren soziokulturellen Aktivitäten »auf einem breiten Unterbau ›sensomotorischer‹ Funktionen« beruhen. Die Phantasie etwa führt Erfahrungen aus dem Tasten und Sehen fort und hat formelle Gemeinsamkeiten mit diesen elementaren sinnlichen Wahrnehmungen. Statt dabei nun die ›höheren‹ auf die ›niederen‹ Funktionen zurückzuführen – wobei ›höher‹ und ›niederer‹ normativ belastete Kategorien sind – versucht Gehlen, die ›niederen‹ hochzuziehen: die »vegetativen, sensorischen und motorischen Funktionen arbeiten offenbar sehr viel geistreicher, als der Idealismus zugeben wollte […]. Eben deswegen kann man sich jene höchsten Funktionen nicht in einem beliebig gearteten Organismus vorstellen« (M: 16). Darauf hatte auch Hartmann Gehlen (gegen manche Selbstmissverständnisse) hingewiesen: dass in seinem Ansatz alle »höheren Leistungen, die man gewöhnt ist, dem Geiste vorzubehalten, sich bis tief in die primitiven Anfänge des Menschseins hinab erstrecken«, statt andersherum (Hartmann 1958: 392). 48
Der Vorstoß zur ›ganz untierischen‹ Struktur bereits des menschlichen Körpers korrigiert jede geist-, sprach- oder symbolzentrierte philosophische Anthropologie (wie etwa die Ernst Cassirers): Solche Anthropologien, so Gehlen, »denaturieren« die kognitiven Fähigkeiten (M: 19), sofern sie diese dem als animalisch verstandenen Körper gegenüberstellen und beide trennen. Bereits Scheler und Plessner haben den Menschen in Kontinuität und Kontrast zum Tier gedacht; beide billigten dabei dem Tier so viel wie möglich zu, hielten den Kreis der menschlichen Monopole so klein wie möglich. Auch sie blieben dicht auf der Spur zeitgenössischer Tierforschung, namentlich auf der Jakob von Uexkülls (1909) und Wolfgang Köhlers (1921). Sie verallgemeinerten das »Motiv der Aktionsfreiheit, insbesondere für differenzierte tierische Organismen, bei denen die Kompetenz der Zuordnung von Reiz und Reaktion durch das Tiersubjekt selbst gegeben ist. Solche Tiere sind keine instinktgesteuerten Maschinen, sie können zögern und haben Wahlfreiheit. Wo bei Tieren der Primat des Sensorischen über das Motorische erreicht ist, kommen die Aktionen unter die Kontrolle der Empfindungen. Wirklichkeit ist dann ein Aktionsfeld von Möglichkeiten, die dem Tiersubjekt entgegenharren. Es handelt in einer Umwelt, in der es voll präsent ist« (Eßbach 2005b: 80). Vor allem Plessner hat diese Handlungsfähigkeit des Tieres betont. Aber Gehlen findet hier doch einen eigenen Dreh. Wolfgang Eßbach hat in der Verflechtung von Körperbau, Antriebslage und Artifizialität Gehlens besondere Option innerhalb der Philosophischen Anthropologie gesehen. Als dritten Weg neben Schelers »Innenpolitik« und Plessners »Außenpolitik« verfolge Gehlen eine »biopolitische« Argumentation, sofern er in den als spezifisch menschlichen – und nicht als animalisch – verstandenen »leibnahen Schichten des Bewußtseins sein anthropologisches Hauptthema gefunden« habe (Eßbach 2007: 13). Es geht darum, dass schon unser Körper ›untierisch‹ ist: Es gibt kein Tier in uns. Daher interessiert sich Gehlen nun gar nicht für das pflanzliche und nur sehr eingeschränkt für das tierische Leben; dies auch, weil er (vielleicht vorschnell) jede Schichten- und Stufentheorie des Lebens ablehnt, welche die höhere Schicht – das Tier, den Mensch – auf der tieferen – der Pflanze, dem Tier – aufbaue (wie 49
Plessner es durchführt). Demgegenüber unterliegt Gehlen der »Suggestion der ja fruchtbaren Möglichkeit, ›im Kreise‹ zu denken: die Phänomene wirken gegenseitig aufeinander hin, wo man auch anfing« (M: 757.7). Nicht nur sind es hier Handlungskreise (die er wie ein Kybernetiker entdeckt), sondern die Theorie selbst ist kreisförmig angelegt. Die Texte ziehen Kreise, Spiralen und verwandeln sich zuweilen in Labyrinthe – dies zur Entschuldigung, falls im Folgenden eine einlinige, sukzessive Darstellung schwer fällt. Gehlens Vorhaben ist also, einen ›durchlaufenden‹ Gesichtspunkt für Körper und Geist, Morphologie und ›Innenleben‹ zu finden und dabei nichts zu reduzieren. Es sind dann die richtigen, neuen Begriffe entscheidend, denn mit den alten fällt man hinter diesen Anspruch zurück. Auch Plessner hatte ähnliches bereits 1928 vorgeführt. Er erfand die artifiziellen Begriffe »Positionalität« (die Gestelltheit jedes Organismus gegen sein Umfeld) und »exzentrische Positionalität« (die spezifisch menschliche, in seinen kognitiven Fähigkeiten herausgerückte Gestelltheit gegen Umfeld und den eigenen Körper). Im Vergleich zu Gehlen ist diese Theorie des Menschen raffiniert, aber zunächst, 1928, knapp. Nach der ausführlichen Analyse von pflanzlichem und tierischem Leben wird sie auf dreißig Seiten ungeheuer dicht entfaltet, in den Kategorien der ›natürlichen Künstlichkeit‹, ›vermittelten Unmittelbarkeit‹, des ›utopischen Standorts‹ (Plessner 1975: Kap. 7). Gehlens Kategorien sind weniger artifiziell, ›empirischer‹. Die Begriffe, entlang derer sich diese Theorie des Menschen entfaltet, lauten: ›äußere‹ und ›innere‹, das heißt morphologische und physiologische Mängel; Handlung; Entlastung; ein Stellung nehmendes, nicht fixiertes, sich selbst formendes Wesen; das vorhersehende, phantasiefähige Wesen. Zunächst zur Idee des Mängelwesens, jenen Denkansatz, für den sich Gehlen auf »Herder als Vorgänger« bezieht (M 79). In dessen Abhandlung über den Ursprung der Sprache heißt es 1772, der Mensch sei das »verwaisteste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet: und was die Summe seines Elends ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt« (M 91; Herder 2005: 18). Dass Herder aus diesen »Mängel[n] und Lücken«, »Schwächen und Konvulsionen« (Herder 2005: 19, 45) die Spezifik des Menschen begreift, ist für Gehlen »die Erfindung der philosophischen Anthropologie« (Fischer 50
2008a: 166; ausführlich zu Gehlens Herder-Rezeption: Marino 2008). Bei Herder heißt es nun weiter, 1785, in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, und zwar ganz in humanistischer Tradition die Freiheit und Vernunft begründend: Das Tier ist »nur ein gebückter Sklave […]. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung: er steht aufrecht.« Und weiter: »Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen« (Herder 2002: 135). Der Ansatz an den Mängeln und Lücken ist also instruktiv, wenn man, wie es Herder tat, zugleich die positive Seite betont. Wenn man dem Tier eine Sicherheit seiner Bewegungen durch eine »Erbmotorik« (Storch 1948) zuschreiben kann, ist der Mensch im Vergleich dazu bereits morphologisch anders, eben lückenhafter, gebaut. Er ist in dieser Hinsicht negativ charakterisiert, durch das Nicht-Vorhandensein der scharfen Augen und Zähne, der Kletterkrallen, der verschleiernden Tinte, der schnellen Beine und wechselnden Tarnflecken oder der Bewegungsfiguren, die bei Gefahren einfach ›einspringen‹. Das Aussetzen solcher Bewegungsfolgen gibt es nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Tieren mit Zentralnervensystem, die Probierhandlungen vollziehen, Erfahrungen machen. Betreffen die zunächst genannten Negativa den Körperbau, handelt sich es um eine Negativ-Struktur also auch im ›Inneren‹ des Körpers: im Vergleich der Handlungs-Spielräume, die vom Nervensystem ausgehen.24 Gehlen beruft sich hier auf die Tierverhaltensforschungen von Konrad Lorenz (1937) und Nikolaus Tinbergen. Es ergibt sich mit diesem Gesichtspunkt eine neue Systematik der Tiere. Betrachtet man ihre Gewohnheitsfixierung und ihr Lernvermögen, so kommen etwa die Eichhörnchen neben den Affen zu liegen (M: 25). Mit anderen Worten, denen des Biologen Jakob von Uexküll (1909): Die Tiere verfügen über je spezifische relevante Reize und Situationen, sie leben in einer je spezifischen »Merkwelt«, auf die sie reagieren, während alles andere – seien es Farben, Geräusche, Dimensionen – nicht rezipiert wird. Dabei werden die relevanten Daten (etwa der ›Fressfeind‹ oder die ›Beu24 Plessner (1975: 270) fand im Übrigen, letztlich sei es der »Sinn für’s Negative«, der den Tieren im Vergleich zu uns abgehe: Sie sind durch und durch positiv.
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te‹) auch anders – etwa schematischer oder farbloser oder einfach 25 anders farbig – wahrgenommen, als wir sie wahrnehmen. Die Zecke etwa ist dann ein Tier mit bemerkenswert wenigen Daten und Bewegungen. »Lange nach Spinoza werden Biologen und Naturforscher versuchen, Tierwelten zu beschreiben, die durch Affekte und die Fähigkeit, zu affizieren oder affiziert zu werden, definiert sind. Jakob von Uexküll […] wird dieses Tier durch drei Affekte definieren: der erste, lichtbezogen (einen Ast hinaufklettern); der zweite, geruchsbezogen (sich auf das Säugetier fallenlassen, das unter dem Ast vorbeiläuft); der dritte, wärmebezogen (das Gebiet suchen, das ohne Behaarung und am wärmsten ist). Eine Welt mit nur drei Affekten, bei all dem, was im riesigen Wald passiert. Ein Optimum und ein Pessimum der Fähigkeit, affiziert zu werden: die prallgefüllte Zecke, die sterben wird, und die Zecke, die sehr lange hungern kann« (Deleuze 2001: 127). Im Vergleich dazu ›fehlt‹ es dem menschlichen Lebewesen an einer derart fraglos vorgegeben Merkwelt. Sicher favorisiert Gehlen also zunächst die Perspektive der Negativität, des Mangels; aber dies mit Grund. In der Tat hat man es ja bisher oft andersherum gemacht. Betont wurde stets, was das Tier alles nicht kann – dass es kein politisches und kein sprechendes Wesen sei und so fort. Es geht also darum, dem Tier soviel wie möglich zuzubilligen, darum, den Anthropomorphismus zu vermeiden, das Messen des Tieres mit menschlichem Maß. Was dabei stets mitzudenken ist: Das ›Defizit‹ ist höchst produktiv. Es handelt sich eben keineswegs nur um das riskierte, sondern zugleich um das steigerbare, variable, sich umgestaltende Lebewesen. Entfaltet wird eine Theorie der menschlichen Selbstformung und -steigerung: Aus »eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten,
d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten« (M: 35). Diese Theoriearbeit, das Positive aus dem Negativen zu entfalten, hängt eng mit einer weiteren, zentralen Begrifflichkeit für das 25 Diese These, dass Lebewesen eine je verschiedene ›Umwelt‹ haben, die zu ihrer ›Innenwelt‹ passt, richtet sich gegen die klassische Evolutionsbiologie mit dem Konzept der ›Anpassung‹. Von Uexküll sagt hier lieber ›Einpassung‹.
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menschliche Leben zusammen: dem »handelnden Wesen« (M: 26), das sein Leben führt, nicht hinterrücks durch es geführt wird. Der Mensch besitzt weder spezifische Sinnes-, Angriffs- und Abwehrorgane; noch hat er eine spezifische sensorische Umwelt; noch eine ›festgestellte‹ Innenwelt, einen relativ stabilen Instinktund Triebapparat. An der Stelle der spezialisierten Organe kommen die technischen Artefakte; an derjenigen der Umwelt die soziokulturellen Artefakte und Medien zu stehen; die Position der Triebe und Instinktbewegungen nehmen höchst variable Motivationen, Haltungs- und Bewegungsweisen ein, die in Ritualen, Gewohnheiten und Artefakten stabilisiert werden, die mit den Handlungen zusammen ein ›Gefüge‹ ergeben. Die Selbstformung von Affekten – mit Spinoza gesprochen: des Vermögens, andere Körper zu affizieren und von anderen Körpern affiziert zu werden – und Antrieben; die Selbstformung der Werkzeuge, Unterschlüpfe, Kooperationen ist das Eigentümliche dieses Lebewesens. Dies besagt mehr, als der Begriff des ›Mängelwesens‹ enthält. Es geht Gehlen um ein Lebewesen, das von Natur aus artifiziell, kulturell ist. Wir stecken nicht in einem Tierkörper, zu dem die kognitiven Fähigkeiten nur noch hinzukämen. Vielmehr sind alle unsere Bewegungen und Wahrnehmungen anders. Statt einer »Erbmotorik« handelt es sich beim Menschen um eine »Erwerbmotorik« (Storch 1948). Ebenso haben unsere Wahrnehmungen eine ganz untierische, offene Struktur, wir haben eine unvergleichliche Weltund Innenweltfülle und einen ebenso unvergleichlichen Spielraum der Antwortreaktionen. Sicher, auch Tiere können neue Bewegungen lernen, sind erfinderisch, können sich mit Stöckchen etwas holen. Aber nur, wenn sie einen »Appetit« dazu haben (Lorenz 1937: 295 u.ö.). Ihnen sind bestimmte Verhaltensweisen nur möglich, wenn auch die Auslösesituationen da sind. Menschen hingegen können etwas lernen und wissen wollen, ohne dass es einem unmittelbaren Anlass entspricht. Ihr Handeln ist »entlastet« von den drängenden instinktiven Antrieben, vom »Druck biologischer Bedürfnisse erster Hand« und vom Zwang der »›Prämiensituationen‹« (M: 27) – dafür aber auch ständig angetrieben. Plessner sprach auch in diesem Sinn von »exzentrischer Positionalität«, dem Außer-Sich-Sein in affektiver Hinsicht. Im Vergleich noch zum menschenähnlichsten Tier hat das einige Plausibilität. Auch Wolfgang Köhler hatte seine 53
Intelligenzprüfungen an Anthropoiden 1917 mit diesem Ergebnis publiziert: »Der Affe, der plötzlich hierhin, dann dorthin springt, lebt sozusagen in lauter punktuellen Ekstasen«, er kommt immer woanders an, als er ursprünglich will. Nur im Menschen gibt es ein Wollen und damit eine Selbst-Fixierung (zitiert in Scheler 1976: 35). Und dies zunehmend. Es ist ein Prozess, eine steigende Affektund Selbstbeherrschung, die Gehlen vor Augen stellt, ein Prozess nach ›oben‹, der aber auch scheitern kann; ein Prozess, der – als anthropologischer – das gesamte soziokulturelle Leben durchzieht. So ist selbst die ganze Wissenschaftsgeschichte als »Geschichte sehr mühsamer innerer Askesen« (M: 29) rekonstruierbar. Gehlen denkt hier, in der Wissenschaft, konkret an das Verhalten des Pathologen gegenüber der Leiche: als Bekämpfung des Affekts der Furcht vor dem Tod. Ebenso erscheinen dann die Militärgeschichte oder die der Landwirtschaft und Viehzucht, also der Indienstnahme der Natur, als Prozesse der Askese (wie man unten sehen wird). Um die Besonderheiten des Menschen vollständig zu sehen, ist nun zunächst ein sorgfältiger, biologisch gut informierter Vergleich nötig. Gehlen interessiert sich – wie erwähnt – nicht für die tierische und menschliche Lebensform insgesamt (wie Bergson, Scheler und Plessner); er setzt bei einem speziellen Tier an. Und dies wiederum nicht (was auch möglich wäre) bei den Antipoden des Menschen. Gehlen interessiert sich für das menschenähnlichste Tier. Im Gegensatz also zu den Beispielen von Uexkülls (den Amöben, Infusorien, Schleimpilzen); im Gegensatz zu den Tintenfischen Vilem Flussers und Wolfgang Eßbachs26; im Gegensatz zum Axolotl, einem mexikanischen Lurch, der in seiner bleiben26 Der Tintenfisch verrät einiges über den Menschen. Es »handelt sich um eine Lebensform, die evolutionstheoretisch aufgefaßt schon ganz früh eine biologische Entwicklung eingeschlagen hat, die der Entwicklung von Säugetieren antipodal gegenübersteht […]. Das biologisch Befremdliche, aber darum auch hoch Informative entsteht aus dieser uns strikt entgegengesetzten Evolution. Um nur Beispiele zu nennen: die Sinnesorgane wanderten nach unten an die Bewegungsorgane. Zirkulation und Atmung sind grotesk. Das Tier kennt zahlreiche Mechano-Perzeptoren, Chemo-Perzeptoren und eine ausdifferenzierte Organvielfalt. Das Tier hat Augen an den Armen. Das Sexualleben ist bemerkenswert« (Eßbach 2005: 83f.).
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den Jugendhaftigkeit, seiner permanenten Pubertät spannend ist, interessiert sich Gehlen für die Differenz von Affe und Mensch (vor allem in der Entwicklung von Affen- und Menschenbaby). Beobachtet wird, wer was wann nicht kann, in welchem Rhythmus und mit welchen Charakteristiken die Entwicklung je verläuft, mit welcher je spezifischen Stellung von Körper, Gesicht, Fuß und Hand. Verschiedene Biologen liefern zu dieser These der Spezifik des Menschen in morphologischer, rezeptorischer und verhaltenstheoretischer Hinsicht das empirische Wissen: Konrad Lorenz, Louis Bolk, Adolf Portmann, Otto Storch, Serge Frechkop, Jakob von Uexküll. Hinzu kommt der Mediziner Paul Alsberg, ein ›Schüler‹ Schopenhauers, welcher seinerseits bereits von einer Verdrängung der Triebe und Affekte sprach. Mit den von diesen Autoren entdeckten morphologischen und physiologischen Eigentümlichkeiten ist stets zugleich ein Prozess angenommen, eine Entdifferenzierung von einem hoch spezialisierten in einen weniger spezialisierten Zustand. Gehlen hat durchaus also eine Evolutionsthese: verstanden als Antwort auf die Frage, wie sich der Mensch zum Menschen machte. Diese biologischen Autoren sind sich im Übrigen in der Frage, wie der Prozess zu beschreiben ist, durchaus uneinig. Sie kommen allerdings zum selben entscheidenden Ergebnis: der organischen und funktionalen Unspezialisiertheit des Menschen im Vergleich zum Tier. Louis Bolk einerseits nimmt eine Sonderentwicklung der Organproportionen beim Menschen infolge einer hormonellen Entwicklungshemmung an. Bei der ontogenetischen Entwicklung des Menschen handelt es sich um »permanent gewordene fötale Zustände«: Diejenigen »Formverhältnisse, welche beim Fetus der übrigen Primaten vorübergehend sind, sind beim Menschen stabilisiert«. Der Mensch ist in körperlicher Hinsicht ein »zur Geschlechtsreife gelangte[r] Primatenfetus« (Bolk 1926: 7f.; M: 113-139). Dies führt Bolk auf eine hormonelle Hemmung zurück, auf Verzögerungen im Wachstums- und Stoffwechselprozess (»Retardation«), deren Folge die morphologische »Fetalisierung«, die Unfertigkeit der Organe sei (vom Gebiss über die Behaarung zur nicht geschlossenen Schädelnaht). Kein Tier hat eine dermaßen lange Reife- und Blütezeit und 27 ein so langes Alter. Man kann sich hier an den Axolotl erinnern, 27 Lev S. Berg hat ähnliches beobachtet und statt von Retardierung von
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der sich durch eine »Neotenie« auszeichnet, ein Verharren im Jugendzustand, das mit der erstaunlichen Fähigkeit einhergeht, Orga28 ne zu regenerieren. Ganz so ist es beim Menschen nicht, aber das Prinzip ist dasselbe: die Verzögerung von Wachstumsprozessen führt zu besonderen Fähigkeiten. Bolk hatte in dieser Annahme im Übrigen explizit – gegen die Darwinisten – von einer eigenständigen evolutiven Reihe des Menschen gesprochen und einen neuen Evolutionsfaktor eingebracht: die Entwicklungshemmung, die keine Eigenschaft gewesen sein könne, welche sich durch Anpassung und Auslese vollzog. Im Blick auf den Menschen sei daher eine spezielle Evolutionstheorie erforderlich. Serge Frechkop andererseits vermutet keine spätere Entwicklungshemmung, sondern ein anfängliches Zurückbleiben des Menschen gegenüber den immer weiter verlaufenden Spezialisierungen der Tiere. Ursprünglich seien auch die Affen zweifüßig gewesen. Während sich diese spezialisiert hätten, sei der menschliche Fuß ›primitiv‹ geblieben. Frechkop spricht von einer »ursprünglichen Bipedalität«. Ähnlich versteht er auch den im Vergleich zum Körper außergewöhnlich großen Schädel, der sich beim Affen zugunsten der Gewandtheit verkleinert habe (Frechkop 1936; M: 111f.). Konrad Lorenz hatte gegen die These des unspezialisierten Wesens eingewandt, dass man es auch beim Menschen mit einem sehr wohl spezialisierten Tier zu tun habe, eben mit einem Tier, das sich auf das Nicht-Spezialisiertsein spezialisiert habe. Das wäre eine lediglich scholastische Unterscheidung, hätte Lorenz nicht die Wanderratte neben den Mensch gestellt, welcher dasselbe »aktive Erarbeiten einer individuellen Umwelt durch aktive, neugierige Forschung« zuzusprechen sei (Lorenz 1967: 177); auch könnten die Ratten schlechter schwimmen, klettern, graben und laufen als andere Tiere. Wichtiger als diese Einwände (die für einer Präzession gesprochen: Einige Lebensalter dehnen sich aus, v.a. die Jugendphase (nach Blumenberg 2006: 573). 28 Julius Kollmann hatte den Axolotl und andere Amphibien im WasserLand-Übergang beobachtet, im scheinbar beliebigen Wechsel von »Landkleid« und »Fischkleid«: Wenn es die Umstände erzwingen, sind die Tiere »gar nicht mehr so begierig, terrestrisch zu werden, sie halten ihre jugendliche Form fest«, was Kollmann als Neotenie bezeichnet (1884: 268).
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Gehlen Kategorienfehler sind) ist die Korrektur der negativen Begriffe: »Während Gehlen den Menschen das ›Mängelwesen‹ nennt […], möchte ich den Kernpunkt derselben Erscheinung in der Vielseitigkeit derartiger unspezialisierter Wesen sehen, zumal man ja auch das gewaltige Menschen-Hirn« nicht vergessen dürfe (ebd.). Nun kann auch Lorenz nicht umhin, die Kultur des Menschen zu bemerken. Auch für den Biologen ist der Mensch das »einzigartig ›unfertige Wesen‹, das sich in einer »ununterbrochenen Serie von ›Häutungen‹« befindet (ebd.: 186). Gleichgültig also, wie das Resultat zustande gekommen ist und ob man vom gehirnspezialisierten Tier oder vom natürlich artifiziellen Wesen spricht, an der Tatsache des spezifisch menschlichen Organismus ändert das wenig. Gegenüber dem Biologen aber, der in Domestikationen nur einen Verfall sehen kann, betont der Anthropologe, der Mensch züchte sich durch seine Institutionen herauf. Also muss es heißen: »zurück zur Kultur« statt zur Natur (Gehlen 1983d: 132f.). Vom relativ großen Schädel geht auch Adolf Portmann aus, wobei er sich auf die Ontogenese, die Entwicklung des Individuums konzentriert: Im Vergleich zu allen Tieren ist der Mensch mit seiner langen Hilfsbedürftigkeit und Sozialisationsphase der »sekundäre Nesthocker«, die »normalisierte Frühgeburt«, da der Neuankömmling erst ein Jahr nach seiner Geburt den Zustand erreicht, den ein »seiner Art entsprechendes echtes Säugetier zur Zeit seiner Geburt« erreicht hat (Portmann 1944: 45).29 Dieses »etxra-uterine Frühjahr« führt Gehlen nun dazu, die Plastizität und Weltoffenheit des Menschen bereits und gerade im ersten Lebensjahr zu verfolgen: Hier geht es um die Verarbeitung der »einströmenden Erlebnisse unzählbarer Reizquellen«, wie sie im Uterus nicht gegeben wären, und um die gleichzeitige Übung des aufrechten Ganges, der Koordination der Bewegungen, der Ausdrucksfähigkeit und Sinneswahrnehmungen. All dies geschieht jahrelang behütet und entlastet, spielerisch. Portmann hebt zudem auf den Aufbau der Distanz ab. Es gibt eine Sonderstellung im senso-motorischen Bereich, die bereits in der »Embryologie des Menschen sozusagen ›vorberücksichtigt‹« ist: Die Umwelt-Kontakte sind hier »sensorisch und motorisch auf ein 29 Daran hat Dieter Claessens in Verbindung von Gehlen und Elias seine Theorie der Soziogenese angeschlossen (1970).
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Minimum zurückgebildet«, der Druck der Sofortreaktion entfällt, es gibt in diesem Lebewesen dank der Sozialität einen ›Leerraum‹, in den Phantasie und Überlegung einspringen (M: 45ff.). Auch Paul Alsberg erlaubt Gehlen eine solche Theorie der DefizitAusstattung im Sinne von Distanzierung, von »Körperausschaltung« (Alsberg 1922), nun nicht im Blick auf die Soziogenese, sondern auf die Körper-Artefakt-Symbiose. Der Mensch stellt Artefakte zwischen sich und die Beute. Auch die Sprache ist eine Körperausschaltung, sie schafft Distanz zur Umwelt.30 Die fehlende selektive Umwelt, die Öffnung zur übervollen Welt korreliert also mit der Einschiebung eines Hiatus zwischen Lebewesen und Welt. Gehlen setzt in der These der Instinkt-, Organspezialisierungs- und Richtungsarmut damit zugleich eine Aufschiebefigur an. Ähnlich beobachtete bereits Bergson im menschlichen Leben die bemerkenswerte Fähigkeit zu warten. Der Nexus zwischen Reiz und Reaktion ist in diesem Lebewesen aufgebrochen. Die Zahl der möglichen Bewegungen, die »Zahl der Abschnellungen«, zwischen denen es die Wahl hat, ist tendenziell unbegrenzt. Dies ist gegenüber der tierischen Lebensform »kein Unterschied des Grades, sondern des Wesens« (Bergson 1912: 267). Plessner wiederum ging von einer Aufgebrochenheit in der Relation von Organismus und Umwelt aus. Grundlegend gibt es einen Bruch zur Umwelt für ihn zwar bereits in jedem Organismus, sofern alle lebendigen Dinge ihre Körpergrenzen aufrechterhalten müssen. Im Menschen verdoppelt sich dies aber. »In doppelter Distanz zum eigenen Körper, d.h. noch vom […] Innenleben, abgehoben, befindet sich der Mensch in einer Welt, die […] Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt ist […]. In der Distanz zu ihm selber ist sich das Lebewesen als Innenwelt gegeben« (Plessner 1975: 293f.).
30 Wolfang Harich hatte Gehlen im Blick auf Alsbergs These der Körperausschaltung ein Plagiat vorgeworfen; Gehlens Werk ist allerdings weit elaborierter als das von Alsberg. Dieter Claessens und Hans Blumenberg haben den Distanz-Theoretiker Alsberg wieder entdeckt, wobei auch Blumenberg nicht an einer Gehlen-Verkürzung vorbeikommt: Bei Gehlen sei der Mensch zuerst das Mängelwesen, das seine Mängel dann kompensiere; bei Alsberg werde er dazu erst in der technischen Körperausschaltung, mit dem Wurfgeschoss (Blumenberg 2006: 589).
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Auch für Gehlen ist die Distanz zentral, der Hiatus, die Suspension. Dies betrifft noch die Stellung zur eigenen ›Innenwelt‹. Man hat es mit einer Situation zu tun, in der Innenleben und Handlungen offen sind. Dieses Lebewesen hat keine vorgegebenen Reaktionen, so dass überhaupt ein Spielraum für das Kognitive entsteht. Zugleich ist es belastet durch die Notwendigkeit, sich ständig entscheiden zu müssen: davon muss es sich wiederum entlasten. Mit der Kategorie der Entlastung ist neben der Handlung die Schlüsselkategorie und -stelle der Argumentation erreicht. Es geht um das eigentätige Umschlagen der Belastungen, des Instinkt- und Spezialisierungsmangels in Chancen. Gehlen beobachtet mit diesem Theorem (einem der »wenigen wirklich originellen Begriffsbildungen in den Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts«, so Sloterdijk 2004: 707) die fortschreitende Indirektheit des menschlichen Verhaltens, den zunehmend herausgesetzten, immer feineren, freieren und variableren Kontakt zur Welt. Zwischen die Handlung und das Ziel schieben sich als Zwischenstücke Instrumente, die nun selbst zum Objekt des Interesses werden. Das Interesse ist entlastet vom Situationsdruck. Nicht den direkten Gebrauch eines Werkzeugs, sondern die »Herstellung eines Werkzeugs für einen fernen Zweck« hält Gehlen daher auch für die ›eigentliche‹ menschliche Aktivität (M: 68), der es ja keineswegs ständig um unmittelbar existentielle Handlungen geht. Der Begriff der Entlastung reicht andererseits bis in die Phänomene der Weltanschauung und der Religion. Hier, wo es um soziokulturelle Tatsachen geht, bezeichnet Gehlen nun selbst den Begriff der Entlastung als seine Hauptidee: Der Kniff ist, dass die relativen Defizite in Existenzmittel umgewandelt werden, und »zwar so, daß jede Phase seines Verhaltens Motive zum Ansatz eines nächsthöheren freigibt, womit das Verhalten zunehmend indirekt, symbolisch, zunehmend ›frei‹ von der Unmittelbarkeit, aber gerade dadurch führend und umsichtig wird« (M: 743). Es geht um die zunehmende Selbststeigerung dieses Lebewesens, das dank seiner Kultur immer mehr Bedürfnisse in die »Hintergrundserfüllung« (US: Kap. 12) schiebt und Spielraum für Neues hat. Woher kommen die Energien dazu, woher erklärt sich der Zug zum Neuen? Hier ist auf den Vitalismus Gehlens zurückzukommen. In seiner philosophischen und auch in seiner soziologischen Anthropologie steckt überall der Gedanke des 59
»mehr Lebens« (M: 379) – auch wenn er oft implizit bleibt, verdeckt durch den kulturkritischen Zug, das Begehren nach Ordnung. Nietzsche, Bergson und Freud sind Gehlen hier sehr nahe, in der Annahme überschüssiger, nicht in der Nützlichkeit und unmittelbaren Lebensfristung aufgehender Energien. Gehlen reserviert diese These nun für den Menschen gegenüber jenen, die einen Energieüberschuss auch im Tier sehen und ein Mehr-alsLeben als Grundprinzip des Lebens schlechthin annehmen. Diese Idee einer nicht kalkulierten, nicht rationalistisch erklärbaren Potenzialisierung des Menschen, die sich aus vitalen Energien speist, ist diejenige, die Gehlen unter den soziologischen Autoren zu einem der wenigen ›Lebenssoziologen‹ macht. Man müsse, so Gehlen, die Überschüssigkeit an Antrieben als die Innenseite dieses und nur dieses Wesens verstehen, denn »tierische Triebe sind ja wohl bezogen auf spezialisierte Organeigenheiten und damit auf bestimmte Umweltausschnitte. Ein unspezialisiertes, weltoffenes Wesen wie der Mensch dagegen ist nur existenzfähig als entdeckend, ausnutzend, umarbeitend – also im intelligenten Handeln. Wie muss die Antriebsstruktur eines solchen Wesens aussehen? Ich glaube, die Triebe müssen dann weitgehend unbestimmt, plastisch und verlagerungsfähig, also orientierbar an Erfahrungen und Sachverhalten sein, selbst weltoffen, aber variabel […]. Vor allem aber müssen sie überhaupt eine Qualität des ›Überschüssigen‹ haben« (Gehlen 1938). Das gesamte Antriebsleben ist ›auf Dauer gestellt‹: Es ist chronisch überschüssig, ständig wach, nicht zuletzt das sexuelle. »Wenigstens vom Gorilla habe ich gelesen«, dass er gegenüber dem Menschen eine »sehr minimale Sexualität« habe (ebd.). Scheinbar auf der ganz anderen Seite des Menschen liegt die Sprache. Aber da hier alles mit allem zusammenhängt, ist es von der Sublimierbarkeit der sexuellen Antriebe und ihrer Überschüssigkeit zur Sprache nicht weit. Die Theorie der Sprache hat einen engen Bezug zur Institutionentheorie (auch bei Durkheim gilt sie ja als ein Paradigma des Institutionellen, der sozialen Einrichtung, die dem Einzelnen vorhergeht). Sie steht zugleich in enger Verbindung mit den elementaren, auf Entlastung und Leistungssteigerung angelegten physiologischen Kreisprozessen und ist ein wichtiger, für viele sogar der zentrale Teil von Der Mensch: der »Kern seiner gesamten 60
31 Kulturtheorie« (Rehberg 1990a: 283). Hier zeigt sich erneut, wie Gehlens Denkweise insgesamt funktioniert. Zu denken ist die Verschränkung von Belastungen und daraus erreichten Fähigkeiten in Art einer Osmose, einer sukzessiven Steigerung der letzteren. Die Sprache ist deshalb so zentral, weil sich in ihr die »Richtung auf Entlastung vom Druck des Hier und Jetzt, von der Reaktion auf das zufällig Vorhandene« vollendet. In der Sprache »gipfeln die Erfahrungsprozesse der Kommunikation, wird die Weltoffenheit zureichend und produktiv bewältigt und eine Unendlichkeit von Handlungsentwürfen und Plänen möglich. In ihr schließt sich alle Verständigung zwischen Menschen in der Gleichrichtung auf […] eine gemeinsame Zukunft« (M: 52). Ausgangspunkt ist das »Überraschungsfeld« der Wahrnehmung, das es zu reduzieren, vertraut zu machen, zu ordnen gilt (M: 149). Dies passiert im Handeln. Gehlen kann sich hier auf die Erkenntnistheorie des Pragmatismus wie auf die Bergsons berufen: »Unsere Wahrnehmung ist, wenn sie rein ist, wirklich ein Bestandteil der Dinge selbst«, sie entspricht im Handeln ganz »unserer möglichen Wirkung auf die Dinge« (Bergson 1991: 52, 43). Die Bilder, die wir uns von der Welt machen, korrelieren also mit unserer Aktivität. Diese Theorie der Wirklichkeit widerspricht dem kontemplativen Wahrnehmungsbegriff der klassischen Philosophie. Gehlen bringt nun für die aktive Tätigkeit von Wahrnehmung-Bewegung seinerseits die »Bewegungsphantasie« ein: Wo Bergson vom Bild, der Imagination spricht, steht die in der Phantasie vorausgeführte Bewegung der Gliedmaßen. Wir »können nicht nur jede beliebige Stelle des eigenen Körpers berühren, sondern jede beliebige Bewegung jeder anderen zuordnen« (M: 149f.). Die eigentümliche Plastizität der menschlichen Bewegung ist in der Sprache also erneut zentral; ebenso die Tatsache des Vor-Sehens und der Zurückempfindung. Die »Lautbewegungen« (M: 49) der Zunge werden im selben Moment wahrgenommen, wie sie aktiviert werden, so dass
31 So auch Hartmann (1958: 382), für den die Sprachtheorie »in gewissem Sinne das Zentralstück« des Werkes ist. Fischer (2008a: 168) unterscheidet diese Theorie der Sprache als »Zentrum von Gehlens Werk« vom Theorieprogramm des linguistic turn, in dem der Mensch allein von der Sprache her erklärt wird.
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32 ein Biofeedback entsteht, welches Steuerung und Steigerung ermöglicht. Was Gehlen zunächst im Gehenlernen beobachtet hatte, besteht also auch im »Sprech-Hör-System« und der »Seh-Tast-Kooperation« (M: 153–157): der Kreisprozess. Dass die eigenen Laute wahrgenommen werden, ist freilich auch bei den mit Zentralnervensystem ausgestatteten Tieren der Fall. Auch sie hören sich selbst und können ihre Bewegungen sehen. Allerdings sind eben die menschlichen Bewegungen äußerst variabel, weil ihnen keine Figuren vorgegeben sind; und dies gilt auch für die Bewegungen der Zunge. Weil es keine Vorgaben hat, kann dieses Lebewesen virtuelle Handlungen vollziehen. So entsteht der distanzierte Kontakt mit der Welt, das spielerische Antasten der Dinge unter der allmählichen Führung der Fernsinne, vor allem des Auges; und zwar zunächst einfach so, einfach um Bewegungen zu wiederholen, mit einer unter Umständen geradezu »vitalen Unzweckmäßigkeit« – etwa, wenn sogar schmerzhafte Bewegungen vom Kleinkind um der Wiederholung willen wiederholt werden (M: 154). Die derart zunächst ertasteten Eigenschaften der Dinge (und das, was man mit ihnen machen kann) werden zunehmend in den Sehsinn übernommen, mitgesehen, oder, wie Gehlen sagt, »höher« gelegt (vgl. M: 204f.). Gehlen klassifiziert in einem berühmten Teil von Der Mensch mehrere »Wurzeln« der Sprache. Hier geht es erneut darum, die motorische Seite mit zu betrachten, Laute also als Bewegungen zu verstehen. Es geht zudem darum, mehrere Leistungen der Sprache zu sehen: Mitteilung, Darstellung, Selbst- und Dingkontakt. Die ›Wurzeln‹ der Sprache – die motorisch-sensorischen Bewegungen zu Beginn der kindlichen Entwicklung, die zum symbolisch vermittelten, entlasteten Kontakt mit der Welt führen –, sind: (1) das »Leben des Lautes« (das Nach-Plappern eigener und fremder Laute und deren Modulation, einfach, um sich selbst zu hören); (2) die »Offenheit« (die Freude am Sehen, als Öffnung des Selbst nach außen), (3) das »Wiedererkennen« (Lautbewegungen und zunehmend imaginäre Bewegungen an Stelle motorischer ReizReaktionen); (4) die Lust am »Spiel« mit der Welt (ihre aufgabenlo-
32 Dieses kybernetische Denken wird parallel bei Viktor von Weizsäcker und Alfred Prinz Auersperg entfaltet, in Auseinandersetzung mit dem Funktionskreis Jakob von Uexkülls (von Weizsäcker 1940).
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33 se Erschließung, das Sichentfalten ) und der Übergang zum »Ruf« (die Orientierung der zunächst offenen, unbestimmten Begehren im ›Ruf‹ nach dem Anderen). Das Zentrum der Argumentation ist dabei die Ausweitung dessen, was ›Sprache‹ heißt, sowie deren Verankerung in den motorischen Aktivitäten. Gehlen nennt bereits den spielerischen Kontakt mit Dingen ›Kommunikation‹, wobei er sich auf Dewey34 und Mead (und Scheler) stützen kann. Die Grundstruktur der Erfahrung ist für diese überhaupt kommunikativ. Ontogenetisch, in der Entwicklung des Einzelnen grundlegend ist das »Handeln auf ein Du« hin – gleichgültig, wer oder was der Kommunikationspartner ist. Zunächst ist für das Kind nämlich alles lebendig (M: 191, 217). Diese aktive Erfahrung von Dingen ist »sprachmäßig«, sofern sowohl ein Verlangen nach Information vorliegt als auch die Erfahrung eines Widerstandes; und sofern im Antasten und »Anplappern« (M: 228) der Dinge die eigene Kommunikationsofferte zurückempfunden wird. Das Ding erhält so einen objektiven Charakter und kann später, einmal verstanden, als ›erledigt‹ (M: 203ff.), als schon bekannt gelten, so dass man sich auf die Suche nach neuen Erfahrungen macht. Das spiralförmige »Aufbaugesetz« (M: 48) des sensomotorischen Verhaltens gilt für die Sprache und alle anderen kognitiven Leistungen (Intelligenz, Denken, Selbstbewusstsein): Sie basieren auf den körperlichen Eigenschaften dieses merkwürdigen Wesens. Und gerade an der Sprache zeigt sich die Untrennbarkeit des Geistigen vom Physischen. Der eingebaute physiologischkognitive Reflexionszirkel ist die Voraussetzung von nicht weniger als der »inneren Welt«: Gewissen, Ichgefühl, Selbst (M: 43f.). Aufgrund der Stellung der Augen (die Frontalität des Gesichts), der Finger (die Gegenüberstellung des Daumens) und Füße (die Zweifüßigkeit und die aufrechte Haltung) kann man sich selbst betasten und sehen. Für Gehlen ist dies die Voraussetzung für die
33 Hier ist für Gehlen v.a. Mead wichtig. Vgl. M: 242f. 34 Dewey betont im Übrigen wie Gehlen die Aufgaben des Menschen, die Selbstkultivierungsfähigkeit und -pflicht, und dies in einer Theorie der Demokratie. Es gibt »Kräfte im Menschen und nicht bloß außer ihm«, und diese zu gestalten, ist ein »baumeisterliches Problem«, nämlich eines der »Kunst der Erziehung und der sozialen Führung« (Dewey 1931: 10f.).
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angesprochene Bewegungsfantasie: die Fähigkeit, Bewegungen virtuell zu vollziehen. Hier stützt sich Gehlen auf Melchior Palagyi, der die Phantasie als vitale Fähigkeit verstanden hatte, als die bemerkenswerte Möglichkeit eines Lebewesens, sich aus dem »Orts- und Zeitpunkt, den es gerade innehat, weg- und außer sich« zu versetzen, und zwar, ohne dabei »von der Stelle zu weichen« (M: 374, Palagyi 1924: 94). Auch Palagyi hatte von Kreisprozessen gesprochen und dies als die Eigentümlichkeit des Lebendigen betont. In der Beschreibung der reflexiven Sensomotorik des Menschen in ihrem Bezug zur Sprache spielt zudem Meads Theorie der signifikanten Geste eine zentrale Rolle. Gehlen betont stets erneut Meads Fund: dass die Zeichenhandlungen in mir selbst dieselbe Bedeutung hervorrufen wie im Anderen und damit zu signifikanten Gesten werden, zu allgemein geteilten Zeichen, die virtuell bereits das Durchspielen von Reaktionen, Erwartungen und Erwartungserwartungen erlauben. Allerdings, »Mead hat die enormen Konsequenzen dieser genialen Einsicht nicht erschöpft« (M: 375): die Tatsache, dass der Mensch ein Selbstverhältnis stets nur indirekt (über Andere oder Anderes) gewinnt. Daran wird Gehlens Theorie der Institutionen, seine soziologische Theorie, anknüpfen. Warum bedarf es, anthropo-biologisch, überhaupt der Sprache? Gehlen weiß sich hier wie in Vielem vor allem mit Scheler einig, trotz mancher Kritik.35 Im Gegensatz zum umweltgebundenen Tier ist der Mensch eben »weltoffen«: ein Ausdruck, den Scheler in Bezug auf von Uexküll benutzte, wenn er ausführt, dass der Mensch das »X« sei, das »sich in unbegrenztem Sinne ›weltoffen‹« verhalte (Scheler 1976: 33). Weltoffen ist es, insofern dieses Lebewesen einer »untierischen Reizüberflutung«, einer »›unzweckmäßigen‹ Fülle einströmender Eindrücke« unterliegt. Diese hat es »irgendwie zu bewältigen« (M: 35). Der Mensch ist mit anderen Worten (denen Luhmanns) angewiesen auf die ›Reduktion der Komplexität‹ der Welt. Dies funktioniert nur in der »Herabsetzung 35 Mehr noch, »alle gleichzeitigen und späteren Schriften zur Philosophischen Anthropologie, die irgendeinen Rang haben, hingen in den Hauptpunkten von [Scheler] ab, und so wird es bleiben« (Gehlen 1983i: 258). Demgegenüber hat Gehlen die zeitgleiche, kongeniale, weiter ausgearbeitete Schrift Plessners oft verschwiegen. Vgl. Rehberg (1994c), Fischer (2008a: 217f.).
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des unmittelbaren Kontakts« zur Welt (M: 38), in der bereits angesprochenen Distanz. Es ist Aufgabe der Fernsinne, vor allem aber der Sprache. Die Welt wird eben benannt, in Dinge eingeteilt, die ihre Qualitäten haben, und dies, bis alles Gesehene prinzipiell bekannt, eingestuft und »erledigt« ist (M: 39). Man muss nicht mehr alles erst erfühlen und betasten, so dass die Hände und Gedanken frei sind für die eigentlich wichtigen Aufgaben. Dazu bedarf es des aufrechten Gangs. Er ermöglicht und bedingt erst diese spezifische Optik, die zu einem homogenen Raum führt: zur ›Welt‹. Da die Trieberwartungen des menschlichen Lebewesens stets größer sind als deren Erfüllung, wird diese ›Welt‹, so Scheler, mit Leere gefüllt: Der leere Raum wird zum Grund der Wahrnehmung. Damit verbunden sind die Entdeckung der »Weltkontingenz« (ihres auch-anders-möglich-Seins) und die entsprechende Anpassung der Welt an sich (ihre Bevölkerung etwa mit ›Wesen‹ verschiedenster Art) sowie die Bildung eines ›Selbst‹ (Scheler 1976: 32, 69). Im Gegensatz dazu steht die ebenso vertikale wie horizontale Lebensweise des Schimpansen (sein Umherspringen auf den Bäumen), wie Köhler beobachtet hatte: Dessen Fortbewegungsweise ist der Ausbildung einer statischen Welt »geradezu hinderlich«. Erst die konstant aufrechte Haltung ermöglicht eine »feste Orientierung des Sehraumes« (Köhler 1921: 117). Zudem haben Schimpansen offenbar einen sehr engen Horizont ihrer Interessen, sie sind ganz vom »Gegenwartsinteresse in Anspruch genommen« (ebd.: 197). Affen sind instinktgebunden. Sie leben in einer unmittelbaren »Einheit von Vor-Wissen und Handlung«, in Zuständen, in denen nie »mehr Wissen vorhanden ist, als in die Handlung eingeht« (Scheler 1976: 21). Auch dies ist beim Menschen anders. Die »Trennbarkeit von Funktions- und Zustandslust« nimmt hier die »ungeheuerlichsten Formen an, so daß man mit Recht gesagt habe, der Mensch könne immer mehr oder weniger als ein Tier sein«, niemals aber ein Tier (ebd.). Der Mensch ist im Verhältnis zum Tier der »ewige ›Faust‹, die bestia cupidissima rerum novarum«, das neugierige wilde Tier (ebd.: 45). Die sprachliche Bewältigung der Eindrucksfülle ist nun, worauf Gehlen den Akzent legt, stets eine Vereinseitigung, eine Kanalisierung in eine Richtung. Dies ist kulturell und historisch höchst divergent, wie sich in Urmensch und Spätkultur zeigen wird. Man denke an die Beschreibung des Wissens bei Lévi-Strauss, an die 65
ungeheure Mannigfaltigkeit der Tiere und Pflanzen in den totemistischen Gesellschaften, die komplizierteste Klassifikationen aufstellen und sich auch für jene Pflanzen interessieren, die »ihnen nicht unmittelbar nützlich sind«, einfach weil sie »eine besondere Beziehung zu Tieren und Insekten haben« (Lévi-Strauss 1973: 15). Kanalisiert, kultiviert werden nicht nur Wahrnehmungen und entsprechend die Klassifikationen der Welt, sondern auch die eigenen Bewegungen. Marcel Mauss hat einige der kulturell höchst divergenten »Techniken des Körpers« beschrieben: etwa die Unterschiede im Marschieren, Gehen, Laufen, Schwimmen. In allen diesen Elementen der »Kunst, sich des Körpers zu bedienen«, dominieren die »Einflüsse der Erziehung« (Mauss 1989: 203), womit Mauss auf seine Weise die Tatsache der Erwerbmotorik in den Blick nimmt. Man muss in Bezug auf den Menschen auch daher stets eine anthropo-biologische und eine anthropo-soziologische Sicht einnehmen. Zunächst aber, in diesem ersten Hauptwerk, ist der individuell modellierte »kleine Mensch« (M: 151) Ausgangspunkt, in der Frage, welche Aktivitäten der Neuankömmling lernen und entfalten muss, um sich von dem (vorausgesetzten) Durcheinander der Reize zu befreien. Man kann hier an die Idee des anfänglichen Chaos bei Jacques Lacan denken – dem Kind erscheint nicht nur die Welt als chaotisch, sondern auch noch der eigene Körper, wie in den Bildern von Hieronymus Bosch. Auch Lacan hat sich dabei auf von Uexküll bezogen und für den Menschen den Bruch zwischen Umwelt und Innenwelt als Ursache dieser Startschwierigkeiten angenommen. Die »Beziehung zur Natur ist bei Menschen gestört durch ein gewisses Aufspringen des Organismus in seinem Inneren […], die sich durch die Zeichen von Unbehagen und motorischer Inkoordination in den ersten Monaten des Neugeborenen verrät […], was wir als Gegebenheiten einer tatsächlichen, spezifischen Vorzeitigkeit der menschlichen Geburt formulieren […], so bringt der Bruch des Kreises von der Innenwelt zur Umwelt die unerschöpfliche Quadratur der IchPrüfungen hervor« (Lacan 1975: 66f.).36 36 Jaques Lacan ist ebenfalls von Köhlers Intelligenzprüfungen an Menschenaffen ausgegangen sowie von den Forschungen James M. Baldwins zur kindlichen Nachahmung von Bewegungen, auf die sich Gehlen seinerseits stützt.
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In jedem Fall ist der ganze Mensch zu betrachten, nicht nur die Gehirnstruktur. Dies stellt die Philosophische Anthropologie in den fruchtbaren Gegensatz zu aktuellen Debatten. Sicher ist die Betrachtung des Gehirns gewinnbringend, erhält es doch am meisten Energie, wird ständig durchblutet und erregt, so dass ein »mächtiger Phantasieüberschuß […] als durchaus ursprünglich anzusehen« sei (Scheler 1976: 61). Was das menschliche Lebewesen vom Tier trennt, ist aber alles. Auf der Außenseite stehen, um es zu rekapitulieren: die Körperausschaltung, die Unspezialisiertheit, Plastizität, Reflexivität; auf der Innenseite die kognitiven, emotiven, affektiven Aktivitäten, mit den Wahrnehmungen und Bewegungen eng verknüpft, die Überschüssigkeit der Begehren und Affekte. Die Andersartigkeit (anstelle des Mangels) ist derart durchgängig. Und man muss nicht nur alle Aspekte berücksichtigen, sondern sie aus jenem einen Punkt entfalten, in den sie zusammenlaufen: der Aktivität eines Lebewesens. Dies geht ohne die herkömmliche Philosophie, wie Gehlen meint. Die »einfache empirische Erforschung der ›Tatsachen‹« sei tragfähig genug für eine ganze Wissenschaft vom Menschen. Wie schon Novalis gesagt habe: »Tätigkeit ist die eigentliche Realität«, und der Mensch ist das »handelnde, vorsehende, nicht festgestellte Wesen, das sich selbst noch Aufgabe ist« (M: 743). Weil die Symbiose von Körper und soziokultureller Aktivität derart eng ist, könnte Gehlen auch mit Spinoza sagen, es habe bisher noch niemand genau bestimmt, »was der Körper kann« (Spinoza 1999: 229). In der Tat unterscheidet sich dieser Denkansatz vom Cartesianismus der Philosophie und vom Naturalismus der Biologie – wobei man stets erneut darauf aufmerksam machen muss, dass es bei der Betrachtung des Lebewesens Mensch nicht um Reduktionen (der Kultur auf das Überleben, die Reproduktion) geht, sondern um ein stets mitzudenkendes Fundament, welches die ›höheren‹ Leistungen ermöglicht, die gleichwohl ihre Eigendynamik entfalten. Diese Denkfigur wird auch die Institutionentheorie Gehlens leiten. Am Schnittpunkt von Mensch und Urmensch und Spätkultur stehen Fragen, die über diesen Ansatz hinausweisen und den zweiten, soziologischen Anlauf nötig machen. Zunächst weist die biologische Betrachtungsweise (die Frage, wie ein so ausgestattetes Wesen lebt) notwendig über sich hinaus auf Phänomene, die bisher eher die Philosophie beschäftigte: Sprache, Erkenntnis, 67
Phantasie. Es zeigte sich nämlich, dass diejenigen Phänomene, die »man bisher als rein physische ansah […] auf jene höheren geistigen Leistungen hin ›angelegt‹« sind. Um dies zu denken, braucht man Begriffe, die »durch die gesamte Schichtung ›durchlaufen‹, d.h. Kategorien wie Entlastung, Handlung, Verfügung, Kommunikation« (M: 452). Zweitens aber weist die Theorie des Menschen auf die Phänomene, die eher die Soziologie beschäftigt: die Institutionen. Will man diejenigen Fragen, die bisher der Geisteswissenschaft vorbehalten schienen, weiter verfolgen, hat der bio-logische Ansatz Grenzen. Zwar erlaubt er eine neue, nichtcartesianische Denkweise; aber er bleibt vorsoziologisch. Religion, Kunst, Recht, Technik sind gesellschaftliche Tatsachen. Hier, an der Verbindungsstelle von philosophischer und soziologischer Anthropologie, erweist sich nun auch der Begriff des »Führungssystems«, den Gehlen 1940 benutzt hatte, als »zu eng«. Er wurde eingeführt, um die Weltdeutung, den Letzthorizont in der Orientierung der Handlungen zu bezeichnen. Das Weltbild gibt in letzter Instanz je spezifische »Aufgaben an, deren Bewältigung lebensnotwendig und dringend ist«. Es gibt vor, wie gehandelt wird und was verboten ist, welche Antriebe Vorrang haben. Es »fordert ebenso einen bestimmten Charakter, wie es ihn herstellen hilft« (M: 507f.). Kurz, worum es geht, ist die subjekterzeugende soziale Wirklichkeit. Diese schwebt nicht frei, sondern ist stets institutionell verankert, in bestimmten Praxen und Routinen eingerichtet. An dieser Stelle entfaltet Gehlen ab 1950 eine Institutionentheorie. Er beruft sich dabei auf die an Bergson angelehnte These von Maurice Hauriou (1965 [1925]), der die (kollektive, die Einzelnen verbindende) idée directrice als das Vitalprinzip der Institution darstellte. Worauf es Hauriou ankam, war die sich durch Generationen hindurch ziehende, affektive Idee, die Bewegung des Sozialen ›in‹ den Einzelnen. Worauf Gehlen nun zugleich den Akzent legt, ist, dass diese Idee – als imaginäre – auf einen Außenhalt verwiesen ist. Sie braucht symbolische Verkörperungen (»Gemeinsamkeitsbekundun37 gen«, sagt Hauriou). Man könne, so nun wieder Gehlen, etwa die 37 Die These des notwendigen symbolischen Außenhalts der Institutionen ist auch Castoriadis (1984 [1975]) nahe: der »Theorie der imaginären Institution der Gesellschaft«.
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protestantische Ethik nur in Bezug auf die Institution verstehen, in der diese »lebte«. Einzubeziehen ist in die Theorie des Menschen die »Welt sozialer Institutionen« (M: 453f.). Mit diesem Thema betritt Gehlen ein für die Soziologie zentrales Terrain. Indem er es um die idée directrice zentriert, um die Welt- und Selbstdeutungen, schafft er zugleich ein zentrales wissenssoziologisches Terrain. Da sich Gehlen hier auf elementare Institutionen – den Totemismus – konzentriert, ist es auch ein fremdes, riskantes Terrain: Man denke nur an die vielfältige ethnologische Kritik, die Durkheim mit der Theorie des Totemismus (1994 [1912]) auf sich zog, weil er eine hochkomplexe soziale Organisation als einfachste Form der Vergesellschaftung verstand. Gleichwohl, entscheidend ist hier für Gehlen nicht dieses oder jenes Missverständnis der nichtmodernen Kulturen; dem Theoretiker geht es um grundlegende Modelle des Sozialen.
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V Der Mensch II: Die soziologische Theorie der Institutionen Während in Der Mensch alle Beschreibungen des Aufbaus der körperlich-kognitiven Leistungen in der »virtuellen Szene des einzeln handelnden Menschen« (Fischer 2008a: 167) gipfeln, wird Urmensch und Spätkultur zunächst auch am einzelnen Subjekt-Objekt-Gefüge (dem Werkzeughandeln) ansetzen. Aber es setzt dort als Theorie der Institution an, als soziologische Theorie. Anders als es der vom Verleger gewünschte (Rehberg 1993: 785.2) Titel suggeriert, geht es weniger um die Evolution des Menschen vom ersten Werkzeuggebrauch bis zur Spätkultur. Modelliert wird vielmehr grundsätzlich eine Theorie der Emergenz sozialer Institutionen und damit des Sozialen und der Subjekte: Welche Mechanismen, welche Weltverhältnisse, welche Objektivitäts- und Verpflichtungswahrnehmungen, welche Möglichkeiten sich die Menschen je in ihren Institutionen schaffen. In den Institutionalisierungen formen sich die Verhaltens-, Denk- und Fühlweisen, die Selbstverständnisse und Weltbilder. Dabei beruhen sie wesentlich auf Imaginationen: einem Gefühl der Verpflichtung entlang je bestimmter Leitideen. Als imaginäre bedürfen die orientierenden Selbst- und Weltbilder eines körpergebundenen Lebewesens zugleich und zutiefst der Darstellung, der Verkörperung, des symbolischen, expressiven, anschaulichen »Außenhalts«. Entsprechend der (handlungszentrierten oder praxistheoretischen) philosophisch-anthropologischen Denkweise Gehlens kommt es in den Institutionen entscheidend auf Rituale und Artefakte an. Diese außengestützte und -induzierte Institutionalisierung von Handlungen, Selbst- und Sozial-Haltungen ist zutiefst schöpferisch. Das Institutionelle ist produktiv, kanalisierend und keineswegs nur repressiv, wie man es Gehlen (und Durkheim) oft zum Vorwurf macht. Denn in dieser Denkweise gibt es das seiner selbst mächtige Individuum, das Subjekt, nicht vor und außerhalb der Institution. Es ist den Institutionen immanent – und umgekehrt. Es handelt sich also um ähnliche Denkfiguren, wie sie 71
Foucault für den Begriff der Macht entfaltet: Man hat eben so wenig über den Mechanismus des Sozialen, die Vergesellschaftung begriffen, wenn man die ›Macht‹ nur als repressiv versteht – wie wenn man die Institution nur als Zwangseinrichtung konzipiert: »Eine Gesellschaft stabilisieren heißt, sie auf dauernde Institutionen bringen, und das bedeutet eine Selektion der Verhaltensweisen und Situationen, untrennbar von ihrer Vereinseitigung« (US: 20). Gehlen hat die elementare Form, Emergenz und Funktion der Institution (den Totemismus) bereits 1950 in der Überarbeitung von Der Mensch beschrieben, und erneut 1955, in einem bahnbrechenden, inspirierend gewesenen (Popitz 2010) Aufsatz im ersten deutschen Soziologie-Lehrbuch nach 1945 (»Die Sozialstrukturen primitiver Gesellschaften«). Hier sind alle zentralen Ideen und Kategorien (Verkörperung, Identifikation und Differenz, sekundäre Folge von Tierzucht und Pflanzenanbau) vorentworfen. Neben den Pragmatisten und britischen Kulturanthropologen werden nun französische Autoren ausschlaggebend: Lévi-Strauss’ Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1993 [1949]); damit auch Marcel Mauss’ Theorie der Gabe (1990 [1923/24], vgl. Fischer 2008b); sowie bergsonianische Autoren, von denen der eine (Maurice Pradines) eine Theorie der Magie entfaltet und der andere (Jean Przyluski) eine des Totemismus (vgl. Delitz 2011). Gehlens institutionentheoretische Kernthesen sind in weiteren Texten vorbereitet: in Verstehbarkeit der Magie (1950); und in Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung (1952), jener »großartigen Illustration seiner Institutionenlehre«, die mit einer »Suspendierung aller […] Funktionalitätserwägungen« einhergeht – in beiden Hinsichten eine »Schlüsselstelle im Werk« (Rehberg 1973: 110). Der entscheidende Satz lautet: Der »Mensch kann zu sich und seinesgleichen ein dauerndes Verhältnis nur indirekt festhalten. Er muss sich auf einem Umwege, sich entäußernd, wiederfinden, und da liegen die Institutionen« – gesagt in drastischen Worten gegen alle romantisch daherkommende, in Gewalt sich entladende Entfremdungstheorie von Rousseau bis Marx: »so werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen verbrannt und konsumiert und nicht von der rohen Natur, wie Tiere« (Gehlen 1983c: 378). Vor allem in Urmensch und Spätkultur gilt es, die polemischen, auf die Gegenwart gerichteten Äußerungen von der generellen 72
Sozialtheorie zu unterscheiden. Fast noch mehr als in Der Mensch scheint es Gehlen nun darum gegangen zu sein, im Kreise zu denken. Der Detail- und Einfallsreichtum des Buches ist enorm. Man wird immer erneut von einzelnen Betrachtungen gefesselt (etwa zur Bedeutung der prähistorischen Höhlenmalereien), kurz, es ist mühsam, dem Faden zu folgen – aber nicht, weil es keinen hätte. Das Buch ist dreigeteilt in eine grundlegende Betrachtung der »Institutionen«, aus der bereits in Der Mensch entwickelten, Innen- und Außensicht zusammenziehenden Perspektive (Teil I, 135 Seiten); die Erörterung der »Probleme archaischer Kulturen«, also nichtmoderner Institutionalisierungen mit ihren erheblichen Leistungen (Teil II, 150 Seiten); und schließlich die Unterscheidung dreier »Handlungsarten mit drei Weltansichten« (Teil III, 15 Seiten). »Man hätte die ganze Disposition dieses Buches auch an den drei unterscheidbaren Handlungsformen des Menschen entwickeln können […]: das rational-praktische Verhalten (Teil I), das rituelldarstellende (Teil II) und das mit den Worten ›Umkehr der Antriebsrichtung‹ beschriebene, von dem wir sahen, wie es aus Rausch, Ekstase und Askese sich herausarbeitet« (US: 303). Die drei Handlungsweisen entsprechen drei Weltansichten: die rational-praktische dem Materialismus; die rituell-darstellende der Metaphysik des »sympathetischen Zusammenhangs«, also der Magie; die ›Umkehr der Antriebsrichtung‹ der »Religion des Willens«, wobei man hier an die moderne Subjektivität zu denken hätte (US: 304f.). Alle drei Weltanschauungen erzeugen ein je verschiedenes, in jedem Falle aber indirektes Selbstverständnis, wie etwa im rituell-darstellenden Totemismus, wo sich der Mensch vom Tier her begreift. Es geht um Handlungskategorien; und mehr noch: um die Umformung des Menschen durch sich selbst, durch seine eigenen Produkte, die Institutionen. Diese werden sowohl strukturtheoretisch betrachtet (wie bei Lévi-Strauss: welche überindividuellen Gefüge formen die Einzelnen?), als auch interaktionstheoretisch (welche rituellen, darstellenden, instrumentellen Akte mit welchen in sie eingehenden Antriebsenergien sind mit welcher Selbstund Naturauffassung verknüpft?). Gehlen entwickelt einerseits, in den Kategorien des ideativen, darstellenden und instrumentellen Verhaltens, eine nicht rationalistisch verengte Handlungstheorie, andererseits (und damit eng verbunden) eine Emergenztheorie 73
von Institutionen, Kollektiven, Subjektformen, welche diese wiederum nicht rationalistisch verkürzt (etwa aus Kosten-NutzenKalkulationen oder Vertrags-Konstrukten erklärt). Worum es geht, ist die Eigendynamik des Sozialen. Die Entstehung der Institutionen ist zu modellieren als Emergenzgeschehen, ereignishaft und affektiv. Institutionen haben, wie Gehlen sagt, einen »Selbstwert im Dasein« (US: 15). Man handelt von ihnen her. Daher sind sie in ihrer Entstehung nicht als rational konstruierte, verfügbare Instrumente zu denken. Was Institutionen auszeichnet, ist ihre dem Einzelnen sich aufdrängende Objektivität: ›man macht das so‹; ›es muss sein, weil es sein muss‹. Ihre Leistung, ihr sekundärer Effekt ist nichts weniger als die kulturelle Überformung der menschlichen Natur. Gehlen hält für diese Leistung – die Selbstkultivierung des Menschen, wie sie mit dem ersten asketischen Akt, dem ersten Verbot beginnt – eine »stabilisierte Spannung« (US: 116) für notwendig, ein In-Schach-Halten gegensätzlicher Affekte, woraus Energien freigesetzt werden. Diesen Begriff übernimmt Gehlen von Jean Przyluski, der aus den ersten Tabus, den ersten ›negativen‹ Riten die Entstehung der Moral modelliert hatte: »Das Tabu als negatives Verhalten steht dem positiven Ritus gegenüber […]. Demnach […] reagiert der positive Ritus auf einen Reiz und löst eine momentane Spannung. Das Tabu verlängert demgegenüber die Spannung. Man kann dann das Mana oder das Heilige auch definieren als eine stabilisierte Spannung [tension stabilisée]. Das ist von großer Bedeutung für die Entwicklung der sittlichen Ideen« (Przyluski 1942: 115f.). Während der positive Ritus (etwa ein Fest) eine Spannung sofort auflöst, verlängert das Tabu sie, indem es das Begehrte vor Augen stellt und die Befriedigung versagt. Dieser Begriff der auf Dauer gestellten, stabilisierten Spannung, den Gehlen als Kategorie, also ganz grundlegend und formalisiert benutzt, ist für seine soziologische Theorie alles andere als peripher. Denn er steht für den Prozess, in dem das moralische, sich verpflichtende Verhalten entsteht, die asketische Praxis als Beginn der Selbst-Schaffung des Menschen. Die Frage ist, wie dies überhaupt möglich war. Gehlen entwickelt hier, am paradigmatischen Fall des totemistischen Kultes, eine Theorie der elementaren Form des Sozialen. Im Totemismus entsteht, so setzt er voraus, die erste Selbstverpflichtung, eine erste 74
›Umkehr der Antriebsrichtung‹: und zwar aus jener Ambivalenz von Angst und Begehren, die das totemistische Tabusystem schafft. Die zunächst vielleicht ephemer erscheinenden Praktiken der Identifizierung mit einem Tier und seiner Tabuisierung brachten höchst überraschende und produktive Effekte mit sich: Nicht weniger als die Sesshaftwerdung mit den sich dann entwickelnden Hochkulturen. Kurz, die gesamte Geschichte beruht auf diesem Initialakt des Mensch-Werdens. Diese Theorie des Institutionellen beschreibt keine Riten von Neandertalern, keine ›Vormenschen‹. Wie Durkheim ist auch Gehlen im Gebrauch des Totemismus sicherlich ein Vorwurf zu machen: Er tendiert dazu, den Totemismus, wie er von den Ethnologen in Australien und Nordamerika beobachtet wurde, mit einer prähistorischen Religions- und Sozialform gleichzusetzen. Allerdings geht es dabei nicht um ›prähistorische‹ Fragen entlang einer eurozentrischen Fortschrittsvorstellung, sondern um eine elementare Theorie des Sozialen. Gerade im Kontrast der nicht modernen Gesellschaften sieht man vielleicht am meisten hinsichtlich der spezifisch modernen Verhältnisse, sowohl, was das Gemeinsame der Kulturen als auch die Differenzen betrifft. Inwiefern geht es also um »Urmenschen«, warum der lange Atem, warum bei den totemistischen Kulturen beginnen, wie bereits Durkheim? Wir können uns, so Gehlen, »heute nur noch Institutionen erklären, die aus Zweckverabredungen hervorgegangen sind […]. Mit Recht hat man solche rationalistischen Erklärungen fallen lassen. Gerade Zweckeinrichtungen bleiben an den Maßstab der Nützlichkeit gebunden, sie erreichen also niemals vollständig jene Autonomie, die, in das Innere des Menschen hineingenommen, ihn über sich selbst erhebt und ihn von seiner eigenen Zufälligkeit entlastet, ihm eine Bestimmung gibt. Vor der Frage der Entstehung der fundamentalen menschlichen Institutionen« steht die – mit Weber an der Rationalität ansetzende – soziologische Theorie ratlos (US: 292). Denn sie muss dann voraussetzen, was in den Institutionen erst entstanden sein konnte: Rationalität und zweckhaftes Verhalten. Zudem sind bestimmte Institutionen wie die Familie gar nicht als zweckrational oder vertragstechnisch konstruiert vorstellbar (Gehlen 1983g: 364). Die nicht-modernen Kulturen zeigen diese grundlegenden soziologischen Dinge am klarsten, denn bei ihnen ist nichts vorauszuset75
zen. Ihnen gegenüber ist in den »unübersehbaren«, den artifiziellen, urbanen, modernen Gesellschaften (US: 127) das InstitutionenProblem verstellt: Das Selbstbild der Einzelnen ist eines, das sich als unabhängig von den Institutionen versteht oder als ihnen konträr; das Naturbild ist das der Berechenbarkeit, welches der einhegenden Institution nicht bedarf. Man muss demgegenüber bei Null beginnen: in einer Situation, in der nichts gesichert ist, so, wie bei den nomadischen Jäger-und-Sammler-Gruppen, in denen weder »der ›Staat‹ noch eine perennierende, bodenbezogene Wirtschaft zur Stabilisierung beitragen« konnte. Das Problem der ersten denkbaren Sozialordnung ist also, wie bei Abwesenheit des Staates sowie bei Existenz einer Ökonomie, die noch kein »auf die Zukunft gerichtetes, vorbereitendes […] Handeln zuließ«, jene Stabilität und Kontinuität zustande kommen konnte, die dieses Lebewesen benötigt (US: 227). Der Punkt, von dem aus gedacht wird, ist erneut die Betrachtung der Komplementarität und Differenz von Instinkt und Institution. Entscheidend ist hier die Varianz, die Ver- und Aufschiebbarkeit des Verhaltens: die Fähigkeit einer ›Umkehr der Antriebsrichtung‹, die Fähigkeit, Triebenergien anderen Verhaltensweisen dienlich zu machen, und sich dabei selbst zu steigern. Das ist für Gehlen ›Kultur‹. Springt das tierische Verhalten quasi-automatisch auf Auslöser ein, ist es beim Menschen freigesetzt; die inneren und äußeren Auslöser sind unspezifisch, und die freien Antriebe können dann in verschiedenste Verhaltensweisen eingehen, dabei auch nach innen gerichtet werden, sublimiert, abgelenkt. Umgekehrt kann dieses Lebewesen durch alles erregt werden, es gibt einen ständigen Appell der Außenwelt. Und nicht nur Naturereignisse, sondern auch die eigenen Handlungen mit ihren ungewollten Ergebnissen, etwa die Entdeckung des Feuers oder das Kneten einer Figur, führen zu einem Antwortdruck – und zwar zu dem zunächst ganz unbestimmten Bedürfnis, irgendetwas zu tun (»le besoin de ›faire quelque chose‹«, Pareto 1917: § 1090). »Eine Maus läuft über den Weg, also umkehren!« (Gehlen 1950a: 415) Daraus entsteht das erste Sollen, die erste bestimmte Verpflichtung. Die Frage ist, wie es zu ihr kommt, wie sie sich einrichtet und was damit noch alles in Gang gerät. Der erste Schritt: Anders als andere Theorien der elementaren Formen des religiösen, also sozialen Lebens differenziert Jean Przyluski, Experte für ostasiatische Religionen, »vegetalistische« 76
Gesellschaften von den totemistischen (1940). Gehlen folgt ihm darin (US: 223). Beide Kulte verbinden sich mit bestimmten Sozialformen und überformen die biologischen Dringlichkeiten des Menschen. Es gibt hier eine spezifische Partizipationsregel (wie Przyluski mit Lucien Lévy-Bruhl sagt), eine spezifische Regelung dessen, welche Mitglieder eine Gesellschaft umfasst, welche Identifizierungen und Klassifizierungen der Einzelnen damit einher gehen und wie deren Praktiken mit der Natur zusammenhängen. Übernimmt man einmal die These einer ersten, vegetalistischen Vergesellschaftung – deren Spuren Przyluski bei den Semang in Malaysia findet sowie im indischen Kastensystem38 –, dann integriert sich die Gruppe hier durch die Identifizierung mit je einer Pflanze. In dieser Sozialform gibt es (noch) keine Verbote, vielmehr nur positive Riten. Die Einheit des Kollektivs wird also direkt hergestellt: über alimentäre (convivium) und sexuelle (connubium) Vereinigungen. Die Mechanismen der Gruppenbildung sind die Endogamie und das rituelle Verspeisen derjenigen Pflanze, von der man abzustammen glaubt. Darüber hinaus und »eventuell« bildet sich das Kollektiv auch durch die Anthropophagie, die Einverleibung verstorbener Gruppenmitglieder (Przyluski 1942: 118; weniger vorsichtig US: 237ff.). Der zweite Schritt: Im ›reinen‹ Totemismus39 sind die Menschen mit je einem Tier solidarisch. Eine »andere Kosmologie entfaltet sich. Die Hauptakteure sind Tier und Mensch, und sie unterscheiden sich« im Bewusstsein der Mitglieder des Totems »nur durch ihr Äußeres« (Przyluski 1940: 23). Für Gehlen und Przyluski ist nun entscheidend, dass es hier, im totemistischen Kult, in der Tabuisierung der verschiedensten Dinge, negative Riten, also Verbote gibt. Nur aus dem Totemismus erklären sich Ackerbau und Tierhege – das Neolithikum, die Sesshaftwerdung –, denn für beides ist eine asketische Haltung die Voraussetzung. Zwar kann man sich vorstellen, dass etwa wilde Getreideformen 38 Kaste bedeute etymologisch die »Angelegenheit der Speise« (Przyluski 1942: 118f.). 39 Przyluski sieht den australischen Totemismus als Synthese von Totemismus und Vegetalismus, um die pflanzlichen Totems zu erklären (1940: 107ff.).
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gesammelt wurden und sich selbst ausstreuten – wenn da nicht das »Problem der primitiven Mentalität« wäre. Es »hat sich immer gezeigt, daß die größten Feinde der neuen Kultur die damit Beglückten selbst sind«, die das Saatgut einfach essen. Zur Einrichtung dieser Institutionen bedarf es also der Disziplinierung, und diese »kann eigentlich nur das Tabu geleistet haben« (US: 222f.), wie es für die totemistische Religion typisch ist. Entscheidend ist die Überwindung des Inzest und ebenso der Anthropophagie (US: 238, 293f.): Totemistische Gesellschaften etablieren gegenüber den vegetalistischen ein Inzest-Verbot und Tabus des Tötens und Essens bestimmter Tiere und der mit ihnen identischen Gruppenmitglieder. Es etablieren sich eine imaginierte gemeinsame Abstammung und mit ihr das Gebot der Exogamie (Ausheirat). Damit gibt es eine erste Solidaritäten zwischen Gruppen. Was »muß eine Theorie des Totemismus mitsetzen? Natürlich die kardinalen Punkte: daß es Gruppen gibt, die sich jeweils mit bestimmten Tieren ›identifizieren‹ und derer Namen tragen, daß das Totemtier als Ahn der Gruppe gilt, und daß für diese Gruppe das Töten bzw. das Essen des Totemtieres verboten zu sein pflegt« (M: 395). Der dritte Schritt: Was sich mit dieser Form des elementaren sozialen Lebens verbindet, könnte kaum weitreichender sein. Hier vollzieht sich nicht weniger als die Selbst-Kultivierung des Menschen zum Menschen. Der Mensch unterscheidet sich nicht per se vom Tier; das muss er sich vielmehr erarbeiten. Er unterscheidet sich vom Tier, aktiv macht er sich zum Menschen. Dies liegt in der Logik des Totemismus (oder besser, an dessen Ende, im Übergang von der Tier-Identifikation zum territorialen Prinzip der Gruppenherstellung). Indem man sich mit dem Totem ›identifiziert‹, verbietet man sich nicht nur, das entsprechende Tier zu essen. Vielmehr sind dann auch die menschlichen Gruppenmitglieder tabu, die mit dem Totem je identisch sind. Wie auch immer es sich mit der rituellen Anthropophagie wirklich verhält (die ethnologisch begreiflicherweise umstritten ist, wie auch der Begriff des Totemismus): Der Kult der mimetischen Verwandlung in Tiere hat weitreichende, produktive Effekte. Im Übrigen hatte auch Lévi-Strauss die Frage der Anthropophagie für eine Gesellschaftsunterscheidung genutzt (wenn auch vielleicht ironisch): »Nehmen wir den Fall der Anthropophagie […] mystischen, magischen oder religiösen Ur78
sprungs«, so könnte man versuchen, »zwei Typen von Gesellschaften zu unterscheiden«: Diejenige, die in der »Einverleibung gewisser Individuen, die furchterregende Kräfte besitzen, das einzige Mittel sieht, diese zu neutralisieren oder gar zu nutzen«; und diejenige, die eine »Haltung einnimmt, welche man als Anthropemie (griech. emein, erbrechen) bezeichnen könnte. Angesichts ein und desselben Problems haben diese letzteren Gesellschaften die umgekehrte Lösung gewählt, nämlich jene gefährlichen Individuen aus dem sozialen Körper auszustoßen« (Lévi-Strauss 1978: 382f.). Wozu führt der totemistische Kult, die rituelle Verwandlung in ein Tier nun, was sind die sozialen Effekte oder Funktionen dieser Ereignisse? Zunächst entlastet der Tierkult. Indem man das furchterregende Ereignis, das mit dem Tier oft verknüpft ist, wiederholt, kann man sich in aller Ruhe eine Antwort einfallen lassen und der ›unbestimmten Verpflichtung‹, die dieses Ereignis aufgibt, eine Bestimmtheit geben. Dazu muss man andererseits Tabus einhalten, sich selbst verpflichten, dem Ritus stets in derselben Weise folgen, die Nahrungsverbote einhalten. Ein sittliches Bewusstsein entsteht, eine asketische Haltung. Institutionen wie der Totemismus sind ›Führungssysteme‹ in Gehlens Sinn. Sie sagen detailliert, was verboten und geboten ist, was man essen, was auf welche Weise und wann berühren darf. Das Tabu hat seinerseits einen weitreichenden anthropologischen Effekt. Es etabliert wesentlich negative Verhaltensanweisungen, »Bewegungen der Einschüchterung, des Sichniederwerfens, Sichkleinmachens, Sichverbergens« (Gehlen 1950b: 336), es ist ein Hemmungssystem – die Quelle der Moral. Die rituelle Identifizierung mit einem Tier (respektive einem vitalen Dritten, Seyfert 2010a: 268f.) hat aber weitere Effekte, und zwar gesellschaftlich außerordentlich weitreichende. Der Ritus geht stets mit einem spezifischen Weltbild, einer Kosmologie einher, und er führt zu einer kollektiven Identität, sofern sich alle Einzelnen mit »demselben anderen, einem X, identifizieren und von daher verhalten, so daß ihr Selbstbewußtsein einen gemeinsamen Schnittpunkt hat, der in der Gleichheit des Verhaltens eine objektive Stütze findet. Dies ist entscheidend zum Verständnis aller primitiven Gesellschaften und des Totemismus. Alle Mitglieder des Bären-Clans mögen symbiotisch schon eine Gruppe sein. Geistig werden sie ein ›Wir, diese Gruppe‹ nur insofern, 79
als jeder die Rolle eines anderen übernimmt«, und zwar jeder dieselbe (M: 375). Hier erweitert Gehlen Meads Theorie, über dessen Intersubjektivismus und noch über dessen Dingkommunikation hinaus, zur Identifizierung mit dem Dritten, dem Tier. Der Ritus führt zu noch mehr, zum angesprochenen MenschWerden. Denn was man neben dem rationalen Handeln und dem sittlichen Handeln zunächst auch noch nicht voraussetzen kann, ist ein Gattungs-Bewusstsein. Vielmehr braucht es eine Deutung, ein Selbstbild, und dieses ist nur indirekt zu haben, indem man sich von etwas unterscheidet. Nur über das »Sichidentifizieren mit einem Äußeren«, einem Nicht-Menschlichen ist das »Sichunterscheiden erlebbar«: das Bewusstsein, etwas anderes als das Tier zu sein. Das Sichidentifizieren mit einem »Linien- oder Sippengenossen« muss also zunächst über ein »Drittes gehen, mit dem sich jeder identifizierte«, und das war das Totemtier, in dem die Einzelnen ihre noch nicht lokalisierte, nicht territorial gebundene »Abstammungsidentität anschaulich vollzogen« (US: 236, vgl. Gehlen 1955: 34). Eine kollektive Identität als Mensch entsteht im Totemismus, sofern sich dieses Lebewesen in der unterscheidenden Gleichsetzung vom Tier ganz praktisch erlebt. In der Verwandlung in das Totemtier erlebt der Einzelne »sich selbst im Kontrast zu dem, was er verkörpert« (US: 168). In diesem Moment nimmt das »Gesellschaftsbewusstsein« oder die »Gesellschaftssemantik« eine »entscheidende ›humanistische‹ Wendung«, indem die Praxis des totemistischen Kultes die Mensch-Tier-Differenz »erst etabliert hat«. Das Anlegen der Häute, der Federn, die Nachahmungen der Bewegungen und Laute bringt die gattungsmäßige Differenz »erst in den Blick«. Das ist wohl das Spannendste an dieser Deutung der totemistischen Religion: Gehlen zeigt, wie hier die »Institutionalisierung der Gesellschaft als eine menschliche temporär aufblitzt – rituelles MenschWerden. So gesehen ist es richtig, wenn Durkheim für die totemistischen Gesellschaften annimmt, dass bei ihnen die Tierform die Grundform ist«. Zugleich sind die mimetischen Praktiken »Entdeckungen und Etablierungen der Menschenform« (Seyfert 2010a: 272ff.). Was man in der totemistischen Gesellschaftsform, in ihrer Welt- und Selbstvorstellung daher auch noch nicht voraussetzen kann, ist die Eingrenzung der Gesellschaft auf menschliche Akteure. »Wahrscheinlich sprach man also in illo tempore nicht nur mit 80
den Menschen über die Dinge, sondern auch mit den Dingen über die Menschen, in dem Sinne, daß die ›Interpretation‹ der Natur wenigstens zu einem Teil die Interpretation der Gesellschaft der Anderen erst hergab« (US: 201). Die Frage, die hier gestellt und beantwortet wird, ist soziologisch grundlegend. Es geht um nichts weniger als um die Frage, was eigentlich eine Gesellschaft ist, wie die Einzelnen sich in ihr assoziieren, wer/was je ein »socius« (lat. Gefährte) ist, welche Beziehungen diese eingehen können (Seyfert 2010a: 249) – und was dann als das Andere der Sozialität gilt. ›Vegetalistische‹, ›totemistische‹ und ›anthropistische‹ Gesellschaften haben je andere Gesellschaftsmitglieder. Mit dem Totemismus spielt sich noch etwas ein: die Teilung der Gesellschaft in der zunächst dualen Organisation größerer Gruppen. Der Totemismus hat eine soziale Trennungs- und Identifikationsfunktion. Mit dem je konkreten Totem (Emu oder Frosch) unterscheidet sich eine Gruppe von der anderen und vereinigt sich zugleich in sich. Der Totemismus, den Gehlen wie Durkheim eng mit der Exogamie, der Ausheirat, verknüpft40, etabliert Abstammungslinien und damit Sozialverbände. Was sich einspielt, sind also erste Blutsverbands-Ordnungen. Die Leistung des Totemismus ist es, die Einzelnen in Verwandtschaftssystemen zu organisieren. Dies ist das große Thema von Claude Lévi-Strauss, den Gehlen früh einbezieht (Fischer 2008b) und der ebenfalls auf der Suche nach dem ist, was den Menschen zum Menschen macht. Es ist auch für ihn die artifizielle Regelung der Fortpflanzung. »Bei den Brüllaffen […] scheint Polyandrie zu herrschen […], bei den Rhesusaffen bestehen Monogamie und Polygamie nebeneinander«. Alles deutet darauf hin, dass es den »Menschenaffen […] nicht gelingt, […] eine neue Norm aufzustellen«; und überall »dort, wo eine Regel auftaucht, wissen wir, daß wir uns mit Bestimmtheit im Gebiet der Kultur befinden […]. Halten wir also fest, daß alles das, was beim Menschen universal ist, zur Ordnung der Natur gehört und sich durch Spontaneität aus40 »The fundamental feature in the organisation of […] the great majority of Australian tribes, is its division into two exogamous intermarrying groups. Each of these primary divisions splits into two« (Spencer & Gillen 1927: Vol.1, 41).
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zeichnet, und daß alles, was einer Norm unterliegt, zur Kultur gehört und die Eigenschaft des Relativen und Besonderen aufweist« (Lévi-Strauss 1993: 51f.). Erst so – durch die Regelungen von Verwandtschaftsverhältnissen – entstehen stabile Gesellschaften, größere Gruppen in solidarischer Haltung. Alle »Relationen der Gegenseitigkeit« werden nun entlang der artifiziell geformten Verwandtschaftsbeziehungen »normiert und auf Dauer gestellt« (US: 229). Die gegenseitige Ausheirat der Frauen bildet den Punkt, an dem sich auch die Eigenzeit der Gruppe bildet, das Hinwegreichen des Kollektivs über die Einzelnen und den sporadischen Ritus hinweg (Rehberg 2001: 10, 43ff.; Seyfert 2010b: Kap. 4). Es etabliert sich – in der Bildung von Abstammungslinien – sowohl eine Ordnung im Nebeneinander als auch eine Ordnung im Nacheinander der Einzelnen. Für das dahinter stehende »Interesse an zeitüberlegenen, gültigen Inhalten«, an der Dauer des Sozialen, konnte man, so Gehlen, zunächst überhaupt nur die »Geschlechts- und Fortpflanzungsverhältnisse« nutzen (US: 227), denn es waren (noch) nicht sesshafte, noch nicht territorial gebundene Gruppen. Die Institutionalisierung der Abstammung bedeutet nun nicht zuletzt, dass sich der »Sozialkörper sozusagen seine eigene Physis« modelliert (US: 227). Gerade die philosophisch-anthropologische Sozialtheorie muss für das Abstrakte Konkretionen, für die Strukturen Anschaulichkeit erwarten (vgl. Fischer 2008b: 180). Abstammungslinien sind unsichtbar, imaginär; sie brauchen einen symbolischen Außenhalt, den erneut der Totemkult bietet: die Identifizierung mit dem Tier im Umlegen der Häute, in der Bemalung, den Tänzen.41 Der Totemismus ist nicht nur eine Gebots- und Verbots-Struktur; er legt nicht nur Zugehörigkeiten fest und trennt Gruppen voneinander. Er ist auch ein höchst anschau41 Spencer und Gillen (1927: Vol. 2, 563) beschreiben die Dekorationen, mit denen sich die Tänzer in Tiere verwandeln: »Almost always […] special attention is paid to the head-dress. The hair is tied up, and a helmet is made out of twigs or grass stalks […]. In the case of one of the emu performances, it forms a tapering column about five feet in height, the end being ornamented with a tuft of emu feathers. Owing to the flexibility of the column, the end droops somewhat, and moves about as the performer walks, imitating well the continuous upand-down movement of an emu’s head«.
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licher Kult. Diese Darstellung ist kein bloßer Ausdruck, keine bloße Repräsentation. Sie ist produktiv. Als beliebig aufführbare Praxis ist sie für Gehlen die entwicklungsfähigste, weitreichendste Antwort auf die ›unbestimmte Verpflichtung‹, denn man kann hier den Schrecken und die eigene Reaktion darauf stets erneut selbst erzeugen. Dies geschieht periodisch, in der Nachahmung des Verhaltens des Tieres im Tanz (der »aktiven Zeichnung«, wie Gehlen mit Henri Paul Trilles sagt: Gehlen 1950b: 335; US 167; Trilles 1945); oder es geschieht dauerhaft, in Skulpturen und Felsmalereien. Zugleich mit dem mimischen Tanz und aus ihm heraus hat sich also die erste darstellende Kunst entfaltet – und zwar nicht als Kunst, sondern als Auf-Dauer-Stellung herausfordernder Ereignisse, angesichts derer man sich virtuell Antworten einfallen lassen konnte – und sich zugleich immer erneut selbst in Erregung versetzte. Gehlen nennt dies die »Entscheidung zum Dasein« der angstbesetzten Objekte. Die Affekte werden durch die darstellenden Artefakte und Riten in eine »stabilisierte Spannung« überführt. Dies war eine entscheidende »moralische Leistung« (Gehlen 1950b: 342), denn man nimmt nun eine ›biologische Herausforderung‹ an, verkriecht sich nicht. Artefakte und Rituale stellen Affekte auf Dauer, ermöglichen ihre Beherrschung. Mit ihnen entsteht eine ihrerseits folgenreiche »Inversion der Verhaltensrichtung«: Man verwandelt sich nun in das Tier, um sich affektiv als Gruppe zu erleben, wegen des »gesteigerten gemeinsamen Selbstgefühls, ja um die Affektbildung zu erleben« (US: 173). Die ›stabilisierte Spannung‹ ist Gehlen zufolge die Art und Weise, in der Affekte »soziabel« werden können; sie ist die »spezifische Form, wie Menschen affektiv in eine dauernde Beziehung treten« (Gehlen 1950b: 344). Hält man sich vor Augen, was etwa Max Webers Kategorienlehre zu den Affekten beinhaltet (dass sie, da irrational, nur als »Störungen« des rationalen Verlaufs einrechenbar seien, 1980: § 1.3); hält man sich vor Augen, dass die Soziologie sich eher schwer tut, den Körper, das Leben, die Affekte in ihre Denkgrundlagen einzubauen, dann ist diese Sozialtheorie in Urmensch und Spätkultur ein bemerkenswerter Beitrag zur soziologischen Theoriebildung. Der totemistische Kult fungiert also sowohl als identifizierende Differenzierung (sich als Mensch vom Tier unterscheiden), sowie als differenzierende Identifizierung (verschiedene Gruppen an83
42 hand verschiedener Totemtiere unterscheiden). Er ist eine erste Form der Verpflichtung, etabliert größere Sozialgebilde und längere Permanenzen der (imaginären) Gesellschaftskörper. Er hat – indirekt – einen weiteren weitreichenden Effekt: die Entstehung einer der wichtigsten Institutionen, der Tierhaltung als einer ersten Indienstnahme der Natur. Der Tiere darstellende totemistische Ritus ist zwar zunächst ein »zweckfreies« (in sich zweckhaftes), obligatorisches Verhalten. Er hat gleichwohl eine sekundäre, nicht bewusst angestrebte Zweckmäßigkeit. Die rituelle Identifikation mit dem Tier führte »über das Bild und wieder über die Substitution des lebenden Tieres an Stelle des Bildes« zu Tierhege. Andererseits führte sie wohl auch zur Pflanzenkultivierung, wobei diese erst in einer Vermischung des Totemismus mit Pflanzenkulten erklärbar sei, in magischen Praktiken oder aus den Rauschmitteln, die man zu den Verwandlungen brauchte (US: 222; M: 475). Tier- und Pflanzennutzung entstehen an den Grenzen des Totemismus, denn er selbst hemmt mit seinen Verboten das instrumentelle Verhalten hinsichtlich der Natur, er hemmt die Quelle der Rationalität. Das Tabu ist der soziale Kitt und zugleich die Schranke dieser Gesellschaft. Erst die Magie durchbrach sie, indem sie Kompromisse zwischen beiden Verhaltensweisen zuließ. Einmal eröffnet und neutralisiert von den Tabukräften, bot die so in den Dienst des Menschen gestellte tierische und pflanzliche Natur der instrumentellen Vernunft ein »unbegrenztes Gebiet neuer Anwendungen« (US: 293). Hier hat, um es indirekt mit Deleuze zu formulieren, Gehlen nun das ebenso komplementäre wie divergente »Problem des Instinkts und der Institution an seinem akutesten Punkt erfaßt«: An dem Punkt, an dem die »Erfordernisse des Menschen das Tier betreffen« und die »Dringlichkeiten des Tieres dem Menschen begegnen« (Deleuze 2003: 27). Man kann hier erneut die tiefe
42 Die Bedeutung dieses Aspekts bei Gehlen hat Seyfert betont (2010: 167ff.). Man kann auch einen Satz des Evolutionsanthropologen Michael Tomasello einfügen: Auch für ihn ist entscheidend, dass sich Menschen (indirekt, wäre zu ergänzen) »mit ihren Artgenossen tiefer ›identifizieren‹ als andere Primaten. Dieser kleine Unterschied ermöglicht »neue Formen kultureller Vererbung mit einzigartiger Wirkung« (Tomasello 2002: 24).
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Affinität Gehlens mit Theoremen des französischen Denkraums sehen. Funktion und Eigenlogik des Institutionellen werden von Deleuze kongenial beschrieben. »Was Instinkt und was Institution genannt wird, bezeichnet im wesentlichen Mittel der Befriedigung. Bald entnimmt der Organismus, indem er von Natur aus auf äußere Reize reagiert, der Außenwelt die Elemente einer Befriedigung seiner Neigungen und Bedürfnisse; diese Elemente bilden bei den verschiedenen Tieren spezifische Welten. Bald entwickelt das Subjekt, indem es zwischen seinen Neigungen und dem äußeren Milieu eine neuartige Welt errichtet, künstliche Mittel der Befriedigung«. Gleichwohl, auch wenn bestimmte natürliche ›Neigungen‹ in der Institution befriedigt werden, so »erklärt sich die Institution doch nicht durch die Neigung«, und dies ist das soziologische Paradox, nämlich das der Entstehung der Gesellschaft. Die »Neigung wird durch Mittel befriedigt, die nicht von ihr abhängen«. Deshalb »wird sie nie befriedigt, ohne gleichzeitig eingeengt oder geprellt oder verwandelt, sublimiert zu werden« (Deleuze 2003: 24f.). Bereits Bergson hatte für den Menschen formuliert, dass bei ihm die »Tatsache des Mißverhältnisses zwischen den Folgen einer Erfindung und dieser Erfindung selbst« die größte Bedeutung hat (Bergson 1912: 187). Institutionen, nun wieder mit Gehlen, haben einen Selbstwert, sie sind eigendynamisch, emergent. In dieser Modellierung der Entstehung der (religiösen, politischen und ökonomischen) Institutionen ist die Annahme natürlich nicht die einer bruchlosen Fortsetzung der totemistischen Institutionenlogik in die Moderne (wie es Gehlen oft unterstellt wird). Es ist leicht, hier verschiedene Typen anzusetzen, die gleichwohl alle auf den »institutionellen Mechanismen« (Rehberg 2001) der Symbolizität, des Außenhalts, der Objektivität, der Ordnungsherstellung beruhen. Sicher, dies ist bei Gehlen selbst nicht durchgeführt; er hat sich nicht ebenso in die Funktionsweisen moderner Institutionen einfühlen wollen wie in deren elementare Formen. Aber die Ansätze dazu sind da, an denen man selbst einzuspringen hätte: Gehlen geht von mindestens zwei großen »Kulturschwellen« aus, Brüchen, in denen der Mensch sich grundlegend transformiert hat. In ihnen wandelte sich nicht nur die Auffassung der Außen-, sondern auch die der Innenwelt, des Selbst. Es geht um die fundamentale Variabilität menschlichen Lebens. Gehlen ist in diesem Buch ein historischer Anthropo85
loge, und dies im besten Sinne: insofern dies immer unter den Voraussetzungen der Philosophischen Anthropologie gedacht bleibt, neben den Wandlungen es zugleich um sich hindurch ziehende Gemeinsamkeiten geht. Sie sind die Grundlage, vor der ein Wandel des Menschen allererst beschreibbar ist. Gehlen nennt diesen permanenten Wandel den »Kampf des Menschen um seine Selbststeigerung« (US: 300). Dabei wird stets erneut betont, dass wir uns die nichtmodernen Kulturen gar nicht fremd genug vorstellen können. Diese Anthropologie hat daher wenig mit einer unreflektierten ›Wesensfeststellung‹ des Menschen zu tun. Gehlen weiß, dass »es eine vorkulturell fassbare menschliche Natur überhaupt nicht gibt. Es ist keine Aussage des Menschen über sich selbst möglich, die unabhängig wäre von einer bestimmten kulturellen Ausprägung«, und hier verweist Gehlen erneut auf die Deutungsnotwendigkeit. Der »Mensch kann nämlich keine direkten zutreffenden Aussagen über sich selbst machen, er fasst sich nur über ein Nichtmenschliches hinweg«. Dies kann eine Pflanze, ein Tier, ein Gott oder auch eine Maschine sein: Es werden ganz verschiedene Selbstbilder daraus folgen. Die Selbstauffassung des Menschen verläuft in jedem Fall immer indirekt, »über das hin, was außer ihm liegt; und dieses […] interpretiert jede Kultur zusammen mit sich selbst« (US: 119). Der Totemismus ist die (modellierte) Voraussetzung des Neolithikums, des Übergangs vom nomadisierenden Jäger- und Sammlerdasein zur Sesshaftigkeit, zu Pflanzen- und Tierkultivierung, zur Schaffung erster »Inseln des Neutralisierten« (US: 112). Dieser Übergang scheint mit der Entfaltung der Magie aus dem Totemismus anzusetzen. Gehlen geht hier auf die Höhlenbilder von Lascaux ein, denen auch Georges Bataille eine These der aktiven Menschwerdung entnommen hatte (1955). Für Gehlen zeigt sich nun genau hier der Übergang zur Magie: denn was dargestellt und festgehalten wird, sind Ekstase-Szenen, gezielte Praktiken zur Erreichung eines Rausches, des Außer-Sich-Seins. Dies wird von den »Paranormalen« am ehesten erreicht, welche daher die »geborenen Ursurpatoren« seien, von den Zauberern, Medizinmännern und Priestern der magischen Hochkulturen – jener Gesellschaften, die aus ihrer momentanen Befreiung von der Last des Alltags ein »Allmachtsgefühl« beziehen und bereit sind, es »auszu86
werten« (US: 276ff.). In der symbolischen Fixierung dieser Affekte und Gefühle muss das magische Verhalten, so Gehlen, das entwicklungsfähigste gewesen sein (Gehlen 1950a: 415), da es methodische Wege für Selbststeigerungen, Treibstoff für die weiteren kulturellen Leistungen bot. Die Magie ist ein wissenssoziologisches Thema und erneut eines der Durkheim-Schule: insbesondere von Henri Hubert und Marcel Mauss. Gehlen ist bei ihnen vom Repertoire der Figuren fasziniert, stützt sich ansonsten aber eher auf den Bergson-Schüler Maurice Pradines. In der Magie sieht dieser den Ursprung der Rationalität. Sie ist das epochale Projekt, »Veränderungen zum Vorteil des Menschen hervorzubringen, indem man die Dinge von ihren eigenen Wegen zu unserem Dienst hin ablenkte« (Pradines 1941: 114; Gehlen 2004a: 155). Die Magie ermöglicht nichts weniger als das instrumentelle Weltbild und eine entsprechende Veränderung des Selbst. Die magische Praxis geht dem wissenschaftlichen Experiment vorher, denn ihr Prinzip ist es, Ursachen hinter den Erscheinungen zu vermuten. Dann denkt man diese selbst als notwendig, schließt also von der Anschauung auf einen imaginären Zusammenhang. Insofern ist das magische ein erstes Kausaldenken. Mit den »Geistern und Agenten […] kennt man den Grund hinter den Phänomenen und kann gleichzeitig etwas Wirksames tun« (US: 195). Die Magie hat nun ihrerseits weitere Effekte, nämlich die Ausweitung der Kausalvermutung auf eine innere Ordnung der Natur. Sie führt damit über sich hinaus zur (zunehmend monotheistischen) Religion: Die Magie behauptet, direkt auf die Natur zu wirken, während in der Religion die Wirksamkeit auf eine transzendente Macht geschoben wird, zu der Gebete nur vermitteln können. Der Monotheismus ist demnach ein weiterer Umbruch im Welt- und Selbstbild. Die magische Weltauffassung hat also mindestens zwei epochale Effekte: die Erfindung der Technik und die der Religion, beides Wege der rationalen Beherrschung je eines Gebietes (der äußeren und inneren Natur). In der Frage, welche Subjektform sich mit der Magie etabliert, betont Gehlen die Bedeutung von Askese und Ekstase. Es sind Selbsttechniken. Gehlen ist hier erneut ganz Lebenssoziologe, dicht an der Idee des Mehr-Lebens. Diese Selbsttechniken sind im »präzisen Sinne Selbststeigerungen« des Menschen (US: 281). Im 87
ekstatischen Tanz und Drogenrausch werden die höchsten Potenziale erreicht, zuweilen ›übermenschliche‹ Energien freigesetzt, weil hier alle »Hemmungsenergien in die Dynamik mit eingehen. Es ist dies die Entlastung des Menschen von sich selbst« (US: 43 275). Ansätze finden sich noch in jedem Rauschphänomen der Moderne (vgl. Gehlen 1950a). Im rituellen Rausch handelt es sich um eine »grandiose Umkehr des Lebensschwerpunktes«, der man stets »technisch nachgeholfen« hat, unter »Einebnung der sozialen Normen«. Die Askese ist gewissermaßen eine umgekehrte Ekstase, und sie ist stabilisierbarer als diese, da Rauschzustände nur punktuell durchzuhalten sind. Beides sind Varianten eines Vorgangs, in dem das menschliche Lebewesen aktiv die eigenen Antriebskräfte kanalisiert. Beides sind Wege, das ›Selbst‹ zu bearbeiten. Nur die Askese führt aber dazu, dass die Selbstformung als Aufgabe verstanden und durchgeführt werden kann. Sie ist die Voraussetzung derjenigen Selbstformung, für die der Begriff ›Persönlichkeit‹ steht, Voraussetzung des moralischen Selbst. Zwischen Totemismus und Magie liegt die erste Kulturschwelle, das Neolithikum. Im Übergang von der Magie zum Monotheismus bereitet sich eine weitere vor: die Etablierung der Industriekultur (die Neuzeit) mit ihrer Beherrschung des Anorganischen, der Rationalisierung der Außenwelt und der schließlichen Entstehung einer »Fakteninnenwelt« (US: 122ff.). Gehlen hat mit diesem Begriff die Psychoanalyse vor Augen. Die Psyche wird zum Objekt einer Wis43 Gehlen bezieht sich auf André Varagnac (1948), der mit Mauss, van Gennep und Lévy-Bruhl rituelle Tänze beschreibt. Im Tanz hatte auch Durkheim eine Sozialität stiftende Entlastung von sich selbst gesehen: Alle singen, schreien, tanzen, und man »kann sich leicht vorstellen, daß sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln. Ganz natürlich hat er das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Er glaubt sogar, ein neues Wesen geworden zu sein«, wozu nicht zuletzt die Verkleidungen beitragen. »Da sich aber zur gleichen Zeit auch seine Genossen auf die gleiche Weise verwandelt fühlen und ihr Gefühl durch ihre Schreie, ihre Gesten und ihre Haltung ausdrücken, so geschieht es, daß er sich wirklich in eine fremde, völlig andere Welt versetzt glaubt […], eine Umwelt voller intensiver Kräfte, die ihn überfluten und verwandeln« (Durkheim 1994: 300).
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senschaft, bei Verlust eines Weges ihrer Disziplinierung. Angesichts dieser Menschenform ist Gehlen (und hier setzt seine Distanzbeobachtung der Moderne ein) grundlegend skeptisch: da hier das Selbst nicht mehr das Objekt einer Aufgabe sei. An Stelle der ›stabilisierten Spannungen‹ stehe das Aufgehen im eigenen Erleben, der ›Subjektivität‹. Nur in der Umkehr der sexuellen, alimentären und sonstigen Antriebe, ihrer Beherrschung gibt es aber, so Gehlen, Institutionalisierungen als Kultivierungen des Einzelnen. Weil es also keine Aufgabe und keinen Weg mehr gibt, das eigene Selbst zu formen, ist die Industriekultur die einer sukzessiven »Vereinfachung« des Menschen (US: 122f.). Sie setzt den Kampf mit sich nicht mehr voraus. In Nietzsches Zur Genealogie der Moral hieß es: »Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott […] war. […] Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? Ins Nichts« (Nietzsche 1999: 404). Das soziologische Hauptwerk Arnold Gehlens endet nach dieser anthropologisch begründeten Kulturkritik – wie beim späten Foucault – mit einem Blick auf die antiken Wege der Selbstbeherrschung (die von den Philosophen entdeckt und begangen wurden). In einer Zeit der Einordnung des Einzelnen in Funktionssysteme, in denen es gerade nicht mehr um Selbststeigerung, um ›Persönlichkeiten‹ geht; in einer Zeit, in der erbitterte weltanschauliche Konflikte die zuweilen rituellen, spielerischen Antagonismen vorheriger Gesellschaften ablösen; in einer Zeit, in der diese Konflikte in Atomwaffenstarrenden Gesellschaften schwelen, statt hin und wieder aufgelöst zu werden – in dieser Zeit wird man den Philosophen an der »Art erkennen können, wie er lebt, die Philosophie wird antike Züge annehmen, hoffentlich mit Resten ihrer Heiterkeit und Freiheit« (US: 308). Mit dem roten Faden der eigendynamischen Institutionalisierungen und ihrer subjektformenden Effekte bleibt das Buch dennoch ein Labyrinth. Neben der soziologischen Institutionentheo89
rie könnten sich weitere Subdisziplinen von ihm bereichert fühlen. Es enthält eine Technik- und Artefaktsoziologie, gegenüber dem »antitechnischen Affekt« der bisherigen Soziologie (Gehlen 1978d: 197; Eßbach 2001). Gehlen beginnt in der Tat mit dem ›Werkzeug‹, dabei en passent eine Beobachtungsweise einführend, die Subjekt und Objekt nicht trennt, sondern beide als »Gefüge« beschreibt. Im Prinzip machen es aktuelle Artefaktsoziologien wie die von Bruno Latour oder auch die auf Gilbert Simondon zurückgreifende »Gefüge«-Theorie von Deleuze genauso: Sie versuchen, eine Denkweise jenseits der klassischen Subjekt-Objekt-Trennung zu finden, um die soziale Effektivität der Artefakte in den Blick zu rücken, die faktische Symbiose von Dingen und Akteuren im Sozialen – zumal in einer »artifiziellen« Gesellschaft (Popitz 1995). Worauf es Gehlen dabei ankommt, ist erneut die Eigendynamik, das Eigengewicht. Es gibt, so sagt er mit Maurice Pradines (1941: 72; US: 11), ein »uninteressiert praktisches Verhalten«, ein Experimentieren in den einfachsten Dingen wie dem Behauen eines Feuersteins als Schneidewerkzeug: Auch hier geschieht nicht alles instrumentell, zweckgerichtet, sondern die Sache schiebt sich in den Vordergrund, sie gewinnt einen Eigenwert. Gezeigt wird, wie sich am Artefakt dann ein spezifisches Verhalten und eine entsprechende innere Haltung stabilisieren; und dies nicht nur in nichtmodernen Zusammenhängen. »Wer morgens in seine Werkstatt […] tritt, erlebt von daher aktualisiert und schon über die Entscheidungsschwelle gehoben die Kontinuität seines spezialisierten Verhaltens«. Und in einem Riesensprung vom gewohnheitsmäßigen, stabilen Verhalten zur Gesellschaft heißt es: »Hiervon ist die gesamte Kooperation einer Gesellschaft abhängig« (US: 24f.). Noch einmal zusammengefasst: Das Entscheidende an dieser Theorie der Institution ist der Gedanke der a-rationalen Gründung des Sozialen und die Einschmiegung in die vor-rationalistischen Bewusstseinszustände, die wir uns nicht nach unseren Denkgewohnheiten vorstellen dürfen. Nicht durch zweckrationale Handlungen, nicht durch Sicherheits-Verträge, nicht durch eine Theorie der rationalen Wahl ist das Soziale in Gestalt der elementaren Institutionen erklärbar. Vielmehr muss erst erklärt werden, wie es zur Rationalität des Verhaltens kam. Es ist, so Gehlen, zunächst das Eigengewicht der selbst gemachten Sachen: der Kulte und ihrer Verpflichtungen, 90
womit sich der Mensch zum Menschen macht – Sozialformen erfindet, größere Verbände stabilisiert, sich an den Boden bindet und ein instrumentelles Selbst- und Weltbild aufbaut. Wie Durkheims Elementare Formen des religiösen Lebens; und, mehr noch, wie Lévi-Strauss’ Elementare Strukturen der Verwandtschaft entwickelt Gehlen eine Theorie der elementaren Formen des Sozialen. Elementar ist die aktive Selbstunterscheidung des Menschen vom Tier mit allen geschilderten Effekten. Der hier einmal eingeschlagenen Richtung (Umkehr der Antriebe) folgen alle Phänomene der Hochkultur, die nicht konträr zu den elementaren Formen stehen, sondern deren Potenzierung und Verfeinerung bedeuten. Da das Buch auch eine Diagnose der modernen Gesellschaft ist, wäre es in dieser Hinsicht bereits neben Die Seele im technischen Zeitalter (zuerst 1947) zu lesen. Die beiden Bücher machen sich gegenseitig durchsichtig, so, wie sich Der Mensch und Urmensch und Spätkultur gegenseitig erläutern. Für Gehlen gilt daher, was Bergson als Kennzeichen des Denkers von Rang verstand: Er kreist im Grunde um eine einzige Idee, die er stets erneut zu formulieren sucht.44 Inwiefern sagt uns diese Analyse etwas für heutige Institutionen und Gesellschaften, inwiefern handelt es sich um eine ›Spätkultur‹? Entscheidend ist, dass Gehlen hier Mechanismen der Institutionalisierung sichtbar macht, die sich durchziehen: die Etablierung von Eigenräumen, Eigenzeiten, Eigengeschichten in den institutionalisierten, also festgestellten, wiederholbaren und symbolisch gestützten Praktiken. Demgegenüber kritisierte unter anderem Schelsky (1979b) den in einer Institutionentheorie unnötigen Verfallston Gehlens. Bei seinem Schüler Luhmann nahm das dann den abgekühlten Ton der frei drehenden (autopoietischen) sozialen Systeme an. Der Pessimismus ist von der soziologischen Theorie trennbar; weniger wohl von der Gesellschaftsanalyse. Grundlegend ist für diese erneut die Theorie der Kulturschwellen. 44 »Ein Philosoph, der dieses Namens würdig ist, hat im Grunde nur immer eine einzige Sache im Auge gehabt; außerdem hat er mehr versucht, diese Sache auszusprechen, als daß er sie direkt ausgesprochen hätte« (Bergson 1948: 131). Auch Gehlen (1983c: 368) meinte, ein Philosoph habe nur einen oder zwei Gedanken – es müsse nur einer sein, der sich bei den Griechen noch nicht findet.
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VI Gesellschaftsdiagnose 1: Das moderne Welt- und Selbstverhältnis Zeitgleich zur Überarbeitung der Anthropologie von Der Mensch, und zeitgleich zu ihrer sozialtheoretischen Entfaltung in Urmensch und Spätkultur, verfolgt Gehlen gesellschaftsdiagnostische Arbeiten, unter Titeln wie diesen: ›Bürokratisierung‹, ›Das Elitenproblem‹, ›Konsum und Kultur‹, ›Luxus und Gesellschaft‹; und vor allem unter dem Titel seines seit 1947 verfügbaren Bestsellers: Die
Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Es gibt, so Gehlen in diesem Buch, in der »Geschichte der Menschheit sehr seltene stufenartige Großereignisse irreversibler Natur, welche die gesamte Menschheitsgeschichte sozusagen auf ein noch nicht dagewesenes Niveau stellen«; und die These des Buches ist, dass die Menschheit in der Industriegesellschaft die letzte dieser »Kulturschwellen« betreten habe (Seele: 97). Die bisher gültigen geschichtlichen Rhythmen werden hier durch eine qualitativ neuartige Ereignisreihe überlagert, nämlich durch die »Erstmaligkeiten« der »Superstruktur«, der Konvergenz von Naturwissenschaft, Technik und Industrie, verbunden mit einer neuen Subjektform. Auch hier, in der Diagnose der Gegenwartsgesellschaft, ist also der Begriff der Kulturschwellen zentral – sowie die dem zugrunde liegende These eines stets artifiziellen Welt- und Selbstbildes des Menschen, mit welcher bereits Der Mensch einstieg. Und wie Urmensch und Spätkultur beginnt auch Die Seele mit dem technisch vermittelten Welt- und Selbstverhältnis des Menschen: »Die Welt der Technik ist […] sozusagen der ›große Mensch‹: geistreich und trickreich, lebenfördernd und lebenzerstörend wie er selbst, mit demselben gebrochenen Verhältnis zur urwüchsigen Natur. Sie ist, wie der Mensch, ›nature artificielle‹« (Seele: 7f.). Worauf sich Gehlen nun gegenüber seiner elementaren soziologischen Theorie konzentriert, ist das spezifische technische Welt- und Selbstverhältnis der ›Spätkultur‹, in Verlängerung der generellen technischen Tendenz der Ersetzung des Organischen durch das Anorganische. In dieser allgemeinen Tendenz haben wir »alle das 93
Gefühl, daß seit der Zeit der Steinwerkzeuge oder der Bogenwaffe bis heute eine qualitative Veränderung in dem vor sich gegangen sein muß, was Technik heißt. Diese qualitative Veränderung besteht aber nicht etwa, wie man oft denkt, in dem Übergang vom bloßen Werkzeug zur Maschine«. Das qualitativ Neue der Gegenwartsgesellschaft liegt vielmehr in der Synthese von Wissenschaft und Technik: »Die Technik übernahm von den neuen Naturwissenschaften das atemberaubende Tempo des Fortschritts, diese wieder von jener den praktischen, konstruktiven, unspekulativen Zug« (Seele: 10f.). Und dies mit durchgreifenden Konsequenzen. Wie in den anderen Gesellschaftsepochen hat man es erneut mit einer spezifischen Außen-, Innen- und Sozialwelt zu tun, sowie mit einer spezifischen Form des Institutionellen. Diese neue Signatur der aus der Synthese von Technik und Wissenschaft entstehenden Kultur versteht Gehlen zunächst, in größtmöglicher Abstraktion, als generelle »Unbestimmtheit« (Seele: 103). Die Hauptaufgabe der Menschheit sei nun nämlich, herauszufinden, auf welchen Gebieten sie noch jene neutralisierte, auf Beherrschung angelegte Haltung zulassen will, und wo nicht: es ist alles kontingent geworden, verfügbar, auch anders möglich; anders formuliert: es gibt nichts Verpflichtendes, Unhinterfragtes mehr. Die Außenwelt, die auf eine lange Geschichte der zunehmenden Neutralisierung und Rationalisierung zurückblickt, ist vollends beherrschbar geworden. Man hat es nicht mehr mit einer ›Natur‹ zu tun, sondern mit einer von der Industrie umgeschaffenen, technisierten Welt, in welcher sich »Millionen von ichbetonten, selbstbewußten und auf Anreicherung ihres Erlebens bedachten Menschen bewegen« (Seele: 70). Allerdings, trotz aller Stabilität der Betonstrukturen, der großen Artefakte und Infrastrukturen gelingt hier weder die Stabilisierung des »Sozialraumes« noch die des Lebensraumes – denn man hat es mit einer auf das Neue gerichteten Gesellschaft zu tun, einer Kontingenz forcierenden Gesellschaft der »schöpferischen Zerstörung« (Schumpeter 1980: 134ff.). Analysiert wird also das neue Weltverhältnis, wie es sich aus der zweiten großen Kulturschwelle, dem Industrialismus, ergeben hat und seither eine ähnliche exzentrische Übersteigerung erreicht habe wie die Heiratsregelungen totemistischer Gesellschaften. Die Technik ist zwar so alt wie der Mensch. Neu ist 94
allerdings ihre Ausreizung. Die Erfindung anorganischer Energiequellen wird in der Nutzung der Atomenergie auf die Spitze getrieben; ebenso die Unanschaulichkeit. Damit einher geht ein neues Sozialverhältnis. Diese Gesellschaft, die sich »auf Beton und Stahl gepflanzt« (Seele: 41) hat, undurchschaubar und unverrückbar geworden ist – wie es Popitz (1995) für urbane Gesellschaften generell annimmt –, geht mit einer Komplizierung des sozialen Gefüges einher: der Ausdifferenzierung der Teilsysteme, ihrer Selbstläufigkeit gegenüber den kleinen Einzelnen. Es handelt sich um eine spezifische Form des Institutionellen. »Was beim Studium vergangener Kulturen […] überzeugend zu uns spricht, ist das Bedeutungsvolle, nach vielen Hinsichten Symbolische der Institutionen: sie waren Mehrzweck-Institute und wahrscheinlich gerade deswegen Mehr-als-Zweck-Institute. Die Folge der Entgliederung der Gesellschaft im Industriezeitalter ist der Ersatz der Institutionen durch Organisationen« (Seele: 130f.), instrumenteller, ›entzauberter‹ Institutionen. Die Institutionen haben keine unbedingte Geltung mehr; sie werden reflexiv, rechtfertigen sich durch ihre Funktion. Die dazugehörige »massenmäßige und verkehrsbezogene Kultur« vereinzelt die Individuen. Sie minimalisiert das »dauernde Miteinanderleben«. Die Moral, also die Logik der Integration in dieser Wirklichkeitskonstruktion ist die der »mechanisierten Verantwortung, der Unterordnung unter die Sachansprüche« (US: 69). Hans Freyer (1955) hatte hier in enger Verbindung mit Gehlens Analysen von der ›Machbarkeit der Sachen‹ gesprochen: Alles erscheint machbar, sogar die Gesellschaft selbst – deren Optimierung sich die Soziologie ja vornimmt. Zugleich mit dem Sozialverhältnis etabliert sich ein neues Selbstbild, eine neue Menschenform: Die automatisierte Maschine ist die neue ›Grundform‹ des Menschen. Angesichts der scheinbar sich selbst steuernden technischen Dinge »schwingt etwas in uns mit, gibt es eine Resonanz in uns, und wir verstehen begrifflos und wortlos etwas von unserem eigenen Wesen«. Die Maschine bietet also nach dem Totemtier und nach den Göttern der polytheistischen und monotheistischen Religionen ein drittes indirektes Selbstverständnis (Gehlen 2004a: 156). Dies ist ein Motiv, das ähnlich auch die Kybernetik, und später Donna Haraways Cyborg oder die Artefaktsoziologie aussprechen: es sind Fälle von Selbstver95
ständnissen des Menschen aus der Maschine heraus. Aktuell gibt es »Gruppenmitglieder, die einen Absprung in die Technologie vorbereiten, in dem sie zunehmend artifizielle Elemente in den menschlichen Körper einführen« (Seyfert 2010a: 276ff.). Worauf sich Gehlen nun konzentriert, ist die Veränderung der Innenwelt, die Wirkung der dominanten Sphären von Wissenschaft, technischer Anwendung und industrieller Auswertung auf das Selbst. Da die »Superstruktur« ein Selbstläufer ist, ein autopoietisches System, wie es später bei Luhmann heißt, ist sie »ethisch völlig indifferent« (Seele: 60). Die Einzelnen sind hier rein funktionalisiert, sie sind die bloße ›Umwelt‹ der Systeme – unter Vernachlässigung der Person. Unter diesen Umständen gerät also das in Gefahr, was Gehlen als die eigentliche Essenz der Kultur versteht, als das Proprium des nicht festgestellten Tieres: die Persönlichkeit im Sinn des sich selbst in Form bringenden Lebewesens, das eben sein Leben führt. Und eine »Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall« (Seele: 133). So hängen erneut Anthropo-Biologie, soziologische Anthropologie und Gesellschaftsdiagnose zutiefst zusammen. Der Gedankengang, der zu dem berühmten letzten Satz von Die Seele führt, ist folgender: Welt- und Sozialverhältnis sind gekennzeichnet durch den beschriebenen Abbau der Anschaulichkeit. Die Zusammenhänge werden zunehmend unbegreiflich. Das Subjekt hat dann nur die Chance der Anpassung, auf verschiedenen, letztlich ähnlichen Wegen: durch Opportunismus; im »Totstellreflex«; oder durch »Feminisierung« in der Konsumhaltung (Seele: 45).45 Entsprechend verändert ist das Innenleben solcher Gesellschaften, die Subjektform. Gehlen betont hier zunächst die zunehmende Intellektualisierung sowie den fließenden Strom 45 Vgl. auch die dem Luxus gewidmeten Sätze: Es liegt in der »Natur des Menschen […], über das jeweils lebensnotwendige Minimum hinauszustreben« (Gehlen 2004i: 518); die Routine »will durchbrochen sein zugunsten außerordentlicher, nur selten vergönnter oder überhaupt noch nicht erlebter Befindlichkeiten«. Hierin gründen »alle höheren Möglichkeiten«. Im Streben nach mehr Leben gibt es »keine obere Grenze«. Die Gegenwart unterscheide sich von früheren Epochen nur dadurch, dass der Begriff des Luxus im »Lebensstandard« aufgegangen sei (ebd.: 521, 524ff.).
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wechselnder Stimmungen, der an die Stelle der methodischen Herbeiführung eines Ichzustandes, einer Selbsttechnik getreten sei. Die rationalisierte, bürokratisierte Gesellschaft verwandelt den Einzelnen in einen »Funktionsträger«, so dass die Persönlichkeit, von den »verschiedenen Apparaturen aufgesogen«, zu einem nur im Privaten gepflegten, gesellschaftlich aber unbeanspruchten Restbestand verkümmere (Seele: 119, 127). Dass die moderne Gesellschaft die ›Persönlichkeit‹ bedrohe, ist gleichwohl nur halb richtig, denn es gäbe verschiedene Begriffe der ›Persönlichkeit‹ – und auch ein zeitgenössisches Äquivalent. Gehlen zufolge ist die eigentliche Bedeutung der ›Persönlichkeit‹ im Verschwinden begriffen: der »Über-Routinier, der Mann mit der großen Routine, der sich zugleich über sie erhebt«, jene Figur hoher »Vitalität und Arbeitskraft, Intelligenz, distanzierter Übersicht, Entschlußkraft, Einfallsreichtum, Diskretion« (Seele: 128f.), bei der Gehlen wohl an die charismatischen Unternehmer denkt, von denen auch Schumpeter schreibt – die ›schöpferischen Zerstörer‹. Und auch die zweite Form der Persönlichkeit, die ungewöhnlichen Figuren, sind – in einer Zeit der Reduktion der Einzelnen auf das Funktionieren und der entsprechend ›leerlaufenden‹ Gedanken- und Gefühlsströme – passé. Denn dazu wäre nicht weniger als eine neue Askese in Gang zu setzen – und zwar an den beiden entscheidenden »Enden« der Gegenwartskultur: am »Wissenwollen, dem Anfangspunkt«, und am »Konsumierenwollen, dem Endpunkt« der Integration dieser Gesellschaft (Seele: 60). Dies wäre eine Überschreitung, die Gehlen als unwahrscheinlich erscheint. Vom Staat jedenfalls könne man keine derartigen neuen Ideale erwarten; auch die Kirche habe keine Autorität mehr. Selbst die Familie werde nicht zum Feld einer neuen Aufgabe, denn sie ist die einzig verbliebende »symbiotische Sozialform«, das »Asyl der Privatheit« (Seele: 63). Gleichwohl handele es sich bei der Subjektform durchaus um mehr Persönlichkeit als je zuvor, im Sinne von Subjektivität, im Bereich der Erfahrung erster Hand, im Privaten, in den »kleinen Sondergruppierungen« (Seele: 82, 128) der Vereine, Klubs und Cliquen. Michel Maffesoli (1996) wird an dieser Stelle von der Gesellschaft der neuen ›Stämme‹ sprechen. Nach der ornamentalen Ordnung der Masse in der organisierten Moderne hat man es nun mit kleinen, ästhetisch oder kulturell integrierten Vergemein97
schaftungen zu tun: mit der »Selbstkulturalisierung« (Reckwitz 2009) der Gesamtgesellschaft. Gehlens Diagnose einer zunehmenden Subjektivität kann also durchaus bis zu uns verlängert werden. Anstelle des souveränen, sich selbst disziplinierenden Subjekts ist das ›kreative Subjekt‹ die imperativische, dem Einzelnen auferlegte Selbst-Form. Es geht hier, so wäre mit Gehlen zu sagen, weniger um eine In-Form-Haltung (Auf-Dauer-Stellung, Disziplinierung, lebenslange Orientierung an einer Aufgabe) als vielmehr um ein ständiges Anders-Werden. Die neue Form des Selbst zeichnet sich durch Spontaneität und Flexibilität aus, durch ein lebenslanges Umlernen. Auch dies ist eine Form des »Selbstmanagements« (Bröckling 2006) – so hätte es Gehlen aber wohl nicht formuliert. Die Zeitdiagnose konstatiert also vor allem eine neue Subjekthaltung, mit anderen Worten, eine neue Moral – und zwar eine »Industriemoral« im Gegensatz zur »Agrarmoral« (Seele: 77ff.). Erneut beugt sich Gehlen nun zur ersten Kulturschwelle, dem Übergang vom Totemismus zu den sesshaften, Pflanzen anbauenden Kulturen, zurück. War die ›Agrarmoral‹ verbunden mit der Bejahung des Eigentums, dem Wille zur Stabilität, dem Denken in Jahreszeiten, Jahren, Generationen und der Bereitwilligkeit zur Unterordnung – kurz, war sie »Inbegriff traditioneller Kultur« (Seele: 80), so ist die ›Industriemoral‹ in allem das Gegenteil. Rational verhält sich der Einzelne hier, in jener Situation, in der die »Institutionen um ihn herum in Umbau oder Abbau begriffen sind«, egozentrisch. In der Industriegesellschaft sind damit erneut alle bisher geltenden »Prämissen menschlicher Ordnung und Gesittung entkräftet«. Gegenüber der anorganischen Natur, gegenüber Kohle, Elektrizität, Atomenergie gibt es nämlich keine ethische Einstellung. Das Bewusstsein einer Beschränkung der eigenen Tätigkeiten setzt also nicht schon an der »Grundproduktion«, am Verhältnis zur tierischen und pflanzlichen Natur an. Hier ist vielmehr gar keine andere Einstellung zur Natur als die cartesianische, die des »›maître et possesseur‹«, denkbar (Seele: 83). Das Ethos ist das des Beherrschens und Bemeisterns. Aus diesem Verhältnis zur Natur, der Vermessenheit des Machens, erklärt sich Gehlen auch die »staunenswerte Abwesenheit aller asketischen Ideale«, die in »allen früheren Zeiten, welche doch auch Übersteigerungen luxurierender Bedürfnisse zeigten, dennoch als […] Gegennorm festgehalten worden waren« (Seele: 87). 98
Hinsichtlich der idée directrice dieser Gesellschaftsform, ihrem zentralen Imaginären (Castoriadis), das man finden muss, will man eine Gesellschaftsdiagnose erstellen, spricht Gehlen vom posthistoire.46 Das zentrale Kennzeichen des gesellschaftlichen Wissens der Industriegesellschaft ist die Endgültigkeit der erreichten Lage. Worin sich Gehlen zu befinden glaubt, ist ein »nachgeschichtliches Stadium, so wie es im echten Sinne ein vorgeschichtliches gab« (Gehlen 2004f: 329). Anstelle des (vom Wortlaut her) auf die temporale Dimension begrenzten post-histoire verwendet Gehlen auch den umfassenderen, von Pareto stammenden Begriff der kulturellen ›Kristallisation‹ – für jenen Gesellschaftszustand, in dem die »Wahrscheinlichkeit fundamentaler Veränderungen in den Prinzipien der Kultur abnimmt, wobei sehr wohl die Zahl und das Tempo oberflächlicher Variationen zunimmt« (Gehlen 2004h: 333). Es gibt nach 1945 auf ideeller Ebene also nichts Neues mehr: das ist die These. Denkbar ist auf allen führenden Wissensgebieten (Religion, Politik, Kunst) vielmehr nur noch die Bewegung auf der Stelle, anstelle prinzipieller, revolutionärer Veränderungen. Ideengeschichtlich ist »nichts mehr zu erwarten« (Gehlen 2004c: 308). Der Mensch befindet sich hier im Zustand der »Fossillierung [sic] im Modus der Beweglichkeit« (Gehlen 2004f: 325). In der Frage nach den weiteren ›Ordnungen der Dinge‹, neuen Kulturschwellen und Menschenformen legt sich Gehlen damit fest. Man muss hier sicherlich, von heute aus gesehen, Wolfgang Welsch Recht geben: »Es ist nicht so, daß es nichts Neues gäbe, sondern es ist so, daß die Posthistoire-These so angelegt ist, daß sie nichts Neu46 Gehlen nutzt diesen Begriff bereits 1952 (1983c: 379), erneut 1962 (2004l). Vgl. Rehberg 1991; ders. 2004a: 659–664). Er bezieht sich dabei (2004l: 352) über Hendrik de Man auf den Infinitesimal- und Wahrscheinlichkeits-Mathematiker und Philosophen Antoine Augustin Cournot (1922 [1861]): Die Geschichte beginne mit elementaren Sozialformen und entfalte sich zu einem Endzustand, in dem die Gesellschaft sich nach quasi geometrischen Bedingungen organisiere. Dazwischen liegen Epochen, in denen politische und religiöse Institutionen die Hauptrolle spielen. Cournot beobachtet diese Bewegung auch in anderen Feldern (im Biologischen, Geologischen); dies erinnert stark an Herbert Spencers Theorie der (sozialen, biologischen, physikalischen, geologischen) Evolution.
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es wahrnehmen kann« (Welsch 1991: 17, 153). Gehlens Anthropologie (das ›nicht festgestellte Tier‹) spricht ja selbst gegen diese These, und anzunehmen ist, dass Gehlen dies wusste. Auch hier ist der Kontext wichtig, um ihn zu verstehen: Gegenüber den zeitgenössisch erneut Resonanz machenden geschichtsphilosophischen Utopien (des Marxismus) und revolutionären Erwartungen wird eine Situation beschrieben, welche die Subjektstruktur so umgebaut hat, dass nichts Motivierendes, nichts ›Umzukehrendes‹ mehr da ist. Das post-histoire, die Kristallisation, liegt dann durchaus in der Logik von Gehlens Analyse der Kulturvariationen (vom Vegetalismus/ Totemismus bis zur Moderne). Und er hat auch eine Begründung für seine These: In der Steigerung des Lebensstandards der Konsumgesellschaft stauen sich nämlich, wie Gehlen meint, keine vitalen Energien mehr. Es ist eben eine durchgreifend nicht-asketische Gesellschaft, die »Raserei« nach dem Wohlleben, wie Gehlen mit Bergson (1992: 232) sagt. In ihr sind alle »Basis-Bedürfnisse« (»Vollbeschäftigung, Gesundheit, Sicherheit«) erfüllt. Die idée directrice in Bezug auf das Subjekt ist dann der »›homme situé‹ – und das ist eine qualitativ nicht progressive Figur« (Gehlen 2004h: 332). Urmensch und Spätkultur berühren sich hier, denn diese nachgeschichtliche Subjekt- und Sozialform entspricht Gehlen zufolge strukturell der vorgeschichtlichen Form. Die nichtasketische Konsumkultur wäre gewissermaßen das Analogon des nicht-asketischen Vegetalismus. Gehlen hatte eine zu große Distanz gegenüber der eigenen Gesellschaft, um (mit Luhmann gesprochen) funktionale Äquivalente für die »verzehrenden«, großen Institutionen (Kirche, Staat) in der Zeit ihrer unbedingten Geltung zu sehen. Das Thema des Institutionellen unter der Bedingung des reflexiven Subjekts bildet dann auch den Punkt, an dem Schelsky Gehlen – wie erwähnt – kritisch ergänzt. Schelsky gewinnt hier seine Rechts- und Rechtstaatssoziologie. Seine These (Schelsky 1979b) ist: Dass man es bei der Subjektivität selbst mit einer Institutionalisierung zu tun hat, einer produktiven Umformung des Einzelnen unter Eingang vitaler Energien. In den Zeit-Bildern (1960) korrigiert sich Gehlen in diesem Punkt – ohne vom post-histoire abzurücken. Vielmehr diagnostiziert seine Analyse der modernen Kunst dies am deutlichsten.
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VII Gesellschaftsdiagnose 2: Soziologie des Ästhetischen Auch dieses Buch, die Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, ist »labyrinthisch« (Linfert 1961). Es nähert sich einem großen, in der Soziologie nicht oft behandelten Thema: dem der modernen, insbesondere abstrakten Malerei. In ihr entdeckt Gehlen tiefe gesellschaftliche Bezüge und subjektformende Effekte. Wieder gibt es einen aufschlussreichen, flankierenden Aufsatz, der nun aber eher die Gegenprobe zu Gehlens Soziologie der abstrakten Malerei darstellt: einen Text zu Francis Bacon, einem der »erstaunlichsten Künstler der Gegenwart, Meister der Negation, ein Terrorist unter den Malern«. Gehlen notiert Gesichter in Bewegung, verwischt und »aufs schwerste« deformiert, mit wuchernden, »raumerzeugenden Apparaturen« (Gehlen 1962: 927ff.); einen Papst, der ganz »brüllender, entsetzlicher Mund« ist; »monströse Akte und Mißgeburten«. Kurz, es bietet sich dem soziologischen Betrachter ein »grandios-katastrophaler« Gesamteindruck von Bildern, die Verzweiflung und Grauen und am Ende die nackte Furcht des Einzelnen artikulieren. »Diese Dinge sind nicht mehr recht einholbar. […] Was hatten wir bisher eigentlich für wesentlich gehalten?« (ebd.: 932f.) Deleuze hat etwas später vor denselben Bildern Kräfte gespürt, die mit unerträglicher Gewalt auf Körper einwirken. Indem diese Bilder Schreckliches »›repräsentieren‹«, spürt er einen ungeheuren »Exzeß an Gegenwart« (Deleuze 1995: 35). Die abstrakte Kunst nun, zu der die Analyse der Zeit-Bilder beitragen will, hat wenig von Bacon. Sie scheint wenig affektiv zu sein, wenig erregend, auf den ersten Blick zumindest. Es gibt keine Leiden Christi, keinen Papst, der ein einziger Schrei wäre, nichts, was sich hier überhaupt erkennen lässt. Man muss über diesen Bildern rätseln. Statt einfangend, verpflichtend, ist diese Kunst »kommentarbedürftig« (ZB: Kap. IX). Erneut werden von Gehlen ›Kulturschwellen‹ gezeichnet, nun kleinteiliger, nicht mit der Höhlenmalerei beginnend (wie man vielleicht erwartet hätte). Vielmehr wird diese ›Kunst‹ bewusst ausgeklammert, denn in ihr gibt es künstlerische Motive nur 101
innerhalb des Ritus. Es gibt in ihr kein »außerkünstlerisches« Bezugssystem und keine ästhetische Betrachtung. Das Bild ist »außerhalb seiner rituellen Funktion buchstäblich nicht ›denkbar‹« (ZB: 17). Die drei betrachteten Epochen in der vom Ritus emanzipierten Kunst sind: (1) die religiöse Malerei mit dem Bezug auf absolute Wahrheiten, denen das Kunstwerk hilft, »zu bleiben« (ZB: 23); (2) der Realismus mit dem Bezug auf die ›Natur‹ als Gegenbild zur Kultur/Gesellschaft, und hier vor allem die seit dem 16. Jahrhundert anbrechende »Bildform unmittelbarer Darstellung«, in welcher die Kunst jede religiöse Konnotation streicht. Ihr geht es zunehmend nun um den Akt des Wiedererkennens. Der subjektive Effekt ist unter anderem ein »Zeit-Stop« wie in Dürers Hasen-Rasen-Bild, ein interesse- und assoziationsloses Verweilen im Gegenstand (ZB: 27, 37). (3) Schließlich geht es um die abstrakte Kunst mit ihrem Bezug zur Subjektivität, »in ihrer reflektierten, in sich selbst zurückgespiegelten Form« (ZB: 16). Auf dieser Entwicklung der Kunst liegt der diagnostische Schwerpunkt. Mit der Abstraktion ist eine letzte Stufe der »Bildrationalität« erreicht. »Der jetzt in der Kunst sich ausbreitende bewusste Subjektivismus eines Reflexionsstandpunktes, die Zuspitzung der Problemstellung auf die Beziehungen zwischen Bildfläche und Auge zieht sozusagen Energiebeträge der Seele vom Gegenstand ab, mit denen er früher besetzt war«. Gehlen verweist als Grund dafür auf die Erfahrung zweiter Hand, die Technisierung und Schaffung einer »Normalumwelt in den übervölkerten Stein- und Betonheimaten« der urbanen Gesellschaft – die »Dauerbindungen an reale Schwerpunkte des Daseins sich verringerten«. Im Gegenzug verlegt sich die Kunst darauf, sich auf die »Anreicherung und Variation des ästhetischen Erlebnisses« an sich zu konzentrieren (ZB: 40f., 43). Alle drei Modi der Malerei werden auch strikt wissenssoziologisch durchdacht, auf die jeweiligen Gesellschaften und die in ihnen dominierenden sozialen Schichten bezogen; sowie auf die je verfügbaren Materialien und je möglichen Mal- und Denkweisen. In der Malerei hat man es, so Gehlen, stets mit einer je bestimmten Konzeption von Realität und Erkenntnis zu tun. Entscheidend ist für ihn hier allerdings weniger die Frage nach den tragenden Schichten eines je spezifischen Wirklichkeitsverständnisses, als die Suche nach den subjektiven Effekten der Kunst unter 102
diesen gesellschaftlichen Bedingungen. Die abstrakte Kunst ist die der bürokratisierten und demokratisierten Gesellschaft, eine Kunst in Randlage, sofern sie keine integrierende soziale Funktion mehr hat (wie in religiös integrierten Gesellschaften) – in der sie jedoch nicht folgenlos ist. Denn die moderne Kunst ist auf der Subjektseite die Kunst der »Reflexionserzeugung«. Diese Kunst »lebt davon, daß sie die chronische Reflexion, die jedermanns Zustand geworden ist, ins Optische vorschiebt« (ZB: 224). Deleuze und Guattari hatten hinsichtlich der subjektiven Effekte der Kunst insgesamt von der besonderen Fähigkeit ›großer‹ Kunst gesprochen, Affektionen und Perzeptionen – ›asubjektive‹, nicht aus einem selbst stammende Gefühle und Wahrnehmungen – zu erfinden. In diesem Zusammenhang schrieben sie der Kunst das Potenzial zu, ein ›Anders-Werden‹ des Einzelnen zu bewerkstelligen (Deleuze & Guattari 1996: 204). Indem man Kafkas ›Verwandlung‹ liest, wird man – für den Moment – zu K. und zum Käfer; beim Lesen Melvilles zum Wal. Allerdings scheint dieses Potenzial in der abstrakten Kunst schwer vorstellbar: Ihr steht man, so Gehlens Beobachtung, ratlos gegenüber. Hier wird weder etwas Identifizierbares dargestellt, noch gibt es eine sonderliche Affektivität. Diese Kunst macht vielmehr (zumindest, solange das Publikum sich nicht eingesehen hat) den ›Kommentar‹ notwendig. Diese Form der Kunst und ihr Erfolg haben zutiefst etwas mit der modernen Gesellschaft zu tun. Aus dieser heraus muss man sie verstehen, aus ihren subjektiven Notwendigkeiten. Denn in der funktional differenzierten Gesellschaft, in die jeder nur mit einem Teil seines Selbst, mit seiner Rolle oder Funktion, eingeht, ist für »hochgetriebene Appetite, für großherzige Dummheiten, […] für die Räusche genialer Vereinsamung und die Sorglosigkeit breiter Naturen« kein Raum mehr. Gerade in ihr entsteht eine »Sehnsucht nach Außenseitern«, nach dem Ausbruch aus der Routine. Dieser Ausbruch kann nur noch virtuell erfolgen. Und wo kann er erfolgen? In Kunst und Literatur – hier gibt es noch die »Freiheitsgrade«, die im sonstigen sozialen Leben nicht mehr existieren (ZB: 223f.). Man muss aber noch einen Schwenk des Argumentes mitvollziehen: Mit den ›Freiheitsgraden‹ ist nicht einfach eine Beliebigkeit des Darstellens gemeint. Im Gegenteil, diese Bilder sagen ja – in ihrer Konzentration auf die Bildfläche statt auf das Dargestellte – 103
gar nichts mehr. Gerade dadurch, so Gehlens Argument, ergibt sich nun ein Effekt der Entlastung, eine ›Befreiung‹. Dies ist auf den ersten Blick kontraintuitiv. Belastet die abstrakte Kunst den Einzelnen nicht eher, indem sie ihn zum Rätseln zwingt? Der Gedanke ist folgender: Die außerkünstlerische, soziale Funktion der Kunst könnte in der industriellen Massengesellschaft gerade damit »zusammenhängen, dass sie uns mit Daseinsmächtigkeit verschon[t], könnte also in der Entlastung liegen. Natürlich Emotionen und Gefühle, aber gefiltert […], und natürlich Gedanken, aber ineinander und in sich selbst gespiegelt, und doch nicht etwa ›Urimpulse‹, wo gibt es denn das, die Subjektivität ist ja das Bezugssystem, und nicht mehr die alte, große, tötende und heilende Natur« (ZB 165). Man muss sich also das außerkünstlerische Bezugssystem ansehen: Das, worauf diese abstrakt gewordene Kunst zielt, ist nicht mehr das verpflichtende Politische, auch nicht mehr das vereinnahmende Religiöse, und ebenfalls nicht mehr (wie in den magischen Kulturen mit ihren Felsmalereien) die Bewältigung der unheimlichen Natur. Vielmehr ist es die Subjektivität. Auch die moderne Kunst will Erlebnisse erregen, wie es Deleuze und Guattari der Kunst insgesamt als Potenzial zuschrieben. Aber es können, so Gehlen, nur die heute möglichen Erlebnisse sein, und das sind die »sich selbst erlebenden« Erlebnisse (ZB: 166f.). Die Kunst vermittelt und erzeugt so die Form unserer »wirklichen, alltäglichen Bewußtseinsverfassung«, nämlich die der fließenden, unverbindlichen, sich stets ändernden Gedanken und Gefühle entlang jenes »Antennismus« (ZB: 165) der modernen Subjektivität, den David Riesman (1958) als ›außengeleiteten Charakter‹ beschrieb (den Radartyp, der sich an seiner peer group orientiert). Diese Funktion der Erzeugung von Erlebnissen erfüllt die moderne Kunst »in Vollkommenheit«. So gelingt ihr vielleicht, in der weltanschaulichen Neutralisierung (indem sie eben gar nichts mehr sagt und vorgibt) die »Einregelung« des Einzelnen in die Verfassung einer Menschheit, welche, so Gehlen nun erneut pessimistisch, vom »Kampf ums Mitkommen abgewetzt« sei – einer Menschheit, die sich in ihre Superstrukturen aus Technik, Wissenschaft und Industrie einfügt, deren Gestaltungsmöglichkeiten im Politischen eingeschränkt scheinen (ZB: 165). 104
Luhmann erstellt eine ähnliche Gesellschaftsdiagnose, in anderem, nüchternen Ton. Auch für ihn ist dabei die Kunst nicht unwesentlich: Eine Gesellschaftstheorie könne nämlich nicht ignorieren, »daß es Kunst gibt« (Luhmann 1997: 10). Die Kunst ist für Luhmann ein funktionales Äquivalent zur Sprache, sie funktioniert als Kommunikation, ist sozialkonstitutiv. Und dies, »obwohl, ja weil sie durch Worte […] nicht adäquat wiedergegeben werden kann«. Kunst steht mit ihren nichtsprachlichen Wahrnehmungsangeboten jenseits der sprachlichen Alternative ja/nein. Auf diese Weise wird mit ihr eine »unnegierbare Sozialität erreicht« (Luhmann 1997: 36). Diese Nicht-Wortähnlichkeit der Kunst, ihre eigene Kommunikationsweise, gilt gesteigert für die abstrakte Kunst.47 Der den Einzelnen ›einregelnde‹, ihn von zu hohen gesellschaftlichen Ansprüchen entlastende Effekt der Kunst hängt auch für Gehlen gerade mit der wortlosen Sinn-Vermittlung zusammen, mit dem spezifischen Erkenntnispotenzial des Visuellen, welches die abstrakte Kunst auf die Spitze treibt. Vorausgesetzt ist hier erneut die Situation des technischen Zeitalters: die Unübersichtlichkeit und Unveränderbarkeit einer Gesellschaft, der man sprachlos gegenüberstehe. Da das Bild ein »Wortäquivalent in begriffsfremdem Stoff« ist (ZB: 168), eine Sinnoperation jenseits des sprachlich Formulierbaren, kann nun gerade das nicht gegenständlich darstellende, allein mit visuellen Mitteln operierende Bild in »gelungenen Fällen unsere Sprachlosigkeit« ablösen. Die Bilder befreien die »Wortunfähigkeit unserer überlasteten Seele« (ZB: 187). Dies erkläre vielleicht die »sonderbare gute Laune«, die sich einschleiche, wenn »wir stundenlang die gewaltsamen Formlo47 Luhmann erwähnt beiläufig auch Gehlen, sich von ihm abheben wollend und ihn zugleich auf den Punkt bringend: »Ob man nun mit Gehlen […] der Kunst eine nur noch entlastende oder kompensatorische Funktion« zuschreibe oder mit Adorno eine gesellschaftskritische, das »Problem des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft« bleibe »ungelöst«. Man verstehe so nicht, dass es ein ausdifferenziertes System sei, das »mit sich selbst beschäftigt« sei (Luhmann 1997: 488). Die postmoderne Kunst kommuniziere, dass die Gesellschaft »nur noch polykontextural« beschrieben werden könne. Sie lasse derart die »›Wahrheit‹ der Gesellschaft in der Gesellschaft erscheinen«, nämlich die »›Emanzipation der Kontingenz‹« (ebd.: 494, 498).
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sigkeiten und Farbenschreie moderner Ausstellungen aufgenommen haben: Könnte es sein, daß unser bewußtseinsnahes Nervensystem von zu viel Sperrungen und Hemmungen überlastet ist, von gespeicherten Schaltkreisen vollgestopft« (ebd.), so dass diese nichts sagenden Bilder die einzige Gelegenheit für frei flutende Gedanken sind? Entscheidend ist neben dieser Vermutung der subjektiv entlastenden Effekte und gesellschaftlichen Voraussetzungen dieser Kunst die en passant bereits angesprochene These einer kulturellen Kristallisation: die Diagnose des post-histoire, die Gehlen von der Kunst auf die Gesamtgesellschaft überträgt. Die abstrakte Kunst bedeutet, dass alle Möglichkeiten des visuellen Mediums durchgespielt sind. Es war alles schon da. Alle Möglichkeiten, im Medium des Bildes etwas zu bedeuten, sind erprobt (Realismus, Impressionismus, Expressionismus…). »Von jetzt an gibt es keine kunstimmanente Entwicklung mehr! […] Die Entwicklung ist abgewickelt, und was nun kommt, ist bereits vorhanden« (ZB: 206). Was es in der Kunst dann noch gibt, sei allenfalls die Bewegung im Stillstand. Auch ein Beuys ist eben – wie Gehlen in der dritten Auflage hinzufügt – nichts Neues mehr, denn es gab bereits einen Duchamp. Was damals, um 1910, revolutionär gewesen sein mag, diese peinture conceptuelle (ZB: 75 u.ö.), die Kunst mit Prinzipien und Erschütterungsanspruch, mit der Schlüsselattitüde, die Gesellschaft grundstürzend neu zu gestalten – dies ist nur noch ein Moment im Kunstbetrieb, der eben als solcher auf Neuheit angewiesen ist. Ebenso verhält es sich Gehlen zufolge nun auf allen Gebieten des Wissens, auf dem Gebiet des philosophischen, politischen, religiösen Wissens. Die gesellschaftsgestaltenden Ansprüche sind obsolet, es gehe nur noch ums Mit- und Weitermachen, nicht mehr ums Anders-Machen, in einer Gesellschaft der selbstläufigen Systeme, der völligen Neutralisierung der Welt, der vollendeten Naturbeherrschung und Eingliederung der Einzelnen in dieses System. Nur in der (bildenden) Kunst hat dies etwas Entlastendes: Sie erfindet ein spielerisches Weitermachen, ganz anders als die klassischen Avantgarden der bildenden Kunst, Musik und Architektur. Allerdings habe die Architektur in dieser Hinsicht noch eine Sonderstellung. Sie werde durch ihre Lebens-Funktion daran gehindert, selbstbezüglich, »absolut« zu werden – so dass in 106
ihr, anders als in den anderen Künsten und Wissensformen, noch »echter Fortschritt« möglich sei (Seele: 32). Die spielerische, entlastende Funktion der modernen bildenden Kunst hingegen zeigt sich auch in dem, was Gehlen Joseph Beuys in einer spektakulären Fernsehdiskussion zum Status moderner Kunst (1970) entlockt: Gehlen: Im vergangenen Jahr war von Ihnen zu sehen ein Volkswagenbus und aus dem kam heraus eine große Anzahl – ich weiß nicht, zwanzig – verbessern Sie mich – Beuys: vierzig – G.: – vierzig kleine Schlitten, die alle gleichen Modells waren und alle eine bestimmte Verpackung hatten. Äh … ich habe lange davorgestanden und ich war – belustigt – das wollte ich Ihnen eigentlich nicht versetzen, nicht wahr. B.: Aber das ist doch gut! G.: Nein! B.: Ja, prima, warum denn nicht! G.: Dann sind Sie ja ein Spielveranstalter! B.: Ja wieso denn nicht, warum sollen wir denn nicht mal lachen? Wollen Sie den Leuten das Lachen ausmerzen, wollen Sie die Belustigung ausmerzen, wollen Sie eine Revolution ohne Lachen machen? G.: Ich will Sie was ganz Konkretes fragen: warum haben Sie… B.: [unterbricht ihn] ich will auf meine Kosten kommen bei dieser Revolution, das kann ich Ihnen nur erzählen! G.: Ja, das glaub ich gern. B.: Und ich möchte, dass andere auch auf ihre Kosten kommen! G.: Das glaube ich gern, mein Lieber. Aber ich möchte Sie fragen: warum haben Sie keine Kinderwagen genommen? B.: Warum … [Lachen, Klatschen] … Ich würde sagen, weil ich doch das Thema bestimmt habe. Ich habe doch das Thema bestimmt auf Schlitten. Die Kinderwagen sollen Sie nehmen [Lachen, Klatschen] und versuchen … und mal versuchen, ob Sie damit was hinkriegen, was die Menschen interessiert! (Blume 2003: Min. 37ff.)
Beuys und Gehlen ›entlasten‹ sich gegenseitig, und dies gegenüber allen gesellschaftskritischen Attitüden, dem Revolutionsanspruch, für den gerade Beuys’ Name steht. Gehlen analysiert ihn einfach 107
weg. Er führt also am »prekären Phänomen moderner Ästhetik gewissermaßen den Gestus Philosophischer Anthropologie vor. Weder folgen seine Darlegungen der diskursiven Selbstdarstellungslogik moderner Malerei […] noch gibt er der dramatisch kulturkritischen Verwerfung der modernen Kunst als ›Verlust der Mitte‹ nach« (Fischer 2008a: 309).
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VIII Der Mensch III: Die anthropo-soziologische Theorie der Moral »Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, […] als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, wäre ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Schleichweg zum Nichts.« (Nietzsche 1999: 2. Abh. § 11)
Der Mensch. Dritter Teil: Das ist das stets als Kampfschrift verstandene und so geschriebene Buch Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969). »Selbstversteinerung« ist noch das freundlichste Wort dafür (Habermas 1981b: 107). ›Woher kommt Deine Aggression?‹ fragte Schelsky Gehlen nach der Lektüre, ihm vorwerfend, »keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine Herrschaftsphilosophie […] geliefert zu haben […]. Am schlimmsten: Gehlen habe mit seiner Attacke einen politisch realistischen Konservatismus, der auf Ordnung, Rechtsstrenge und Würde beruhte, in Misskredit gebracht« (zitiert in Lepenies 2009; vgl. Rehberg 2004b: XVI; Wöhrle 2010: Kap. 3.2). In der Tat, das Buch ist voll beißender Polemik – und dies an der Idee der Menschenrechte, die Gehlen als ›Ideologie des guten Menschen‹ entlarven will.48 Seine Kritik gilt also dem Kern unseres hochsensibilisierten Moralempfindens, des Moralempfindens moderner Gesellschaften des späten 20. und wohl noch mehr des 21. Jahrhunderts. Gerade diese Kritik am ›Humanitarismus‹, derjenigen Institutionalisierung einer Verhaltensnorm, die in anderer Perspektive noch »am wenigsten Leid« verursacht (Rehberg 1973: 81f.), ist unzweifelhaft provokant, ein Skandalon. Foucault sprach in Überwachen und Strafen im Übrigen ähnlich von der »Humanität«, in der das »Donnerrollen der Schlacht nicht zu überhören« sei: »Die ›Aufklärung‹, welche die Freiheit erfunden hat, hat auch die Disziplinen erfunden« (Foucault 1977: 285, 397). Auch Adorno und Horkheimer entlarv48 Auch Max Weber nannte die Idee der Menschenrechte einen »extrem rationalistischen Fanatismus« (1980: §1.3).
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ten die »anpassungsfähigen Experten der Humanität« (1987: 16) als diejenigen, die das »Barbarische« verhüllten. Die Aufklärung hat dieser Analyse zufolge eine selbstdestruktive Tendenz, sie pervertiert ihre eigenen großen Ideen (darunter: Humanität). Es ist Gehlens »konservatives Lehr-Exempel«, seine »politische Stellungnahme« (Rehberg 1973: 81f.) in der Zeit der Studentenunruhen und ihrer ideologischen Grundlage, des Marxismus. In diesen radikalen sechziger und siebziger Jahren, am Ende seines Lebens, werden sich in Gehlen die zeitkritischen Gedanken ganz in den Vordergrund schieben: Es geht schließlich um eine historisch einmalige Verunsicherung der großen Institutionen durch eine ›Bewegung‹, allen voran der Universität. »Damit verschob sich auch der Gegenstand der analytischen Neugier – an die Stelle der Analyse der strukturellen Grundlagen der Industriegesellschaft trat zunehmend die Kritik an den Sinngebungseliten der Moderne, den Intellektuellen« (Rehberg 1986: 21f.). Gehlen selbst hatte übrigens 1961 noch eine andere, nüchterne Perspektive eingenommen, die Übervölkerung, Lebensverlängerung, Geburtenbeschränkung und Welternährung als die Probleme beschreibend, die einer ›kulturell kristallisierten‹ Gesellschaft jetzt zu tun übrig bleiben. Vielleicht kündigt sich in der Fernethik eine »neue nüchterne und praktische Wendung der Moral an, man kann es hoffen, denn auf die Dauer ist ja doch das immer wieder erlebte Zurückbleiben unseres Handelns hinter den leicht gedachten Ideologien unerträglich, die Gewissensbelastung unwürdig, die sich aus der Uneinholbarkeit der Forderungen solcher Ethik ergibt« (2004c: 314). Sieht man nun in dem Buch unter dem Titel Moral und Hypermoral etwas genauer hin, so gilt nicht dem Ethos der Menschenrechte schlechthin, sondern seiner Alleinherrschaft – der ›Hypermoral‹ – die Kritik. Dieser »sehen wir solange mit Besorgnis entgegen, als es keine Weltgesellschaft in einem Weltstaat gibt und es daher noch offen bleibt, welcher Kontinent einmal seine Eigeninteressen als die der Menschheit ausgeben wird« (MH: 81). Es gibt – erneut unterscheidbar von der Zeit-, Intellektuellen- und Soziologiekritik – eine theoretische Argumentation, auf der im Folgenden die Konzentration liegt. Im Abstand von der Hitze der 1960er kann man das Buch wissenssoziologisch, genauer, als ethossoziologisches 110
Werk lesen, als philosophisch-anthropologisch fundierte Analyse der gesellschaftlichen Entfaltung und Variabilität von Moralen. Grundlegend wäre demnach im letzten Werk Gehlens die Frage der Herkunftsgeschichte unserer (in sich differenzierten) Moral und ihrer Konsequenzen für die Subjekt- und Sozialform. Dies eingerechnet, hätte Gehlen den Titel von Nietzsche übernehmen können. Es ist seine Genealogie der Moral. Der (relative49) Nietzscheanismus liegt schon in der Frage nach der historischgesellschaftlichen Herkunft bestimmter Subjektformen und Ethosformen, namentlich derjenigen, die als unhinterfragbares Ideal gelten. Schon Nietzsche schrieb in diesem Sinn: »Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten gegen das Dasein aufmarschieren muss, thut man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das Leiden-machen nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder zum Leben sah« (1999: 2, § 7). Es geht Gehlen wie Nietzsche um die Herkunft unserer (verschiedenen) moralischen Urteile. Und es geht beiden um die Kritik an der Dominanz derjenigen, die denen »zahmer Hausthiere« ähnelten (ebd.: Vorrede, § 2; 2, § 6). Es geht, mit Nietzsches Worten, um die »lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit. Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schließt […] als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, […] und folglich berechenbar zu machen […]. Der Mensch wurde mit Hülfe der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht« (ebd.: 2, § 2). In der Frage der Emergenz einer weltlichen Ethosform aus religiösen Ideen kann Gehlen aber auch an Max Weber anschließen: an eine zentrale These der Soziologie. Das Buch hat mindestens vier Linien. Es ist (1) philosophischanthropologisch grundiert. Gehlen weist die begrenzte Variabilität des organischen Lebewesens Mensch nach, seine kulturelle Über49 Wie betont, stand Gehlen Nietzsche skeptisch gegenüber (vgl. z.B. Rehberg 1983: 399); so hat er Pareto Nietzsche vorgezogen, weil er viel »konkreter«, »nüchterner und politischer« und überdies von jener »antiken Heiterkeit und Freiheit« (Gehlen 1983b: 299ff.) sei, die Nietzsche nur ersehnte.
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formbarkeit in Fragen des sozialen Verhaltens, und deren anthropologische Grenzen: es gibt grundlegend vier nicht aufeinander rückführbare und nicht durcheinander ersetzbare ›Moralen‹. Es ist (2) historisch vergleichend: zwischen Antike, Christentum, Gegenwart hin- und hergleitend. Es ist (3) zeitkritisch orientiert, eine Ideologiekritik der dominanten Moralität und die Entlarvung ihrer sozialen Trägerschichten in der eigenen Gesellschaft entfaltend. Es geht um den Humanitarismus als einem oder dem zentralen ›kollektiven Imaginären‹ (Castoriadis) der bundesdeutschen Gegenwartsgesellschaft gegen Ende der 1960er Jahre. Zunächst (4) wird man aber in eine Rahmenerzählung versetzt, in der Gehlen die deutsche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Athens nach dem Peloponnesischen Krieg vergleicht. In beiden Fällen habe sich infolge der absoluten Niederlage eine verharmlosende Anthropologie und entsprechende Moral entfaltet: ein »staats- und politikfernes« Ethos (vgl. Rehberg 2004b: IX). Diese Argumentationsstränge sind eng miteinander verknüpft. Die historische Soziologie der Moralen basiert auf der anthropobiologischen Grundlagenargumentation, die mit einer Begrenzung der Variabilität der Moralen einhergeht. In der Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft liefert Nietzsche nun auch das Gegen-Ideal, die souveräne Kultur der ausbalancierten Individuen, der ›Persönlichkeiten‹. Gehlen argumentiert in diesem Buch also erneut vor dem Hintergrund seiner Anthropologie. Aber er verändert diese auch, denn er baut nun noch eine (mit Konrad Lorenz) nach ›unten‹ korrigierte Instinkttheorie ein. Er spricht jetzt von wenigen differenten »Instinktresiduen«, die je zu verschiedenen Ethiken führen und je gegeneinander auszubalancieren sind. Er spricht insbesondere auch von einer bleibenden »Aggressionsneigung« (MH: 39), einem Abgrenzungsbedürfnis als wenig zu verschiebendem Dauer-Antrieb des Menschen. Dieser Antrieb ist durchaus sozial konstitutiv – ebenso wie der entgegengesetzte Antrieb der sexuellen Anziehung. Ethnologische Analysen scheinen Gehlen hier zu bestätigen: Agonalität ist die Sozialform gerade vieler nicht-moderner Gesellschaften. Maurice R. Davie (1929) etwa beschreibt alle ›einfachen‹ oder segmentären Gesellschaften (mit Ausnahme der Inuit) als agonal. Sie konstituieren sich gerade in der Abgrenzung voneinan112
der. Ebenso argumentiert Pierre Clastres, der in den südamerikanischen Gesellschaften eine »Logik der Fliehkraft« entdeckt: die Bildung stabiler sozialer Gruppen durch die gewaltsame Zerstreuung. »Der primitive Krieg ist die Arbeit einer Logik der Fliehkraft, eine Logik der Trennung, die von Zeit zu Zeit im bewaffneten Konflikt am deutlichsten ihren Ausdruck findet«. Und welche Funktion hat diese Agonalität? Es sind »Gesellschaften für den Krieg« (Clastres 2008: 76f.), die sich gerade dadurch integrieren, dass sie sich dezentralisieren. Die Gruppe schafft ihre innere Solidarität und Stabilität durch Feindschaft gegen Dritte. Gehlens philosophisch-anthropologische These ist nun, dass sich diese Logik der Agonalität aus der biologischen Struktur des Lebewesens Mensch erklärt, ebenso wie andere, entgegengesetzte Logiken der Bezugnahme aufeinander; und dass jede dieser sozialen Logiken nur um den Preis gefährlicher Verdrängungen verleugnet werden können. »Es gibt mehrere Fundamente der Moral, mehrere Quellen des Sollens, die durchaus unabhängig, ja sogar miteinander unverträglich sind« (MH: 20). Jede Vergesellschaftung hat alle diese Moralquellen zu berücksichtigen – das ist der Kern von Gehlens Moralanthropologie und -soziologie. Er argumentiert mit diesem Ansatz einerseits gegen jede tendenziell idealistische Moralphilosophie, die stets nur einen Imperativ kennt. Damit trifft er explizit die Morallehre der Aufklärung. So kenne etwa Voltaire nur eine Moral, »wie es nur eine Geometrie gibt« (MH: 31f.). Die Aufklärung ist, so Gehlen weiter, die »Emanzipation des Geistes von den Institutionen […]. Sie löst die Treuepflicht zu außerrationalen Werten auf« (MH: 98), und zwar durch ins Bewusstsein ziehende, reflexive Kritik, so dass die Werte »zerarbeitet und verdampft werden«. Der Angriff richtet sich andererseits auch gegen jede einseitige Anthropologie des ›guten Menschen‹. Demgegenüber ist Gehlen Hobbesianer, ein Anthropologe auch des ›bösen‹ Menschen. Zeitgenössisch handelt es sich drittens auch um eine implizite Einhegung der kommunikativen Ethik, also der zeitgleich entfalteten Ethik von Apel und Habermas. Für diese ist das »Ethos der Gegenseitigkeit, das in den fundamentalen Symmetrien möglicher Redesituationen gleichsam darinsteckt«, die »einzige Wurzel der Ethik überhaupt« (Habermas 1981b: 117f.; vgl. Honneth 2009b). Aber Gehlen ist zugleich auch 113
vielfältiger, raffinierter als Hobbes, den guten und den schlechten Menschen und noch mehr einrechnend. Es gibt eben nicht nur eine Begründung der Moral, sondern verschiedene, gleichberechtigte »Sozialregulationen« (MH: 36), in denen Ethos- und Subjektformen institutionalisiert werden. Erneut gibt es einen vorbereitenden Aufsatz: Der Pluralismus in der Ethik (1967). Gehlen unterscheidet hier zunächst jene verschiedenen ethischen Bewegungen, die sich weltgeschichtlich durchsetzten – den von Persien her kommenden, im hellenischen und römischen Reich sich entfaltenden Humanitarismus samt seiner »verdeckten, listigen Aggression« und Imperialismus (Gehlen 1967: 113). Gehlen sieht als seine anthropo-biologische Grundlage einen »symbiotischen Klebstoff«, nämlich die Einheit der Art: eine Einheit, welche die ebenso grundlegend vorhandene »Aggressionsneigung doch immer wieder instinktiv ausbalanciert«. Vielleicht, so heißt es weiter, müsse man in der Suche nach dem Grund des Humanitarismus bis auf die »dauerwache sexuelle Ansprechbarkeit aller Menschen durch alle zurückdenken« (Gehlen 1967: 110). Andererseits bespricht er den davon zu unterscheidenden Eudämonismus – das utilitaristische Ethos der Wohlfahrt, das erst in der Neuzeit sich durchzusetzen begann und in der Industrie- und Konsumgesellschaft mit ihren privatisierten Einzelnen seine vorerst größte Ausdehnung erreicht, sich dabei mit dem Humanitarismus verschmelzend. Zu diesen beiden Ethosformen zieht er 1969 systematisch zwei weitere hinzu, so dass sich eine Vierer-Schematik der Quellen sozialer Verpflichtung ergibt (MH: 41): »1. Das aus der Gegenseitigkeit entwickelte Ethos 2. Eine Mehrzahl instinktiver, verhaltensphysiologisch greifbarer Regulationen, einschließlich der Ethik des Wohlbefindens und des Glücks (Eudämonismus) 3. Das familienbezogene ethische Verhalten samt der daraus ableitbaren Erweiterungen bis zum Humanitarismus und 4. Das Ethos der Institutionen, einschließlich des Staates.« Es gibt grundsätzlich in menschlichen Kollektiven ein Ethos der Gegenseitigkeit, ohne welches sie gar nicht denkbar wären. Gehlen bedient sich hier Mauss’ Theorie der Gabe und Lévi-Strauss’ Theorie 114
der Austauschsysteme. Mauss hatte von der elementaren »Pflicht des Gebens« gesprochen, die erklärt, auf »welche Weise die Menschen zu Austauschenden geworden sind« (1990: 37). Die Tausch-Institutionen, die dem Ethos der Gegenseitigkeit entsprechen, bringen »nur eine Tatsache zum Ausdruck, ein soziales System, eine bestimmte Mentalität: dass nämlich alles – Nahrungsmittel, Frauen, Kinder, Güter, Talismane, Grund und Boden, Arbeit, Dienstleistungen, Priesterämter und Ränge – Gegenstand der Übergabe und der Rückgabe ist. Alles kommt und geht« (Mauss 1990: 39). Dabei geht es nicht allein um das Nützliche. »Clans, Altersgruppen und Geschlechter befinden sich aufgrund der zahlreichen Beziehungen […] in einem Zustand beständiger wirtschaftlicher Erregung« (ebd.: 41), und so wird die »Gesellschaft und ihre Institutionen in ihrer Totalität in Gang« gehalten. »Wir haben es mit ›Ganzheiten‹ zu tun, mit gesellschaftlichen Systemen in ihrer Gesamtheit. Wir haben Gesellschaften in ihrer Dynamik gesehen« (ebd.: 176f.). Ähnlich wie Habermas wird auch Gehlen dieses Ethos auf den grundlegend kommunikativen, auf Antwort angelegten Charakter der menschlichen Sprache beziehen: Bereits in ihr steckt das Ethos der Gegenseitigkeit. Es gibt nun zweitens, und ebenso grundlegend, stets ein Ethos des Wohlbefindens, das aus elementaren organischen oder »physiologischen« Bedürfnissen resultiert, die freilich immer überformt, kanalisiert, selektiert werden. Gehlen beruft sich hier auf Konrad Lorenz, auf die Entdeckung des »Kindchenschemas«, einer tief verankerten Schutz- und Pflegereaktion, wie sie in den ›leibnahen‹ Mitleidsethiken institutionalisiert wird (Rousseau, Schopenhauer, Gandhi; MH: 49ff.). Es gibt drittens, ebenso grundlegend, das Sozial-Ethos der Familiarität oder Fürsorge. Die Großfamilie ist eben selbst ein »komplexes Gebilde«, selbst bereits eine Institution; und zwar eine, die ihrerseits grundlegende biologische Bedürfnisse in die »Hintergrundserfüllung« (US: Kap. 12) schiebt. Ihr entsprechen wiederum Tugenden spezifischer Art: »Loyalität, Zuneigungsbereitschaft, Friedlichkeit, Solidarität« (MH: 170). Schließlich gibt es das Ethos der Institution, des Kollektivs, der Verpflichtung durch das Eigengewicht des einmal Geformten, Regulierten, Institutionalisierten – wobei hier vor allem die Institutionen des Staates und der Kirche angesprochen sind. Stabilität ist für Gehlen ein Wert an sich, ein Imperativ. 115
Je nach Gesellschaft dominiert das eine oder andere Ethos. Aber stets bleiben alle virtuell. Es sind anthropologische durchlaufende Kategorien (wobei die Frage unbeantwortet bleibt, ob noch weitere solcher ›Instanzen‹ aufzuzählen wären). Vorausgesetzt sind also – in Konsequenz des in Der Mensch entfalteten Ansatzes, der die organische Seite des Menschen nicht aus den Augen verlieren will – »phylogenetische Erbschaften«, die das Verhalten aber nicht determinieren (MH: 31). Erneut wird Gehlen auch die Unspezifität, die Entdifferenzierung der Verhaltensweisen des Menschen bei sich gegeneinander verschieben könnenden Antriebskräften voraussetzen, die sich »wie Gummi ausdehnen können« (MH: 79). Bei aller Nähe zu Lorenz wird die eigene, philosophisch-anthropologische Position nicht aufgegeben. Im menschlichen Lebewesen ist, wie Gehlen von Anfang an betont, eben kein Verhalten vorgegeben. Die ›Instinktresiduen‹ sind nicht mehr als unspezifische Energien, wobei nun bestimmte Vektoren, Richtungen eingeführt werden. Diese KräfteVektoren müssen in ›Sozialregulationen‹ je artifiziell geformt werden. Wie in Urmensch und Spätkultur wird also einerseits eine Variabilität verfolgt: die historische Veränderung der Außen- und Innenwelt und der Sozialform. Andererseits gilt die Suche durchlaufenden anthropologischen Kategorien. »So ist z.B. der Konflikt zwischen Staat und Familie unter den verschiedensten kulturellen Umständen ausgetragen worden«, aber stets gibt es diesen Konflikt. Daher liegt es nahe »hinter diesen Konflikten, die unter wechselnden Katechismen immer wiederkehren, elementare menschliche Antriebe zu vermuten, die zum Widerstreit auseinandertreten können« (MH: 169). Da im Menschen nicht vorgegeben ist, wie damit umzugehen sei, gibt es Steigerungen und Grenzüberschreitungen des Sozialverhaltens. Die Grenzen sind dann allerdings nicht die des Menschen; es ist hier alles ›allzumenschlich‹. Es sind vielmehr die Grenzen einer (von Gehlen aus gesehen) balancierten Form des Miteinanders. Gehlens Sozialtheorie ist hier (wie diejenige Plessners in Grenzen der Gemeinschaft) eine normativ angelegte ›Grenzforschung‹, die Kritikform Philosophischer Anthropologie als Korrektur von Einseitigkeiten des vieldimensionalen Lebewesens Mensch.50 50 Vgl. zu dieser philosophisch-anthropologischen Form der Kritik Fischer (2008a: 355–358).
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Es gibt Übersteigerungen, die ein Umkippen in einseitige Formungen bedeuten, in denen dann bestimmte Antriebsenergien unausgelebt bleiben und sich daher gefährlich aufstauen. Plessner hatte solche ›soziale Radikalismen‹ in den verschiedenen Gemeinschaftsidealen kritisiert: in der Sozialität, die sich (allein abstraktvernunftgemäß) durch die gemeinsame ›Sache‹ zu integrieren sucht; und in der Sozialform, die sich (allein emotional-affektiv) durch das gemeinsame ›Blut‹ verbindet. Auch er hatte hier auf die Grenzen des Humanitarismus im Sinne einer allgemeinen Menschenliebe hingewiesen (Plessner 2002 [1924]). Jetzt hat man die systematische Voraussetzung, um Gehlens Kritik und Polemik nachzuvollziehen: Die einseitige Betonung der physiologischen Antriebe führt nämlich zu einer eudämonistischen Ethik; die des Sippen-Ethos, der sympathisierenden FamilienImpulse zum Humanitarismus. Beiden Entwicklungen – zumal, wenn sie im »humanitär-masseneudämonistischen Ethos« zusammenfallen – gilt seine vehemente Kritik. Eine weitere Überdehnung, die der Institution des Staates, des Politischen, ist hingegen nicht sein Schwerpunkt. Es ist aber der Subtext, nämlich die Voraussetzung jener Situation, gegen die er anschreibt: die völlige Diskreditierung staatlicher Macht durch den Nationalsozialismus. Es geht, 1969, in der Kritik der zeitgenössischen Ethik, um die Dominanz des ›guten Menschen‹; um jenes Ethos, das sich Gehlen letztlich aus der Großfamilie erklärt und welches im logischen Kontrast zu jedem größeren Sozialverband stehe – vor allem zu den Erfordernissen einer territorialstaatlich organisierten Gesellschaft. Christliche Liebesmoral und der aufklärerische Humanismus sind Ausdehnungen eines nur auf die Familie zugeschnittenen Verhaltensideals. Die Dominanz dieser Norm resultiert aus Situationen, in denen eben das Institutionen-Ethos nicht mehr lebbar ist. Patriotische Gefühle kommen bei den Deutschen nach 1945 in der Tat nicht mehr zum Zuge (MH: 184). Die aus diesem Ideal und der entsprechenden Erziehung resultierende Subjektform führt in Gehlens Augen zu einer gefährlichen Selbst-Verharmlosung des Menschen: zur Selbst-Verkleinerung, wie er erneut mit Nietzsche sagen könnte. Die aggressiven Antriebe bleiben dann virtuell und führen früher oder später zu nicht-institutionalisierten Formen der Gewalt, nicht kanalisier117
ten, nicht sublimierten Formen – so die Grundidee des Buches. Gehlen erwähnt hier das Wiederaufkeimen separatistischer Bewegungen, von Bürgerkriegen. Zudem bereiten humanitaristische Wohlstandsgesellschaften ihre Einzelnen nicht auf Aggressionen von außen vor. Demgegenüber geht es Gehlen also um eine ganz und gar unzeitgemäße »Apologie der Macht« (MH: 113). Denn nur das Institutions-Ethos des Staates sei in der Lage, die »Aggressionen zu bändigen, ja zu verwerten« (MH: 103); und nur aus dem Staat stammen (so heißt es nun in doch unplausibler Einseitigkeit weiter51) die großen geschichtlichen Bewegungen, die Dynamiken der ›Selbststeigerung des Menschen‹, etwa in der Freisetzung von Wissenschaft und Kunst vom Politischen. Hinsichtlich der Genealogie, der Frage, wie wir zu unserer – in eine Richtung ›überdehnten‹ – Moral gekommen sind, hat Gehlen die antike Situation vor Augen. Welche Ethik entwickelten die Philosophen Griechenlands nach der Kapitulation Athens (das gleichwohl seine Architektur-, Kunst-, Musik- und Kleidermoden auf die Eroberer übertrug)? Was führte zur sittlichen »Eroberung der Eroberer«? (MH: 25) Es sind die Stoiker, die nicht nur die Lehre von der tugendhaften Affektlosigkeit, sondern auch das Ideal des Kosmopolitismus erfanden. Zenon von Kition propagierte in der Situation der eigenen Machtlosigkeit den gerechten, kausal funktionierenden, vernünftigen »Superstaat« Kosmos anstelle der begrenzten (und besiegten) Polis. Er war es, der zum ersten Mal die Idee der Bürgerschaft auf das Weltall ausdehnte. Dies entsprach, so Gehlen, jener neuen »Wirklichkeit einer aus allen Richtungen durcheinander gewürfelten Bevölkerung« (MH: 26). Die Stoa evozierte aber auch die Sklavenaufstände (vgl. MH: 29), sie brachte die etablierte Ordnung ins Wanken, schuf Neues. Man muss nun einerseits noch weiter zurückgehen, erneut bis zu den totemistischen Gesellschaften, will man den ursprünglichen Kern des Humanitarismus verstehen. Er besteht aus Tugenden, die in der kleinen Sippe beheimatet sind und sich dann »frei flottierend 51 Es gibt eben auch »gegen-staatliche« (Clastres 1974), nicht territorialstaatlich gebundene Gesellschaften, aus denen sich zuweilen gewaltige geschichtliche Dynamiken entwickelten: man denke an die Reiterhorden Dschingis Khans.
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ausweiten und ihren ursprünglichen Bereich mit der Tendenz auf Allgemeingültigkeit schlechthin überfluten« (MH: 91). Die Sippe, aus der das Humanitätsethos entspringt, ist gerade keine symbiotische Hausgemeinschaft, also nicht die enge Familie. Es ist die Großfamilie, die andere Sippen neben sich voraussetzt und dem entspricht, was Durkheim segmentäre Vergesellschaftung nannte, also die Existenz mehrerer, sich in gegenseitigem Tausch, aber auch in Agonie verbundener Gruppen. Das Politische mit seiner Institutionalisierungsform, dem Staat, entsteht dann in der Durchsetzung größerer sozialer Formungen gegenüber der Sippe, des auf kleine Gruppen zielenden »Familiengeistes«. Gehlen knüpft hier nahtlos an seine Überlegungen zum Totemismus an, an das Exogamie-Gebot, das nur in Gegenseitigkeit funktioniert und den Sozialkitt erster größerer Kollektive bildet. Andererseits muss man, um die ›Überdehnung‹ dieses Ethos in der aktuellen Gesellschaft (die frühe Bundesrepublik) zu verstehen, auch vom 18. Jahrhundert her denken. Die ›Menschheit‹ »entstand« in diesem Jahrhundert, propagiert durch den Intellektuellen mit seinen anti-institutionellen Affekten (MH: 89). Die Subjektform verändert sich entsprechend dieser neuen Ethosform, mit anderen Einstellungen gegenüber den Institutionen. In diesem Buch erörtert Gehlen im Übrigen durchaus, was passiert, »wenn Institutionen gesprengt oder erschüttert werden. Hier kommt viel auf das Tempo an« (MH: 97). Statt nur um die Dauer geht es also (mit Schlagseite, gerichtet auf den »Verfall«) um den Wandel der Institutionen. Gesprengt wird die Institution des Staates durch die Gesellschaft, beides verstanden im Sinne Hegels: »Der Zeitpunkt, von dem an der Staat unter den Anprall der Gesellschaft geriet, fällt in England etwa mit der Wirksamkeit Lockes zusammen, in Frankreich mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789, die vom Staat als ›corps social‹ spricht […]. Der Staat wird jetzt […] die Neutralisierungsebene gesellschaftlicher Konflikte, und da die Armut nachdrängte, machte er zu seiner wesentlichen inneren Aufgabe die ›Sozialpolitik‹ […]. Mit der ungemeinen Steigerung der Produktion seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und der Gewöhnung an einen dauernd steigenden Lebensstandard wird […] der Staat zum Vollstreckungsorgan dieser rein gesellschaftlichen Tendenzen, er hat in der Bundesrepublik, kurz gesagt, für die Konjunktur zu sorgen, 119
und dies umso ausschließlicher, als eigentlich politische Zielsetzungen plausibler Art nicht möglich sind. Damit weicht die Autorität des Staates auf« (MH: 105f.). Hatte man es bereits in der Antike mit einer urbanen Gesellschaft zu tun, der Undurchsichtigkeit aufgestapelter Artefakte, kommt nun als geschichtliche Novität die ›Superstruktur‹ aus Technik, Wissenschaft, Industrie hinzu. Deren experimentell-rationalistische Haltung springt auf die Sozialwelt über. Der moderne »Weitblicker und Flächenseher« sieht dann nicht nur in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft den »Stoff für Fertigungen und Reformen« (Gehlen 1967: 116). Angesprochen ist damit das moderne Kontingenzbewusstsein, das noch die Gesellschaft und ihre Institutionen (Gehlens tabu-Bereiche) für machbar und verfügbar hält. Und während alle früheren Gesellschaften klar zwei Reiche trennten (Leben/Tod, Dies-/Jenseits, Schrecken/Herrlichkeit), lebt diese Gesellschaft ihren Immanenztraum eines schönen Lebens. In ihr, mit dieser Subjektstruktur, nimmt der »Leviathan mehr und mehr die Züge einer Milchkuh« an, wie Gehlen (MH: 107) mit der Sozialstaatsdiagnose von Ernst Forsthoff sagt. Die Subjektform dieser Gesellschaft ist nun die des Verlusts der Persönlichkeit im oben beschriebenen Sinn. Entscheidend ist dafür auch die Tatsache der massenmedialen Vermittlung der Welt, die ›Erfahrung zweiter Hand‹. Man sieht hilflos den weltweiten Notlagen und Katastrophen zu, in sich die Verhaltensnorm der Fürsorge aufstauend, die auf kleinere Dimensionen zugeschnitten, begrenzt ist. Was sich als Subjektform einspielt, ist dann konsequent der auf sich zurückgeworfene Einzelne, der sich auf seine Privatinteressen beschränkende Egoist. Ständig angesprochen durch Weltereignisse, gegen die er doch nichts tun kann, ist der Einzelne in dieser Gesellschaft ausgestattet mit einem »moralischen Organ für Ereignisse von Weltdimension« (MH: 156). Und dies nun in einer Situation der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹, in der einem niemand die Last abnimmt. Politik wird zur Ethik. In dieser pluralistischen, ausdifferenzierten Gesellschaft etabliert sich ein neuer »Typus des Individualismus oder Subjektivismus: Leistungswille geht mit Ichbetonung und Empfindlichkeit gegenüber Geltungsansprüchen allen Anderen zusammen«, während demgegenüber die »klassischen Strukturen des Individualismus« verloren seien: die »große Schlüsselattitüde, der 120
dramatische Durchsetzungsanspruch einer selbsterfundenen Lehre, mit der eine Person steht und fällt, wie Spinoza oder Nietzsche«; und die »hochsensible, differenzierte Kultiviertheit« (MH: 160). In all dieser Kritik am zeitgenössischen Ideal der Liebe zur gesamten Menschheit und seinen Auswirkungen auf die Haltung der Einzelnen bleibt Gehlen durchaus auch wissenssoziologisch im klassischen Sinn, also der Relationierung von Ideen auf Denkstandorte und Interessen. Gestellt wird die Frage nach den Trägerschichten dieses Ethos. Wer hat an dessen Propagierung Interesse und ist darüber hinaus in der Lage, es »auszuleben« – in diesen krisenhaften, »definitiv besiegten Nationen«? Es sind, wie Gehlen sagt, gerade nicht die Deprivilegierten, sondern die Privilegierten, diejenigen, die von den »unlösbaren ethischen Konflikten freigestellt sind, die auf jedem denkenden Menschen liegen, der in aktive, dauernde Kämpfe verwickelt ist, seien sie politischer oder wirtschaftlicher Art«. Es sind die Intellektuellen (MH: 151). In dieser Frage der Interessen hinter geltenden normativen Standards ist Gehlen stets aktuell (auch wenn die Antwort zu einfach ist) – so aktuell, wie es die klassische Wissenssoziologie trotz ihrer Verabschiedung durch die konstruktivistische oder phänomenologische Wissenssoziologie bleibt. Wenngleich anders akzentuiert, hat Foucault ebenfalls historische Brüche in den gesellschaftlich dominanten Ethiken und Subjektformen verfolgt – im Hinblick auf uns, auf unsere Genealogie der Moral. Er stellt die Entwicklung der antiken, von der »Sorge um sich beherrschten Kunst der Existenz« vor Augen. Diese griechische »Verfeinerung der Lebenskünste und der Selbstsorge« ist den späteren Moralen fremd, unseren »Modalitäten des Selbstbezuges«, unseren Selbsttechniken (Foucault 1989: 306f.). Kurz, beide interessieren sich für die Variabilität, Genealogie und Träger der Moralformen; und beide verbindet dabei eine gewisse Faszination für die ›antike Heiterkeit‹, mit der Gehlen seine soziologische Theorie schloss (US: 308). Und doch steht Gehlen dabei stets wohl Durkheim näher als Foucault. Auch Durkheims Soziologie der Moral zielt auf das soziale Band, auf Ordnung und Integration. Allerdings setzt er dabei ganz auf die ›Solidarität‹ einer arbeitsteiligen Gesellschaft; in Gehlens Augen mag das etwas naiv erscheinen. Aber am Ende seines Buches wird Gehlen von seinem Ressentiment überrannt, der Ton wird zunehmend pessimistisch, zuweilen 121
auch zynisch. Man kann an dieser Stelle andere pluralistische Moraltheorien daneben legen, die zu anderen Schlüssen kommen – davon gibt es übrigens nur wenige. Gehlen beruft sich in seiner Idee mehrerer Quellen des Sozialen und der Verpflichtung auf Henri Bergson (und will diesen zugleich in der Differenziertheit übertrumpfen, MH: 170f., 183). Erneut zeigt sich die französische Affinität seiner Theorieanlage. Bergson hatte 1932 in seiner Soziologie von Religion und Moral zwei Ethosformen unterschieden: die dogmatische Moral absoluter Verpflichtung in den »geschlossenen« Gesellschaften wie den totemistischen, also jenen Kollektiven, die sich durch die Abgrenzung (Gehlens Agonalität) von anderen integrieren; und die affektive Moral neuer sozialer Ideen in den »offenen« Gesellschaften, in denen die individuelle Kreativität zum Zuge kommt, und welche konstitutiv auf Ausweitung angelegt sind. Hinsichtlich der weiteren Entfaltung der Moralformen hat er sich optimistisch gezeigt – wie er sich insgesamt im Sozialen viel eher für die Bewegung, das permanente AndersWerden, die ständige Neuerfindung von Institutionen interessiert als für die ›Notwendigkeit‹ von Ordnung. Noch seine Diagnose einer »Raserei« nach dem »Wohlleben« in der modernen Konsumgesellschaft mündet daher in eine völlig andere Gesellschaftsvorstellung: in die Gewissheit, dass es stets neue, unvorhersehbare Formen des Sozialen und des Menschen geben wird. Jede soziale Form ist eine »Schöpfung, und die Tür wird immer offen bleiben für weitere Schöpfungen« (Bergson 1992: 232, 60).
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IX Aufgaben der Soziologie: Allgemeine Soziologie, Angewandte Soziologie, »Autosoziologie«
»Eingangs […] muss ich voraussetzen, dass die empirische Soziologie Werte oder gestaltende Ideen zu den Gegenständen ihrer Forschung rechnet. Ich gehöre zu den Vertretern derjenigen Richtung, die der Soziologie nicht eine gesellschaftsgestaltende […] Aufgabe zuschreibt« (Gehlen 1978g: 389). Zu klären ist abschließend, was Gehlen selbst eigentlich dezidiert als Aufgabe des »Soziologen« verstand, und was er dann selbst für die Aufgabe der Wissenssoziologie hielt – denn dazu hatte er eine recht enge Vorstellung, von der man sich über seinen Klassikerstatus nicht täuschen lassen darf. Diese weiteren Arbeiten, die neben seiner grundlegenden soziologischen Theorie (dem sozialtheoretischen und -diagnostischen Potential der Hauptwerke) stehen, stecken in kleineren Texten (in GA 6, 7): in Vorträgen vor ausgesuchtem Publikum wie Unternehmerkreisen oder evangelischen Akademien; und unter Titeln wie: »Der Mensch im Betrieb«, »Bürokratisierung«, »Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat«, »Freiheit heute«. Verfasst sind die Texte im Kontext der frühen Bundesrepublik und dann der Studentenbewegung, deren revolutionäre Aufladung der Soziologie als Schlüsselwissenschaft nicht nur Gehlen als bedrohlich empfand. Demgegenüber stellte er die Soziologie stets als »theoretisch wenig interessierte, sehr empirische und vorurteilsfreie Wissenschaft« dar, denn die »Sachlagen zwingen […] zu einer Askese im theoretischen Bereich« (Gehlen 1978e: 178). Karl-Siegbert Rehberg hat darauf hingewiesen, dass sich Gehlen nach 1945 erst in die Soziologie einarbeiten musste. Was der »eifrige Lesesaal-Benutzer« nach 1945 fand, waren bestimmte Autoren: amerikanische und französische, von denen vor allem die amerikanischen mit einem speziellen, bescheidenen Anspruch der Soziologie einhergingen (Rehberg 2004a: 640ff.). Die Tatsache, dass er zunächst an einer von der 123
französischen Militärverwaltung eingerichteten Verwaltungshochschule lehrte, hat dabei eine Rolle gespielt. Soziologie, das ist für Gehlen nach dieser Lektüre eine Denkbewegung jenseits großer Theorien. Die eigene Institutionentheorie hat Gehlen daher nicht als Denkbewegung der Soziologie, sondern der ›Philosophie‹ tituliert. Die Versuche, die »soziologische Forschung in einen weiten theoretischen Rahmen hineinzustellen«, kennzeichnen für ihn einen »vergleichsweise primitiven Zustand dieser Wissenschaft« (Gehlen 2004g: 607). Theorie: das heißt für ihn Herbert Spencers Evolutions- und Differenzierungstheorie oder auch die marxistische Geschichtsphilosophie, weltanschauungsgebundene Systeme mit Universaldeutungsanspruch und Reform- oder Revolutionsziel. Gehlen ist überzeugt, dass dieser »Theorienehrgeiz« vorbei ist. Es gibt eben keine Spencersche »Lebensgesetzlichkeit«; auch sei jede Geschichtsphilosophie seit Marx obsolet. Ebenso hält er Theorien »mittlerer Allgemeinheit« für »mißlungen«, wobei er an Pareto denkt. Gehlen sieht sich eher in der Tradition Max Webers und Durkheims (die beide ebenso theoretisch gehaltvoll wie empirisch gestützt arbeiteten; Gehlen 2004e: 600). Ungeachtet des expliziten Theorienverdachts hat Gehlen aber durchaus einen positiven Begriff von einer theoretischen Soziologie. Auch für ihn geht die Soziologie nicht in Datensammlung auf. Die Soziologie habe genauer drei Teilgebiete – in der generellen Aufgabe, das kollektive »Selbstbewußtsein anzuleiten« (Gehlen 2004g: 605). Luhmann hat hier von der ›Selbstbeobachtung‹ der Gesellschaft gesprochen. (1.) ist sie Allgemeine Soziologie. Gehlen nennt dies nun ausdrücklich doch die »Wissenschaft von den Institutionen« entlang der Frage, »wie und unter welchen Umständen sich diese […] ändern«. Ergänzend zu Max Weber seien dabei stets »Spannungen« zu berücksichtigen, latente und offene sowie »selbst schon institutionalisierte« (Gehlen 2004k: 622f.). Zugleich ist diese Allgemeine Soziologie neben der Theorie auch Gegenwartsdiagnostik, sofern sie sich der modernen institutionellen Zustände annimmt, die, wie Gehlen stets betont, ebenso erstmalig wie unabänderlich sind. Zu diagnostizieren ist ein soziales Nivellement und die damit verbundene »Abspannung der kulturellen Produktivität« bis hin zur Diagnose eines endgültigen Zustands. In die Allgemeine Soziologie wird drittens auch die Sozialpsychologie eingerechnet – die wiederum eine wis124
senssoziologische Beobachtung ist, nämlich die des ›Kollektivbewusstseins‹, der die Einzelnen formenden Diskurse. Hier denkt Gehlen an Max Weber und an Schumpeter. Auch Durkheim sei in diesem Sinn ein »Sozialpsychologe« (Gehlen 2004e: 603). Die Soziologie ist (2.) Angewandte Soziologie. Hier sieht Gehlen solche Teilbereiche, die verwaltungstechnisch nützlich sind. Es handelt sich um jenen Teil, den er »administrative Hilfswissenschaft« (Gehlen 2004e: 602) nennt. Diese dient der »empirischen Abstützung, aber auch der ideologischen Neutralisierung« des gesellschaftstheoretischen Denkens (Rehberg 1978: 434). Gehlen hat dazu kleinere, programmatisch bleibende Texte verfasst. Methodisch ginge es hier um Datenerhebung sowie, sofern es an diesen fehlt, um »Kategorien-Forschung« (Gehlen 2004k: 630). Dabei sei zunehmend mit Bereichen des Unzugänglichen zu rechnen; denn in der Gegenwartsgesellschaft werde »Untergrund« legitim, wie Gehlen (2004k: 625) sagt. Es gibt viele Dunkelfelder der modernen Gesellschaft, die sich der empirischen Sozialforschung aus ideologischen oder strategischen Gründen versperren, seitens der Intellektuellen und der politischen und ökonomischen Eliten. »Überall bilden sich in aller Stille neue, sozusagen ornamentale und im großen Zusammenhang wirkungslose, für das Individuum aber fühlbare Distanzen und Rangqualitäten, und den objektiven […] Institutionen der Gleichheit entsprechen subjektiv steigende […] Ungleichheiten« (Gehlen 2004g: 617). Dies sichtbar zu machen – sofern die Verdunkelung von Intellektuellen ausgeht –, ist die (3.) Aufgabe: dies ist der Bereich der »Autosoziologie« oder der Wissenssoziologie der Soziologie. Es ist ihr »neueste[r] und interessanteste[r] Schwerpunkt« (Gehlen 2004g: 619, 614). Gehlen kann hier direkt an Moral und Hypermoral und Die Seele im technischen Zeitalter anknüpfen. Eingegangen wird stets auf die Subjektform der Industrie- und Konsumgesellschaft sowie auf die dabei dominierende Herrschaft der Intellektuellen mit ihrer Verbreitung einer eudämonistischen Moral. ›Autosoziologie‹ ist die Kritik aktueller gesellschaftlicher Leitideen und deren Urheber, der Intellektuellen. In historischer Perspektive thematisiert Gehlen hier die Leitideen der Bundesrepublik: Freiheit, Eigentum, Gleichheit, Fortschritt. Er kritisiert scharf die Propagatoren – die öffentliche Meinung, also die Mas125
senmedien. Denn für Gehlen ist mit der massenmedialen Öffentlichkeit erneut stets eine Herabwürdigung der menschlichen Ideale und Selbstformung auf das unmittelbar Angenehme, Leibgebundene verknüpft. So müsse man etwa sehen, dass am »Ende aller Gleichheitsfortschritte bisher stets das Konnubium gestanden« habe, die »Wechselheirat«. Die Intellektuellen, welche wirkmächtig Gleichheit und Fortschritt preisen, sind dabei nur die »Speerspitze, hinter der man sich als Schubkraft den enormen Druck der Auflockerung denken muß«, den die Industriekultur erzeugt (Gehlen 1978f: 382). Dieser dritte Zug steht also in unmittelbarer Kontinuität mit seiner Moralsoziologie aus Moral und Hpyermoral; damit wird deutlich, dass Gehlen dieses Buch in der Tat diagnostisch, nicht nur polemisch verstanden hat: als wissenssoziologische Analyse. Mit diesem dritten Schwerpunkt ›der Soziologie‹ kann Gehlen erneut als wissenssoziologischer Klassiker gelten, auch wenn dies nur eine Facette seiner wissensanalytischen Denkbemühungen ist. Weitreichender und grundlegender ist für das Spektrum der Wissenssoziologie insgesamt zweifellos die in Der Mensch und in Urmensch und Spätkultur entfaltete Theorie der artifiziellen Selbstfixierung des Menschen, der je verschiedenen kollektiven Selbst- und Weltbilder samt ihrer Institutionen und der in ihnen je kanalisierten Affekte, Begehren und Verhaltensweisen.
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X Fazit Gehlen ist ein Verknüpfungsautor, einen großen Gedanken verfolgend: den der Selbsthumanisierung des Menschen in seinen sozialen Formungen, den Institutionen. Dabei geht er grundlegend nicht-cartesianisch vor, berücksichtigt also den Körper und seine Affekte in der soziologischen Theorie zutiefst. Dieses Werk ist biologisch interessiert und informiert, dabei in der Interpretation der biologischen Tatsachen und Theorien originell. Es operiert stets in komplexen und paradoxen, nie einseitigen Denkfiguren, in denen neben dem ›Mängelwesen‹ zugleich das MehrLeben, die Selbststeigerungspotentiale des Menschen im Blick stehen. Entfaltet wird eine veritable Lebenssoziologie: ein Denken, das die energetischen Antriebe des Organismus in die Erklärung des Sozialen einbezieht. Diese Integrationsfähigkeit, das Interesse vor allem – aber nicht nur – für die Lebenswissenschaften (das er mit Scheler, Plessner und auch Bergson teilt) ist bemerkenswert. Was Gehlen vorlegt, ist eine Anthropo-Soziologie. Methodisch ist dies wegweisend, zumal aktuell, in einer Gesellschaft, in welcher die Biologie offensichtlich das Leitwissen vorgibt. Zugleich ist dieses klassische Werk der Soziologie interessiert an zwei anderen Gesellschaftswissenschaften: an Ethnologie und Archäologie, deren Funde integrierend in eine ebenso biologisch wie kulturenvergleichend und historisch argumentierende Anthropologie und Soziologie. Wie es um das Gemeinsame, Grundlegende der menschlichen Verhältnisse – und deren Erfordernisse an das Soziale – geht, so interessiert sich Gehlen auch für die Variabilität, die Selbstveränderung des Menschen in seinen Institutionen. Dieser Autor ist – man wird es der Einführung angemerkt haben – ein philosophischer Autor, vor allem auch in seinem Selbstverständnis. Selbst die Theorie der elementaren Formen des Sozialen (der Emergenz der Institutionen) in Urmensch und Spätkultur begreift Gehlen selbst nicht als Soziologie, sondern als ›Philosophie‹ der Institutionen. Davon darf man sich nicht täuschen lassen: Gerade dieses Buch ist ein Klassiker der soziologischen Theorie, vergleich127
bar mit Durkheims oder Lévi-Strauss’ Theorie der vielfältigen, artifiziellen Formungen des menschlichen Lebens. Der Begriff der Institution ist darin der glückliche Griff, in seiner Verbindung von Handlung und Struktur, Individuum und Kollektiv und in seinem analytischen und gesellschaftsvergleichenden Potenzial. Gehlen ist bei all dem der Ordnungsdenker, der die Dauerhaftigkeit als einen Wert an sich nimmt, die Geregeltheit, das Routinierte. Dieser Ausgang von der Wahrscheinlichkeit der Unordnung, der Tendenz zum ›Verfall‹ ist in der Soziologie, dieser Krisenwissenschaft, öfters das implizite Fundament des Denkens gewesen. Als Theoriegrundlage wäre es zu reflektieren. Bergson hat das Problem der Unordnung für ein Scheinproblem gehalten, denn was es gibt, ist nur die Ordnung: die Unordnung hingegen ist ein leerer Begriff, in den man ›mehr‹ hineinsteckt, als man denkt, nämlich die Ordnung minus deren Existenz. »Und nur weil diese Ordnung zweierlei Form annehmen kann, weil – wenn man so will – die Gegenwart der einen in Abwesenheit der anderen besteht, reden wir überall dort von Unordnung, wo diejenige von beiden Ordnungen vor uns steht, die wir nicht suchten« (Bergson 1912: 278). Mit anderen Worten, stets ist der Begriff der Unordnung ein »praktischer«, er verbirgt ein Interesse am Bestehenden. Bei Gehlen ist dieses Interesse offensichtlich. Auf der Theorieebene handelt es sich in der Frage nach Ordnung demnach um ein Pseudoproblem. Andererseits wäre zuzugeben, dass Gehlen hier realistisch ist, durch und durch Wirklichkeitsdenker. In der Suche nach Ordnung geht es ihm zudem stets um das Produktive, um das, was der Mensch in seinen sozialen Formungen aus sich macht. Zweifellos hat diese soziologische Theorie und die ihr zugrunde liegende Anthropologie weitere Blindflecke, etwa die thematische Absenz der Frau (sie wird aber – wie bei Lévi-Strauss – in der Strukturierung der Verwandtschaftsverhältnisse grundlegend mitgedacht). Gehlen ist hier ein Autor wie Weber oder Durkheim: ein Autor vor den gender studies. Wie in den Gesellschaften, auf die sich der Blick in Urmensch und Spätkultur richtet, fällt auch in Gehlens Soziologie der Blick allein auf die männlichen Praxen (sei es der Tanz um das Totemtier oder der Gang in die Werkstatt) – womit er in einer langen Tradition steht. Selbst dort, wo sich in den totemistischen Gesellschaften Männer und Frauen in ihrer Aktivität »gegenseitig ersetzen konnten, erfan128
den Männer irgendein geheimnisvolles kultisches Ding an sich, von dem sie Frauen ausschließen konnten« (Eßbach 1996: 81). Dem gegenüber liegt das innovative und korrektive Potenzial einer Theorie, welche Handlungs- und Institutionen-Ebene verbindet; und dies so, dass beide weder rationalistisch noch strukturalistisch verkürzt werden. Bemerkenswert ist der Versuch, sich in eine nicht-rationalistisch zu denkende Einspielung von Routinen einzufühlen, in die Eigendynamik des Sozialen. Gehlen betont die Bedeutung des Kulturellen, und dies lange vor dem cultural turn – die symbolische Konstitution des Sozialen. Zugleich betont er das Artefaktische, ohne welches das Symbolische und das Soziale nicht zu denken sind. Das Potenzial liegt weiterhin in der historischen Soziologie, dem permanenten Anders-Werdens des Menschen entsprechend. Soziologische Theorie und Analyse, das ist dann die Analyse der Institutionen ›im Zeitabfluss‹, mit den je anderen gesellschaftlichen Subjektformen und Weltbildern sowie gesellschaftlichen Selbstbeobachtungen, die damit einhergehen. Gehlen ist mit seiner soziologischen Theorie und vor allem mit seiner Diagnose der Moderne – einer technischen Gesellschaft oder Industriegesellschaft – ein wegweisender Autor der bundesdeutschen Soziologie und einer der ausgezeichneten Kenner ihrer Gesellschaft. In ihren Gründungs- und Stabilisierungsjahren hat er (mit Schelsky und Freyer, Horkheimer und Adorno) das kollektive Selbstverständnis einer entmythisierten, nüchternen Industriegesellschaft der ›Superstruktur‹ geprägt; einer Gesellschaft, die sich dabei ihrer Paradoxien bewusst ist, ihrer Be- und Entlastungen. Diesem Autor ist auch die soziologische Deutung der modernen Kunst zu verdanken. Auch sie ist in das Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft eingegangen. Gehlen hat darüber hinaus maßgebliche jüngere deutschsprachige Soziologen nach 1945 inspiriert: etwa Niklas Luhmann, der ja nicht aus dem Nichts kam und auch nicht allein von Parsons her, sondern vom Duo Schelsky-Gehlen beeinflusst war; oder eben Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Obgleich Gehlen sich nicht selbst so bezeichnete und das Werk darin nicht aufgeht, handelt es sich durchaus um ein wissenssoziologisches Werk: versteht er doch die Werte, Ideen, Symbole im Kontext der Handlung als einen elementaren Gegenstand soziologischer Diagnosen. Wie Durkheim und Mauss geht es auch dieser 129
Soziologie um das – je institutionalisierte – ›Kollektivbewusstsein‹ mit seinen Klassifikationen der inneren und äußeren Welt (Durkheim & Mauss 1993 [1903]); und dies vergleichend, in einer Analyse der Selbst- und Weltbilder oder jeweiligen ›Leitideen‹ in den Gesellschaften. Deren Varianz erklärt sich letztlich aus der NichtFestgelegtheit des Menschen, seiner Angewiesenheit auf eine imaginäre Fixierung, auf ein ›Bild‹, das er stets indirekt, über Drittes, erlangt. Mit diesem Bild gehen je spezifische Subjektformen, Selbsttechniken und Sozialklassifizierungen einher. Dem entsprechen je andere Haltungen gegenüber der tierischen und pflanzlichen Natur; andere soziale Zeiten. Dies ist eine soziologische Handlungstheorie, die nicht soziozentrisch verfährt; anders als andere soziologische Theorien schließt sie die Dinge, Tiere und Götter nicht aus der sozialen Welt aus. Wissenssoziologisch ist auch die Diagnose der Moderne angelegt: Sie ist eine Wissensgesellschaft, in welcher das Natur-, Selbst- und Sozialverhältnis durch die Natur- und Ingenieurwissenschaften angeleitet sind. Die Ästhetik und Ethik dieser Gesellschaft folgen einem individualistischen oder ›subjektivistischen‹ Leitbild. Schließlich ist als Dimension seiner Wissenssoziologie die Intellektuellenkritik (gerade auch in Form der Moralsoziologie) zu nennen. Bemerkenswert ist neben der Vielfalt die Reichweite dieser ›Wissenssoziologie‹. Ihr Horizont reicht von den totemistischen bis zu den modernen Gesellschaften, in der Frage nach den kollektiven Selbstdeutungen des Menschen. Mit ihnen, in den Aktionen und Klassifikationen werden wir, die Subjekte, je andere.
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Literatur I Primärliteratur Es werden hier nur die zitierten Texte genannt. Eine vollständige Bibliografie mit Übersetzungen und Sekundärliteratur bis 1993 von Karl-Siegbert Rehberg findet sich in Klages & Quaritzsch 1994, 899–1001. Der Nachlass befindet sich an der RTWH Aachen, eine Kopie an der TU Dresden. Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt a.M.: Klostermann. Bandhg.: Lothar Samson (1, 2), Karl-Siegbert Rehberg (bisher 3, 4, 6, 7). Gehlen, Arnold (1978), Philosophische Schriften I (GA 1) —(1978a [1927]), Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch, 19–97 —(1978b [1927]), Reflexionen über Gewohnheit, 97–112 —(1978c [1931]), Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie, 113–383 Gehlen, Arnold (1978), Einblicke (GA 7) —(1978d [1962]), Der Mensch im Betrieb, 193–208 —(1978e [1964]), Städtisches Leben in Tradition und Fortschritt, 178-191 —(1978f [1964]), Gleichheit, 374-388 —(1978g [1966?]), Gleichheit, 389-403 Gehlen, Arnold (1980), Philosophische Schriften II (GA 2) —(1980a [1933]), Theorie der Willensfreiheit, 1–180 —(1980b [1933]), Wirklichkeitsbegriff des Idealismus, 181–198 —(1980c [1935]), Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln, 311–346 —(1980d [1938]), Rede über Fichte, 385–396 —(1980e [1938]), Über Kants Persönlichkeit, 397–406 Gehlen, Arnold (1983), Philosophische Anthropologie und Handlungslehre (GA 4) —(1983a [1936]), Vom Wesen der Erfahrung, 3–24 —(1983b [1941]), Vilfredo Pareto und seine »neue Wissenschaft«, 261–305 —(1983c [1952]), Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, 366–381 —(1983d [1952]), Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, 127–142 —(1983e [1957]), Zur Geschichte der Anthropologie, 143–164
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II Weiterführende Literatur Nikolai Hartmanns Besprechungsessay zu Der Mensch von 1940 (1958 [1941/42]) ist ein Kleinod der Sekundärliteratur. Gehlen wird z.T. besser verstanden als er sich selbst verstanden hat. Hartmann konzentriert sich auf die Mängelwesen-Problematik, auf die Leistung von Kategorienforschung und Sprachtheorie sowie auf Gehlens Beitrag zur Charaktertheorie, den Gehlen selbst in der Fassung von 1950 (wegen der überholten Vererbungsforschung, auf die er sich stützt) abschwächte. Eine erste Festschrift von Ernst Forsthoff & Reinhard Hörstel (1974) mit Beiträgen der Rechts- und Staatswissenschaft, Soziologie und Philosophie, u.a. v. Julien Freund, Hanno Kesting, Michael Landmann, Elisabeth Noelle-Neumann, Friedrich H. Tenbruck. Es handelt sich nicht um Texte zum Werk, sondern ihm zu Ehren. Die zweite, schmale Festschrift wurde anlässlich seines Todes von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (1976) veröffentlicht: Arnold Gehlen zum Gedächtnis. Vorträge v. 21. Juni 1976, Berlin: Duncker & Humblot, mit Beiträgen von Helmut Klages und Hans Ryffel. Friedrich Jonas (1966) schrieb die erste einführende Monografie in die soziologische Theorie Gehlens; der Gehlen-Assistent macht u.a. sichtbar, dass es sich bei dessen Anthropologie nicht um einen Biologismus handelt, konzentriert sich dann auf ›Ansatz‹, ›Kategorien‹ und ›Verfall oder Kristallisation‹ in der Institutionentheorie. Jonas interessiert sich zudem für Gehlens Religionstheorie. Peter Jansen (1975) nimmt die beiden Gehlen-Vorwürfe (Biologismus, Konservatismus) als Ausgang seiner Darstellung. Die Diss. enthält ein Kapitel über Nicolai Hartmann; zudem wird Lepenies’ und Habermas’ Kritik an Moral und Hypermoral dargestellt. Lothar Samson (1976) berichtet kritisch über die Gehlen-Rezeption (sie habe sich zu sehr am Saum seiner Sprache entlang getastet, statt in den Theoriekern einzudringen) und interpretiert Gehlens Frühschriften. Die Einflüsse des Pragmatismus auf Gehlen seien überschätzt, vielmehr stecke in der Handlungstheorie eine teleologische Struktur, die Gehlen von Driesch, Fichte, Hegel und Spinoza habe.
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Der voluminöse erste, Speyerer Tagungsband, hg. von Helmut Klages & Helmut Quaritzsch (1994), enthält neben Beiträgen und Diskussionen zu verschiedenen Aspekten des Werkes die Mitschrift der Anthropologie-Vorlesung von 1936 (ediert von Lothar Samson). Die umfangreichen Vor- und Nachworte, die Anmerkungen in der GA und die Aufsätze Karl-Siegbert Rehbergs bilden das Zentrum der Sekundärliteratur. Aus den Leitmotiven seien genannt: die These der Soziologisierung des Denkens über den Menschen durch die Philosophische Anthropologie; die wissenssoziologische Analyse zentraler Denkmotive Gehlens (Persönlichkeit, Standhalten); die Bedeutung Gehlens für eine kulturwissenschaftlich fundierte Soziologie. Die Junius-Einführung von Christian Thies (2000, 2007) konzentriert sich auf die philosophisch interessanten Teile des Werkes, auf normative Schwächen sowie auf die Einseitigkeit einer anscheinend auf ›archaische‹ Kulturen konzentrierten Institutionentheorie. Die Einführung folgt in Vielem seiner Dissertation (Die Krise des Individuums, 1997). Joachim Fischers Standardwerk (2008) zeichnet Gehlens Werk innerhalb des Paradigmas der modernen Philosophischen Anthropologie nach, neues Licht auf das dichte, rivalisierende Netzwerk zwischen Scheler, Plessner, Gehlen und weiterer Autoren werfend. Zudem wird die Wirkung der Philosophischen Anthropologie Gehlens in der deutschen Soziologie nach 1945 sichtbar (vgl. ders. 2006). Die Dissertation von Patrick Wöhrle (2010) widmet sich ebenfalls Gehlens Wirkung in der bundesdeutschen Soziologie; zudem rekonstruiert sie Gehlens »Denkmotive« und »Denkzwänge«. Der zweite, Dresdner Tagungsband, hg. von Karl-Siegbert Rehberg & Tino Heim (2011, i.V.), wird erneut voluminös alle Aspekte des Werkes ansprechen, aktuelle Debatten einbeziehend.
III Sekundärliteratur und zitierte Literatur Adorno, Theodor W. & Horkheimer, Max (1987 [1944/47]), Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 5, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 11–290 Adorno, Theodor W. & Gehlen, Arnold (1974), Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch, in: Friedemann Grenz (Hg.), Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 225–251 Alsberg, Paul (1922), Das Menschheitsrätsel. Versuch einer principiellen Lösung, Dresden: Sybillen Apel, Karl Otto (1973 [1962]), Arnold Gehlens ›Philosophie der Institutionen‹ und die Metainstitution der Sprache, in: Ders., Transformation der Philosophie 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 197–221
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Zeittafel 1904 1925–27 1927 1930 1933 1934 1934 1937 1938 1940 1941/42 1942 1943 1945 1947 1950
1951–53 1962–69 1976
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Geburt Gehlens am 29.1. in Leipzig Studium der Philosophie, Germanistik, Psychologie und Kunstgeschichte in Leipzig und Köln Promotion im Fach Philosophie in Leipzig bei Hans Driesch Habilitation für das Fach Philosophie in Leipzig Vertretung Paul Tillichs in Frankfurt Assistent bei Hans Freyer in Leipzig Professor für Philosophie in Leipzig, als Nachfolger Drieschs Heirat mit Veronika Freiherrin von Wolff Berufung auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg Ruf nach Wien, dort wird Gehlen auch Leiter des Instituts für Psychologie Dienst in der Prüfstelle des heerespsychologischen Dienstes Prag Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Wehrdienst in Oberschlesien Amtsenthebung Leiter der philosophischen Abteilung der Akademie für Verwaltungswissenschaften in Speyer Übernahme des dortigen Lehrstuhls für Soziologie und Psychologie (nun an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften) Rektor der Hochschule Professor für Soziologie an der Technischen Universität Aachen Tod am 30.1. in Hamburg
Personenregister Adorno, Theodor W. 7, 25, 27, 28, 30, 34, 35, 105, 109 Alsberg, Paul 29, 55, 58 Apel, Karl-Otto 29, 113 Arendt, Hannah 28, 29 Aristoteles 9, 28, 42 Auersperg, Alfred Prinz 62 Bacon, Francis 101 Bahrdt, Hans Paul 26 Baier, Horst 31 Baldwin, James M. 67 Bataille, Georges 86 Benedict, Ruth 12 Berg, Lev S. 55 Berger, Peter L. 18, 32, 33 Bergson, Henri 12, 39, 40, 43, 54, 58, 60, 61, 68, 85, 87, 91, 100, 122, 127, 128 Beuys, Joseph 106, 107 Blumenberg, Hans 10, 29, 56, 58 Bolk, Louis 55, 56 Bosch, Hieronymus 66 Brede, Werner 14 Bröckling, Ulrich 98 Cassirer, Ernst 26, 49 Castoriadis, Cornelius 16, 17, 19, 69, 112, 130 Claessens, Dieter 33, 57 Clastres, Pierre 113, 118 Cournot, Antoine Augustine 99
Darwin, Charles 47 Davie, Maurice R. 112 de Man, Hendrik 99 Deleuze, Gilles 13, 16, 17, 52, 84, 85, 90, 101, 103, 104 Demirovic, Alex 28 Dewey, John 12, 63 Driesch, Hans 23, 38, 147 Dschingis Khan 118 Duchamp, Marcel 106 Dürer, Albrecht 102 Durkheim, Émile 12, 14, 19, 32, 43, 60, 69, 71, 75, 80, 81, 87, 88, 91, 119, 121, 124, 125, 128, 130 Duve, Freimut 17 Elias, Norbert 57 Eßbach, Wolfgang 9, 24, 41, 49, 54, 90, 129 Fichte, Johann Gottlieb 37, 38, 43 Fischer, Joachim 7, 11, 20, 25, 30, 31, 33, 34, 38, 50, 61, 64, 71, 72, 82, 108 Flusser, Villem 54 Foucault, Michel 12, 13, 19, 26, 45, 72, 109, 121 Frechkop, Serge 55, 56 Freyer, Hans 23, 30, 41, 95, 147 Gadamer, Hans-Georg 24, 34 Gehlen, Max 23
Gillen, Francis James 81, 82 Gregorio, Francesco 16 Großheim, Michael 39 Guattari, Félix 103, 104 Günther, Gotthard 25, 26 Habermas, Jürgen 10, 14, 15, 29, 109, 113, 115 Hacke, Jens A. 34 Hagemann-White, Carol 14 Hahn, Alois 31, 34 Halfmann, Jost 34 Harich, Wolfgang 25, 58 Hartmann, Nicolai 10, 23, 25, 27, 48, 61 Hauriou, Maurice 17, 19, 68 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 26, 119 Heidegger, Martin 7, 24, 42 Herder, Johann Gottfried 50 Hitler, Adolf 24 Hobbes, Thomas 25, 113 Holz, Hans Heinz 25 Honneth, Axel 27, 33 Horkheimer, Max 25, 109 Hubert, Henri 87 Hume, David 37 Huxley, Julien 47 Illies, Christian 29, 46 Joas, Hans 13, 33
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Jonas, Friedrich 11, 26, 35 Jüres, Ernst August 26 Kant, Immanuel 9, 23, 147 Keller, Reiner 17 Kesting, Hanno 26 Klinger, Gerwin 24 Köhler, Wolfgang 49, 53, 65, 66 Kollmann, Julius 56 König, René 25, 27 Kopernikus, Nikolaus 89 Korn, Karl 28 Krueger, Felix 23 Kulenkampff, Arend 15 Lacan, Jacques 66 Landmann, Michael 28 Leibniz, Gottfried Willhelm 37 Lepenies, Wolf 14, 15, 17, 27, 28, 109 Lethen, Helmut 40 Lévi-Strauss, Claude 11, 12, 19, 66, 72, 73, 78, 81, 82, 91, 114, 128 Lévy-Bruhl, Lucien 77, 88 Ley, Friedrich 16, 18, 27 Lipp, Wolfgang 34 Litt, Theodor 23 Locke, John 119 Lorenz, Konrad 10, 14, 47, 51, 53, 55, 56, 115 Löwith, Karl 25 Lübbe, Hermann 11 Luckmann, Thomas 18, 32, 33 Luhmann, Niklas 14, 26, 31, 32, 64, 91, 96, 100, 105, 124
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Maffesoli, Michel 17, 97 Mahn, Anneliese 10 Mannheim, Karl 16, 18, 21 Marino, Mario 51 Marquard, Odo 29 Marx, Karl 8, 14, 72, 124 Mauss, Marcel 12, 19, 66, 72, 87, 88, 114, 129 Mead, George Herbert 12, 33, 63, 64, 80 Mead, Margaret 12 Nietzsche, Friedrich 7, 13, 17, 43, 60, 89, 109, 111, 112, 117, 121 Nolte, Helmut 14, 27, 35 Oehler, Klaus 13 Ottmann, Henning 14, 24 Palagyi, Melchior 64 Pareto, Vilfredo 13, 76, 99, 124 Piranesi, Giovanni Battista 15 Platon 9 Plessner, Helmut 10, 23, 32, 37, 42, 45, 46, 49, 50, 51, 53, 54, 58, 64, 116, 117, 127 Plinius 17 Popitz, Heinrich 10, 26, 33, 34, 90, 95 Portmann, Adolf 55, 57 Pradines, Maurice 12, 17, 72, 87, 90 Przyluski, Jean 17, 72, 74, 76, 77
Rammert, Werner 34 Reckwitz, Andreas 98 Rehberg, Karl-Siegbert 7, 9, 11, 12, 13, 17, 18, 20, 21, 24, 25, 26, 27, 31, 37, 38, 39, 43, 44, 61, 64, 71, 72, 82, 85, 99, 109, 110, 112, 123, 125 Riesman, David 104 Rothacker, Erich 25 Rousseau, Jean-Jacques 9, 72, 115 Rügemer, Wilhelm 14 Samson, Lothar 38 Scheler, Max 18, 41, 49, 54, 63, 64, 65, 67, 127 Schelsky, Helmut 15, 17, 18, 25, 30, 31, 34, 91, 100, 109 Schmitt, Carl 7 Schnädelbach, Herbert 35 Schnettler, Bernt 7, 33 Schopenhauer, Arthur 55 Schrödinger, Erwin 38 Schumpeter, Joseph 94, 125 Seyfert, Robert 7, 16, 17, 43, 80, 81, 82, 84, 96 Simmel, Georg 17 Sloterdijk, Peter 10, 15, 30, 59 Spencer, Baldwin 81, 82 Spencer, Herbert 99, 124 Spinoza, Baruch 37, 52, 53, 67, 121 Storch, Otto 51, 53, 55
Tarde, Gabriel 13 Thies, Christian 11, 24, 28 Tilitzki, Christian 23, 25 Tillich, Paul 23, 147 Tinbergen, Nikolaus 51 Tomasello, Michael 84 Trilles, Henri Paul 83 van Gennep, Arnold 88
Varagnac, André 88 von Uexküll, Jakob 49, 51, 52, 54, 55, 62, 64, 66 von Weizsäcker, Victor 61 Weber, Alfred 31 Weber, Max 27, 32, 83, 109, 111, 124
Weiß, Johannes 14 Weißmann, Karl-Heinz 14 Welsch, Wolfgang 99 Wöhrle, Patrick 10, 14, 15, 16, 17, 18, 21, 34, 109 Zenon von Kition 118
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Sachregister Aachen 25 Abstammung 46, 78, 80ff. Affe 10, 11, 19, 46, 51, 54, 56, 65, 66, 81 Affekte, Affektivität 13, 46, 52–55, 67f., 74, 83, 87, 103, 117, 122 Agonalität 112f., 119, 122 Agrarmoral 98 Anthropo-Biologie 46, 64, 66, 96, 112, 114 Anthropologie, philosophische 8, 45–69, 71, 82, 86, 100, 112f. Anthropologie, historisch-soziologische 8, 46, 66, 68, 71–92, 96 Anthropophagie 77ff. Antike 17, 89, 90, 111, 112, 118, 120, 121 Antriebsüberschuss 8, 29, 41, 42, 43, 59f., 67 A-Rationales 12, 43, 60, 90, 113, 129 Artefakt 8, 52f., 58, 71, 83, 94, 120, 129 Artefaktsoziologie 16, 20, 34, 90, 96 Askese 9, 54, 73f., 77, 79, 88, 97f., 100, 123 Auf-Dauer-Stellung 39, 60, 72, 74, 82ff., 98 Aufklärung 110, 113, 117 Außenhalt 15, 68, 71, 82, 85 Außenwelt 26, 58, 76, 85, 89, 94 Austauschsysteme 115, 119 Autosoziologie 21, 123, 125f. Axolotl 54–56
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Bewegungsfantasie 41, 63 Biologismus 10f., 14, 46, 48 Blutsverband 81 Cartesianismus, cartesianisch 47f., 67, 98 Denkstandort 15, 18, 37, 121 Ding 40, 61ff., 65, 77, 81, 90, 95 Dresden 27 Ekstase 53, 73, 86, 88 Emergenz, emergent 8, 12, 33, 71f., 74, 85, 111 Endogamie 77 Entelechie 38 Entlastung 29–32, 38, 41ff., 50, 52f., 57, 5– 62, 68, 75, 79, 88, 10–107 Erwerbmotorik 53, 66 Ethik 42, 110, 112, 114f., 177f., 120f., 130 Ethik, kommunikative 29, 113 Ethik, protestantische 69 Ethos 98, 11–119, 121f. Evolution, evolutiv, evolutionär 8, 10, 46, 54ff., 71, 99 Evolutionsbiologie 46f., 51, 56 Evolutionistisch 10f., 47 Exogamie, Ausheirat 78, 81f. Fakteninnenwelt 89 Fantasie 39ff., 48, 50, 57, 61, 63, 67, 68 Fetalisierung 55
Frankfurt 23 Freiheit 28, 41, 43, 49f., 90, 110, 111, 125 Frühgeburt 57 Führungssystem 68, 79 Gabe 12, 72, 115 Gang, aufrechter 47, 57, 65 Gattungsbewusstsein 80 Gegenwartsgesellschaft s. Zeitdiagnose Gegenseitigkeit 29, 82, 113ff., 119 Geist 10, 38ff., 46ff., 50, 63, 68, 80, 113 Gewohnheit 32, 38f., 51, 53, 90 Gott, Götter 19, 41, 45, 86, 89, 95, 130 Handeln, experimentelles 47, 87, 90, 120, ideatives 73, instrumentelles 73, 84, 87, 90f., rationales 73, 75, 80, 91, 98, rituelldarstellendes 73, virtuelles 62ff., 83 Hiatus 38, 58 Hilfswissenschaft, administrative 125 Hintergrundserfüllung 8, 12, 59, 115 Hochkultur 87, 91 Humanität, humanistisch, Humanitarismus 50, 80, 109f., 112, 114, 117ff. idée directrice 19, 68f., 99f. Identifizierung 16, 75, 77, 79–84
Identität, kollektive 79f., 124f. Imagination, imaginär 61, 68, 71, 78, 82, 84, 87, 99, 112 Indirekt 42, 44f., 59, 64, 72f., 80, 86, 95 Industriegesellschaft, -kultur 89, 94, 99, 126 Industriemoral 98 Innenwelt 51ff., 58, 66, 86, 96, 116 Instinkt, Instinktresiduen 8, 32, 41, 45, 49, 52f., 58f., 65, 76, 84f., 112, 114, 116 Institution 57, 60, 6890, 94f., 98, 100, 113-120, 124 Institutionentheorie 20, 41, 45, 60, 64, 67f., 124 Inzest 78, 81 Kategorien 8, 10f., 19, 29, 31f., 37, 39, 45f., 48, 50, 68, 72f., 83, 116, 125 Kausaldenken 47, 87 Klassifikation 19, 66, 77, 130 Kollektiv, kollektiv 19, 68, 74, 77, 82, 112f., 115, 119, 122, 124ff. Königsberg 23 Körpertechniken 66 Konservatismus, konservativ 14f., 34f., 109f. Konsumgesellschaft 17, 96f., 100, 114, 122, 125 Kontingenz 14, 65, 90, 94, 105, 120 Kreativität 10, 43, 98, 122 Kreisprozess (s.a. Kybernetik) 20, 26, 50, 60ff., 64, 73 Kultur, kulturell 48, 53,
57, 59, 67, 74, 76, 81, 86, 94, 96, 98f., 112 Kultur, nicht-moderne 8, 73, 75, 86, 112 Kulturkritik 59, 89, 108, 112 Kulturschwelle 31, 86, 88, 92ff., 98, 101 Kunst 83, 101–107 Kybernetik, kybernetisch 26, 50, 61, 95 Leipzig 23 Luxus 10, 96 Magie 72f., 84, 86ff. Mängelwesen 9ff., 25f., 35, 50-53, 56, 58f. Marxismus 16, 25, 72, 100, 110, 124 Maschine 31, 49, 86, 94ff. Metaphysik 40, 44, 47, 73 Monogamie 81 Monotheismus 87f., 95 Moral (siehe Ethik, Ethos) 109, 112 Neolithikum 77, 86 Nicht-cartesianisch 37f., 43, 68, 127 Nietzscheanismus 111 Nomaden 31, 76, 86 NSDAP 24 Objektivität der Institution 74 Ontogenese 55, 57, 63 Ordnung 9, 15, 34, 38f., 43, 59, 76, 81f., 85, 98, 109, 118, 122 Pessimismus 17, 43, 92, 104 Persönlichkeit 96 Pflanzenkultivierung 84 Polyandrie 81 Polygamie 81
Positionalität, exzentrische 45, 50, 53 post-histoire 99, 100, 106 Prag 24 Pragmatismus 12f., 43f., 61, 72 Rausch 73, 84, 86, 88, 103 Rationalismus, rationalistisch, Rationalität 33, 73ff., 83f., 87, 89, 91, 94, 97, 120 Realismus 16, 27, 102, 106, 109, 128 Reflexion, Reflexivität 30, 32, 40ff., 67, 95, 100, 102f., 113 Reiz-Reaktions-Zirkel, Reflexzirkel 8, 49, 51, 58, 62ff., 66, 74, 85 Religion 75, 77–80, 87, 99 Religionssoziologie 12, 20, 122 Ritual, Ritus 28, 47, 53, 71, 74, 77–80, 82ff., 88f., 102 Schlüsselattitüde 20, 106, 121 Selbstbeherrschung 54, 83, 89 Selbsthumanisierung 78, 126 Selbstkultivierung, -formung, -kanalisierung 13, 15, 43, 52f., 63, 65f., 71, 74, 88, 126 Selbsttechnik 88, 97, 121 Selbststeigerung 32, 52, 59f., 86-89 Selbstverhältnis 64, 73, 80, 95 Sesshaftigkeit 31, 75, 77, 82, 86, 98
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Sexualität 11, 47, 54, 60, 77, 89, 112, 114 socius 81 Sonderstellung 8, 45, 47, 53, 57 Solidarität 77f., 82, 113, 115, 122 Sozialregulation 114, 116 Spätkultur 71, 91 Spezialisiertheit 55, 56 Speyer 25 Sprache 29, 31, 33, 46ff., 58, 60-64, 105, 115 Subjektivismus 18, 102, 121 Subjektivität 73, 89, 97f., 100, 102, 104 Superstruktur 20, 29, 93, 96, 104, 120, 129 Suspension 38, 58 Symbolisches 31, 41, 59, 62, 68, 71, 82, 85, 87, 91, 95 Tabu 74f., 77ff., 84, 120 Tausch s. Austauschsysteme
Techniken, technisch 31, 52, 66, 87f., 93ff., 104, 120 Techniksoziologie 34, 90 tension stabilisée (stabilisierte Spannung) 74, 83 Tierhege, -zucht 72, 77, 84 Totemismus 69, 72, 74, 77–81 Urmensch 75 Vegetalismus 77f., 81, 100 Verbot 68, 74, 77ff., 83f. Vergesellschaftung (s.a. Emergenz) 33, 69, 71, 74 Verhalten, sensomotorisches 48, 52, 57, 62ff. Verkörperung 68, 71 Vernunft 50, 84, 117 Verpflichtung 71, 74f., 76, 79, 83f., 91, 94, 101, 104, 114f., 122 Vitalismus, Vitales 39, 43, 48, 59f., 63, 68, 100
Weltbild, -deutung 68, 79, 87, 91, 126 Weltoffenheit, weltoffen 32, 57, 60f., 64 Werkzeug 90, 94 Wesen, handelndes 7, 32, 48, 52, 67 Wesen, nicht festgestelltes 7, 12, 45, 50, 52, 67, 96, 100 Wesen, Stellung nehmendes 19, 45, 50, Wien 23 Wirklichkeitskonstruktion 19, 32, 95 Wissensgesellschaft 20, 130 Wissenssoziologie 15, 18-21, 32, 40, 69, 87, 102, 111, 121, 123 Wohlbefinden, -fahrt, -leben, -stand 114f., 118, 122 Zeitalter, technisches 35, 93, 105 Zeitdiagnose 93–109 Zweckmäßigkeit, sekundäre 41ff., 72, 74, 84
Zur Autorin Heike Delitz ist Postdoc-Stipendiatin an den Lehrstühlen Soziologie II und Philosophie II der Otto Friedrich Universität Bamberg.
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