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German Pages 305 [310] Year 2017
Stefan Waller Leben in Entlastung
Stefan Waller
Leben in Entlastung Mensch und Naturzweck bei Arnold Gehlen
HERBERT VON HALEM VERLAG
Als Dissertation 2014 am Fachbereich Philosophie der Universität Hamburg angenommen (Betreuerin: Prof. Dr. Birgit Recki).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Stefan Waller Leben in Entlastung. Mensch und Naturzweck bei Arnold Gehlen Köln: Halem, 2017
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Zuerst erschienen im UVK Verlag, Konstanz, 2015 (978-3-86764-582-9)
ISBN 978-3-7445-0898-8 (Print) ISBN 978-3-7445-0900-8 (ePDF)
Herbert von Halem Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Schanzenstr. 22, 51063 Köln Tel.: +49(0)221-92 58 29 0 E-Mail: [email protected] URL: http://www.halem-verlag.de
Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz zu erfüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Albert Camus
Besonderer Dank gilt Birgit Recki für die Betreuung dieser Arbeit und das große Vertrauen, das sie mir als ihrem Mitarbeiter stets entgegengebracht hat. Genauso danke ich Christian Möckel für die Begutachtung dieses von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation angenommen Textes. Den Kollegen am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg danke ich für die gute Zusammenarbeit und die gemeinsam verbrachte Zeit; insbesondere danke ich John-Bruce Hager, Martin Hoffmann, Anja Schwennsen, Fabian Wendt und Nathan Wildman für ihre freundschaftliche Unterstützung. Meinen Freunden Hannes Kastner, Konrad Pahlke, Christian Polke, Wiebke Reineke-Göring, Annika Unterburg und Michael Weh danke ich genauso für ihr immer offenes Ohr wie Justus Krüger für unsere über die Kontinente hinweg geführten Diskussionen. Vor allen Dingen aber danke ich meinen Eltern Renz und Anne Waller sowie meinen Brüdern Renz jun. und Achim Waller und deren Familien für ihr allumfassendes Verständnis und ihre liebevollen Entlastungen.
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Inhalt Einleitung: Leben in Entlastung ....................................................................... 9 1 Die Stellung des Menschen in der Welt ....................................................... 13 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1 1.5 1.6 1.6.1 1.6.2 1.7 1.7.1 1.7.2 1.8 1.9
Das Irrationale .................................................................................. 13 Einstieg in Gehlens Anthropologie .................................................. 20 Empirische Philosophie und Metaphysik ......................................... 24 Die Sonderstellung des handelnden Wesens .................................... 28 Geist in der Handlung ...................................................................... 30 Handlung als Bewegung und Vollzug ............................................. 33 Aktion und Reflexion ....................................................................... 36 Weltoffenheit in Kultur .................................................................... 41 Disharmonie und Deutung ............................................................... 50 Entlastung ........................................................................................ 56 Erfahrung, Wille und Bewusstsein ................................................... 62 Lebenserfahrung und Charakter ....................................................... 64 Notwendige Belastungen und Charakterbildung .............................. 70 Antrieb und Bewusstsein ................................................................. 73 Formierte und kanalisierte Triebe .................................................... 74 Distanznahme im Bewusstsein ......................................................... 85 Die Kategorie der Entlastung: Ein Schichtenmodell ........................ 90 Teleologisches Denken und Freiheit ................................................ 96
2 Der Schichtenaufbau menschlichen Handelns .......................................... 105 2.1 2.2 2.2.1 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2
Handlung als kommunikative Bewegung ...................................... 105 Kreisprozesse ................................................................................. 112 Symbolischer Weltaufbau im Auge-Hand-System ........................ 118 Sprache ........................................................................................... 124 Sprachwurzeln ................................................................................ 125 Denken als reflektiertes Sprechen .................................................. 132 Sprache und Selbstbewusstsein ...................................................... 137 Erkenntnis und Gewissheit ............................................................. 145 Rationale Erkenntnis ...................................................................... 149 Reflexion und Existenz .................................................................. 159 Irrationale Erfahrungsgewissheit .................................................... 166 Gewissheit als augenscheinliches »Daß« ....................................... 170 Selbstbild und Sollen: Phantasia certissima facultas ...................... 174 Entlastung als Freiheit aus Entfremdung ........................................ 178
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3 Leben in Kultur .......................................................................................... 187 3.1 3.2 3.2.1 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6 3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.8 3.8.1 3.8.2
Von der Entlastung im Leben zum entlasteten Geist...................... 187 Die zweite Natur der Gewohnheiten .............................................. 194 Gewohnheit und Freiheit ................................................................ 195 Der Schichtenaufbau in der Kultur................................................. 199 Verpflichtende Symbole im rituellen Handeln ............................... 201 Ideativer und instrumenteller Geist ................................................ 206 Kulturelle Kristallisation: Corso und Ricorso ................................ 211 Wandel der Weltanschauungen ...................................................... 217 Transzendenzen .............................................................................. 219 Entlastung im Leben ...................................................................... 225 Vom Totemismus zum Mythos ...................................................... 225 Die Welt des Mythos ...................................................................... 230 Entlastung im Leben und mythisches Bewusstsein ........................ 233 Leben als Entlastung ...................................................................... 240 Das technische Zeitalter ................................................................. 243 Der große Handlungskreis: Die Technik der Magie ....................... 244 Der kleine Handlungskreis: Die Werkzeugtechnik ........................ 248 Verselbstständigung der Technik: Der große Automat .................. 253 Leben durch Entlastung.................................................................. 257 Anpassung an die Organisation ...................................................... 262 Entlastung durch die Kunst ............................................................ 265
4 Schlussbetrachtungen ................................................................................ 279 4.1 4.2
Entsubstanzialisierter Mythos ........................................................ 279 Leben in Entlastung – ein Fazit ...................................................... 285
Literatur .................................................................................................... 291 Schriften von Arnold Gehlen ................................................................... 291 Schriften anderer Autoren ........................................................................ 292 Personenregister .......................................................................................... 299 Index ............................................................................................................. 301
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Einleitung: Leben in Entlastung Philosophie ist Arbeit am Begriff und das philosophische Interesse wird nicht selten dann geweckt, wenn ein Begriff und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen nicht so recht zusammenpassen wollen. Eben dieses lässt sich über Arnold Gehlens Begriff vom Menschen als das Mängelwesen sagen, das im Unterschied zum Tier weder über spezielle körperliche Fähigkeiten verfügt, noch einen spezifischen Lebensraum hat. Die hieraus abgeleitete Annahme, dass wir den Menschen als ein Wesen verstehen müssen, das nicht in einer bestimmten Umwelt, sondern in der Kultur als einer selbst etablierten Welt lebt, ist als neutraler Befund einleuchtend: Man könnte von dieser Annahme ausgehend behaupten, dass überall dort, wo der Mensch lebt, er der an ihn gestellten Aufgabe gerecht geworden ist, sich in der Welt zu verorten. Dass Gehlen diesem Attest in einer pessimistischen Gegenwartsdiagnose nicht zustimmt, lässt die Frage danach aufkommen, welche systematischen Voraussetzungen sich dafür in seinem Werk nachweisen lassen. Eine sich an dieser Frage aufhaltende kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Arnold Gehlens bedarf der methodologischen Vorentscheidung darüber, wie eine solche vorzugehen hat. Eine Möglichkeit bietet eine historisch informierte systematische Einführung, wie sie zuletzt von Heike Delitz1 und in einem größeren Umfang für die Denkrichtung der Philosophischen Anthropologie von Joachim Fischer2 vorgelegt wurde. Um markante Positionen dieses Autoren herauszustellen, bietet es sich an, ihn in ein Gespräch mit einem anderen Denker treten zu lassen, was Christian Thies in Gegenüberstellung zu Theodor W. Adorno3 gezeigt hat. In gewisser Hinsicht hat das Beste aus beiden Welten ein Text zu bieten, der nach einer systematischen Aufarbeitung die Anknüpfungsmöglichkeiten an mehrere Autoren aufzuzeigen in der Lage ist, wie es in eindrucksvoller Weise von Patrick Wöhrle4 geleistet wurde. Hiervon zu unterscheiden ist das Vorhaben, von einem sich in der Theorie
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Heike Delitz, Arnold Gehlen, Konstanz 2011. Joachim Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, München 2008. Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Bonn 1997. Patrick Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, Frankfurt am Main 2010.
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ergebenden Problem auszugehen, wie es von Karl-Siegbert Rehberg5 mit Blick auf Gehlens Institutionsphilosophie unternommen wurde. Schließlich bietet es sich an, das Werk hinsichtlich seiner systematischen Stringenz und der Plausibilität seiner grundlegenden Begrifflichkeiten zu befragen. Dieses auch von mir gewählte Vorgehen haben Peter Jansen6 und Lothar Samson7 bereits vorgezeichnet. Im Anschluss daran besteht die Arbeitshypothese meiner Arbeit darin, dass sich in Gehlens Schriften ein leitender Gesichtspunkt nachweisen lässt, aus dessen Perspektive sich sowohl die Leistungen als auch die Aporien seiner Theorie vom Menschen nachvollziehen lassen. Einen solchen Gesichtspunkt aufzuzeigen erscheint auf den ersten Blick nicht einfach. Gehlen zeigt sich als ein Wanderer zwischen den Welten, der sich nach seiner frühen Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie der Existenzphilosophie zuwendet, sich dann nach einer Phase der Beschäftigung mit dem deutschen Idealismus der Ausarbeitung einer originären, alle Bereiche des menschlichen Daseins beleuchtenden Philosophischen Anthropologie widmet und schließlich die Soziologie im Nachkriegsdeutschland wieder mitbegründet.8 Erschwerend kommen die verschiedenen Gesichter dieses Denkers hinzu, die die Beschäftigung mit ihm genauso erfreulich wie auch problematisch gestalten: Bei Gehlen finden sich viele Gedanken, die tragen, und etliche, die man nur sehr schwer erträgt. Aber eben diese Schwierigkeit, den in seiner letzten großen Schrift Moral und Hypermoral geradezu mephistophelisch auftretenden Gehlen9 mit dem großen Vordenker der Philosophischen Anthropologie, den in seinen Gesellschaftsanalysen oftmals so treffsicheren Soziologen und nicht zuletzt den viel zu wenig beachteten Kunsttheoretiker zu vereinen, lässt die Frage nach einem solchen Gesichtspunkt umso dringlicher erscheinen. Und eben diese Frage ergibt sich aus seinem eigenen Anspruch – traut Gehlen sich selbst doch nicht weniger zu, als den Menschen überhaupt unter einem einzigen leitenden Ge-
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Karl-Siegbert Rehberg, Ansätze zu einer perspektivischen Soziologie der Institutionen, Aachen 1973. Peter Jansen, Arnold Gehlen. Die Anthropologische Kategorienlehre, Bonn 1975. Lothar Samson, Naturteleologie und Freiheit bei Arnold Gehlen, Freiburg/München 1976. Zu dieser Entwicklung in Gehlens Denken vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 751ff. [S. 756f.]; Joachim Fischer, a.a.O., S. 152ff. Diesbezüglich ist vor allem auf die Kritik von Jürgen Habermas hinzuweisen, dessen Rede von Gehlen als eines „aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen“ längst den Status eines geflügelten Wortes erreicht hat. Vgl. Jürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität, in: ders. Philosophisch-politische Profile, Frankfurt am Main 1981, S. 107-126 [S. 108]; vgl. dazu: Karl-Siegbert Rehberg, Vorwort zur 6. Auflage, in: Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969), hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004, im Folgenden zitiert als »MH«, S. XVI; Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 9, S. 248.
sichtspunkt zu betrachten.10 Der Mensch ist der einmalige „Naturentwurf“11 eines handelnden Wesens – eine Annahme, auf der basierend Gehlen in seinen anthropologischen Schriften12 nicht weniger als ein „vom aufrechten Gang bis zur Moral“13 reichendes, umfassendes System „aller wesentlichen Merkmale des Menschen“14 erarbeitet. Angesichts dessen ist es mehr als nur naheliegend, Handlung und in einem spezifischeren Sinne den von Gehlen geprägten Begriff der Handlung als eigentätiger Entlastung als grundlegend für seinen gesamten Ansatz zu nehmen. Allerdings stehen Handlung und Entlastung selbst noch unter zwei systematischen Voraussetzungen, die sich in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander genauso in seinem gesamten Werk finden. Dieses ist erstens die sich gegen jedwede Form des Rationalismus wendende Annahme, dass sich die konkrete leibliche Existenz des Menschen nicht vom rationalen Bewusstsein ausgehend erschließt. Damit geht zweitens einher, dass die konkreten Vollzüge des menschlichen Daseins einem Lebensprozess zuzuschlagen sind, den Gehlen schon in seiner Dissertation Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch15 als irrational beschreibt. In ihrer Bezogenheit aufeinander erweisen sich diese Bestimmungen als prägend für Gehlens anthropologische Schriften: Der Mensch ist das unter anderem mit Verstand bzw. instrumenteller Vernunft ausgestattete, handelnde Wesen inmitten eines alles Lebendige umfassenden irrationalen Prozesses. Gehlens Theorie vom Menschen von einem leitenden Gesichtspunkt her zu betrachten bedeutet hiernach, einerseits mit Karl-Siegbert Rehberg die existenzphilosophische Perspektive
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In diesem Sinne vertrete ich die von Karl-Siegbert Rehberg vorgebrachte Kontinuitätsthese. Die Entwicklung in Gehlens Werk, so diese These, darf nicht als eine Abkehr von seinen frühen existenzphilosophischen Überlegungen verstanden werden, sondern muss als deren Erweiterung verstanden werden. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Existenzielle Motive im Werk Arnold Gehlens. Persönlichkeit als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie, in: Klages/Quaritsch (Hg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens, Berlin 1994, S. 491ff. [S. 492]. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, Frankfurt am Main 1993 [1950], im Folgenden zitiert als »GA 3.1«., S. 13. Gehlens Denken bewegt sich ab 1935 dezidiert im Rahmen einer Philosophischen Anthropologie. Dabei finden sich in den hier im Abschnitt 1.6.1 besprochenen Aufsätzen Vom Wesen der Erfahrung (1936) und Die Resultate Schopenhauers (1938) schon die wesentlichen Bestimmungen der in seinem Hauptwerk Der Mensch (1940) vorgestellten Anthropologie. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 35; Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 756f.; Joachim Fischer, a.a.O., S. 158. GA 3.1, S. 13. Ebd. Arnold Gehlen, Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch (1927), in: GA 1, S. 19-95.
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als den sich durch das gesamte Werk ziehenden „Ariadnefaden“16 anzunehmen und diesen andererseits mit den von Lothar Samson herausgestellten „lebensphilosophischen Prämissen“17 in diesen Schriften zu verbinden. Die menschliche Existenz lässt sich dann in einem doppelten Sinne als »Leben in Entlastung« verstehen: Das im Kollektivsingular verstandene menschliche Individuum führt sein Leben in handelnder Entlastung von den Anforderungen des Lebens und der Mensch als Gattungswesen ist die in der Natur einmalige Gestalt des Lebens im Modus der Entlastung.
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Karl-Siegbert Rehberg, Existenzielle Motive (...), a.a.O., S. 495. Lothar Samson, a.a.O., S. 75.
1 Die Stellung des Menschen in der Welt 1.1 Das Irrationale Den Zugang zu einem philosophischen Werk in einer sehr frühen Schrift des Autors zu suchen, mag in vielen Fällen nicht sinnvoll sein. Dieses gar mit einer Qualifikationsschrift zu tun, birgt die Gefahr in sich, sich zu sehr im Bereich eines noch unausgegorenen Denkens zu bewegen. Andererseits kann dieses den Vorteil mit sich bringen, den für das reife Werk relevanten Problemlagen in ihrem Ursprung zu begegnen. Letzteres lässt sich über Gehlens Dissertation Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch1 feststellen. Indem er dort den Begriff des Irrationalen entwickelt, legt er das Fundament für ein großes philosophischen Werk, das in seinen unterschiedlichen Perspektiven immer wieder auf die Grundproblematik zurückführt2, dass sich der Mensch inmitten der prinzipiell nicht mit rationalen Begriffen erfassbaren Prozesse des Lebens wiederfindet. Ein Gefühl dafür zu entwickeln markiert Gehlen dort als den Ausgangspunkt einer jeden Philosophie. Der Philosoph staunt über die Welt, und es ist das hiermit einhergehende Gefühl der Eigenständigkeit und Fremdheit des Seienden gegenüber dem Betrachter, das ernst zu nehmen ihn gegen einen ausufernden Rationalismus verwahrt: „Deshalb hat die Verwunderung über die vorhandene und uneinsehbare Artikulation des Seienden – als ] für Aristoteles der Anfang aller Philosophie und etwas durchaus anderes als jeder methodische Zweifel, wie z.B. des Descartes – ganz distinkte seinsmäßige Gründe. Das Gefühl, was hier dasteht, ist wesenhaft »fremd« und »ohne mich« – schon dieser innere Ausdruck der gegenständlichen Irrationalität macht jeden Idealismus reiner Prägung unmöglich.“3 Am Anfang auch seines Schaffens begegnen wir diesem Gefühl der Fremdheit. Im Mittelpunkt dieser frühen Schrift steht die Analyse des Ver1 2
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GA 1, S. 19ff. In diesem Sinne ist Lothar Samson zuzustimmen, dass man zum „harten Kern der Gehlenschen Theorie“ nicht ansetzend mit Gehlens anthropologischen oder den noch späteren soziologischen Schriften, sondern nur über seine frühen philosophischen Schriften gelangt. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 13f. GA 1, S. 65.
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hältnisses von Begriff und Objekt, genauer: der Leistung des Begriffs angesichts der Fremdheit seines Gegenstandes. Gehlen entwickelt diese Analyse in Auseinandersetzung mit der Ordnungslehre4 seines Lehrers Hans Driesch, die über eine Kritik an dessen apriorischem Erkenntnisbegriff hinaus noch eine „positive Theorie des Irrationalen“5 als Ertrag hervorbringen soll. Entgegen dessen und überhaupt jeder rationalistischen Behauptung einer „Vernunftgemäßheit der Welt“6 sucht er hiermit die notwendige Annahme des Irrationalen und Fremden bereits aus der Verwendung rationaler Begriffe abzuleiten. Die innere Paradoxie des Begriffs ist demnach so zu beschreiben, „daß er etwas begreift, das nicht er selbst ist, daß er einen Gegenstand meint, um den ich nur durch ihn weiß; obschon er so durchaus mein Begriff ist, habe ich doch das Fremde durch ihn.“7 Dass wir uns Begriffe von der Welt machen können, bedeutet also nicht die Intelligibilität der Phänomene; ganz im Gegenteil lässt sich von der Notwendigkeit der begrifflichen Bezugnahme auf die Gegenstandswelt auf eine substanzielle Differenz zwischen Begriff und Sein schließen. In dieser Einbettung des Rationalen in das Irrationale tritt die von Gehlen selbst mit dem Hinweis auf das „ausführliche Studium“8 herausgestellte Bezugnahme auf die Ontologie Nicolai Hartmanns zutage. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass Gehlen seine Theorie des Irrationalen in einer negativen Abgrenzung zu Driesch entwickelt und deren positiver Gehalt wesentlich der Rezeption Hartmanns9 geschuldet ist. So greift Gehlen hier in weiten Teilen auf jenen Begriff des Irrationalen zurück, den Nicolai Hartmann in der Schrift Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis10 vorstellt. Gegenüber dem sich damit abzeichnenden, nicht zu überschätzenden Einfluss der Ontologie Nicolai Hartmanns auf Gehlens später entwickelte Philosophische Anthropologie ist die inhaltliche Bedeutung der Ordnungslehre Hans Drieschs für sein weiteres Denken eher zu vernachlässigen bzw. bloß in 4 5 6 7 8 9 10
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Hans Driesch, Ordnungslehre. Ein System des nicht-metaphysischen Teils der Philosophie, Jena 1912/1923; auch: Hans Driesch, Wissen und Denken, Leipzig 1922. GA 1, S. 29. Ebd. GA 1, S. 25. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 73. Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin und Leipzig (1925), Berlin 1949. Vgl. zum Begriff des Irrationalen ebd., S. 227ff. Gehlens Bezugnahme auf Hartmann wird uns noch an späterer Stelle interessieren: Tatsächlich folgt er dessen Ontologie nicht nur darin, dem rationalen Erkennen vorgängige, irrationale Strukturen des Seins anzunehmen. Hartmann steht überdies in ganz entscheidender Weise Pate für die Kategorie der Entlastung (vgl. GA 3.1, S. 15; vgl. Abschnitt 1.8), indem Gehlen den Aufbau unterschiedlicher Verhaltensweisen und geistiger Fähigkeiten des Menschen in Rekurs auf dessen schichtenontologisches Modell konzipiert.
ihrer Negation bedeutungsvoll. Mit Rücksicht auf diese weniger inhaltliche als formale Bedeutung für Gehlens Denken sei an dieser Stelle auch nur in aller Kürze auf einige wesentliche Aspekte der Ordnungslehre hingewiesen:11 Driesch geht in einem sogenannten methodischen Solipsismus12 unter der Annahme eines überpersönlichen »Ich«13 davon aus, dass die Wirklichkeit nach einer bestimmten Ordnung strukturiert ist, die sich mithilfe der vom Ich – im subjektiven Sinne verstanden – gesetzten Begriffe vollständig erkennen lässt. Die in diesen begrifflichen Setzungen festgestellten Eigenschaften sind demnach nicht auf das Subjekt in seiner Perspektive auf die Dinge zurückzuführen, sondern kommen den Dingen selbst zu; wir finden hiernach am Gegenstand selbst die entsprechenden Zeichen vor, die dann durch die Setzung von uns gewusst werden.14 Dieses bedeutet, dass wir es im unmittelbaren Erleben und Umgang mit den Gegenständen schon mit den Entsprechungen entwickelter Begrifflichkeiten zu tun haben. Gleichzeitig muss es ob deren Erkennbarkeit schon a priori Vorstellungen von den an den Dingen feststellbaren Setzungen geben, was Driesch als ein Vorwissen um Ordnung bzw. als Urwissen15 begreift. Erkennen bedeutet hiernach, die Identität zwischen Vorwissen und Gegenstand durch die Setzung herzustellen. Als Motor dieses Vorgangs setzt Driesch schließlich ein genauso a priori vorauszusetzendes Vorwollen von Ordnung16 voraus, d.h. einen Willen zum Wissen um seiner selbst willen, was er das „ordnungsmonistische Ideal“17 nennt. Gehlens Antwort auf diese Vorstellung vom »Ich« in seiner immer schon vorauszusetzenden Intimität mit der Wirklichkeit besteht in Grundsatz darin, die Unmittelbarkeit der individuellen Erfahrung in der Auseinandersetzung mit den an sich in keiner Weise schon geordneten Phänomenen als Bedingung alles möglichen Wissens hervorzuheben. Hiervon ausgehend kann kein letztgültiges Wissen im Sinne einer Ordnungsschau erlangt werden; vielmehr können wir uns einzig vermittels handlungsrelativer Funktionsbegriffe18 auf die Gegenstände in der Welt beziehen: „Wir fragen: ist es unzweifelhaft, wenn Driesch sagt: »Das Rot-, Warm-, Tonsein ist gewiß empirisch wirklich, aber Moleküle, Atome, Elektronen 11 12 13 14 15 16 17 18
Eine ausführliche Besprechung der für Gehlen relevanten systematischen Annahmen Hans Drieschs findet sich bei Lothar Samson. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 23ff. Vgl. Hans Driesch, Wissen und Denken, a.a.O., S. 8. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. GA 1, S. 35. Vgl. Hans Driesch, Ordnungslehre, a.a.O., S. 20ff. Vgl. Hans Driesch, Wissen und Denken, a.a.O., S. 16ff. ebd., S. 16. Vgl. GA 1, S. 94; Gehlen beruft sich hier auf Ernst Cassirers Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Zu den von Gehlen angegebenen Stellen vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), in: ECW 6, Hamburg 2000, S. 138f.; S. 173.
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sind das auch«. Wir sind in so radikalem Sinne Phänomenologen, daß wir diesen Satz bestreiten. Auszugehen hat unseres Erachtens die Philosophie nur von dem »unmittelbar Erfahrbaren«. In ihm liegt Alles, und keine weitere mögliche Erfahrung – selbst die historische – kann hier qualitativ Neues hinzubringen.“19 Die Eigenart dieser Gegenüberstellung wird darin deutlich, dass Gehlen hiermit nicht allein darauf abhebt, dass im unmittelbaren Erleben der Wirklichkeit keine den Dingen an sich erkennbare Ordnung angenommen werden darf; sie dergestalt erst durch unsere begrifflichen Setzungen eine bestimmte Form für uns annimmt. Vielmehr lässt sich schon aus dem Gefühl der Fremdheit des Gegebenen ableiten, dass diese Wirklichkeit als das eigenständige „Irrationale im Sinne des Wissensfremden“20 verstanden werden muss. Mit dem so in Stellung gebrachten Begriff des Irrationalen überschreitet Gehlen offenkundig eine durch den verstehenden Begriff selbst gesetzte Grenze: Der Begriff des Irrationalen bezieht sich auf eine jenseits unseres Erkennens autark für sich seiende Substanz, die als »das Leben« bzw. »das Naturgeschehen« zu verstehen ist und damit noch jedweder begrifflichen Bezugnahme auf die Welt ontologisch vorausgeht.21 Gehlen meint also nicht nur im Anschluss an die vernunftkritische Position Kants, dass die Dinge an sich für uns nicht erkennbar sind, indem sie den Erscheinungen in der Erfahrung zugrunde liegen. Er nimmt hiermit vielmehr in einer über die negative Bestimmung des Dinges an sich als Grenzbegriff hinausgehenden Begrifflichkeit an, dass dessen Unerkennbarkeit für uns auf eine positiv bestehende, eigentümlich irrationale Struktur des Gegebenen zurückzuführen sei – und deren Anerkennung sich Kant einzig ob der antizipierten Logizität seines Systems versage:22 Wo Kant ausgehend von unseren Verstandesleistungen auf die Erkenntnis des Dinges an sich „verzichtet“, können wir dieses Seiende selbst in einer positiven Bestimmung als »das Irrationale« verstehen. Indem Gehlen das Ding an sich auf diese Weise als den positiv vorhandenen Bereich des Irrationalen in der uns begegnenden Welt begreift, lässt sich von einer Substanziierung des Noumenon sprechen, wie sei sich bei Hartmann findet: „Das Noumenon ist im positiven Verstande gewürdigt. Zwischen dem irrationalen Bestande und seinem rationalen, erscheinenden Teil besteht dann kein Bruch, keine Metabasis von der Erscheinung zum Ansichsein; die bei19 20 21
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GA 1, S. 94. GA 1, S. 24. So bemerkt auch Lothar Samson, dass Gehlen mit einer substanziellen Bestimmung des Lebens arbeitet und insofern von einem Spinozismus die Rede sein kann. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 133ff. Allerdings muss hier ergänzt werden, dass es sich nur um einen umgekehrten Spinozismus handeln kann, indem sich die Substanz bei Gehlen der Erkenntnis verschließt. Vgl. GA 1, S. 40.
den Stücke des Gegenstandes gehen kontinuierlich ineinander über, wie es die Einheit des Erkenntnisproblems verlangt.“23 Ausgehend davon und in Gegenüberstellung zu dem Identitätsverhältnis von Begriff und Gegenstand bei Driesch stellt Gehlen „vier Erscheinungsweisen des Irrationalen im Gegenstandsgebiet“24 vor. Die für unsere Untersuchung relevanten drei Momente des Irrationalen sind dabei: das vorlogische Erleben, die Irrationalität des gegebenen Materials und schließlich das Werden in der Natur.25 In der zuerst genannten Verwendung bezeichnet das Irrationale die noch nicht auf den Begriff gebrachte unmittelbare Erfahrung bzw. das vorlogische Erleben26. Im Erleben haben wir es nicht schon mit Gesetztem27, sondern mit unmittelbaren Eindrücken zu tun, deren begriffliche Kontur sich für uns erst in einer dem Erleben nachträglichen Reflexion abzeichnet.28 Gehlen beschreibt dieses als einen dreistufigen Ablauf, der durchaus grundlegend für sein Verständnis von Erleben, Reflexion und Begriffsbestimmung ist: „erst wird schlicht gegenständlich erlebt [...], dann wird auf das Erleben reflektiert, und dann steht damit der Gegenstand als gesetzter da.“29 Das sich hier anschließende zweite Moment des Irrationalen besteht darin, dass das im Erleben gegebene Substrat im Sinne der kantischen Dinge an sich verstanden werden muss und dabei für Gehlen – ganz im Gegensatz zur kantischen Transzendentalphilosophie – an sich irrational30 ist: Wir tragen in der Folge des dreistufigen Reflexionsvorgangs aus unserem Blickwinkel die entsprechenden Begriffsbestimmungen an ein uns gegenüberstehendes und an sich nicht durchsichtiges Substrat heran. Unter Berücksichtigung des Rückschlusses vom begrifflichen Umgang mit der Welt auf das Irrationale folgt hieraus auch: Begriffe werden im erfahrenden Umgang mit den Dingen hervorgebracht und wir verfügen über dieselben nur, weil wir uns angesichts eines Erlebens des Fremden in der Welt orientieren müssen. Die damit vorgenommene Positivierung des Noumenon, dass sich das erkennende Bewusstsein nur auf einen Ausschnitt des für sich genommen irrational strukturierten Seins bezieht, drängt sich nach Gehlens Dafürhalten
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Nicolai Hartmann, Grundzüge (...),a.a.O., S. 236. Vgl. GA 1, S. 71. Gehlen nennt als vierte Erscheinungsweise die „Antinomien des Vorwissens“ (GA 1, S. 71); da es sich dabei wesentlich um eine Antwort auf die Theorie Drieschs handelt, ist diese Erscheinung des Irrationalen an dieser Stelle nicht relevant. Vgl. GA 1, S. 71. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 40f.
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mit Blick auf die unerschöpfliche Komplexität des „Natur-Gegenstandes“31 auf. Hiernach ist als das dritte Moment des Irrationalen das Werden in der Natur32 der phänomenale Beleg dafür, dass sich das Sein nicht durch rationale Begriffe, d.h. idealistisch verstehen ließe, sondern als ein autarker, nicht rational strukturierter Bereich angenommen werden muss. „Wäre Natur ein ruhendes Sein“33, so der sich hier anschließende Gedanke, wären wohl noch dazu angetan, ein in sich statisches Sein zu durchdringen; die Wirklichkeit des sich stetig verändernden „Naturwerden[s]“34 versperrt sich jedoch einer begrifflichen Aufarbeitung. Lassen wir die auf der Folie dieses Begriffs des Irrationalen angestellte Kritik an Driesch außer Acht und betrachten allein die Bedeutung der unter diesen Vorzeichen stehenden Theorie des Irrationalen für Gehlens weiteres Denken. Tatsächlich ergeben sich aus der negativen Abgrenzung zur rationalistischen Position Drieschs einige ex negativo gewonnene Konsequenzen, die in den weiteren Analysen noch von Interesse sein werden. Negativ formuliert geht hieraus zunächst nicht nur das Ablehnen des Vorwissens um Ordnung, sondern ein Absehen von irgendwelchen a priori vorauszusetzenden intellektuellen Dispositionen hervor: Gehlen erweist sich mit seiner Theorie des Irrationalen als ein Kritiker eines jedweden Idealismus und auch jeder Transzendentalphilosophie, die das Verhältnis von Mensch und Welt ausgehend von bereits vorauszusetzenden Bewusstseinsfunktionen zu rekonstruieren sucht. Die Philosophie darf demgegenüber nirgendwo anders als in der voraussetzungslosen Erfahrung35, mithin der unmittelbaren Konfrontation mit dem Irrationalen in erfahrenden Handlungen ansetzen. Das sich erst in der Auseinandersetzung hiermit entwickelnde erkennende Bewusstsein ist als Mittel zur Orientierung im Angesicht eines fremden Naturgeschehens zu verstehen und damit, wie Gehlen es in einer Vorwegnahme seiner späteren anthropologischen Untersuchungen hervorhebt, mit Schopenhauer gesprochen ein „Diener des Willens“36 bzw. mit Häberlin als „Phase der Handlung“ 37 zu begreifen. Als weiteres, zunächst noch negatives Ergebnis dieser Untersuchungen geht mit der Annahme der irrationalen Struktur des Werdens der Ausschluss 31 32 33 34 35 36
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GA 1, S. 51. Vgl. ebd., S. 54ff. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 54ff. Vgl. ebd., S. 94. GA 1, S. 52; vgl. Arthur Schopenhauer, Über den Willen in der Natur, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Band III: Kleinere Schriften, Frankfurt am Main 1986, S. 370: „Demzufolge ist der Intellekt alleine zum Dienste des Willens bestimmt und diesem überall genau angemessen.“ GA 1, S. 52; vgl. Paul Häberlin, Der Geist und die Triebe, Basel 1924, 87ff. Zur Gehlenschen Interpretation des Bewusstseins als Phase des Handelns in der kommunikativen Kreisbewegung, vgl. Abschnitt 2.1.
einer rational einsehbaren Zweckmäßigkeit im Naturgeschehen einher – was für Gehlen allerdings die Annahme einer Naturteleologie des Irrationalen nicht ausschließt. Er fasst dieses zunächst so, dass man angesichts des Problems der Prozesshaftigkeit des Naturgeschehens entweder wie Driesch, Hegel oder Leibniz ein bestimmtes „Werdensziel“38 postulieren muss, von dem ausgehend die Rationalität dieser Abläufe als Entwicklung auf dieses Ziel hin behauptet werden kann. Oder aber man folgt dem „Gedanken eines sinnlosen Werdens“39, den wir etwa bei den Lebensphilosophen Schopenhauer, Nietzsche, Bergson oder auch bei Goethe40 finden. Tatsächlich aber erscheint Gehlen diese Disjunktion nicht als alternativlos. In diesem Sinne vertritt er mit seinem positiven Begriff des Irrationalen eine in seinen späteren Überlegungen zur Naturteleologie durchgehaltene dritte Position: Die Unerkennbarkeit eines Sinns im Werden geht für ihn nicht mit einem prinzipiellen Verzicht auf die Annahme von Zweckmäßigkeit im Naturgeschehen einher. Gehlen, so lässt sich im Anschluss an Lothar Samson feststellen, „denkt im Grunde teleologisch“41 – und zwar indem er die metaphysische Annahme einer Zweckmäßigkeit des sich dem Erkennen verschließenden Irrationalen42 in der Natur vertritt. Er legt zwar in seiner Dissertation noch keine ausführlichen Erörterungen darüber vor, wie sich dieses im Naturgeschehen angelegte Sinnmoment in der Lebensführung des Menschen niederschlägt. In dieser Schrift finden sich jedoch richtungsweisende Bemerkungen. So spricht er von der prinzipiellen Möglichkeit, die Frage nach dem „»Sinn« bestimmter Naturgegebenheiten“43 zu beantworten, sofern wir uns auf bestimmte „außerrationale Gewissheitsquellen“44 beziehen, die hierauf eine symbolische Antwort geben. Obwohl Gehlen die sich auch hiermit einstellenden Probleme in seiner Theorie des Irrationalen nicht erschöpfend bespricht, ist damit dennoch der Fluchtpunkt in seiner Perspektive auf den Menschen festgelegt. Wir müssen im Sinne des Rückschlusses von der Verwendung rationaler Begriffe auf das „Irrationale im Sinne des Wissensfremden“45 von einer substanziellen Differenz zwischen dem erkennenden Bewusstsein und dem Leben ausgehen. Der Mensch ist dem irrationalen Geschehen des Lebens augesetzt, bildet in seinem erfahrenden Umgang mit ihm Begriffe und wird durch eine symbolisch vermittelte Gewissheit des Sinns der Zweckmäßigkeit des Naturgeschehens 38 39 40 41 42 43 44 45
GA 1, S. 56. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 57. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 19. Dass hierin ein noch näher zu besprechender Widerspruch liegt, macht Samson allerdings nicht hinreichend kenntlich (vgl. Abschnitt 1.9). GA 1, S. 65. Ebd., S. 65. Ebd., S. 24.
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gewahr. Als Teil dieses Prozesses ist er das Lebewesen, das mit den Problemlagen der ihm fremden Wirklichkeit des nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern genauso auch in ihm vorgängigen, irrationalen Lebens umzugehen hat: „Das Irrationale, das es soweit möglich zu bewältigen gilt, findet sich also zunächst an zwei Stellen: in mir, und mir gegenüber.“ 46
1.2 Einstieg in Gehlens Anthropologie Dass die Philosophie überhaupt und damit auch das Nachdenken über die Stellung des Menschen in der Welt ihren Ausgang im Gefühl der Fremdheit47 nehmen, markiert den Einstieg in Gehlens anthropologisches Hauptwerk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Dabei geht es ihm ganz ähnlich wie in der eben beschriebenen Theorie des Irrationalen darum, das existenzielle Problem des Menschseins in einem Rückschluss von den geistigen Leistungen her zu erörtern. An dieser Stelle ist es allerdings nicht die Paradoxie des Begriffs, sondern das zuletzt anklingende symbolische Verhältnis zur Welt, das den Ausgangspunkt für seine Überlegungen markiert. So leitet er seine Überlegungen mit der Vignette einer Wesensbestimmung des Menschen ein, die wiederum mit einem sich in der philosophischen Beschäftigung mit der eigenen Existenz einstellenden Gefühl einhergeht. Der Anlass zum weiteren Nachdenken ergibt sich hiernach aus der Empfindung, dass der Mensch seine Stellung in der Welt deuten muss, damit er sich zur Welt verhalten kann: „Das von nachdenkenden Menschen empfundene Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins ist kein bloß theoretisches Bedürfnis. Je nach den Entscheidungen, die eine solche Deutung enthält, werden Aufgaben sichtbar oder verdeckt. Ob sich der Mensch als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen, wird einen deutlichen Unterschied in seinem Verhalten zu wirklichen Tatsachen ausmachen; man wird in beiden Fällen auch in sich sehr verschiedene Befehle hören.“ 48 Grundlegend für die Bestimmung des menschlichen Daseins erscheint somit, dass sich der Mensch in ein indirekt durch bestimmte Selbstbilder vermitteltes Verhältnis zur eigenen Existenz setzt. Das bedenkenswerte Spezifikum des Menschseins besteht damit in der Aufgabe, seine Stellung in der Welt deuten zu müssen: 46 47
48
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Ebd., S. 24. Dazu, dass Gehlen das Problem der Erkenntnis überhaupt ausgehend von der Fremdheit der Dinge angeht, vgl. Michael Großheim, Politischer Existenzialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, Fußnote S. 210. GA 3.1, S. 3.
„Man sollte versuchen, gerade diese Umstände zur Bestimmung des Wesens des Menschen heranzuziehen; das würde bedeuten: es gibt ein lebendiges Wesen, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen, wozu eben ein »Bild«, eine Deutungsformel notwendig ist.“49 Aus dieser Überlegung heraus blickt Gehlen auf die Kultur und damit die Institutionen des Menschen als Vermittler solcher Deutungen, namentlich die „Religionen, die Weltanschauungen, die Wissenschaften“50, die sich zwar nicht in metaphysischen Aussagen über den Menschen erschöpfen, gleichwohl aber immer auch ein entsprechendes „»Bild«, eine Deutungsformel“51 des Menschen bereitstellen. Diese dort angebotenen Deutungsformeln erfüllen ihre Aufgabe nicht beziehungsweise nicht alleine in Erkenntnissen über den Menschen, sondern maßgeblich dadurch, dass sie ihm eine bestimmte Idee von sich selbst geben, an der er sich in seinem Handeln orientieren kann. Wer sich als Geschöpf Gottes versteht, für den ist es in einer ganz bestimmten Weise selbstverständlich, wie er zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zur Welt und zum Kosmos überhaupt steht und wie er sich auf Grund dessen zu verhalten hat; von einem solchen Selbstverständnis werden sich die Bedürfnisse und die Interessen52 eines Atheisten oder eines Darwinisten maßgeblich unterscheiden.53 Die sich hier anschließende Überlegung Gehlens, dass sich in einer jeweiligen Deutung gerade nicht das Wesen des Menschen selbst findet, sondern immer nur eine Auslegung, eine Bebilderung des menschlichen Daseins durch Kategorien, die außerhalb desselben stehen, liegt auf der Hand: Wenn etwa in der Religion von der Gottesebenbildlichkeit oder im darwinistischen Sinne vom arrivierten Affen die Rede ist, dann haben wir es nicht unvermittelt mit dem Menschen in seiner unmittelbaren Konfrontation mit 49 50 51 52
53
Ebd. Ebd. Ebd. Gehlen verwendet die Wendung »Bedürfnisse und Interessen« zwar nicht in den einleitenden Bestimmungen in Der Mensch, allerdings taucht diese immer wieder „formelhaft“ (GA 3.1, S. 54) in seinen Schriften auf, indem die inneren Dispositionen des Menschen als Bedürfnisse und Interessen seinem Verhältnis zur Welt entsprechen, das sich an bestimmten (Selbst-) Bildern orientiert. Vgl. ebd., S. 58. Zu der Konstitution von Wirklichkeit und Wissen durch die das Handeln bestimmenden Selbstbilder des Menschen vgl. Heike Delitz, a.a.O., S. 19: „Stets macht man sich ein Bild von sich und der Welt, und dieses bestimmt, wie man sich behandelt, wie sich der Einzelne klassifiziert und hierarchisiert und was man – kollektiv, gesellschaftlich – je als die eigene Aufgabe versteht: kurz, um welche Subjekt- und Weltform es sich handelt. Es geht um elementare Kategorien des »Wissens«, nämlich um die (gesellschaftlich variable und sozial konstituierte) Form der inneren und äußeren Wirklichkeit.“ Allerdings ist dieser Aussage hinzuzufügen, dass es Gehlen nicht alleine um Wissen geht; ja, dass es den Selbstbildern als zu einem bestimmten Handeln verpflichtenden Deutungen wesentlich ist, sich dem rationalen Wissen zu verschließen.
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dem Fremden, sondern mit bestimmten, seiner Situation gegenübergestellten Deutungen zu tun. Sich selbst zu deuten heißt in diesem Sinne, dass sich der Mensch, gewissermaßen aus dem Zentrum seines Daseins heraus blickend, indirekt von bestimmten Selbstbildern her als göttliches Wesen oder als ein hoch entwickeltes Tier versteht und sich dementsprechend verhält. Diesen Selbstbildern in Religion, Wissenschaft und Weltanschauung ist damit der Zusammenhang von Deutung und Handeln gemein, der Wesentlicheres über die Natur des Menschen freilegt, als mit den jeweiligen Inhalten dieser Bilder ausgedrückt wird. In den Blick zu bekommen, was das Wesen des Menschen ist, kann sich daher gerade nicht an einem bestimmten Bild vom Menschen aufhalten, sondern muss aus dem Deutungsproblem selbst heraus entwickelt werden: „Diese Richtung der Untersuchung wird freigelegt, wenn man die Frage festhält: was bedeutet gerade das Bedürfnis der Deutung?“54 Aus dem hiermit auch deutlich werdenden Umstand, dass dem Menschen diese Deutungsformeln nicht schon in die Wiege gelegt sind, sondern dass sie selbst erst hervorgebracht werden müssen, folgert Gehlen in einem darauffolgenden Schritt, dass der Mensch im Vergleich zu jedem nicht vor eben diese Aufgabe gestellten Tier als „unfertig“55 und „nicht »festgerückt«“56 zu verstehen ist. Die Unfertigkeit bezieht sich auf den Umstand, dass der Mensch nicht wie das Tier über die entsprechende körperliche Verfassung und die nötigen Instinkte verfügt, die ihm eine Sicherheit in seinem Verhalten von Natur aus ermöglichten: Der Mensch muss selbst die Mittel finden, um sein Leben führen zu können. Nicht festgerückt zu sein hebt auf den damit einhergehenden Umstand ab, dass er nicht, wie es bei Tieren der Fall ist, fest in der Welt verortet ist, d.h., dass er keinen spezifischen Lebensraum hat. Die Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie wäre es hiernach, angemessene Begriffe – Feststellungen im begrifflichen Sinne – über das im diesem Sinne noch nicht festgestellte Tier „Mensch“ zu treffen, wie Gehlen dieses formelhaft von Friedrich Nietzsche übernimmt: „Genau dies hat Nietzsche einmal gesehen, als er den Menschen »das noch nicht festgestellte Tier [sic]« nannte (XIII, 276). Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie »unfertig«, nicht »festgerückt«. Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden.“57
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GA 3.1, S. 4. Ebd. Ebd. Ebd.; vgl. Friedrich Nietzsche, Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit (1882/83-1888.), in: ders. Nachgelassene Werke, Bd. XIII, Leipzig 1903, Aphorismus 667, S. 276. [KSA 11,
Den Menschen nach Nietzsche als das noch nicht festgestellte Tier zu bestimmen bedeutet hiernach, dass der Mensch die Bewältigung seines existenziellen Problems nur auf doppelte Weise leisten kann: zur Außenwelt und zu sich selbst Stellung zu beziehen, d.h. sich genauso in der äußeren Welt wie auch in seiner inneren Disposition zur Welt durch Eigentätigkeit selbst zu verorten. Mit der so beschriebenen, sich mit der Lebensführung des Menschen stellenden Aufgabe sind wir schon beim zentralen Gedanken dieser Theorie angelangt: Der Mensch muss sich in einer ihm eigenen, ihn von jedem Tier unterscheidenden Weise selbsttätig zur Welt verhalten und sich dabei selbst noch in ihr ausrichten. Nicht festgestellt zu sein und deshalb Stellung beziehen zu müssen ist in diesem Sinne gleichbedeutend damit, dass der Mensch handelt: „Die Akte seines Stellungnehmens nach außen nennen wir Handlungen, und gerade insofern er sich selbst noch Aufgabe ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung, »macht sich zu etwas«.“58 Mit diesem Übergang vom Problem der Selbstdeutung zur Bestimmung des Menschen als das noch nicht festgestellte handelnde Wesen schließt Gehlens grundlegende Wesensbestimmung des Menschen. Festzuhalten ist zunächst, dass er hiermit eine Perspektivverschiebung von der Betrachtung der kulturell vermittelten Deutungen menschlichen Daseins hin zu dem im Kollektivsingular verstandenen einzelnen handelnden Subjekt vollzieht, das vor die Aufgabe gestellt ist, sich eigentätig am Leben zu erhalten. Auch zeichnet sich mit diesem Schwenk die Zielsetzung dieser Theorie ab: Gehlen geht es im Sinne einer Dialektik dieses Begriffs darum, bestimmte »Feststellungen« über das noch nicht festgestellte Tier »Mensch« zu treffen, dem es wesenhaft ist, auf eine Deutung des eigenen Seins angewiesen zu sein. Hieraus leiten sich zwei Voraussetzungen für diese Theorie ab: Die erste Voraussetzung besteht darin, eine sich nicht auf ein bestimmtes Selbstbild stützende substanzielle Bestimmung der menschlichen Natur, sondern eine sich in Funktionsbegriffen aufhaltende, empirisch informierte Theorie vom Menschen zu geben. Gehlen versteht seine Philosophische Anthropologie demnach deshalb als eine in einem angemessenen Sinne biologisch vorgehende „anthropo-biologische“59 Theorie, weil er alle am menschlichen Lebensvollzug feststellbaren körperlichen, seelischen und geistigen Probleme und Fähigkeiten ausgehend von dem Deutungsproblem und damit der noch nicht festgestellten Situation, also der Notwendigkeit zu handeln, her betrachtet. Die für Gehlens Vorgehen entscheidende zweite Voraussetzung besteht in der dabei aufrechterhaltenen Differenz zwischen den metaphysischen Deutungen des Menschen und den
58 59
25 [428], S.125]. Dazu auch: Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: KSA 5, Aph. 62, S. 81. GA 3.1, S. 30. Ebd., S. 10.
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begrifflichen Feststellungen in dieser Theorie. Wenngleich es die einführenden Passagen in Der Mensch nahelegen könnten, begreift er seine Untersuchungen keineswegs als Antwort auf das Bedürfnis nach einer Deutung des menschlichen Dasein. Vielmehr handelt es sich um eine vom Problem der Selbstdeutung ausgehende, sich als empirische Philosophie60 verstehende Theorie vom Menschen als dem handelnden Wesen, das jenseits der möglichen Erkenntnisse über seine Stellung in der Welt noch einer Deutung seiner selbst in sich selbst gegenübergestellten Bildern bedürftig ist. 1.2.1 Empirische Philosophie und Metaphysik Inwieweit Gehlen den so markierten Unterschied zwischen der Orientierungsleistung der Selbstdeutungen in bestimmten Bildern einerseits und dem Begriff des Menschen als das sich selbst deutende Wesen andererseits beibehält, lässt sich mit Blick auf die Methode einer „empirischen Philosophie“61 nachvollziehen. Dabei ist auf das sich damit einstellende Problem hinzuweisen, dass er alles am Menschen und damit auch seine Selbstdeutungen aus der empirisch beschreibenden Perspektive zu verstehen sucht – und auf diese Weise meint, jedwede Form von Metaphysik im Sinne einer nichtempirischen Sphäre eigenen Rechts ausschließen zu können. Dessen eingedenk stellt sich die prinzipielle Frage, ob Gehlen in seiner „philosophischen Erfahrungsforschung“62 ohne die stillschweigende Annahme einer metaphysischen Sphäre auskommt. Ein weiterführendes Problem ist, dass die Bestimmung des Lebensprozesses und damit die naturteleologischen Annahmen eine die Grenzen der empirischen Betrachtung überschreitende Metaphysik darstellen. Zunächst aber ist diese Methode gegen den vorschnellen Vorwurf eines Biologismus in Schutz zu nehmen. So kann kein grundsätzlicher Einwand gegen diese Theorie darin bestehen, dass Gehlen sich dem Menschen und seiner Kultur aus der Perspektive der biologischen Sonderstellung63 des noch nicht festgestellten Tieres nähert und damit auch die empirisch beschreibbaren physiologischen Besonderheiten menschlichen Daseins in seinen Kulturbegriff einfließen lässt. Bei aller kritischen Überprüfung der hiermit angenommenen Kategorien wäre zu zeigen, warum eine prinzipielle Trennung zwischen der Kultur und der Natur des Menschen angenommen werden muss und 60
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Vgl. Arnold Gehlen, Ein anthropologisches Modell (1968), in: GA 4, S. 203-215 [S. 211]; Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur (1956), hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004, im Folgenden zitiert als »US«, S. 5; Arnold Gehlen, Stellungnahme zu den Hauptsachen, in: ders. Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied/Berlin 1963, S. 141. GA 4, S. 211. Arnold Gehlen, Stellungnahme (...), a.a.O., S. 147. Vgl. GA 3.1, S. 17; vgl. Abschnitt 1.2.2.
wo die entsprechende Grenze verläuft. Betrachtet man Gehlens Annahme, dass sich Menschwerdung nur auf der Folie kultureller Ereignisse wie etwa der Entwicklung religiöser Selbstdeutungen64 verstehen lässt, dann zeigt sich die enge Verschränkung zwischen Natur und Kultur in dieser Theorie, die sich eher als eine kulturalistische Interpretation der menschlichen Biologie, denn als biologistische Perspektive auf die Kultur ausnimmt.65 Versteht man schließlich unter einem Biologismus die Vorstellung einer Determination menschlichen Handelns durch seine biologischen Anlagen, dann greift diese Annahme als Vorwurf gegen Gehlen zu kurz. So entwickelt Gehlen seinen Ansatz ja gerade aus der Einsicht in die Indeterminiertheit des menschlichen Verhaltens, seiner noch nicht festgestellten Situation, die er als Abwesenheit einer Determination durch Instinkte begreift und damit korrespondierend mit dem Begriff der nicht auf bestimmte Verhaltensweisen festgelegten Weltoffenheit66 beschreibt.67 Das Problem einer empirischen Philosophie zeichnet sich allerdings darin ab, dass Gehlen den in der Annahme einer Indeterminiertheit des menschlichen Handelns aufscheinenden Gegensatz zwischen Naturdeterminiertheit und Willensfreiheit nicht als ein Problem begreift, das sich philosophisch etwa im kantischen Sinne transzendentaler Freiheit durch die Annahme einer metaphysischen Perspektive auflösen ließe68. Ihm geht es vielmehr im Sinne der gegenseitigen Bedingtheit von Nichtfestgestelltsein und Selbstdeutung darum, angesichts dieser Indeterminiertheit die notwendige Feststellung empirisch beschreibbarer Bedürfnisse und Interessen im Dienste eines orientierten Handelns herauszustellen69. Inwiefern hierin nicht nur eine näher zu besprechende Konzeption von Freiheit70 aufscheint, sondern sich dem noch zugrundeliegend
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66 67 68
69 70
Vgl. Kapitel 3, Abschnitt 3.5.1 In diesem Sinne lässt sich feststellen, dass die biologischen Grundannahmen Gehlens zweitrangig sind gegenüber seinen „kulturwissenschaftlichen Schlußfolgerungen“ (Karl-Siegbert Rehberg, Zurück zur Kultur? Arnold Gehlens anthropologische Grundlegung der Kulturwissenschaften, in: Brackert/Wefelmeyer, Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1990, S. 278). Vgl. Peter Jansen, a.a.O., S. 11. Mit Blick darauf kann man Gehlens Ansatz durchaus in eine Linie mit der von Michael Tomasello stark gemachten These von der kulturellen Entwicklung menschlichen Denkens stellen. Vgl. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung menschlichen Denkens, Frankfurt am Main 2006. Vgl. Abschnitt 1.4. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Zurück zur Kultur?, a.a.O., S. 278. Vgl. US, S. 29f. Gehlen spricht an dieser Stelle tatsächlich von einer „Antinomie“ – allerdings unter Rekurs auf Epikur und ohne auf Kant einzugehen – und stellt das Problem der Willensfreiheit als eine Art Seminarproblem dar, indem hier angesichts der offenkundigen Tatsache menschlichen Handelns danach gefragt werde, „ob es überhaupt Handeln gibt oder nicht“ (US, S. 29). Vgl. US, S. 30. Zum Verhältnis von Freiheit und Naturteleologie vgl. Abschnitt 1.9.
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das methodologische Problem bei Gehlen zeigt, lässt sich in Rückgriff auf Kant nachvollziehen. Kant prägt den Begriff einer empirischen Philosophie, indem er diesen in Abgrenzung zur Erkenntnis aus reiner Vernunft in Stellung bringt: „Alle Philosophie ist entweder Erkenntnis aus reiner Vernunft, oder Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische Philosophie.“71 Hiernach geht es in der reinen Philosophie um Metaphysik im Sinne von Erkenntnissen a priori72, wohingegen es eine empirische Philosophie mit Erfahrungsdaten, also Erkenntnissen a posteriori zu tun hat. Zur empirischen Philosophie zählt Kant die Naturwissenschaften, aber auch die Mathematik, die Psychologie und schließlich auch die Anthropologie als eine empirische Wissenschaft vom Menschen. Ohne den einzelnen Argumentationsschritten nachzugehen, besteht die entscheidende Pointe darin, dass Kant die empirische Philosophie in Abhängigkeit zur Metaphysik stellt. Wir benötigen reine Vernunfterkenntnisse und bewegen uns stets im Bereich der Metaphysik, wenn wir die Erkenntnisse der empirischen Philosophie in einen für uns sinnvollen Zusammenhang stellen: „Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntnis des Menschen, haben einen hohen Wert als Mittel, größtenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdenn nur durch Vermittelung einer Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen, wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist.“73 Die Ergebnisse einer empirischen Philosophie, so lässt sich im Anschluss an dieses Zitat feststellen, lassen sich ohne Metaphysik nicht sinnvoll verstehen. Eingedenk dessen lässt sich durchaus behaupten, dass auch Gehlen sich nicht nur im Bereich einer empirischen Philosophie bewegt: Die Bestimmung des Menschen als das einer Selbstdeutung bedürftige Wesen lässt sich als eine bemerkenswert schlanke Metaphysik74 verstehen, aus der heraus die empirisch beschreibbaren Phänomene in einen Sinnzusammenhang gestellt werden.75 71
72 73 74
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Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, im Folgenden zitiert als »KdrV«, darin: Der transzendentalen Methodenlehre drittes Hauptstück. Die Architektonik der reinen Vernunft, B 868. Vgl. KdrV, B 869. KdrV, B 878. Gehlen teilt im Grunde diese Ansicht, indem er etwa mit Kierkegaard darauf hinweist, dass man „»auch ein bißchen Metaphysik« machen“ (Arnold Gehlen, Stellungnahme (...), a.a.O., S. 145) kann. Allerdings stellt er diese Feststellung in seinen anthropologischen Untersuchungen nicht in einen auf die das Wissen um die Notwendigkeit von Selbstdeutungen abgestellten systematischen Zusammenhang mit dem Menschen als Gegenstand seiner Theorie. Vgl. Peter Jansen, a.a.O., S. 87. Auch Jansen sieht diesen Zusammenhang zwischen der kantischen Bestimmung von Metaphysik und des Deutungsproblems bei Gehlen und bemerkt,
Das Problem seines Ansatzes ergibt sich allerdings aus dem Umstand, dass er den eigenen metaphysischen Standpunkt nicht in seiner Theorie vom Menschen behandelt. Gehlen, so lässt sich in einer ersten Annäherung an das sich daraus ergebende Problem mit Ernst Tugendhat feststellen, versteht die empirisch vorgehende Philosophische Anthropologie in einem so radikalen Sinne als „Erbin der Metaphysik“76, dass er die für das eigene Projekt unabdinglichen metaphysischen Annahmen weder als solche kenntlich macht, noch in seine Beschreibung des Menschen einfließen lässt. Dieses hat zur Folge, dass er in seinen anthropologischen Schriften von Metaphysik ausschließlich in einem Sinne spricht, den Kant als denjenigen einer „empirische[n] Psychologie“77 beschreibt. Metaphysik ist damit nicht aus der Perspektive der Vernunfterkenntnis zu behandeln, sondern mit den konkreten Selbstdeutungen des Menschen in Verbindung zu bringen, die mit empirisch beschreibbaren psychologischen Dispositionen einhergehen: Der Mensch stellt sich fest, indem durch die metaphysischen Selbstdeutungen in Bildern bestimmte psychische Dispositionen als feste Interessen und Bedürfnisse78 an die Stelle der nicht festgestellten Indeterminiertheit im Handeln treten. Für diese konkrete Feststellung spielt die Erkenntnis, dass der Mensch das sich selbst deutende Wesen ist, genauso wenig eine Rolle, wie etwa ein Begriff tranzendentaler Freiheit im kantischen Sinne mit der Vorstellung der Indeterminiertheit des menschlichen Handelns in Zusammenhang gebracht wird. Beides hebt auf Vernunfterkenntnisse ab, denen Gehlen trotz der notwendigen metaphysischen Voraussetzungen des eigenen Zugriffs keinen Ort in seiner Anthropologie zuweist. Das konzeptionelle Problem in der Anthropologie Gehlens tritt darin hervor, dass sie jenen durch die Vernunft möglichen metaphysischen Zugriff auf das Problem des menschlichen Daseins in der Beschreibung vom Menschen ausklammert, den sich Gehlen als denkender Mensch selbst durchaus zutraut und an dessen Stelle er einen empirischen Begriff von Metaphysik im Sinne einer bestimmten Deutung des eigenen Seins setzt. Das sich hier anschließende Problem besteht darin, dass diesem Zusammenhang die uns bereits bekannte Metaphysik einer Zweckmäßigkeit des an sich irrationalen Lebensprozesses zugrunde liegt.
76 77 78
dass dieser Begriff in der kantischen Verwendung nicht jenen „Reizwert“ (ebd.) wiedergeben kann, den er in Gehlens Anthropologie hat – nämlich das deutliche Hervorheben der Rolle empirischer Erkenntnisse für eine Philosophische Anthropologie. Allerdings stellt auch Jansen das hier angesprochene Problem heraus, dass Gehlen die eigene Reflexion über die menschliche Stellung in der Welt als das sich deutende Wesen nicht in seine Bestimmung des Menschen mit einfließen lässt. Vgl. ebd., S. 16. Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, S. 18. KdrV, B 876. Gehlen spricht bezüglich der durch institutionelle Selbstbilder verinnerlichten Interessen und Bedürfnissen von „Dauerinteressen“ (GA 3.1, S. 58).
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1.2.2 Die Sonderstellung des handelnden Wesens Im Sinne der eben kenntlich gemachten Methode einer empirischen Philosophie widmet Gehlen sich der grundlegenden Frage seiner anthropologischen Untersuchungen: „Wie kann ein so schutzloses, bedürftiges, so exponiertes Wesen sich überhaupt am Leben erhalten?“79 Als nähere Bestimmung der physiologischen Unfertigkeit des Menschen wird damit vorausgesetzt, dass er im Vergleich zu jedem Tier als ein „Mängelwesen“80 zu verstehen ist. Gehlen meint hiermit im Anschluss an Herder81, dass der Mensch nicht den entsprechenden Körperbau und die Instinktsicherheit eines Tieres mitbringt, das sich mit dieser Ausstattung in einer ihm zugehörigen Umwelt zurechtfindet. Wäre der Mensch ein Tier in freier Wildbahn, dann hätten wir es mit einem äußerst schlecht auf die sich stellenden Aufgaben vorbereitetes Wesen zu tun, wie Gehlen es in dem Aufsatz Ein Bild vom Menschen82 betont: „Er ist »organisch mittellos«, ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von »Spezialisten« im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne Haarkleid und ohne Anpassung an die Witterung, und auch viele Jahrhunderte Selbstbeobachtung haben ihn nicht belehrt, ob er nun eigentlich Instinkte hat und welche. Man hat dies schon lange bemerkt, und Herder (1772) sowie Kant (1784) haben darauf hingewiesen.“83 Angesichts dessen ist es für das Verständnis der Bezeichnung Mängelwesen wichtig, dass es sich dabei um einen Konjunktiv handelt, eine hypothetische Negativbestimmung, die als heuristisches Prinzip Auskunft über die positiv bestehende Wirklichkeit des Lebensvollzugs des Menschen geben soll. Der Mensch ist substanziell betrachtet keineswegs dysfunktional eingerichtet. Er ist vielmehr ein ganz einmaliges lebens- und äußerst leistungsfähiges Naturwesen: „Denn man gebe mir einmal die Voraussetzung zu – die Hypothese, die in dieser Schrift durch alles das sichergestellt werden wird, was man mit ihr erkennen und übersehen kann – nämlich die Voraussetzung: im Menschen
79 80 81 82 83
28
GA 3.1, S. 15f. Ebd., S. 16. Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), München 1978, S. 25. Arnold Gehlen, Ein Bild vom Menschen (1941), in: GA 4, S. 50-62. GA 4, S. 53. Vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Frankfurt am Main 1977, S. 31ff.
liegt ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur vor.“84 Um sich allerdings klar zu machen, was genau die Besonderheit dieser Lebensführung ausmacht, ist es hilfreich, eine Vergleichsbeziehung zum Tier herzustellen, unter deren Bedingungen der Mensch dann als ein Wesen voller Mängel erscheinen muss. Die Dialektik des Begriffs Mängelwesen lässt sich in diesem Sinne so verstehen, dass der Mensch kein Mängelwesen ist, sich seine zum Handeln bestimmte Existenz jedoch positiv auf der Folie der Arbeitshypothese vom Mängelwesens verstehen und in ihrer Funktion empirisch beschreiben lassen. Gehlen nennt dieses den „transitorischen Wert“85 des Begriffs »Mängelwesen«, den er, ohne dass er den Namen Ernst Cassirer fallen ließe, explizit nicht als einen Substanzbegriff86 aufgefasst wissen will – und der daher, so können wir ergänzen, als ein Funktionsbegriff87 zu verstehen ist: „Wenn der Mensch hier und in dieser Beziehung, im Vergleich zum Tier als »Mängelwesen« erscheint, so akzentuiert eine solche Bezeichnung eine Vergleichsbeziehung, hat also nur einen transitorischen Wert, ist kein »Substanzbegriff« [...] »Man setzt den Menschen fiktiv als ein Tier, um dann zu finden, daß er als solches höchst unvollkommen und sogar unmöglich ist«. Eben das soll der Begriff leisten: die übertierische Struktur des menschlichen Leibes erscheint schon in enger biologischer Fassung im Vergleich zum Tier als paradox und hebt sich dadurch ab. Selbstverständlich ist der Mensch mit dieser Bezeichnung nicht ausdefiniert, aber die Sonderstellung bereits in enger, morphologischer Hinsicht ist markiert.“88 84 85 86
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88
GA 3.1, S. 9. Ebd., S. 16. Es ist ein heute noch anzutreffendes Missverständnis, den Begriff des Mängelwesens substanziell zu verstehen. Vgl. dazu Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 45f.; KarlSiegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 765. Funktionsbegriffe, so lässt sich knapp zusammenfassen, unterscheiden sich von substanziellen Aussagen über die Wirklichkeit darin, dass sich diese auf das Verhältnis zwischen wahrnehmendem Bewusstsein und Gegenstand beziehen und damit – im transzendentalphilosophischen Sinne – keine Aussagen über das Sein der Dinge an sich treffen. Die in einer Theorie verwendeten Begriffe und Arbeitshypothesen beziehen sich so verstanden nicht auf substanzielles Sein, sondern auf bestimmte, in unserer Wahrnehmung nachweisbare Phänomene. Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, a.a.O., S. 122: „Die Theorie mag freilich, um eine bestimmte Erscheinungsgruppe vollständig darzustellen, gewisse hypothetische Momente annehmen und verwenden; aber auch für diesen Fall gilt, daß jeder Bestandteil, der auf diese Weise eingeführt wird, sich zum mindesten in einer möglichen Wahrnehmung beglaubigen und rechtfertigen lassen muss.“ Der Begriff des Mängelwesens wäre also eine solche Arbeitshypothese, durch die sich bestimmte Phänomene für uns nachvollziehen lassen, ohne dass hiermit eine substanzielle Bestimmung des Menschen als eines mangelhaften Lebewesens getroffen wäre. GA 3.1, S. 16f.
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Indem der Mensch mit dieser vergleichsweise mangelhaften biologischen Konstitution nicht aus der Welt des Lebendigen herausfällt, muss daher von einer näher zu bestimmenden, naturbedingten „»Sonderstellung« des Menschen“89 ausgegangen werden, die darin besteht, dass die Natur mit seiner Konstitution als das nicht festgestellte, handelnde Wesen „ein neues Organisationsprinzip zu erschaffen beliebt“90 hat. Auch hier argumentiert Gehlen also naturteleologisch, indem alles im und am Menschen in seiner Sonderstellung als Mängelwesen zweckmäßig darauf ausgerichtet ist, dass er handeln kann und ob seiner nicht festgestellten Situation auch muss.
1.3 Geist in der Handlung Nimmt man ausgehend von dieser zweckmäßigen Einrichtung zum Handeln den Allgemeinheitsanspruch des Handlungsbegriffs so ernst wie Gehlen, dann scheint mit der Bestimmung des Menschen als das in seiner Sonderstellung zum Handeln bestimmte Wesen auch das Leib-Seele-Problem lösbar. Die nach dem Denkmuster des cartesianischen Dualismus auseinanderfallenden Instanzen »Köper und Geist« bzw. »Leib und Seele« müssten sich innerhalb eines einzigen Zusammenhangs als Momente des Handelns rekonstruieren lassen, sodass der Mensch als leibliches Wesen über die ihm eigentümlichen Bewusstseinsfunktionen und seelischen Dispositionen verfügt, um zu handeln. In dieser integrierenden Funktion erweist sich der Handlungsbegriff überdies als adäquater Gesichtspunkt in einer Untersuchung des menschlichen Lebensvollzugs, indem er mehr inhaltliche Auskunft über die spezifisch menschlichen Lebensform zu geben vermag, als es durch die bloße Hypostase des Menschen als einer „Leib-Seele-Geist-Einheit“91 geleistet werden kann: 89
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Ebd., S. 6. Gehlen stellt die These von der Sonderstellung des Menschen später selbst infrage und schreibt 1973 an Konrad Lorenz: „Unser altes Problem von der »Sonderstellung des Menschen« ist nun wohl obsolet geworden, denn eine analoge Sonderstellung hatten auch Archäopteryx und die ersten Lungenfische usw. eben Fulguration. In »Der Mensch« sind inzwischen viele Einzelaussagen falsch geworden oder überholt, aber ich kann mich zu einer Neubearbeitung nicht entschließen“ (GA 3.2, S. 871). Da sich dieser Begriff allerdings daran aufhält, dass der Mensch das handelnde Wesen ist, ändert diese späte Einsicht nichts an der Gesamtkonzeption der Theorie: Der Mensch bleibt ja auch dann einzigartig, wenn er nicht das einzige besondere Naturwesen ist. Vielmehr lässt sich an diesem Vergleich mit anderen Lebewesen, bei denen neuartige Organisationsformen vorliegen, die Stoßrichtung dieses Begriffs umso deutlicher ablesen: Gehlen geht es darum, die menschliche Natur anhand seiner besonderen organischen Anlage zur Handlung zu untersuchen und nicht darum, die Besonderheit eines Wesens herauszustellen, das sich der Vernunft bedienen kann. Vgl. Christian Thies, Arnold Gehlen zur Einführung, Hamburg 2000, S. 46f. GA 3.1, S. 12. Ebd., S. 7.
„Auch die allgemeine Behauptung: der Mensch ist eine Leib-Seele-GeistEinheit muß abstrakt bleiben; sie ist zwar richtig, aber sie ist logisch nur verneinend: die Ablehnung des abstrakten Dualismus ist darin ausgesprochen. Über die positive Seite ist dagegen nichts gesagt. Diese Formel bleibt wie jede Ganzheitsformel abstrakt, sozusagen zu wahr, um richtig zu sein, und kann auf die nächste konkrete Frage von sich aus nichts antworten.“ 92 Eine dergestalt abstrakte These von der Leib-Seele-Geist-Einheit kann nur vermitteln, dass das leibliche Dasein des Menschen ganzheitlich betrachtet werden muss; sie kann als solche allerdings überhaupt nicht angeben, genau wie wir uns diesen Zusammengang vorstellen können, d.h. wo wir für seine Integration anzusetzen haben. Eine Auskunft darüber zu geben ist demgegenüber unter dem leitenden Gesichtspunkt möglich, die Handlung als den besonderen Modus der Lebensführung dieses in seiner unfertigen und nicht festgestellten Verfassung einmaligen Lebewesens zu verstehen; im Handeln vollzieht sich jederzeit der Übergang zwischen Körper und Seele bzw. Leib und Geist – und damit deren Integration zur Ganzheit. Den Menschen als handelndes Wesen zu verstehen hat zudem gegenüber jeder Wesensbestimmung als eines intelligenten, verständigen, vernünftigen Wesens den Vorteil, dass keine besondere Fähigkeit als die eine exklusiv menschliche Eigenschaft betrachtet werden muss, die sich gegen alle anderen auch im Menschen anzutreffenden Eigenschaften abgrenzt. Der Mensch hat vielmehr unterschiedliche körperliche und geistige Fähigkeiten, die ihn in Abstimmung aufeinander in die Lage versetzen zu handeln: „Man kann zeigen, warum diese besondere biologische, ja anatomische Leiblichkeit des Menschen seine Intelligenz notwendig macht, und eine gerade so funktionierende. Man kann zeigen, wie die Sprache ein System tieferliegender Bewegungs- und Empfindungszusammenhänge fortsetzt, wie das Denken, Vorstellen sich aufbauen, wie die unvergleichliche Wahrnehmungswelt des Menschen mit all dem zusammenstimmt.“93 Diese den Menschen als zweckgerichtet zum Handeln betrachtende Untersuchung wehrt sich offenkundig auch dagegen, ein ganz bestimmtes Merkmal des Menschen herauszunehmen und dieses dann als die Kausalursache für seine besondere Stellung in der Welt zu erklären. Es ist nicht das Hirn, der opponierbare Daumen, die menschliche Intelligenz oder das Ohrläppchen, die als conditio sine qua non des Menschseins verstanden werden müssen. Diese und alle anderen Merkmale des Menschen müssen vielmehr final in Bezug auf die Zweckbestimmung zum Handeln als Kreis derjenigen Bedingungen verstanden werden, vermittels derer dieses Wesen sein Leben zu führen vermag: 92 93
Ebd. Ebd., S. 13.
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„Eine äquivalente Behandlung, welche die Fehler solcher »Kausalfragen« vermeidet und von vornherein im Sinne unserer biologischen Fragestellung liegt, ist die folgende: daß man auf den Zusammenhang von Bedingungen abhebt. Man formuliert also: ohne A kein B, ohne B kein C, ohne C kein D usw. Läuft diese Reihe in sich zurück – ohne N kein A –, so ist ein totales Verständnis des betrachteten Systems gelungen, ohne daß irgendwo die Metaphysik einer einzelnen Ursache Platz hätte.“94 Indem die Besonderheit menschlicher Existenz also nicht auf eine bestimmte Eigenschaft reduziert werden kann, da jede einzelne davon auf das Grundproblem des Menschen als handelnden Wesens zurückführbar ist, grenzt Gehlen sich auch gegen all jene Auffassungen ab, die von einem Stufenschema unterschiedlicher, auch bei Tieren anzutreffenden Seelenvermögen ausgehen, die sich dann schrittweise bis hin zum menschlichen Geist anreicherten. „Es gibt kein Tier in uns“95! Die aristotelische Auffassung also, nach der der Mensch unterhalb seines Intellekts noch die instinkthaften Eigenschaften des Tieres in sich vereine, erscheint für Gehlen unzutreffend. Dessen und andere Ansätzen, die von dem mehr oder minder immer gleichen „Stufenschema“96 ausgehen, „dessen Abschnitte Instinkt, Gewohnheit, praktische Intelligenz und menschliche Intelligenz heißen“97, können den Menschen gerade nicht in der ihm angemessenen Weise vom Tier unterscheiden. Vielmehr können sie im Menschen entweder nur eine „Anreicherung oder Verfeinerung, Komplizierung tierischer »Eigenschaften«“98 erkennen und verlieren damit das spezifisch Menschliche aus den Augen oder sie schreiben die in besonderer Weise menschliche Eigenschaft allein seinen Intelligenzleistungen zu, suchen diese mithin „in irgendeiner besonderen Qualität »Geist«“.99 Gehlen bestreitet damit natürlich nicht, dass der Mensch das verständige, vernunftbegabte Wesen ist; wir haben uns diese Vermögen allerdings als spezifische Formen des Geistes vorzustellen, die inmitten eines Zusammenhangs des Handelns stehen, das als solches noch von anderen Formen von Geist bzw. Bewusstsein vermittelt wird. Der Verstand ist, mit Nietzsche gesprochen, ein Element der „große[n] Vernunft des Leibes“100, in die noch andere 94 95 96 97 98 99 100
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Ebd., S. 14. Heike Delitz, a.a.O., S. 49. GA 3.1, S. 19. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 417, vgl. Friedrich Nietzsche, Von den Verächtern des Leibes, in: Also sprach Zarathustra I-IV, KSA 4, S. 39: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem [sic] Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die Du Geist nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.“
Formen von Bewusstsein eingehen. In diesem Sinne sprich Gehlen in einem späteren Aufsatz als Explikation des Theorems vom Mängelwesen mit Nietzsche davon, dass das rationale Denken in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Daseins „hineinkomponiert“101 ist: „Man sieht nämlich, daß in diesem Schema die menschliche »Intelligenz«, die »Vernunft«, Denkkraft usw. durchaus berücksichtigt ist, aber sie erscheint hier sozusagen als hineinkomponiert in die biologischen Lebensbedingungen. Unsere Theorie enthält gar keine Ansätze zu einem »Dualismus«, sondern entgeht ihm (in einer erweiterten Formel Nietzsches) in dem Rückschluß vom Bewußtsein auf den, der es nötig hat.“102 Analog zu dem uns schon bekannten Schluss vom Begriff auf die Irrationalität des Seins bedeutet dieser Rückschluss auch, dass »Geist« im Sinne von Verstand bzw. Vernunft als „Werkzeug des Leibes“103 eine Form der bewussten Bezugnahme auf die Welt auf der Grundlage von anderen, substanziell davon unterschiedenen und nicht rational zu nennenden Formen des leiblich vermittelten Bewusstseins vorzustellen ist, die in das Handeln involviert sind. 1.3.1 Handlung als Bewegung und Vollzug Angesichts dieses Rückschlusses wird zunächst die Bandbreite der unterschiedlichen Leistungen deutlich, die Gehlens Handlungsbegriff als Strukturgesetz menschlichen Lebensvollzugs abdecken muss – Handlungen einzig als Folge bewusster, rationaler Entscheidungen zu verstehen, kann hiermit nicht gemeint sein. Gehlen operiert vielmehr mit einem völlig entgrenzten Handlungsbegriff, indem auch die nicht schon durch das rational zweckgerichtete Kalkül des bewussten Nachdenkens geprägten Vollzüge menschlichen Daseins als Handlungen zu verstehen sind.104 Dasjenige also, was die kritisier101 102
103 104
GA 4, S. 56. Ebd., S. 55f. Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 370, in: KSA 3, S. 621: „und mein Blick schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter, vom Ideal auf den, der es nöthig hat, von jeder Denk- und Werthungsweise auf das dahinter kommandierende Bedürfnis.“ Friedrich Nietzsche, Von den Verächtern des Leibes, in: KSA 4, S. 39. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 39: „Das Handeln ist als Bestimmung des Menschen nicht Produkt seines willkürlichen Zwecksetzens. Vielmehr liegt es aller subjektiven Zwecksetzung voraus.“ Dieser entgrenzte Handlungsbegriff findet in Theodor Litt einen frühen Kritiker, der – in dem Zusammenhang seiner auf die Selbstreflexivität menschlichen Seins abzielenden Kritik mit gutem Recht – darauf verweist, dass Handlungen immer nur als Folge bewusster Zwecksetzungen zu verstehen sind. Der Begriff der Handelns „entspringt einzig aus der Selbstbesinnung des zu seiner Höhe emporgestiegenen Geistes“ (Theodor Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München 1948, S. 298).
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ten Stufenlehren als die unterhalb des Verstandes liegenden auch im Tierreich wiederzufindenden Anlagen im Menschen verstehen, muss in einen einzigen, spezifisch menschlichen Zusammenhang des Handelns mit den höheren geistigen Funktionen gestellt werden. Die grundlegende Bestimmung des von Gehlen vorgestellten Handlungsbegriffs besteht hiernach darin, Handlungen als die spezifische Form der den Menschen vom Tier unterscheidenden Bewegungen in der Welt vorzustellen: „Man kann dann den Unterschied keineswegs allein mehr in den »Geist« setzen, sondern er wäre genau so schon in physischen Bewegungsformen aufweisbar.“105 Die hier als »Geist« apostrophierten verständigen Funktionen sind demnach nur dann angemessen verstehbar, wenn man sie ins Verhältnis zu denjenigen Handlungsvollzügen setzt, die in dem Sinne als niedere Stufen zu verstehen sind, dass sie als Formen geistig vermittelter Bewegungen in den Aufbau der spezifisch menschlichen Leistungen eingehen: „ein physisch so verfaßtes Wesen ist nur als handelndes lebensfähig; und damit ist das Aufbaugesetz aller menschlichen Vollzüge, von den somatischen bis zu den geistigen, gegeben.“ 106 Will man bei dieser Herleitung nicht unter der Hand erneut in eine Bestimmung des Menschen als mit Verstand ausgestattetes Wesen bzw. als Vernunftwesen verfallen, ist es unabdingbar, die Bedingtheit höherer Funktionen aufgrund der physiologischen Sonderstellung des Menschen aufzuweisen, ohne zu behaupten, dass alle körperlichen Funktionen zielgerichtet auf diese hin angelegt sind. Es gilt also zu zeigen, dass der Mensch über Verstandesleistungen verfügt, weil er diesen so und nicht anders beschaffenen Leib hat, und zwar ohne damit zu sagen, dass dessen Funktionen bloße Vorstufen auf dem Weg zum verständigen Weltumgang sind, und noch weniger, dass er diesen Körper besitzt, damit sich in ihm Vernunft realisierte. Die zweckmäßige Einrichtung des menschlichen Leibes erfüllt sich demnach in seinem Handeln, verstanden als unterschiedliche Formen seiner geistig vermittelten Bewegungen und nicht in der verständigen bzw. vernünftigen Selbstbestimmung. Um dieser in allen Bewegungen vorauszusetzenden Einheit von Handlung und Geist in seinen Feststellungen über den Menschen Rechnung zu tragen, sucht Gehlen diese in der Nachfolge Max Schelers im Rückgriff auf »psychophysisch neutrale« Begriffe zu beschreiben. So spricht Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos davon, dass ein bestimmtes Verhalten immer sowohl physiologisch als auch psychologisch beschrieben werden kann, wobei der damit beschriebene wirkliche Handlungsvollzug als die im Verhalten vorliegende Einheit aus Bewusstsein und körperlicher Bewegung jenseits dieser Beschreibungen gedacht werden muss:
105 106
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GA 3.1, S. 20. Ebd.
„Es ist ein Irrtum der »Behaviouristen«, wenn sie in den Begriff des Verhaltens bereits den physiologischen Hergang seines Zustandekommens aufnehmen. Wertvoll an dem Begriff ist gerade dies, daß es ein psychophysisch indifferenter Begriff ist. D.h. jedes Verhalten ist immer auch Ausdruck von Innenzuständen; denn es gibt kein Innerseelisches, das sich nicht im Verhalten unmittelbar oder mittelbar »ausdrückt«. Es kann und muß daher immer doppelt erklärt werden, psychologisch und physiologisch zugleich; es ist gleich falsch, die psychologische Erklärung der physiologischen wie die letztere der ersteren vorzuziehen. Das »Verhalten« ist das des deskriptiv »mittlere« Beobachtungsfeld, von dem wir auszugehen haben.“107 Im Anschluss daran ist bei Gehlen mit der Berufung auf die psychophysische Neutralität der von ihm verwendeten Begriffe die Absicht gekennzeichnet, den menschlichen Bewegungsvollzug als das Dritte zwischen den psychologischen Bezugnahmen und physiologischen Bedingungen desselben zu verstehen: Die Handlung ist eine jenseits der begrifflichen Bezugnahme zu verortende Aktion, die sich vermittels physischer und geistiger Momente vollzieht.108 Psychophysisch neutrale Begriffe sollen darauf hinweisen, dass diese Aktion als die noch vor jeder bewussten Bezugnahme auf dieselbe liegende Leib-Seele-Geist-Einheit im tätigen Vollzug des Menschen zu verstehen ist: „Wenn daher die von uns verwendeten Kategorien, wie Entlastung, Kommunikation, Retardation (Verjugendlichung) usw. »psychophysisch neutral« sind, wie Scheler das nannte, indem jeder Bewußtseinsaspekt hier sein Antriebskorrelat und seine morphologische Entsprechung hat, so ist dies der positive, in den Phänomenen selbst liegende Grund, der uns hindert, das Leib-Seele-Problem anzutreffen, solange wir an den Phänomenen selbst bleiben.“109 Auf ein konkretes Phänomen, etwa eine Armbewegung, bezogen bedeutet psychophysische Neutralität, den Handlungsvollzug nicht in den Termini »ich bewege meinen Arm« zu verstehen und damit schon einen Unterschied zwischen Selbst und Körper mitzudenken. Psychophysisch neutral und ohne jeglichen Aspekt des Bewusstseins beschrieben haben wir es mit einem Bewegungsvollzug zu tun, in dem sich ein bestimmter Antrieb, d.h. eine geistig vermittelte Willensleistung im Körper vollzieht. Eben diese Einheit versteht Gehlen als den wirklichen Zusammenhang der tatsächlichen Bewegung, auf die sich das erkennende Bewusstsein von außen mit den ihm eigenen, psychophysisch determinierten begrifflichen Unterscheidungen bezieht und sagt: 107 108 109
Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: ders. Gesammelte Werke, hg. von Manfred S. Frings, Bern 1976, Bd. 9, S. 17f. Vgl. Peter Jansen, a.a.O., S. 40. GA 3.1, S. 139.
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»Ich bewege meinen Arm«. Gehlens Auflösung des Leib-Seele-Dualismus stützt sich hiernach darauf, dass die in der Reflexion unterscheidbaren Instanzen tatsächlich nur unterschiedliche Momente des wirklichen Bewegungsvollzugs des Menschen sind.110 Er versteht die in Der Mensch vorgelegte Untersuchung des handelnden menschlichen Individuums und anschließend die in Urmensch und Spätkultur ausgearbeitete Theorie des kulturell vermittelten Verhaltens demnach immer im Sinne einer Untersuchung psychophysisch neutraler Vollzüge.111 1.3.2 Aktion und Reflexion Trotz dieser vielversprechenden Konzeption des in unterschiedlichen Formen des Handelns eingebundenen Geistes erhebt sich schon bei den einleitenden Ausführungen in Gehlens Hauptwerk der leise Verdacht, dass hiermit keine wirkliche Überwindung des cartesianischen Dualismus geleistet werden kann. Ein Verdacht freilich, der sich nicht auf Grund dessen erhebt, dass hier überhaupt der Begriff der Handlung in einem sehr weiten Sinne ins Zentrum der Betrachtung gestellt wird und schon gar nicht deswegen, weil der Mensch in einer Sonderstellung als Mängelwesen begriffen werden soll. Einerseits ist nachvollziehbar, dass Gehlen hiermit ein vielversprechendes heuristisches Prinzip und keinen Substanzbegriff vom Menschen einführt, und andererseits lässt sich an diesem Punkt seiner Ausführungen schwerlich dafür argumentieren, dass er einen jenseits der Handlungsvollzüge des Menschen zu verortenden Geist präferiert. Gehlen hat also eigentlich alle Karten in der Hand – womit es seltsam genug erscheint, dass sich der Verdacht gerade auf die Konsistenz seiner Herangehensweise an den Menschen als Leib-Seele-GeistEinheit richtet, genauer: darauf, wie das Verhältnis von Handlungsvollzug und erkennendem Bewusstsein zu denken ist. Der auf diese Weise zu formulierende Verdacht, dass das Verhältnis von Bewusstsein und Bewegung selbst wieder auf einen Dualismus hinausläuft, kündigt sich schon in dem programmatischen, mit allen Dualismen aufräumenden Kapitel seines Hauptwerks an. Gehlen hebt dort auf einen Gegensatz zwischen dem Zusammenhang des Leib-Seelischen im Handlungsvollzug und dem in seinen Analysen von außen auf diesen Zusammenhang blickenden Erkennen ab: „Dieser Zusammenhang selbst ist unserer Erkenntnis transzendent. Von ihm gilt, was Heisenberg (Die Einheit des naturw. Weltbildes, 1942, p. 32) sagt: daß »die Wirklichkeit für unser Denken zunächst in getrennten Schichten zerfällt, die sozusagen erst in einem abstrakten Raum hinter den Phänomenen zusammenhängen«, so daß »alle Erkenntnis gewissermaßen 110 111
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Ebd., S. 216f. Vgl. US, S. 102.
über einer grundlosen Tiefe hängen muß«. Andererseits wird dieser Zusammenhang selbstverständlich in jeder gewollten Armbewegung fortdauernd vollzogen, ist also eine Tatsache und Erfahrung. Die Analyse der Handlungsvollzüge des Menschen lässt also erhoffen, diesen »dunkelsten aller Räume« wenigstens approximativ und von den Rändern her zu beleuchten.“112 Hiermit steht allerdings zu befürchten, dass der weitreichende Begriff der Handlung selbst auf einer dualistischen Konzeption beruht: Dem tätigen, die seelischen und physischen Momente in sich aufnehmenden Vollzug einerseits und der erkennenden Bezugnahme auf denselben andererseits, das sich von außen und hiervon unterschieden auf die zu untersuchenden Handlungen des Menschen bezieht. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, dann haben wir es in der Anlage dieser Theorie keineswegs mit einem anticartesianischen Ansatz zu tun, sondern ganz im Gegenteil mit dessen Bestätigung in einer anderen Form. Dabei hätten wir es mit einem ausgesprochen schwer zu lösenden Fall zu tun, da sich diese Trennung mitten durch den menschlichen Geist zöge: Sofern diese Handlungsvollzüge immer auch geistig sind, liefe der Gegensatz von Erkennen und Handeln auf einen Dualismus innerhalb dessen hinaus, was Gehlen unter Geist versteht. Es entstünde dann ein näher zu beschreibender Riss zwischen einem ins Handeln eingebundenen, tätigen und einem in der Reflexion hierauf untätigen Geist. Dass Gehlens Ansatz tatsächlich mit dem Problem eines solchen Dualismus behaftet ist, lässt sich besonders deutlich anhand seiner Bezugnahme auf Arthur Schopenhauer in dem Aufsatz Die Resultate Schopenhauers113 nachweisen. Gehlen entnimmt diesem in Der Mensch nicht nur eine ganze Passage, sondern bezieht sich auch an mehreren anderen Stellen in seinem Hauptwerk affirmativ auf diese anthropologische Frühschrift.114 Dort stellt er die
112
113 114
GA 3.1, S. 15. Mit Gehlens Konzeption der Fremdheit des Seins gegenüber dem Begriff korrespondiert, dass er an dieser Stelle eine Dramatisierung in der Wiedergabe Heisenbergs vornimmt und uns vor die Abgründe eines uns substanziell fremden Seins stellt, wo dieser uns über die Unerkennbarkeit des Seienden »hinwegschweben« lässt. Vgl. Werner Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichern Weltbildes, Leipzig 1942, S. 31f.: „Wir erwarten nicht, daß etwa ein direkter Weg des Verständnisses von den Bewegungen der Körper in Raum und Zeit zu seelischen Vorgängen führen könnte, da wir auch in der Naturwissenschaft gelernt haben, daß die Wirklichkeit für unser Denken zunächst in getrennte Schichten zerfällt, die sozusagen in einen abstrakten Raum hinter den Phänomenen zusammenhängen. Wir sind uns mehr als die früheren Naturwissenschaften bewußt, daß es keinen sicheren Ausgangspunkt gibt, von dem aus Wege in alle Gebiete des Erfahrbaren führen, sondern daß alle Erkenntnis gewissermaßen über einer grundlosen Tiefe schweben muß.“ Arnold Gehlen, Die Resultate Schopenhauers (1938), in GA 4, S. 25-49. Zu der übernommenen Passage, vgl. Tiere und Umwelt. Herder als Vorgänger, in: GA 3.1, S. 79. Überhaupt beruft sich Gehlen in seiner Bestimmung der Funktion des menschlichen
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ihm wichtig erscheinenden vier Resultate der Philosophie Schopenhauers wie folgt vor: Das erste Resultat Schopenhauers besteht darin, den subjektiven Willen in der Bewegung des Leibes in den Vordergrund gestellt und sich im Anschluss daran mit der „Entdeckung der realen Handlung als Ausgangsfrage der Philosophie“115 erfolgreich gegen die Bewusstseinsphilosophie Descartes, Kants und Fichtes gestellt zu haben. Das Bewusstsein, mithin die menschliche Vernunft bzw. seinen Verstand, haben wir uns mit Schopenhauer nicht als eine für sich selbst stehende Größe, sondern als in den Handlungsvollzug eingebunden vorzustellen: „Kein Denker vor ihm hat das Vollzugsbewußtsein der Handlung an den Anfang der Philosophie gestellt, und darin liegt sein erstes Resultat, wenn er es auch sofort nach den Interessen seiner Metaphysik ausdeutet: kommt er doch von hier aus zu der These, daß der ganze Leib ebenfalls Objektivation des Willens, und daher, nach Analogieschluss, alle Organismen und endlich auch die anorganische Natur eben Objektivationen des Willens sind.“116 Darauf aufbauend besteht das zweite Resultat in der Einsicht in „die vollkommene Harmonie des Willens, des Charakters – also des Trieb- und Instinktsystems – einer jeden Tierart, seiner organischen Spezialisierung und seiner Lebensumstände.“117 Dieses zweite Resultat wird uns nicht nur hinsichtlich einer vermeintlichen Disharmonie118 des menschlichen Daseins noch interessieren; es nimmt, so Gehlen, überdies auch den von Jacob von Uexküll vorgestellten Begriff der Einpassung des Tieres in sein Milieu119 schon vorweg, den wir im nächsten Abschnitt erörtern werden. An dieser Stelle soll uns das Problem des hier vorgestellten Handlungsbegriffs zunächst ausgehend von Schopenhauers dritten wichtigen Einsicht interessieren. Sie besteht darin, die „»Oberflächlichkeit« des Intellekts“120 erkannt zu haben, indem die intellektuellen Kapazitäten sowohl des animalischen als auch des menschlichen Bewusstseins als „Medium der Motive“121 auf die tatsächliche, nicht im Geiste vollzogene leibliche Aktion bezogen sind. Gehlen meint damit, dass das menschliche Bewusstsein in Analogie zu den instinktiv festgelegten „Trieb-
115 116 117 118 119 120 121
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Bewusstseins auf diese Untersuchungen zu Schopenhauer (vgl. GA 3.1, S. 76). Vgl. zu Gehlens anthropologischen Frühschriften Lothar Samson, a.a.O., S. 13f. GA 4, S. 32; vgl. Joachim Fischer, a.a.O., S. 160. GA 4, S. 31. Ebd., S. 33. Vgl. Abschnitt 1.4.2 Vgl. GA 4, S. 33; GA 3.1, S. 34. GA 4, S. 34f. Ebd., S. 35; vgl. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Frankfurt am Main 1986, S. 371.
ziele[n]“122 beim Tier von den einfachen Bewegungen bis hinein in das begriffliche Denken in dem oben bereits anklingenden Sinne als Diener des Willens wesentlich zur Steuerung der hiervon zu unterscheidenden körperlich vollzogenen Bewegungen, also seiner Handlungen dienlich ist: „Die Erkenntnis schon im tierischen Bereich [...] ist Steuerung und Orientierung der Triebe nach den Inhalten der gegenwärtigen Umgebung. Da nun Begriffe nur »Vorstellungen von Vorstellungen« sind, Vernunft als Vermögen der Begriffe nur eine sekundäre Erkenntnis ist, so bleiben auch die Begriffe des Menschen wesentlich Motive, sie sind ebenfalls nur Auslösungen, Orientierungen von Handlungen.“123 Im Anschluss an diese Erkenntnis ist es schließlich als das wichtigste, jede Anthropologie revolutionierende vierte Resultat der Philosophie Schopenhauers zu verstehen, hiermit das Problem des Leib-Seele-Dualismus überwunden zu haben: „Unmittelbar aus diesem Komplex folgt ein viertes Resultat, und ein höchst überraschendes, das die größte Revolution der Anthropologie seit den Griechen einleitet: es fällt nämlich die Unterscheidung von Leib und Seele in jedem bisherigen Sinne.“ 124 Diese Revolution besteht darin, den Geist in seiner Funktion als in das Handeln involviert zu begreifen, indem das reflektierende Erkennen als dem wirklichen Vollzug in der leiblichen Tätigkeit nachgelagert zu verstehen ist. Die uns bereits bekannte Annahme, dass der Handlungsvollzug als dem Erkennen transzendent vorgestellt werden muss, verdichtet sich hiermit zu der Feststellung, dass sich Handlung und Reflexion gegenseitig ausschließen: „In der Handlung dagegen ist die Reflexion unvollziehbar und ausgehängt, und weder im aufmerksamen Hinsehen nach einem interessierenden Gegenstand, noch im Zugreifen, noch auch in der Gesamtbewegung nach etwas hin ist es möglich, eine »bewußte« von einer »materiellen« Seite zu trennen."125 In eben dieser Unterscheidung zwischen Handlung und Reflexion bestätigt sich der oben erhobene Verdacht und offenbart ein Schlüsselproblem dieser Theorie vom Menschen. Gehlen läuft hiermit in eine Aporie, die im Gegensatz zu der Vorstellung steht, dass die Vernunft in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Handelns »hineinkomponiert« ist. Indem Gehlen sie als einen Zustand außerhalb des Handelns beschreibt, fällt die Reflexion gewissermaßen aus der Gesamtkomposition menschlichen Daseins als das handelnde 122 123 124 125
GA 4, S. 35. Ebd. Vgl. ebd., S. 36. Ebd., S. 37.
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Wesen heraus, sodass er tatsächlich selbst einen Dualismus zwischen res cogitans und einer res extensa im Gewand einer res activa beibehält.126 Näher betrachtet operiert Gehlen auf diese Weise mit einer in doppelter Hinsicht in sich widersprüchlichen, aktivischen Auflösung des Leib-SeeleDualismus: Der erste Widerspruch besteht eben darin, dass Gehlen selbst einen Dualismus von Handlung und reflexiv geistigen Vollzügen in Stellung bringt, um den Dualismus zwischen Geist und Körper in einem ubiquitären Begriff der Handlung aufzulösen. So lässt sich der Dualismus nur durch die Erkenntnis auflösen, dass der Geist in die Handlung involviert ist; dieser Fall liegt aber nur dann vor, wenn der Mensch nicht handlungslos reflektiert. Das damit einhergehende zweite widersprüchlich Moment dieser Auflösung zeigt sich in der Annahme, dass dualistische Konzeptionen als solche weniger auf einen Fehlschluss denn auf ein Fehlverhalten zurückzuführen sind. Die problematische Unterscheidung zwischen Leib und Seele wird demnach deshalb für den Denkenden plausibel, weil er sich in einem nicht in den konkreten Handlungsvollzug involvierten Zustand befindet. Konsequenterweise beschreibt Gehlen dann auch alle dualistisch argumentierenden Ansätze als „Philosophie aus der stillen Reflexion“127 , die sich der eigenen Situation reflektierender Handlungslosigkeit nicht bewusst ist und deshalb zu dem falschen Ergebnis einer nicht auflösbaren Differenz von Köper und Geist bzw. Leib und Seele kommt: „Das alles liegt in der Situation der Reflexion schon darin, indem eben das Innere vom reflektierenden Ich her angegangen wird und damit in jeder weiteren Bestimmung, die man der Seele geben möge, die Bewußtheit und das Sichselbstdenken miterscheinen muß. Das ist, von Descartes zuerst ausgesagt, für jede Philosophie aus der stillen Reflexion unvermeidlich.“128 In sich widersprüchlich ist dieses zweite aktivische Moment der Auflösung offensichtlich deshalb, weil es selbst aus der Perspektive der Reflexion darauf verweist, dass ein Reflexionsproblem kein wirkliches Problem darstellt, da es in der Handlung nicht zutage tritt. Wenn hierin wohl kein logischer Widerspruch vorliegt, so doch die Weigerung, die Probleme des Denkens an ihrem Ort zu behandeln. Indem Gehlen auf diese Weise den Leib-Seele-Dualismus nicht in der Reflexion, sondern umgekehrt die Reflexion über dieses Problem durch das 126
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128
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Zu diesem Dualismus in der anthropologischen Theorie Gehlens vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Existenzielle Motive (...), a.a.O., S. 507f.; Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 776; Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 159ff.; Peter Vogt, Pragmatismus und Faschismus, Weilerswist 2002, S. 200. GA 4, S. 37. Inwiefern es für Gehlens Ansatz entscheidend ist, dass die nachdenkende Reflexion »still« ist, werden wir an anderer Stelle im Übergang von der Bewegung im Sprechen zum reflektierenden Erkennen sehen (vgl. Abschnitt 2.4). GA 4, S. 37.
Handeln aufzulösen sucht129 , geht sein Handlungsbegriff schließlich mit einer aus der Natur des Menschen abgeleiteten normativen Forderung einher: Der Mensch entspricht der in seiner Natur angelegten Zweckmäßigkeit, wenn er wirkliche Handlungen vollzieht, und soll sich demgemäß nicht in der kontemplativen Reflexion ergehen.130 Er ist also nicht nur nicht vom Geiste her zu verstehen und damit als Vernunftwesen zu beschreiben; er wird der ihm wesentlichen Bestimmung zu handeln überdies faktisch nicht gerecht, wenn er den handlungslosen Zustand vernünftiger Selbstreflexion einnimmt und diesen dann als den letzten Zweck seines Daseins versteht.
1.4 Weltoffenheit in Kultur Die eben erwähnte aktivische Auflösung des Leib-Seele-Dualismus macht sich angesichts der den Begriff der Handlung flankierenden Bestimmung der »Weltoffenheit« des Menschen zunächst nicht bemerkbar. Dieser von Max Scheler übernommene Begriff ist dem Handlungsbegriff in seiner beschriebenen Tragweite in dem Sinne als Strukturbegriff zur Seite gestellt, als damit die neben der besonderen Form des Bewegens in Handlungen genauso durch die morphologische Sonderstellung des Menschen bedingte Beschaffenheit seiner Welt zutage tritt: Indem der Mensch nicht festgestellt ist, ist ihm auch keine genau auf einen ganz bestimmten Bereich zugeschnittene Form der Wahrnehmung eigen. Hiermit geht einher, dass die vom Menschen als bestimmte Dinge wahrgenommenen Weltgehalte erst in der Folge seines tätigen Umgangs mit den auf ihn einströmenden Reizen hervortreten. In diesem Verhältnis von Handlung und Wahrnehmung ist auch die Weltoffenheit des Menschen in der uns schon bekannten Funktionsbeschreibung der aus dem hypothetischen Mangel ableitbaren Leistungen bestimmt: Als Mangel in der Weise, dass das menschliche Individuum nicht schon über einen auf bestimmte Umweltreize eingestellten Wahrnehmungsapparat verfügt und deshalb den auf ihn einströmenden Reizen ausgesetzt ist. Als Leistung der spezifisch menschlichen Form des freien Umgangs mit der Welt ist die Weltoffenheit als das Resultat einer durch Selbsttätigkeit erarbeiteten Befreiung von den äußeren Reizen durch Objektivierungen im Handeln zu verstehen: Der Mensch hat einen offenen Zugriff auf die in der Folge seiner Eigentätig129
130
Vgl. Peter Vogt, a.a.O., S. 213: „Nicht die Auflösung eines Handlungsproblems durch Reflexion, sondern einzig die Aufhebung eines Reflexionsproblems durch Handlung kann ihm [Gehlen, S.W.] künftig als ideale Form menschlicher Aktivität gelten.“ So bemerkt auch Lothar Samson den auf die Naturzweckhaftigkeit zurückführbaren normativen Anspruch dieses Handlungsbegriffs. Vgl. Lothar Samson, a.a.O., S. 40, S. 121ff. Zu diesem Problem der normativen Entgegensetzung von Handlung und Reflexion vgl. Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 166f.
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keit etablierte Welt. Dabei ist Weltoffenheit nicht nur unter Bezugnahme auf den unmittelbaren Umgang mit den noch unbestimmten Reizen dialektisch bestimmt. Mit Blick auf die Kulturwelt steht derselbe Begriff dafür, dass der Mensch nicht wie das Tier eine Umwelt hat, sondern ihm die Kultur als eine durch seine Eigentätigkeit hervorgebrachte „zweite Natur“131 offensteht: „die »unnatürliche« Kultur ist die Auswirkung eines einmaligen, selbst »unnatürlichen«, d. h. im Gegensatz zum Tier konstruierten Wesens in der Welt.“ 132 Mit Blick darauf lässt sich allerdings feststellen, dass Gehlens Vorstellung von Weltoffenheit in der Weise begrenzt ist, dass er das Ideal einer in sich geschlossenen Kulturwelt vertritt. So tritt in Verbindung mit der normativen Bestimmung des Handlungsbegriffs in seiner Rede davon, dass an „genau der Stelle, wo beim Tier die »Umwelt« steht [...] beim Menschen die Kulturwelt“133 steht, das Problem dieser Kulturtheorie hervor: Gehlen beschreibt mit dem Begriff der Kultur in letzter Instanz eine Sphäre, die den Menschen nicht in reflexive Distanz zur Handlung treten lässt, indem sie ein quasi instinktsicheres Verhalten sicherstellt. Betrachten wir den Begriff der »Weltoffenheit« genauer, dann zeigt sich in Gehlens Adaption zunächst die sich von Scheler unterscheidende ablehnende Haltung gegenüber dessen Begriff von »Geist«. Scheler geht in seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos davon aus, dass sich Tiere aufgrund der physiologischen Beschaffenheit ihres Nervensystems, dessen psychologische Seite als Instinkt verstanden werden muss, in einer vollständig determinierten Umweltstruktur befinden. Das Tier lebt innerhalb der „sicheren Zäune und Grenzen seiner Umweltstruktur“134, die sich schon dadurch als unüberwindbar erweisen, dass es für sein Bewusstsein jenseits dessen buchstäblich nichts »gibt«: „Was für die Instinkte und Triebe nicht interessant ist, ist auch nicht gegeben, und was gegeben ist, ist dem Tier gegeben nur als Widerstandszentrum für sein Verlangen und sein Verabscheuen, d.h. für das Tier als biologisches Zentrum.“135 Demgegenüber geht mit einer von Scheler apostrophierten Teilhabe des Menschen am Prinzip »Geist« die Möglichkeit einer „Distanzierung der »Umwelt« zur »Welt«“136 einher, was als Befreiung von der Umweltstruktur verstanden werden kann: „Ein »geistiges« Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern »umweltfrei« und, wie wir es nennen wollen, »weltoffen«: Ein solches Wesen hat »Welt«.“137 Diese Befreiung von einer bestimmten Umwelt bedeutet nach Schelers Dafürhalten eine 131 132 133 134 135 136 137
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GA 3.1, S. 37. Ebd. Ebd. Max Scheler, a.a.O., S. 33. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 32.
Abkoppelung von den Prozessen des Lebens überhaupt. Der Mensch ist nicht nur das allen anderen Lebewesen, sondern zuletzt noch das „sich selber als Lebewesen und der Welt überlegene Wesen.“138 Mit dem so vorgestellten, dem Lebensprozess selbst entwachsenen Menschen begegnet uns nicht weniger als ein zu buchstäblich „kosmischer“ Größe erhobenes Wesen: „Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße »weltoffen« verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.“139 Obwohl Gehlen eben diese Auffassung von Geist als einen problematischen Dualismus ablehnt, kann er den Begriff der Weltoffenheit dennoch für seine Theorie fruchtbar machen. Gehlen versteht sie allerdings keineswegs wie Scheler als Zeichen einer immer schon bestehenden Überlegenheit gegenüber dem Leben in allen möglichen Formen. Vielmehr müssen wir uns die Weltoffenheit in dem uns schon bekannten Sinne ausgehend von der voraussetzungslosen Erfahrung als einen Zustand noch vor jeder benennbaren Verstandeskategorie vorstellen. Weltoffenheit bedeutet damit im Sinne einer „ungemeinen Reiz- oder Eindrucksoffenheit“140, dass eine unbestimmte Offenheit gegenüber jedweden äußeren Eindrücken vorausgesetzt werden muss, die erst durch den tätigen Umgang mit der Welt in eine verfügbare Ordnung gebracht wird. Die erste Bestimmung dieses Verhältnisses lässt sich demnach so formulieren, dass der Mensch sich dadurch in der Welt orientiert, indem er durch den tätigen Umgang mit den Dingen in Distanz zu den auf ihn einströmenden – an sich irrationalen – Reizen zu treten vermag: „Die mit der Reizüberflutung gesetzte Aufgabe der Orientierung wird so gelöst, daß darin der Mensch die Dinge gleichzeitig in die Hand bekommt, aber auch wieder dahinstellt und erledigt, die endlich die irrationale Überraschungsfülle der Eindrücke reduziert ist auf Reihen leicht übersehbarer Zentren (Dinge), deren jedes eine Fülle müheloser Andeutungen von möglichen Umgangserfolgen, entwickelbaren Veränderungen enthält, von dahingestellter Verfügbarkeit.“141 Offenkundig ist diese Theorie damit wie keine andere dazu angetan, das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Bewusstsein in den unterschiedlichen Vollzügen sensibler Bewegungen von ersten Sinneseindrücken bis hinein in das Erkennen als die der Weltoffenheit geschuldete Rückseite menschlichen Handelns zu verstehen. Alle Wahrnehmungsleistungen des Menschen sind aus diesem Verhältnis heraus zu verstehen – wo das Tier eine durch seine Instinkte schon festgelegte Umwelt hat, blickt der Mensch in eine Welt, die in allen wahrnehmbaren Aspekten durch seine Eigentätigkeit hervorgebracht wird: 138 139 140 141
Ebd., S. 38. Ebd., S. 33. GA 3.1, S. 34. Vgl. ebd., S. 40.
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„An erster Stelle ist zu merken: die Wahrnehmungswelt, die wir, die Augen aufschlagend, um uns sehen, ist durch und durch Resultat menschlicher Eigentätigkeit.“142 Im Anschluss daran gelangen wir über der Begriff der Weltoffenheit wiederum an die Schnittstelle zwischen dem vom Kollektivsingular her verstandenen Menschen und der Rede vom Menschen im Sinne des Gattungswesens »Mensch«. So muss korrespondierend mit dem sich infolge seiner Eigentätigkeit strukturierenden Bewusstsein des handelnden Individuums der gesamte Lebensraum des Menschen aus seiner morphologischen Sonderstellung heraus verstanden und damit auf sein Handeln zurückgeführt werden. Der individuellen Existenz jedes menschlichen Individuums vorausliegend hat sich der Mensch immer schon ein seiner besonderen Konstitution angemessenes Umfeld geschaffen, d.h., die ihm fremd gegenüberstehende Natur eigentätig in Kultur verwandelt: „Der Mensch ist, um existenzfähig zu sein, auf Umschaffung und Bewältigung der Natur hin gebaut, und deswegen auch auf die Möglichkeit der Erfahrung der Welt hin: er ist handelndes Wesen, weil er unspezialisiert ist, und also der natürlich angepaßten Umwelt entbehrt. Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur, und die Kulturwelt ist die menschliche Welt.“143 Die hiermit verbundene grundlegende Unterscheidung zwischen der Kulturwelt des Menschen und der Umwelt des Tieres entlehnt Gehlen in wesentlichen Punkten der Umwelttheorie Jacob von Uexkülls. Ausgehend von dessen Konzept der umweltgebundenen Eingepasstheit der Tiere verweist Gehlen bereits in dem Aufsatz Die Resultate Schopenhauers und später dann in Der Mensch auf die konstitutive Umweltentbundenheit des Menschen.144 Jedes Tier, so Uexkülls Annahme, ist in eine für seine Spezies spezifische Umwelt »eingepasst«. Es kann somit von einer Gleichursprünglichkeit der physiologischen Beschaffenheit eines Tieres, seines sogenannten »Bauplans«, und der von ihm vermittelt seiner Sinne wahrnehmbaren Umweltstruktur gesprochen werden. Uexkülls Begriff der Eingepasstheit bezieht sich wesentlich auf die durch die Beschaffenheit der Sinnesorgane bedingte Struktur der jeweiligen Umwelt, weshalb es nicht weniger als eine analytische Wahrheit zu nennen ist, dass das Tier perfekt auf seine spezifische Umwelt abgestimmt ist: „An seine Umwelt ist das einzelne Tier nicht mehr oder weniger eingepaßt, sondern alle Tiere sind in ihre Umwelten gleich vollkommen eingepaßt."145 Uexküll entwickelt hierüber den Begriff der apriorischen Raumpläne von Tie142 143 144 145
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Ebd., S. 39. Ebd., S. 37. Vgl. GA 3.1, S. 79ff; GA 4, S. 33. Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1921, S. 4.
ren, die sich in einen dynamischen Schematismus symbolischer Vermittlung gliedern. Auf der einen Seite stehen so genannte »Wirkzeichen«, die im Tier bestimmte Bewegungsvorgänge auslösen. Daneben steht als »Merkzeichen« dasjenige, was für das Tier überhaupt nur Gegenstand der Beobachtung sein, erlernt und zum Erfahrungsschatz hinzugefügt werden kann. Diese inhaltlich unterschiedlichen Merk-Wirk-Schemata verschiedener Gattungen sind nach Uexküll so determiniert, dass sie „gleich einem feinen Sieb“146 vermittels der „Tätigkeit aller Sinnesorgane“147 nur diejenigen Reize interpretieren, die der jeweilige Bauplan vorsieht: „Die Tätigkeit aller Sinnesorgane besteht nämlich darin, nur ganz bestimmte äußere Reize in Nervenerregung zu verwandeln, die anderen aber abzublenden [...] Nur die uns »adäquaten« Reize werden in Nervenerregung verwandelt und auf isolierten Bahnen unserem Merkorgan zugeleitet, wo sie die Merkzeichen erwecken, die bereits verschiedenen Schematen [sic] eingegliedert sind. Diese werden hinausverlegt und liefern die Merkmale unserer Umwelt.“148 Im Anschluss an diese Überlegungen Uexkülls betont Gehlen, dass sich die weltoffene Konstitution des Menschen grundlegend von der Umweltgebundenheit des Tieres durch den Mangel unterscheidet, an überhaupt keine bestimmten Gegebenheiten eingepasst zu sein. Gleichbedeutend mit der Weltoffenheit gegenüber den äußeren Reizen ist damit das Fehlen eines bestimmten schon festgelegten Lebensraums, den sich der Mensch dann allenorten durch produktives Handeln erarbeiten muss. Ins Positive gewendet bedeutet diese Aussage auch, dass der Mensch seine Kultur an buchstäblich allen möglichen Orten etablieren kann – sofern es die Gegebenheiten eben hergeben: „Er ist dann lebensfähig, wenn er dort Möglichkeiten erzeugen kann, sich eine zweite Natur zurechtzumachen, in der er dann statt in der »Natur« existiert.“149 Das Verhältnis von Mensch und Natur ließe sich in diesem Sinne als bedürftige Unabhängigkeit verstehen, d.h., dass der Mensch sein Leben zwar unabhängig von einem bestimmten Umweltmilieu führt, Kultur als einer zweiten Natur aber auch nicht losgelöst von jedweden Naturbedingungen zu etablieren vermag.150 146 147 148 149 150
Jakob von Uexküll, Die Lebenslehre, Potsdam 1930, S. 145. Ebd. Ebd. GA 3.1, S. 37. Es erscheint durchaus sinnvoll, diese Lesart an Gehlen heranzutragen und nicht darauf zu verweisen, dass die Rede von der zweiten Natur des Menschen die fundamentalen biologischen Bedürfnisse menschlichen Lebens übersähe und damit unterschlage, dass bestimmte Umweltbedingungen unabdinglich sind. Hier wird übersehen, dass sich die vergleichende Hypothese des Mängelwesens und seiner fehlenden Umweltfesselung auf die Eingepasstheit der Tiere bezieht. Die hieran gemessene „sehr beliebigen Konstellationen von Naturumstän-
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Die bis hierhin betrachteten Momente der Weltoffenheit beschreiben allerdings nur die eine Seite der durch das Handeln zu bewältigenden Aufgabe menschlichen Daseins. Genauso muss beim Menschen eine Weltoffenheit in seinem Inneren, nämlich gegenüber seinen nicht auf feste Ziele zugeschnittenen Antriebsenergien angenommen werden, was Gehlen als „Antriebsüberschuß“151 beschreibt. Dieser Hinweis auf den Antriebsüberschuss lässt sich so verstehen, dass dem Menschen, indem er nicht bereits auf eine bestimmte Umwelt eingestellt ist, auch kein auf bestimmte Umfelder eingestelltes Antriebsleben zu eigen ist. Gleichzeitig verfügt er über Antriebsenergien, die es ihm überhaupt erst ermöglichen, mit seiner Weltoffenheit eigentätig umgehen zu können. Neben dem Umstand, dass auf keine bestimmten Bedürfnisse hin festgelegte Antriebsenergien schon per definitionem überschüssig sind, lässt sich Gehlens Spekulation über die gemessen an seiner Gestalt überproportional großen Antriebsenergien des Menschen wiederum übertragend aus dem Begriff des Mängelwesens ableiten – wer seine Welt erst selbst zu erschaffen hat, dem müssen andere Potenziale als jedem schon instinktiv auf eine bestimmte Umwelt eingestellten Tier zur Verfügung stehen.152 In der Weise also, wie dem Menschen die besonderen noch nicht festgestellten Bewegungsmöglichkeiten und seine Weltoffenheit wesenseigen sind, gehört auch dieses prinzipiell überschüssige Antriebsleben zum Kreis der Bedingungen menschlicher Lebensführung. Es bedarf der freien, nicht schon auf bestimmte Interessen oder zeitliche Abläufe ausgerichteten, energetisch überschüssigen und ihrerseits weltoffenen Antriebe, um mit einem genauso noch nicht auf bestimmte Eindrücke festgelegten Wahrnehmungsapparat umzugehen und Welt entstehen zu lassen: „Nur ein Wesen, das dauernd akute Antriebe und also einen über jede augenblickliche Erfüllungssituation hinaustreibenden Antriebsüberschuß hat, kann seine Weltoffenheit damit ins Produktive wenden und auch noch jene überindividuellen Tatsachen als Motive in sein Verhalten einbeziehen, also aus dem generativen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhang noch Aufgaben höherer Art entwickeln, die sich dann objektiv in den verschiedensten Sozialordnungen niederschlagen.“153 So sehr diese überschüssigen Antriebe also der zweckmäßigen Einrichtung des Menschen folgend als notwendige Bedingung dafür zu verstehen sind, das
151 152 153
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den“ (GA 3.1, S. 87), in denen der Mensch leben kann, meint damit keineswegs die Abwesenheit von Naturbedingungen für menschlichen Leben überhaupt, sondern die im MenschTier-Vergleich sinnfällige große Variabilität an natürlichen Gegebenheiten, an denen er zu leben in der Lage ist. GA 3.1, S. 59. Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 61.
eigene Leben eigentätig führen zu können, so ist deren freie Verfügbarkeit und mögliche Ablenkung auf immer neue Ziele nur die eine Seite dieses Zustandes. Gleichzeitig beschreibt der Befund überschüssiger Antriebsenergien wiederum einen Mangel gegenüber des auf eine jeweils bestimmte Umwelt zugeschnittenen Antriebshaushalt eines Tieres. Es ist dem Menschen mit der Orientierung seiner Bewegungen und Wahrnehmungen auch aufgegeben, die zunächst noch ungeordnete Weltoffenheit seines Antriebslebens zu einer handhabbaren inneren Welt werden zu lassen: Korrespondierend mit seiner Ausrichtung in der Welt gehört es damit zur Aufgabe des Menschen, die Gemengelage seines plastischen, d.h. gleichzeitig überschüssigen und richtungslosen Antriebslebens in vorhersehbare, handhabbare Bahnen zu lenken. Er steht unter „Formierungszwang“154, und es ist die Aufgabe der Kultur und ihrer Institutionen, hier Anknüpfungspunkte bereitzustellen. Die seine Mängel kompensierende Kultivierung geht in der Erziehung des Menschen damit einher, seine Antriebe durch die Adaption institutionalisierter Gewohnheiten zu einer zweiten Natur im Inneren zu formieren – „auch hier gibt es keine erste, nur eine zweite Natur.“155 Warum Gehlen trotz der Betonung der sowohl hinsichtlich des Wahrgenommenen als auch der Lebensbedingungen vom Umweltmilieu des Tieres unterscheidenden zweiten Natur eine Engführung von Kultur und Umwelt vornimmt, lässt sich ausgehend von diesem Formierungszwang mit Blick auf seine Kritik an Uexküll nachvollziehen. So stellt Gehlen es als eine fehlgeleitete Entwicklung in dessen Umwelttheorie dar, das Verhältnis von Tier und Umwelt nicht mehr ausgehend von der Aktion, sondern in einem transzendentalphilosophischen Sinne zu interpretieren.156 Diese Entwicklung konterkariert nach Gehlens Einschätzung den geradezu genialen Griff der anfänglichen Konzeption dieser Umwelttheorie, unmittelbar vom Leibe her denkend die „Beziehung von Art und Umwelt, oder besser ein Gefüge von Arten und Umwelten“ 157 erkannt und diese grundlegende, in der differenzierenden Reflexion nicht einholbare Einheit aus instinktiven Bewegungen und Umweltbedingungen als wirkliches „Subjekt des Geschehens“158 beschrieben zu haben. Uexküll ist demnach in seinen frühen Forschungen zutreffenderweise von der 154 155 156
157 158
Ebd., S. 62. Ebd., S. 412. Ebd., S. 85. Diese These mag allerdings angesichts der eigenen Bekundungen Uexkülls bestritten werden, indem dieser schon frühzeitig einen transzendentalphilosophischen Ansatz verfolgt: „Jede Merkwelt ist, um mit KANT zu reden, eine subjektive Erscheinung. Die unerbitterliche Konsequenz dieser Erkenntnis ist, daß es ebenso viele Merkwelten gibt, als lebendige Subjekte vorhanden sind – und daß unsere Merkwelt, weil sie von unserem subjektiven Merken abhängig ist, keineswegs den Anspruch erheben kann, objektiver und realer zu sein, als die Merkwelten der Tiere“ (Jakob von Uexküll, Die Lebenslehre, a.a.O., S. 131). GA 3.1, S. 85. Ebd.
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leiblichen Aktion des Tieres ausgegangen und hat aus dieser Perspektive seine Theorie der auf die jeweilige Umwelt abgestimmten Wahrnehmungsleistungen formuliert. Später erst ist ihm der Blick auf die Aktion des Leibes als Fluchtpunkt der Untersuchungen abhanden gekommen, womit er die Raumpläne fälschlicherweise als gattungsspezifische transzendentale Subjekte interpretiert hat: „So ging die Tendenz immer mehr zur Erforschung der Tiersubjekte, die eigentlich ergiebige Verhaltensforschung trat zurück, der Kantische Unterbau der Theorie setzte sich durch.“159 Übertragen wir diese Kritik auf Gehlens Vorstellung der durch Eigentätigkeit zu etablierenden zweiten Natur, dann wird deutlich, dass es ihm auch hier nicht allein um die in Abhängigkeit zur selbst hervorgebrachten Kulturwelt stehenden Bewusstseinsleistungen des Menschen geht, sondern wesentlich um die selbst hervorgebrachte, festgelegte Abstimmung seines Handelns auf diese zweite Natur.160 Nehmen wir hiervon ausgehend nicht die leiblichen Unterschiede von Mensch und Tier, sondern diesen funktionalen Gehalt von Umwelt und Kulturwelt als genus proximum des Vergleichs, dann leuchtet diese Engführung auf der Folie der normativen Bestimmung des Menschen zum
159 160
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Ebd. In dieser sich gegen die transzendentalphilosophische Interpretation wendenden Bezugnahme auf Uexküll nimmt Gehlen eine Position ein, die für unsere spätere Auseinandersetzung mit Ernst Cassirer aufschlussreich ist. So bezieht sich auch Cassirer auf Uexküll, allerdings in der Weise, dass er aus der Perspektive der Transzendentalphilosophie dessen auf die Bewusstseinsleistungen des Tieres abhebenden Erkenntnisse hervorhebt. So können wir auch die Welt des Menschen als nach den Bedingungen seiner besonderen Organisation geordnet vorstellen, dürfen dabei allerdings nicht die darin liegende Differenz zu den Umwelten der Tiere aus des Augen verlieren, dass das Handeln in der symbolisch geordneten Welt des Menschen immer durch einen „langsamen, komplexen Denkprozeß“ (Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 2007, im Folgenden zitiert als »VdM«, S. 49) verzögert ist. Die immer schon vorhandene, sich in der Kulturentwicklung ausdifferenzierende Distanznahme nicht nur der Natur, sondern auch den eigenen Symbolen gegenüber, versteht Cassirer als die sich vom Tier unterscheidende, spezifisch menschliche Form des Weltverhältnisses. Aus dieser Perspektive können wir uns das Handeln in der Kultur nicht nur in keiner Weise als »instinktanalog« vorstellen; auch wehrt sich Cassirer damit gegen solche Theoretiker – hier: Rousseau –, die in der intellektuellen Distanznahme des Menschen ein Moment der Entfremdung ausmachen (vgl. VdM, S. 49). Dass Gehlen einen ähnlich gelagerten Begriff der Entfremdung vertritt, werden wir an späterer Stelle sehen (vgl. Abschnitt 2.5.2). An dieser Stelle zeichnet sich allerdings schon ab, dass Gehlen das spezifisch menschliche Moment, sich reflexiv zur eigenen Welt zu verhalten, nicht angemessen in den Blick bekommen kann, indem er auf der Basis der normativen Ausrichtung des Handlungsbegriffs zwischen Instinktsicherheit und kulturell vermitteltem Handeln analogisiert. Inwiefern sich diese Kritik mit Cassirer noch an Gehlens substanzieller Bestimmung des Lebens festmachen lässt, werden wir in der Gegenüberstellung zwischen seiner Vorstellung der Entlastung durch den Mythos und Cassirers Begriff des mythischen Denkens sehen (vgl. Abschnitt 3.5.3).
Handeln ein: Kultur ist hiernach der Ort, der dem Menschen eine quasi instinktive Sicherheit im Handeln gewährleisten soll. Wie dieses mit der auch von Gehlen keineswegs bestrittenen, einzig dem Menschen zuzuschreibenden objektivierenden Offenheit gegenüber allen möglichen Weltinhalten zusammengeht, wird in einer Unterscheidung zwischen der subjektiven Aneignung von Weltinhalten und der Adaption der durch die Institutionen einer Kultur vermittelten Verhaltensweisen kenntlich. So ist der Erwerb von Weltgehalten in den grundlegenden menschlichen Bewegungsmöglichkeiten noch indifferent gegenüber bestimmten kulturellen Bedingungen. Die Fähigkeit, sich von der Überflutung durch fremde Reize durch das eigene verobjektivierende Handeln zu befreien, ist eine kulturunabhängige anthropologische Konstante: „Der Mensch, generell, interpretiert in das Wahrgenommene Wahrnehmbares hinein und in das Wahrnehmbare Nichtwahrnehmbares, und vor allem geht sein Verhalten auf alle diese Bereiche. Für das Eichhörnchen existiert die Ameise am gleichen Baume nicht. Für den Menschen existieren nicht nur beide, sondern auch die fernen Berge und die Sterne, die wahrzunehmen biologisch völlig überflüssig ist, und jenseits des Wahrnehmbaren die Götter, mit denen er im Ritus und Kultus verkehrt.“ 161 Bezüglich der durch eine bestimmte Kultur festgelegten Weltgehalte allerdings geht Gehlen nicht in derselben Weise davon aus, dass das Individuum ihnen gegenüber eine objektivierend distanzierte Perspektive einnehmen kann bzw. soll. Einhergehend mit der normativen Bestimmung des Menschen zum Handeln versteht er die Kultur im emphatischen Sinne als eine durch ihre Institutionen das individuelle Antriebsleben formierende Quasi-Umwelt, in der sich der Mensch durch Erziehung instinktähnliche Verhaltensweisen aneignet: „Man kann geradezu sagen, wie die tierischen Gruppen und Symbiosen durch Auslöser und durch Instinktbewegungen zusammengehalten werden, so die menschlichen durch Institutionen und darin erst »sich feststellenden« quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns, die allein als institutionell gefaßte sich vereinseitigen, habitualisieren und damit stabilisieren. [...] Nur innerhalb eines stabil institutionalisierten Kultursystems kann es zu den hochgezüchteten und irreversiblen Attitüden kommen, die v. Uexküll beschrieben hat, wo dann der Begriff der »Umwelt«, völlig unbiologisch, nur etwa dasselbe bedeuten kann, wie hochzivilisiertes Individual-Milieu.“162 Dass er hiermit eine Engführung zwischen der oben als natürlich bezeichneten Umwelt des Tieres und der unnatürlichen Kultur des Menschen vor161 162
GA 3.1, S. 89f. Ebd., S. 86f.
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nimmt, lässt nicht nur die schon an der Entgegensetzung von Handlung und Reflexion auftretende Frage danach umso drängender werden, ob eine solche Bestimmung der Kultur unserem Selbstverständnis als sich im Denken orientierende Wesen163 gerecht werden kann. Ausgehend von der analog zu den Umwelten der Tiere nicht unbeschränkt offenen, sondern im Sinne einer instinktartigen Festlegung der Handlungen geschlossenen Kulturwelt lässt sich überdies noch grundsätzlicher danach fragen, ob Gehlen auch eine substanzielle Vergleichsbeziehung zwischen dem Tier und Mensch auf der Grundlage des in beiden wirkenden Lebensprozesses vorlegt. 1.4.1 Disharmonie und Deutung In dieser sich an den instinktgebundenen Umwelten der Tiere orientierenden Bestimmung der Kultur geraten wir zurück zu Gehlens Metaphysik einer Zweckmäßigkeit des an sich irrationalen Lebens und damit auch an die eingangs gemachte Feststellung, dass der Lebensprozess nicht nur die Probleme aufwirft, die der Mensch zu bewältigen hat. Genauso ist es dieser an sich irrationale Prozess, der im Menschen selbst wirkt und damit mittelbar für die Kompensation seiner nicht festgestellten Situation verantwortlich zeichnet. Um dieses Verhältnis zwischen dem Menschen, dem Lebensprozess und der Wiederherstellung seiner fehlenden Umweltbindung zu beschreiben, bedarf es allerdings einer über den hypothetischen Vergleichsbegriff eines Mängelwesens noch hinausgehenden Bestimmung des menschlichen Daseins: eines Begriffs, der den Menschen in seinem besonderen Verhältnis zum Leben auf der Grundlage der substanziellen Bestimmung lebendiger Prozesse fasst. Tatsächlich gibt es einen solchen Begriff bei Gehlen, den er aus der Entgegensetzung zwischen der harmonischen Eingepasstheit des Tieres in seine Lebensumstände und der demgegenüber gebrochenen Harmonie beim Menschen ableitet. Diese Bestimmung findet sich zunächst im Umfeld des an zweiter Stellte genannten Resultats der Philosophie Schopenhauers164 und dann wieder in den Passagen zur Umweltgebundenheit des Tieres in Der Mensch165 . So übernimmt Gehlen von Schopenhauer die Auffassung, dass sich beim Tier der Charakter, der Körper und die Umwelt bedingt durch und in Einklang mit dem 163
164 165
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Dass dieses offenkundig nicht der Fall sein kann, wurde schon von anderen Autoren bemerkt. So etwa bei Honneth/Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 1980, S. 61: „Dieses InstitutionenIdeal lässt die Möglichkeit einer intersubjektiven Verständigung über die Vernünftigkeit von institutionalisierten Verhaltensnormierungen erst gar nicht mehr zu, weil eine solche reflexive Distanzierung mit dem biologischen Zwang zur Handlung ja in Diskrepanz geraten müsste.“ Vgl. GA 4, S. 34. Vgl. GA 3.1, S. 78.
Willen als in einer „vollkommenen Harmonie“166 aufeinander abgestimmt erweisen. Diese Annahme lässt sich sowohl an der unmittelbaren Aktion des Tieres ablesen, wie dessen Gestalt als Produkt des sich in der Natur durchsetzenden Willens zu verstehen ist: „»Man betrachte die zahllosen Gestalten der Tiere. Wie ist doch jedes durchweg nur das Abbild seines Wollens, der sichtbare Ausdruck der Willensbestrebungen, die seinen Charakter ausmachen. Von dieser Verschiedenheit der Charaktere ist die der Gestalten bloß das Bild«. Und wieder umgekehrt ist der Bau des Tieres der Umwelt völlig angemessen: »Will er (der Wille) als Affe auf den Bäumen umherklettern, so greift er alsbald mit vier Händen nach den Zweigen und streckt dabei ulna und radius unmäßig in die Länge: zugleich verlängert er das os coccygis zu einem ellenlangen Wickelschwanz, um sich damit an die Zeige zu hängen und von einem Ast zum anderen zu schwingen«.“167 Demgegenüber zeichnet sich der Mensch dadurch aus, sich in einem unharmonischen Verhältnis zum Willen zu befinden: „Beim Menschen nämlich ist, was ich hier nur andeuten kann, jenes Harmoniegesetz durchbrochen. Er ist das Instinktlose, das organisch unspezialisierte und das unbeschränkt weltoffene Wesen, also das intelligente und handelnde, das bis in die Struktur seiner Antriebe hinein auf orientierte und tätige Bewältigung der Welt und auf Voraussicht angelegt ist.“168 Dieser Hinweis auf Harmonie und gebrochenem Harmoniegesetz ist keineswegs so zu verstehen, dass sich Gehlen in einem umfassenden Sinne die schopenhauersche Willensmetaphysik169 zu eigen machte. Allerdings wird mit dem Begriff des Willens die Bezugnahme auf einen metaphysischen Begriff des Lebens kenntlich, auf den sich genauso die Konstitution des Tieres wie auch die des Menschen zurückführen ließe. Diesbezüglich greift Gehlen dann in Der Mensch auch nicht auf Schopenhauer zurück, sondern entwickelt die Entgegensetzung von Harmonie und Disharmonie vor dem Hintergrund einer „Tendenz des Lebens zu »mehr Leben«“170, wie wir diese bei Georg Simmel finden: „Leben kann, gleichviel welches sein absolutes Maß ist, nur dadurch existieren, daß es Mehr-Leben ist; solange das Leben überhaupt besteht, erzeugt es Lebendiges, da schon die physiologische Selbsterhaltung fortwäh166 167
168 169 170
GA 4, S. 33. GA 4, S. 34; vgl. GA 3.1, S. 79. Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Band III: Kleinere Schriften, Frankfurt am Main 1986, darin: Über den Willen in der Natur, S. 367, 374f. GA 4, S. 34. Vgl. ebd., S. 40. GA 3.1, S. 380.
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rend Neuerzeugung ist: Das ist nicht eine Funktion, die es neben anderen übt, sondern indem es das tut, ist es eben Leben.“ 171 Diese Tendenz zu mehr Leben muss, so Gehlen, als eine „wie immer bestimmte „Gesetzlichkeit des Lebensprozesses »nach aufwärts«“172 verstanden werden, sich in seinem schöpferischen Wachstum von niederen zu höheren Organismen zu entfalten. Im Bezug auf die Fauna ist diese Sichtweise so zu verstehen, dass das Leben hier immer komplexere Formen jeweils in ihre Umwelt eingepasster Tiere hervorbringt. Die Tendenz des Lebensprozesses, sich zu steigern, drückt sich in der Abgestimmtheit der Leiber und Instinkte der Tiere auf ihre jeweiligen, sich in der Entwicklung tierischen Lebens über den Erdball ausbreitenden Lebensräume aus. Dass sich das Leben beim Menschen auf eine ganz andere Weise bemerkbar macht, verbindet Gehlen mit der These des Anatomen Louis Bolks, dass der Mensch das in seiner Entwicklung verzögerte Wesen ist173 . Er entnimmt den Untersuchungen Bolks, denen er unter Bezugnahme auf verwandte Ansätze in Der Mensch ein ganzes Kapitel widmet174 , damit die Annahme, dass die anatomischen Eigenschaften des Menschen als Organprimitivismen175 verstanden werden müssen. Die mit seiner Sonderstellung einhergehende „Unspezialisiertheit des Menschen“176 lässt sich aus einer „Entwicklungshemmung“177 der Spezies Mensch ableiten, durch die der zweckmäßig auf die Feststellungen der Lebewesen in ihren Umwelten, mithin ihrer Instinktsicherheit zulaufende Lebensprozess beim menschlichen Körper in einem Stadium abbricht, das bei Tieren noch vor der Ausdifferenzierung spezieller Fähigkeiten liegt. In diesem Sinne muss von einer „Verzögerung oder Retardierung der Entwicklung“178 ausgegangen werden, die dafür verantwortlich zeichnet, dass beim Menschen nicht wie beim Tier ausgebildete, spezialisiert auf einen bestimmte Umwelt eingepasste Organe und Instinkte vorliegen. Gehlen spricht hiernach mit Bolk davon, dass „alle spezifischen menschlichen körperlichen Merkmale [...] permanent gewordene fötale Zustände“179 sind. Für unsere Untersuchung ist nun entscheidend, dass Gehlen dieses Abbrechen der Lebenstendenz als Disharmonie mit dem Leben versteht, die sich in 171 172 173 174 175 176 177 178 179
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Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, S.20f. GA 3.1, S. 379. Vgl. ebd., S. 115, S. 378f. Vgl. Louis Bolk, Das Problem der Menschwerdung, Jena 1926, S. 10ff. GA 3.1, S. 113ff. Vgl. ebd., S. 95ff. Ebd., S. 115. Ebd. Ebd. Ebd., S. 120.
der Eingepasstheit der Tiere nicht finden lässt. Wo beim Tier in der Folge der vollendeten Entwicklung von einer harmonischen Bindung an das Leben die Rede sein kann, müsste von einer Disharmonie der menschlichen Existenz die Rede sein: „Auf jeden Fall kommt man von der These Bolks aus zu der Annahme einer sehr tief in der Konstitution des Menschen liegenden »Disharmonie« gegenüber der völligen Ausgeglichenheit des Tieres.“180 Diesbezüglich ist zuvorderst festzuhalten, dass dieser die Harmonie abhebende Mensch-Tier-Vergleich keineswegs die Form der Bestimmung des Menschen als Mängelwesens hat. Der Mensch wird hiermit nicht in einer negativen Vergleichsbestimmung zum Tier mit einem Funktionsbegriff beschrieben, um positiv vorliegende Eigenschaften für eine empirische Theorie verstehbar zu machen. Vielmehr liegt mit diesem Vergleich entgegen der Voraussetzungen seiner empirischen Philosophie eine positiv substanzielle, auf das Leben bezogene Bestimmung dessen vor, dass sich der Mensch im Vergleich zum Tier in einer disharmonischen Situation wiederfindet. Auf der Basis dieses Substanzbegriffs vom Menschen trifft Gehlen dann genauso positiv formulierte metaphysische Aussagen darüber, dass und wie sich der Lebensprozess im Menschen bemerkbar macht. Indem er davon ausgeht, dass das Leben im Leib des Menschen darin gehemmt ist, zu einem zweckmäßigen Ende im Sinne einer Spezialisiertheit seiner Organe zu kommen, nimmt er ine Kraft im Menschen an, diese Entwicklungslücke selbst zu schließen. Es muss als die positive, durch den Lebensprozess selbst bedingte Rückseite der disharmonisch zum Leben stehenden Existenz des Menschen angenommen werden, dass „im letzten Kerne seines vegetativen Wesens ein Unausgegebenes stecken, eine unerschöpfliche Potenz“181 vorliegt, die ihn unter einen „Entwicklungsdruck“182 setzt: „Diese Disharmonie schlösse aber einen positiven Tatbestand ein, nämlich einen »Entwicklungsdruck«. Aber auch wenn man in einer zweiten Überlegung die Theorie Bolks einklammert und in die Vorstellungswelt Darwins denkt, kommt man auf dieselbe Anschauung. Denn wenn eine Entwicklung über Hunderttausende von Jahren hin von niederen zu höheren Formen gegeben ist, und zwar im Sinne eines schöpferischen sich anreichernden Prozesses, so müßte ja diese Tendenz im Menschen als der Endphase der ganzen Reihe auch noch zu erwarten sein.“183 Die Auswirkung dieser Potenz versteht Gehlen mit Nietzsche im Sinne von „Steigerung, Ausbreitung der Macht, als Prozesse von Kraftfeststellungen, als
180 181 182 183
Ebd., S. 379. Ebd., S. 379. Ebd. Ebd.
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Einverleiben, als Schöpferfisches“184 . Ohne dass es dem Individuum bewusst wäre, müsste es einen sich durch den handelnden Selbstvollzug185 des Menschen als Kulturwesen hindurch bemerkbar machenden Drang geben, sich durch sein schöpferisches Vermögen selbst zu steigern. In diesem Umfeld erscheinen Gehlen die von Nietzsche vorgelegten Theoreme des »Willens zur Macht« und des »Übermenschen« allerdings nicht angemessen, da sie „abstrakte Übertreibungen des Darwinismus oder der Schopenhauerschen Metaphysik“186 sind. Die im Menschen vorliegende Tendenz zur Selbsterweiterung muss demgegenüber noch unbestimmter gefasst und als ein Trieb angenommen werden, sich bestimmte Vorstellungen von einer seine schutzlos der Umwelt ausgesetzten Existenz überschreitenden Form des Daseins zu machen. Sie macht sich auch nicht in einem dem einzelnen Individuum zu unterstellenden Machttrieb oder ähnlichen Streben bemerkbar, sondern tritt dadurch indirekt in dessen Bewusstsein, dass er sich in seiner Kultur als ein mächtigeres, stärkeres und bedürfnisloseres Wesen deutet, als er es tatsächlich ist. Mithin verwirklicht sich der in der Entwicklung des Individuums gehemmte Lebensprozess, „beginnt, zu sich selbst in ein Verhältnis zu treten“187 , indem sich der Mensch in seiner Kultur von solchen Bildern her versteht, die ihm ein Mehr an Leben bedeuten: „an seiner Kontaktstelle mit dem Bewusstsein würde uns die Phantasie inadäquate, aber anschauliche, hinreißende Bilder eines »Mehr an Leben« vorzeichnen.“188 Gehlen macht damit den Ursprung sowohl der Kunst als auch eine wesentliche Quelle der Religion189 in einer auf den Entwicklungsdruck zurückführbaren, im Menschen anzunehmenden „Urphantasie“190 aus. In diesem Sinne sind schon die ersten totemistischen Religionen auf die im Menschen wirkende Tendenz der Selbststeigerung des Lebens zurückzuführen, indem sich der Mensch von dem ungleich mächtigeren, weil nicht mit den Problemen seines disharmonischen Verhältnisses zum Leben belasteten Tier her deutet: „Im Tier bewundert der Mensch eine ihm nicht gegebene Weise des ungestörten, unbeeinflußbaren Daseins, also der »Macht« – eine nicht menschliche und von seiner Phantasie als übermenschlich ausgelegte Vollkommenheit. Mit anderen Worten: die Ganze konstitutionelle Disharmonie und Belastung der menschlichen Existenz – der Antriebsüberschuss, den Zwang zur Selbstführung, die Not der Arbeit, die Sorge der Voraussicht und das ewige Sterbensehen – all diese vitalen, riskanten Komplikationen sieht man 184 185 186 187 188 189 190
54
Ebd., S. 382. Vgl. ebd., S. 380. Ebd., S. 383. Ebd., S. 382. Ebd. Vgl. ebd., S. 383ff. Ebd., S. 385.
in der mühelosen, sicheren, stillen Lebendigkeit des Tieres gerade nicht, und darin unterscheidet sich der Mensch selbst vom Tier, das »göttlich« ist im Hinblick auf die gelassene, geheime Mächtigkeit seines Daseins. Hier ist die Religion noch »vegetativ«, eine Aussage des Lebendigen über sich, indem es sich in anderes Lebendiges versetzt.“ 191 Angesichts dieser metaphysischen Spekulation über den Zusammenhangs zwischen den Selbstbildern und der Tendenz des Lebens zu mehr Leben192 können wir uns zunächst klarmachen, warum diese oder jede andere Theorie vom Menschen das ihm eigene Bedürfnis nach Selbstdeutung nicht zu befriedigen vermag. Die Selbstdeutungen entfalten ihre Bedeutung für die Lebensführung des Menschen nicht darin, ihm seine nicht festgestellte, vergleichsweise mangelhafte Konstitution begreiflich zu machen. Ganz im Gegenteil kompensieren sie seine disharmonische Situation dadurch, dass sie ihm eine seine Fremdheit in der Welt überwindende Vorstellung von sich selbst geben. Dieses passiert wie eben beschrieben im Totemismus, indem er sich in das ungleich stärkere, mächtigere und den Gewalten des Lebens gewachsenes Wesen versetzt und aus diesem Selbstverständnis heraus handelt.193 Im reflektierenden Nachdenken, so lässt sich mit Blick auf die Ausgangsbestimmung der anthropologischen Überlegungen Gehlens sagen, können wir wohl das aufgrund der Disharmonie bestehende Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen Seins verspüren; dieses Bedürfnis kann allerdings nur durch das sich einstellendes Gefühl der Harmonie mit dem Leben befriedigt werden. Indem solch ein Gefühl nur durch die der menschlichen Phantasie entsprungenen Bilder evoziert werden kann, wird deutlich, dass der Gegensatz zwischen Leben und Begriff mit einem Dualismus zwischen Phantasie und Verstand einhergeht. Der Mensch ist, so Gehlen „als Phantasiewesen genauso richtig bezeichnet, wie als Vernunftwesen“194, was gerade nicht als eine beide Momente in sich integrierende, sondern diese voneinander abgrenzende Bestimmung zu verstehen ist. Diese Sichtweise bedeutet auch, dass sich das menschliche Individuum von der mit der Fremdheit des irrationalen Lebensprozess einhergehenden „Belastung der menschlichen Existenz“195 nicht in Eigentätigkeit und damit zuletzt durch die zur Steuerung seines Handelns 191 192
193
194 195
Ebd. Dazu, dass Gehlen hiermit auf eine Metaphysik der Lebens zurückgreift vgl. Peter Jansen, a.a.O., S. 120: „Es ist leicht zu sehen, wie in Gehlens Theorie der Urphantasie das bereits erörterte Problem der Teleologie einfließt und ihn ungewollt in eine metaphysische Spekulation führt [...] In der Urphantasie wiederum zeigt sich die höhere Weisheit der Natur.“ Zu dieser durch das Leben selbst bedingten Kompensation der substanziellen Disharmonie in der Selbstdeutung als Tier vgl. Dieter Claessens, Instinkt, Psyche, Geltung, Köln und Opladen 1968, S. 37f. GA 3.1, S. 374. Ebd., S. 385.
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dienlichen Einsichten des Verstandes entlasten kann, sondern durch die an sein Gefühl appellierenden, auf den in ihm wirkenden Lebensprozess zurückführbaren und durch seine Phantasie in die Welt gebrachen Deutungen seiner selbst entlastet wird.
1.5 Entlastung Mit der Formel von der durch die Selbstbilder kompensierten „Belastung der menschlichen Existenz“196 sind wir am zentralen Denkmodell der Anthropologie Gehlens angekommen: dem „Entlastungsprinzip“197 als eines alle die bis hierhin enthaltene Aspekte des handelnden Umgangs in sich vereinenden „Strukturgesetzes im Aufbau der gesamten menschlichen Leistungen“198. Es lässt sich in erster Annäherung als die Gesetzmäßigkeit verstehen, dass die mangelhafte Physiologie, die damit einhergehende Weltoffenheit und schließlich die disharmonische Situation existenzielle Belastungen des Menschen darstellen, die es andauernd zu bewältigen gilt. Dieses Bewältigen findet als Entlastung im Kleinen durch das Handeln des Einzelnen im Umgang mit Reizüberflutung und Antriebsüberschuss statt. Im Großen ist der Mensch durch die Leistungen der Kultur als der technisch verfertigten zweiten Natur einerseits und den Deutungen seiner selbst durch seine Institutionen andererseits entlastet. Dabei ist es die Pointe dieses Begriffs auf allen Ebenen, sich sowohl auf eine ständig zu vollziehende Aktivität als auch auf einen bereits erreichten Zustand zu beziehen: Der Mensch entlastet sich selbst in seinem Handeln und ist dabei immer schon ein Stück weit sowohl durch das eigentätig Erreichte als auch durch die bestehenden Kulturleistungen entlastet. Mit Blick auf seine weltoffen überschüssigen Antriebsenergien wird die existenzphilosophische Ausrichtung dieses Begriffs darin kenntlich, dass der Mensch sowohl im subjektiven Erwerb bestimmter Fähigkeiten als auch durch die kulturelle vermittelten Entlastungen feste Eigenschaften verinnerlicht: „er führt sein Leben“199 und „macht sich zu etwas“200, indem er seine Antriebe durch kulturelle und individuelle Entlastungen formiert und auf diese Weise Charakter erwirbt. Indem nicht nur zwischen Entlastungen im Kleinen und im Großen, sondern auch zwischen den auf den Funktionsbegriff des Mängelwesens zurückgeführten und den der Disharmonie zum Leben geschuldeten Entlastungen unterschieden werden muss, lassen sich zunächst vier näher zu analysierende 196 197 198 199 200
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GA 3.1, S. 385. Ebd., S. 35. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 30.
Dimensionen des Entlastungsbegriffs aufzeigen. Auf der Grundlage des Funktionsbegriffs treten dabei erstens als die kleinen Entlastungen201 die Mängelbewältigung im individuellen Handeln hervor: Das menschliche Individuum muss sich entlasten, indem es im eigenen Handeln mit den vorliegenden Problemen umzugehen lernt. Als Fortführung dessen ist zweitens die Werkzeugtechnik202 als eine auf die Eigentätigkeit zurückführbare Entlastung des Menschen zu verstehen: Sie verstärkt und erweitert die Leistungsfähigkeit des Einzelnen im Umgang mit den sich stellenden Problemen. Die dem Menschen im Großen bereitstehenden Entlastungen durch die in der Kulturentwicklung fortschreitende Technik entlasten ihn überdies von der Schwere der sich im Handeln stellenden Aufgaben, was drittens als Entlastung von der Eigentätigkeit, mithin als Entlastung zweiten Grades verstanden werden kann.203 Die von den Errungenschaften der Technik unterschiedenen, in systematisch 201
202
203
Ich beziehe mich an dieser Stelle auf die von Dieter Claessens eingeführte Unterscheidung zwischen den kleinen und den großen Entlastungen, die auf dem von mir schon geltend gemachten Bruch in dieser Theorie basieren, der darin besteht, dass die Deutungen des Menschen in seiner Kultur nicht aus der Perspektive des Mängelwesens betrachtet, sondern durch „das Leben selbst, als Metaphysikum“ (Dieter Claessens, a.a.O., S. 37) bedingt sind. Obwohl Gehlen selbst, zumindest an einer Stelle von „großen Entlastungen“ (US, S. 300) mit Blick auf die „Welt der Maschinen“ (ebd.) und damit von einem nach meiner Auffassung systematisch den sich in der Kultur ausweiternden kleinen Entlastungen zuzurechnenden Phänomen spricht, werde ich den Terminus große Entlastungen ausschließlich auf die durch das Leben selbst bedingten Entlastungen beziehen. Eine dieser Auffassung entgegenstehende systematische Einteilung findet sich bei Christian Thies, der ich mich aus den genannten Gründen nicht anschließe. Vgl. Christian Thies, Arnold Gehlen zur Einführung, a.a.O., S. 105. Da Gehlens Begriff der Technik noch über den Bereich der vermittels des instrumentellen Bewusstseins handhabbaren Geräte hinausgeht, indem er auch die Magie als eine »Technik« beschreibt, kann nur die »Werkzeugtechnik« direkt den Funktionsbegriff des Menschen zurückgeführt und damit systematisch den kleinen Entlastungen zugerechnet werden (vgl. Abschnitt 3.7.1). Gehlen unterscheidet zwischen Werkzeugtechnik als Organersatz und Organverstärkung einerseits und Entlastungstechniken andererseits, die nach meinem Verständnis mit den Entlastungen zweiten Grades einhergehen (vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (1949/1957), in: GA 6, S. 1-139, im Folgenden zitiert als »StZ«, S. 6). Tatsächlich ist es dieser zweite Aspekt der Technik, der Gehlens Entlastungstheorem mit dem von Paul Alsberg vorgelegten Prinzip der „Körperausschaltung“ (Paul Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden 1922, S. 130) verbindet. Allerdings leitet Gehlen aufgrund der normativen Ausrichtung seines Handlungsbegriffs aus der technischen Möglichkeit der Entlastung von der Tätigkeit seine kulturpessimistische Einschätzung des technischen Fortschritts ab, der darin besteht, dass der Mensch nicht mehr mit vollem Körpereinsatz in das Handeln eingebunden ist; sich also nicht mehr eigentätig entlasten muss (vgl. Abschnitt 1.6.2). Gehlen versteht die fortschreitende Körperausschaltung durch die Technik demnach eine aus dem Entlastungstheorem ableitbare Pathologie (vgl. Abschnitt 3.7.2). Das Entlastungstheorem ist damit allerdings keineswegs identisch mit Alsbergs Theorem der Körperausschaltung, wie es etwa von Helmuth Plessner behauptet wird (vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Frankfurt am Main 1981, S. 25).
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relevanter Hinsicht nicht nur als Entlastungen im Großen, sondern als die großen Entlastungen zu bezeichnenden Kulturleistungen der durch die Institutionen bereitgestellten Selbstbilder leiten sich demgegenüber nicht aus dem Funktionsbegriff ab. Diese an vierter Stelle zu benennenden Entlastungen sind vielmehr auf den Substanzbegriff vom Menschen zurückzuführen und entsprechen der Zweckmäßigkeit des Naturprozesses als Tendenz des Lebens zu mehr Leben in dem uns bereits bekannten Sinne. Gehen wir zunächst den kleinen Entlastungen etwas genauer nach, dann bedeutet menschliches Dasein als Leben in Entlastung zu verstehen, dass das weltoffene menschliche Individuum mit dem inneren Antriebsüberschuss und der äußeren Reizüberflutung vor die sich ständig neu stellenden Aufgabe der „Daseinsbewältigung“204 gestellt ist, die durch Eigentätigkeit, mithin sein Handeln als Entlastung von diesen Belastungen erledigt werden muss: „Denn schon die Weltoffenheit ist, von daher gesehen, grundsätzlich eine Belastung [...] aus eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.“ 205 Indem Gehlen diese Dimensionen des Entlastungsbegriffs auf der Folie des Mängelwesens entwickelt, steht auch sie unter dem heuristischen Gesichtspunkt, dass über eine Negativbestimmung mehr als durch die positive Bestimmung des Menschen als das handelnde Wesen verstehbar wird. Die nicht auf eine bestimmte Umwelt festgelegten Bewegungen des Menschen, seine Weltoffenheit und seine unspezifischen überschüssigen Antriebsenergien sind einerseits Belastungen für den Menschen; andererseits sind eben diese belastenden Mängel als die spezifisch menschlichen Mittel der Lebensführung zu verstehen: „Der Grundgedanke ist der, daß die sämtlichen »Mängel« der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbsttätig handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zur Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuletzt beruhen.“206 Diese andauernd im Handeln zu erledigende, den einzelnen handelnden Menschen vom Tier unterscheidende Aufgabe der produktiven Mängelbewältigung lässt sich in drei Problemstellungen einteilen, die er in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander lösen muss: Distanznahme gegenüber den auf ihn einströmenden Reizen, Entwicklung gekonnter Bewegungsabläufe und die 204 205 206
58
GA 3.1, S. 60. Ebd., S. 35. Ebd., S. 35f.
parallel dazu verlaufende Formierung seiner Antriebsenergien zu bestimmten Interessen und Bedürfnissen. Über den Begriff der Entlastung wird damit nachvollziehbar, dass der Mensch in einem durch seine Eigentätigkeit strukturierten Verhältnis zur Welt lebt, deren Aufbau in Abhängigkeit zu seinen selbst etablierten Handlungsmöglichkeiten steht und deren verlässliche Funktion durch das Formieren seiner Antriebsenergien sichergestellt ist. Mit Blick auf den Umgang mit Dingen lässt sich dieses Verhältnis näher so beschreiben, dass im Handeln immer das Moment des Erledigens der sich stellenden Aufgabe und damit einhergehend die Verfügbarkeit von objektiven Weltinhalten durch ein bestimmtes verinnerlichtes Können ablesbar ist. Gehlen spricht diesbezüglich von einer sich einstellenden „Intimität“207, in die der Mensch zur Welt und damit mittelbar zu sich selbst tritt. Er wird mit den Dingen in der Welt dadurch bekannt, dass er mit ihnen als neutrale Gehalte von Welt umgehen kann und dadurch sowohl von äußerer Reizüberflutung als auch innerem Antriebsüberschuss entlastet ist: „Das ist der Charakter der Intimität der Welt, in dem also die drei Seiten der Bekanntheit, der Neutralisiertheit der Dinge und der Entlastung des Menschen zu unterscheiden sind. Das alles bezeichne ich künftig mit dem Ausdruck: »Verfügbarkeit« der Dinge“.208 Dass die im individuellen Umgang mit den auf den Menschen einströmenden Reizen hergestellte Bekanntheit mit den Dingen immer schon in einem durch das menschliche Tätigsein etablierten Umfeld stattfindet, ist uns mit dem Begriff der Kultur als der zweiten Natur des Menschen bereits geläufig. Der einzelne handelnde Mensch ist also grundlegend dadurch entlastet, dass er sich in der Kultur als selbst etablierter zweiter Natur im Sinne einer an allen möglichen Orten durch Technik „»entgifteten« Natur“209 wiederfindet. Deren immer in unterschiedlicher Ausprägung vorauszusetzendes Vorhandensein ist die Bedingung des Überlebens des Menschen, der eben „von Natur ein Kulturwesen“210 ist: „»Kultur« ist daher ein anthropo-biologischer Begriff, der Mensch von Natur ein Kulturwesen [...] Kultur ist also in erster Annäherung der Inbegriff der Sachmittel und Vorstellungsmittel, der Sach- und Denktechniken, einschließlich der Institutionen, mittels derer eine bestimmte Gesellschaft »sich hält«, in zweiter Annäherung der Inbegriff aller darauf fundierten Folgeinstitutionen.“211
207 208 209 210 211
Ebd., S. 204. Ebd. Ebd., S. 37. Ebd., S. 88. Ebd.
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Indem Gehlen sich der Kultur hier in zwei Annäherungen zuwendet, scheint der uns bereits bekannte Unterschied zwischen dem Funktionsbegriff und dem Substanzbegriff des Menschen durch, an dem sich die Differenz zwischen den kleinen und den großen Entlastungen festmachen lässt. So sind die hier angesprochenen Folgeinstitutionen deshalb als die großen Entlastungen von den kleinen Entlastungen zu unterscheiden, weil er diese keineswegs direkt auf die Aktivität des Menschen als handelndes Wesen zurückführt, sondern als passiv empfangene Gestalten des im Menschen wirkenden und sich in seinen Selbstbildern verwirklichenden Lebens begreift.212 Mit Blick auf diesen Unterschied ließe sich der Entlastungsbegriff nach meinem Dafürhalten dann so fassen: »Denn schon die disharmonische Konstitution des Menschen ist grundsätzlich eine Belastung, von der das einzelne handelnde Individuum vermittels der in den arrivierten Institutionen der Kultur wirkenden Kraft des Lebens entlastet wird.« Neben den so umrissenen, in unterschiedlicher Weise auf die Orientierung des Menschen in der Welt bezogenen vier Dimensionen des Entlastungsbegriffs findet er sich schließlich in noch zwei weiteren Verwendungsweisen, die erhellend für den Zusammenhang von Entlastung und Freiheit sind. Diesbezüglich ist zunächst die in Anlehnung an Nicolai Hartmanns Schichtenontologie konzipierte „Kategorie der »Entlastung«“213 anzuführen, über die Gehlen die unterschiedlichen Ausprägungen der Entlastungen im Kleinen und im Großen in einem Bild vom Menschen zu integrieren sucht. Diese Kategorie beschreibt die Architektur des durch immer freiere Schichten des Geistes vermittelten Handelns, die sich ausgehend von den sensomotorischen Bewegungen des menschlichen Individuums über seine auf die technische Bewältigung von Problemen angelegten intellektuellen Fähigkeiten bis in die institutionell vermittelten Verhaltensweisen in der Kultur erstreckt. Die unterschiedlichen Weisen sich zu bewegen und die damit verbundenen Formen von Bewusstsein haben wir uns hiernach in Analogie zur Schichtenontologie Nicolai Hartmanns als in einem solchen Aufbau zueinander stehend vorzustellen, in dem sie sich zwar gegenseitig bedingen, jedoch weder aufeinander reduziert noch in zweckgerichteter Abfolge zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Gehlen versucht hiermit einerseits, ein nicht teleologisch auf 212 213
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Dieser Unterschied lässt sich anhand des von Gehlen verwendeten Begriffs des ideativen Bewusstseins aufzeigen, wie wir an späterer Stelle sehen werden (vgl. Abschnitt 3.3.2). GA 3.1, S. 15. Die Kategorie der Entlastung den anderen Bestimmungen des Entlastungsbegriffs gegenüberzustellen, mag eigenwillig erscheinen, da Gehlen sich auf Entlastung überhaupt als einer anthropologischen Kategorie bezieht. Um die spezifischen Differenzen zu verdeutlichen, erscheint mir allerdings die von mir gemachte Unterscheidung angebracht. Von der Kategorie der Entlastung wird im Folgenden also immer nur dann die Rede sein, wenn es um den in Anlehnung an Hartmann entwickelten Schichtenaufbau des menschlichen Handelns geht.
die Vernunft zulaufendes Bild vom Bewusstsein des Menschen vorzulegen; andererseits verdeutlicht er auf diese Weise auch, dass sich die Zweckmäßigkeit des Lebensprozesses in den über dem rationalen Erkennen zu verortenden Schichten des Geistes verwirklicht. Hiermit widerspricht er nicht nur Hartmanns grundlegender Kritik am teleologischen Denken; in Gegenüberstellung zur kantischen Kritik der teleologischen Urteilskraft tritt auch die Fragwürdigkeit der Konzeption eines auf die Zweckmäßigkeit in der Natur zurückgeführten Begriffs der Freiheit hervor, dessen Fluchtpunkt nicht in unserem Selbstverständnis als handelnde Wesen, sondern in einem uns wesentlich fremden irrationalen Geschehen des Lebens verortet ist. Schließlich findet sich der Begriff der Entlastung in der durchaus widersprüchlichen Beschreibung, dass der Mensch „instinktentlastet“214 ist. Gehlen meint damit gewissermaßen die Rückseite des belastenden Antriebsüberschusses und benennt auf diese Weise als die Voraussetzung für ein weltoffenes Handeln, dass der Mensch nicht unter dem Druck sich permanent meldender, bereits auf einen bestimmten Vollzug hin festgelegter Triebe steht und sich deshalb in frei erworbenen Handlungsabläufen in der Welt bewegen kann: „Diese anthropologische Eigenart [...] entspricht aber auch genau der konstitutionellen menschlichen Anlage zur Handlung, d.h. zur intelligenten Veränderung der unvorhersehbaren Umstände, die er in der unendlichen Mannigfaltigkeit der offenen Welt antrifft und die er in freier Erfindungskraft und Beweglichkeit nach sich, seinen Interessen und Bedürfnissen hin umarbeiten muss, gerade weil er nicht bereits einer arttypischen Umwelt eingepaßt ist, die es auch gar nicht gibt.“ 215 Würde Gehlen alleine diesem Gedanken treu bleiben, dann müsste diese Theorie allerdings ganz anders angelegt sein und der Entlastungsbegriff ungefähr so eingeführt werden: »Denn schon die Weltoffenheit ist als Befreiung von instinktiv festgelegten Verhaltensweisen grundsätzlich eine Entlastung des Menschen. Es stellt die damit einhergehende Aufgabe eines weltoffenen Wesens dar, diese Freiheit sowohl im Umgang mit den belastenden Problemlagen seiner inneren Unsicherheit und der Ungewissheit im Äußeren als auch angesichts der Belastungen durch die drohenden quasi-instinktiven Verfestigungen der Verhaltensweisen in seiner Kultur als Chance seiner Lebensführung zu erweitern.«
214 215
Arnold Gehlen, Über instinktives Ansprechen auf Wahrnehmungen (1961), in: GA 4, S. 175202, hier: S. 183. Ebd., S. 183f.
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Hiervon ausgehend ist das von Gehlen aufgezeigte instinktanaloge Verhalten in der Kultur also keine Entlastung, sondern eine Belastung.216 Indem Gehlen diesen Zusammenhang eben nicht erkennt, wird in Verbindung mit dem sich bis in die Institutionen durchziehenden Schichtenmodell des Handelns deutlich, dass seine Vorstellung der durch die Institutionen der Kultur gewährleisteten Freiheit im Handeln gerade nicht als Abwesenheit von Fremdbestimmung verstanden werden darf.
1.6 Erfahrung, Wille und Bewusstsein Es gilt zunächst, dem von Gehlen vorgebrachten Begriff der sich im entlastenden Handeln einstellenden Erfahrung nachzugehen, um sich die Modalitäten des Entlastungsbegriffs zu vergegenwärtigen. Dabei ist es fast überflüssig zu erwähnen, dass dieser Erfahrungsbegriff genauso umfassend sein muss wie Gehlens Handlungsbegriff, mithin so weit wie die Bewegungsmöglichkeiten des Menschen reicht. Hiervon ausgehend fasst er die Sphäre der durch Erfahrungen erworbenen Handlungsdispositionen mit den Begriffen Seele und Charakter eines menschlichen Individuums. Die Antriebe, mithin das „Seeleleben“217 des Menschen, formieren sich mit seiner Erfahrung als jeweiliger Charakter, dessen bestimmter Inhalt die Grundlage dessen ist, wie er sich überhaupt bewusst in der Welt bewegen kann. Der Charakter ist der Ort des sich über die Erfahrung ausdifferenzierenden und dem gegenwärtigen Handeln zugrundeliegenden Bestands eines über physische Tätigkeit verinnerlichten Könnens und der durch Erziehung erworbenen Bedürfnisse eines Menschen. Dabei wird ob der immer als plastischer Einheit zu verstehenden weltoffenen Energie und Ausrichtung menschlicher Antriebe deutlich, dass deren Formierung nicht nur die Perspektive des möglichen Handelns vorgibt. Ebenso ist den seelischen Dispositionen in unterschiedlichem Maße das Moment der wirklichen Motivation zu diesen Handlungen inhärent: Der Charakter ist genauso die entsprechende Handlungsrichtung vorgebende Instanz, wie er auch zu eben diesem Handeln motiviert. Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich um die Adaption des aristotelischen Gedankens, dass erst die in beständiger Weise ausgeübten Handlungen einen zu demjenigen machen, der man ist: 216
217
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Dieses Problem lässt sich in einer Gegenüberstellung von Gehlens Vorstellung der Entlastung durch den Mythos und Ernst Cassirers Begriff des mythischen Bewusstseins aufzeigen. Vgl. Abschnitt 3.5.3. GA 3.1, S. 246. Wenn Gehlen wie an dieser Stelle von Seele bzw. Seelenleben spricht, dann ist diese Begriffsverwendung immer im Sinne der sich im Handeln ausdifferenzierenden weltoffenen Antriebe als die Innenwelt seines Charakters und nicht in einem substanziellen Sinne zu verstehen.
„Ich sagte eben: der menschliche Prozeß der Erfahrung ist zugleich ein Prozeß der Charakterformierung. [...] Der Charakter des Menschen, das System seiner Antriebe, ist Kraft der Handlung und Stoff der Handlung in einem: so sah es schon Aristoteles. »Denn die Handlungen, die man in einer bestimmten Richtung ausübt, machen einen zu einem solchen, wie man ist« (Eth. Nik. 1114a). Die Anlagen und Eigenschaften, sagt er, müssen vorhanden sein, aber »noch etwas anderes sein und auf andere Weise innegehabt« (1144b), zur Wirklichkeit, zur Haltung werden sie nämlich erst durch die Tat und deren Folge, die Gewöhnung. Sie sind »nichts, was ein für allemal feststünde« (1103a – 1104a).“218 Analog zu der erst durch das Handeln offen stehenden Welt, lässt sich von der „Welthaftigkeit“219 der Seele als einer »inneren Außenwelt« sprechen, in der die formierten Antriebe mit den in der Welt möglichen Handlungen korrespondieren. Mithin können wir das Seelenleben aufgrund seiner Abstimmung auf die Handlungen in der äußeren Welt als »innere Außenwelt« verstehen: „Der Ausdruck »Inneres«, Innenleben ist überhaupt ein rein anthropologischer und bezeichnet dasselbe, wie den Tatbestand der Weltoffenheit, wie dieser nämlich von einem weltoffenen Wesen selbst erlebt wird. Man kann den Ausdruck »Seele« durch den Ausdruck »innere Welt« ersetzen, und der noch zugespitztere Ausdruck »innere Außenwelt« soll bezeichnen, daß gewisse Vorgänge im Menschen sich unter dem unmittelbaren Einflußbereich der Außenwelt abspielen, daß sie »besetzt« werden mit Eindrücken der Außenwelt und so als Phasen der Auseinandersetzung mit der Welt zu verstehen sind, wie sie ein handelndes und weltoffenes Wesen zu leisten hat.“220 Unter der uns bereits bekannten Voraussetzung einer ohne die Annahme einer metaphysischen Sphäre eigenen Rechts auskommenden Theorie vom Menschen verknüpft Gehlen die im Inneren festgestellten Antriebe zum Handeln mit dem Begriff »Willen«. Hiermit versteht er unter dem Willen des Menschen gerade nicht die Möglichkeit, sich frei von empirischen Bedingungen in der Welt bestimmen zu können; der Wille ist vielmehr im Sinne eines empirisch psychologischen Begriffs die Summe der verinnerlichten und damit festgestellten Motive zu bestimmten Handlungen. Charakter ist damit als der unwillkürliche »Wille« im Sinne eines festgestellten, zu bestimmten Handlungen disponierten Antriebslebens zu verstehen: „Dies ist Wille in enger Bedeutung, also die, paradox gesagt, mühelose Verfügbarkeit der Antriebskraft
218 219 220
Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 2., unveränderte Auflage, Berlin 1941, im Folgenden zitiert als »M1«, S. 336. GA 3.1, S. 401. Ebd., S. 302.
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in vorgezeichneten und festgelegten Bahnen, also die eigentliche »Willenskraft«.“221 In der auf diese Weise vollzogenen Engführung von Wille und Charakter ist das Bewusstsein schließlich so bestimmt, dass es als das Organ der Vermittlung zwischen dem verinnerlichten Können und der äußeren Welt steht: „»Bewußtsein« ist dagegen [im Gegensatz zur Seele, S.W.] kein anthropologischer Begriff, sondern von weiterer Geltung, und bedeutet einen Umsetzungsvorgang (uns übrigens undurchsichtiger Art) an den Kontaktstellen eines Organismus mit der Welt, ist daher bei niederen Tieren in erster Linie in die Wahrnehmungsakte gelegt. Beim Menschen, als dem weltoffenen Wesen, reicht diese Kontaktzone unvergleichlich viel tiefer in den Organismus hinein, und so laufen sogar die Antriebsvorgänge mit den Bildern der Außenwelt besetzt in uns ab.“222 Mit dem Begriff des in Erfahrungen erworbenen Charakters als der unserem bewussten Weltzugang zugrunde liegenden Sphäre verfügbarer Willensbestimmungen tritt schließlich hervor, dass Gehlen nicht allein zeigen möchte, wie sich entlastendes Tätigsein, Bewusstsein und formiertes Seelenleben zueinander verhalten. Vielmehr geht es ihm unter der Voraussetzung der normativen Bestimmung zum Handeln und damit zur eigentätigen Entlastung auch um die Frage, unter welchen Bedingungen sich Charakter in einer dem Leben entsprechenden Form überhaupt nur ausprägen kann. 1.6.1 Lebenserfahrung und Charakter Ein detailliertes Bild über das Verhältnis von Erfahrung, Wille und Bewusstsein vermittelt Gehlens Aufsatz Vom Wesen der Erfahrung223, in dem wesentliche Eckpunkte der anthropologischen Überlegungen in Der Mensch vorweggenommen sind. Neben dem sehr hilfreichen Umstand, dass das Programm dieser Anthropologie dort schon in denkbar sparsamen Konturen umrissen ist, lässt sich anhand dieser Ausführungen der eben referierte Grundgedanke weitaus leichter als in seinem Hauptwerk nachvollziehen: Was Gehlen ab der überarbeiteten Fassung von Der Mensch unter Aussparung des vorherigen Hinweises auf diesen Aufsatz einzig im Gewand einer sich vom rationalen Erkennen unterscheidenden irrationalen Erfahrungsgewissheit224 thematisiert, entwickelt er dort als die weit über den Bereich des rationalen
221 222 223 224
64
Ebd., S. 433. Ebd., S. 302; vgl. ebd., S. 416. Arnold Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung (1936), in: GA 4, S. 3-24. Vgl. GA 3.1, S. 355ff.; vgl. Abschnitt 3.6.
Erkennens hinausgehende „Lebenserfahrung“225. Obwohl er später sehr sparsam mit diesem Begriff umgeht – er findet sich in der letzten Fassung von Der Mensch an nur einer Stelle226 –, trifft der in diesem früheren Aufsatz einführte Begriff der Lebenserfahrung doch sehr genau dasjenige, was wir uns unter dem wechselseitigen Erwerb von Können und verfügbarer Welt in deren Verhältnis zum Bewusstsein vorzustellen haben: Der Mensch verinnerlicht von seinen einfachsten Körperbewegungen über seinen verständigen Weltzugang bis hinein in das kulturell vermittelte Verhalten bestimmte Erfahrungen, mit denen er sein Leben bewusst zu führen in der Lage ist. Die Grundstruktur, dass der Mensch die sich im umfassenden Sinne im Handeln stellenden Probleme durch entlastende Tätigkeit erledigt und sich damit Welt verfügbar macht, lässt sich hiernach auch weniger als Wissenserwerb, denn als das Sammeln von Lebenserfahrungen verstehen. In diesem Sinne verweist Gehlen auf die breite Lebenserfahrung eines solchen Menschen, der den Anforderungen des Lebens gewachsen ist: „Ein Mensch dieser Art ist den mannigfaltigen Ansprüchen und Forderungen, die das Leben regelmäßig oder auch überraschend uns entgegenwirft, nicht unterworfen, sondern gewachsen, und er begegnet der Breite der Lebenssituationen mit derselben Bestimmtheit, die im Wollen eindeutig und gerade deshalb im Durchführen vielseitig ist, wie es der hervorragende Fachmann auf seinem Gebiete tut.“ 227 Ausgehend von dieser Auffassung stellt er fest, dass es nicht allein der Fehler des Idealismus, sondern genauso der des Empirismus sei, sich dem Begriff der Erfahrung allein aus der Perspektive des Erkenntnisproblems zu widmen: „Die Philosophie läßt also ganz allgemein und wie selbstverständlich die Erfahrung im Urteil enden, betrachtet sie als eine oder im Empirismus als die einzige Quelle des Wissens, und Erfahrung ist ihr ein Begriff der Erkenntnistheorie.“228 Gegenüber dieser ausschließlich auf das Erkennen eingeschränkten Auffassung ist Erfahrung jedoch in einem viel weiteren Sinne so zu verstehen, dass im Prozess des Sammelns von Lebenserfahrungen ein bestimmtes Können erworben und damit über einen entsprechenden Handlungsraum verfügt wird, ohne dass hiermit schon theoretisches Wissen verknüpft sein muss:
225
226 227 228
GA 4, S. 3. So taucht der von Gehlen noch in der ersten Ausgabe von Der Mensch hergestellte Zusammenhang zwischen Lebenserfahrung und irrationaler Erfahrungsgewissheit in der überarbeiteten Fassung von Der Mensch nicht mehr auf. Vgl. M1, S. 331: „Ich gebe nun rein beschreibend einige Hinweise auf die nichtrationale Gesetzlichkeit der breiten Erfahrung, im ganz komplexen Sinn der Lebenserfahrung, wie ich ihn in einem Aufsatz »Vom Wesen der Erfahrung« (BI. f. dt. Philos. X) dargestellt habe.“ Vgl. GA 3.1, S. 435. GA 4, S. 4. Ebd., S. 4f.
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„Ein erfahrener Mensch ist natürlich in erster Linie nicht einer, der richtige Urteile zur Hand hat, sondern einer, der auf irgendeinem Gebiete, und mag es sich schließlich um bloße körperliche Geschicklichkeit handeln, etwas aufgebaut, verfügbar hat und einfach kann.“229 Dieses durch Lebenserfahrung erworbene Können findet sich nach Gehlens Rekonstruktion allerdings nicht nur in den Fähigkeiten eines in ausgezeichnetem Sinne erfahrenen Menschen; vielmehr lässt sich überhaupt der gekonnte Umgang mit objektiven Weltgehalten auf den so konzipierten Begriff der Lebenserfahrung zurückführen. Diesbezüglich sind zunächst zwei wesentliche Momente des Begriffs der Erfahrung festzuhalten: Erstens besteht Erfahrung keineswegs in der passiven Wahrnehmung bereits bestehender Inhalte; sie ist vielmehr als ein aktiver Vorgang zu verstehen: Von Kindesbeinen an erfahren wir die Welt, indem wir produktiv das Können zu bestimmten Handlungen hervorbringen; Erfahrung ist „Ausübung, Auswahl und Verwerfung, Schöpfung und Aufbau.“230 Dass der Erfahrungsprozess darin abschließt, über das erworbene Können zukünftig zu verfügen, „so wie man reiten oder schwimmen »kann«, wenn man es auch jahrelang nicht tat“231, leitet über zum zweiten Moment: Erfahrungserwerb haben wir uns als einen dem Erkennen im Wissen schon weit vorausgehenden, an körperliche Leistungen gebundenen Prozess vorzustellen – ganz so, wie reiten oder schwimmen zu können keine Sache des reflektierten Wissens, sondern der im Wortsinne einverleibten Fähigkeiten eines Menschen ist. Es lässt sich hiernach von dem sich im Erfahrungsprozess ausprägenden „Gedächtnis unseres Leibes“232 sprechen. Der Mensch verinnerlicht über den Prozess der Lebenserfahrung also ein bestimmtes an seine physischen Fähigkeit geknüpftes Können, das durch sein Bewusstsein vermittelt wird, weshalb nicht nur der Verstand oder die Vernunft, sondern bereits seine motorischen Funktionen geistig zu nennen sind: „Es ist aber durchaus notwendig, in den Begriff der Erfahrung auch rein physische Aneignungen und Einübungen aufzunehmen, denn nichts ist si229 230 231 232
66
Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Gehlens Vorstellung von dem sich in der Lebenserfahrung ausbildenden Gedächtnis des Leibes, das wir an späterer Stelle als die mit irrationaler Erfahrungsgewissheit einhergehende historische Reaktionsbasis des Menschen kennenlernen werden (vgl. Abschnitt 2.4.3), ist ein Schlüssel zu seinem Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Welt: Der Mensch lebt von der Vergangenheit in die Zukunft (vgl. GA 3.1, S. 295ff.) – und zwar nicht nur dergestalt, dass er sich bestimmten Erinnerungen bewusst in seinen Vorstellungen zuwendet, sondern dem noch zugrunde liegend, sich vermittels leiblich verinnerlichter Erinnerung in der Welt zu bewegen. Zur Aktualität dieses Gedankens vgl. Thomas Fuchs, Das Gedächtnis des Leibes, in: ders. Leib und Lebenswelt, Zug/Schweiz, 2008, S. 37ff. Obwohl Thomas Fuchs ein der Gehlenschen Konzeption sehr nahe stehendes Konzept vom Gedächtnis des Leibes vorlegt, beruft er sich allerdings nicht auf dessen Schriften.
cherer, als daß es ein Gedächtnis unseres Leibes gibt, der seine Erfahrungen macht und nichts vergißt, und auch in anderer Hinsicht ist zweifellos, daß der Mensch eine ganze Reihe physischer Leistungen – gerichtetes Wahrnehmen, gesteuertes Handeln, Gebrauch der Sprachorgane – erst im Zusammenhang seines Erfahrungslebens erwirbt.“233 Eingedenk dieser Tiefe der Lebenserfahrung ist unsere Bekanntschaft mit der Welt also keineswegs auf die Struktur vorauszusetzender Verstandeskategorien, sondern von der Motorik bis in die sprachliche Bennennung auf die ganze Breite unseres tätigen Umgangs mit der Welt zurückführbar: „Wir haben die Dinge nicht »selbst«, sondern nur assimiliert und angeeignet, eingeschmolzen in die Vielfalt unserer Tätigkeiten, mit der wir das Gesehene betasten, das Erwartete aussprechen, das Erinnerte »begreifen« und das Bewegliche behandeln.“234 Um es zu betonen bedeutet dieses – der Ausdruck die Dinge selbst weist darauf hin – im Umgang mit den Dingen nichts anderes als eine grundsätzliche Bestätigung einer am Subjekt orientierten Transzendentalphilosophie – allerdings mit dem spezifizierenden Hinweis darauf, dass die unmittelbar im Leibe einsetzende Erfahrung das Erste ist und sich die Verstandesleistungen erst in einem noch unterhalb des Verstandes zu verortenden erfahrenden Umgang mit der Welt herausbilden. Als Bedingung für den rationalen Zugriff geht Gehlen dabei von einem sich „hinter dem Rücken des Bewusstseins“235 entwickelnden, d.h. ohne dass dieser Prozess dem Bewusstsein des Individuums transparent wäre, in der leiblichen Konstitution des Menschen angelegten, gestaffelten Aufbau der Medien des handelnden Umgangs mit der Welt aus. Über diesen Prozess eignen wir uns zunächst im taktilen, dann visuellen und schließlich über den sprachlichen Zugang die Dinge in unserem Handeln an. Wenn er abgeschlossen ist, kann dann auf der Höhe des entwickelten Gegenstandsbewusstseins, im Sinne einer „»erwachsene[n]« Weltsicht“236 durchaus von einem transzendentalen Subjekt im kantischen Sinne die Rede sein, das der Dinge nur nach seinen Bedingungen gewahr wird: „Wenn das Ding in diesem Prozeß an einen bestimmten Ort gerückt ist, so ist es für uns das, was es »an sich« ist. Das unbewegte anscheinende So233 234 235
236
GA 4, S. 8. Ebd., S. 13; vgl. GA 3.1, S. 203. GA 3.1, S. 14. Gehlen verwendet diese Formel, dass sich die lebendigen Prozesse hinter dem Rücken des Bewusstseins abspielen, nicht nur mit Blick auf die Genese des menschlichen Individuums, sondern auch bezüglich der Kulturentwicklung: Die sich in der Kultur ausbildenden unterschiedlichen Formen der Selbstdeutung sowie der Fortschritt der Technik sind auf die Prozesse des an sich hinter dem Rücken des erkennenden Bewusstseins vollziehenden Lebens zurückzuführen. Vgl. Abschnitt 3.3.2. GA 4, S. 14.
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sein der Dinge, von dem die Erkenntnistheorie so gerne ausgeht, ist nur ihre »Ruhigstellung« – so erscheinen sie, wenn die Fülle der durchgeprobten Eigenschaften sich zu einer Art Durchschnittsansicht niedergeschlagen hat, die für unsere in andere Richtungen beschäftigten Interessen genügt, um sie einstweilen »dahingestellt« zu lassen.“237 Dass wir diese erwachsene Weltsicht im Sinne einer sich über das entlastende Handeln einstellenden Intimität mit den Dingen als Fortsetzung des sich zunächst beim Kind im Umgang mit der Welt in Lebenserfahrungen ausprägenden Gedächtnisses des Leibes verstehen können, ist allerdings nur die Seite des „von unten“238 durch individuelle Lebenserfahrungen verinnerlichten Könnens. Auch die an das Individuum herangetragenen und durch die Erziehung in den Institutionen adaptierten instinktähnlichen Verhaltensweisen lassen sich mit dem Begriff der verinnerlichten Lebenserfahrung fassen. Diese durch die großen Entlastungen „von oben her“239 bedingten Dispositionen versteht er als ein dem aktuellen Bewusstsein zugrunde liegendes „Skelett des geistigen Lebens“240 . In der Weise also, wie dem bewussten Umgang mit den Dingen bestimmte gekonnte Handlungsmöglichkeiten zugrunde liegen, bilden die so apostrophierten „erworbene[n] Instinkte“241 die Basis des über den Umgang mit Objekten hinausgehenden Verhaltens. Im Sinne von Charakter als Wille ist dieser Bereich als die Sphäre der festen Grundsätze und Grundentscheidungen eines Menschen zu verstehen: „Gerade die Grundsätze und Grundentschlüsse unserer bewussten Lebensführung müssen der Beeinflussung der Oberfläche des Bewusstseins entzogen und in die Sicherheit desjenigen Bereichs herabgeübt werden, von dem aus wir leben: des Bereichs ausgelesenen, beherrschten, sozusagen »geladenen« Könnens, so daß sie nur im Falle auftretender Widerstände herausspringen dürfen wie unsere latente Sprungkraft, wenn ein Graben den Weg abschneidet.“242 Kommen wir hiervon ausgehend noch einmal auf den Unterschied zu den im entwickelten Bewusstsein ansetzenden und damit auf das Erfahrungswissen abgestellten Theorien zurück, dann wird die gesamte Tragweite des mit der gehlenschen Konzeption von Lebenserfahrung einhergehenden Problems deutlich. So richtig sein Hinweis auf die leiblichen Bedingungen des objektivierenden Umgangs mit der Welt ist, was wir übrigens auch, so Volker
237 238 239 240 241 242
68
Ebd., S. 13. Ebd., S. 19. Ebd., S. 18; vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 19; vgl. GA 3.1, S. 444. GA 4, S. 16. Ebd., S. 17.
Gerhardt, als Integral der kantischen Theorie verstehen dürfen243 , so problematisch ist die damit verbundene Bewertung der Leistungsfähigkeit des menschlichen Bewusstseins. So meint Gehlen in einer ablehnenden Haltung gegenüber allen am Bewusstsein bzw. am „Bewußtseinsstrom“244 ansetzenden Theorien, dass sie von der handlungslosen Reflexion des vernünftigen Selbstverständnisses ausgehen und dabei übersehen, dass die wesentliche Bestimmung des Bewusstseins darin liegt, „wach nach außen gewendet [...] der Aktivität unseres Leibes Einsatzstellen und Übergänge [im Umgang mit dem empirischen Material, S.W.] zu bieten“245. Allerdings klammert der somit normativ auf die Aktivität abgestellte Begriff von Bewusstsein aus, dass es einzig das nicht in die Aktivität eingebundene Bewusstsein in seinen Geltungsansprüchen ermöglicht, dieses Bedingungsverhältnis aufzuzeigen.246 Mit Blick auf diesen Zusammenhang lässt sich feststellen, dass Gehlens berechtigte Kritik an der Einseitigkeit eines allein auf das rationale Wissen abgestellten Erfahrungsbegriffs selbst in der Weise einseitig fundiert ist, als sich ausgehend von seinen Ausführungen über das Wesen der Erfahrung keine Brücke zu unserer Selbsterfahrung als handelnde Wesen schlagen lässt: Es bleibt schleierhaft, wie wir uns auf dieser Grundlage einen Begriff vom Menschen als das sich die Welt in Lebenserfahrung aneignende Wesen überhaupt machen können.247 Gleichzeitig ist, wir an späterer Stelle noch genauer betrachten werden248, ist die Rede von den von oben an das Individuum herangetragenen Entlastungen durch die Institutionen dahingehend problematisch, dass deren geistigen Gehalte über das vermittels der verständigen Einsicht der erwachsenen Weltsicht Einsehbare noch hinausgehen sollen. 243
244 245 246
247
248
So weist Volker Gerhardt darauf hin, dass auch Kant der sinnlichen Anschauung eines vernünftigen Wesens die Beschaffenheit des Leibes voraussetzt, diese Sichtweise allerdings ob seiner Selbstverständlichkeit nicht explizit erwähnt: „Kant verliert hier kein Wort über die leiblichen Bedingungen der sinnlichen Anschauung – vermutlich weil sie offenkundig sind. Denn dass man einen (individuierten) Leib mit nur ihm zuarbeitenden Sinnesorganen braucht, um sinnliche Anschauungen haben zu können, versteht sich von selbst“ (Volker Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 153). GA 4, S. 11. Ebd. In diesem Sinne ist auch auf die von Mathias Gutmann geübte Kritik an Gehlen hinzuweisen. Gehlen, so Gutmann, kann mit diesem auf das Können angelegten Erfahrungsbegriff keine Grundlage für das von ihm angenommene Verhältnis von erfahrendem Subjekt und erfahrenem Objekt leisten. Vgl. Mathias Gutmann, Erfahren von Erfahrungen. Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie, Bielefeld 2004, S. 182ff. [S. 186]. Dieses Problem bleibt auch angesichts des uns an späterer Stelle beschäftigenden pragmatisch fundierten Erkenntnisbegriffs bei Gehlen bestehen. Zwar entwickelt er dort Überlegungen zu dem in der Erfahrung gewonnenen Wissen, allerdings klammert die rein funktionale Ausrichtung seines Begriffs rationaler Erkenntnis die Möglichkeit des Menschen aus, sich in reflexiver Bewusstwerdung einen Begriff von sich selbst zu machen. Vgl. Abschnitt 2.4.1. Vgl. Abschnitt 1.8.
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1.6.2 Notwendige Belastungen und Charakterbildung Um sich nicht nur den mit diesem Modell der Lebenserfahrung verbundenen normativen Anspruch des Entlastungsbegriffs, sondern damit einhergehend auch die sich mit der Charakterbildung einstellende Nähe zum Leben klar zu machen, können wir noch einmal an den Ausgang der Überlegungen zum Wesen der Erfahrung zurückkommen, dass ein Mensch mit Lebenserfahrung in einem besonderen Sinne mit den Anforderungen des Lebens zurechtkommt. Dieser Auffassung ist mit Gehlen ergänzend hinzuzufügen, dass ein solcher Mensch „besonders in zivilisierten Zeiten, da die mühelose Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse die mühsame, an Widerständen gestärkte Entwicklung elementarer Kräfte überflüssig macht, selten und bedeutend“249 ist. Angesichts dessen können wir uns den Unterschied zwischen Lebenserfahrung als Modus menschlicher Weltaneignung überhaupt und dem Zustand, in einem emphatischen Sinne lebenserfahren zu sein, vergegenwärtigen. Letzteres meint eine besondere Qualität, die sich nicht ohne Weiteres im immer auch Erfahrungen machenden Umgang mit der Welt einstellt; in derselben Weise lässt sich von Charakter sowohl in grundsätzlicher Hinsicht als der formierten inneren Außenwelt des Menschen wie auch in einem anspruchsvollen Sinne sprechen, dass jemand im vollen Sinne Charakter hat, also ein Mensch von Charakter250 ist. Gehlen spricht diesbezüglich von einer „Angleichung unseres Bewusstseins an die vitalen Lebensprozesse“251 und sieht diese Qualität in dem Moment gegeben, in dem das physische Können eines Menschen in der Folge der tätigen Auseinandersetzung mit den sich im erfahrenden Handlungsvollzug stellenden Belastungen und seine durch Erziehung verinnerlichten intellektuellen Dispositionen sich so weit „durchdrungen haben, so daß in einem Menschen von Charakter schon die physischen Äußerungen und Reaktionen eine Art Überzeugungsnähe und wiederum die Gedanken die klare Eindeutigkeit von Handlungen haben.“252 Obwohl Gehlen selbst „der bekannten Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation“253 nicht beizutreten meint, ist an dieser Stelle zunächst da249 250 251 252 253
70
GA 4, S. 3f. Vgl. ebd., S. 17. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. GA 3.1, S. 38. Gehlens Hinweis auf die Verwendung des Begriffs »Kultur« ist im Sinne eines genus proximum zu verstehen, dem Kultur und Zivilisation als gegensätzliche differentiae specificae nachgeordnet sind. Für diese spezifischen Begriffe gilt eben jene bekannte Unterscheidung, die Norbert Elias in einer auch für Gehlen zutreffenden Beschreibung folgendermaßen fasst: „»Zivilisation« beschreibt einen Prozeß oder zumindest das Resultat eines Prozesses. Es bezieht sich auf etwas, das ständig in Bewegung ist, das ständig »vorwärts« geht. Der deutsche Begriff »Kultur« (...) hat eine andere Bewegungsrichtung: er bezieht sich auf Produkte des Menschen, die da sind wie »Blüten auf den Feldern«, auf Kunstwerke, Bücher,
rauf hinzuweisen, dass in seiner Bemerkung über das mühelose Leben in zivilisierten Zeiten eben diese Differenz hervortritt. Kultur in einem emphatischen Sinne ist demgegenüber gleichermaßen Ausdruck der Verwirklichung des im Menschen wirkenden Lebens, wie sie der Ort der tätigen Auseinandersetzung mit dessen Unwägbarkeiten ist. Beschränken wir uns an dieser Stelle auf das Tätigsein254 , dann hat der auf die Bewältigung von Belastungen zurückzuführende Fortschritt der Technik nicht uneingeschränkt zur Kulturentwicklung beigetragen, sondern zu einem mit der – sekundären – Entlastung von schwerer Tätigkeit einhergehenden Problemen geführt, das Gehlen mit Alexis Carrel als Entartung des Menschen beschreibt: „Zur Höchstentwicklung des Menschen bedarf es einer Energieleistung aller Organsysteme. Der amerikanische Physiologe Carrel hat in einem sehr wichtigen Buch »Der Mensch, das unbekannte Wesen« [...] unter dem Kapitel »Anpassung« die These entwickelt, daß der Mensch unter den modernen Zivilisationsbedingungen (Komfort) entartet.“255 Nicht nur Erziehung, sondern auch Belastungen sind also notwendig für eine dem Leben entsprechende Charakterbildung. Dies verdeutlicht Gehlen in Der Mensch mit Rückgriff auf das „Gesetz der notwendigen Anstrengung“256 , das Carrel im Umfeld der Anpassungsfunktionen257 des menschlichen Körpers entwickelt.258 Hiermit entwirft er ein Bild vom Menschen als eines Wesens,
254
255
256 257 258
religiöse oder philosophische Systeme, in denen die Eigenart des Volkes zum Ausdruck kommt. Der Begriff »Kultur« grenzt ab“ (Norbert Elias, Über den Prozeß der Kultur, Erster Band, Frankfurt am Main 1997, S. 91). Dass sich auch Gehlen wie der hier von Elias mit den „Blüten auf den Feldern“ zitierte Oswald Spengler auf Blütezeiten der Kultur bezieht, die ihren Niedergang durch den Prozess der Zivilisation erfahren, werden wir in der Analyse seines auf Vico zurückführbaren Schemas kultureller Entwicklungen im dritten Kapitel näher analysieren (Abschnitt 3.3.2). Vgl. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1920, S. 29. Dass der technische Fortschritt auch der sich in der Kultur verwirklichenden Tendenz des Lebens zu mehr Leben entgegenwirkt, beschreibt Gehlen mit dem von Nicolai Hartmann übernommenen Begriff der „Realrepugnanz“ (GA 3.1, S. 467), den ich im dritten Kapitel genauer analysieren werde (vgl. Abschnitt 3.3.2). GA 3.1, S. 439f.; vgl. Alexis Carrel, Der Mensch – Das unbekannte Wesen, Stuttgart 1950, S. 259ff.; vgl. auch: GA 4, S. 19: „Der Anpassungsvorgang an allzu bequeme Lebensbedingungen heißt Entartung.“ Alexis Carrel, a.a.O., S. 302; GA 3.1, S. 440. Vgl. Alexis Carrel, a.a.O., S. 259ff. Tatsächlich lassen sich am Begriff des dem Menschen eigenen Vermögens der Anpassung durchaus Übereinstimmungen zu Gehlens Konzept der eigentätigen Entlastung des Mängelwesens feststellen. So bestimmt auch Carrel den Menschen als ein nicht auf einen Lebensraum festgestelltes, sich im Gegensatz zum Tier an allen möglichen Orten am Leben erhaltendes Wesen: „Weit besser als die Lebewesen aus der Tierwelt passt er sich den wechselnden Bedingungen seiner Umgebung an. Mag er noch so oft auf physikalische, wirtschaftliche und soziale Weise entwurzelt sein, er bleibt am Leben“ (Alexis Carrel, a.a.O., S. 261).
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dessen Körper und Geist dazu geschaffen sind, den Härten einer feindlichen Umwelt zu widerstehen. Einen den in ihm angelegten Fähigkeiten entsprechenden Charakter entwickelt er daher auch nur in einem von Erziehung, Entbehrungen und dem Umgang mit widrigen Lebensumständen geprägten Umfeld: „Wir wissen, welche physische und moralische Stärke Menschen besitzen, die von Kindesbeinen an einer vernünftigen Zucht unterworfen waren, gewisse Entbehrungen kennengelernt und sich widrigen Lebensumständen angepasst haben.“259 Der Mensch, so lässt sich der so umrissene Anpassungsbegriff im Anschluss daran in Gehlens Termini zurückübersetzen, kann keinen Charakter in vollem Sinne mehr entwickeln, sofern er sich nicht mehr an schwierige Lebensbedingungen anpassen muss, also von den Anstrengungen eigentätiger Entlastungen enthoben, d.h. entlastet ist. In eben dieser Weise macht Gehlen den Begriff der Anpassung nebst dem Gesetz der notwendigen Anstrengung für seinen Entlastungsbegriff fruchtbar, indem er auf die zur Entwicklung von Charakter im emphatischen Sinne notwendigen Anstrengungen – also: Belastungen – hinweist: „Die Thesen Carrels bestätigen von der Physiologie her den Satz, daß der Mensch, als handelndes Wesen, bis in die vegetativen Tiefen seiner Physis auf Arbeit und Handlung abgestimmt ist; was Carrel Anpassung nennt, ist der Umsatz von Reserveenergien, die nur von angestrengter Tätigkeit beansprucht werden, und dieser Umsatz heißt Gesundheit.“ 260 Das mit der Vorstellung der notwendigen Belastungen verbundene Problem tritt nicht nur in dem Begriff der „Entartung“261 hervor. Dieses Problem zeigt sich überdies darin, dass er Entartung mit der eigentümlichen „Bewußtseinsstruktur des zivilisierten Menschen“262 in Verbindung bringt, die sich ob dessen „entlasteter Funktionen“263 der dienenden Aufgabe des eigenen Bewusstseins für das Handeln nicht mehr gewahr ist. Aus dieser Perspektive des vom Handeln entlasteten Geistes kann er der tatsächlichen Funktion des Bewusstseins weder im Handlungsvollzug noch im theoretischen Zugang gerecht werden: 259 260 261
262 263
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Alexis Carrel, a.a.O., S. 309. GA 3.1, S. 442. Ebd., S. 440; vgl. Alexis Carrel, a.a.O., S. 299: „Bei Armen wie bei Reichen führt Müßiggang zur Entartung. Kino, Konzerte, Radio, Autos und Sport sind kein Ersatz für vernünftige Arbeit. Noch haben wir das bedeutungsvolle Problem der Mußezeit nicht im entferntesten gelöst, das durch den wirtschaftlichen Aufschwung, die Technisierung und die Arbeitslosigkeit geschaffen wurde.“ GA 4, S. 11. Ebd.
„Diese dienende und nützliche Aufgabe leistet jedoch das Bewußtsein des Kulturmenschen nicht [...] Nichts verhindert entschiedener eine vernünftige, d.h. glaubhafte Auffassung des Menschen von sich selbst als diese Situation, wenn man sie für selbstverständlich hält. Das ist sie nicht, sondern die Bewußtseinsstruktur des zivilisierten Menschen gehört genauso zu den Zivilisationserscheinungen wie etwa die ungemeine erotische Reizbarkeit desselben, die die Reklame-, die Vergnügungs-, die Sportindustrie oft ausnutzen: Es ist das typische Luxurieren entlasteter Funktionen.“264 In den nun folgenden Untersuchungen zu Gehlens Triebtheorie wird umso deutlicher, dass er den Idealzustand einer möglichen Entlastung des Menschen in den Lebensbedingungen und Institutionen längst vergangener Kulturen ansiedelt. Damit einhergehend ist einsichtig, dass der Fluchtpunkt seiner Aussagen über ein dem Leben angemessenes Bewusstsein keineswegs deckungsgleich mit dem in weitem Maße von schwerer Tätigkeit entlasteten Bewusstsein ist, das nicht zuletzt für die Perspektive des den Menschen als Vernunftwesen begreifenden Aufklärers unentbehrlich ist.
1.7 Antrieb und Bewusstsein In Kenntnis dieser grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Erfahrung können wir wieder an Gehlens anthropologisches Hauptwerk Der Mensch anknüpfen, in dem er sich einer detaillierten Analyse des Verhältnisses von Antrieb, Handlung und Bewusstsein widmet. Gehlen entwickelt dort ausgehend vom Theorem des Mängelwesens eine von der Überschüssigkeit und völligen Unbestimmtheit des menschlichen Trieblebens ausgehende Theorie der Formierung von Antriebsenergien durch Hemmung im Handeln. In der parallel dazu entwickelten Theorie der Distanznahme im Bewusstsein zeigt sich einerseits, dass der Mensch nur Handeln kann, weil er ein Moment des Nichthandelns zwischen einen verspürten Antriebsdruck und den Handlungsvollzug zu setzen vermag. Andererseits geht damit einher, dass Gehlen in seiner Theorie des Menschen keinen Raum für ein die zweckmäßigen Vollzüge des Lebens erkennendes Bewusstsein lässt: Weil das Bewusstsein in seiner Außenwendung auf die sich im Handeln stellenden Problemlagen angelegt ist, kann es die Zweckgerichtetheit lebendiger Prozesse nicht begreifen. Angesichts einer ihm trotzdem legitim erscheinenden Ahnung von einer zweckmäßigen Einrichtung der Natur zeigt sich nicht nur theorieintern das Problem der Annahme einer sich dem Leistungsvermögen menschlicher Erkenntnis ver264
Ebd. Angesichts einer solchen Ausführung stellt sich natürlich die Frage, was wir uns unter »Vernunft« vorzustellen haben, wenn es die wesentliche Funktion des Geistes sein soll, zur Steuerung der Bewegung in die Handlung eingebunden zu sein.
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bergenden Zweckmäßigkeit des Irrationalen. Darüber hinaus tritt hervor, dass Gehlen entgegen seiner auf die Handlung bezogenen Herleitung des menschlichen Trieblebens einen auf den Lebensprozess zurückführbaren und sich dem bewussten Zugriff verbergenden Trieb im Menschen voraussetzt, der darin besteht, seine konstitutive Fremdheit gegenüber dem Leben durch verpflichtende Selbstdeutungen aufzuheben. Schließlich lässt sich ausgehend vom Substanzbegriff des Menschen zeigen, warum die spätere Hinwendung Gehlens zu bestimmten Grundtrieben schon in seiner Vorstellung von der substanziellen Disharmonie zwischen Mensch und Leben angelegt ist. 1.7.1 Formierte und kanalisierte Triebe Gehlens Analyse des menschlichen Antriebslebens nimmt ihren Ausgang wiederum im Mensch-Tier-Vergleich und der Feststellung, dass das Tier in seiner Umwelt als einer festgelegten „Ordnung und Harmonie, die man unter dem Begriff der »Biozönose« untersucht“265 , lebt. In diesem Zusammenhang formuliert er die Frage nach der Beschaffenheit des menschlichen Seelenlebens folgendermaßen: „wie muß das Bedürfnis- und Antriebsleben eines solchen Wesens gebaut sein?“266 Die erste uns schon bekannte Antwort darauf lautet, dass die menschlichen Antriebe nicht a priori auf den Umgang mit ganz bestimmten Problemen im Hier und Jetzt festgelegt sein können. In der uns schon bekannten Dialektik des auf das Mängelwesen zugeschnittenen Entlastungsbegriffs bedeutet diese Annahme, dass die spezifisch menschliche Lebensführung nur unter den belastenden Bedingungen eines weltoffenen und überschüssigen Antriebslebens notwendig wird und gleichzeitig dieses die Bedingung der Möglichkeit der Verfügbarkeit von Welt ist. Genauso wie beim zunächst noch ungelenkt plastischen Bewegungsapparat267 muss von einer unbestimmten „Plastizität der menschlichen Antriebe“268 als Voraussetzung eines durch das Handeln auf alle möglichen Interessen und Bedürfnisse eingestellten „sekundär triebhaft[en]“269 Seelenlebens ausgegangen werden. Ein geordnetes Seelenleben ergibt sich im Zusammenspiel von Antrieb und Bewegung dann daraus, dass die überschüssigen Antriebsenergien als festgestellte Bedürfnisse und Interessen mit den erworbenen Handlungsmöglichkeiten korrespondieren: „die Bedürfnisse müssen den Handlungen nachwachsen,
265 266 267 268 269
74
GA 3.1, S. 53. Ebd. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 174. Ebd., S. 418.
ganz eindeutige Umstände erhalten und die sachumgehenden Tätigkeiten mit umfassen.“270 Hiervon ausgehend lässt sich von Sublimierung der Antriebsenergien im Sinne einer sich in gegenseitiger Abhängigkeit vollziehenden Ausdifferenzierung sekundär erworbener Antriebs- und Verhaltensstrukturen sprechen. Angesichts der angenommenen Unbestimmtheit menschlicher Triebe ist hervorzuheben, dass Gehlen keine im freudschen Sinne verlaufende Umbildung beziehungsweise einen Verzicht auf immer schon vorauszusetzende Grundtriebe meint. So wendet er sich in Der Mensch ausdrücklich gegen die ihm letztlich willkürlich erscheinende Annahme bestimmter a priori vorauszusetzender Triebe, die als die eigentliche Ursache menschlicher Verhaltensweisen in der Kultur verstanden werden – und betont demgegenüber die Abhängigkeit der menschlichen Bedürfnisse vom Handlungsvollzug.271 Gehlen spricht diesbezüglich von einer gemessen an ausdifferenzierten Instinkten grundsätzlichen „Entdifferenzierung“272 des Trieblebens, womit wir uns die vorbewussten ganz genauso wie die bewussten Antriebe des Menschen immer als eine sich erst in der Folge der sich durch die Sublimierung im Handeln vollziehenden sekundären Differenziertheit vorzustellen haben.273 Diesbezüglich wie auch Freud von einer notwendigen Hemmung der menschlichen Triebenergien auszugehen, steht gerade nicht unter den Vorzeichen eines grundsätzlich mit der Kulturbildung einhergehenden Verzichts auf die Befriedigung vorauszusetzender Triebe.274 270 271 272 273
274
Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 388. Ebd., S. 422. In diesem Sinne betont Gehlen die Abhängigkeit des Trieblebens vom Handeln in Abgrenzung zu all jenen Theorien, die schon bestimmte Triebe voraussetzen: „Es muß jetzt deutlich geworden sein, wie hoffnungslos es ist, die Charaktere und Tätigkeiten auf gesonderte und angeborene, inhaltlich schon ausgerichtete Triebe, Instinkte usw. zurückzuführen zu wollen [...] Man denkt nicht daran, daß solche Antriebe aus komplizierten äußeren und inneren Bedingungen entstehen, daß sie stets überdeterminiert sind, und zwar auf einem Wege, der nicht zurückzuschließen ist, weil diese Lebensantriebe bestimmt sind, nach vorne gelebt und umgesetzt, nicht aber nach rückwärts abgefragt werden“ (GA 3.1, S. 416f.). Vgl. Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, London 1940, Bd. XI, S.15: „Wir glauben, die Kultur ist unter dem Antrieb der Lebensnot auf Kosten der Triebbefriedigung geschaffen worden, und sie wird zum großen Teil immer wieder von neuem erschaffen, indem der Einzelne, der neu in die menschliche Gemeinschaft eintritt, Opfer an Triebbefriedigung zu Gunsten des Ganzen wiederholt.“ Vgl. dazu Gehlens Anmerkung zu Freuds »Totem und Tabu«: „Jede soziale Betätigung, das ist die Grundthese, ist entweder selbst ausgesprochener sexueller Natur oder »der Ausdruck zielgehemmter Libido, die vom Sexualtrieb herrührt, aber in andere Kanäle der Auswirkung als die ausgesprochenen sexuellen abgeleitet wird«. Solche Absurditäten wurden bei Freud nur hingenommen, weil sie wie ein Podest wirkten, auf das er seine Leser hinaufschickte, um ihnen von da aus zahlreiche bedeutsame Einzelheiten sichtbar zu machen, wobei sie bald vergaßen, wie luftig und gebrechlich ihr Standort war“ (StZ, S. 109).
75
Unter diesen Voraussetzungen nimmt seine Beschreibung des sich in Tätigkeit zu formierenden Antriebslebens ihren Ausgang in dem uns bereits bekannten Umstand, dass der Mensch seine Bewegungsmöglichkeiten unabhängig von bestimmten Instinktschemata entwickeln muss. Von Kindesbeinen an ist seine Entwicklung deshalb wesentlich dadurch bestimmt, sich Weltinhalte – in noch näher zu beschreibenden kommunikativen Kreisbewegungen275 – ohne den Druck bestimmter Antriebe bzw. schon festgelegter Interessen und Bedürfnisse anzueignen: „Die Welt wird also in bedürfnisfreien (selbst entlasteten), kommunikativen Bewegungen und Aktionen »durchgegangen«, ihre offene Fülle in Erfahrung gezogen, »erkannt« und abgestellt, und dieser Prozeß, welcher den größten Teil des kindlichen Alters ausfüllt, hat als Resultat die uns gegebene Wahrnehmungswelt.“276 Trotz dieser in sich widersprüchlichen Rede von einer Entlastung von bereits festgelegten Bedürfnissen, also Instinkten, haben wir es hier wiederum mit der Dialektik des Mängelwesens zu tun – ist hiermit doch die Instinktlosigkeit und damit eine zu bewältigende Belastung als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Handelns und dem sich daraus ergebenden Seelenleben umrissen. Die damit auch angenommenen Chancen als Möglichkeit der eigentätigen Formierung der Antriebsenergien ergeben sich aus deren konstitutiver Hemmbarkeit; zu bestimmten Interessen hoch gezüchtete Antriebe gehen daraus hervor, dass die zunächst nach plastischen Antriebsenergien277 in Prozessen der Hemmung formiert werden: „Die menschlichen Antriebe sind also angelegt auf eine »Herauszüchtung«, auf eine Entwicklung zur Verteilung an die Welttatsachen hin, und sie folgen den Handlungen: es ist einsichtig, daß sie dies nur deswegen können, weil sie auch hemmbar sind und ablösbar von der Handlung.“ 278 Das entscheidende Moment der formierenden Antriebslenkung besteht in der möglichen Distanz, in die der Mensch zu seinem Innenleben zu treten vermag, was Gehlen mit dem Begriff eines möglichen „Hiatus“279 als Leerstelle zwischen Antriebsdruck und Handlungsvollzug beschreibt. Der Mensch kann seine Antriebe formieren, weil diese schon aufgrund seiner Instinktlosigkeit nicht fest an bestimmte Bewegungsabläufe geknüpft sind: „es besteht eine weitgehende Unabhängigkeit der Handlungen sowie des wahrnehmenden und denkenden Bewußtseins von den eigenen elementaren 275 276 277 278 279
76
Vgl. Abschnitt 2.2. GA 3.1, S. 39. Vgl. ebd., S. 47. Ebd., S. 398. Ebd., S. 55.
Bedürfnissen und Antrieben oder die Fähigkeit, beide Seiten sozusagen »auszuhängen« oder einen »Hiatus« freizulegen.“ 280 Die Funktion des Hiatus in der Entwicklung von Handlungen und der Formierung des Antriebslebens lässt sich wie folgt rekonstruieren: Schon aufgrund der Nichtfestgestelltheit des Antriebslebens besteht ein Bruch zwischen den überschüssigen Antrieben und dem Handlungsvollzug. Dieser Hiatus erweist sich als der creative gap des Umgangs mit der Welt, der erst ermöglicht, dass Bewegungen weltoffen im Umgang mit den Objekten entwickelt werden und die Bedürfnisse diesen Handlungen nachwachsen können. Im Anschluss daran ist es diese durch Hemmung aufrechterhaltene Leerstelle zwischen Antrieb und Handlungsvollzug, die für den bewussten Umgang mit der Welt verantwortlich zeichnet. Der Mensch kann sein Leben planend auf die Zukunft ausrichten, weil ihm formierte Antriebe – also bestimmte Interessen und Bedürfnisse, mithin durch Erfahrungen festgestellte Willensbestimmungen – in dem durch die Hemmung seines Handelns aufrechterhaltenen Hiatus verfügbar sind: „Diese Fähigkeit, die Antriebe »bei sich zu behalten«, das einsichtige Verhalten unabhängig von ihnen zu variieren, legt überhaupt ein »Inneres« erst bloß, und dieser Hiatus ist, genau gesehen, die vitale Basis des Phänomens Seele.“281 Hiervon ausgehend stellt Gehlen ein Modell der fortschreitenden Sublimierung des noch nicht festgelegten Antriebslebens vor. So sind die sekundär erworbenen Bedürfnisse im Sinne der sich flexibel auf die gegebenen Umstände einstellenden Entlastungen des Mängelwesens frei verfügbar und für alle möglichen Handlungen formierbar. Diesbezüglich spricht er von einer Bezugnahme menschlicher Bedürfnisse aufeinander. Damit ist die Fortentwicklung des menschlichen Antriebslebens als eine Verfeinerung der schon bestehenden Willensbestimmung durch gegenseitige Einflussnahme aufeinander gemeint. Darauf aufbauend nehmen bestimmte Interessen und Bedürfnisse eine quasiinstinktive Form an, indem sie auf die Gegebenheiten der Kulturwelt eingestellt sind. Als Rahmen des durch Handlungen veränderbaren flexiblen Seelenlebens sind diese als die „subjektiven Korrelate objektiver Institutionen“282 unabdinglich, indem sie über den Wechsel der jeweiligen Bedürfnisorientierung hinaus als charakterlich verankerte Grundentscheidungen und Überzeugungen bestehen bleiben. Mit Blick auf die grundsätzliche Überschüssigkeit der Antriebe haben wir uns die erzieherische Aufgabe der Institutionen schließlich nicht nur in einem qualitativen Sinne vorzustellen. Damit ein auf die Zukunft gerichtetes Han280 281 282
Ebd. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58.
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deln möglich wird, ja schon, dass sich der Mensch allmorgendlich in Bewegung setzt und die „Sisyphusleistung täglicher Daseinsbewältigung“283 in Angriff nehmen kann, muss er sich von seinem Triebdruck entlasten, d.h., seine Antriebsenergien in die festen Bahnen grundsätzlicher, ihn zum Handeln motivierender Bedürfnisse und Interessen gelenkt haben. Wirkliche Entlastung vom Druck seines überschüssigen Trieblebens findet dort statt, wo sich der Mensch keiner drängenden Triebe bewusst ist, weil er deren überschüssige Energie beständig durch verinnerlichte Handlungsgewohnheiten abführt: „Gesund nennen wir also das Triebleben, wenn es in feste Ordnungen beherrschter und ausgewählter Kraft umgemünzt, in Handlungsgewohnheiten gefaßt und an die objektive Welt hinverteilt ist. Wo es also keine sogenannten »Triebe« mehr gibt, dort ist das Triebleben zu der natürlichen Ordnung gekommen.“284 Angesichts der schon mit dem Gesetz der notwendigen Anstrengungen umrissenen Möglichkeit eines aufgrund seiner Entlastung vom Tätigsein nicht in Einklang mit dem Leben stehenden Charakters ist dem als negative Seite gegenüberzustellen, dass sich die Dialektik aus Be- und Entlastung nicht immer in einer dergestalt gesunden, dem Leben angemessenen Weise auflöst; es kennzeichnet vielmehr das Lebensrisiko des Menschen, an dieser Aufgabe auch scheitern zu können. So geht mit dem Umstand, dass das Antriebsleben per se erst noch in Form zu bringen ist, immer auch die Möglichkeit einher, dass sich kein bzw. ein nicht den Anforderungen des Lebens angemessener Charakter entwickelt. Mit Blick darauf versteht Gehlen den Menschen als „das gefährdete oder »riskierte« Wesen, mit einer konstitutionellen Chance, zu verunglücken.“285 Dass Gehlen sich an späterer Stelle trotz dieser auf das Handeln bezogenen Rekonstruktion des menschlichen Trieblebens doch für das Vorhandensein von Grundtrieben ausspricht, entspricht vordergründig einer inkonsistenten Argumentation. So operiert er in Moral und Hypermoral mit dem vorauszusetzenden Sexual- und Aggressionstrieb des Menschen, was er selbst als eine Revision der These vom sekundären Triebleben bezeichnet.286 Bei genauerer 283 284 285 286
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Ebd., S. 60. Ebd., S. 438. Ebd., S. 30. Vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969), hg. von KarlSiegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004, im Folgenden zitiert als »MH«, S. 37: „In Übereinstimmung mit der Verhaltensphysiologie wird hier die Aggressivität als eine empirisch nachweisbare, biologische Vereigenschaftung aufgefaßt, und wir geben zu, ihre Bedeutung in dem Buche »Der Mensch« nicht genügend berücksichtigt zu haben. Nach Sigmund Freud, der zuerst die volle Bedeutung der Frage erkannte, hat Konrad Lorenz unser Wissen an dieser Stelle bereichert“. Vgl. Arnold Gehlen, Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie (1952), in: GA 4, S. 127-142, hier: S. 133; S. 216. Zur Revision der Gehlen-
Betrachtung liegt der Fall aber doch etwas anders: Tatsächlich stellt diese Sichtweise weniger den Befund des sich in der kompensatorischen Tätigkeit des Mängelwesens ausdifferenzierenden Trieblebens infrage, als hierin das grundlegende Problem seiner Theorie hervortritt, der in dem Bruch zwischen Funktions- und Substanzbegriff des Menschen besteht. So kann er das Triebleben des Menschen einerseits mit Blick auf den Funktionsbegriff des Mängelwesens als das sich erst im entlastenden Tätigsein ausdifferenzierenden Antriebslebens beschreiben, womit hinsichtlich der formierenden Sublimierung keine Rede von schon vorhandenen Trieben sein kann und muss.287 Andererseits leitet er aus der angenommenen Disharmonie des Menschen mit dem Leben die Vorstellung der harmonischen Abgestimmtheit von Antriebsleben und Kultur ab, die in der Folge der mangelnden Anstrengungen in der Tätigkeit und der genauso fehlenden Antriebsformierung durch Erziehung in der modernen Zivilisation nicht mehr gegeben ist. Aus dieser substanziellen Perspektive heraus wird es dann plausibel, dieses als eine Rückkehr zur „Entdifferenzierung“288 des Triebe zu verstehen und gleichzeitig von einer der Annahme einer Instinktlosigkeit des Menschen widersprechende „Elargierung von Instinktresiduen [sic]“289 zu sprechen. Der Mensch verfällt so verstanden in der modernen Zivilisation wieder in einen disharmonischen Zustand, den Gehlen dann in einer genauso substanziellen Betrachtung mit problematisch werdenden Grundtrieben290, etwa in Bezugnahme auf Konrad Lorenz mit dem Aggressionstrieb, in Verbindung bringt:
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schen Triebtheorie vgl. Wolf Lepenies, Hartmut Nolte, Kritik der Anthropologie, München 1971, S. 83; Christian Thies, Gehlen zur Einführung, a.a.O., S. 91ff.. Bezöge Gehlen allein diese Perspektive, dann wären auch die problematischen Trieblagen wie übermäßige Sexualisiertheit und Aggression auf das Handeln zurückzuführen, wie er diese Auffassung auch selbst noch in Der Mensch in der Unterscheidung zwischen pathologischem und gesundem Triebleben nahelegt: „Gesund nennen wir also das Triebleben, wenn es in feste Ordnungen beherrschter und ausgewählter Kraft umgemünzt, in Handlungsgewohnheiten gefaßt und an die objektive Welt hinverteilt ist. Wo es also keine sogenannten [!] »Triebe« mehr gibt, dort ist das Triebleben zu der natürlichen Ordnung gekommen“ (GA 3.1, S. 438). Die »sogenannten Triebe« sind in ihrer bestimmten Ausformung nicht vorauszusetzen, sondern werden als solche in Abhängigkeit zu einem nicht in festen Bahnen verlaufenden Handeln verspürt und dann als Sexual- oder Aggressionstrieb bezeichnet – in diesem Sinne eben so genannt. MH, S. 79. Ebd. An der von mir aufgezeigten Kontinuität seines Denkens, die in dem immer mitgeführten Unterschied zwischen substanzieller und funktionaler Bestimmung des Menschen liegt, zeigt sich deutlich, dass Gehlen nicht erst in Moral und Hypermoral, wie von Lepenies und Nolte bemerkt, „das Paradox eines ethischen Programms auf der Grundlage eines biologischen Determinismus“ (Wolf Lepenies / Helmut Nolte, a.a.O., S. 83) vertritt. Obwohl Gehlen dort erst – etwa im Kapitel „Physiologische Tugenden“ (MH, S. 49ff.) – das moralische Verhalten direkt aus der biologischen Konstitution des Menschen abzuleiten sucht, vertritt er mit seinem Konzept des Zusammenhangs von Naturteleologie und Institutionen immer schon die Vor-
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„In seinem berühmten Buche »Das sogenannte Böse« sagt Konrad Lorenz, für die modernen Kulturverhältnisse mit ihrem technischen Vernichtungspotenzial sei der Mensch, in seiner Instinktausstattung gesehen, nicht »gut genug«, d.h. die Hemmungsmechanismen seiner Aggressivität, die gegenüber persönlichen Bekannten in der Regel ganz zuverlässig sind, funktionieren nicht mehr, wenn es um Ferntötung geht. Der Ausdruck das »sogenannte« Böse weist also auf eine Disharmonie [sic] in der Antriebsstruktur hin, insofern mit der Auftürmung der Technik die Aggressivität keineswegs umgekehrt reduziert würde.“291 In diesem Sinne geht es ihm auch in der vermeintlichen Revision seiner Trieblehre nicht wie Freud darum, das Problem der unbefriedigten Triebe als ein grundlegendes kulturstiftendes Moment herauszustellen, sondern einzig um deren problematisches Auftreten als Defizit der modernen Zivilisation. Hiermit allerdings erweist sich Gehlen, der seinen Blick auf die Kultur selbst als eine „Philosophie des Pessimismus“292 bezeichnet, als ein Anhänger des von Freud kritisierten Kulturpessimismus, weswegen sich die Umrisse einer nach Gehlens Dafürhalten dem Leben entsprechenden Kultur in Gegenüberstellung zu Freuds Ausführungen über das Unbehangen in der Kultur293 konturieren lassen. So schließt Freud aus dem Umstand, dass für den Menschen der Gegenwart der Sexual- und Aggressionstrieb zum Problem wird294 , darauf, dass es das Wesen des Lebens in der Gemeinschaft einer Kultur überhaupt ist, durch ihre Anforderungen an den Einzelnen dessen ansonsten ungehemmte Triebe zu beschränken: „Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der einzelne keine solche Schranken kannte.“295 In der Bestimmung des Menschen als ein Kulturwesen muss demnach davon ausgegangen
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stellung, dass die Moral durch den im Menschen wirkenden Naturprozess determiniert ist bzw. sein soll. Dass Gehlen auf dieser Folie jedwede Moral im Sinne rationaler Selbstbestimmung als Unmoral bestimmt, werde ich an späterer Stelle zeigen (vgl. Abschnitt 2.5.1). MH, S. 186. Gehlen bezieht sich hier offenbar auf das letzte Kapitel von Das sogenannte Böse, in dem Konrad Lorenz allerdings keineswegs explizit davon spricht, dass der Mensch nicht »gut genug« sei. Allerdings weist er darauf hin, dass die moderne Gesellschaft keine angemessenen Abführmöglichkeiten für den menschlichen Aggressionstrieb bereitstellt. Vgl. Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, Wien 1963, S. 363. Vgl. GA 4, S. 133. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders. Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main 1994, S. 29-108. Vgl. ebd., S. 80: „Wenn wir gegen unseren gegenwärtigen Kulturzustand mit Recht einwenden, wie unzureichend unsere Forderungen an eine beglückende Lebensordnung erfüllt, wieviel Leid er gewähren läßt, daß wahrscheinlich zu vermeiden wäre, wenn wir mit schonungsloser Kritik die Wurzeln seiner Unvollkommenheit aufzudecken streben, üben wir bestimmt unser gutes Recht und zeigen uns nicht als Kulturfeinde.“ Ebd., S. 61.
werden, dass der kulturelle Fortschritt immer nur um den Preis einer Hemmung ausgelebter Sexual- und Aggressionspotenziale zu haben ist. Bei aller berechtigten Kritik an einer spekulativen Hypostase von bestimmten Grundtrieben hat so zu verfahren sein Recht darin, eine Erklärung für das uns schon Bekannte zu liefern: Wir wissen, dass mit den gegenwärtigen kulturellen Errungenschaften bestimmte problematische Konstellationen bezüglich unserer Triebneigungen bestehen, was eine Untersuchung der kulturellen Entwicklung dorthin unter eben diesen Vorzeichen sinnvoll erscheinen lässt. Freud, so lässt sich mit wenigen Worten sagen, parallelisiert zwischen Ontogese und Phylogenese des Menschen in der Weise, dass wir uns die Kulturenwicklung wie das Erwachsenwerden des menschlichen Individuums vorzustellen haben. Beschränken wir uns auf die mit dem Sexualtrieb als Liebesbedürfnis in Verbindung gebrachten Glückserwartungen, so hat sich der Mensch als Gattungswesen aufgrund seiner fortschreitenden Selbstständigkeit im Umgang mit der Welt durch kulturelle Errungenschaften296 von der kindlichen Vorstellung eines liebevoll für ihn sorgenden Weltganzen lösen müssen. Wo Liebe und Not – „Eros und Ananke“297 – noch die „Eltern der menschlichen Kultur“298 in totemistischen Kulturen zu nennen sind, schwindet mit der kulturell-technischen Befreiung von der Not auch der beglückende Zustand eines in der Kultur aufgehobenen Liebesbedürfnisses: „Aber das Verhältnis der Liebe zur Kultur verliert im Laufe der Entwicklung seine Eindeutigkeit. Einerseits widersetzt sich die Liebe den Interessen der Kultur, andererseits bedroht die Kultur die Liebe mit empfindlichen Einschränkungen.“299 So problematisch der gegenwärtige Zustand auch sein mag und so drastisch wir ihn uns gerade auf der Folie der Freudschen Theorie vorzustellen haben, ist die uns hier interessierende Argumentation Freuds ganz eindeutig: Wir profitieren von den „Wohltaten, die wir dem viel geschmähten Zeitalter der wissenschaftlichen und technischen Fortschritte verdanken“300 und dürfen daher auch keine „Kulturfeinde“301 werden, wenn wir uns die unbefriedigten Glücksvorstellungen in unserer Kultur vor Augen führen. So wenig wie wir wieder Kinder werden können, kann auch die Kultur nicht an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, weshalb es des erwachsenen Umgangs mit den Problemen unserer Triebe in einer durchaus ins Lebensdienliche umgearbeiteten Welt bedarf. 296 297 298 299 300 301
Ebd., S. 54. Ebd., S. 66. Ebd. Ebd., S. 68. Ebd., S. 54. Ebd., S. 80.
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Kommen wir zurück zu Gehlen, so stimmt er in seiner späten Annahmen über Sexual- und Aggressionstrieb wohl noch soweit mit Freud überein, dass sich hiermit spezifische Probleme der Moderne aufzeigen lassen. Weil er diese allerdings vor dem Hintergrund einer möglichen Entsprechung von Lebensprozess und Antriebsleben entwickelt, fasst er diese Problemlage gerade nicht als eine anthropologische Konstante auf, die sich überdies mit einem fortschreitenden Erwachsenwerden menschlicher Kultur noch verschärft. Nicht zuletzt mit der uns schon aus den Überlegungen zum Wesen der Erfahrung geläufigen Redeweise von der sich in den kleinen Entlastungen entwickelnden „»erwachsenen« Weltsicht“302 , die den großen Entlastungen noch gegenübergestellt ist, wird vielmehr deutlich, dass Gehlen keineswegs zwischen individuellem Erwachsensein und dem Zustand einer dem Menschen entsprechenden Kultur parallelisiert. In dieser an anderer Stelle explizit gegen Freud ins Feld geführten Denkfigur wächst der Erwachsene vielmehr selbst noch über sich hinaus, indem er von oben her an Orientierung durch die Erziehung in den Institutionen gewinnt: „Denn die höheren und geistigen, sozusagen überpersönlichen gewordenen Formen des Willens sind die Zuchtprodukte allgemeiner, den einzelnen überragender und ihn zu sich heraufziehender Verhältnisse.“303 Vor diesem Hintergrund dieses von Gehlen als „anthropologische Konstante“304 beschriebenen Phänomens der durch die Deutungen in den Institutionen hergestellten Orientierung ist die gegenwärtige Problemlage bezüglich der Antriebsenergien auch nicht einem letztlich zu begrüßenden kulturellen Fortschritt geschuldet, sondern als ein Zeichen der umfassenden Regression in der modernen Zivilisation zu bewerten. In Abwesenheit von Kultur im emphatischen Sinne, in der seine Antriebsenergien kanalisiert werden, indem das Individuum über sich selbst hinauswächst, „vernatürlicht“305 und „primitivi-
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GA 4, S. 14. StZ, S. 110. US, S. 138. Es ist bemerkenswert, dass sich der Begriff der anthropologischen Konstante bei Gehlen m.W. nur an dieser einen Stelle findet, an der er sich auf die „das Innere“ (ebd.), d.h. das Antriebsleben des Menschen, formierende Identifikation des Menschen mit einer bildlichen Deutung seiner selbst – hier dem Totemtier – bezieht. Er weist damit auf den „neuen Status“ (ebd.) hin, den der Mensch durch diese kulturell vermittelte Formierung seiner Antriebe erwirbt. An anderer Stelle bezeichnet er diesen Zusammenhang als ein durch die Institutionen gewährleistete „Über-sich-Hinauswachsen“ (StZ, S. 130) des Menschen. Hier von einer Konstante des menschlichen Daseins zu sprechen ist insofern bemerkenswert, als Gehlen diese Form der Triebformierung in der Gegenwart als nicht mehr gegeben sieht. GA 4, S. 132.
siert“306 der Mensch und wird somit „auf die natürliche Unstabilität seines Instinktlebens“307 zurückgeworfen. Dass Gehlen diesbezüglich einen „Gegen-Rousseau“308 beschwört, dessen Wahlspruch „Zurück zur Kultur!“309 lautet310, muss schon ob der Engführung von Leben und Kultur geradezu als ein dialektischer Rousseauismus aufgefasst werden – bedeutete es doch eine Rückkehr zu einer der menschlichen Natur in einem substanziellen Sinne und damit dem Leben entsprechenden Kultur.311 Es liegt die Vermutung nahe, diese in der von Freud apostrophierten Kindheit der Menschheit zu verorten. Und tatsächlich weisen Freuds Überlegungen zum Ursprung der Kultur in Not und Liebe auch durchaus in die Richtung, nach welchen Maßgaben wir uns diese der menschlichen Natur und damit dem Leben selbst entsprechende Kultur vorzustellen haben. So kennen wir einerseits schon die in Anlehnung an Carrel entwickelte Annahme von der Notwendigkeit der Belastungen einer körperlich anstrengenden Lebensführung, die Gehlen an anderer Stelle tatsächlich mit dem Freudschen Aggressionstrieb in Verbindung bringt: „Die beiden großen Kanäle, in denen die Menschen jahrtausendelang den Aggressionstrieb abführten, sind verstopft: nämlich die schwere körperli-
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Ebd. Ebd. Diese Vorstellung findet noch ihren Eingang in Gehlens Theorie der modernen Malerei, indem er etwa den Expressionismus darauf zurückführt, dass „der Künstler im Sinne der industriegesellschaftlichen Mentalität Instinkte der Aggressivität und Beunruhigung ausleben will“ (Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie uns Ästhetik der modernen Malerei, dritte, erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1986, im Folgenden zitiert als »ZB«, S. 151). GA 4, S. 132. Ebd. Dass Gehlen sich selbst als diesen Gegen-Rousseau sieht, liegt nur allzu nahe und die Gründe dafür, dass er auf Grund seiner pessimistischen Weltsicht eine entsprechende Popularität nicht erreichen konnte auch, wie dieses etwa Karlheinz Weissmann bemerkt: „Man geht wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, daß Gehlen sich selbst als diesen „Gegen-Rousseau“ gesehen hätte, aber im Vergleich zu jenem fehlte ihm doch die Breitenwirkung, ein Mangel an Popularität, der angesichts der gebotenen Lehre nicht verwundern kann“ (Karlheinz Weissmann, Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus, Schnellroda 2004, S. 80). Vgl. Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 189: „In seinem [Gehlens, S.W.] berühmten Aufruf »Zurück zur Kultur« ist jene Ambivalenz des Natur-Kultur-Verhältnisses, die Freuds Rede vom »Unbehagen in der Kultur« noch durchzieht, gänzlich verschwunden, und an deren Stelle tritt ein Rousseauismus mit umgekehrten Vorzeichen: Dem Zerrbild einer unverfälschten Ursprungsnatur wird lediglich eine komplementäre Verzeichnung entgegengehalten, nämlich eine erklärtermaßen züchterische Auffassung von »Kultur«, deren widernatürliche Prägungskraft sie per se legitimiert.“ Dieser Beschreibung ist, wie ich es hier skizziere und im dritten Kapitel ausführlich zeigen werde, hinzuzufügen, dass es Gehlen nicht allein um die Prägung durch die Institutionen, sondern wesentlich um die durch sie hergestellte Beheimatung des Menschen im Leben geht. Kultur ist in diesem Sinne also gerade nicht als widernatürlich zu verstehen. Vgl. Abschnitt 3.1.
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che Arbeit und die doch bis zur Empfindung des mühelosen Tötens mit der Feuerwaffe recht harmlosen Fehden und Raufereien.“312 Andererseits können wir aus dem bereits Besprochenen auch das zweite von Freud hervorgehobene Moment bei Gehlen in Umrissen nachzeichnen. So ist auch ungeachtet der späteren Annahme von Grundtrieben, das Bedürfnis, die Fremdheit des Seins313 aufzuheben, als ein Trieb zu verstehen. In eben diesem Sinne beschreibt Gehlen das „Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins“314 als einen durch die Tendenz des Lebens bedingten, sich in der Urphantasie kundtuenden und tief im Menschen verankerten Trieb: „Vor allem müßte eine solche Potenz des Lebens zu »mehr Leben« sich beim Menschen in der Tiefe seiner Antriebsschicht irgendwie »rückmelden«.“315 Dass wir uns die Erfüllung dieses Triebs in einer Kultur des sympathetischen Zusammenhangs im Weltganzen vorzustellen haben, wird mit Blick auf das mythische Bewusstsein316 in der Analyse der Kulturtheorie Gehlens in Kapitel 3 gezeigt. Dort werden wir sehen, dass Gehlens Vorstellung von dem in uns wirkenden irrationalen Leben mit der Annahme eines sehr spezifischen Triebs im Menschen operiert, nämlich dem schon von Freud herausgestellten Bedürfnis nach Liebe.317 Eine der menschlichen Natur entsprechende Kultur ist demnach eine solche, in der sich durch die bestehenden Belastungen und das durch die großen Entlastungen bedingte sympathetische Entgegenkommen der Welt „Eros und Ananke“318 noch entsprechen. Wie genau Mensch und Lebensprozess einmal aufeinander abgestimmt gewesen sein sollen, erweist sich 312 313
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Vgl. GA 4, S. 134. Einen solchen Trieb beschreibt Gehlen schon in seiner Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist (Arnold Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie (1931), in GA 1, S. 113-383) mit dem Begriff des Seinstriebs, der sich in der Hinwendung zum Leben von seiner Bindung an empirische Gegenstände lösen soll, damit er seine Erfüllung in Liebe und Not in ihren unterschiedlichen Ausprägungen erfährt: „Das ist die Grundregel. Wer noch empirische Wünsche und Ziele hat, hat nicht den geringsten Grund, über das Absolute nachzudenken. Bildlich kann man sagen, daß wir einen Seinstrieb und eine Art überschüssige Daseinskraft haben, die zu verwenden die Arbeit unseres Lebens ist: es macht einen transzendentalen Unterschied, ob wir diesem Seinstrieb an empirische Gegenstände noch hängen können. Hiermit ist gar keine »Askese« gemeint. Sondern es ist gefordert, daß jemand die großen und einfachen Möglichkeiten der Welt – es sind wenige – realisiert und in sich hineingenommen habe. Dazu gehört: die Liebe, die fruchtbare Liebe – das Kind –, das Glück und das Unglück im empirischen Sinne, wie Ruhm, Reichtum, Not; die Heimat, die Fremde, die Krankheit; der Tod eines Nächsten; die Jugend, die Leistung und die Erfahrung, was Altern heißt; Kampf, Sieg, Erfolg und Enttäuschung ... wenig mehr“ (GA 1, S. 377). GA 3.1, S. 3. Ebd., S. 379. Vgl. Abschnitt 3.5.2. Vgl. Abschnitt 3.1. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 66.
damit allerdings als eine sich unserer modernen Bewusstseinsstruktur genauso verschließende Spekulation, wie es sich schon bei dem hier zugrunde gelegten Begriff der Zweckmäßigkeit des Lebens um eine nicht durch die Fähigkeiten des erkennenden Verstandes abgedeckte Annahme handelt. Letzteres nimmt Gehlen tatsächlich selbst in seinen Ausführungen über die Leistungsfähigkeit des Bewusstseins an. 1.7.2 Distanznahme im Bewusstsein Wenden wir uns in einer ersten Annäherung319 der parallel zur Antriebshemmung im Inneren stattfindenden Distanznahme im bewussten Umgang mit den Phänomenen der Außenwelt zu, dann ist auch diesbezüglich auf den Hiatus und damit das Aufschieben des unmittelbaren Handlungsvollzugs als dessen Bedingung hinzuweisen. So beschreibt der durch Antriebshemmung aufrechterhaltene Hiatus als Leerstelle zwischen einverleibten Antrieben, d.h. möglicher Willensbestimmung und den tatsächlichen Handlung, auch die Perspektive, aus der heraus das denkende Bewusstsein – der »Geist« im Sinne von Verstand – zwischen der äußeren Welt und den darauf bezogenen Modi eines möglichen Handelns vermittelt:320 „Dieses Aufschieben schafft also einen Leerraum, einen Hiatus zwischen den Bedürfnissen und den Erfüllungen, und in diesem Leerraum liegt nicht nur die Handlung, sondern auch alles sachgemäße Denken, das ebensowenig antriebsgestört sein darf wie die Handlung, wenn es richtig und fruchtbar sein soll.“321 Die geistigen Funktionen des Menschen sind nur von diesem Hiatus her verstehbar, der die Möglichkeit einer gleichermaßen zur den äußeren Phänomenen als auch seinem inneren Antriebsdruck distanzierten und diese bewusst realisierende Stellungnahme zur Welt eröffnet: Wir erleben uns als Handelnde mit bestimmten Interessen und Handlungsmöglichkeiten in der Welt aus dieser nicht in den Handlungsvollzug eingebundenen Zwischenstellung des Hiatus322 nach innen genauso wie nach außen. 319
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Eine ausführliche Analyse der aus dem Umgang mit den äußeren Dingen hervorgehenden symbolischen Bezugnahme auf die Welt folgt in Kapitel 2. Daher steht an dieser Stelle nur eine knappe Skizze der gehlenschen Konzeption des sich zur Handlungssituation distanzierenden Bewusstseins. Vgl. GA 3.1, S. 304f. Ebd., S. 396. Gehlen beschreibt diese handlungslose Perspektive des Hiatus in dem in der überarbeiteten Fassung aufgenommenen Referat zu Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (GA 3.1, S. 304ff.) als gleichbedeutend mit dessen Theorem der aufgrund der Distanznahme zu sich selbst als exzentrische Positionalität zu verstehenden Bewusstseinsstruktur des Menschen. Hierin tritt allerdings weniger eine konzeptionelle Nähe zu dessen anthro-
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Gehen wir dem außerordentlichen Leistungsvermögen des menschlichen Bewusstseins im Umgang mit den äußeren Tatbeständen nach, dann lässt sich diese Perspektive also seinerseits aus den fehlenden Instinkten und der damit verbundenen Möglichkeit herleiten, Distanz zwischen Handlungsmöglichkeit und Handlungsvollzug zu schaffen. Diesbezüglich ist es als positiver Ertrag der Bewältigung der Belastung menschlichen Daseins zu sehen, sich in immer weiter von den äußeren Eindrücken distanzierten symbolischen Bezugnahmen auf die Dinge in der Welt zu bewegen. Dabei gehen die Chancen der bewussten Lebensführung mit der sich in der Bewältigung der sich stellenden Aufgabe in den unterschiedlichen Formen der Bewegungen steigenden Leistung der Bezugnahme auf die Welt durch Distanznahme im Bewusstsein hervor. Gehlen stellt dieses in einer Hierarchie der durch eigentätige Entlastung hervorgebrachten Bewegungsmöglichkeiten des Menschen vor: Das Können von einfachen Köperbewegungen eröffnet die Möglichkeit des sich in Sprache bewegenden Bewusstseins, das wiederum die Bedingung der Möglichkeit der reflektierten Bezugnahme auf die Welt im Denken ist. Er fasst diese sich erweiternde Distanznahme mit dem Begriff einer die Leistungen des Handelns erweiternden Verschiebung der Schwerpunktbildung im Bewusstsein. Durch diese treten die weitaus abstrakteren und umfassendere Vorstellungen für zukünftiges Handelns ermöglichenden Formen des Geistes an die Stelle der in den Körperbewegungen internalisierten Symboliken: „In diesem Sinne bedeutet Entlastung: daß die Schwerpunktbildung im menschlichen Verhalten zunehmend in die »höchsten«, nämlich die mühelosesten, nur andeutenden Funktionen fällt, also in die bewußten oder geispologischen Programm als die Übernahme dieses Begriffs von Plessner zutage: An der von Gehlen angenommen Handlungslosigkeit der Reflexion wird deutlich, dass es sich trotz der von Plessner übernommenen Auffassung, dass der Mensch mit dem Hiatus „zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen“ (Helmuth Plessner, a.a.O., S. 363; vgl. GA 3.1, S. 304) vermag, um unterschiedliche Konzeptionen von Bewusstsein handelt. Wo es Plessner – wie von Gehlen so auch referiert – um die Integration von reflexiver Bezugnahme auf sich selbst und dem Leib als „Einheit“ (Helmuth Plessner, a.a.O., S. 365) und „unaufhebbarer Doppelaspekt“ (ebd.) geht, ist es der uns schon bekannte Kern der Gehlenschen Theorie, den Bruch zwischen Reflexion und der Integration von Leib und Bewusstsein in der Handlung herauszustellen. Plessner zeichnet diesen Unterschied dadurch auf, indem er im Vorwort der zweiten Auflage der Stufen die auf die Aktion bezogenen empirischen Analysen Gehlens als zu kurz gegriffen kritisiert: „Im Aspekt der Aktion wird jedenfalls die verhängnisvolle Aufspaltung menschlichen Seins in eine körperliche und eine nichtkörperliche Region vermieden (...) Wer wie Gehlen Empirist sein will, hat ein Recht auf ein solches Verfahren“ (ebd., S. 24) An anderer Stelle ergänzt Plessner: „Das pragmatische Kleid behaviouristischen Zuschnitts passt ihm [dem Menschen, S.W.] nicht. Menschliches Verhalten lässt sich nicht auf ein Schema bringen, nicht auf das der Kettenreflexe aber auch nicht auf das des zweckgerichteten Handelns“ (ebd., S. 27). Zu Gehlens Übernahme nicht nur des Begriffs des Hiatus, sondern auch des Topos, dass der Mensch sein Leben führt, von Helmuth Plessner vgl. Joachim Fischer, a.a.O., S. 177.
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tigen, und so ist dieser Begriff geradezu ein Schlüsselbegriff der Anthropologie: er lehrt uns, die höchsten Leistungen des Menschen mit seiner physischen Beschaffenheit und seinen elementaren Lebensbedingungen im Zusammenhang zu sehen.“323 Der erste Schritt dieser Schwerpunktverlagerung besteht in der Entlastung des Tastsinns durch das Sehen: Was sich zunächst durch den direkten Kontakt in der Bewegung erschließt, wird jetzt durch den einfachen Blick erfasst. Die Symbolizität des Sehens geht daraus hervor, sich von der Überflutung durch äußere Reize zu entlasten, indem nur bestimmte Ausschnitte des Wahrnehmbaren als Symbol für den gesehenen Gegenstand genommen werden. Der Mensch verschafft sich also ganz buchstäblich eine »Übersicht« in der Welt, indem er den größten Teil der überhaupt möglichen Eindrücke übersieht. Wir können unsere Handlungssituation demnach „mit einem Blick“324 erfassen, indem aus dem Meer der auf uns einströmenden Eindrücke nur ein Bruchteil als Symbol für den möglichen tätigen Umgang mit der Welt wahrgenommen wird. Gleichzeitig übersieht das Auge weit mehr als bloß visuelle Eindrücke, indem es in der Entlastung der Hände auch taktile Erfahrungen mit einbezieht: Ohne sie erst berühren zu müssen, sehen wir den Dingen ihre Materialbeschaffenheit in den meisten Fällen schon an. In der Folge der sich hier anschließenden als Bewegung zu verstehenden325 sprachlichen Bezugnahme auf die Welt ermöglicht es die fortschreitende Distanz zur unmittelbaren Situation, dass längere Phasen der bewussten Planung zwischen Zwecksetzung und Handlung eingeschoben werden. An dieser Stelle setzt das erkennende Bewusstsein ein: Indem sich der Mensch zur Handlungssituation distanziert und dadurch von dem Druck entlastet ist, sich bewusst um die unmittelbaren Probleme kümmern zu müssen, kann er sich auf die rational planende Vorwegnahme von Handlungsmöglichkeiten verlegen. Gehlen nennt dieses planende Denken ein „Probehandeln“326, das dem Menschen unter anderem Raum zur Fortentwicklung technischer Apparaturen gibt. Hiermit zeigt sich der menschliche Lebensvollzug als derjenige eines fundamental auf Technik eingestellten Wesens. So wird mit der Distanznahme zur unmittelbaren Handlungssituation Werkzeuggebrauch und Technik gleichermaßen erforderlich wie möglich: „Zwischen die Handlung und deren Ziel werden Mittelglieder eingeschoben, die ihrerseits Gegenstand eines abgeleiteten und umwegigen Interes323 324 325 326
GA 3.1, S. 69. Ebd., S. 67. Vgl. Abschnitt 2.3. GA 3.1, S. 310. Inwiefern Gehlen hiermit eine Entwicklung vom Handeln zur Handlungslosigkeit der Reflexion vorlegt, die in der Abfolge Handlung, Ersatz-Handlung und Probehandlung verläuft, ist Gegenstand der Untersuchungen im nächsten Kapitel.
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ses werden, und nicht den zufälligen Gebrauch eines vor Augen liegenden Werkzeugs für nächste Zwecke, sondern die Herstellung eines Werkzeugs für einen fernen Zweck halten wir für menschliches Tun. Was also von außen gesehen indirektes, variables, die Unmittelbarkeit übergreifendes Verhalten ist, ist von innen gesehen planendes, voraussehendes, je von höheren Zentren aus gesteuertes.“327 In diesem Verhältnis zwischen Distanznahme zur unmittelbaren Handlungssituation und instrumentellen Zwecksetzung tritt die funktionalistische Ausrichtung des Erkenntnisbegriffs Gehlens zutage. Etwas zu erkennen oder zu verstehen bedeutet, es in der entsprechenden Zwecksetzung auch letztlich im Handeln herstellen zu können.328 Rationales Erkennen haben wir uns in einem strengen Sinne in den Zusammenhang des Bewusstseins als Organ der Handlungsführung im Umgang mit den empirischen Gegebenheiten gestellt vorzustellen. In seiner Zweckgerichtetheit auf den Handlungsvollzug ist es damit „zuerst Hilfsmittel im Dienste der Vollkommenheit des organischen Prozesses, also nicht dazu bestimmt, diesen Prozeß zu erkennen.“329 Diese Einsicht bedeutet wiederum, dass ihm die Erkenntnisfähigkeit bezüglich des zweckmäßig – hinter dem Rücken seines Bewusstseins – im Menschen wirkenden Lebens abgesprochen werden muss: „Unser von Anfang an nach außen gewendetes, auf Erfahrung und Kommunikation mit Anderen angelegtes Bewußtsein gibt uns daher von der allgemein durchscheinenden großartigen Zweckmäßigkeit des organischen Geschehens keine annähernde Kenntnis“.330 Als blinder Fleck des sich schrittweise von der unmittelbaren Handlungssituation distanzierenden Bewusstseins erweist sich damit eben jener Prozess des Lebens, in den es selbst eingebunden ist, mithin das „»Wie« des Existierens und Bewältigens, das wir eben sind und vollziehen“331. Im selben Moment spricht trotz dieser Annahme nach Gehlens Dafürhalten nichts gegen die berechtigte Ahnung einer sich in diesem »Wie« der eigentätigen Entlastung mit vollziehenden Zweckgerichtetheit des Lebens: „Wir können nur ahnen, daß mit der bloßen Existenz, geradezu mit der Durchführung der Bewegungen des Lebens, schon ein »Problem« gelöst wird, und zwar mit einer Vollkommenheit, die jeder Erkenntnis spottet.“332 Diese Ahnung ist nicht nur der Grund dafür, dass Gehlen sich in der eigenen Theorie berechtigt sieht, Zweckmäßigkeit in der Natur anzunehmen. Sie 327 328 329 330 331 332
88
GA 3.1, S. 68. Vgl. ebd., S. 347ff. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Ebd. Ebd.
drückt sich überdies im Vollzug des menschlichen Daseins in seinen bildlichen Deutungen aus, indem der Mensch als lebendiges Wesen die Ahnung einer Sinnhaftigkeit des Lebens in sich selbst vorfindet, die sich nicht in einem begreifenden Verstehen, sondern anhebend mit der Urphantasie in seinen Selbstdeutungen widerspiegelt: „eine »Ahnung« unbestimmt tiefer Verwickelung in das, worauf es im Leben ankommt, könnten wir durchaus haben, und an dieser Stelle würde die Urphantasie erscheinen.“333 In einer näheren Bestimmung beschreibt Gehlen diese Ahnung mit dem Begriff einer „unbestimmten Verpflichtung“334, die sich bei genauerem Hinsehen als das Mittelglied zwischen der Instinktlosigkeit des Menschen und der instinktiven Eingepasstheit des Tieres verstehen lässt. Wo das Tier durch seine Instinkte fest und harmonisch in der Welt verortet ist, findet der Mensch in sich nur noch die noch unbestimmte Disposition dazu vor, sich auf bestimmte Verpflichtungen festzulegen, denen er dann in quasi instinktiven Feststellungen institutionell vermittelten Sollens habhaft wird: „Dies ist die instinktive Wurzel des »Sollens«, die unbestimmte Verpflichtung [...] Die Verpflichtung ist unbestimmt, weil es angeborene, biologisch sinnvolle Antworten nicht mehr gibt und nicht geben kann, weil der Auslösereiz selbst unspeziell und sozusagen neutral geworden ist, so daß nur noch ein Reaktionsdruck bleibt“.335 Leben und moralisches Sollen, so Gehlens Herleitung, treffen sich also in der Ahnung einer zunächst noch unbestimmten Verpflichtung, die mit den durch die Urphantasie hervorgebrachten Selbstbildern des Menschen korrespondiert und so zu einer bestimmten Pflicht wird. Dass Gehlen hiermit eine auf die Zweckmäßigkeit des Lebens zurückgeführte Auffassung moralischem Sollens vertritt, dessen geistiger Gehalt nicht mit dem Leistungsvermögen der Erkenntnis korrespondiert, lässt sich in seiner Systematik anhand der Kategorie der Entlastung zeigen, mit der Gehlen alle geistig vermittelten Handlungsvollzüge des Menschen zu integrieren sucht.
333 334 335
Ebd., S. 381; vgl. zu diesem Zusammenhang Dieter Claessens, a.a.O., S. 36f. GA 3.1, S. 381. Arnold Gehlen, Über die Verstehbarkeit der Magie, in: Arnold Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied am Rhein 1963, S. 85.
89
1.8 Die Kategorie der Entlastung: Ein Schichtenmodell Mit dem Prozess des sich schrittweise von der unmittelbaren Handlungssituation distanzierenden Bewusstseins tritt jene Dimension des Entlastungsbegriffs hervor, die sich auf den mit dem Begriff der Schwerpunktverschiebung umrissenen, sich von der Tastbewegung bis ins rationale Erkennen erstreckenden hierarchischen Aufbau der unterschiedlichen Handlungsvollzüge in gegenseitiger Entlastung bezieht. Für Gehlens Theorie des Menschen als das zweckmäßig zum Handeln eingerichtete Wesen ergibt sich diesbezüglich wiederum das Problem, deren gegenseitige Abhängigkeit in einem Zusammenhang aufzuzeigen, ohne in dem Sinne teleologisch zu argumentieren, dass ein zweckgerichtet auf das rational erkennende Bewusstsein zulaufendes Bedingungsverhältnis vorliegt. Er begegnet diesem Problem in Anlehnung an Nicolai Hartmanns schichtenontologischen Modell mit der Kategorie der Entlastung336: „Ich will hier schon ein Beispiel geben. Es betrifft die fundamentale Kategorie der »Entlastung«. Das Denken, Vorstellen und Phantasieren ruht, wie sich zeigen wird, auf einem breiten Unterbau »sensomotorischer« Funktionen, die über Hand, Auge und Sprache laufen. Es wäre eine unerlaubte Vereinfachung, wollte man deshalb erstere auf die letzteren »zurückführen« oder aus ihnen entstehen lassen. Andererseits ist kein Zweifel an dem Bestehen dieser Fundierung.“ 337 Blicken wir etwas genauer auf die der Kategorie der Entlastung zugrunde gelegte Schichtenontologie, dann ist Hartmanns Rekonstruktion des menschichen Bewusstseins genauso wie diejenige Gehlens vor allem als Einwand gegen jegliche Spielarten der Bewusstseinsphilosophie zu verstehen, der, so Hartmann, ausgehend vom Bewusstsein dessen tatsächliche Abhängigkeit von einem Aufbau ontologischer Schichten entgeht: „Alles Gerede von einem »Bewußtsein überhaupt« oder auch nur einem »transzendentalen Bewußtsein« ist demgegenüber ein Vorbeireden am eigentlichen Sein des Bewußtseins.“338 336
337 338
90
Tatsächlich ist die explizite Annäherung an Hartmanns Ontologie erst in der überarbeiteten Fassung, nicht aber in der ersten Auflage von Der Mensch enthalten. So kritisiert Nicolai Hartmann es noch in seiner Rezension der ersten Auflage, dass Gehlen „den Schichtengedanken überhaupt für den Menschen ablehnt“ (Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland. Betrachtungen zu Arnold Gehlens Werk „Der Mensch (…)“, in: Blätter für Deutsche Philosophie 15 (1941/42), S. 159-177, hier: S. 175).Vgl. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorielehre, Berlin 1940. Kap. 55, S. 512 ff. Vgl. zu dieser Besprechung Joachim Fischer, a.a.O., S. 757. GA 3.1, S. 15. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., S. 514.
Gegenüber eines solchen vermeintlich überbordenden Anspruchs an das Bewusstsein geht Hartmann davon aus, dass der rational objektivierende Geist auf den ontologisch unterhalb seiner selbst stehenden seelischen Schichten ruht, diese wiederum auf der organischen und jene wieder auf der materiellen Seinsschicht, ohne dass er aus diesen Schichten erklärt oder auf diese zurückgeführt werden könnte.339 Hartmann beschreibt diese ontologische Differenz zwischen den Schichten mit den vier Gesetzen der »kategorialen Dependenz«340, die in dem Gesetz der Stärke, der Indifferenz, der Materie und der Freiheit.341 bestehen. Nach dem ersten Gesetz, dem Gesetz der Stärke, begreift er die niederen und damit der Materie näher stehenden Schichten als die stärkeren und breiteren, die jeweils höheren als die entsprechend schmaleren und schwächeren. Innerhalb dieses sich pyramidal auf den relativ schwachen Geist zuspitzenden Aufbaus stehen die Schichten dem zweiten Gesetz, dem Gesetz der Indifferenz, zufolge in »kategorialer Indifferenz« zueinander. Infolgedessen müssen wir von einem qualitativen Unterschied zwischen den Schichten ausgehen. Jede höhere Schicht stellt einen qualitativen Umschwung, mithin ein »kategoriales Novum« gegenüber der ihr zugrunde liegenden Schicht dar. Dabei geht Hartmann von einem Zugewinn an Komplexität aus: Organismen sind komplexer strukturiert als bloße Materie. Die seelischen Dispositionen bedeuten eine Komplexitätssteigerung gegenüber den bloß organischen Funktionen und das darauf aufbauende Bewusstsein des Menschen geht wiederum mit einem Zugewinn an innerer Komplexität einher. Entscheidend ist die Annahme Hartmanns, dass die jeweils komplexeren Organisationsform der nächsthöheren Schicht weder als Modell für die Erklärung auf die sie bedingende Schicht anwendbar ist, noch dass es der Zweck der jeweils unteren Schicht ist, dass die nächsthöhere Schicht entsteht. Mit Blick auf das menschliche Bewusstsein kann man also weder davon ausgehen, dass die Entwicklung von Geist bereits in der Materie angelegt ist, noch, dass sich die Materie aus der Perspektive des entwickelten Bewusstseins als Vorstufe seiner Entwicklung verstehen lässt. Das Sein der einzelnen Schichten ist vielmehr in teleologischer Hinsicht indifferent gegeneinander, obwohl die unteren Schichten das Sein der jeweils höheren Schichten bedingen: „Die niedere Kategorienschicht ist zwar Grundlage der höheren, aber sie geht in diesem Grundlagensein nicht auf. Sie ist auch ohne die höhere eine selbstständig determinierende Prinzipienschicht. Sie ist auch als Ganzes
339 340 341
Vgl. ebd., S. 516. Vgl. ebd., S. 512ff. Vgl. ebd., S. 519f.
91
nur »von unten her« bedingt, nicht »von oben her«. Sie ist gegen alles Höhere indifferent.“342 Die höheren Schichten in diesem Sinne als von unter her bedingt zu verstehen läuft auf das dritte Gesetz, das Gesetz der Materie, hinaus, das besagt, dass die unteren Schichten jeweils das verfügbare Material für die höheren darstellen. Einerseits bedeutet diese Zuordnung, dass der Organismus genauso wenig ohne das Vorhandensein von toter Materie bestehen, wie es keine seelischen Vorgänge ohne den Organismus geben kann. Das menschliches Bewusstsein ist schließlich nur unter der materialen Voraussetzung seelischer und der darunter liegenden Schichten möglich. Andererseits bedeutet das Material der jeweils höheren Schicht zu sein, dass der Organismus die Materie beherrscht, indem er sie nach seinen Maßgaben organisiert, die Seelenvermögen den Organismus steuern und sich das Bewusstsein schließlich der seelischen Dispositionen des Menschen bemächtigt; diese und damit auch die darunter liegenden Schichten also zu seinem verfügbaren Material macht. Von diesem Aufbau ausgehend beschreibt Hartmann schließlich mit dem vierten Gesetz, dem Gesetz der Freiheit, dass die Schichten zwar in diesem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, gleichzeitig aber die jeweils höheren autonom gegenüber den Anforderungen der sie bedingenden Schichten sind. Mit jeder höheren Schicht ist ein Zugewinn an Freiheit verbunden: „Sind die höheren Kategorien durch die niederen nur der Materie nach (oder selbst nur dem Fundament nach) bedingt, so sind sie ungeachtet ihres Schwächerseins doch notwendig in ihrem Novum den niederen gegenüber »frei« (autonom) [...] Freiheit hat immer nur das Schwächere gegen das Stärkere, weil es das Höhere ist. Es hat darum seinen Spielraum nicht »im« Niederen, sondern »über« ihm.“ 343 Ausgehend von dieser Herleitung und als eine ausdifferenzierende Ergänzung der Ontologie Hartmanns um anthropologische Kategorien versteht Gehlen den Leib des einzelnen handelnden Menschen als einen vertikalen Aufbau aufeinander ruhender Schichten des Handelns und damit des darin involvierten Bewusstseins, deren höchste und freieste Schicht das denkende Bewusstsein ist. Die in größerer Distanz zur Handlungssituation stehenden und damit freieren Funktionen des Denkens, Vorstellens und des Phantasierens ruhen in diesem Sinne auf dem den darunter liegenden Funktionen des Tastens, Sehens und des Sprechens:
342 343
92
Ebd., S. 520. Vgl. zu der auf diesem Schichtenaufbau basierenden Kritik des teleologischen Denkens Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, Berlin 1951. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., S. 520.
„Die hier einsetzende Kategorie der Entlastung meint nun, daß die Funktionen des Denkens und der Phantasie an den elementaren, mit Worten durchwobenen Tast- und Seherfahrungen ihre Beweglichkeit erhalten, daß sie die dort entwickelten Erfahrungen in einer sozusagen müheloseren und freieren Form fortsetzen, und daß gewisse Strukturen beider Bereiche nachweisbar identisch sind. Diese höheren Funktionen mögen, wie Nic. Hartmann in einer souveränen Rezension dieses Buches (Bl. f. Dt. Philos. 15, 1941) es ausdrückte, »den Apparat der Sprache wieder überflügeln und hinter sich lassen, könnten deswegen aber doch sehr wohl durch ihn vorerst einmal die Freiheit ihrer Spannweite gewonnen haben«“344 In diesem Aufbau stehen die einzelnen Schichten dadurch in »kategorialer Dependenz« zueinander, dass die höheren auf den unteren Schichten als deren materiale Bedingung ruhen, sich ihrer geistigen Verlaufsform nach jedoch im Sinne des Gesetzes der Indifferenz inkommensurabel mit diesen Schichten zeigen. Die vermittels der Bewegungen in den niederen Schichten vollzogenen Entlastungen und die damit einhergehenden geistigen Momente sind demnach von ganz anderer Art als die durch sie bedingten Funktionen sprachlicher und schließlich rational reflektierender Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. In diesem Sinne ist bereits der Übergang von der taktilen Handlungsführung zur Orientierung der Bewegungen an optischen Eindrücken mit einem kategorialen Unterschied verbunden, wie sich ein solcher auch im Übergang von der Körperbewegung in ein Handeln in Sprache zeigt. Hierauf ruhend übernimmt das rationale Erkennen die Führung des menschlichen Handelns, das sich seinen geistigen Gehalten nach wiederum von den darunter liegenden Schichten unterscheidet. Im Gegensatz zu einer Theorie der Verkörperung von Geist als eines allgemeinen in der Wirklichkeit vorgängigen Prinzips, wie es etwa in Hegels Anthropologie der Fall ist, kann hinsichtlich der kleinen Entlastungen von einer Theorie des aus den Vollzügen des Handelns hervorgehenden und sich alleie auf diese bezogen ausdifferenzierenden Geist gesprochen werden. Indem hier genauso wie bei Hartmann die unteren sowohl die Bedingung als auch das beherrschte Material der höheren Schichten des Handelns sind, kann dieser Zusammenhang als eine zunehmend im Sinne des Gesetzes der Freiheit differenziertere Begeisterung345 des Körpers verstanden werden, indem jede einmal etablierte Schicht rückwirkend die Führung der unter ihr liegenden 344 345
GA 3.1, S. 15; vgl. Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie (...), a.a.O. S. 170. Die hilfreiche Unterscheidung zwischen einer Theorie der »Verkörperung von Geist«, wie diese etwa bei Hegel vorliegt, und einer in die Gegenrichtung verlaufenden Theorie des Geistes als Folge körperlicher Dispositionen, die mit dem Begriff der »Begeisterung« des Körpers gefasst werden kann, entnehme ich einem Redebeitrag von Volker Gerhardt auf der Tagung der Ernst-Cassirer-Gesellschaft, John Michael Krois zu Ehren, vom 3.-4. März 2011 im Warburg-Haus in Hamburg.
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Schicht innehat und damit also zuletzt die höchsten geistigen Schichten die umfassende Steuerfunktion über alle Schichten des Handelns übernehmen. Umgekehrt resultiert die Freiheit der höheren Schichten daraus, dass die sich unmittelbar stellenden Aufgaben von den niedrigeren Schichten übernommen werden. Der Zustand der handlungslosen Reflexion ist hiernach in dem Sinne als „höchster Grad der Entlastung“346 des handelnden Individuums zu verstehen, dass sich rein geistige Prozesse auf dem Sediment der Entlastung durch die unteren Handlungsschichten vollziehen.347 Gehen wir dem von Gehlen aufgezeigten Schichtenmodell des menschlichen Handelns weiter nach, dann versteht er den sich mit dem individuellen Entlastungen ausprägenden rationalen Umgang mit der Welt allerdings nicht als die höchste Instanz der Steuerung des menschlichen Handelns überhaupt. Vielmehr geht er in einer weiteren Adaption der Schichtenontologie Nicolai Hartmanns davon aus, dass die höchste mithilfe der Kategorie der Entlastung beschreibbaren Schichten der Handlungsführung diejenigen der Kultur, also der großen Entlastungen durch die Institutionen sind.348 Auch diesbezüglich muss im Sinne des Gesetzes der Indifferenz im Übergang von subjektivem Bewusstsein zu den institutionell vermittelten Gehalten von Geist von einer kategorialen Differenz ausgegangen werden. Das in den Institutionen vermittelte Sollen ist als eine über den individuellen Erfahrungshorizont hinausgehende Schicht des Verhaltens349 zu verstehen, in der sich die Erfahrungen ganzer Generationen verdichtet und deren geistiger Gehalte sich kategorial von denjenigen der unteren Schichten unterscheidet: „Die Eingewöhnung eines Sollverhaltens setzt, wie wir sahen, höhere und variable innere Möglichkeiten erst frei. [...] Jene Entlastung zu höherer Freiheit auf der Basis des Genormten und Eingewöhnten gilt, soweit wir sehen, allgemein. Es liegt hier ähnlich wie bei der Sprache: N. Hartmann hat einmal (Neue Anthropologie in Deutschland, BI. f. dt. Philos. XV, 1941) ausgeführt, daß die höheren geistigen Funktionen den »Apparat« der Sprache überflügeln und hinter sich lassen können, deswegen aber doch
346 347
348 349
94
GA 3.1, S. 344. Dass sich diese Vorstellung des sich im Handeln ausdifferenzierenden, den Körper begeisternden Bewusstseins allerdings nur auf die kleinen Entlastungen beziehen kann, wird schon anhand der oben gemachten Feststellung, dass der Mensch durch die großen Entlastungen mittelbar durch das Leben selbst entlastet wird, kenntlich gemacht. Gehlen, so werden wir an späterer Stelle sehen, muss tatsächlich ein sich im Leben durchsetzendes Prinzip, mithin einen Geist des Irrationalen, voraussetzen. Vgl. Abschnitt 3.3.2. Vgl. US, S. 106. Gehlen spricht diesbezüglich von unterschiedlichen „Verhaltensklassen“ (US, S. 105) in der Kultur, die nach der vorliegenden Analyse im Sinne des hier vorgestellten Schichtenmodells zueinanderstehen. Vgl. Abschnitt 3.3.
sehr wohl durch ihn die Freiheit ihrer Spannweite gewonnen haben mögen.“350 Institutionelle Deutungen von Welt ruhen so gesehen auf dem sich mithilfe des rationalen Erkennens in der Welt orientierenden Verhalten der Individuen in der Gesellschaft, ohne dass sie in den geistigen Bahnen dieses Bewusstseins verliefen und sich mit dessen Begriffen »verstehen« ließen. Demgegenüber sind die handelnden Individuen (systematisch gesehen) das »Material« der Institutionen351, indem diese ihnen als die „Oberste[n] Führungssysteme“352 bestimmte Verhaltensweise vorgeben. Indem Gehlen diese von oben an das menschliche Individuum herantretenden Gehalte der Institutionen, in denen der Mensch noch über sich selbst hinauswächst, mit der im Menschen wirkenden Zweckmäßigkeit des Lebens identifiziert, verlässt dieses Modell offenkundig die nicht teleologische Rekonstruktion des in die Schichten des Handelns eingebundenen Geistes. Gehlen, so lässt sich im Anschluss daran feststellen, schließt sich mit den in die Kategorie der Entlastung einfließenden Adaptionen bei Hartmann keineswegs dessen Programm einer Ontologie an, die dem teleologischen Denken überhaupt entgegentritt.353 Er ist vielmehr zu denjenigen teleologisch argumentierenden Denkern zu zählen, die sich in einer von Hartmann kritisierten Weise auf den Schichtenaufbau als einer zuletzt teleologisch zu ver350 351
352
353
US, S. 79; vgl. StZ, S. 132; vgl. Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie (...), a.a.O. S. 170. Eine entsprechende Wendung findet sich bei Gehlen, indem er davon spricht, dass das Seelenleben des Menschen durch die Institution des totemistischen Rituals das „Material eines gerichteten Handelns zu einem Ziel hin“ (US, S. 138) wird. GA 3.1, S. 453. Gehlen verwendet diesen Begriff in der Erstausgabe von Der Mensch noch als Überschrift für das dann später überarbeitete letzte Kapitel. Das spätere Weglassen dieser Überschrift ist, obwohl Gehlen auch in der Erstausgabe keineswegs den Führerstaat beschwört, durchaus eine Konzession an die sich wandelnden Umstände (vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 754; S. 782f.). Für unsere Untersuchung ist aufschlussreich, dass Gehlen an der „Bezeichnung selbst“ (GA 3.1, S. 453) auch in der überarbeiteten Fassung durchaus festhalten möchte und es als den wesentlichen Unterschied zur früheren Fassung dieses Kapitels herausstellt, die obersten Führungssysteme nicht direkt auf die „biologische Konstitution des Menschen“ (GA 3.1 S. 454), also: auf den Funktionsbegriff des Mängelwesens zurückzuführen. Vielmehr geht es ihm jetzt darum, diese Führungssysteme als „objektive Erscheinungen des Lebens“ (GA 3.1, S. 455) zu begreifen und damit „die teleologische Denkform“ (GA 3.1, S. 455) zugrunde zu legen. Nach unserer Analyse bedeutet diese Auffassung nichts anderes, als diesbezüglich vom Substanzbegriff des Menschen auszugehen. Auf diesen Unterschied verweist auch Peter Jansen in einer von mir nicht gemachten affirmativen Bezugnahme auf Nicolai Hartmann: „Damit [mit der teleologischen Konzeption des Schichtenaufbaus, S.W.] wird jedoch der methodisch legitime Ansatz in einen teleologisch zweideutigen Ansatz verwandelt; denn es ist vom Verständnis Gehlens vom Aufbau der Welt her, das sich an die Schichtentheorie in der ontologischen Kategorienlehre N. Hartmanns anschließt, nicht möglich, die Finaldetermination, die ursprünglich dem geistigen Bereich angehört, auf biologisch-organische Prozesse zu übertragen“ (Peter Jansen, a.a.O., S. 82f.).
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stehenden Abfolge beziehen.354 Dem zugrunde liegend beruht natürlich schon die nicht teleologisch angelegte Rekonstruktion des aus der gegenseitigen Entlastung der Medien menschlichen Handelns hervorgehenden rationalen Geistes auf einer teleologischen Prämisse: Gehlen lehnt eine auf den sich zuletzt selbst begreifenden Verstand, mithin die Vernunft des Menschen ausgerichtete teleologische Rekonstruktion dieses Geistes ja eben deshalb ab, weil er den menschlichen Leib als zweckmäßig auf den Handlungsvollzug hin eingerichtet versteht. Welche Probleme diese beiden Momente der im Menschen wirkenden Zweckmäßigkeit in der Natur für Gehlens Verständnis von Kultur als zweiter Natur und damit seiner Bestimmung des Begriffs der Freiheit aufwerfen, lässt sich ausgehend von Hartmann in einer Gegenüberstellung zu Kants Überlegungen zum Zusammenhang von Handlung, Freiheit und Naturzweck in der Kritik der teleologischen Urteilskraft rekonstruieren.
1.9 Teleologisches Denken und Freiheit Dass wir diesen Schichtenaufbau des menschlichen Handelns vor dem Horizont des zum Handeln bestimmten, sich in Disharmonie zum Naturgeschehen befindlichen Wesens vorzustellen haben, führt uns zurück an das Ausgangsproblem einer Zweckmäßigkeit des an sich irrationalen Lebensprozesses. In Übereinstimmung damit zeigte sich in Gehlens Bezugnahme auf das schichtenontologische Modell Hartmanns, dass er das teleologische Denken dort ablehnt, wo diese auf die Vernunft als Endzweck hinausläuft und damit zwangsläufig die Vernunft und nicht die Notwendigkeit zu handeln als das Wesensmerkmal des Menschen betrachtet. Sofern es also um die Ablehnung einer auf die Vernunft abgestellten Zweckmäßigkeit in der Natur geht, teilt Gehlen die ablehnende Haltung Hartmanns gegenüber teleologischen Erklärungsmustern. Deren Fehler besteht, so Hartmann, darin zu behaupten, dass „die Gebilde der niederen Schicht in deren ganzen Umfange die teleologische Tendenz besitzen, in die höhere Schicht aufzusteigen.“355 Hartmann argumentiert dagegen, dass unser Blick auf die Welt gerade keinen teleologischen Zusammenhang der Schichten ausmachen kann, sondern das Zustandekommen höherer Schichten immer nur Ausnahmen und glücklichen Umständen innerhalb eines völlig kontingenten Geschehens geschuldet ist: „Es ist nicht wahr, daß alles physisch-materielle Sein die Tendenz hat, zum organisch-lebendigen Sein zu werden; das Auftreten des Lebens im Weltall ist an Bedingungen gebunden, von denen es leicht einzusehen ist, daß sie in den kosmischen Zusammenhängen nur als seltene Ausnahme eintreten kön354 355
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Vgl. Nicolai Hartmann, Teleologisches Denken, a.a.O., S. 9. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., S. 531.
nen. Ebenso unwahr ist es, daß alles Lebendige die Tendenz haben, zum Bewußtsein zu gelangen; desgleichen, daß alles Bewußtsein zum geistigen Sein hin tendiere. Offenbar wird in der Welt nur der allergeringste Bruchteil des physischen Seins in organischen Gebilden hinaufgeformt. Nur gewisse Spitzenformen des Organischen sind es, an denen Bewußtsein auftritt (an den höheren Tieren). In beiden Fällen ist das Einsetzen des höheren Seins an die kategoriale Formung gebunden, die wir dem niederen in keiner Weise als seine „Bestimmung“ zuschreiben können. Die Erfahrung wenigstens gibt dafür nicht den geringsten Anhalt. A priori kann man darüber nichts wissen.“356 Ob ein solches Modell überhaupt zu tragen vermag, darf allerdings aus zweierlei Gründen bezweifelt werden. So verschleiert im Sinne Hartmanns zu argumentieren, dass die Rede von der Zweckmäßigkeit lediglich von oben her aus der Perspektive des Bewusstseins an diesen Aufbau erst herangetragen wird, dass auch dessen Ansatz nur aus eben dieser Perspektive möglich ist: Die Annahme der Zufälligkeit des menschlichen Daseins ist ganz genauso nur eine auf der Höhe des entwickelten Geistes mögliche Feststellung über den Zustand der Welt, wie diejenige von der Zweckgerichtetheit natürlicher Prozesse. Im Anschluss daran ist festzuhalten, dass bei aller Zufälligkeit der Bedingungen für menschliches Dasein deren Vorhandensein aus der Perspektive des Betrachters absolut notwendig ist: Wenn wir bewusste Aussagen über die Bedingungen für menschliches Bewusstsein treffen, dann sind diese notwendigerweise schon erfüllt. So gesehen bedarf es zwar der sich nicht allerorten einstellenden, zufällig vorhandenen materialen Bedingung dafür, dass verständig reflektierendes Bewusstsein entsteht; indem das Urteil über diesen Bedingungszusammenhang jedoch notwendigerweise immer schon das bestehende Bewusstsein voraussetzt, müssen auch diese Bedingungen als realer Bestandteil der Wirklichkeit dafür vorausgesetzt werden, dass diese vernünftige Reflexion überhaupt möglich ist. Es geht hiermit also um nichts anderes als die äußeren Erfüllungsbedingungen eines immer schon vorauszusetzenden Zwecks, weswegen die Annahme der zwecklosen Zufälligkeit auch nur für die äußeren Gegebenheiten, nicht aber für das durch sie bedingte und auf diesen Zusammenhang blickende Bewusstsein gelten kann – unsere Welt ist notwendigerweise so eingerichtet, dass sich reflektierendes Bewusstsein realisiert. In diesem Zusammenspiel zwischen Zweck und dessen Bedingungen hat sowohl die äußerlich zufällige als auch die teleologische Perspektive auf die Natur ihre Berechtigung. Infolgedessen führt uns Hartmanns Schichtenontologie direkt zu der von Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft behandelten Antinomie zwischen einer äußerlich-mechanischen Beschreibung 356
Ebd.
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von Organismen und einer Erklärung derselben nach Naturzweckmäßigkeit. Kants Gedankengang lässt sich wie folgt zusammenfassen: Angesichts der Antinomie zwischen einer sich auf die Zufälligkeit äußerer empirischer Bedingungen stützenden Erklärung des Naturganzen und einer teleologischen Beurteilung desselben, gilt es sich des Rechts der unterschiedlichen Perspektiven klar zu werden, die wir hier einnehmen. Seine Auflösung dieser Antinomie verläuft damit in denselben Bahnen wie diejenige der dritten Antinomie der reinen Vernunft, die auf dem für alles Handeln vorauszusetzenden Begriff der transzendentalen Freiheit basiert. Fast überflüssig ist zu erwähnen, dass Kant nicht von Bewegungen spricht, sondern den Begriff der Handlung allein im Hinblick auf rational zweckgerichtetes Tätigsein verwendet. Im Anschluss daran geht es ihm in der Kritik der teleologischen Urteilskraft darum, die Denkmöglichkeit von Freiheit auch in den außer uns liegenden Prozessen der Natur nachzuweisen und hiervon ausgehend die Kontinuität zwischen der in der Natur wirkenden Freiheit und dem menschlichen Vernunftvermögen aufzuzeigen. Dabei ist der uns schon in der Auseinandersetzung mit Gehlens metaphysischen Annahmen bekannte Umstand zu beachten, dass transzendentale Freiheit nicht empirisch nachgewiesen werden kann; mithin können wir in der äußeren Betrachtung der Welt nicht diejenigen Gründe wahrnehmen, die wir an uns selbst als freie Wesen erleben, wenn wir nach Zwecken handeln357 . In Analogie dazu dürfen wir auch von Zwecken in der Natur ausgehen, obwohl diese nicht unter dem Mikroskop oder sonst einem Instrument empirischer Naturforschung nachweisbar sind. Die Notwendigkeit für diesen Analogieschluss ergibt sich aus dem Zusammenwirken der empirisch messbaren Phänomene an einem lebendigen Wesen als Organismus. So ist es wohl die Aufgabe der Biologie, lebendige Organismen in ihren bestimmten Ausformungen äußerlich nach naturgesetzlich beschreibbaren empirischen Gesichtspunkten zu untersuchen.358 Deren Sein als sich selbst erhaltende Systeme lässt sich damit allerdings nicht erklären. Bei aller gebotenen Vorsicht können wir demnach nicht anders, als in der äußerlich-mechanischen Untersuchung eine für diese Organisation verantwortlich zeichnende Zweckmäßigkeit zu unterstellen: „Denn an die Stelle dessen, was (von uns wenigstens) nur als nach Absicht möglich gedacht wird, läßt sich kein Mechanism, und an die Stelle dessen, was nach diesem als notwenig erkannt wird, lässt sich keine Zufälligkeit, die eines Zwecks zum Bestimmungsgrunde bedürfte, annehmen, sondern 357
358
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Zu Kants Überlegungen zur gerechtfertigten Annahme von Freiheit aufgrund unseres eigenen Erlebens von Freiheit, wie es schon im Gebrauch des Personalpronomens in der ersten Person Singular hervortritt, vgl. Birgit Recki, Freiheit, Wien 2009, S. 74ff. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2009, im Folgenden zitiert als »KdU«, § 80, B 366f.
nur die eine (der Mechanism) der anderen (dem absichtlichen Technizism) unterordnen, welches nach dem transzendentalen Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur ganz wohl geschehen darf.“359 In dieser Vereinigung beider Prinzipien im Organismus ist schließlich ganz in Analogie zu rationalen Zwecksetzungen einsichtig, dass dessen empirische Merkmale als Mittel des in ihm wirkenden Zwecks und damit diesem untergeordnet gedacht werden müssen: „Denn wo Zwecke als Gründe der Möglichkeit gewisser Dingen gedacht werden, da muß man auch Mittel annehmen, deren Wirkungsgesetz für sich nichts einen Zweck Voraussetzendes bedarf, mithin mechanisch und doch eine untergeordnete Ursache absichtlicher Wirkungen sein kann.“360 Ohne hier eine detaillierte Darstellung der Analysen Kants vorzulegen, ist nachvollziehbar, dass er dieses in jedem Organismus anzutreffende Zusammenwirken von Mittel und Zweck als ein sich in der Natur ausdifferenzierendes Verhältnis begreift, über das die Zwecksetzungen immer unabhängiger von den Mitteln werden; sich so gesehen also der Spielraum der Freiheit erweitert. Hiervon ausgehend nimmt Kant es als eine „erlaubte Hypothese“361 der reflektierenden Urteilskraft an, das „Naturganze (die Welt)“362 als nach derjenigen Zweckmäßigkeit eingerichtete zu verstehen, dass sich größtmögliche Freiheit realisiert. In diesem Sinne kann der Endzweck des Naturganzen nur im Hervorbringen eines solchen Zwecks liegen, der sich völlig unabhängig von äußeren Bedingungen bestimmen kann, wie er einzig im Menschen „als Noumenon betrachtet“363 anzutreffen ist. Unter der Voraussetzung, dass sich Freiheit im vollen Sinne im Menschen nur in einem Handeln nach ihren Gesetzmäßigkeiten – also nach dem Moralgesetz – realisiert, kann Zweckmäßigkeit in der Natur nur auf die Hervorbringung eines sich moralisch bestimmenden Wesens hinauslaufen.364 Aus der auch von Gehlen herausgestellten Annahme Kants schließlich, dass die Natur nicht schon in jeder Hinsicht für das Fortkommen des Menschen gesorgt hat365, ihn vielmehr mit Verstand und Vernunft, mithin Freiheit und der „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken, wozu die Natur (äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden könne“366, ausgestattet hat, leitet Kant seine Bestimmung der Kultur als letzten Zweck der Natur ab. Der Mensch schafft demnach 359 360 361 362 363 364 365 366
KdU, § 78, B 360f. Ebd., § 78, B 361. Ebd. Ebd. Ebd., B 398. Vgl. ebd., B 398f. Vgl. GA 3.1, S. 32f.; vgl. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte (...), a.a.O., A 390ff. KdU § 83, B 388.
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Kultur, weil er frei ist und ist gleichzeitig der Kultur bedürftig, um wirklich frei sein zu können, d.h., um seine Vernunft und damit Moral zu kultivieren: „Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur. Also kann nur die Kultur der letzte Zweck sein, den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat“.367 Da es sich bei diesem letzten Zweck um die moralische Selbstbestimmung des Menschen handelt, weist Kant schließlich darauf hin, dass nicht jede Form der Kultur hierzu hinlänglich in der Lage ist. Wirkliche Freiheit herrscht nur in einer solchen Kultur, die den Menschen über die Befähigung zur geschickten Zwecksetzung auch zur moralischen Selbstbestimmung zu erziehen vermag. Seitens dieser Funktion der Erziehung des Menschen zur Vernunft ist eine dergestalt »hohe Kultur« als Endzweck der Natur zu verstehen.368 Wenden wir uns der Kategorie der Entlastung zu, dann offenbart sich das Problem unter der Annahme einer in den institutionellen Deutungen mündenden Naturzweckmäßigkeit noch etwas anders als bei Hartmann. Dabei argumentiert Gehlen zunächst genauso wie Hartmann von unten her und stellt es als eine Ergänzung dessen heraus, dass die Bedingung für das Auftauchen menschlichen Daseins eine noch größere Unwahrscheinlichkeit darstellt als das „Auftreten des Lebens im Weltall“369: „Sie ist nämlich schon eine organbiologische Unwahrscheinlichkeit, und diese exzeptionelle Organisation mußte erst erreicht sein, wenn in einer unableitbaren Weise die höheren Kategorien sich manifestieren sollten.“370 Weit unwahrscheinlicher als die bloße Existenz des Menschen und dessen subjektives Bewusstsein haben wir uns noch das Entstehen der darüber liegenden kulturellen Schichten vorzustellen. Die höchsten und damit auch freiesten Schichten menschlicher Hochkulturen sind daher – im Sinne des hartmannschen Gesetzes der Stärke – in einem weitaus höheren Maße als die Menschheit selbst in ihrem Bestehen gefährdet, weshalb deren Blütezeiten auch immer nur von kurzer Dauer sein kann: „Weiter lässt sich wahrscheinlich machen, daß die Vielheit und Divergenz menschlicher Antriebe es im allgemeinen nur zu unstabilen sozialen Gefügen kommen lassen, so daß die Bedingungen hoher Kulturschöpfungen in einem unwahrscheinlichen Gleichgewichtszustand vieler Unstabilitäten liegen. Daher die stets erstaunlich kurze Blütezeit der Kulturen: den Nie-
367 368 369 370
Ebd., B 391; vgl. GA 3.1, S. 419 Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kant, a.a.O., S. 261. GA 3.1, S. 72; vgl. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., S. 531. GA 3.1, S. 72.
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dergang der ägyptischen setzt Toynbee erstaunlich früh, nach dem Bau der Pyramiden und noch im Alten Reich an.“371 Bliebe es bei der sich allein auf deren Zufälligkeit berufenden Konzeption einer Abfolge von noch über das individuelle Bewusstsein hinausgehenden Schichten in kategorialer Differenz, dann träfe die Kritik an Hartmann in derselben Weise auch auf Gehlen zu. Auch die Beschreibung von Schichten des Handelns kann nicht anders, als deren Abfolge und Abhängigkeit aus der Perspektive des entwickelten Bewusstseins zu rekonstruieren und damit unter der Hand von einer auf darauf zulaufenden Zielgerichtetheit auszugehen. Das uns schon bekannte Modell bei Gehlen besteht allerdings darin, dass er mit dem Begriff des irrationalen Lebens durchaus ein teleologisches Modell vorstellt, dessen Fluchtpunkt er allerdings jenseits der Vernunft verortet. So führt er vordergründig der kantischen Argumentation folgend aus, dass wir die mittelbar für das Zustandekommen von Kultur verantwortlichen Mängelbedingungen des Menschen als Folge einer zweckmäßigen Einrichtung der Natur vorzustellen haben, indem er etwa in der Diskussion des weltoffenen Antriebslebens auf die Kritik der teleologischen Urteilskraft zurückgreift: „Wollte die Natur »die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt« (Kant, Kr. d. Urt. §83), und sie muß es wollen, um ein »Mängelwesen« lebensfähig zu erhalten, so mußten die Antriebe desselben diesen Bestimmungen entsprechen“.372 Stellen wir hier eine Verbindung zu der von Kant an eben dieser Stelle vorgebrachten Bestimmung der Kultur her, dann wirft diese Perspektive ein erhellendes Licht auf Gehlens Verständnis von Freiheit. Tatsächlich steht dieses dem kantischen Begriff eines Zusammenfallens von Vernunft und Freiheit in der Kultur ums Ganze entgegen, weil Gehlen den Übergang von subjektivem Bewusstsein zu kulturell vermittelter Freiheit teleologisch auf der Folie der Hartmannschen Ontologie konzipiert und damit davon ausgeht, dass sich Freiheit in Kultur in einer über dem rationalen Erkennen liegenden Schicht institutionalisierten Handelns realisiert: „Im Aufbau der Wirklichkeit sind, wie die neue Ontologie festgestellt hat, die höheren Kategorien zwar den niederen gegenüber frei und autonom, aber die niederen sind dafür die stärkeren [...] Das Verhalten der Menschen gegeneinander in die Form des Rechts zu zwingen heißt daher, den
371
372
Ebd., S. 72f. An dieser Stelle ist noch einmal auf den schon unter Bezugnahme auf Norbert Elias herausgestellten Umstand hinzuweisen, dass Gehlen – entgegen der eigenen Bekundung – sehr wohl zwischen den Blütezeiten von Kultur im emphatischen Sinne und Zivilisation unterscheidet. Vgl. Abschnitt 1.6.2. GA 3.1, S. 419, vgl. KdU § 83, B 391.
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Idealen wie Freiheit oder Gerechtigkeit eine Chance zu geben, sich zu materialisieren.“ 373 Gehlen spricht an dieser Stelle vom Zwang und trifft diese Aussage durchaus in der Weise, dass die Erziehung in der Kultur den Willen als Anspruch auf Freiheit in der subjektiven Zwecksetzung brechen soll. Die damit einhergehende, durch das institutionalisierte Sollen bedingte Freiheit besteht in nichts anderem als der Entlastung, sich in seinem Handeln ohne die Irritationen der handlungslosen Reflexion und dem Druck eines problematisch gewordenen Antriebslebens auf bestimmte, mittelbar durch den Lebensprozess vorgegebene Motive verlassen zu können.374 In einer Kritik an dieser Auffassung kann man sich zunächst noch einmal klar machen, dass das von Kant aufgezeigte Verhältnis von Vernunft und Naturzweck keine Hybris ist, sondern aus der Perspektive folgt, die der Mensch als vernünftiges Wesen einzig einzunehmen vermag – jedweder Rede von Sinn und Zweck in der Welt geht notwendigerweise die Vernunft als das diesen Anspruch formulierende Organ voraus.375 Der Mensch kann daher ob dieser Perspektive in der Erörterung einer Sinnhaftigkeit des Naturganzen nicht anders, als die durch die hervorgebrachte und ihm wirkende Vernunft als ihren höchsten Zweck und damit, so Volker Gerhardt, den „»Wert des Lebens« in nichts anderem als im selbstbestimmten Gebrauch der eigenen Vernunft“376 zu erkennen. Demgegenüber wie Gehlen von einer substanziellen Irrationalität des Lebens zu sprechen, verkennt diesen Umstand in eklatanter Weise und kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass sich der Wert des Lebens einen selbstbestimmten Gebrauch der Vernunft notwendigerweise verschließt.377 Infolgedessen geht Freiheit für ihn gerade nicht damit einher, sich 373
374
375 376 377
StZ, S. 131f. Ich beziehe mich auf diese Stelle, weil Gehlen sich hier explizit auf die neue Ontologie Hartmanns bezieht, womit die kategoriale Differenz zwischen der Schicht des subjektiven Erkennens und dem „anspruchsvolleren Geist“ (ebd., S. 131) der Institutionen hervortritt. Gehlen spricht hier zwar im Folgenden von einem „Boden der vernünftigen Tatsachen“ (ebd., S. 132), auf den die Institutionen den Menschen bringen. Allerdings korreliert dieser Begriff von Vernunft nicht mit der freien Selbstbestimmung des Individuums im Denken, wie wir an späterer Stelle in der Auseinandersetzung mit Gehlens Vorstellung von der Geburt der Freiheit aus Entfremdung noch genauer sehen werden (vgl. Abschnitt 2.5.2). Vgl. Johannes Weiß, Weltverlust und Subjektivität. Zur Kritik der Institutionslehre Arnold Gehlens, Freiburg im Breisgau 1971, S. 72: „Gehlen versteht in seiner Institutionslehre die Herkunft der Verbindlichkeit von Traditionen und »Weltverhältnissen« wesentlich von den quasi-instinktiven Festlegungsleistungen der Institutionen her (...) Diese unbedingte Stabilität ist in einer zwingenden Formierung begründet, für die alle Auslegung nachträglich ist.“ Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kant, a.a.O., S. 263. Ebd. Interessanterweise behauptet Peter Jansen in seiner affirmativen Bezugnahme auf Hartmann und damit als Kritik an Gehlen, dass dieser „die dem menschlichen Bewußtsein geläufigste, aber auch nur dort beheimatete Kategorie der Zwecktätigkeit auf die unbewußte Natur“ (Pe-
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im Bewusstsein der Zweckmäßigkeit natürlicher Prozesse der eigenen Vernunft zu bedienen. Freiheit als Entlastung erweist sich vielmehr als ein solches Leben nach der Natur, das die (vermeintliche) Fremdheit des Seins durch das Aufgeben subjektiver Selbstbestimmung im Einswerden mit dem durch institutionelle Entlastungen zu bewältigenden „Irrationale[n], in mir und mir gegenüber“378 aufzuheben sucht. Führen wir uns noch einmal vor Augen, dass Kant seinen Freiheitsbegriff aus unserer Innenperspektive als handelnde Wesen gewinnt, dann wird deutlich, warum schon aus seinem Verständnis von Handlung als Bewegung kein adäquater Begriff von Freiheit gewonnen werden kann. Weil er die auch von ihm selbst eingenommene Innenperspektive, das denkende Ich, das beschreibend auf den Menschen blickt, aus den Untersuchungen seiner empirischen Philosophie ausschließt, muss ihm ein angemessenes Verständnis von Freiheit verschlossen bleiben. Freiheit kann dann nur als eine Sicherheit im Verhalten beschrieben werden, die in letzter Instanz durch fest institutionalisierte Verhaltensregeln gewährleistet werden muss. Gehlen, so werden wir am Ende des nun folgenden Kapitels sehen, nennt dieses die Geburt der Freiheit aus Entfremdung379.
378
379
ter Jansen, a.a.O., S. 78) überträgt. Dass diese Einschätzung gerade nicht der Fall ist, scheint mir demgegenüber das tatsächlich Problem der Theorie Gehlens zu sein. GA 1, S. 24. Der Unterschied zwischen der aus dem Bewusstsein der Vernunft auf die Natur blickenden Perspektive Kants und derjenigen Gehlens lässt sich mit Blick auf diese Formel noch dadurch konturieren, dass Kant genau das Gegenteil annimmt, indem er von der Vernunft als das „intelligibele Substrat der Natur außer uns und in uns“ (KdU, § 57, B 244) spricht. Vgl. Abschnitt 2.5.2
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2 Der Schichtenaufbau menschlichen Handelns 2.1 Handlung als kommunikative Bewegung Ausgehend von den bereits behandelten Koordinaten der Bestimmung des Menschen als das noch nicht festgestellte Tier, eines inmitten des irrationalen Lebensprozesses Stellung beziehenden Wesens, können wir den von Gehlen aufgezeigten Modi menschlichen Handelns genauer nachgehen. Dabei ist als der Ausgangspunkt seiner Untersuchungen festzuhalten, dass es in einem Kollektivsingular um eine äußerliche, empirische Betrachtung des einzelnen handelnden Menschen geht, der über die Schichten seines Handelns in Distanz zu der Situation tritt, in der er sich konkret befindet. Im Sinne von Entlastung als Distanznahme bedeutet dieses, Spielraum der bewussten Bezugnahme auf die Welt zu gewinnen, um in eben dieser Situation handeln zu können. Durch die Art, wie Gehlen in dieser Darstellungsweise zwischen Handlung und handlungsloser Reflexion im Denken unterscheidet, erscheint die mit diesem Modell avisierte Überwindung des Leib-Seele-Dualismus durchaus problematisch. Mithin zeigte sich anhand der normativen Ausrichtung des Handlungsbegriffs, dass sie nur um den Preis eines sacrificium intellectus zu haben ist: Die Wirklichkeit menschlichen Daseinsvollzugs zerfällt genau dann nicht in zwei separate Sphären, wenn der Mensch nicht nachdenkt, sondern ganz in Tätigkeit aufgeht. Dass eine solche Zustandsbeschreibung nicht für eine prinzipielle Überwindung aller Dualismen zwischen Denken und physischer Welt einzustehen vermag, erscheint genauso einleuchtend, wie die Auflösung dieses Problems innerhalb einer Theorie des Menschen als handelndes Wesen allzu nahe liegt: Vermeiden ließe sich der Dualismus, sofern sich eine alle Bereiche des menschlichen Daseins durchziehende Kontinuität des Handelns aufzeigen ließe; es mithin nachgewiesen würde, dass der Mensch auf allen Ebenen seines Umgangs mit der Welt, d.h. auch im Nachdenken, handelte. Obwohl sich Gehlen – nicht nur in seinen Überlegungen zum Erkenntnisproblem – dem amerikanischen Pragmatismus zuwendet, beschreitet er diesen beispielsweise von John Dewey eingeschlagenen Weg nicht.1 Hiermit stellt sich die Frage nach der Demarkationslinie zwischen Handlung und Hand1
Vgl. zu Gehlens Verhältnis zum amerikanischen Pragmatismus vor dem Hintergrund des Dualismus von Handlung und Reflexion Arnold Gehlen und der Dualismus von Handlung und Reflexion, in: Peter Vogt, a.a.O., S. 197ff.
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lungslosigkeit, auf die er eine auf die empirische Erfahrbarkeit von Bewegungen abhebende Antwort gibt: Handlungen vollziehen sich allein im Raum der Erfahrung, d.h. der sinnlich wahrnehmbaren und wahrnehmenden Bewegungen – zu denen das in sich selbst reflektierende Denken nicht gezählt werden kann. In dieser Weise vom Paradigma der Handlung als erfahrbarer Bewegung2 ausgehend widmet Gehlen sich in den zentralen Passagen von Der Mensch der Funktionsbeschreibung von Auge, Hand und Lautäußerung im Vollzug, was er als den menschlichen »Handlungskreis«3 beschreibt. Handlungen sind als kommunikative Bewegungen zu verstehen, in denen die Außenwelt über Prozesse der Symbolbildung durch gehemmte Bewegungen genauso handhabbar wird, wie der Mensch hiermit in ein symbolisch vermitteltes Verhältnis zu den eigenen Körperbewegungen und damit zu sich selbst tritt. Mit dieser sich also genauso nach innen wie nach außen vollziehenden symbolischen Distanznahme durch den gehemmten Vollzug beschreibt Gehlen die Handlungen als die reflektierten Bewegungen des Menschen: Der in die Tätigkeit eingebundene Geist ist das Resultat einer sich in ihrer „Rückempfindung“4 einstellenden Reflexion der zunächst noch unbestimmten Bewegungen, durch die diese als gekonnte Handlungsabläufe verfügbar werden. Von Handlungen kann demnach in der Entwicklung eines Menschen ab demjenigen Zeitpunkt die Rede sein, an dem die Bewegungen durch diese Reflexion an ein „Entwurfsfeld der Phantasie“5 gebunden sind und von dort aus eingesetzt werden können – sobald er also in der Lage ist, sich Vorstellungen von bestimmten Bewegungsabläufen zu machen und diese dann willentlich steuern kann. Dass die Handlungen des Menschen in unterschiedlicher Weise geistig sind, leitet Gehlen aus der sich im Vollzug entwickelnden Verfügbarkeit von reflektierten Bewegungen in den unterschiedlichen Schichten des Handelns ab. In allen Schichten des menschlichen Handelns haben wir uns den Geist bzw. das Bewusstsein als das den Vollzug steuernde Element vorzustellen, das als Phase der Handlung6 jenseits der konkreten, in der Wirklichkeit zu verortenden Bewegung steht. Dabei geht die über diese Schichten fortschreitende Entlastung durch erweiterte Distanznahmen daraus hervor, dass wir uns in unseren Vorstellungen zusehends indirekter auf die konkrete Handlungssituation beziehen; dass wir uns – im Geiste – also immer weiter vom Druck der sich unmittelbar stellenden Probleme distanzieren können. Gehlen beschreibt diesen Aufbau in drei Schichten, von denen erstens die in sich reflektierte Körperbewegung als die unterste und als Handeln im 2 3 4 5 6
Vgl. Abschnitt 1.6. Vgl. GA 3.1, S. 56, 266, 394. Ebd., S. 65, 154, 194. Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 216; vgl. Paul Häberlin, a.a.O., S. 87ff.
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eigentlichen Sinne zu verstehen ist. Hiervon zu unterscheiden ist zweitens die darauf ruhende Schicht des Sprechens, in der die Äußerung von Worten an die Stelle der Bewegungen unserer Gliedmaßen tritt. Gehlen bezeichnet daher das Sprechen als eine in Distanz zur wirklichen Handlung stehende, sich rein im Kommunikativen aufhaltende „Ersatz-Handlung“7. Sich in einer Sprache zu bewegen, ist so verstanden hinsichtlich der sinnlich erfahrbaren Lautäußerung eine Handlung. Sprachliche „Lautbewegungen“8 unterscheiden sich vom Handeln im eigentlichen Sinne einer Aktion des Leibes jedoch dadurch kategorial, dass der Mensch in seinem kommunikativen Umgang mit der Welt von der Bewegung seines ganzen Körpers entlastet ist. Diesen Vorgang der intentional auf bestimmte Sachverhalte gerichteten Wortäußerungen schon als »Denken« zu qualifizieren9 lässt den in dieser Theorie angelegten Riss zwischen Handlung und Handlungslosigkeit bereits erahnen, der sich mit dem Übergang zu der darüber liegenden Schicht des stillen Denkens einstellt. So versteht Gehlen es drittens als eine sich von diesem sprechenden Denken noch unterschiedene Distanznahme zur unmittelbaren Handlungssituation, sich vom gesprochenen Wort zu lösen und nur mehr im lautlosen Denken10 gänzlich in der handlungslosen Reflexion zu verharren. Lautloses Denken ist hiernach ein Reflektieren zweiter Ordnung, mithin als eine „Reflexion auf die Reflexion“11, d.h. der reflexiv-geistigen Momente der menschlichen Bewegungen zu verstehen. Indem diese Reflexion nicht mehr an eine tatsächliche Bewegung gebunden ist, ist auch nicht mehr von einer »Ersatz-Handlung«, sondern einer virtuellen »Probehandlung«12 die Rede: Im stillen Denken handeln wir nicht, sondern nehmen Handlungsmöglichkeiten vorweg, indem wir die durch die Reflexion der Bewegung hervorgebrachten Vorstellungen ohne das Moment der tatsächlichen Bewegung aufeinander beziehen. Dabei ist die stille Reflexion in der Hinsicht als die freieste Schicht im Aufbau der kleinen Entlastungen zu verstehen, dass sie dem Menschen die größtmögliche Distanznahme zur unmittelbaren Situation und deren Anforderungen an sein Handeln bietet. Betrachten wir diesen Zusammenhang etwas genauer, dann scheint der so hergeleitete Begriff des untätigen Reflektierens für sich genommen nicht notwendig auf einen Dualismus hinauszulaufen. Lautlos reflexives Denken als eine sich von anderen geistigen Momenten des Handelns unterscheidende Form des Geistes im Sinne eines vorbereitenden, nicht wirklich tätigen
7 8 9 10 11 12
GA 3.1, S. 293. Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 233. Vgl. ebd., S. 308ff. GA 1, S. 395. Vgl. GA 3.1, S. 310.
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und sich im Hiatus vollziehenden „Probehandeln[s]“13 zu verstehen, kann durchaus Teil eines ganzheitlichen Konzepts des Menschen sein: eine virtuelle Denkbewegung, die an sich keine tatsächliche Bewegung im Raum ist, aber doch eine bestimmte Form des Handelns, die an den wirklichen Tätigkeitsvollzug zurückgebunden ist. Der in einer solchen Unterscheidung noch aufhebbare Riss zwischen Ersatz- und Probehandlung verbreitert sich allerdings zu einer dualistischen Kluft und damit zu einem Dualismus zwischen wirklicher Körperbewegung und unwirklicher Bewegung im Geist, indem Gehlen die uns bereits bekannte Ansicht vertritt, dass sich der Mensch aus dem Zustand der Reflexion lösen und wirklich tätig werden soll. Das stille Nachdenken ist so verstanden wohl die freieste Schicht der geistigen Distanznahme gegenüber der unmittelbaren Situation. Wirkliche Freiheit erfüllt sich nach Gehlens Dafürhalten allerdings weder im bloß virtuellen Denken noch in der rational gelenkten Handlung. Einerseits ist das rational gesteuerte Handeln deshalb nicht im vollen Sinne als frei zu verstehen, weil Gehlen Freiheit mit der sich in den darüber liegenden Schichten verwirklichenden Zweckmäßigkeit in der Natur identifiziert. Andererseits birgt die Freiheit des Denkens die Entlastungsgefahr14 in sich, dass der Mensch den Weg nicht mehr in die Welt des wirklichen Handelns findet und sich dadurch von der Wirklichkeit entfremdet. Hierin spiegelt sich das konzeptionelle Problem dieser Theorie vom Menschen wider: Indem Gehlen die Wirklichkeit mit dem Handeln als Körperbewegung im Raum identifiziert, bedeutet ihm die über die Schichten eigentätiger Entlastung anwachsende Distanznahme zur unmittelbaren Handlungssituation im Bewusstsein, obwohl sie doch in der Eigendynamik des Distanzgewinns liegt, immer auch ein Fremdwerden gegenüber dieser Wirklichkeit. Dieser Umstand ist uns schon als das sich in der höchsten Schicht des subjektiven Bewusstseins, also dem Nachdenken, bemerkbar machende Gefühl der Eigenständigkeit und Fremdheit des Seienden gegenüber dem Betrachter15 bekannt. Unterhalb des in sich reflektierenden Nachdenkens zeichnet sich diese Fremdheit allerdings schon mit dem Begriff des Sprechens als einer an die Stelle der wirklichen Bewegung tretenden Ersatz-Handlung ab: Die Sprache tritt zwischen den Menschen und die Wirklichkeit, ist ihrem Inhalte nach als eine „Zwischenwelt“16 zu verstehen, aus der heraus sich die Möglichkeiten des wirklichen Handelns eröffnen. Aus dieser Perspektive kann Gehlen die Distanznahme im Geiste immer nur als eine Form der Entfremdung17 begrei13 14 15 16 17
Ebd. Vgl. ebd., S. 370. Vgl. Abschnitt 1.1. GA 3.1, S. 297, 290. Zur prominenten Rolle des Begriffs der Entfremdung bei Gehlen vgl. Michael Großheim, a.a.O., S. 205ff.
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fen, von der aus der Mensch ins Handeln zurückfinden muss; der Geist bzw. das Bewusstsein des Menschen ist Mittel des Handlungsvollzugs und steht als solcher in seinen unterschiedlichen Ausprägungen der Wirklichkeit konstitutiv fremd gegenüber. An dieser Entgegensetzung von Bewusstsein und Wirklichkeit lässt sich eine grundlegende Kritik an Gehlens Ansatz festmachen: Das menschliche Bewusstsein als Medium des Bezugs auf die Wirklichkeit in dem Sinne in den Blick zu bekommen, dass wir nicht nur mit den sich im Äußeren stellenden Problemen umgehen, sondern die Wirklichkeit und uns selbst in ihr begreifen können, kann unter den von ihm gemachten Voraussetzungen nicht gelingen. Das mit der Kategorie der Entlastung aufgezeigte Bedingungsverhältnis unterschiedlicher Schichten des in das menschliche Handeln eingebundenen Geistes kann demnach auch nicht als Vorgeschichte eines sich selbst begreifenden, vernünftigen Selbstverständnisses des Menschen verstanden werden. Dieses hat einerseits zur Folge, dass Gehlen, ebenso wenig wie er von einem Begriff des Menschen als ein Vernunftwesen ausgeht, die Auffassung teilen kann, dass sich im Denken bestimmte Gesetzmäßigkeiten a priori erkennen lassen.18 Für die grundsätzliche Kritik an diesem Ansatz wiegt allerdings noch schwerer, dass Gehlen hiermit auch das eigene Projekt einer das Wesen des Menschen begreifenden Philosophischen Anthropologie nicht in die eigene Theorie vom Menschen integrieren kann – wenn wir uns das Bewusstsein in diesem strengen Sinne als Phase des Handelns vorstellen, dann muss unserem Geist die Fähigkeit abgesprochen werden, sich im Rahmen methodischer Theoriebildung einen solchen Begriff zu machen. Parallel dazu läuft dieses konzeptuelle Problem auf den uns schon bekannten Umstand hinaus, dass wir der Wirklichkeit nicht als einer in sich vernünftig geordneten Welt gewahr werden können. Sie ist als der an sich irrational strukturierte Zusammenhang des Lebendigen in uns und uns gegenüber zu verstehen. Ohne demgegenüber Hegels Position einzunehmen, dass das Wirkliche des Vernünftige sei, kann man sich dessen Kritik an einem einseitig auf die Praxis bezogenen Begriff der Vernunft und dem daraus hervorgehenden Dualismus zwischen der Wirklichkeit auf der einen Seite und den geistigen Kapazitäten des Menschen als Ideen, Gedanken und Plänen auf der anderen Seite19 zu eigen machen. So kann auch die von Gehlen gemachte Bestimmung des Bewusstseins nicht angemessen darauf eingehen, dass Aussagen über die Wirklichkeit nur aus der Perspektive des Geistes möglich sind. Auch ohne einen Begriffsrealismus hegelscher Provenienz ist hiernach ein18 19
Vgl. M1, S. 347; Abschnitt 1.2.1. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen, Frankfurt am Main 1970, im Folgenden zitiert als »ENZ I«, Anmerkung zu § 142, S. 280f.
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sichtig, dass das Wirkliche immer nur das durch unser Bewusstsein vermittelte »Sein« sein kann; die Wirklichkeit wäre also zumindest in dem Sinne »vernünftig«, dass Annahmen über das Wesen der Wirklichkeit in Relation zu unserem geistigen Vermögen stehen, uns auf die Welt zu beziehen – und je differenzierter wir dieses vermögen, desto umfassender werden wir dieser für uns relevanten Wirklichkeit auch habhaft. Aus dieser Perspektive bedeutet die sich über die unterschiedlichen Modi des Handelns einstellende Distanznahme zur unmittelbaren Situation keineswegs Entfremdung, sondern ganz im Gegenteil einen Zugewinn an Wirklichkeit in der bewussten Bezugnahme auf die Welt. Dessen Integral ist das sich über den Bildungsweg des Individuums erschließende Wissen über sich selbst, das nur aus der Perspektive des in sich reflektierenden Nachdenkens zu erlangen ist. Mit Hegel können wir uns das Anwachsen der geistigen Distanznahme in der Entwicklung des einzelnen handelnden Menschen also immer auch als einen Zugewinn an Wirklichkeit im Selbstbewusstsein vorstellen: „Wenn der Embryo wohl an sich Mensch ist, so ist er es aber nicht für sich; für sich ist er es nur als gebildete Vernunft, die sich zu dem gemacht hat, was sie an sich ist. Dies erst ist ihre Wirklichkeit.“ 20 Indem sich alles für uns Wirkliche nur durch den Geist mitteilt, muss es schließlich als eine vom reflektierenden Bewusstsein ausgehende Abstraktion aufgefasst werden, sich die Wirklichkeit als die jenseits des Bewusstseins liegende Sphäre des Handelns vorzustellen. Dementsprechend ist es in sich widersprüchlich, diesem »Sein« eine substanziell irrationale Struktur zuzuschreiben, eben weil diese Bestimmung wie jede andere Annahme über die Wirklichkeit aus der Perspektive des begreifenden Bewusstseins gemacht wird.21 In diesem Sinne muss Kritik an Gehlens Ansatz geübt werden, weil er sich mit einer nur in Begriffen möglichen Unterscheidung auf eine vermeintlich jenseits des begrifflichen Verstehens liegenden Sphäre als der Wirklichkeit bezieht: Im Stande seines voll ausgebildeten Bewusstseins denkt er sich die Wirklichkeit als den jenseits desselben liegenden Raum des Handelns, von 20 21
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1970, im Folgenden zitiert als »PhG«, S. 25. Tatsächlich findet sich auch bei John Dewey eine Kritik an einem Staunen über das sich unserem Verstand verschließende Geheimnis des Lebens in seinen unterschiedlichen Formen, das sich nicht darüber bewusst ist, dass der Gegensatz von Natur und Bewusstsein eine Setzung dieses in die Prozesse der Natur eingebundenen Denkens ist: „Das Staunen sollte sich auf den ganzen Verlauf der Dinge richten. Nur weil vorher ein willkürlicher Bruch herbeigeführt worden ist, durch den die Welt zuerst als etwas ganz anderes konzipiert worden ist als das, was sie nachweislich ist, erscheint es dann überaus seltsam, daß sie schließlich das ist, was sie ist. Die Welt ist Gegenstand der Erkenntnis, weil sich Geist in jener Welt entwickelt hat; ein Körper-Geist, dessen Strukturen sich den Strukturen der Welt gemäß entwickelt haben, in der er existiert, wird naturgemäß finden, daß einige ihrer Strukturen in Übereinstimmung und Sympathie mit der Natur sind und einige Aspekte der Natur mit ihm“ (John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt am Main 1995, S. 265).
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dem sich der Mensch in seinem Denken immer weiter distanziert und in den er sich nur in der Selbstaufhebung22 dieser Reflexion durch den tatsächlichen Handlungsvollzug hinein bewegen kann. Richtig verstanden wäre diese Reflexion auf die Reflexion allerdings auch dann schon mehr als eine bloße Distanznahme zum wirklichen Handlungsvollzug, wenn wir mit Gehlen zu dem Ergebnis kommen sollten, dass sich Wirklichkeit und Denken auf diese Weise unterscheiden – eine Annäherung an die so verstandene Wirklichkeit des Zusammenhangs von Geist und Handlung ist nur in der Distanznahme des reflektierenden Denkens möglich. Mit dieser Skizze scheint also durch, dass Gehlens Theorie der sich infolge eigentätiger Entlastung entwickelnden Distanznahme im Geist deshalb auf einen Zustand der Entfremdung in der Reflexion hinauslaufen muss, weil er genauso von einer dualistischen wie in sich widersprüchlichen Entgegensetzung von Bewusstsein und Wirklichkeit bzw. reflektierendem Geist und Handlungsvollzug ausgeht. Dieses bedeutet allerdings nicht, dass in dieser Betrachtung nicht doch einiges gelingt,23 und zwar aufgrund der Einseitigkeit dieser Herangehensweise: So ist Gehlen in seiner am Leibe ansetzenden Untersuchung durchaus in der Lage, ein differenziertes Bild des Zusammenhangs von Körper, Handlung und dem symbolischen Weltaufbau des menschlichen Bewusstseins in der fortschreitenden Distanznahme des Geistes zu den unmittelbaren Eindrücken und Problemstellungen zu entwerfen. Bei aller Kritik an dem unreflektierten Begriff des Irrationalen ist auf Gehlens Einsicht darin hinzuweisen, dass sich das menschliche Weltverhältnis keineswegs auf die rational-verständigen Funktionen seines Geistes reduzieren lässt24, wie wir dieses auch schon mit dem Begriff der Lebenserfahrung25 kennengelernt haben. Aufgrund der Einseitigkeit der seiner Konzeption des Bewusstseins müssen die Leistungen dieser Theorie allerdings unter Vorbehalt betrachtet werden: Gehlen lässt außer Acht, dass die eigenen Bestimmungen nur aus der Perspektive eines sich selbst begreifenden Bewusstseins möglich sind, dem er keinen angemessenen Ort in seiner Theorie vom Menschen zuweist. 26 22 23
24
25 26
Vgl. GA 1, S. 399. In diesem Sinne ist Peter Jansen darin zuzustimmen, dass es ungeachtet der problematischen Bestimmung des Geistes bei Gehlen darum gehen muss, „die guten und weiterführenden Erkenntnisse und Ansätze“ (Peter Jansen, a.a.O., S. 17) bei Gehlen herauszustellen. So kann man und unter den hier kenntlich gemachten Vorbehalten durchaus sagen, dass sich ausgehend von Gehlen einiges „für die Belange einer nichtrationalistischen Handlungstheorie“ (Patrick Wöhrle, Arnold Gehlen, in: Bolken/Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie, Stuttgart 2009, S. 79) gewinnen ließe. Vgl. Abschnitt 1.6.1. Der Sache nach vertritt Theodor Litt diese Kritik, indem er herausstellt, dass Gehlen in seiner Rekonstruktion des Bewusstseins nicht in Rechnung stellt, dass er dieses Modell aus der Perspektive des entwickelten Bewusstseins entwirft. Obwohl man der von Gehlen vorgebrachten und von Karl-Siegbert Rehberg bekräftigten Replik nur zustimmen kann, dass es zu kurz
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2.2 Kreisprozesse Sich in selbst hervorgebrachten Symbolen auf die Welt beziehen zu können, beschreibt Gehlen in einer Theorie des Handelns als kommunikativen Kreisprozess. Hiermit ist gemeint, dass der Mensch in seinen Bewegungen bestimmte Gehalte von Welt erfährt, die als internalisierte Lebenserfahrungen seine zukünftigen Bewegungen in der Welt bestimmen. Unser Handeln ist damit durch das sich ausdifferenzierende Verhältnis von Bewegung und deren Rückmeldung als Sinneseindruck nach dem Schema einer andauernden Abfolge von Trial and Error bestimmt. Will man sich diesen Zusammenhang grundsätzlich klarmachen, ist ein von Gehlen selbst gegebenes Beispiel hilfreich: Wenn sich etwa ein Schloss nicht auf Anhieb öffnen lässt, dann probieren wir mit dem Schlüssel so lange in verschiedenen Bewegungsansätzen an diesem Schloss herum, bis wir den richtigen Ansatzpunkt zum Öffnen gefunden haben. Der sich hier zeigende Kreisprozess besteht in einer „Serie von Erfolgen und Mißerfolgen in der Sachebene“27, die in der Bewegung von uns gesehen, gehört und gefühlt, also sinnlich „zurückgemeldet“28 werden und die „Zugriffsrichtung“29 unseres Handelns beeinflussen, bis es den gewünschten Erfolg zeitigt. In eben dieser Weise haben wir uns das Handeln in der Welt überhaupt nach dem Muster dieses Kreisprozesses als die gegenseitige Ausdifferenzierung von Tätigkeit und internalisierter Bewegungsrichtung aneinander vorzustellen. Jede wirkliche Handlung ist in dem Sinne gleichermaßen Vollzug wie auch kommunikativer Akt, in dem sich zukünftige Bewegungsrichtungen über die mit ihr erfahrenen Rückmeldungen ausdifferenzieren. Dabei sieht Gehlen den Leib-Seele-Dualismus in diesem Handeln als Kreisprozess dadurch aufgehoben, dass in diesem Vorgang die intellektuellen genauso wie die körperlichen Leistungen integriert und nicht voneinander zu trennen sind. Entscheidend ist hiermit, dass die Kreisbewegung einen Hand-
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greife, Gehlens Theorie als „kruden biologischen Materialismus“ (Karl-Siegbert Rehberg, Zurück zur Kultur?, a.a.O., S. 279) zu disqualifizieren, erscheint nichts zutreffender als der Einwand, dass bei einer Rekonstruktion des Aufbaus des menschlichen Geistes »von unten« die eigene »von oben« argumentierende Perspektive nicht außer Acht gelassen werden darf. Vgl. Theodor Litt, a.a.O., S. 298; Arnold Gehlen, Stellungnahme (...), a.a.O., S. 141ff.; Vgl. Peter Jansen, a.a.O., S. 136: „so ist Gehlen vorzuhalten, daß die doppelte Reflexion zwar inhaltliche Beziehungen bezieht, daß sie aber dennoch ein anthropologisches Faktum ist, das nicht aus einer Anthropologie ausgeklammert werden kann, ohne daß sich damit eine solche Anthropologie selbst den Boden unter den Füßen wegzieht, denn in einer solchen Anthropologie wird letztlich vergessen, daß auch die Anthropologie selbst ein anthropologisches Faktum ersten Ranges ist.“ Arnold Gehlen, Zur Geschichte der Anthropologie (1957), in: GA 4, S. 143-164, hier: S. 157; vgl. US, S. 26. GA 4, S. 157; vgl. US, S. 26. GA 4, S. 157; vgl. US, S. 26.
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lungsablauf beschreibt, der grundlegend von den intellektuellen Leistungen des Vorstellens gesteuert, nicht aber durch reflektierendes Nachdenken gestört wird: „Das Handeln selber ist – würde ich sagen – eine komplexe Kreisbewegung, die über die Außenweltsachen geschaltet ist, und je nach der Rückmeldung der Erfolge ändert sich das Verhalten. Man kann hier sehr gut zeigen, daß im Vollzuge der Handlung jederlei Reflexion, die nicht in eine Änderung der Zugriffsrichtung zum Zwecke glatten Verlaufes übergeht, nur Hemmungen setzt.“30 Handlungen sind demnach in dem Maße »geistig« bzw. in sich reflektiert, wie die durch Rückmeldung erzeugten Erkenntnisse und Vorstellungen als die unsere Handlungsrichtung unmittelbar lenkenden geistigen Phasen der Handlung31 in die Bewegungen eingebunden sind.32 Demgegenüber ist der Geist des stillen Nachdenkens eine nicht an wirkliche Bewegungen gebundene, virtuelle Bezugnahme der Vorstellungen aufeinander im Sinne einer sekundären Reflexion auf die Reflexion. In den von Schopenhauer übernommenen Termini ließe sich auch sagen: Der Geist des Handlungskreises ist das in den konkreten Handlungsvollzug eingelassene Medium der Handlungsmotive33, wohingegen der Geist der handlungslosen Reflexion diese Vorstellungen selbst nur in der Vorstellung traktiert. Blicken wir genauer auf diese Aneignung von Welt in den kommunikativen Bewegungen, dann ist noch einmal auf den Hiatus und damit die dem Menschen offen stehende Möglichkeit hinzuweisen, seine Handlungen ohne den Druck eines bereits festgelegten Antriebslebens zu entwickeln. Es ist ihm also 30 31 32
33
GA 4, S. 157. GA 3.1, S. 216; vgl. Paul Häberlin, a.a.O., S. 87ff. Dieser von Gehlen vorgestellte Kreisprozess, in dem sich das nach außen gewandten Bewusstsein durch die Rückmeldung der eigenen Bewegungen als das die Handlungen steuernde Organ formiert, deckt sich mit den Grundannahmen der sich mit Steuerungstechniken, mithin der künstlichen Verfertigung von Bewusstsein befassenden Wissenschaft der Kybernetik. So betont Norbert Wiener, den Gehlen zur Beschreibung des Handlungskreises in Die Seele im technischen Zeitalter heranzieht, die an der Rückmeldung des Verhaltens feststellbaren Gemeinsamkeiten zwischen Maschinen und sowohl menschlichem als auch tierischem Verhalten: „Die Betrachtungsweise der Kybernatik betont die Beziehung zwischen Tier und Maschine und bei der Maschine die spezielle Art ihres Verhaltens als Kennzeichen für die zu erwartende Leistung“ (Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine, Frankfurt am Main 1952, S. 62f.). Zum Verhältnis von Gehlens Modell der Kreisbewegung und Kybernetik vgl. Gotthard Günther, Das Bewusstsein der Maschine, Baden-Baden und Krefeld 1963, S. 202f. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 775. Inwiefern die technische Verlagerung der Bewusstseinsleistungen des sich selbst entlastenden Mängelwesens in die Maschine als »Entlastungstechnik« zu verstehen ist, wird uns in Abschnitt 3.7.2 beschäftigen. Vgl. Abschnitt 1.3.2.
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deshalb möglich, die Welt kennenzulernen, weil sein Bewegungsapparat nicht an bestimmte von Natur aus gegebene Abläufe gebunden ist. Mit den noch nicht auf bestimmte Interessen festgelegten und daher überschüssigen Antriebsenergien einhergehend lässt sich demnach von einer unbestimmten Plastizität der Bewegungsabläufe sprechen, die als Kennzeichen der Unfertigkeit des Menschen genauso eine Belastung wie die Reizoffenheit des Menschen ist, wie auch sie die selbst geführten Handlungen erst ermöglicht. In der nicht unproblematischen Verwendungsweise des Entlastungsbegriffs, dass der Mensch von der Fesselung der Instinkte entlastet ist34, zeigt sich die „großartige Teleologie“35 der Natur im Menschen darin, dass dieser sich die Welt in seinen „kommunikativen, begierdelosen“36, d.h. noch nicht auf einen bestimmten Zweck festgelegten, die Welt erkundenden Kreisbewegungen anzueignen vermag: „Diese doppelte Belastung [durch Reizüberflutung und den nicht festgelegten Bewegungsapparat] wird nun eigentätig zur Grundlage einer ganz untierischen Lebensführung und -fristung umgearbeitet, und zwar wird die Welt in »begierdefreien« kommunikativen Aktionen bewältigt, durchgeordnet, ihre offene Fülle in Erfahrung gezogen (»erkannt«), weil nur aus einer beherrschbar und übersehbar gewordenen Welt Anregungen zu denjenigen Veränderungen entnommen werden können, welche einem organisch mittellosen Wesen über den nächsten Tag helfen.“37 Hiervon ausgehend beschreibt Gehlen die Aneignung von Welt als einen sich durch alle Schichten des Handelns ziehenden Bildungsroman, der mit dem Aufbau von Objektivität in den einfachsten Kreisbewegungen anhebt und mit den Entlastungen durch die Institutionen abschließt. Der kommunikative Kreisprozess setzt hiernach mit den noch nicht auf irgendeinen bestimmten Ablauf festgelegten, in diesem Sinne noch interessenlosen und außerordentlich plastischen Bewegungen des Kleinkindes ein. So gehen die ersten tatsächlich als Handlungen zu qualifizierenden Bewegungen daraus hervor, dass die unbestimmten Bewegungen durch das Berühren von Gegenständen gehemmt und dieses zunächst als „Schmerz“38 auftretende Gefühl als Symbol gleichsam für die Handlung wie auch für den Gegenstand internalisiert wird. Dreh- und Angelpunkt der Verfügbarkeit von Welt durch das Erledigen von Aufgaben ist die sich hiermit vollziehende „Rückempfindung“39 der eigenen 34 35 36 37 38
39
Vgl. Abschnitt 1.5. GA 3.1, S. 62. Ebd., S. 62. Ebd., S. 43. Ebd., S. 74. Indem also die Verfügbarkeit der immer durch unsere geistigen Fähigkeiten bestimmten Welt mit dem Schmerzempfinden anhebt, spricht Gehlen davon, dass es „eine intime und tiefe Beziehung zwischen Intelligenz und Schmerz“ (GA 3.1, S. 75) gebe. GA 3.1, S. 65, 154, 194.
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Bewegung. Der für den kommunikativen Charakter der Bewegungen entscheidende Punkt ist, dass Gehlen diesen Begriff in einer Unterscheidung zwischen passiv empfangenen und aktiv hervorgebrachten Empfindungen entwickelt. So wird durch eine von außen an uns herangetragene Berührung noch kein kommunikatives Verhältnis zur Welt erzeugt: „Eine an unserem Leibe gesetzte Berührungsempfindung ist also sozusagen nur eine halbe, sie ist nicht ein kommunikatives Erlebnis, in dem Eigenbewegungen stecken, sondern einfach ein passiver Einfall einer Empfindung.“40 Demgegenüber kommunizieren wir im Handeln mit der Welt, indem die in der Hemmung der Bewegung durch einen Gegenstand erzeugten Berührungsempfindungen in dem Sinne „zurückempfunden“41 werden, dass sie als Rückmeldung der Bewegung empfunden werden und hiernach zu Wiederholungen motivieren. Die Bewegung ändert dann, wie mit dem Beispiel des Schlüssels gezeigt, in Reaktion darauf ihre Zugriffsrichtung, um mit dem Gegenstand besser umgehen zu können.42 Wir lernen auf diese Weise in der kommunikativen Auseinandersetzung dieses „sensomotorische[n] Kreisprozesse[s]“43 die Welt kennen, indem wir in Abstimmung von zurückempfundenen Gefühlen und Bewegungen in zusehends besser gekonnten Handlungen mit den Dingen umgehen: „Es zeigt zunächst eine bestimmte »Zwecklosigkeit« der Aktion, ja sogar eine vitale Unzweckmäßigkeit: Schmerz wird »frei« wiederholt. Eine Bewegung ergreift sich an ihrer empfundenen Rückwirkung: sie wird gehemmt, gestoßen; gerade darin erfährt sie sich in ihrer Eigentümlichkeit, eine Sache ist in sie eingegangen; nicht die abstrakte Rückempfindung treibt sie weiter, sondern die Kommunikation mit einem äußeren, in sie hineingenommenen Ding. Die Hemmung erzeugt die Empfindung, hier des Schmerzes; aber darin entdeckt sich ein Sachumgang, der sofort lebendig ergriffen und weitergetrieben wird, hier: wiederholt wird. Die Hemmung einer Bewegung macht sie nur passiv bewußt, die darin ergriffene Welt macht sie jedoch kommunikativ und einsetzbar.“44
40 41 42
43 44
Ebd., S. 194. Ebd., S. 153. Gehlen beschreibt dieses Verhältnis in Die Seele im technischen Zeitalter in Bezugnahme auf Norbert Wiener nach dem Modell des durch die Kybernetik beschriebenen »Rückkoppelungsprinzips«: „In seiner einfachsten Form bedeutet das Rückkopplungsprinzip, daß das Verhalten auf ein Ergebnis hin geprüft wird und der Erfolg oder Mißerfolg dieses Ergebnisses das zukünftige Verhalten beeinflusst.“ (Norbert Wiener, a.a.O., S. 63f.); vgl. StZ, S. 18. GA 3.1, S. 155. Ebd., S. 154f.
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In einer Fortführung dieses Modells geht Gehlen davon aus, dass in der Folge der kommunikativen Auseinadersetzung mit dem Objekt der selbst erzeugte Schmerz in der Weise als „entfremdetes Selbstgefühl“45 wahrgenommen wird, dass wir dieses Gefühl auf das Ding übertragen, mit dem wir durch die Kreisbewegung erst gelernt haben, zweckmäßig umzugehen. Im Anschluss daran verhalten wir uns so, als ob der Reiz von diesem Objekt selbst ausginge, obwohl wir es immer nur mit unserem eigenen Gefühl zu tun haben. Gleichzeitig erscheinen die uns möglichen Handlungen in der Vorstellung als die von den Dingen geforderten als „Antwortbewegungen“46. Geist als Medium der Motive bzw. Bewusstsein als Phase der Handlung ist hiernach die Sphäre der uns ausgehend vom reflektierten Schmerz als entfremdetes Selbstgefühl zur Verfügung stehenden Vorstellungen, sowohl von der objektive Welt als auch den in ihren gekonnten Abläufen darauf antwortenden Bewegungen. In der Entwicklung eines Menschen findet diese parallel verlaufende Aneignung von Handlung und Vorstellung dergestalt statt, dass das Kleinkind im Hiatus seiner freien Bewegungsmöglichkeiten selbst die Hemmung seiner Bewegungen und damit zunächst schmerzhafte Kontaktnahmen provoziert, über deren Rückempfinden die Gehalte von Welt verfügbar werden. Gehlen verbindet dieses mit dem Begriff „entfremdeter Eigentätigkeit“47, der auf den Umstand verweist, dass sich der Bewegungsablauf nur mehr an den geistigen Gehalten eines entfremdeten Gefühls orientiert: Sofern also über den Prozess der Hemmung bestimmte Empfindungen für einzelne Gegenstände genommen werden, sind wir darauf eingestellt, neue Erfahrungen in dieser Schicht zurückempfundener Bewegungen zu sammeln. Gleichermaßen versachlichen die Bewegungen in den Handlungen, indem sie sich jetzt an dem entfremdeten Gefühl orientieren, das selbst den Anreiz zu weiteren kommunikativen Bewegungen gibt.48 In diesem Vorgriff auf das versachlichte System der entfremdeten Gefühle verschaffen wir uns dadurch Übersicht, dass sich die Überflutung von äußeren Reizen auf ein für den tätigen Umgang handhabbares Maß reduziert: „Dieses produktive Umgangsverhältnis ist zugleich ein sachliches, die Bewegung lernt, auf erwartete Dingveränderungen sich vorgreifend einzustellen, und irgendwelche Phasen können ein in der Phantasie vorentworfenes Motiv für eine nach ihm eingesetzte Handlung werden; das Ganze erfolgt in »Gleichgültigkeit« gegen den sonstigen Reizbestand der Situation, also
45 46 47 48
Ebd., S. 153. Ebd., S. 233. Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 179.
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verselbstständigt, und hat seine Zweckmäßigkeit in sich, die auf den Namen »Sacherfahrung in der Bewegungsübung« zu bringen wäre.“ 49 Dabei darf nicht übersehen werden, dass Gehlen in der Einbildungskraft des Menschen dasjenige Vermögen ausmacht, sich im entfremdeten Selbstgefühl zu den Dingen in der Welt und damit indirekt zu sich selbst verhalten zu können, wie es etwa von Karl-Siegbert Rehberg herausgestellt wird: „Die Phantasietätigkeit [...] wird von Gehlen nicht, wie Freud das tat, als »Brücke« zwischen Wunsch und Erfüllungsmöglichkeit gedeutet [...] sondern vielmehr – mit Blick auf die Erfassung der Ding- und Sachwelt – als Medium weniger der Wunscherfüllung und Triebentladung als vielmehr der Einübung des »Sachgehorsams«.“50 In diesem Sinne ist es also der Phantasie zuzurechnen, dass der Mensch sich in Dinge versetzen und hiernach von ihnen ausgehend in der Welt handeln kann. Die auf die „Selbstentfremdung“51 durch das zurückempfundene Gefühl in die Kreisbewegung zurückführbare „Intellektualität der Bewegungsstruktur“52 geht demnach daraus hervor, dass wir in der Phantasie vorstellend auf den Kontakt mit bestimmten objektiven Gehalten vorgreifen – uns in diese hineinversetzen – und gleichzeitig in anderen Situationen auf neue Erfahrungen von dieser Qualität eingestellt sind: „Von Handlungen im eigentlichen Sinne kann daher nur gesprochen werden bei einem Wesen, das von der unmittelbaren Einwirkung und dem Druck der Umgebung so weit entlastet ist, daß es eben daraus die Kraft seines Sichversetzens, und zwar eines methodischen und variablen Sichversetzens zieht. Man beobachtet schon bei sehr kleinen Kindern vor jeder Ausbildung höherer symbolischer Phantasmen und feinerer Bewegungsleistungen die Fähigkeit, sich in Gesamtversetzungen den sehr engen Bereich von Erfahrungen, die sie haben, verfügbar zu halten und sich in »andere« Situationen einzuleben.“53 Zusammengefasst lässt sich hiermit schließlich feststellen, dass wir uns mit der ersten gekonnten Handlung in einer Welt bewegen, in der ein durch die Vorstellungskraft bedingter Rollenwechsel54 in der Gestalt stattfindet, dass die eigenen Sinneswahrnehmungen ihrem unmittelbaren Sein als »unsere« Gefühle entfremdet und die Rolle der uns begegnenden Gehalte von Welt einnehmen, wie Gehlen diese Sichtweise in Rückgriff auf George Herbert Mead 49 50 51 52 53 54
Ebd., S. 179f. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 780. GA 3.1, S. 159. Ebd., S. 159f. Ebd., S. 374. Vgl. ebd., S. 194.
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entwickelt.55 Demnach können wir unser Verhältnis zur Welt als ein „Handeln auf ein Du hin“56 verstehen – wir handeln, indem wir uns in unseren Vorstellungen auf das Verhalten der uns gegenüberstehenden Dinge in der Welt einstellen. In Entsprechung dazu also, dass wir die Dinge als sie selbst in unserem entfremdeten Selbstgefühl wahrnehmen, behandeln wir sie in der Vorstellung als Subjekte mit objektiven Anforderungen an unser Handeln, mit denen es in der konkreten Bewegung umzugehen gilt. Es wird deutlich, dass korrespondierend mit dem auf die äußeren Gegenstände übertragenen entfremdeten Selbstgefühl auch Selbstbewusstsein entsteht; mithin ist Selbstbewusstsein nichts anderes als das Bewusstsein davon, sich in einer Welt mit genau diesen Handlungsmöglichkeiten zu befinden. Menschliches Selbstbewusstsein entsteht demnach auf dem indirekten Weg der sich durch Entfremdung einstellenden und durch die Phantasie ermöglichten „Identifizierung mit dem Nicht-Ich“57 der außerhalb seiner selbst liegenden, symbolisch vermittelten Weltbestände. 2.2.1 Symbolischer Weltaufbau im Auge-Hand-System Indem die Welt im Äußeren mit der Bewältigung der überflutenden Reize entsteht, ist das in Kreisprozessen hervorgebrachte entfremdete Selbstgefühl als symbolisches Pars pro toto zu verstehen. Im taktilen und hiernach sprachlichen Umgang über Weltinhalte zu verfügen heißt somit, in Absehung aller anderen Erfahrungsmöglichkeiten bestimmte sinnliche Daten als Symbol für ganze Komplexe von Eindrücken zu setzen. Die Intimität mit bekannten, verfügbaren Dingen in der Welt ist das Resultat einer Übersicht, die wir durch das buchstäbliche Übersehen einer Vielzahl an möglichen Eindrücken gewinnen.58 Inwiefern dieses auf den visuellen Sinn abgestellte Bild der »Übersicht« für den Tastsinn genauso gilt wie für die sprachliche Lautäußerung, lässt sich ebenso leicht nachvollziehen. So wie uns durch die Ausdifferenzierung der Bewegungen in Kreisbewegungen schließlich kleinste, »antippende« Berührungen Auskunft über die gesamte Beschaffenheit eines Gegenstandes zu geben vermögen, kann ein einziges Wort ganze Erfahrungswelten symbolisieren. Auf diese Weise wird die weltoffene Ausgangssituation des Menschen 55
56 57 58
Ebd., S. 194. Gehlen übernimmt hiermit ab der überarbeiteten Fassung von Der Mensch einen Kerngedanken von George Herbert Mead, der in seinem pragmatischen Ansatz die notwendige Rollenübernahme des Anderen im eigenen Handeln herausstellt. Vgl. George Herbert Mead, Mind Self and Society, Chicago 1934. Inwiefern sich Gehlen von Mead darin unterscheidet, wie dieser Rollentausch in der Konstitution von Selbstbewusstsein zu bewerten ist vgl. Abschnitt 2.3.3. GA 3.1, S. 271. US, S.135; vgl. ebd., S. 305; GA 3.1, S. 469f. GA 3.1, S. 199.
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dadurch zu einer Offenheit gegenüber der Welt, dass aus der Fülle der wirklichen Erfahrungsdaten nur noch bestimmte Eindrücke als mögliche Weltinhalte wahrgenommen werden.59 Im selben Moment erweitert sich der Handlungsspielraum dadurch, dass allein die Referenz auf diese symbolischen Ausschnitte von Wirklichkeit dafür ausreicht, um mit der Fülle der wirklichen Tatbestände umzugehen. Gehlen rekonstruiert dieses Phänomen ausgehend von elementaren Kreisprozessen, die im System von „Hand, Auge und Sprache zusammenarbeiten“60, das zuletzt die Führung über die Bewegungen des Menschen übernimmt: „Dieses System ist das Führungsfeld, unter dessen Kontrolle motorische und intelligente Erfahrung zusammenhängt.“61 Da sich die symbolische Orientierung in der Welt aus dem Zurückempfinden der eigenen Gefühle ergibt, ist dasjenige Medium sinnlicher Erfahrung grundlegend, das ein unmittelbares Zurückempfinden von Dingen in der Bewegung ermöglicht: der Tastsinn. So ist die entlastende Staffelung sinnlicher Erfahrungen so aufgebaut, dass es zunächst die taktilen Sinnesdaten sind, die durch den Kontakt zwischen den eigenen Bewegungen und den Objekten den Raum einer Welt voller Dinge eröffnen, auf die sich dann die eigenen Handlungen beziehen. Ebenfalls nur indirekt ist die Symbolleistung des Sehsinnes, der für sich genommen nicht in den Zusammenhang einer in der Rückempfindung reflektierten Bewegung gestellt werden kann. Hiermit wird dessen besondere Rolle deutlich: So ist das Auge grundsätzlich auf die sich im taktilen Umgang ergebenden Symbolisierungen angewiesen, um überhaupt distinkte Bestimmungen machen zu können. So sehr die Welt „die wir, die Augen aufschlagend, um uns sehen, [...] durch und durch Resultat menschlicher Eigentätigkeit“62 ist, so blind wären wir gegenüber den einströmenden Reizen ohne das Zurückempfinden der eigenen Bewegungen in sensomotorischen Kreisprozessen. Gleichzeitig ist das Auge das ausgezeichnete Führungsorgan der eigenen Bewegungen, indem der entlastete Blick63 schon in frühen Entwicklungsstadien die taktilen Erfahrungswerte und damit die Kontrolle über die bereits gekonnten Handlungen übernimmt, indem wir ihnen ihre besonderen Eigenschaften ansehen. Schließlich lässt sich die besondere Aufgabe des Auges für die Handlungsführung noch in dem Zusammenhang nachweisen, „daß alle Feststellung von 59
60 61 62 63
Wir müssen uns das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit in dieser Weise vorstellen: Gehlen geht es nicht darum, wie die immer nur für uns bestehende Wirklichkeit aus dem Umgang mit dem uns gegenüberstehenden, unerkennbaren Substrat als dem Gegenstandsbereich möglicher Objektivierung hervorgeht, sondern wie wir Handlungsmöglichkeit in Auseinandersetzung mit der uns fremden, an sich bestehenden Wirklichkeit entwickeln. GA 3.1, S. 160. Ebd. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 156.
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Wirklichkeit sich im Schnittpunkt zweier ganz heterogener Sinne abwickelt.“64 In dieser heterogenen Festestellung der objektiv geltenden Weltinhalte kommt dem Sehsinn eine herausragende Mittlerrolle zu: „Man kann es grob formulieren, daß auf nahe Distanzen der Tastsinn und der Sehsinn, auf weite der Sehsinn und die Sprache kooperieren, in deren Schnittpunkt die eigenartige entfremdete Intimität sich herstellt, welche die Objektivität unserer Weltdinge ausmacht.“65 Betrachten wir die symbolischen Struktur des entlasteten Blicks – Pars pro toto für Gehlens Verständnis symbolischer Abkürzungen – etwas genauer, dann ist zunächst auf den Begriff der Prägnanz hinzuweisen, den Gehlen nach dem im Tierreich anzutreffenden Reiz-Reaktions-Schema entwirft. Dort korrespondiert ein sich von anderen Eindrücken absetzender, schon a prori festgelegter, prägnanter Reiz als „Auslöser“66 mit einem bestimmten darauf antwortenden Verhalten: „Instinktbewegungen, also angeborene und artspezifische Verhaltensweisen, werden natürlich normalerweise durch die passenden Objekte ausgelöst, die das Tier in seiner Umwelt vorfindet, also durch die Artgenossen oder Geschlechtspartner, die Beute, den Feind, usw. Oder besser, sie werden nicht durch diese Objekte ausgelöst, sondern durch jeweils höchst spezifische wahrnehmbare »Signale« an ihnen, die man Auslöser nennt (...) Die Auslöser sind in allen Fällen so prägnant und spezifisch, daß die Forscher sie mit Attrappen nachahmen und so das Instinktverhalten experimentell »herausholen« und untersuchen können.“67 Auch beim Menschen muss, so Gehlen, davon ausgegangen werden, dass er sein Handeln an dergestalt prägnanten Eindrücken orientiert: „Der Vorzug des Prägnanten in unserer Gestaltwahrnehmung dürfte außerordentlich tief verwurzelt sein und in biologisch uralte Schichten zurückführen, nämlich ins Instinktive.“68 Prägnanz bedeutet demnach, dass es sich um einen vor diesem Hintergrund, verstanden als das „Nullniveau des Umfeldes“69, unwahrscheinlichen Reiz handelt, der symbolisch für ein darauf bezogenes Verhalten stehen kann. Als weiteres Moment des prägnanten optischen Symbols ist dessen „Konstanz und Transponierbarkeit zu verzeichnen“70, womit die Unabhängigkeit der wahrgenommenen Form gegenüber bestimmten Randbedingungen wie 64 65 66 67 68 69 70
Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 182. Ebd. Ebd.
120
etwa den Lichtverhältnissen gemeint ist. So nehmen wir etwa einen Stuhl, gleichgültig in welchem Licht er erscheint, seiner Form nach konstant als dieses Objekt wahr.71 Dass wir diese Form dann auch unabhängig von einem bestimmten Material wahrnehmen können, markiert die Transponierbarkeit der optisch wahrgenommenen Form. Für die optischen Symbole in der Welt des Menschen ist insbesondere entscheidend, dass auch das Nullniveau des Hintergrunds kein absoluter Wert ist, sondern in Relation zum einmal festgestellten Eindruck steht: „Der »Hintergrund« ist ein Spezialfall des Bezugssystems.“72 71
72
Vgl. ebd. Gehlen bezieht sich hier auf den von Edmund Husserl vorgestellten Begriff der »Abschattung« (vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, Den Haag 1976, S. 84ff.). Husserl verweist mit diesem Begriff darauf, dass wir es im Erleben der Welt keineswegs mit reinen Wahrnehmungen von Farbe, Form und taktiler Beschaffenheit der Objekte zu tun haben. Vielmehr erleben wir jedes Objekt als „eine sich beständig verändernde [...] Kontinuität wechselnder Wahrnehmungen“ (ebd., S. 84), was Husserl als die „Abschattung“ (ebd., S. 86) der Objekte im Erleben beschreibt: „Scharf ist im Auge zu behalten, daß die Empfindungsdaten, die die Funktion der Farbenabschattung, Glätteabschattung, Gestaltabschattung usw. üben (die Funktion der „Darstellung“) ganz prinzipiell unterschieden sind von Farbe schlechthin, Glätte schlechthin, Gestalt schlechthin, kurzum von allen Arten dinglicher Momente [...] Abschattung ist Erlebnis“ (ebd.). GA 3.1, S. 187. Anhand dieser Gleichursprünglichkeit von Hintergrund und Bezugssystem lässt sich sowohl die Nähe als auch der Unterschied zwischen dieser Konzeption des Prägnanten und dem von Ernst Cassirer geprägten Begriff der Symbolischen Prägnanz zeigen. So wendet sich Cassirer mit diesem Begriff zunächst gegen die von den Sensualisten ähnlich wie auch Gehlen mit seiner Vorstellung von Übersicht hervorgebrachte Auffassung, dass sich das Bewusstsein angesichts der „Fülle von Einzelinhalten“ (Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW 13, Hamburg 2002, S. 220), den es sich in der Wahrnehmung ausgesetzt sieht, „Schemata und Gesamtbilder“ (ECW 13, S. 220) schafft, die als „Abkürzungen“ (ECW 13, S. 220) für die Wahrnehmungsgehalte stehen. Dieser Konzeption ist anzulasten, dass sie den abzukürzenden Bewusstseinsinhalt bereits als gegeben voraussetzt, ohne zeigen zu können, wie dieser überhaupt entsteht – womit, so Cassirer, die „Voraussetzungen für jede wahrhafte Phänomenologie der Wahrnehmung“ (ECW 13, S. 220) fehlen. Nach einer sich hier anschließenden Auseinandersetzung mit Kant und Husserl gelangt Cassirer dann zu der Feststellung, dass das Wahrgenommene nie nur aus „bloßen »Empfindungsdaten«“ (ECW 13, S. 228) zusammengesetzt ist, sondern in dem Sinne in Abhängigkeit zu einer Ordnung steht, dass wir sie aus dem Blickwinkel eines schon vorausgesetzten »Sinns« betrachten. Symbolische Prägnanz beschreibt dieses Wechselverhältnis von sinnlichem Eindruck und geistigem Gehalt: „Unter »symbolischer Prägnanz« soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als »sinnliches« Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen »Sinn« in sich faßt und ihn zur konkreten Darstellung bringt“ (ECW 13, S. 231). Betrachten wir Gehlens Begriff des prägnanten Symbols als Pars pro toto für das Wahrgenommene, dann entgeht er dem Cassirer aufgezeigten Problem des Sensualismus, indem er die Bedeutung dieses Eindrucks nicht voraussetzt, sondern diese vom handelnden Umgang mit dem empirischen Material her versteht. Darüber hinaus lassen seine Ausführungen zur gegenseitigen Bedingtheit von Hintergrund und Symbol eine Nähe zu Cassirers Begriff des Prägnanten zu,
121
In einer weiteren Abstraktionsstufe von Transponierbarkeit und Konstanz optischer Symbole geht Gehlen davon aus, dass wir uns in dieser als Übersicht bezeichneten Beziehung nicht nur auf eindeutige Verbindungen zwischen Symbol und Sache beziehen. Vielmehr ermitteln wir im Umgang mit den Objekten bestimmte Eigenschaften, die sich dann an verschiedenen Dingen wahrnehmen lassen. In Bezug auf optische Symbole erfasst Gehlen diesen Umstand zunächst mit dem Begriff der »Hinsicht«73. Hiermit ist gemeint, dass wir in der entlastenden Eigentätigkeit symbolische Abkürzungen für bestimmte Eigenschaften destillieren, Aspekte, die wir dann auf unterschiedlich beschaffene Gegenstände anwenden können. So können wir die an einem Gegenstand gemachten Erfahrungen unter Bezugnahme auf bestimmte Hinsichten auf ein anderes Ding übertragen: Beispielsweise ist eine Tasse keine Vase, aber unter gegebenen Umständen kann sie wegen ihrer Form als ein Behältnis für Blumen dienen. Tatsächlich kann man sich an diesem von Gehlen als ein „»A für B« nehmen“74 bestimmten Verhältnis die ganze Dynamik der in Symbolen verlaufenden kommunikativen Aneignung von Welt klarmachen. Wir betrachten und subsumieren Dinge unter bestimmten symbolisierten Aspekten, die ihnen gemein sind und sie diesbezüglich austauschbar werden lassen. Das Symbol ermöglicht also dadurch eine Distanznahme zur unmittelbaren Handlungssituation, dass es situationsunabhängig wiederholbar ist, weil die im Umgang mit einem bestimmten Gegenstand erworbenen Erfahrungen von Hinsichten durch unsere Vorstellungskraft auf andere übertragen werden können. Die mit diesem vorstellenden Verfügen über diese Aspekte möglich werdenden Leistungserfolge sind offensichtlich: Einerseits erweitert sich die Möglichkeit des Einsatzes bereits gekonnter Handlungen dadurch, dass nicht nur in ihrer Besonderheit bestimmte Gegenständen wahrgenommen, sondern eine einmal erfahrene Hinsicht auch an ansonsten davon unterschiedenen Dingen erkannt und mit ihnen dementsprechend umgegangen wird. Gleichzeitig eröffnen sich mit dieser Übertragung neue Erfahrungsmöglichkeiten und damit eine erweiterte Verfügbarkeit von Welt, und zwar in all den Fällen, in denen diese nicht ohne Weiteres übertragbar sind, und wir deshalb zu neuen probierenden Kreisprozessen ansetzen müssen.75 Inwiefern wir uns die symbolische Bekanntschaft mit der Welt als Abstimmung von Sinneseindruck und Handlung vorzustellen haben, lässt sich
73 74 75
indem das Symbol immer in ein außer ihm liegendes „Bezugssystem“ (GA 3.1, S. 187) eingebettet ist. Eine Nähe zu Cassirers Begriff der Symbolischen Prägnanz lässt sich hiervon ausgehend anhand Gehlens Bestimmung des Symbols in der Kultur aufzeigen, indem er dort das religiöse Symbol vor dem Hintergrund des Alltags als unwahrscheinlich und prägnant im Sinne „des Außeralltäglichen“ (US, S. 159) beschreibt (Vgl. dazu Abschnitt 3.3.1). Vgl. GA 3.1, S. 249. Vgl. ebd., S. 251. Vgl. ebd., S. 255ff.
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schließlich mit der sich im elementaren Kreisprozess einstellenden Symbolisierung des menschlichen Bewegungsapparats nachvollziehen. Mit Blick darauf also, dass wir die Dinge nur „eingeschmolzen in die Vielfalt unserer Tätigkeit“76 haben, haben wir es mit einer den Wahrnehmungssymboliken gegenüberstehenden „symbolischen Struktur der Bewegung“77 zu tun. Der gekonnte Umgang mit den eigenen Bewegungsmöglichkeiten beruht auf einem Set au Abkürzungen, die in Abstimmung mit den ihrerseits symbolischen Wahrnehmungsinhalten in der Handlung eingesetzt werden können. Die Entwicklung dieses symbolischen Verhältnisses haben wir uns so vorzustellen, dass wir mit einem einmal erlernten Können davon entlastet sind, uns für den willentlichen Vollzug einer Handlung jedes einzelne Moment der Bewegung bewusst zu machen. Vielmehr sind wir in der Lage, die Handlung im Übersehen unserer Bewegungsmöglichkeiten von bestimmten fruchtbaren „Angelpunkten“78 her zu vollziehen. Ein eingängiges Beispiel hierfür ist ein neu zu erlernender Sport: Der Anfänger muss sich zuerst von den ihm schon gewohnten Bewegungen lösen und sich die entscheidenden Abläufe der zu erlernenden Disziplin mühsam aneignen, d.h., seine ganze Aufmerksamkeit aktiv auf die für das Gelingen entscheidenden Stellungen und Abläufe verwenden. Im fortschreitenden Können der für die Sportart notwendigen Bewegungsabfolgen gewinnt der Athlet dann zusehends eine Bewegungsübersicht in dem Sinne, dass er die Zwischenphasen übersehen und sich nur noch auf bestimmte „Knotenpunkte“79 der Bewegungsfolge zu konzentrieren braucht. Indem sich das symbolische Verhältnis zur Welt sowohl durch die Abkürzung der sinnlichen Wahrnehmungen im entfremdeten Gefühl als auch parallel dazu in den Bewegungssymbolen aufbaut, differenziert Gehlen schließlich zwischen den hierauf jeweils eingestellten Vorstellungssystemen der „Empfindungsphantasie“80 und der „Bewegungsphantasie“81. Er meint damit das Vermögen, sowohl Bewegungen als auch Empfindungen unabhängig voneinander in der Vorstellung vorwegzunehmen und sie aufeinander zu beziehen. Die Pointe dieser Unterscheidung besteht in erster Linie darin, den heterogenen Charakter der Handlungsführung als Integration unterschiedlicher, möglicherweise heterogener Felder symbolisierter Wahrnehmung aufzuzeigen. So gilt für den entlasteten Blick, dass wir den Dingen mit den an ihnen kenntlichen Eigenschaften und Hinsichten auch die im Umgang mit ihnen geforderten Bewegungsabläufe ansehen: „Jedes Ding erhält dann rein 76 77 78 79 80 81
GA 4, S. 13; vgl. GA 3.1, S. 203. GA 3.1, S. 221. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd. Vgl. zur Beschreibung ihres Zusammenspiels in elementaren Kreisprozessen ebd., S. 149ff.
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optisch »Bewegungsvorschriften«: es deutet an, welche Handgriffe ansetzbar sind, auf welche Aktionen es sich weiter hergeben würde, und in welchem Sinne.“82 Wenngleich die hier zutage tretende Führungsleistung des Auges auch und gerade im unmittelbaren Umgang mit den Dingen zumeist handlungsleitend ist, lässt sich dieses Phänomen der Übertragung von symbolisierten Bewegungsmöglichkeiten in andere Medien auch unter Absehung von der optischen Wahrnehmung in alleiniger Bezugnahme auf den Tastsinn nachweisen. So kann etwa ein Arzt in seinen Bewegungen bei einer schwierigen Operation in Körperhöhlen anhand eines ertasteten Sinnesdatums die Beschaffenheit des Operationsfeldes wahrnehmen und sich auf die erforderlichen weiteren Bewegungen einstellen.83 Noch offenkundiger tritt die Eigenständigkeit der taktilen Bewegungssymbolik dort hervor, wo der visuell vorhersehende Umgang mit der Welt unmöglich ist – wie es bei blinden Menschen der Fall ist: „Tast- und Bewegungsphantasmen sind beim Blinden sehr hoch entwickelt, der ja aus wenigen Tastproben durch »Bewegungsentwürfe« und durch die Vorstellung der dabei zu erwartenden Empfindungen sich die Gestalt und die Oberflächenstruktur der umgebenden Dinge rekonstruiert.“84 Ohne schon Gehlens Theorie der Sprache zu kennen ist überdies offenkundig, dass wir Körperbewegungen auch in alleiniger Abstimmung mit akustischen Sinneseindrücken vollziehen können – wobei es als die im kommenden Abschnitt zu behandelnde Eigenart der Sprache genommen werden muss, dass die Bewegung und das zurückempfundene Sinnesdatum zusammenfallen.
2.3 Sprache Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die Sprachtheorie das zentrale Stück der gehlenschen Anthropologie ist.85 Es ist die Sprache, mit deren Hilfe sich der Mensch unendlich weit von seiner Situation distanzieren und alles Mögliche auch in dessen Abwesenheit – „»in absentia«“86 – traktieren kann. Mit der Sprache wird auch das Innenleben des Menschen kommunizierbar und seine Interessen formiert, indem sie alles in der Welt „auf eine Ebene, 82 83 84 85
86
Ebd., S. 218. Vgl. ebd., S. 212. Ebd. In diesem Sinne weist schon Nicolai Hartmann auf die Theorie der Sprache als „bahnbrechend“ und das eigentliche „Zentralstück“ der Gehlenschen Anthropologie hin. Vgl. Nicolai Hartmann, Neue Anthropologie in Deutschland, a.a.O. S. 164f.; vgl. dazu auch Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 778; Karl-Siegbert Rehberg, Zurück zur Kultur?, a.a.O., S. 284; Joachim Fischer, a.a.O., S. 168ff.; Heike Delitz, a.a.O., S. 60. GA 3.1, S. 51.
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nämlich ihre eigene“87 bringt. Die Sprache ist das Medium des immer als sozialisiert zu verstehenden menschlichen Selbstbewusstseins und damit das Fundament allen institutionell vermittelten, normativen „Schon-verständigtseins“88. Sprache als Element des menschlichen Handlungskreises zu verstehen bedeutet dabei grundlegend, in ihr als Lautäußerung selbst eine Bewegung zu erkennen. Wenn wir sprechen, dann bewegen wir uns im Medium des selbst geäußerten Lautes und bewältigen damit die sich im Handeln stellenden Probleme anstelle von Körperbewegungen. Mit der Rede vom Sprechen als Ersatz-Handeln wird dabei einerseits deutlich, dass das Sprechen von den Anstrengungen tatsächlicher Körperbewegungen entlastetet, und andererseits, dass es als ein Handeln in einem buchstäblich „übertragenen“ Sinne verstanden werden muss. Im Sprechen überträgt der Mensch die Abläufe des tatsächlichen Handelns in ein Medium, das als bloße Lautbewegung immer schon in Distanz zum wirklichen, d.h. mit unseren Gliedern vollzogenen Bewegungsvollzug steht. 2.3.1 Sprachwurzeln Gehlen setzt in seiner Sprachtheorie bei „Lautbewegungen“89 ein, die durch das entfremdete Selbstgefühl im Rückempfinden der eigenen Äußerung zu Handlungen werden. Die Sprache geht als eine gekonnte Bewegung aus der Auseinandrsetzung mit den eigenen Lautäußerungen in Kreisbewegungen hervor, die als solche noch genauso wenig »geistig« sind wie die noch ungelenkten ersten Bewegungen eines Kleinkindes.90 Er bezeichnet diese vorintellektuellen Lautbewegungen als die »Sprachwurzeln«91, an deren Form schon vor ihrem eigentlichen Entstehen bestimmte für das Handeln in Sprache wesentliche Momente feststellbar sind. So lassen sich diese in eine auf das wiedererkenende Verbinden von Sprachlaut und Gegenstand hinauslaufende Staffelung zueinander stellen, das Gehlen im Anschluss an Herder als die wesentliche Entlastungsleistung92 der Sprache versteht. Er verhandelt sie in Der Mensch zwar nicht in eben dieser Abfolge, fasst die fünf relevanten Sprachwurzeln dann aber selbst noch einmal in genau diesem Sinne zusammen.93 Die unterschiedlichen Wurzeln des menschlichen Sprechens beschreibt
87 88 89 90 91 92 93
Ebd., S. 300. US, S. 47. GA 3.1, S. 50, 168. Vgl. ebd., S. 194. Vgl. ebd., Kap. 19-21, Kap. 24. Vgl. ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 279; vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Anmerkungen des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 829ff.
125
er folgendermaßen: das Leben des Lautes, Lautausdrücke auf Seheindrücke, er nennt den Ruf, die Lautgeste und schließlich den wiedererkennenden Laut. Gehlen skizziert in Der Mensch im Umfeld der Sprachwurzeln überdies eine Theorie des Spiels.94 Er hebt dort unter Bezugnahme der Theorie des Spiels von Frederik Jacobus Buytendijk95 darauf ab, dass sich hieran das von George Herbert Mead entwickelte, für das Ausbilden des immer sozialisierten Selbstbewusstseins relevante Theorem, die Rolle des Anderen einzunehmen, zeigen ließe.96 Im Spiel bezieht sich das Individuum auf sich selbst, indem es sich angesichts der Spielregeln an die Stelle eines jeden möglichen Mitspielers setzt, und damit die Rolle des Anderen einnimmt, wie Mead diesen Zusammenhang beschreibt: „Es gewinnt Erfahrung von sich selbst als einem Selbst oder Individuum nicht direkt oder unmittelbar, nicht indem es ein Subjekt für sich selbst wird, sondern allein insofern, als es zuerst ein Objekt für sich selbst wird, gerade wie andere Individuen Objekte seiner Erfahrung sind. Und es wird ein Objekt für sich selbst allein dadurch, daß es die Haltung anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer sozialen Umwelt annimmt.“ 97 Die Disposition, sich die Welt in „entlasteten Phantasieinteressen“98 spielerisch anzueignen, ist so verstanden selbst keine Sprachwurzel, sondern genauso wie bei allen anderen kommunikativen Bewegungen auch als Voraussetzung der selbsttätig etablierten Handlungen im Laut zu verstehen. In diesem Sinne unterscheidet sich das Spielen des Menschen wesentlich von dem Spielen der Tiere dadurch, dass jenes vor dem Hintergrund der nicht instinktiv festgelegten, weltoffenen Kommunikation mit den Dingen stattfindet – im Spiel wird sich der Mensch genauso seines kommunikativen Interesses an der Welt bewusst wie überhaupt des Umstandes, dass er Interessen entwickeln kann:99 „Beim Menschen [...] bedeutet Spiel [...] den Aufbau, das Aufbrechen und lustvolle Erleben von Phantasieinteressen, also Prozessen der Kommunika-
94 95 96
97
98 99
GA 3.1, S. 238f. Vgl. Frederik Jacobus Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels. Das Spiel des Menschen und der Tiere als Erscheinungsformen der Lebenstriebe, Berlin 1933, S. 88ff. Vgl. zum Verhältnis von Spiel und der Theorie Meads Arnold Gehlen, Probleme einer soziologischen Handlungslehre, in: Arnold Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied und Berlin, S. 201. GA 3.1, S. 242; vgl. George Herbert Mead, Mind Self and Society, Chicago 1934, S. 138: „The individual experiences himself as such, not directly, but only indirectly, from the particular standpoints of other individual members of the same social group, or from the generalized standpoint of the social group as a whole to which he belongs.“ GA 3.1, S. 240. Vgl. Joachim Fischer, a.a.O., S. 168.
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tionsphantasie, und vor allem: das Bewußtwerden solcher Interessen, die wesentlich unstabil und wechselnd sind.“100 In der Folge dieser Bewusstwerdung werden im Spiel diejenigen Regeln und Pflichten des menschlichen Miteinanders eingeübt, die schon mit dem Beherrschen einer Sprache einhergehen. Hierin zeichnet sich einerseits der zwar nicht in aller Breite ausgearbeitete, jedoch immer mitgedachte soziale Charakter des sprachlichen Weltverhältnisses ab, den Gehlen an anderer Stelle wiederum unter Berufung auf Mead als das im »Ich« immer mitgedachte »Wir« beschreibt.101 Selbstbewusstsein als die Fähigkeit, sich in Sprache auf innere Zustände zu beziehen, ist in diesem Sinne immer schon als eine Form der Sozialisierung zu verstehen, wie wir an späterer Stelle102 genauer behandeln werden. Überdies zeichnen sich hierin auch die damit einhergehenden normativen Gehalte ab, sich in einer bestimmten Sprache zu bewegen. Die Sprache ist daher als Basis jedweder mit einer Pflicht zu einem bestimmten Handeln einhergehenden Institution zu verstehen.103 Gehen wir den Sprachwurzeln in einer kurzen Betrachtung nach, dann haben wir es bei dem erstgenannten »Leben des Lautes« analog zu den noch ungelenkten Körperbewegungen des Kindes mit dem ganz unspezifischen Hervorbringen von Lauten als der conditio sine qua non des Spracherwerbs zu tun. Genauso wie im noch unbestimmten Tasten verspürt das Kleinkind in dieser Bewegung einen sinnlichen Reiz, den es dann um seiner selbst willen wiederholt und damit in ein kommunikatives Verhältnis zur eigenen Bewegung tritt. Auch hier entsteht ein entfremdetes Selbstgefühl, das allerdings nicht – wie es beim Tastsinn der Fall ist – in Wechselwirkung mit äußeren Gegenständen steht, sondern einzig auf die „doppelte Gegebenheit des Lautes“104 als geäußerte und gleichzeitig gehörte Bewegung bezogen ist. Dabei ist diese situationsunabhängige und entfremdete Tätigkeit im Laut schon deshalb von Grund auf auch als Kommunikation mit anderen zu verstehen, weil sich die Lautbewegungen eines Kleinkindes nicht völlig einsam vollziehen, sondern von Anfang an immer auch durch „die niemals fehlende Umgebung“105 100 101 102 103
104 105
GA 3.1, S. 240. Vgl. ebd., S. 305f. Vgl. Abschnitt 2.3.3. In diesem Sinne unterstreicht Gehlen, dass wir über die Sprache „in das Gebiet normierter Sitten und Verhaltensformen kommen“ (US, S. 47). Sie ist hiernach nicht selbst als eine Institution, sondern im Sinne der Gleichförmigkeit der Sprechbewegung der einzelnen Menschen als die Basis der durch die höheren Schichten der kulturell vermittelten, instinktanalogen Verhaltensweisen einer Gesellschaft zu verstehen. Das mit dem Spracherwerb einhergehende „Schon-verständigt-sein“ (ebd.) als Fundament der Institutionen ist demnach gerade nicht als Hinweis auf ihre Leistung im kommunikativen – kritischen – Austausch zwischen den Menschen zu verstehen. GA 3.1, S. 154. Ebd., S. 279.
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anderer Menschen zurückgegeben werden. Der geäußerte Laut antizipiert nicht nur den zurückempfundenen sinnlichen Eindruck des selbst hervorgebrachten Tons, sondern ebenso die von der Umwelt zurückgegebene Antwort. Wo unsere Körperbewegungen in dem Sinne kommunikativ sind, dass sie sich auf die „Antwortbewegungen“106 der symbolisch vermittelten Dinge einstellen, ist die Lautbewegung deshalb als Reinform der Kommunikation zu verstehen, weil sie konstitutiv auf Antworten im eigenen Medium eingestellt ist. Auf dieser Folie des konstitutiven Handeln auf ein Du hin in der Lautäußerung ist auch die zweite Sprachwurzel des Verbindens von Seh- und Lautausdrücken zu sehen. Weltoffenheit und Antriebsüberschuss des Menschen treten dadurch hervor, dass das Kind seine Lautbewegungen, ganz ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, auf Gesehenes richtet, indem es dieses einfach anplappert: „Ein solches »freudiges Interesse am Gesehenen« beobachtet man bei jedem lebhaften Kind in dem »Anplappern« auffallender Eindrücke.“107 Dass sich im geäußerten Laut bereits bestimmte Intentionen kundtun, zeigt sich in der dritten Sprachwurzel – nach unserer Zählung handelt es sich dabei um den »Ruf«108. So wird im »Ruf«, den wir als Äußerung eines Kleinkindes eher als einen »Schrei« verstehen können, der Zusammenhang zwischen den im Laut ausgedrückten Antrieben und Bedürfnissen einerseits und deren Erfüllung andererseits eingeübt. In dem hier vorliegenden Zusammenhang zwischen der im Laut entäußerten Intention und deren Erfüllung tritt, so Gehlens Annahme, zum ersten Mal zutage, dass unsere Interessen und Bedürfnisse überhaupt in Sprache geäußert werden.109 Überdies ist im Ruf jener Anteil des artikulierten Willens im Geäußerten kenntlich, der nicht nur pointierten Willensäußerungen oder Befehlen eigen, sondern auch auf allen anderen Ebenen sprachlicher Äußerungen immer enthalten ist. Hierin zeigt sich, dass sich sprachliche Äußerungen immer auch selbst in ihrer jeweiligen Tonart als mit bestimmten Ansprüchen einhergehende Willensäußerungen behaupten:110 „Die Musikalität des Tonfalles, Rhythmik, Tempo, Modulation sind solche mitgeführten Ausdruckselemente, und sie verschwinden auch dann nicht, wenn sie in hochentwickelten Sprachen syntaktischen oder bezeichnenden Wert bekommen, so wie eine Modulation, die »Frage« bedeutet, oder, wie in der chinesischen Sprache, die Tonhöhe geradezu Bezeichnungssinn bekommt.“111
106 107 108 109 110 111
Ebd., S. 214. Ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 243ff. Vgl. ebd., S. 279f., 405. Vgl. ebd., S. 246. Ebd., S. 246.
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In enger Verwandtschaft hierzu steht als die vierte Sprachwurzel die Lautgeste, bei der es sich nach Gehlen um die in der Situation geäußerten, die eigene Handlung begleitenden selbst erzeugten Laute handelt. Die Situation und die sich in ihr vollziehenden Bewegungsabläufe werden hier von den geäußerten Lauten mit ausgeführt, die Bewegungen in diesen Begleitlauten verdoppelt und in den Bereich des Lautes überführt: „bestimmte kindliche Laute haben den Wert, daß in ihnen eine präzise Aktionsfolge intendiert und eingesetzt wird.“112 Sofern sich diese Lautäußerungen tatsächlich zu Worten entwickeln, stehen sie so wie andere Bewegungssymbole auch für ganze Situationen und die hiermit verbundenen Handlungsabläufe: „Mit der jetzt behandelten Wurzel der Sprache haben wir vor allem die Entstehung des Wortes im Umkreis der Handlung und der praktischen Kommunikation gezeigt, d.h. die Verengung von Erfahrungs- und Leistungszusammenhängen zum Wort. Es gibt einen Weg zum Einzelwort, der in der Dekomposition von Situationen, die zu bewältigen sind, besteht.“113 Dass sich der Prozess des Zugewinns an Intimität mit der Welt durch das entfremdete Gefühl in der Schicht der Sprache noch einmal wiederholt, geht aus dem sprachlichen Wiedererkennen114 hervor, das vor allem als Antwort in der Lautbewegung auf einen optischen Reiz zu verstehen ist. Dabei tritt die Lautäußerung an die Stelle körperlicher Handlungen und entlastet den Menschen von den Bewegungen seiner Gliedmaßen.115 Die in dieser Weise maßgeblich für das Handeln in Sprache verantwortliche Leistung des Wieder112 113 114
115
Ebd., S. 280. Ebd., S. 271. Vgl. ebd., S. 228ff. Nicht nur diesbezüglich ist zu bemerken, dass die vorgestellte Differenzierung der verschiedenen Ursprungsmotive von Sprache als analytische Betrachtung der tatsächlichen Abläufe zu verstehen sind. Dieser Umstand zeigt sich neben der immer vorauszusetzenden Unterbestimmtheit der empirisch beschreibenden Analyse gegenüber der Wirklichkeit noch in der vorauszusetzenden Überschneidung dieser Sprachwurzeln. So muss etwa die doppelte Gegebenheit des Lautes ganz unbestreitbar auch in allen anderen Sprachwurzeln eine Rolle spielen, wie es überhaupt schwer vorstellbar ist, dass eine dieser Wurzeln in Reinform auftreten könnte: Im »Ruf« ist beispielsweise immer auch die Lust an lautmotorischer Verknüpfung gegeben, wie es die Eigenart von »Lautgesten« zu sein scheint, überhaupt auf alle verfügbaren Modi der Lautmotorik zurückzugreifen. Offensichtlicher noch als alle anderen Sprachwurzeln kann daher mit dem wiedererkennenden Laut als der fünften Sprachwurzel keine eigenständige Funktion, sondern es muss die in allen Sprachwurzeln angelegte Dimension der abrufbaren, »gekonnten Lautbewegung« und die damit einhergehende Übertragung schon bestehender symbolischer Feststellungen in das Medium des Lautes gemeint sein. Mit Blick auf diese Entlastungsleistung ist darauf hinzuweisen, dass die Lautbewegung nicht mit der Bewegung der Zunge und der Lippen gleichzusetzen ist, wie andere Autoren behaupten (vgl. Heike Delitz, a.a.O., S. 61: „Die Lautbewegungen der Zunge“). Zwar bewegen wir beim Sprechen auch die Zunge, die Pointe dieses Begriffs besteht allerdings darin, dass die körperliche Bewegung nicht durch eine andere Körperbewegung, sondern durch einen Laut ersetzt wird, der als wahrnehmbare Pseudobewegung eine »Ersatz-Handlung« ist.
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erkennens im Sprachlaut verdeutlicht Gehlen wiederum in Abgrenzung zu tierischem Verhalten. Indem Tiere instinktiv auf optische Eindrücke mit einer Körperbewegung reagieren, haben wir es dort mit einem Wiedererkennen zu tun, das das Verhalten bestimmt. Bei Tieren folgt auf einen gesehenen Reiz eine bestimmte, schon festgelegte Bewegung: „Wenn wir also das Wiedererkennen den Tieren unterstellen können, so werden wir es grundsätzlich nur da annehmen, wo ihr gesamtmotorisches Verhalten uns auf wiederholte Erfahrungen sicher schließen läßt, es ist also bei ihnen dieses Wiedererkennen eine Phase im Bewegungs- und Erfolgsablauf.“116 Analog dazu lässt sich auch bei Kleinkindern nachweisen, dass sie auf das optische Wiedererkennen bestimmter Gesamtsituationen zunächst mit ganzkörperlichen Bewegungen reagieren.117 Der Übergang von der Körperbewegung zu einem Wiedererkennen als Ersatz-Handlung in der Lautbewegung geht dann daraus hervor, dass das Kind auf den äußeren Eindruck nur noch mit einer bestimmten Lautäußerung reagiert. Die wiedererkennende Lautäußerung ist als eine nicht mehr mit dem ganzen Körper vollzogene „Antwortbewegung“118 auf einen bestimmten Eindruck zu verstehen. Tatsächlich lässt sich an diesem Übergang deutlich zeigen, wie wir uns den von Gehlen konzipierten Schichtenaufbau des menschlichen Geistes gemäß der Kategorie der Entlastung vorzustellen haben: Im Übergang von der Bewältigung der sich stellenden Probleme durch Körperbewegungen zum sprachlichen Umgang mit der Welt übernimmt eine andere Dimension des menschlichen Geistes die Führung des Handelns. Mit dieser Übernahme der mühevollen Bewegung durch die weniger anstrengende Bewegungsform liegt ein „typisches Entlastungserlebnis“119 vor. Ausgehend von dieser Sprachwurzel ist es also als die entlastende Leistung der Sprechens zu verstehen, sich auf den kommunikativen Anteil der Bewegung zu beschränken und in dem Sinne „Ersatz-Handlung“120 zu sein, dass sie an die Stelle der Bewegung des Körpers tritt. Diese Ersatz-Handlung unterscheidet sich von der darunter liegenden Schicht dadurch, kein Handeln im Sinne einer ganzkörperlichen Aktion des Leibes zu sein: „Damit, daß der Mensch die Dinge benennt, hat er bereits gehandelt – er kann die Handlung zurückbehalten und über sie selbst verfügen.“121 116 117 118 119 120 121
GA 3.1, S. 229. Vgl. ebd. Ebd., S. 236, 233. Ebd., S. 230. Ebd., S. 293. Ebd., S. 282. An einer solchen Ausführung zeigt sich das bereits in der Darstellung auftretende Problem dieser sich auf unterschiedliche Schichten beziehenden Rekonstruktion des Handlungsbegriffs: Gehlen kann offenkundig selbst nicht umhin, das vermeintliche Ersatz-
130
In dieser Selbstgenügsamkeit findet der sich in der taktilen Auseinadersetzung mit der Welt vollziehende Prozess der Symbolisierung durch das entfremdete Selbstgefühl auf der sprachlichen Ebene noch einmal statt. So ist die vollkommene Distanznahme zu den Dingen dadurch in der Sprache möglich, dass die Gegenstände vom wiedererkenenden Wort selbst her erfahren werden und wir uns hiermit aus einer sich zwischen das konkret erfahrbare Objekt und das Bewusstsein legenden Schicht auf die Welt beziehen können. Dass sich das Handeln hierauf aufbauend zusehends auf das Wiedererkennen im Laut und hiernach in Sprache verlegt, ist durch die mit dem Entlastungstheorem angenommene Leistungssteigerung im Verhalten beschreibbar. Diese Bewegungen können durch den „hohen Grad von Kommunikationsleistung, den wir im »Leben es Lautes« beobachten“122 ungleich mehr bewältigen, als es durch ganzkörperliche Bewegungen möglich ist. Durch das für jedes »Benennen« prototypische Verknüpfen von wiedererkannten Weltgehalten mit Lautäußerungen können wir ohne weitere mühevolle Körperbewegungen die uns in der Welt gestellten Probleme durch eine Bewegung im Laut erledigen, sie also in einem vergleichsweise entlasteten Verhalten verfügbar machen: „In all unserem Sprachleben hat sich aus diesen Wurzeln eine höchst merkwürdige Eigenheit erhalten: die Entlastung, die schon darin liegt, daß im bloßen Benennen schon ein Erledigen steckt.“123 Ohne an dieser Stelle der Frage nachzugehen, inwieweit sich die so angenommenen Sprachwurzeln in der von Gehlen vorgestellten Form empirisch nachweisen lassen, lässt sich hierüber die ganze Stoßrichtung dieser Theorie der Sprache kenntlich machen. Sprache aus den Sprachwurzeln abzuleiten, lässt das Sprechen als ein entlastendes Handeln verstehbar werden. Hiermit wird auch die jedem Sprechen zugrunde liegende Funktion des Geistes als eine Phase dieses Handelns verständlich. Sich in einer bestimmten Sprache zu bewegen ist genauso als ein verinnerlichtes »Können« zu verstehen wie jede gekonnte Körperbewegung, die das Bewusstsein im Handlungsvollzug steuert. Hieraus folgt, dass wir uns das grundlegende Verhältnis von Sprachsymbol und bezeichnetem Ding in Analogie zu der Beziehung von willentlicher Körperbewegung und intendiertem Objekt vorzustellen haben. Die mit den Sprachwurzeln anhebende Leistung des Bewusstseins im Sprechen besteht also nicht darin, bestimmte Gegenstände in der Weise mit Worten zu verbinden124 , dass ihnen Zeichen mit einem bestimmten propositionalen Gehalt gleichsam aufgeklebt würden, sondern vermittels bestimmter Bewegungen
122 123 124
Handeln als ein Handeln in vollem Sinne zu verstehen, sodass die Sinnhaftigkeit dieser Unterscheidung überhaupt fragwürdig erscheint. GA 3.1, S. 230. Ebd., S. 231. Vgl. ebd., S. 233.
131
mit ihnen umgehen zu können.125 Dabei nimmt das jeweilige Bewusstsein eines Individuums im Sprechen eine auch von den anderen Sprechern eingenommene Mittlerrolle zwischen dem Willen im Sinne des einverleibten Könnens und den im entfremdeten Selbstgefühl objektivierten Gegenständen ein. Gehlen nennt diese geistige Phase, welche die Lautbewegung zum sprachlichen Handlungsvollzug werden lässt: Denken. 2.3.2 Denken als reflektiertes Sprechen Verstehen wir das Sprechen als einen gekonnten Handlungsvollzug, dann wird die sich aus der beschriebenen Funktion des Sprechens ableitbare grundlegende Bestimmung des Denkens nachvollziehbar: Sie besteht in der vorstellenden Steuerung der Lautbewegungen im Umgang mit den Dingen. Diese Form des Bewusstseins müssen wir uns als die geistige Phase der Lautbewegung vorstellen, d.h. als ein Mittleres zwischen dem uns verfügbaren Können in der Äußerung von Worten und unseren aktuellen Intentionen im sprachlichen Umgang mit der Welt: „Denn dies ist klar: Intention nennen wir jedes Sichrichten auf äußere Eindrücke. Verläuft diese Intention in den Sprachbewegungen, wie es eben hier der Fall ist, so haben wir damit die vitale Basis des Gedankens. Denken ist ursprünglich vom Sprechen gar nicht trennbar und bedeutet die im Sprachlaut auf ein Ding verlaufende Intention.“ 126 Dieser Bezug zur tatsächlichen Bewegung lässt sich auf eine etwas griffigere Formel bringen: Denken heißt, das Sprechen zu lenken. Dass das hiermit im Denken gesteuerte Handeln in Sprache ein kategoriales Novum gegenüber dem Zusammenspiel von Körperbewegung und Auge darstellt, ist grundlegend auf die Selbstgenügsamkeit der Lautbewegung in der Identität von Bewegung und Symbol zurückzuführen: Die Sprache ist eine selbst etablierte „Zwischenwelt“127, in der die Objekte noch einmal in der Form von Worten und Sätzen erscheinen und von dort aus handhabbar werden. Dabei finden innersprachlich ganz analoge Prozesse der symbolischen Abkürzung statt, wie wir sie bereits in der Analyse der Bewegungs- und Empfindungsphantasie kennen gelernt haben. Den Aufbau der sprachlich symbolisierten Welt haben wir uns hiernach so vorzustellen, dass das aus der Sprachwurzel des Wiedererkennens hervorgehende Sprachsymbol – das Wort – zunächst für ein konkretes Benennen im Umgang mit einem bestimmten Gegenstand bzw. einer spezifischen Situation steht. Dieses Verhältnis ist als solches zwar noch auf 125 126 127
Vgl. ebd., S. 162. GA 3.1, S. 233. Ebd., S. 290.
132
die Anwesenheit des benannten Gegenstandes angewiesen, entlastet jedoch von körperlichen Bewegungen. Darauf aufbauend und analog dazu, dass optische Symbole und abgekürzte Bewegungen durch das Festhalten und Übertragen von Hinsichten ineinander gegenstands- und situationsunabhängig werden, gewinnt die Lautbewegung ihre Eigenständigkeit durch die innersprachliche Verknüpfung festgestellter Hinsichten. Analog zur Bewegungs- und Empfindungsphantasie kann von der geistigen Leistung der „Lautphantasie“128 die Rede sein, mit der bestimmte sprachlich verfasste Hinsichten aufeinander bezogen werden. Das eigentliche Potenzial der Sprache als einer ganz eigenständigen Schicht der symbolischen Bezugnahme auf die Wirklichkeit entfaltet sich in dem Moment, in dem einzelne Lautbewegungen durch die schöpferische Leistung der menschlichen Vorstellungskraft als bestimmte Namen und Prädikate aufeinander bezogen werden: Sprache befreit uns dadurch von der notwendigen Anwesenheit der benannten Dinge, dass im Verbalsatz das Benannte mit bestimmten in sprachlichen Symbolen abgekürzten Hinsichten, d.h., sprachlich verfassten Vorstellungen miteinander verknüpft wird. Das Medium des geäußerten Lautes lässt als Sprache dadurch eine rein kommunikative Entfremdung des eigenen Gefühls zu, dass die Lautäußerung als solche weit weniger konkrete Folgen nach sich zieht als die Bewegung unserer Gliedmaßen. So wenig wie wir mit den Lauten auf die unmittelbare Nähe der Gegenstände angewiesen sind, so selten rufen wir an den Dingen in der Welt durch den von uns geäußerten Ton merkbare Veränderungen hervor: Sprechen ist nicht mit einer Bewegung verbunden, durch die wir etwas heben oder drücken oder ein Hindernis umgehen. Im Gegensatz zu einer erfahrenden Bewegung unserer Gliedmaßen ist es damit nicht der Laut als solcher, sondern wesentlich die kommunikative Leistung des Sprachsymbols, die für die sich durch die Äußerung einstellenden Veränderungen in der Welt verantwortlich ist. Wir überhören geradezu den geäußerten Laut als solchen und nehmen unter Absehung von dessen unmittelbarer Qualität die in ihm symbolisierten Dinge wahr. In einer noch konzentrierteren Weise also, als wir die Gegenstände im entfremdeten Selbstgefühl des taktilen Umgangs von unseren eigenen Gefühlen her wahrnehmen, fühlen wir im benennenden Wort den Gegenstand als ihn »selbst« anwesend. Wir hören durch die im Verbalsatz hervorgebrachte Bezugnahme von Benennungen und Hinsichten aufeinander geradezu die Welt in ihrer lebendigen Fülle selbst zu uns sprechen:129 128 129
Ebd., S. 289, 326. Darauf, dass der so zu verstehende »Übergang der Dinge in den Laut selbst« entscheidend ist und dass dieses als eine fruchtbare Fortentwicklung des Meadschen Konzepts des »Handelns auf ein Du hin« verstanden werden muss, verweist Karl-Siegbert Rehberg unter Rückgriff auf ein frühes Manuskript von Gehlen: „Gehlen entfaltet sein Argument dann so, daß es eine »Entlastungsfigur« gebe, nämlich den »Übergang des Lautes auf das Ding selbst« [...] Gehlen
133
„Im einfachsten Verbalsatz dagegen: »Der Blitz fährt nieder« erreicht das Denken eine höhere Potenz und erfüllt eigentlich erst die Möglichkeit, die im Wort angelegt ist: die Welt lebendig zu machen [...] Für den Blitz und für den Gestaltvorgang des Niedergehens mögen die Einzelworte längst feststehen. Werden sie »synthetisiert« (Humboldt), so verbindet sich das Denken nur so mit sich selbst, daß der Wechsel der Hinsichten über die Sache läuft, und als die Dramatik und Lebendigkeit der Sache erlebt wird, die sich selbst in einer zweiten Hinsicht ausspricht.“ 130 Diese Aussage bedeutet auch, dass wir uns im Sprechen deshalb vollkommen von den Gegebenheiten in der unmittelbaren Handlungssituation lösen können, weil wir jeden möglichen an- oder abwesenden Gegenstand im Verbalsatz nach dem Muster der Verbindung von Empfindungs- und Bewegungsqualitäten in der Vorstellung behandeln können: Jedes Ding hat einen Namen und bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften und ist in irgendeiner Weise in die Aktivität mit den wirklichen Zusammenhängen eingebunden.131 Indem also die physische Nähe oder Ferne von Objekten für den sprachlichen Umgang mit denselben irrelevant ist, ist die Sprache das Medium der entlastenden Distanznahme par excellence – und im selben Moment dasjenige der engsten Beziehung zu den Dingen: Die Welt rückt in der zurückempfundenen Lautbewegung als eine eigenständige Wirklichkeit ganz „in den Bereich des eigenen Daseinsgefühls“132. Dabei ist festzuhalten, dass Gehlen die Wirklichkeit nicht mit dem Inhalt des sprechenden Bewusstseins gleichsetzt. Dem noch zugrunde liegend bezeichnet die eigentliche Wirklichkeit einen unserem bewussten Erkennen noch transzendenten Raum, mit dem es im ganzkörperlichen genauso wie im sprachlichen Handeln umzugehen gilt. Gehlen nennt dieses wirkliche Sein der Wirklichkeit ihren „Sachwiderstand“133 , dem wir in Sprache durch den ständigen Wechsel der in Worten und Sätzen benannten Hinsichten zu begegnen suchen:
130 131 132 133
sah in diesen Überlegungen zwar »keine eigentliche Erweiterung der Lehre von Mead, wohl aber eine ausführliche Interpretation des »zu kurzen Satzes«, in Meads »Mind, Self and Society«: »Bedeutung als solche, d. h. das Objekt des Gedankens, entsteht in der Erfahrung durch das Individuum, wenn es sich selbst stimuliert, die Haltung des anderen in seiner Reaktion gegenüber dem Objekt anzunehmen«“ (Karl-Siegbert Rehberg, Die Theorie der Intersubjektivität als eine Lehre vom Menschen, in: Hans Joas (Hg.), Das Problem der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 1985, S. 77; zu dem unveröffentlichten Manuskript vgl. ebd. S. 88; vgl. George Herbert Mead, Mind Self and Society, Chicago 1934, S. 89: „Meaning as such, i.e., the object of thought, arises in experience through the individual stimulating himself to take the attitude of the other in his reaction toward the object.“ GA 3.1, S. 286. Vgl. ebd., S. 286. Ebd., S. 235. Ebd., S. 288.
134
„Über das, als was sie im Denken oder Handeln genommen wird, geht die Wirklichkeit wesentlich hinaus. Dies ist der Sachwiderstand, eine auch theoretische Kategorie, die zum Wechsel der Hinsichten nötigt: schon von der Sache her erfordert das gesagte Wort das nächste, so daß ein Ding in Worte zu fassen eine unendliche Aufgabe wird.“134 Unter der Voraussetzung dieser Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und der Zwischenwelt der Sprache entwickelt Gehlen das Ausdifferenzieren von Begriffen als eine Reflexion der Lautbewegung, die nach dem Schema einer Kreisbewegung verläuft. Im Sinne einer Reflexion erster Ordnung ist der Begriff bzw. der Gedanke als derjenige Bewusstseinsinhalt zu verstehen, der die Lautbewegung in einer bestimmten Weise auf die widerständige Sache richtet; also eine bestimmte Intention in der Lautbewegung, d.h. eine Form des bewusst gerichteten Willens: „Es muss [...] gesagt werden, daß im unmittelbaren Gebrauch, im Fluß der Rede oder im unmittelbaren Verhältnis der Bezeichnung Wort und Begriff nicht unterscheidbar sind.“135 Die Reflexion sprachlich gefasster Gedanken ist im Anschluss daran derjenige Bewusstseinsakt, der diese Sprachbewegung korrigiert, sofern sie nicht mit der gemeinten Sache fertig geworden ist: „Der Gedanke ist die im Wort verlaufende Intention auf die Sache, aber indem der Wortgedanke an der Sache Widerstand findet, fällt er auf sich selbst zurück (Reflexion) und erfaßt, daß das verklingende Wort ihn nicht ausschöpfte; so schlägt er zurück, um sich in einem anderen Worte wiederzufinden.“136 Das Verhältnis von geäußertem Wort und Begriff haben wir uns also grundlegend in der Weise vorzustellen, wie die Bewegung eines Kreisprozesses zu dem in der Vorstellung verfügbaren, entfremdeten Selbstgefühl steht: „Das Wort ist also vor allem wirkliche Aktion, und man darf diese Seite der tatsächlichen Motorik niemals übersehen. Daß diese Aktion sich selbst sinnlich zurückempfängt – hört, in diesem Falle – teil sie mit anderen entlasteten kommunikativen Aktionen, z.B. mit den Tastbewegungen. Die oft gemerkte Analogie von Sprache und Hand tritt hier ein, und genau wie die Tasterfolge der Handbewegung Anreize zur Fortsetzung derselben sind, sind die Lautmassen »Schwungrad« neuer Artikulationen.“137 Der Begriff ist demnach die geistige Phase der Bewegung im Laut und aufgrund der Identität von Bewegung und Sprachsymbol seiner Form nach zunächst identisch mit dem geäußerten Wort. Vom geäußerten Wort unter134 135 136 137
Ebd., S. 288. Ebd., S. 290. Ebd. Ebd., S. 292.
135
scheidbare Begriffe differenzieren sich erst ganz genauso wie gekonnte Körperbewegungen darin aus, dass die in der Handlung erfahrenen Widerstände die vollzogene Bewegung hemmen, die Lautbewegung reflektiert und darüber der Ansatzpunkt für die nächste Bewegung ermittelt wird: „Allein in der Reflexion setzt sich der Gedanke als unerschöpft vom Wort ab und ist bloßer »Sinndruck«, bis er sich wieder im Worte faßt.“ 138 Die Aufgabe der denkenden Reflexion versteht Gehlen als fundamental mit der Suche nach der angemessenen Bewegung im Sprechen verbunden. Wo das geäußerte Wort mit der Wirklichkeit – d.h. dem Sachwiderstand der Dinge – ohne Probleme fertig wird, da bedarf es keiner weiteren Reflexion. Der im Reflektieren der gehemmten Lautbewegung ermittelte Begriff erfüllt seine Funktion für die angemessene Steuerung artikulierter Laute. Dieses Zusammenwirken der vollzogenen Lautbewegung und ihrer kommunikativen Reflexion versteht Gehlen, wie er dieses in Zeit-Bilder betont, als den wünschenswert wachen Zustand des menschlichen Bewusstseins in seinen andauernden Kreisbewegungen: „Die Reflexion ruht mithin bereits in den Fundamenten der Sprache, sie kann dort aber selbst zur Problemlosigkeit verschleifen und wird dann zuständlich, stellt sich nur noch als Wachheit des Bewußtseins dar. Die normale menschliche Bewußtseinshelle darf als chronisch zuständliche, eingewöhnte Reflexion betrachtet werden, weil wir dauernd in Beziehung zweier Bewußtseinsfelder leben: dem der Wahrnehmung und dem der Sprache. Benennt aber jemand dieselbe Sache in einem anderen Wort, als uns geläufig ist, dann springt beim Hörer auf dieser selbst schon komplizierten Ebene wieder das Rückschnellen des gestörten Vollzugs ein, eine aktuelle Reflexion.“139 Zusammenfassend lässt sich über aufgezeigte Verhältnis von Sprache, Denken und Reflexion also feststellen, dass Gehlen dieses Verhältnis aus der Bewegung des einzelnen handelnden Menschen und nicht aus dem kommunikativen Austausch zwischen den Menschen heraus versteht: Das Sprechen ist eine wesentlich auf Kommunikation mit den Dingen angelegte Bewegung, deren vorstellende Steuerung das Denken ist. Abgeleitet aus diesem Verhältnis haben wir uns die Reflexion als eine durch das Rückempfinden der Hemmung der Lautbewegung hervorgerufene Bewusstseinsleistung vorzustellen, deren Funktion darin besteht, eine adäquatere Lautbewegung zu ermitteln. Zu sprechen ist hiernach – genauso wie die Körperbewegung – eine am zurückempfundenen Gefühl fortlaufend orientierte entfremdete Eigentätigkeit.
138 139
Ebd., S. 290. ZB, S. 63.
136
2.3.3 Sprache und Selbstbewusstsein Angesichts der auf diese Weise entwickelten Bestimmung der Sprache als einer Zwischenwelt wird die von Gehlen vertretene Konzeption der Innerlichkeit deutlich, die der Entgegensetzung von geistiger Distanznahme und Wirklichkeit zugrunde liegt. So tritt das sprachliche Bewusstsein genauso wie jede andere Schicht des menschlichen Geistes als das verbindende Glied zwischen die Innenwelt der formierten Antriebe und der Außenwelt des Handelns. In Gegenüberstellung zu der jenseits der Sprache liegenden Wirklichkeit im Äußeren müssen wir uns das Seelenleben als eine Sphäre des Inneren vorstellen, auf die sich der Mensch ebenfalls vermittels seines in der Steuerung der Handlungen nach außen gewendeten Bewusstseins bezieht. Eingedenk dessen gilt es, die Bedingung der Möglichkeit dafür aufzuzeigen, dass wir uns im sprachlich gestützten Vorstellen auf diese beiden voneinander getrennten Sphären beziehen können. Die uns mit dem Verweis auf die „»innere Außenwelt«“140 geläufige Antwort Gehlens darauf ist, dass sich mit dem Erwerb einer Sprache auch unsere Antriebe nach ihren Modalitäten formieren und damit in dieser Sprache handhabbar werden. Er nennt diesen Vorgang die sich in unseren sprachlich verfassten Vorstellungen vollziehende „Angleichung der inneren und äußeren Welt“141: „Die Sprache bringt Inneres und Äußeres auf eine Ebene, nämlich ihre eigene.“142 Das aus dem Sprechen hervorgehende Selbstbewusstsein des Menschen geht im Anschluss daran damit einher, in der Sprache in ein verobjektivierendes Verhältnis nicht nur zur Außenwelt, sondern auch zu den eigenen Interessen und Bedürfnissen zu treten. Gehlen folgt diesbezüglich Herders Begriff der »Besinnung in Sprache« und stellt fest, „daß auch kein Zustand in der menschlichen Seele sei, der nicht wortfähig sei oder wirklich durch Worte der Seele bestimmt werde.“143 Mit dieser Überformung des Antriebslebens durch die Sprache lässt sich also feststellen, dass innere und äußere Welt jetzt in ein und demselben Symbolsystem zusammenfallen: „Es ist von allergrößter Bedeutung, daß mit der beginnenden Sprache das Antriebsleben des Menschen in demselben System sich äußert und selbst faßlich wird, das auch die Bewältigung der Welt führend an sich nimmt. Es ist dies der Weg, auf dem, wie Herder sagt, »alle Zustände der Seele sprachmäßig werden« (nicht: sind).“144 140 141 142 143
144
GA 3.1, S. 302. Ebd., S. 300. Ebd. Ebd., S. 303; vgl. Johann Gottfried Herder, a.a.O., S. 78: „Und in der Menschlichen Seele ist, wie wir selbst im Träumen und bei Verrückten sehen, kein solcher Zustand [der nicht Wortfähig werde] möglich.“ GA 3.1, S. 235.
137
Diese Angleichung ist entscheidend für das Fortkommen des Menschen. Wir können unser Leben nur deshalb selbst führen, weil wir unsere Gefühle, Bedürfnisse und Interessen, d.h. unseren Willen, in sprachlichen Termini begreifen und uns im Sprechen ungeachtet der gegenwärtigen Situation auf zukünftige Bedürfniserfüllung beziehen. Vorstellungen alleine von der Außenwelt wären demgegenüber keine hinreichende Bedingung dafür, sich in planender Distanznahme zur Handlungssituation auf die Zukunft beziehen zu können; genauso müssen wir uns in unseren sprachlich vermittelten Vorstellungen auch auf unsere inneren Dispositionen beziehen können, um überhaupt in der Lage zu sein, Ziele zu formulieren. Hiermit wird auch die zeitliche Distanzierung zur unmittelbaren Handlungssituation nachvollziehbar, in die der Mensch treten muss: Wir können unser Leben nur deshalb führen, weil wir unseren zukünftigen Interessen den Vorrang vor den Bedürfnissen in der unmittelbaren Situation geben können. Genauso einsichtig ist, dass wir diesen zukünftigen Interessen nur im Rückgriff auf schon Bekanntes, mithin auf die Sphäre unserer Erinnerungen habhaft werden. Die Erinnerungen des Menschen sind noch vor der bewussten sprachlichen Bezugnahme in dem uns bereits bekannten Sinne als Gedächtnis des Leibes145 zu verstehen; also als durch Lebenserfahrungen verinnerlichte Handlungsabläufe, die im gegenwärtigen Handeln abrufbar sind: „Es muß sich also jeder gegenwärtige Zustand dem Organismus in einer stilen und bewußtlosen Weise, die ich passiv nenne, einprägen, und diese wörtlich so zu nennende Einbildungskraft ist vor allem deutlich im Felde des Motorischen, wo vollzogene Aktionen sich als Handlungsbereitschaften gleichen Sinnes niederschlagen [...] Es ist nun eine wichtige Tatsache, daß diese so in uns aufgesammelten Gedächtnisbilder aktiviert werden können, und zwar durch unsere in die Zukunft hineinstoßenden Handlungen.“146 Indem diese Fähigkeit also als noch weit vor bewussten, sprachlich benennbaren Erinnerungen einsetzen muss, weist Gehlen auch diesbezüglich auf die Bedeutung der Phantasie im Gegensatz zur Vernunft im Prozess des Erinnerns hin.147 Es ist demnach im Wortsinn als Leistung der Einbildungskraft des Menschen zu verstehen, bestimmte Vorstellungen zu verinnerlichen – sich einzubilden – wie es ebenfalls der Phantasie zuzuschreiben ist, diese auf andere Situationen anzuwenden, d.h., sich in diese unter Rückgriff auf die Erinnerung an frühere Situationen hineinzuversetzen: „Unter Einbildungskraft im allgemeinen versteht man die Fähigkeit eines Organismus, die von ihm durchlaufenen Zustände sich einzuverleiben, in 145 146 147
Vgl. Abschnitt 1.6.1. GA 3.1, S. 295. Vgl. ebd., S. 373.
138
sich hineinzubilden, mit dem Zweck, sich künftig auf Grund vorheriger Erfahrungen oder Zustände verhalten zu können.“148 Gehen wir dabei mit Gehlen davon aus, dass das Sprachsymbol wesentlich aus dem Umgang mit optischen Eindrücken hervorgeht, lässt sich die Rolle der sprachlich gestützten bildlichen Erinnerung für die menschliche Lebensführung nachvollziehen. Indem nur die Sprache es ermöglicht, mit den Dingen der Außenwelt ohne deren Anwesenheit umzugehen, ist es auch erst durch die Lautbewegung in einem vollen Sinne möglich, über eine innere Welt der Vorstellungen und Erinnerungen zu verfügen. Die Eigenart der auf die Zukunft gerichteten Lebensführung des Menschen besteht demnach darin, dass das Individuum in seinem erfahrenden Umgang mit der Welt eine sprachlich estützte Sphäre der in der Erinnerung abrufbaren bildlichen Vorstellungen von Handlungsmöglichkeiten aufbaut. Der Hinweis auf dieses unterhalb der reflektierten Bezugnahme auf ideelle Gehalte einsetzende Ausprägen von Vorstellungen ist nicht zuletzt als eine gegen jeden Platonismus gerichtete Herleitung von Ideen und Begriffen aus dem praktischen Umgang mit der Welt zu verstehen. Wie sich in Gehlens Rekonstruktion der begrifflichen Reflexion aus der Kreisbewegung bereits ablesen lässt, beziehen wir uns im Sprachgebrauch weder auf ewige Ideen noch erinnern wir uns in der nachdenkenden Reflexion an dieselben; vielmehr sind Ideen die in unserem sprachlichen Umgang verinnerlichten Handlungsmöglichkeiten, die in der das Sprechen begleitenden Vorstellung als „entlastete, bewegliche Bilder, die beliebig wiederholbar und situationsfrei auftreten“149 und hierin als Instrumente für zukünftige Tätigkeit einsetzbar sind. In diesem Sinne handelt es sich bei Begriffen um sekundäre, erst im Umgang mit der Welt hervorgebrachte „Erinnerungsphantasmen“150 , die als Mittel eigentätiger Lebensführung dienen. Tatsächlich erklärt Gehlen damit auch, wie es zu der fehlgeleiteten Annahme ewiger Ideen kommen konnte – eine Erklärung, die auf die Leistungsfähigkeit unserer Vorstellungen im sprechenden Umgang mit der Wirklichkeit hinausläuft: Weil bestimmte Vorstellungen über lange Strecken einen glatten Bewegungsablauf gewährleistet haben, erscheinen sie dem Platoniker als noch vor der Erfahrung liegende ewige Ideen. Trennen wir uns von diesem Ewigkeitsanspruch und verstehen ideelle Gehalte von der Handlung her, dann sind diese Gehalte in dem beschriebenen Sinne das Ergebnis der in sich reflektierten Lautbewegung, deren wesentliche Leistung darin besteht, dass wir uns von den Bedingungen der unmittelbaren Situation absehend auf Handlungsmöglichkeiten beziehen können: „das Denken ist Mittel zum entlasteten, symbolischen Umgang und wesentlich auf die Handlung 148 149 150
Vgl. ebd. Ebd., S. 296. Ebd.
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bezogen. Es ist die Methode des »Nehmen-als«, des Wechsels der Hinsichten, des Planens und Neukombinierens in Abwesenheit der realen Situation.“151 Eine weitere aus der Leistung der Sprache ableitbare Fehleinschätzung ist laut Gehlen die Annahme eines jeden absoluten Idealismus, dass Wirklichkeit und Denken ineinander fallen: Weil wir uns im Denken mit denselben Vorstellungen auf wirkliche wie auf nur vorgestellte Gegenstände beziehen, tritt der dabei tatsächlich bestehende Unterschied zwischen der Wirklichkeit der äußeren Gegebenheiten und den sich darauf beziehenden inneren Vorstellungen in den Hintergrund. Für ein sich dieses Unterschieds nicht bewusstes Philosophieren sind die Grenzen der Wirklichkeit der Handlungssituation und der Unwirklichkeit aller im Denken vorgestellten Weltinhalte deshalb unkenntlich: „So macht sie [die sich dieses Unterschieds nicht bewusste Philosophie, S.W.] zwischen vorgestellten und wirklichen Dingen keinen Unterschied, und eben damit verwischt sie für unser Bewußtsein immer wieder den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Vorstellung. Man braucht nicht auf die zahlreichen Beispiele in der Geschichte der Philosophie hinzuweisen, die zeigen, wie der Reflexionsstandpunkt diesen praktisch so eminenten Unterschied sofort aufhebt, aber man kann sagen: jene Systeme waren nur so lange möglich und sogar notwendig, als man in unbewußter Bindung an die Sprache philosophierte.“152 Entgegen diesem idealistischen Fehlschluss haben wir uns als das Medium dieser in der Erfahrung erworbenen Vorstellungen die noch weit unterhalb der Reflexion einsetzende und dort im Sinne des Gedächtnisses des Leibes auf die charakterlichen Dispositionen des Menschen bezogene innere „historische Reaktionsbasis“153 vorzustellen. Mit gesondertem Blick auf sprachliche Vorstellungen wird auf diese Weise die Formierung des Antriebslebens als Rückwirkung des Handelns in Sprache deutlich: Die Sprache macht alles in
151 152 153
Ebd., S. 298. Ebd. Ebd., S. 295; vgl. ebd., S. 361. Gehlen übernimmt diesen Begriff von Hans Driesch (Hans Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig 1928, S. 242ff.). Driesch beschreibt dort die historische Reaktionsbasis als eines der „Fundamente der Handlung“ (ebd., S. 243) und macht in seinen Ausführungen bereits Gehlens Anliegen transparent: Die historische Reaktionsbasis ist nicht so zu verstehen, dass wie bei einem Aufnahmegerät (einem „Phonograph“ (ebd.)) bestimmte Bewegungen ein für alle mal festgelegt und unverändert abrufbar werden. Vielmehr ist die historische Reaktionsbasis in dem „sehr allgemeinen, nicht in einem besonderen Sinne als „historisch“ (ebd.) zu verstehen, dass sie flexibel auf neue Erfahrungen reagiert. Auf diesen Gegensatz zwischen mechanischer Aufzeichnung und organischer Verinnerlichung verweist auch Helmuth Plessner. Vgl. Helmuth Plessner, a.a.O., S. 354.
140
der Welt verfügbar, indem sie äußere Handlungsmöglichkeiten symbolisiert und im Zuge dieses Könnens auch das Seelenleben in ihre Form bringt. 154 Dass mit der Sprache also unser eigenes Inneres genauso wie die Außenwelt von unseren Handlungsmöglichkeiten her verstanden werden kann, bedingt den übersubjektiven Charakter menschlichen Selbstbewusstseins: Indem sich unsere Interessen und Bedürfnisse in den auf die Kommunikation mit Anderen angelegten Sprachsymbolen formieren, sind wir auch für uns selbst nur unter den Vorzeichen des Allgemeinen greifbar. Auf dieser Grundlage entwickelt Gehlen die auf den fundamental sozialen Charakter der Sprache abgestellten Überlegungen in der überarbeiteten Fassung von Der Mensch in Anlehnung an Plessner und Mead.155 Dabei beschreibt er als eine Übereinstimmung mit Helmuth Plessner, ganz wie dieser das »Ich« als den „Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung“156 zu begreifen. Plessner folgend geht auch Gehlen davon aus, dass die Sphäre des dergestalt exzentrisch positionalisierten Bewusstseins als die mit anderen Menschen geteilte „Mitwelt“157 verstanden werden muss, in der wir uns zu uns selbst genauso wie zu anderen Menschen in eine vermittelnde Distanz begeben können: „Der geistige Charakter der Person besteht in der Wir-Form des eigenen Ichs, zwischen mir und mir, zwischen mir und ihm liegt dieselbe Sphäre dieser Welt des Geistes. Die mit wir bezeichnete Sphäre als solche ist das, was allein in Strenge Geist heißen kann.“158 In dieselbe Richtung verlaufen die auf den sozialen Charakter des Geistes abgestellten Anleihen bei George Herbert Mead, aus dessen Überlegungen Gehlen schon den für seine Symboltheorie so wichtigen Gedanken der Antwortbewegungen im Rollentausch159 mit den Dingen entwickelt. Dass die Sprache wie jede andere Symbolleistung des Menschen von Grund auf kommunikativ ist, sucht Gehlen überdies unter Rückgriff auf Mead mit der Theorie des Spiels zu untermauern, die wir schon im Umfeld der Sprachwurzeln kennengelernt haben.160 Darauf aufbauend geht er in seiner Herleitung des sprachlich vermittelten Selbstbewusstseins davon aus, dass nicht nur die außer uns liegenden Gegenstände, sondern auch unser Verhältnis zu uns selbst 154 155 156 157
158 159 160
Vgl. GA 3.1, S. 300ff. Vgl. ebd., S. 306ff. Ebd., S. 305. Ebd.; vgl. Helmuth Plessner, a.a.O., S. 365ff. Tatsächlich findet sich ein kurzes Referat zu Plessners Stufen des Organischen und zu George Herbert Meads Mind, Self and Society erst in der überarbeiteten Fassung von Der Mensch (1950). Zu dem vorherigen Verschweigen des Werkes von Helmuth Plessner vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 759; dazu und zum persönlichen Verhältnis zwischen Plessner und Gehlen vgl. Joachim Fischer, a.a.O., S. 164f., 218f., 228f. GA 3.1, S. 305f. Vgl. ebd., S. 194, 215. Vgl. ebd., S. 238ff.
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dadurch geprägt ist, dass wir die Rolle des Anderen übernehmen.161 In der Sprache, so die von Mead übernommene These, tritt das »I« als ein »Me«162 zu sich selbst in eine verobjektivierende Distanz. Nur in dieser Distanznahme durch die übersubjektiven Termini der Sprache, in der es immer als ein »mich« im sozialen Raum erscheint, kann das »Ich« für sich selbst zum Gegenstand werden: „So unterscheidet Mead auch terminologisch das I und das Me. »Das Ich reagiert auf das Selbst, das durch das Übernehmen des Verhaltens der anderen entsteht. Indem wir diese Attitüden einnehmen, haben wir das »Mich« eingeführt (das Selbst in der Objektrolle für sich selbst), und wir reagieren darauf als ein »Ich«. Das Mich ist also durchaus sozialisiert: The »me« is the organized set of attitudes of others which one himself assumes«.“ 163 Hegel folgend könnte dieses sozialisierte Selbstbewusstsein des Menschen als ein allgemeines »Ich« verstanden werden. Gehlen geht es jedoch gerade nicht darum, Selbstbewusstwerdung im Sinne eines auf das Wissen hinauslaufenden absoluten Idealismus zu beschreiben. Tatsächlich kann man diese Differenz nicht nur an der durchgehaltenen Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Begriff sowie der als konstitutiv vorauszusetzenden Trennung zwischen Innen- und Außenwelt, sondern auch an dem von Gehlen angenommenen Gegensatz zwischen Phantasie und Vernunft164 verdeutlichen. So müsse nicht die Vernunft, sondern die „Phantasie ganz eigentlich das elementare Sozialorgan“165 genannt werden, indem diese schon auf sprachlicher Ebene anhebend mit den „entlasteten Phantasieinteressen“166 im Spiel für den sich über das entfremdete Selbstgefühl einstellenden Rollentausch verantwortlich sei.167 Das Verhältnis von »I« und »Me« haben wir uns in dieser Weise als mit dem sich indirekt einstellenden Selbstgefühl korrespondierend vorzustellen – im Sinne eines durch die Einbildungskraft bedingtes Sichversetzens also, das mit bestimmten, durch den Spracherwerb in das eigene Verhalten aufgenommenen und hierin von allen Sprechern geteilten Willensbestimmungen einhergeht. In diesem Verhältnis wird das Selbstbewusstsein dann dergestalt „ausgefällt“168 , dass es als Phase zwischen die in den eigenen Willen aufgenommenen sprachlichen „Verhaltensweisen Anderer“169 und das tatsächliche Handeln tritt. Geh161 162 163 164 165 166 167 168 169
Vgl. ebd., S. 242, 306ff. Vgl. George Herbert Mead, Mind Self and Society, a.a.O., S. 174ff. GA 3.1, S. 308. Vgl. Abschnitt 1.4.2. GA 3.1, 376. Ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 376f. US, S. 168. Ebd. S. 168f.
142
len führt diesen Zusammenhang unter Bezugnahme auf Mead in Urmensch und Spätkultur noch mit Blick auf die Mimik als Form der Sprache aus: „Die mimische Darstellung kann als eine leibnähere, affektreichere, sozusagen pralle Form der Sprache aufgefaßt werden, denn es gilt von ihr ebenso wie von dieser, daß wir »die Einstellungen (attitudes) anderer Personen in unser eigenes Verhalten aufnehmen« [...], sofern wir uns mit Gesten ebenso wie mit Worten in das Verhalten eines Anderen versetzen und sein Verhalten in einem »entfremdeten Selbstgefühl« in das eigene hineinnehmen: dies ist zugleich der Prozeß, in dem das Ich sich von seinen Äußerungen unterscheidet, das Selbstbewusstsein sozusagen ausgefällt wird. Das Individuum gewinnt, wie Mead richtig sah, Erfahrung von sich als einem Ich nicht unmittelbar, sondern nur im Kontrast zu einem entfremdeten Teil des eigenen Selbst, der sich ihm eben in der Hineinnahme von Verhaltensweisen Anderer entfremdet.“ 170 In dieser Konstruktion steht Gehlens Bestimmung der Leistung des Selbstbewusstseins jedoch derjenigen Meads gänzlich entgegen. Dieser Unterschied wird von Honneth und Joas herausgestellt, indem sie darauf hinweisen, dass es ihm in seiner Theorie des Rollentauschs mit dem Anderen um die „Funktion von Kommunikation und Selbstbewusstsein für Kooperation“171 geht. So stellt Mead heraus, seinen Analysen gerade nicht „das Verhalten der einzelnen Wesen, die diese Gruppe bilden“172, zugrunde zu legen, sondern umgekehrt „von einer komplexen Gruppenaktivität“173 auszugehen, aus der heraus „das Verhalten jedes einzelnen Individuums“174 verstehbar wird. Gehlen kommt demgegenüber mit seinem methodischen Ansatz der vom „Handlungsakt des einsamen Subjekts“175 ausgehenden Rekonstruktion der Leistungen des Bewusstseins nicht über die konstitutive Trennung zwischen den Individuen hinaus, weil er das Sprechen als eine handelnde Bewegung gegenüber der
170
171 172 173 174 175
Ebd., S. 169; vgl. George Herbert Mead, Mind Self and Society, a.a.O., S. 69. Dass Gehlen mit diesem Verweis auf den Sprachgebrauch noch keineswegs auf die in seinem Sinne bestmögliche Form des Selbstbewusstseins abhebt, werden wir in der Untersuchung der mythischen Erzählung sehen. Die Sprache, so der damit verbundene Gedanke, bedarf selbst noch des Eingebundenseins in eine Institution, damit ein dem Leben angemessenes Bewusstsein entsteht. Axel Honneth/Hans Joas, a.a.O., S. 64. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1968, S. 45; vgl. Axel Honneth/Hans Joas, a.a.O., S. 65. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, a.a.O., S. 45; vgl. Axel Honneth/Hans Joas, a.a.O., S. 65. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, a.a.O., S. 45; vgl. Axel Honneth/Hans Joas, a.a.O., S. 65. Axel Honneth/Hans Joas, a.a.O., S. 65.
143
Wirklichkeit und nicht als das diese Wirklichkeit in der Kommunikation zwischen den Menschen176 konstituierende Sphäre versteht: „So sehr Gehlen nun aber in seiner Sprachtheorie auch das alte Folgeschema von Denken und Sprechen in pragmatischer Weise umstülpt, so wenig gelingt ihm dies in der intersubjektiven Dimension des Verhältnisses von Ausdruck und Mitteilung [...] Geht man wie Gehlen vom einzelnen Handelnden aus, dann wird die Sprache zwar selbst als hochentwickelte Form sensomotorischen Verhaltens bewußt, ihr dialogischer Charakter jedoch erscheint als zweitrangig.“177 Gehlen, so kann man sich diese Kritik mit einer Unterscheidung von Norbert Elias klarmachen, kann auf diese Weise nicht zeigen, wie wir uns Selbstbewusstsein als eine allgemeine, die Grenzen der eigenen Innerlichkeit überschreitende Form des Geistes vorzustellen haben178, sondern nur, wie sich die jeweils als „homo clausus“179 konzipierten Menschen im sprechenden Bewusstsein aufeinander einstellen, indem sie dieselben Verhaltensweisen adaptieren. Ein Problem, das offenkundig aus der empirischen Methode Gehlens folgt, die in der Beschreibung der einzelnen handelnden Menschen die von ihm selbst eingenommene, sich ausgehend vom Allgemeinen auf die einzelnen Akteure beziehende Perspektive nicht integriert. 176
177 178
179
Vgl. ebd., S. 68. Auf diesen Unterschied verweist auch Johannes Weiß, indem er herausstellt, dass es Mead in seinem Theorem des Rollentausches wesentlich darauf ankommt, dass sich „das Ego die Perspektive des Alter zu eigen macht und von ihr her handelt“ (Johannes Weiß, a.a.O., S. 115). Diese mit dem reflexiven Akt, verbundene Leistung des sprachlichen Bewusstseins verbundene Leistung, an der Stelle des anderen zu denken, findet sich bei Gehlen nicht. Axel Honneth/Hans Joas, a.a.O., S. 68. Vgl. Patrick Wöhrle, Handlung bei Arnold Gehlen – Schlüsselprinzip oder Schlüsselattitüde, in: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie. Heft 1/2 (Sonderheft Nr. 2). Zwischen Führerkult und Mängelwesen. Zur Aktualität Arnold Gehlens, Leipzig 2005, S. 53: „Jene Spontaneität des »I«, die George Herbert Mead gegen Sozialisationstheorien einer reibungsund bruchlosen Internalisierung gesellschaftlicher Erwartungen einbrachte, scheint bei Gehlen zu großen Teilen im Konzept einer »totalen Sozialisation« aufzugehen.“ Vgl. dazu auch Patrick Wöhrle, Metamorphosen (…), a.a.O., S. 177f.: „Die Einsicht also, dass der Mensch »zunächst einmal ausschließlich in gesellschaftlichen Begriffen« denkt [...] wird auch durch die ausführliche Mead-Rezeption seit 1950 nicht in den Gesamtrahmen von Gehlens Anthropologie eingebettet.“ Norbert Elias, a.a.O., S. 52. Tatsächlich gibt Elias mit diesem Begriff eine passende Definition davon, wie wir uns das Verhältnis der Individuen zueinander bei Gehlen vorzustellen haben: „Die Vorstellung des einzelnen Menschen, der ein homo clausus ist, eine kleine Welt für sich, die letzten Endes ganz unabhängig von der großen Welt außerhalb seiner existiert, bestimmt das Bild vom Menschen überhaupt. Jeder andere Mensch erscheint ebenfalls als ein homo clausus; sein Kern, sein Wesen, sein eigentliches Selbst erscheint ebenfalls als etwas, das in seinem Innern durch eine unsichtbare Mauer, von allem was draußen ist, auch von allen anderen Menschen, abgeschlossen ist“ (ebd., S. 52).
144
Mit der damit aufrechterhaltenen Trennung zwischen den handelnden Individuen tritt auch die mit dem Begriff der Zwischenwelt einhergehende Entgegensetzung von Wirklichkeit und sprachlich verfasstem Bewusstsein als diejenige zwischen Erkenntnis und Lebensprozess umso schärfer hervor, die Gehlens Konzeption sowohl von derjenigen Hegels als auch Helmuth Plessners unterscheidet. Diese Differenz kann etwa anhand der einleitenden Überlegungen Plessners zur Lebensphilosophischen Problemlage unter dem Gesichtspunkt der Theorie der Geisteswissenschaften in Die Stufen des Organischen und der Mensch180 nachvollzogen werden. Plessner stellt dort unter anderem in Anlehnung an Dilthey und Hegel eine dahingehende Kontinuität zwischen den Prozessen des Lebens und dem menschlichen Geist dar, dass diesem in letzter Konsequenz die Aufgabe zukomme, Wissen über diesen Lebensprozess zu erlangen – das Leben vollendet sich im Selbstbewusstsein des Menschen, indem er dieses Leben zu begreifen fähig sei: „Leben besteht zwar nicht in diesem Wissen von sich, es vollendet sich nur in ihm [...] Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, diesen Prozess des Verstehens selbst wieder zu begreifen und damit das Selbstbewußstsein des Lebens objektiv zu machen.“181 Was bei Plessner als der sich selbst verstehende Geist der Mitwelt im Selbstbewusstsein zu sich selbst kommt – „Leben versteht Leben“182 – kann in Gehlens Rekonstruktion nur als ein bloß „gedachtes Bewußtsein“183 gedacht werden, das sich in dem uns bereits bekannten Sinne vom „Bewußtseinsstrom“184 her denkend seiner Funktion für das Handeln inmitten der nicht in Begriffen fasslichen Wirklichkeit des Lebens nicht bewusst ist. Im Anschluss daran ist das handlungslose Denken nicht als Ort der reflexiven Selbstbewusstwerdung in diesem Sinne, sondern wesentlich als Instrument des planenden Vorgriffs auf das zukünftige Handeln eines lebendigen Wesens inmitten des irrationalen Geschehens des Lebens zu verstehen.
2.4 Erkenntnis und Gewissheit Indem der Handlungskreis auf die erfahrenden und erfahrbaren Bewegungen des Auge-Hand-Systems und der Sprache beschränkt ist, sind die nicht als Phase in die Tätigkeit eingebundenen geistigen Prozesse als handlungslose Vorgänge zu verstehen: Denken im eigentlichen Sinne ist stilles und deshalb 180 181 182 183 184
Vgl. Helmuth Plessner, a.a.O., S. 49ff. Ebd., S. 59. Ebd. GA 3.1, S. 206. GA 4, S. 11; vgl. Abschnitt 1.6.1.
145
untätiges inneres Sprechen, was Gehlen mit dem Begriff des lautlosen Denkens185 fasst. Innerhalb des sich immer weiter von der konkreten Handlungssituation distanzierenden Schichtenaufbaus des menschlichen Handelns unterscheidet sich das stille Denken von der Ersatz-Handlung des Sprechens damit darin, durch keine erfahrende und erfahrbare Bewegung gekennzeichnet zu sein.186 Jemand der nachdenkt, bewegt sich nicht zwangsläufig, ignoriert möglicherweise die äußeren Wahrnehmungs möglichkeiten und konzentriert sich auf die Bezugnahme seiner Vorstellungen aufeinander: „Wer still dasitzt, nichts zu sehen und zu hören scheint, denkt wahrscheinlich.“187 Eingedenk dieses phänomenalen Unterschiedes zum sprechenden Denken werde ich es fortan das »Nachdenken« nennen. Anders als im Übergang von der Handlung zur Ersatz-Handlung innerhalb des Handlungskreises geht der Wechsel vom sprechenden Denken zum Nachdenken mit einer ontologischen Differenz einher: Lautloses Nachdenken ist ein handlungsloser und damit ein sich im Unwirklichen befindlicher Bewusstseinsakt. Im Sinne der Entlastung durch Distanznahme lässt sich dieser Zustand so verstehen, dass auf die sich im Handeln stellenden Probleme nicht mehr mit einer unmittelbaren Reflexion der gehemmten Lautbewegung, sondern mit einer bei sich bleibenden inneren Reflexion unserer Vorstellungen von Handlungsmöglichkeiten reagiert wird. Das Nachdenken ist nach diesem Verständnis eine Reflexion auf die Reflexion bzw. ein virtuelles Vorstellen der aus der reflektierten Handlung hervorgegangenen Vorstellungen in Form eines nicht entäußerten inneren Sprechens. Dabei sieht Gehlen im Verhältnis von wirklichem Sprachvollzug und innerem Nachdenken ähnliche Entlastungen wie in der virtuellen Vorwegnahme von Bewegungen am Werke: Wo sich die Intentionen im Sprechen noch in ganzen Satzgebilden entäußern, verschaffen wir uns Übersicht und steigern die Leistung des Nachdenkens dadurch, dass wir die nicht mehr ausgesprochenen Lautbewegungen nur noch in abgekürzter Form an den „»Kernen« der Wortvorstellungen“188 durchgehen: „»Denken« ist dann beschreibbar als der höchste Grad entsinnlichten, bloß andeutenden und »abgekürzten« Verhaltens – der »Entlastung«.“189 185 186
187 188 189
Vgl. GA 3.1, S. 308. An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Gehlen keineswegs in dem für diese Theorie vom Menschen als das in unterschiedlichen Schichten handelnde Wesen so naheliegenden Sinne von »Denkbewegungen« spricht. Tatsächlich findet sich dieser Begriff an einigen Stellen bei Gehlen – allerdings immer nur im pejorativen Sinne einer abzulehnenden Metaphysik der „Denk-Bewegung“ (Arnold Gehlen, Zur Systematik der Anthropologie (1942), in GA 4, S. 63-112, hier: S. 66) im Idealismus bzw. als „inhaltslose Denkbewegung“ (GA 3.1, S. 331) der vom Handeln abgelösten Mathematik. GA 3.1, S. 309. Ebd. Ebd., S. 309.
146
In dieser völligen Distanznahme von der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit wiederholt sich die bereits die Zwischenwelt der Sprache auszeichnende Verlagerung der Weltgehalte in einer eigenständigen Sphäre: Das Nachdenken lässt sich als ein virtuelles „Probehandeln“190 auf einer „inneren Bühne“191 verstehen, auf der sich das Drama des wirklichen Umgangs mit der Welt noch einmal abspielt – allerdings ohne ein wirklicher Bewegungsvollzug zu sein und damit auch nicht auf die Widerstände im realen Umgang mit der Welt Rücksicht nehmen zu müssen. Alle Gehalte von Welt können demnach im Nachdenken als Momente einer inneren Situationen behandelt werden, in denen die Bezugnahmen von Hinsichten und Eigenschaften in beliebiger Abfolge durchgespielt werden. Diese Möglichkeit, sich auf eine von der Wirklichkeit zu unterscheidende Sphäre zu verlegen, ist zunächst als Zustand der größten Freiheit des Menschen zu verstehen, indem er sich in völliger Entlastung vom Druck seiner konkreten Situation buchstäblich auf alles Mögliche beziehen kann. Dabei ist die nachdenkende Reflexion noch mit einer ihr ganz eigenen Form von Selbstgenügsamkeit verbunden: Im Gegensatz zum denkenden Sprechen ist die lautlose Reflexion kein kommunikativer Umgang mit der Mitwelt. Sie ist vielmehr ein stummes Zwiegespräch mit uns selbst, in dem wir uns unter völligem Ausschluss der sich unmittelbar stellenden Problemlagen auf zukünftiges Handeln und damit auf uns selbst und unsere in Zukunft relevanten Bedürfnisse beziehen können: „In Denkvorgängen liegt auch immer eine Auseinandersetzung der Person mit sich, mit ihren eigenen Interessen, Wünschen usw. vor, also eine Aktion der Stellungnahme zu sich selbst. Daher ist alles Denken eine Art von Kommunikation mit sich selbst, ein Sichabhören bis in die Antriebsschichten hinein und sozusagen eine innere Sozialisierung.“ 192 Obwohl das Nachdenken also (hier in einer systematisch nicht ganz reinen Form als eine Aktion der Stellungnahme, also im eigentlichen Sinne als »Handlung« bezeichnet) bei sich bleiben und „sogar als eigene, funktionalisierte und selbstgenügsam gewordene Lebensform Ersatz der Handlung [!]“193 sein kann, bleibt es doch immer auf die Handlung bezogen194 und findet, wie es der Begriff des Probehandelns nahelegt, seinen Abschluss erst in der hiervon zu unterscheidenden wirklichen Handlungsführung: Die vom Druck der Handlungssituation entlastete Reflexion auf die Reflexion erfüllt ihre Funktion darin, dass das Ergebnis dieses bloß virtuellen Vorgangs selbst wieder zum geistigen Moment einer wirklichen Handlung wird. In dieser Rückkehr als 190 191 192 193 194
Ebd., S. 310. Vgl. ebd., S. 310. Ebd. Ebd., S. 216. Vgl. ebd.
147
Phase der Handlung in die Kreisbewegung wird genauso die Funktion des Nachdenkens als Mittel der Handlungsführung, wie dessen Affinität zur Technik nachvollziehbar: Probehandeln bedeutet nichts anderes, als in dem uns bekannten Sinne aus der entlasteten Distanznahme heraus Phasen der Planung unseres Umgangs mit den Dingen zwischen Wahrnehmung und wirklicher Tätigkeit zu stellen.195 Infolgedessen versteht Gehlen das stille Nachdenken wesentlich als das instrumentelle Bewusstsein des Menschen, dessen für »wahr« befundene Annahmen sich aus dem experimentellen Umgang mit der empirischen Welt ergeben. Dem Schichtenaufbau menschlichen Handelns folgend geht hiermit auch eine sich von den anderen geistigen Momenten unterscheidende, spezifische Verlaufsform des Geistes einher: Wahrheit im Sinne rationaler Erkenntnis ist einzig dem stillen Nachdenken in seiner Funktion für ein dieser Reflexion nachläufiges, technisch vermitteltes Handeln vorbehalten, das in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den empirischen Begebenheiten steht. Indem wir das rationale Nachdenken dergestalt als den sich von der unmittelbaren Handlungssituation distanzierenden, die instrumentelle Handlungsführung des Menschen bestimmenden Geist vorzustellen haben, legt Gehlen – wie schon bemerkt – keinen über das instrumentelle Bewusstsein hinausgehenden Begriff eines vernünftigen Selbstverständnisses des Menschen vor; mithin wendet er sich ob des rein instrumentellen Charakters der Ratio gegen die Perspektive der Aufklärung, dass wir die Orientierung unseres Handelns in einem mehr als die instrumentelle Dimension umfassenden Sinne unserer Vernunft zutrauen können. Vielmehr geht Gehlen davon aus, dass es für die Weltorientierung des Menschen noch auf eine von der Ratio unterschiedene Dimension der in Lebenserfahrung angeeigneten Vorstellung von Wahrheit ankommt – auf Gewissheiten, die wir von unten im subjektiven Tätigsein und von oben durch Erziehung als charakterliche Dispositionen verinnerlichen: „Wenn daher der Prozeß der Erfahrung zugleich ein Prozeß der Charakterformierung ist, weil einen »die Handlungen, die man in eine bestimmte Richtung ausübt, zu einem solchen machen, wie man ist« (Aristoteles, Eth. Nik. 1114a); so sind umgekehrt auch unsere Gewißheiten sehr weitgehende Reflexe unserer Triebschicksale.“196 Unter der Voraussetzung also, dass angenommene Wahrheiten als Mittel zum Zweck des Handelns verstanden werden müssen, sind Wahrheitsannah195 196
Vgl. US, S. 12f; vgl. Abschnitt 1.5. GA 3.1, S. 361f.; vgl. Günther Bien (Hrsg.), Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg 1972, 1114a: „Denn die Akte, die man in eine bestimmte Richtung ausübt, machen einen zu einem solchen, wie man ist.“ Tatsächlich widmet sich Aristoteles an dieser Stelle dem genauso für die negativen Eigenschaften geltenden Befund, dass man durch das eigene Handeln daran schuld ist, was für schlechte Charaktereigenschaften man erworben hat.
148
men nicht alleine in der Schicht des rationalen, d.h. dem mit falliblen Arbeitshypothesen operierenden instrumentellen Bewusstseins anzusiedeln. Gehlen hebt damit darauf ab, dass wir jenseits dessen bestimmte Sachverhalte als unumstößlich gewisse Wahrheiten empfinden, obwohl oder gerade weil sie sich als resistent gegenüber empirischen Erfahrungen zeigen und somit nicht Gegenstand experimenteller Überprüfung sein können. Er bezeichnet diese sowohl in individueller Erfahrung als auch durch Erziehung erworbenen Überzeugungen als „Wahrheit des Irrationalen“197, womit gemeint ist, dass sie als Ergebnisse unserer „breiten Erfahrung“198 in den von rationalen Erwägungen zu unterscheidenden Schichten unseres Handelns verinnerlicht und sich als psychische Zustände prinzipiell nicht ohne Geltungsverlust in propositionales Wissen übersetzen lassen. Aus dieser Unterscheidung zwischen irrationaler Gewissheit und der rationalen Wahrheit des bei sich bleibenden stillen Denkens schlägt Gehlen einerseits Funken für die Beschreibung der Leistung eigentätiger Entlastungen. Andererseits bildet sie das Scharnier zwischen der Beschreibung des sich eigentätig entlastenden Individuums und einer negativen Kulturdiagnose im Sinne einer fortschreitenden Entfremdung von der Wirklichkeit des Lebens. So geht nach seiner Auffassung die Freiheit in der nachdenkenden Distanznahme mit den Möglichkeiten einher, einerseits die Relevanz des Nachdenkens für das Handeln zu vernachlässigen und auf diese Weise geradezu unrealistische Bedürfnisse und Interessen zu entwickeln; andererseits läuft das Denken auch Gefahr, die für die Orientierung in der Welt notwendigen irrationalen Wahrheiten zu seinem Gegenstand machen und damit deren Gewissheit infrage zu stellen. 2.4.1 Rationale Erkenntnis Der in Der Mensch entwickelte Begriff rationaler Erkenntnis bezieht sich auf die aus der entlasteten Distanznahme zur wirklichen Tätigkeit hervorgehende, planende Vorwegnahme möglicher Tätigkeiten. Nicht nur im Anschluss an die insbesondere in der Nachfolge Benedetto Croces199 geläufige Interpretation des Vico-Axioms200 geht auch Gehlen grundsätzlich davon aus, dass alle durch den Verstand erkennbare Wahrheit auf das tätige Herstellen bezogen werden muss: Das Intelligible ist das Machbare. Nietzsches Vorstellung der 197 198 199 200
GA 3.1, S. 355. GA 3.1, S. 355. Vgl. Benedetto Croce, Die Philosophie Giambattista Vicos (1911), Tübingen 1927, S. 49ff. Vgl. GiambattistaVico, Liber metyphysicus Riposte, München 1979, S. 34f.: „verum esse ipsum factum; ac proinde in Deo esse verum, quia Deus primus Factor.“ , ebd. S. 35f.: „Das Wahre ist das Geschaffene selber, und daher ist in Gott das erste Wahre, da Gott der erste Schöpfer ist.“
149
Oberflächlichkeit des – nach außen gewendeten – Verstandes folgend lässt sich die damit gemeinte instrumentelle Bestimmung des Erkennens auch so beschreiben, „daß wir nur begreifen können, was wir tun können, wenn es überhaupt ein Begreifen gibt.“201 Dass dieses Tun wesentlich technisch vermittelt ist, führt Gehlen nicht zuletzt anhand der bemerkenswerten Ausführungen Kants über den Zusammenhang von Experiment und Einsicht in den Naturwissenschaften aus: „Dieses geschieht, um das Studium der Natur nach ihrem Mechanism an demjenigen festzuhalten, was wir unserer Beobachtung oder den Experimenten so unterwerfen können, daß wir es gleich der Natur, wenigstens der Ähnlichkeit der Gesetze nach, selbst hervorbringen könnten; denn nur so viel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zustande bringen kann.“202 Entsprechend der Tatsache also, dass der Mensch erkennen muss, um tätig zu sein, ist unser Wissen von der empirischen Welt auf die uns durch Erfahrungen bekannten, möglichen Tätigkeiten zurückzuführen. Das um den Wissenserwerb bemühte Tätigsein des Menschen hat die Form eines mit Arbeitshypothesen arbeitenden experimentellen Handelns. Hiermit wieder an die Überlegungen des amerikanischen Pragmatismus – namentlich Peirce, James und Dewey203 – anzuknüpfen, ist nahe liegend: 201
202
203
GA 3.1, S. 346; vgl. Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Aphorismus 125, in: KSA 3, S. 116: „Vom »Reiche der Freiheit«. – Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als thun und erleben, – das heisst, unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja, es merkt sie nicht. Wäre unser Intellekt streng nach dem Maasse unserer Kraft und unserer Übung der Kraft entwickelt, so würden wir im Gegensatz zu oberst in unserem Denken haben, dass wir nur begreifen können, was wir thun können, – wenn es überhaupt ein Begreifen giebt.“ KdU, § 68, B 309; vgl. GA 3.1, S. 348. Anzumerken ist, dass Kant dieses wissenschaftliche Vorgehen von der teleologischen Betrachtung der Natur abgrenzt – indem sich die empirische Wissenschaft mit den Mechanismen in der Natur auseinandersetzt, muss sie genauso keine teleologische Betrachtung derselben anstellen, wie sich ihre auf die äußere Betrachtung eingestellten Mittel als unzulänglich erweisen. Dass Gehlen sich an dieser Stelle auch auf Kant beruft, ist im Anschluss daran bemerkenswert, weil Kant es in Abgrenzung zur empirischen Wissenschaft der Vernunft zutraut, eine solche Betrachtung anzustellen und hierauf im Anschluss an diese Passage anhebend mit der Dialektik der teleologischen Urteilskraft eingeht. Bei Gehlen hingegen treffen wir im Anschluss an seine Ausführungen über den auf das Handeln bezogenen Erkenntnisbegriff dergestalt auf Naturteleologie, dass sich die Zweckmäßigkeit lebendiger Prozesse nicht in der Vernunft, sondern in der irrationalen Gewissheit institutionell vermittelter Selbstbilder kundtut. Vgl. GA 3.1, S. 346. Darauf, dass Gehlen einer der frühen Adepten des amerikanischen Pragmatismus in Deutschland ist, verweist etwa Klaus Oehler. Freilich tut er dieses mit Blick auf die Erstausgabe von Der Mensch (1940) und unterschlägt damit, dass sich Gehlen schon in seiner Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist (1931) – allerdings unter negativen Vorzeichen als „unwiderlegbare Überzeugung der heutigen Zivilisationsmenschen“
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So wie diese Denker die Handlung und das Experiment als Paradigmen des rationalen Erkennens bestimmen, beruft sich auch Gehlen auf die absehbaren Folgen im Handeln als Kriterium des Wahrheitsanspruchs rationaler Erkenntnisse. Einsichtig ist allerdings auch, dass er trotz dieser Übereinstimmung hinsichtlich rationaler Erkenntnis keineswegs an einer umfassend im Pragmatismus fundierten Theorie des Menschen interessiert ist. Das menschliche Verhalten in seinen unterschiedlichen Vollzügen unter der Voraussetzung eines pragmatisch fundierten Wahrheitsbegriffs verstehen zu wollen, würde auf die Perspektive einer an der Ratio orientierten Bewusstseinsphilosophie hinauslaufen, der Gehlen nicht nur mit den uns bereits bekannten Anleihen bei Hartmann begegnet. Wo der Pragmatismus alle seine Betrachtung in Relation zum handlungsrelativen Erkennen anstellt, bezieht Gehlen sich mit der Frage nach dem rationalen Erkennen nicht zuletzt mit Nietzsches Rede von der großen Vernunft des Leibes204 auf ein lebendiges Wesens, das aufgrund seiner besonderen Verfassung auch aber nicht nur auf Geist in Form eines rationalen Wissens und damit die Leistung seines Verstandes angewiesen ist. Unter dieser Einschränkung der Funktion rationaler Erkenntnis entwickelt Gehlen den Begriff rationaler Wahrheit vor dem Hintergrund der prognostischen Leistung der in Sprache formulierbaren Erkenntnisse für zukünftiges Handeln. Wahren Sätzen kommt der Status von Arbeitshypothesen zu, an denen wir unser Handeln orientieren und deren Geltung sich am Erfolg in der Tätigkeit misst. Der Anspruch auf Wahrheit ist hiernach als möglicher hypothetischer Imperativ für das menschliche Handeln als solches zu verstehen. Etwas für wahr zu befinden bedeutet, anzunehmen, dass »man« diese Annahme in zukünftiges Handeln einarbeiten kann. Hiermit ist noch als Grundlage einer Theorie der Wahrheit festzuhalten, dass erkannte Wahrheiten in Sprache kommunizierbar und allgemein verstehbar sein müssen. Wahrheit ist – wie die Sprache überhaupt – ein soziales Phänomen und daher, so die von F.C. Schiller übernommene Einsicht, „eines von den wenigen Dingen, nach deren Alleinbesitz niemand strebt.“205 Diese Aussage folgt schon daraus, dass die in Sätzen geäußerten Wahrheiten bestimmte Folgen unseres Handelns in einer Welt zeitigen sollen, in der wir unserer selbst nur in der symbolischen Distanznahme eines »Ich« als »Mich« der Mitwelt habhaft werden. Demgegenüber wären Wahrheiten, die prinzipiell nur von einer bestimmten Person verstanden werden können, dieser Person entweder selbst unverständlich oder
204 205
(GA 1, S. 128) – mit dem amerikanischen Pragmatismus auseinandersetzt. Vgl. Klaus Oehler, Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt am Main 1993; ders. Einleitung, in: William James, Der Pragmatismus, Hamburg 1977, S. XXIIIf. Vgl. Abschnitt 1.3. F.C. Schiller, Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, Leipzig 1911, S. 194; vgl. GA 3.1, S. 341.
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würden eine Welt voraussetzen, die nur ihr alleine zugänglich ist.206 In diesem Sinne haben wahre Sätze die Eigenschaft, bestimmte Erkenntnisse über mögliches Handeln kommunizierbar und für jeden sich in dieser Sprache bewegenden Menschen verstehbar werden zu lassen. Es ist auch nachvollziehbar, dass die in den einsamen Prozess des stillen Nachdenkens eingehenden und für wahr befundenen Erkenntnisse keineswegs rein subjektiven Ursprungs sein können. Vielmehr handelt es sich wesentlich um Feststellungen, die von anderen Menschen zu anderen Zeiten und an anderen Orten erfahren wurden – und wieder erfahrbar werden können. Umgekehrt bedingt diese Vielfalt der nicht von uns selbst erfahrenen, uns im Nachdenken zur Verfügung stehenden Annahmen erst, dass wir uns selbst sowohl räumlich als auch zeitlich von der unmittelbaren Situation distanzieren können. Festzuhalten ist dabei, dass sich auch die Antriebsenergien auf diese situationsfernen Ziele hin einstellen: Es ist – wie schon behandelt – unerlässlich, dass wir unsere Antriebe im inneren Zwiegespräch abhören207, d.h., unsere Interessen und Bedürfnisse unter der Annahme bestimmter im Denken ermittelter Wahrheiten in festen Willensbestimmungen auf zukünftiges Handeln richten können. Dabei lässt sich für uns nur jeweils in der unmittelbaren Konfrontation mit dem entsprechenden Problem in der Handlung entscheiden, ob sich die für wahr genommenen Inhalte nur auf bloße Meinungen oder auf tatsächliche Erkenntnisse stützen. Dass eine Erkenntnis tatsächlich wahr ist, ist hiernach einzig in ihrer Übersetzung von der bloß virtuellen Überlegung ins unmittelbare Handeln nachweisbar. Diesen Zusammenhang zwischen wahren Sätzen und wirklicher Handlung beschreibt Gehlen in Der Mensch in einer Betrachtung der grundlegenden Modalitäten des Erkennens im tätigen Umgang mit den Phänomenen. Auf einem allgemeinen Schematismus des Erkenntniserwerbs aufbauend betrachtet er daher die Funktion wahrer Sätze, wie diese im Sensualismus, Idealismus und Pragmatismus gefasst werden. Ausgehend von diesen als Vorgängertheorien vereinnahmten Konzeptionen von Wahrheit lassen sich schließlich drei mit dem Entlastungsbegriff eingefangene Momente des rationalen Erkennens aufzeigen: Das Verhältnis von Wahrheit zum erfahrenen Wahrnehmungsdatum, die Bezugnahme wahrer Sätze aufeinander und schließlich die Leistung der im Prozess des stillen Nachdenkens festgestellten Wahrheit für zukünftiges Handeln. Dabei ist die von Gehlen gemachte Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit als Ort des Handelns und dem dazu in Distanz tretenden Bewusstsein entscheidend. Seine gegenüber diesen Ansätzen in Stellung gebrachte Perspektive auf das Erkenntnisproblem entwickelt er daher aus 206
207
Vgl. F.C. Schiller, a.a.O., S. 194. Kenntlich gemacht ist damit erkennbar eine Variante des Solipsismusproblems – und ein Unglück übrigens, von dem F.C. Schiller einige Philosophen betroffen sieht . Vgl. GA 3.1, S. 310.
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dem für die Lebensführung unerlässlichen Umstand, dass wir uns im Geiste von der unmittelbaren Situation distanzieren müssen, das Handeln aber einzig auf die davon zu unterscheidende Sphäre des konkret vorliegenden Materials beziehen können: „Nun ist es eine Grundtatsache, die in ihrer Paradoxie eigentlich noch nie genug betont wurde: der Mensch kann nicht in der Gegenwart leben, er lebt in der Zukunft, oder was dasselbe ist, handelnd. Aber das Material seiner Tätigkeit ist auf die Gegenwart beschränkt, ist ein Beschränktes der Gegenwart.“208 Gehlen, so lässt sich in einer ersten Annäherung feststellen, versteht das rationale Erkennen so, dass sich der Mensch in größtmögliche Distanz zur unmittelbaren Situation begeben kann, um im Umgang mit dem in dieser Situation – buchstäblich – greifbaren Material zu besseren Problemlösungen zu gelangen. Nicht von ungefähr anhebend mit der Pilatusfrage „Was ist Wahrheit?“209 illustriert Gehlen das Schema des rationalen Erkennens an der von Xenophanes vertretenen Überzeugung, dass der Mond eine verdichtete Wolkenmasse sei. Das erste Moment des Erkenntnisgewinns besteht dabei darin, ausgehend von bestimmten Erfahrungen durch sogenannte „Umkonstruktion“210 in deren Kombination mit unseren bereits bestehenden Vorstellungen in der Reflexion zu neuen Ergebnissen zu kommen. Im Fall des Xenophanes bedeutet dieses, eine Verbindung zwischen dem Erfahrungsdatum des aufsteigenden Nebels und seinen schon vorhandenen Vorstellungen über Wolle herzustellen und dabei zu folgendem Ergebnis zu kommen: Wolken können sich ebenso wie Wolle zusammenballen. Das Ergebnis dessen ist das große Wolkenknäul namens »Mond«, das wir am Nachthimmel sehen. Hiermit ist eine bestimmte Erkenntnis gewonnen, die sich dann – und das ist der zweite Aspekt des Erkenntnisgewinns – wieder in Verbindung mit bereits geläufigen Vorstellungen setzen lässt. Wahrheit hat somit immer eine systemische Funktion, d.h., sie muss in einen Zusammenhang mit anderen für wahr befundenen Sätzen gestellt werden können. Im Falle des Xenophanes besteht diese systemische Funktion darin, dem Mond einen Ort in den schon bekannten Vorstellungen über den Wasserkreislauf zuzuweisen; innerhalb eines Systems also, das sich aus dem Zusammenspiel etlicher für wahr befundener Erkenntnisse ergibt.211 Hierin tritt neben der materialen Distanz im Stande der Handlungslosigkeit noch eine weitere Distanzierung zur Handlungssituation hervor: Das System für wahr gehaltener Sachverhalte hat keinen Widerpart in der unmittelbaren 208 209 210 211
Ebd., S. 354f. Ebd., S. 341. Ebd., S. 342. In diesem Sinne vertritt Gehlen offenkundig eine Kohärenztheorie der Wahrheit.
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Wahrnehmung. Gehlen verwendet diesbezüglich die räumliche Metapher, dass das System rationaler Wahrheitsannahmen einer Theorie im Gegensatz zu den geistigen Gehalten der erfahrenden Bewegung, also: dem auf die Dinge übertragenen entfremdeten Selbstgefühl „»hinter« den Phänomenen“212 liegt. In diesem Sinne beziehen wir uns mit diesem System wahrer Sätze auf einen im Denken bestehenden Zusammenhang, der uns als solcher niemals in der unmittelbaren Anschauung gegeben sein kann. Entscheidend für die Wahrheit einer Annahme ist dabei ihr Status bzw. ihr Stellenwert innerhalb dieses hinter der erfahrbaren Welt liegenden Nexus: „Der wahre Satz erhält so einen »Stellenwert« in einem System anderer wahrer Sätze, und hier ist nun höchst bedeutsam, daß dieser Zusammenhang im Wissen besteht, nicht jedoch in der anschaulichen Welt der Wahrnehmungssituation“.213 In wissenschaftlichen Theorien genauso wie innerhalb der ungleich unsystematischeren Inseln von Wissenssystemen in unserem Alltag214 geht dabei der Stellenwert einer Annahme mit einem im Denken angenommenen virtuellen Anspruch auf Wahrheit einher. Dieses zu bemerken bedeutet, dass das im Denken mit Anspruch auf Wahrheit auftretende System von Sätzen sich in der wirklichen Tätigkeit dann darin bewahrheitet, bestimmte prognostische Leistungen für das wirkliche Handeln zu zeitigen. Ob das Beispiel des Xenophanes noch diesem dritten Aspekt des Erkennens standhält, hängt also davon ab, inwiefern seine Vorstellung vom Mond als eines Schwamms in einer für unser Handeln befriedigenden Weise das Abregnen von Süßwasser zu prognostizieren in der Lage ist: „Eine Wahrheit ist fruchtbar dann, wenn man aus ihr etwas ableiten kann und eine sichergestellte Erwartung ist so tief befriedigend wie ein Erfolg.“215 Mit der so festgestellten Wahrheit gelangen wir wieder an den Ausgangspunkt der Überlegungen zur Funktion der Erkenntnis, d.h., dass ein wahrer Satz für jedermann verständlich aus dem systematischen Zusammenhang seiner erstmaligen Generierung herausgelöst und als eine bestimmte, einmal festgestellte »innere Invariante«216 in Abstimmung mit neuen Erfahrungen zu neuen Umkonstruktionen eingesetzt werden kann. Diese am Xenophanes-Beispiel verdeutlichte Grundstruktur des Erkennens vermag nach Gehlens Dafürhalten drei wesentliche Bedeutungen von Wahrheit in sich zu vereinen, die jeweils leitend für die Theorien des Sensualismus, Idealismus und Pragmatismus sind. In dieser Abfolge steht zunächst der Sensualismus stellvertretend für all diejenigen Ansätze, die in einer durchaus ein212 213 214 215 216
US, S. 196. GA 3.1, S. 343. Vgl. ebd., S. 351. Ebd., S. 343. Ebd., S. 348.
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geschränkten, hierin aber zutreffenden Sichtweise die Funktion der Wahrheit in der Rückführbarkeit einzelner Erkenntnisse auf erfahrbare Phänomene benannt haben: „Die erste Bedeutung dieser von uns zu leistenden Funktion, welche als im Satz beschlossen gedacht, Wahrheit heißt, ist also die Beziehung des Satzes zu den Tatsachen, die er feststellt [...] Wo aber die Philosophie, besonders der Sensualismus, diese Funktion der Wahrheit allein sah, weil sie von der Herkunft der Begriffe und Urteile aus der Erfahrung benommen war, hat sie immer den Erkenntnisprozeß als ein Kombinieren und Vergleichen von Urteilen beschrieben, welche zuletzt zur Erfahrung zurückführen müssen. Die Erkenntnis ist dann eine sterile Funktion, die uns nur auf Umwegen zum schon Bekannten zurückschickt.“217 Wo der Sensualismus einzig die Verbindung zwischen einem wahren Satz und den Wahrnehmungsdaten aufzeigt, ist es das Verdienst des Idealismus, die Rolle der produktiven Bezugnahme wahrer Sätze aufeinander innerhalb eines systematischen Zusammenhangs unseres Wissens erkannt zu haben: „Es war ein völlig richtiger Gedanke des Idealismus, daß all unser Wissen aus sich selbst heraus zu einem System, einem Ganzen strebe, wenn es Fichte oder Hegel auch nicht gelang, dieses Ganze darzustellen, was überhaupt wesentlich unmöglich ist, weil alle Erfahrung auch in eine noch offene Zukunft arbeitet.“218 Das Problem des Idealismus folgt dann aber auf dem Fuße, indem er in dieser Bezugnahme die eigentliche Relevanz des Denkens für das wirkliche Handeln aus den Augen verliert. Der Idealismus bleibt in diesem Sinne beim Denken stehen, indem er in der uns bereits bekannten Weise die Grenze zwischen wirklicher Handlung und ideellem Gehalt übersieht. Diesem Problem dadurch zu begegnen, dass er das System unserer Wahrheit an das Handeln zurückbindet, ist dann das Verdienst des Pragmatismus. So wie Gehlen sich zumeist auf die Philosophie Hegels als stellvertretend für den Idealismus bezieht, ist es der Pragmatismus John Deweys, dessen Denken ihm paradigmatisch für das operationale Denken der Pragmatiker ist, das mit der Einsicht in die „Fruchtbarkeit“219 einer festgestellten Wahrheit für das Handeln einhergeht: „Die Pragmatisten, besonders Dewey, haben diesen Sinn der Wahrheit ausgezeichnet hervorgehoben. »Das Geschäft des Denkens ist es nicht, die schon den Dingen zukommenden Merkmale in Übereinstimmung zu bringen oder zu wiederholen«, heißt es bei Dewey, »sondern sie als Möglich217 218 219
Ebd., S. 349. Ebd., S. 350f. Ebd., S. 353.
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keiten von dem anzusehen, was sie durch eine festgestellte Operation werden können.«“220 Mit Blick auf diese Rückbindung an das Handeln geht auch Gehlen davon aus, dass jeder wahre Satz des rationalen Erkennens als eine im Nachdenken flexible und im Handeln fallible Arbeitshypothese zu verstehen ist: Seine Tragweite für unser Wissen hängt von den systeminternen Veränderungen ab und jeder wahre Satz kann nur so lange mit Anspruch auf Wahrheit auftreten, wie ihm in seiner systematisierten Funktion eine prognostische Leistung für zukünftiges Handeln zukommt. Ausgehend von der vom Pragmatismus auf das Handeln zurückgeführten Bedeutung wahrer Erkenntnis findet Gehlen das Wahrheitsproblem schließlich erst mit dem Entlastungstheorem richtig gefasst, weil hier der Funktion des Erkennens in der Auseinandersetzung mit dem Material des unmittelbar Gegebenen in angemessener Weise Rechnung getragen wird. Rationale Erkenntnis ist eine bestimmte Form des Geistes innerhalb der ansonsten nicht in propositionales Wissen mündenden symbolischen Distanznahmen, die der Menschen ob der Notwendigkeit zum Handeln in der Welt hervorbringt und die er zum Handeln hin überschreiten muss. Das stille Nachdenken versteht sich demgegenüber falsch, sofern es bei sich selbst stehen bleibt in dem Versuch, die Wirklichkeit im Ganzen zu begreifen. Nicht die Suche nach dieser Erkenntnis, sondern der Übergang ins tatsächliche Handeln ist die dem Nachdenken angesichts der Fremdheit des Gegebenen zukommende Aufgabe, woraus sich die normative Ausrichtung des auf das Entlastungstheorem zurückgeführten Erkenntnisbegriffs speist, in dem die drei Momente des Erkennens so gebündelt sind, dass wir im ersten Schritt unsere Erfahrungen mit unseren Vorstellungen von der Welt verbinden und diese dann in dem hierauf folgenden stillen Nachdenken weiterentwickeln: „Aber mit der Fähigkeit, sich frei in verfügbaren Intentionen auf irgendwelche Raum-Zeit-Tatsachen richten zu können und sie damit in die Gegenwart einzusetzen, ist es nicht getan. Unser Denken soll, in sich bleibend, am Faden seiner Gedanken fortlaufen, in sich selbst Umwege machen, zu anderen Hinsichten übergehen und auf seiner eigenen Ebene Kurzschlüsse zwischen erlebnismäßig entferntesten Tatsachen herstellen.“221 Den notwendigen Übergang aus dem Nachdenken zur wirklichen Tätigkeit verbindet Gehlen schließlich damit, dass die im Probehandeln antizipierten Tätigkeiten nur in der konkreten Situation und unter den Bedingungen des 220
221
Ebd.; vgl. John Dewey, The Quest for Certainty, New York 1929, S. 137: „The business of thought is not to conform to or reproduce the characters already possessed by objects but to judge them as potentialities of what they become through an indicated operation.“ GA 3.1, S. 354.
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unmittelbar Gegebenen vollzogen werden können. Diese Unterscheidung legt er seinen Erörterungen zum rationalen Erkennen vor dem Hintergrund des Entlastungsbegriffs zugrunde, wenn er in Der Mensch von der Paradoxie des Erkennens222 spricht. Die paradox erscheinende und erst über die Kategorie der Entlastung nachvollziehbare Eigenart des Erkennens223 besteht darin, dass wir uns im Denken zwar unendlich weit von der Handlungssituation distanzieren können, das Material unserer Tätigkeit224 jedoch nur in der unmittelbaren Situation zu finden ist. Wir handeln nicht im rationalen Denken selbst, sondern sind der begrifflichen Distanznahme im Interesse des Handelns in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit bedürftig. Umgekehrt lässt sich die Entlastungsleistung der erkennenden Reflexion dann so beschreiben, dass aus der Distanznahme im Nachdenken heraus erst bestimmte Handlungsmöglichkeiten angesichts der unmittelbar gegebenen Sachwiderstände kenntlich werden. In diesem Wechselverhältnis von Distanznahme und gegebenem Material wird schließlich die Technik und damit das Experiment als Paradigma des hier vorgestellten Erkenntnisbegriffs kenntlich: Erkenntnisse gewinnen wir dadurch, dass wir aus der Distanz des stillen Nachdenkens in eine produktive Wechselbeziehung mit dem vorliegenden Material treten. Schon lange vor der modernen Wissenschaft entwickelte der Mensch demnach durch die Verfertigung seiner Gedanken im experimentierenden Handeln225 die ihm verfügbaren Techniken und erlangte darüber Wissen über die Welt. Das Intelligible ist das Machbare und die erkannten Sachverhalte die Negativform der uns zur Verfügung stehenden Techniken. Dieses Verhältnis von empirischer Erkenntnis als Übersetzung der in der handlungslosen Reflexion gefundenen Annahmen in die wirkliche Tätigkeit beschreibt Gehlen schon in seiner Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist226 . So zeichnete sich der Wissenschafter durch die „rein kontemplative, d.h. handlungslose Zuwendung zur Welt aus“227 , die der Ergänzung durch den Techniker bedarf, der aus den Erkenntnissen „etwas macht“228 . Dabei gibt es in der Wissenschaft mit dem Experiment auch einen Ort, an dem die praktische Seite der Erkenntnis sinnfällig und ihr zuletzt produktiver Charakter offenkundig wird: „deshalb sind zuletzt die Theorien nur an Handlungen nachweisbar: die Biologie wäre erst dann als
222 223 224 225 226 227 228
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 355. Vgl. US, S. 11ff. Arnold Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie (1931), in: GA 1, S. 113-383. GA 1, S. 245. Ebd.
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wahrer Erkenntniszusammenhang bewiesen, wenn es gelänge, den Homunkulus herzustellen: das Experiment verifiziert die Theorie.“229 Ganz in diesem Sinne lassen sich schon die frühesten Erfindungen des Menschen so erklären, dass Artefakte ob des Interesses an bestimmten Sacherfolgen hergestellt, bearbeitet und in diesem Prozess eines trial and error bestimmte Erkenntnisse gewonnen wurden. An erster Stelle steht dabei ein sich buchstäblich am Sachwiderstand reibendes, noch unbestimmtes Sachinteresse, das überhaupt erst Probleme aufwirft und diese dann am vorliegenden Material entwickelt. Experimentierendes Handeln lässt sich damit als ein an Erkenntnissen interessierter Kreisprozess als Wechsel zwischen einem tätigen Umgang mit einem Artefakt und Phasen des durch die Hemmung der Tätigkeit den Zugriff darauf korrigierenden Probehandelns im Nachdenken verstehen: „Eine experimentierende oder herstellende Handlung, die auf Hindernisse, auf Sachwiderstand stößt und gehemmt wird, entlastet sich ihrerseits durch das jetzt vorspringende Überlegen, das man als Probehandeln auffassen kann.“230 Im Anschluss daran lässt sich feststellen, dass wir Macht über das sich stellende technische Problem durch ein theoretisches Erkennen gewinnen, indem wir es praktisch bewältigen: „Man beherrscht den Vorgang nur insofern theoretisch, als man ihn auch praktisch beherrscht.“231 In diesem Sinne erfüllen das rationale Erkennen und damit der wahre Satz seine Aufgabe dadurch, dass sie in der Bezugnahme von Erfahrungsdaten auf unsere Vorstellungen zu Problemlösungen im Handeln führen: „Wo das Erkennen darin besteht, Probleme und Störungen ins Fruchtbare zu wenden, indem es unsere entferntesten Erfahrungen kombiniert und einströmen läßt ins Einzelne, dieses beziehungsvoll und bedeutungsreich machend und hinweisend auf Zukünftiges und Mögliches, damit unsere Handlung umsichtig und bahnbrechend werde – wo dies der Fall ist, hat es das letzte Wort.“232 Inwiefern sich diese am Handeln orientierte Konzeption wahrer Erkenntnisse von derjenigen des Pragmatismus unterscheidet, wird deutlich, wenn man diese letzte Bestimmung als Einschränkung versteht. Gehlen spricht von rationaler Erkenntnis und pragmatischer Wahrheit einzig dort, wo es im weitesten Sinne um technische, d.h. mit Hilfe bestimmter Instrumentarien zu bewältigende empirische Problemlagen geht. Indem sich der Mensch aus dem 229
230 231 232
Ebd., S. 311; vgl. GA 1, Fußnote S. 246: „Die Biologie z.B. wäre erst in dem Moment »fertig« wenn es ihr gelingt, auf Grund bloßer analytischer Erkenntnisse Organismen synthetisch darzustellen. Die Idee der analytischen Biologie ist die synthetische, der Homunkulus.“ US, S. 12f. Vgl. StZ, S. 83. GA 3.1, S. 355.
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bloß virtuellen Probehandeln lösen und dessen Ergebnisse zur instrumentellen Handlungsführung einsetzt, reduziert er die rationale Erkenntnis damit auf eine rein funktionale Bestimmung. Demgegenüber geht es etwa John Dewey gerade darum, eine die Gesamtheit menschlichen Handelns erfassende Theorie vorzulegen, die alle Aspekte des menschlichen Daseins vermittels eines pragmatischen Erkenntnisbegriffs zu integrieren sucht. Dem Pragmatismus ist nach Gehlens Dafürhalten damit zwar in seinem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Handlung zuzustimmen, allerdings teilt der Pragmatismus mit dem Idealismus immer noch die Fehlannahme, dass der Ratio eine der Wirklichkeit in umfassender Hinsicht angemessene Erkenntnisleistung zukommt. Im Gegensatz zum Pragmatismus, bei dem es um die Überwindung aller Dualismen durch einen am Handeln orientierten Erkenntnisbegriff geht233, behält Gehlen, obwohl es ihm programmatisch ebenfalls um eine solche Überwindung geht, die strikte Trennung zwischen wirklicher Handlung als Vollzug und handlungsloser Reflexion bei. Gleichzeitig ist der Pragmatismus nach Gehlens Dafürhalten nicht nur aus der Perspektive der epistemischen Unzulänglichkeit des begrifflichen Verstehens gegenüber dem an sich irrationalen Geschehen problematisch; rationale Wahrheiten erweisen sich deshalb als nicht hinreichendes Mittel im Umgang mit der Wirklichkeit, weil die durch das irrationale Leben gestellten Anforderungen an das menschliche Handeln und damit an seinen Geist den Horizont derjenigen Tätigkeiten überschreiten, die das rationale Erkennen zu steuern vermag. Gehlen vertritt damit die bereits in seiner Habilitationsschrift vorgestellte und später mit der Kategorie der Entlastung beschriebene Auffassung, dass es noch anderer – irrationaler – Formen des Geistes bedarf, um angesichts der sich stellenden Probleme handeln zu können: „Schon Kant hat den vom Standpunkt aller Rationalisten aus paradoxen Sachverhalt gesehen, den man so ausdrücken kann, daß die Notwendigkeit zu handeln weiter reicht, als die Möglichkeit zu erkennen.“234 2.4.2 Reflexion und Existenz Bevor wir uns den Gewissheiten als „Wahrheit des Irrationalen“235 zuwenden, ist festzuhalten, dass wir mit der Analyse des erkennenden Bewusstseins an die theoretischen Grundlagen dieser sich als empirisch verstehenden Theorie gelangt sind. Nicht nur beschreibt Gehlen mit diesem instrumentellen Erkenntnisbegriff die Bedingung der Möglichkeit einer sich als empirisch ver233 234 235
Vgl. Peter Vogt, a.a.O., S. 205. GA 3.1, S. 357; vgl. GA 1, S. 236: „Denn ich halte es für den tiefsten Sinn der kantischen Ideenlehre, daß die Notwendigkeit zu handeln weiter reicht als die Möglichkeit zu erkennen.“ GA 3.1, S. 355.
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stehenden Philosophie. Auch gelangen wir über die Bestimmung der Handlungslosigkeit des empirisch-instrumentellen Erkennens zu der Einsicht, dass der Handlungsvollzug dem Erkennen transzendent ist, wie es bekanntermaßen in dieser Theorie vom Menschen als das handelnde Wesen vorausgesetzt wird.236 Mit diesem zweiten Punkt wird umso deutlicher, inwiefern dem Entlastungstheorem eine existenzphilosophische Konzeption zugrunde liegt:237 Die Existenz des lebendigen handelnden Wesens ist das Erste und geht als deren Bedingung der Essenz238 der begrifflichen Bezugnahme auf die Welt voraus, was allerdings selbst erst im handlungslos bei sich bleibenden Nachdenken sinnfällig wird. Dabei unterscheidet sich Gehlens anthropologische Annährung an diese Differenz von einer Existenzphilosophie, wie diese etwa von Jean Paul Sartre entwickelt wird, dass der Mensch nicht „anfangs überhaupt nichts ist“239 und sich hiernach durch bewusste Entscheidungen in radikaler Freiheit240 selbst entwerfen kann und muss. Vielmehr ist als Fluchtpunkt jedweden Selbstentwurfs die nicht mit Begriffen fassliche leibliche Existenz, das „»Wie« des Existierens und Bewältigens, das wir eben sind und vollziehen”241, mit seinen Ansprüchen an das Handeln und den damit einhergehenden Einschränkungen der Freiheit242 vorauszusetzen.
236 237
238 239 240 241 242
Vgl. Abschnitt 1.3.2. Tatsächlich lässt sich mit Blick auf die existenzphilosophische Konzeption der Erkenntnis die auch in dieser Arbeit vertretene Kontinuitätsthese von Karl-Siegbert Rehberg ableiten. Die Entwicklung in Gehlens Werk, so diese These, darf nicht als eine Abkehr von seinen frühen existenzphilosophischen Überlegungen, sondern muss als deren Erweiterung verstanden werden. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Existenzielle Motive (...), a.a.O., S. 491ff. [S. 492]. Zu der Entwicklung in Gehlens Denken vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S. 756f. Vgl. Jean Paul Sartre, Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, in: Jean Paul Sartre, Drei Essays, Zürich 1977, S. 11. Ebd. Vgl. ebd., S. 16: „Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein.“ GA 3.1, S. 77. In diesem Sinne stimmt Gehlen, wie wir schon in der Auseinandersetzung mit seiner Konzeption des Charakters gesehen haben, Sartre wohl darin zu, dass der Mensch als das handelnde Wesen „nichts anderes [ist] als wozu er sich macht“ (Jean Paul Sartre, a.a.O., S. 11). Gehlen stellt diese Verwandtschaft in einem relativ späten Aufsatz zur Philosophischen Anthropologie heraus (vgl. Arnold Gehlen, Philosophische Anthropologie (1971), in: GA 4, S. 236-246). Allerdings sieht Sartre nach seinem Dafürhalten nicht, dass die Möglichkeit dazu durch „die biologische Ausstattung“ (ebd., S. 236) des Menschen begrenzt ist. Gehlen spricht an dieser Stelle noch von der Lebensgeschichte eines Menschen und seinem sozialen Umfeld; indem dieses allerdings als Folge seiner biologischen Sonderstellung zu sehen ist, ist die Biologie des Menschen der entscheidende Faktor. Sartres radikaler Freiheitsbegriff erscheint Gehlen mit Blick darauf als die leere Spekulation des sich dessen nicht bewussten Denkens eines (handlungslosen) Philosophen: „Der spekulative Gehalt ist unübersehbar, so viel Freiheit gibt es nur in Büchern“ (ebd., S. 237).
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Dabei ist es dem Menschen erst im stillen Nachdenken möglich, sich über die Differenz zwischen seiner Existenz als handelndes Wesen und der Sphäre des Denkens bewusst zu werden. Der sich zuerst noch im Gefühl der Fremdheit des Gegebenen abzeichnende Unterschied zwischen der irrationalen Wirklichkeit lebendiger Prozesse, zu dem das eigene leibliche Dasein zählt, und dem rationalen Erkennen kann also selbst nur im tatenlosen Zustand des Reflektierens als ein solcher behauptet werden; mithin lassen sich bei aller Kritik an Rationalismus und Bewusstseinsphilosophie die Möglichkeiten und Grenzen des Nachdenkens nur im Bewusstseinszustand des stillen Nachdenkens ermitteln. In diesem Sinne muss es sich im Nachdenken selbst abzeichnen, dass die erkennende Reflexion dort an ihre Grenzen stößt, wo die unabweisbare Notwendigkeit zu handeln beginnt. Einer solchen im Reflektieren selbst feststellbaren Bedeutung und Begrenzung der nachdenkenden Reflexion in ihrem Unterschied zur wirklichen Tätigkeit widmet Gehlen sich nicht nur in Wirklicher und unwirklicher Geist, sondern auch in etlichen anderen Aufsätzen lange vor seinen Untersuchungen in Der Mensch. Dabei erscheinen seine Aufsätze Wirklichkeitsbegriff des Idealismus243 sowie Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln244 besonders einschlägig, deren Entgegensetzung von Handlung und Reflexion sich in der Gegenüberstellung von Kierkegaard und Hegel in dem Aufsatz über Idealismus und Existenzphilosophie245 verdichtet. Aufschlussreich für das Entlastungstheorem ist das dort beschriebene Verhältnis von Handlung und stiller Reflexion dahingehend, dass Gehlen sich sowohl Elemente der Position Kierkegaards als auch derjenigen Hegels zu eigen macht. So folgt er einerseits der Existenzphilosophie Kierkegaards darin, den Vorrang der unmittelbaren Existenz vor der nachdenkenden Reflexion anzunehmen. Andererseits stellt er es als das hervorzuhebende Verdienst des hegelschen Idealismus dar, die Abhängigkeit unseres Handelns von „notwendigen Denkweisen“246 erkannt, allerdings ohne daraus die Konsequenz gezogen zu haben, das Denken in Abhängigkeit von der hiervon zu unterscheidenden Sphäre des Handelns zu stellen. Anthropologie als prima philosophia247 versteht sich in Anerkennung dieser Unterscheidung als eine Überwindung des Idealismus: Ausgehend von der unmittelbaren Existenz als der jeder begrifflichen Bezugnahme auf die Welt vorrangigen, selbst nicht ins Denken übersetzbaren Wirklichkeit des menschlichen Daseins entwickelt Gehlen die Annahme, dass der Mensch auf bestimmte, prinzipiell nicht für das Erkennen zur 243 244 245 246 247
Arnold Gehlen, Wirklichkeitsbegriff des Idealismus (1933), in: Gehlen 2, S. 181-198. Arnold Gehlen, Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln (1935), in: Gehlen 2, S. 311-346. Arnold Gehlen, Idealismus und Existenzphilosophie (1933), in: GA 1, S. 383-402. GA 1, S. 399. Vgl. Gehlen 2, S. 332.
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Disposition stehende Annahmen und Überzeugungen als „fraglose Gewissheiten“248 angewiesen ist. Diese in einer Anzahl von frühen Schriften auf die Notwendigkeit unhinterfragbarer Gewissheiten für den wirklichen Handlungsvollzug hinauslaufende einschränkende Bestimmung der Leistung der Reflexion leitet Gehlen in seinen Ausführungen zu Idealismus und Existenzphilosophie (1933)249 mit dem gegen Hegel gewendeten Diktum Sören Kierkegaards ein, dass sich das Existieren selbst nicht denken ließe250 : „Es war also zuerst Kierkegaard, der sagte: »Es gäbe etwas, das sich nicht denken lasse, das Existieren«, und der aus diesem Satze ein großes und einflußreiches Werk entwickelte, gipfelnd in einer Untersuchung des christlichen Bewußtseins, in scharfem Kampfe gegen das Scheinchristentum seiner und jeder anderen Zeit und im Kampf gegen Hegel, der die Philosophie seiner Zeit beherrschte, und in Sätzen, wie etwa dem: »Das Bewußtsein ist seiner selbst als der Realität gewiß oder daß alle Wirklichkeit nichts anderes ist als es; sein Denken ist unmittelbar selbst die Wirklichkeit.« – der in solchen Sätzen genau das Gegenteil behauptet wie Kierkegaard, mit seinem Satze: »Es gäbe etwas, das sich nicht denken lasse, das Existieren.«“ 251 Dieser Entgegensetzung folgend entwickelt Gehlen in Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes eine Bestimmung dessen, was sich im reflektierenden Nachdenken über die Bedeutung der Reflexion erkennen lässt. Das reflexive Nachdenken hebt hiernach in der „Unmittelbarkeit des Lebens“252 an, in der wir in ungebrochenem Einklang mit unseren Meinungen und Vorstellungen von den Dingen in der Welt handeln. In dieses „naive Selbstvergessen“253 ist die Reflexion immer in dem uns bereits bekannten Sinne einer Rückmeldung durch Hemmung eingelassen: dass wir im Fall eines Irrtums also Korrekturen an unseren Vorstellungen und Meinungen vornehmen. Von diesem Eingebundensein des Geistes in die Bewegung ausgehend hebt das Nachdenken als „Reflexion auf die Reflexion“254 mit der Einsicht an, dass die unmittelbaren Annahmen über die Wirklichkeit durch den Geist des Handelnden vermittelt sind. Die sich hier anschließenden immer von der „Denkbereitschaft des Menschen“255 abhängigen Stufen der Reflexion auf das Handeln und die damit einhergehenden Bewusstseinslagen fasst Gehlen wei248 249 250 251 252 253 254 255
Ebd. S. 342. GA 1, S. 383ff. Ebd., S. 386. GA 1, S. 385; vgl. Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, Band 7: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift/zweiter Teil, Jena 1910, S. 8. GA 1, S. 390. Ebd. Ebd., S. 395. Ebd., S. 390.
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ter im Rekurs auf Hegel. Dessen Ausführungen folgend sieht er die Vollendung dieser sekundären Reflexion zunächst in dem alles verbrennenden Zustand eines Skeptizismus, der eingedenk der Vermittlung der Wirklichkeit durch den eigenen Geist überhaupt jede Behauptung von Objektivität außerhalb seiner selbst infrage stellt: „Diese Idealität, dies Feuer, in dem alle Bestimmungen sich aufzehren, ist auf diesem Standpunkt noch unvollendete Negativität. Ich als unmittelbarer, Dieser, bin die einzige Realität; alle übrigen Bestimmungen sind ideell gesetzt, verbrannt. Nur ich erhalte mich und alle Bestimmungen gelten, wenn Ich will.“256 Das Denken, so der sich hier weiter an Hegel anschließende Gedanke, wird in diesem Zustand zu einem unglücklichen Bewusstsein, indem es ganz in dem reflexiven Hin- und Hergehenden umfassender Skepsis verbleibt. Auch gerät es in der Verwechslung dieses Reflektierens mit dem unmittelbaren Lebensvollzug in die in sich widersprüchliche Annahme, im bloßen – untätigen – Zweifeln schon etwas getan zu haben: „Ein Widerspruch, der sich in etwa so darstellt, daß die Reflexion versichert, es käme auf das Handeln an und das dürfe nicht vernachlässigt werden, und selbst damit etwas getan zu haben glaubt.“257 Ohne dass ich an dieser Stelle auf seine hiermit verbundene Kritik am existenzphilosophischen Zweifel im Allgemeinen und Heidegger und Jaspers im Besonderen eingehen möchte, ist Gehlens Feststellung aufschlussreich, dass die Welt in diesem Zustand umfassender Skepsis entzweibricht: in die andauernd in der Reflexion bezweifelbaren Wirklichkeitsbehauptungen einerseits und die nicht im Denken einholbaren Phänomene andererseits.258 Die Einsicht darin, dass die Reflexionsstufe der Skepsis das Denken fälschlich als unmittelbare Wirklichkeit nimmt und dabei dessen Funktion für das Handeln außer Acht lässt, markierte in Gehlens weiteren Überlegungen den Übergang vom unglücklichen Bewusstsein zum hegelschen Idealismus. Dieser ließe sich im Sinne einer weiteren Reflexion der Reflexion so verstehen, dass die umfassende Skepsis durch die Einsicht in das Abhängigkeitsverhältnis von Handlung und Geist überwunden wurde. Wir können den Reflexionsstandpunkt Hegels somit in dem Sinne als ein Denken des Denkens verstehen, dass sich dessen Perspektive vom Denken als Moment des tätigen Umgangs mit der Welt distanziert, um eben dieses Denken als Moment des Handelns begreifen zu können. Es ist hiernach als eine auch von Gehlen selbst
256 257 258
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Frankfurt am Main 1969, S. 183; vgl. GA 1, S. 391. GA 1, S. 392. Vgl. ebd., S. 394f.
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in Anspruch genommene Technik des Philosophen259 zu verstehen, diesen unmittelbaren Zusammenhang zu durchbrechen – und damit gleichsam im Denken aus der Welt herauszutreten, sich von seiner konkreten Situation zu distanzieren, um die in ihr wirksamen Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben. Hierin liegt die Möglichkeit, die uns im Begriff der historischen Reaktionsbasis bekannte Rückwirkung der Erfahrung auf unsere Vorstellungen und damit unser zukünftiges Handeln zu analysieren – und zwar indem von den Handlungen auf die inneren Voraussetzungen, d.h. auf die von der handelnden Person als notwendig angesehenen Annahmen über die Welt geschlossen wird: „Der idealistische Denker beurteilt also eine Handlung nie nach der Frage »Was hat er vor«, sondern er fragt »Welche Voraussetzung über das Verhältnis des Menschen zur Welt erscheint in dieser Handlung?«“260 Indem sich überhaupt nur aus dieser von der wirklichen Existenz distanzierten Perspektive Aussagen über den Begriff des Seins machen lassen, ist dem Idealismus die behauptete Identität von Sein und Denken schließlich so weit zuzugeben, dass diese innerhalb der Grenzen des systematischen Nachdenkens angenommen werden muss. Gleichzeitig markiert diese Identität auch die Grenze jedweden Systemdenkens. Das Handeln selbst ist dem Denken transzendent und vice versa, indem sich das Denken immer schon in Distanz zu dieser Wirklichkeit befindet: „Jeder Satz der idealistischen Theorie des Denkens auf das Denken kann also nur richtig sein von diesem transzendenten Standpunkt aus, in dem der steht, der sich und seine Welt von sich abgestoßen hat und nun den reinen Notwendigkeiten ihrer Zusammenhänge nachgeht.“261 Wenngleich diese Reflexionsstufe wohl eine Bestimmung des Verhältnisses von Existenz und Denken zu liefern vermag, bewegt sich jedwedes idealistische Systemdenken selbst noch in der Sphäre des vom wirklichen Handeln getrennten Denkens. In diesem Sinne ist es das Missverständnis nicht nur des hegelschen Idealismus, diesen Übergang vom Denken zum wirklichen Handeln nicht mitzudenken, mithin das reflektierende Denken und die wirklichen Weltgehalte gleichzusetzen. Hierin zu einem logokratischen Idealismus262, d.h. einem umfassenden Rationalismus werdend, übersieht das idealistische Denken gleichermaßen die Wirklichkeit aller nicht auf rationale Begriffe zu bringenden Lebenserfahrungen wie auch die über das rationale Erkennen hinausgehende Wirklichkeit des Gegebenen.263 In diesem Sinne liegt der Idealismus darin falsch, die aus seiner Perspektive erkennbaren 259 260 261 262 263
Vgl. ebd., S. 397. Ebd., S. 399. Ebd., S. 398. Vgl. Gehlen 2, S. 324. Vgl. ebd., S. 326.
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„notwendigen Denkweisen“264 nicht ins Verhältnis zu den wirklichen Handlungen in Auseinadersetzung mit der Wirklichkeit zu setzen. Eben dieses zu tun ist als die Voraussetzung der anthropologischen Überlegungen Gehlens zu verstehen, in denen er davon ausgeht, dass das Denken in sich selbst an Grenzen stößt. Angesichts bestimmter, nicht weiter reflektierbarer Inhalte muss es aus sich heraustreten und die in der Reflexion aufgeworfenen Probleme in tatsächlichen Handlungen aufheben, wie Gehlen diese Sichtweise in einer Bezugnahme auf Schelling unterstreicht: „Er sagt dort, von einer Frage, die uns hier nicht weiter interessiert, sie sei nur so auflösbar, »daß wir die Frage selbst aufheben. Sie ist also schlechthin unbeantwortlich, weil sie nur so beantwortlich ist, daß sie gar nicht mehr aufgeworfen werden kann. Aber nun springt es auch von selbst in die Augen, daß eine solche Auflösung dieser Frage nicht mehr theoretisch sein kann, sondern notwendig praktisch wird«.“265 Für die philosophische Reflexion selbst gilt hiernach, dass der existenzphilosophische Standpunkt genauso wie das idealistische Systemdenken seine Grenze im Handeln findet, das um der Möglichkeit seines Vollzugs das Abbrechen der Reflexion als sacrificium intellectus – „Opfer des Denkens“266 – von uns fordert. Allgemeiner und positiv formuliert bedeutet diese Aussage, dass sich die Situation des Menschen überhaupt nur vor dem Hintergrund der von ihm nicht mehr reflektierten und damit im Handeln für unabdingbar gehaltenen Denkweisen verstehen ließe, die als „fraglose Gewissheiten“267 unseren tatsächlichen Umgang mit der Welt bestimmen – was Gehlen dort als das notwendige Überschreiten des Idealismus und als den Ausgangspunkt einer Philosophischen Anthropologie als prima philosophia versteht.268 Es folgt demnach aus der Notwendigkeit zu handeln, dass der Mensch unhinterfragbar geltender, seine Tätigkeit verlässlich orientierender Annahmen bedürftig ist, die Gehlen in Der Mensch mit dem Begriff der irrationalen Erfahrungsgewissheit fasst. 264 265
266 267 268
GA 1, S. 399, 341, 343, 344, 345. Ebd., S. 399. Schelling fragt an der genannten Stelle danach, warum es überhaupt ein Gebiet der Erfahrung gäbe. Diese Frage ließe sich nicht theoretisch, sondern nur in der Praxis aufheben – was Schelling als Zeichen dafür deutet, dass alle theoretischen Fragen der Philosophie als praktische Postulate verstanden werden könnten; vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke, Erste Abteilung, Erster Band, Stuttgart und Augsburg 1856, S. 310; vgl. Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos, Berlin 2006, S. 315: „Schellings Hegelkritik wird erst eigentlich durchsichtig, wenn man bedenkt, daß die positive Philosophie praktisch motiviert wird [...] Das Streben, die Entgegensetzung aufzuheben wird von Schelling in allen Phasen seines Denkens an die menschliche Praxis zurückgebunden und ergibt sich niemals rein logisch aus der Struktur der Erkenntnis.“ GA 1, S. 401. Gehlen 2, S. 342. Vgl. ebd., S. 332.
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2.4.3 Irrationale Erfahrungsgewissheit Gehlens Ausführungen über die dem rationalen Erkennen entgegengesetzte Irrationale Erfahrungsgewißheit269 in Der Mensch sind durchaus als schillernd zu bezeichnen. Tatsächlich überrascht er seine Leser hier geradezu mit dem in diesem Werk bis dahin noch gar nicht thematisierten, jedoch bereits in der Bestimmung der Fremdheit der auf uns einströmenden Reize und ungeordneten Antriebe sowie den unterschiedlichen Schichten des menschlichen Handelns mitgeführten Begriff des Irrationalen. Auch der Umstand, dass Gehlen diesen wichtigen Abschnitt in der überarbeiteten Fassung von Der Mensch noch um einige Überlegungen ergänzt, etliche Kürzungen vornimmt und zu einem einzigen Kapitel mit den darauffolgenden Ausführungen über wissenschaftliche Askesen und Entlastungsgefahren270 zusammenfasst, lässt diesen Abschnitt überdies nicht unbedingt in einem helleren Licht erscheinen. Wenig hilfreich ist auch, dass er den für ein Verständnis der Gewissheiten aufschlussreichen Begriff der „Lebenserfahrung“271 in der überarbeiteten Fassung ganz weglässt, den er noch zur Unterscheidung zwischen der durch den Verstand kontrollierten rationalen Erkenntnis und der nichtrationalen Erfahrungsgewissheit in der ersten Auflage einführt: „Ich gebe nun rein beschreibend einige Hinweise auf die nichtrationale Gesetzlichkeit der breiten Erfahrung, im ganz komplexen Sinn der Lebenserfahrung, wie ich ihn in einem Aufsatz „Vom Wesen der Erfahrung“ (Bl. f. dt. Philos. X) dargestellt habe.“272 Indem Gehlen allerdings in der überarbeiteten Fassung weiterhin von der Gewissheit als „Wahrheit des Irrationalen“273 spricht, die in der „breiten Erfahrung eine ungemeine Bedeutung hat“274 , können wir diese uns schon bekannte Dimension der Lebenserfahrung275 dem hier vorgestellten Begriff der irrationalen Erfahrungsgewissheit zugrunde legen. Gewissheiten sind demnach sich in der ganzen Breite menschlicher Erfahrungen im Gedächtnis unseres Leibes niederschlagende, verinnerlichte Überzeugungen, die nicht nach dem Muster von revidierbaren Arbeitshypothesen funktionieren und sich deshalb auch einer rationalen Überprüfung widersetzen: „Was man findet, wenn man »in sich hinein hört«, kann man kaum als »Hypothese« aussagen, wohl aber in Überzeugungen leben, welche die 269 270 271 272 273 274 275
Vgl. GA 3.1, S. 355ff. Vgl. M1, S. 330ff.; vgl. zur Textgeschichte Karl-Siegbert Rehberg, Nachwort des Herausgebers, in: GA 3.2, S.751ff. M1, S. 331. Ebd. GA 3.1, S. 355. Ebd. Vgl. Abschnitt 1.6.1.
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sachliche Kontrolle experimentellen Denkens kaum aushalten würden. So müssen wir im Leben als handelnde Wesen und mit der Antriebsstruktur eines solchen, also mit einem Überschuß plastischer, weltoffener und der Handlung nachwachsender Antriebe, die zu Dauerantrieben in die Zukunft hinein sich entwickeln müssen, fortwährend erledigen, abtun, aber auch unter steten Opfern festhalten; das wenigste davon geschieht kontrolliert und das meiste mit einer nichtexperimentellen Erfahrungsgewißheit.“ 276 Für ein verlässliches Handeln greifen wir demnach auf bestimmte, uns gewisse Vorstellungen von der Welt zurück; wesentlich feststehende innere Bilder, die als die in unserer Lebenserfahrung erworbene historische Reaktionsbasis277 nicht von unseren charakterlichen Dispositionen zu trennen sind: „Die menschlichen Antriebe kristallisieren sich in langfristigen Schicksalen aus, werden mit Zielbildern besetzt, stellen sich gegeneinander fest und machen daher selbst Erfahrungen, und so müssen sie bei aller notwendigen Beweglichkeit und Verschiebbarkeit, also Anpassungskraft an die unabhängig von ihnen wechselnden Bedingungen, doch festhalten und auch ausscheiden können. Wer nicht ablehnen und abschließen kann, verglimmt in sich, wie Hegel sagt, denn jede festgehaltene Richtung eines Dauerantriebs kommt nur durch Verzicht auf Schwankungen zustande.“ 278 Mit dem hier in Rückgriff auf Hegels Ausführungen über die im reflektierenden Wissen in sich selbst verglimmende schöne Seele279 aufscheinenden Begriff der notwendigen Denkweisen wird deutlich, dass fest verinnerlichte Dispositionen nicht alleine in den außerhalb des Nachdenkens liegenden Schichten des Erfahrungserwerbs zu verorten sind. Tatsächlich wird die ganze Tragweite des Begriffs der irrationalen Gewissheit eben dort kenntlich, wo wir uns bestimmter Gehalte durchaus auf der Ebene des Nachdenkens bewusst werden können, diese aber für unhinterfragbar und damit nicht durch empirische Erfahrungen revidierbar halten. In diesem Gegensatz zu dem mit Hypothesen operierenden instrumentellen Bewusstsein entfalten sie ihre Bedeutung für das Handeln in feststehenden Annahmen sowohl über das Sein der Welt als auch unser Sollen in derselben: „Nur die experimentelle Erkenntnis hat die Bedeutung einer Hypothese, mit der man operiert. Umgekehrt leben wir unabänderlich mit vielen Gewissheiten, die sich im Denken als Wahrheiten manifestieren, und die gerade den Sinn haben, nicht instrumentell »zu etwas hinzuführen«, sondern
276 277 278 279
GA 3.1, S. 359. Vgl. ebd., S. 361. Ebd., S. 359. Vgl. PhG, S. 483.
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unser Verhalten an Bildern des Soseins oder des Sollens zu orientieren, nicht an Techniken des Anderswerdens.“ 280 Wichtig ist zu sehen, dass Gehlen davon ausgeht, dass es sich bei Gewissheiten keineswegs um bloß vorläufige Annahmen handelt, denen ob der Beschränktheit der zur Verfügung stehenden Mittel und des allgegenwärtigen Handlungsdrucks nicht auf den Grund gegangen werden kann. Wenn Gehlen in Der Mensch wie bereits in seiner Habilitationsschrift in Rekurs auf Kants Begriff der Vernunftidee darauf verweist, dass wir diese Gewissheiten benötigen, weil „die Notwendigkeit zu handeln weiter reicht, als die Möglichkeit zu erkennen“281 , dann ist diese Aussage ausdrücklich gegen die Vorstellung gerichtet, dass diese Gewissheiten als sie selbst überhaupt Gegenstand rationaler Erkenntnis werden können.. Gehlen – so könnte man in abgewandelter Weise mit Kant sagen – will mit dem Begriff der irrationalen Gewissheit das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu schaffen. Er tut dieses allerdings in einem ganz anderen Sinne als Kant in seiner Postulatenlehre. So können diese Gewissheiten gerade nicht a priori durch die Vernunft postuliert und entsprechend von ihr eingesehen werden, denn es handelt sich um bestimmte im erfahrenden Umgang mit der Welt verinnerlichte Dispositionen. Auch beziehen sie sich keineswegs alleine auf die Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes. Gewissheiten können zwar auch diese Ideen beinhalten, sind nach Gehlens Dafürhalten jedoch weitaus vielschichtiger als die von Kant dargelegten Postulate der reinen praktischen Vernunft. Bei alledem ist diesen Gewissheiten mit den kantischen Postulaten allerdings gemein, dass es sich nicht um empirische Erkenntnisse handelt. Vielmehr ist es das Kennzeichen der mit Gewissheit auftretenden Überzeugungen, dass hiermit bestimmte Annahmen über die Wirklichkeit getroffen werden, die, obwohl sich deren Geltungsansprüche nicht durch den experimentellen Erkenntniserwerb nachweisen lassen, zu einem bestimmten Handeln motivieren. Die Leistung der irrationalen Gewissheiten besteht somit darin, dass wir an diese glauben und unser Handeln an ihnen orientieren können, obwohl unsere empirischen Erkenntnisse keinen Anhaltspunkt für ihre Geltung liefern: „Der Geist des Glaubens ist insofern dem Geist der Wissenschaft gerade entgegengesetzt, daß er wünscht, daß die Ereignisse einen anderen Verlauf nehmen, als sie es tun. Dies kann man nicht wirklich wollen, ohne Gewißheiten zu haben, die statisch, als Seinsaussagen auftreten: daß nämlich die 280 281
GA 3.1, S. 358. GA 3.1, S. 357. Darauf, dass Gehlen diesen Befund als Argument gegen den Pragmatismus verstanden wissen will, verweist auch Peter Vogt mit Blick auf den von Gehlen bis in dessen Spätwerk durchgehaltenen Dualismus von Reflexion und Handlung; vgl. Peter Vogt, a.a.O., S. 212f.
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Wirklichkeit im Grunde anders ist, als sie erscheint. Überzeugungen dieser Art sind so wenig Fremdkörper in dieser Welt, daß sie sogar lebenswichtig sind: Wenn der Mensch wesentlich in der Zukunft handelt, die Zukunft aber gerade nicht erkennbar ist – wie sollte er anders handeln als aus Überzeugungen an einen [sic] möglichen Zustand, der nur dann möglich ist, wenn er im Grunde schon wirklich ist?“282 In dem hier ausgeführten Sinne der Gewissheit über das Sollen in der Welt handelt es sich auch bei moralischen Überzeugungen um verinnerlichte, vom Charakter eines Menschen nicht abzutrennende geistige Momente, die anderen Bewusstseinsschichten als dem rationalen Erkennen zuzuordnen sind. Irrationale Gewissheiten, so lässt sich Anschluss daran über alle ihre Ausformungen feststellen, sind auf den unterschiedlichen Schichten des Handelns verinnerlichte Handlungsdispositionen, die mit dem Gefühl der Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten einhergehen. Sie lassen sich hiernach in einem psychologischen Sinne so verstehen, dass diese Wahrheiten nicht als revidierbare Arbeitshypothesen Gegenstand des Verstandes sind, sondern mit an bestimmte Verhaltensweisen gebundenen Gefühlen korrespondieren, deren intuitive Bezugnahme auf die Welt den Menschen davon entlasten, sein Handeln im reflexiven Nachdenken orientieren zu müssen. 283 Dieser Zusammenhang tritt einerseits in den kleinen Entlastungen der eigentätigen Mängelbewältigung und andererseits in den großen Entlastungen durch die metaphysischen Deutungen der Selbstbilder hervor. Bezüglich dieser großen Entlastungen ist mit Blick auf die uns bereits bekannten Annahmen Gehlens zur Naturteleologie284 festzustellen, dass der Begriff der irrationalen Gewissheit auch im subjektiven Genitiv als eine „Wahrheit des Irrationalen“285 zu verstehen ist: Es ist die Tendenz des Lebens zu mehr Leben, die für die Kompensation der Disharmonie zwischen Mensch und Leben verantwortlich ist. Neben den im individuellen Erfahrungserwerb verinnerlichten Gewissheiten geben die Institutionen dem Menschen demnach dadurch Orientierung in seinem Handeln, dass er sich in Bildern als metaphysische Deutung seiner selbst erfährt, die auf den in der Kulturentwicklung wirkenden Prozess des Lebens zurückgeführt werden können: „Auch die durch die Zeit, den Einfluß der Gruppe, durch unsere Wesensart uns anwachsenden Orientierungen brauchen eine Art des Bewußtseins, um handlungsmächtig zu werden; aber hier wird das Bild, das Phantasma Schwungrad der Handlungen, und die Wahrheit geht in den Zustand einer
282 283 284 285
GA 3.1, S. 364f. Vgl. MH, S. 93. Vgl. Abschnitt 1.9. GA 3.1, S. 355.
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nichtrationalen, aber erfahrungsgesättigten Gewißheit über: »Phantasia certissima facultas«, sagt Vico.“ 286 Hiermit wird der uns schon mit der Feststellung, dass der Mensch „als Phantasiewesen genauso richtig bezeichnet, wie als Vernunftwesen“287, bekannte Umstand nachvollziehbar, dass das Selbstbewusstsein des Menschen nicht nur in dem Sinne auf die Leistung der Phantasie zurückzuführen ist, sich mithilfe dieser vorstellend in die Dinge hineinzuversetzen. Die Phantasie ist auch deshalb „ganz eigentlich das elementare Sozialorgan“288, weil sie diese das gesellschaftliche Leben bestimmenden Selbstbilder hervorbringt.
2.5 Gewissheit als augenscheinliches »Daß« Blicken wir zunächst etwas genauer aus der Perspektive der subjektiven Weltaneignung auf den so angelegten Begriff der irrationalen Erfahrungsgewissheit. Diesbezüglich führt Gehlen eine Reihe von individuell erworbenen Verhaltensweisen an, deren glatter Vollzug auf nicht rational problematisierbare Gewissheiten zurückzuführen ist. Beispielhaft für diese im individuellen Erfahrungserwerb verinnerlichten irrationalen Wahrheiten sind die unter dem Begriff der „Vergewisserung ohne Problemstadium“289 behandelten Gewissheiten, die uns ohne weitere Problematisierung in der Folge eines einzigen Erfahrungsdatums gewiss sind. Im Gegensatz zur Verfertigung unserer Gedanken in der experimentierenden Wiederholung von Handlungen ist der Modus ihres Erwerbs das einmalige Schockerlebnis – etwa so, wie das einmal gebrannte Kind das Feuer meidet290. Dass es sich hierbei durchaus um experimentell nachweisbare Erkenntnisse handeln kann, legt oberflächlich betrachtet die Annahme der bloßen Vorläufigkeit dieser Gewissheiten gegenüber gewussten Wahrheiten nahe. Wenn das Kind also genügend Zeit und die entsprechenden Mittel dazu hätte, dann könnte es auch experimentell zeigen, warum und in welchen Zusammenhängen das Feuer zu meiden wäre. Die Pointe der Argumentation Gehlens ist allerdings eine andere und bezieht sich auf die Bedeutung dieser Wahrheit als verinnerlichte Lebenserfahrung. Sofern eine Gewissheit durch ein Schockerlebnis internalisiert ist, gewinnt sie Unabhängigkeit gegenüber dem möglichen Wechsel der uns begegnenden Sachverhalte. Dass das Feuer zu scheuen ist, bedeutet der betreffenden Person keine für das Experimentieren zur Disposition stehende Hypothese über die Welt. Ganz im Gegenteil hat das Schockerlebnis dazu geführt, dass sie diese 286 287 288 289 290
Ebd., S. 357. Ebd., S. 374. Ebd., S. 376. Ebd., S. 360. Vgl. ebd.
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Gewissheit verinnerlicht hat; sie »ist« infolgedessen im emphatischen Sinne eine Person, die das Feuer scheut. Auf diese Weise wird das im erkennenden Wissen bestehende Verhältnis von angenommener Wahrheit und Handlung auf den Kopf gestellt: Hier richten wir unseren Willen nicht nach den im experimentellen Umgang mit den Dingen erworbenen und in der nachdenkenden Reflexion wieder revidierbaren Erkenntnissen; vielmehr behandeln und beurteilen wir die uns begegnenden Dinge und Sachverhalte nach den Maßgaben unserer bereits verinnerlichten Überzeugungen und unseres Glaubens, indem wir die schon bestehenden Willensbestimmungen den möglichen Erkenntnissen voranstellen: „Der Betreffende »glaubt« dann, vor bekannten Sachverhalten zu stehen, und in diesem Sinne ist Glauben, wie Novalis (III, 97) sehr gut sagt, »Wirkung des Willens auf den Intellekt«.“291 Diese am Beispiel des Schockerlebnisses vorgeführte Eigenart der durch Gewissheiten festgelegten Willensbestimmungen fasst Gehlen mit dem Begriff eines unumstößlich verinnerlichten „»Daß«“292 zusammen. Die psychologische Dimension irrationaler Wahrheiten zeigt sich demnach darin, uns mit unumstößlich verinnerlichter Gewissheit darauf zu stützen, »daß« die Welt so und nicht anders eingerichtet ist: „Jeder Psychologe muß zugeben: in den Problemen, mit denen ein Mensch umgeht, in seiner Denkart wie in seinen Gewissheiten liegt ein solches »Daß« – eine irrationale Konstante. Überzeugungen auch theoretischen Inhaltes sind, um das Novaliswort zu erweitern, oft Wirkungen des Willens auf den Intellekt.“293 Anders als im experimentellen Erkenntnisprozess ist die Wahrheit dieser Gewissheiten also nicht mehr von dem möglichen Umgang mit dem vorliegenden empirischen Material abhängig; vielmehr werden die Phänomene unter der Voraussetzung der in unseren Charakter eingegangenen Gewissheiten wahrgenommen. Hiermit wird auch deutlich, dass sich diese Form der Wahrheit keineswegs auf den hinter den Phänomenen liegenden Konnex von Wahrheitsannahmen einer Theorie, sondern sich auf die unmittelbaren Anschauungen bezieht. Diese Wahrheiten zeigen sich genauso unmittelbar an den Phänomenen, wie der handelnde Umgang mit denselben nichts an diesen verinnerlichten Gewissheiten ändern kann.294 Das eben angeführte Beispiel 291 292 293 294
Ebd. S. 361; vgl. J. Minor (Hg.), Novalis Schriften. Band 3, Jena 1923, S. 97: „Im Willen ist der Grund der Schöpfung. Glauben ist Wirkung des Willens auf die Intelligenz.“ GA 3.1, S. 362. Ebd. Die Bedeutung augenscheinlicher Gewissheiten als Entlastung des Menschen wird uns im dritten Kapitel dieser Arbeit ausführlicher beschäftigen. Entlastung bedeutet hiernach, wie es auch von Lothar Samson herausgestellt wird, dass sich der Mensch in der Welt aufgrund ihm augenscheinlicher Gewissheiten beheimatet beziehungsweise geborgen fühlt: „Die Welt ist dem Handelnden vertraut; er fühlt sich in ihr geborgen“ (Lothar Samson, a.a.O., S. 93).
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verdeutlicht: Es ist der entsprechenden Person in vollem Sinne des Wortes „augenscheinlich“, dass das Feuer zu scheuen ist – wohingegen ein Feuer, das man nicht zu scheuen braucht, im Zweifelsfall gar kein Feuer sein kann. Tatsächlich ist diese Augenscheinlichkeit entscheidend für das Verständnis des Begriffs der irrationalen Gewissheit. Indem Orientierung in der Welt überhaupt dadurch hergestellt wird, dass sich der Mensch indirekt durch sein entfremdetes Selbstgefühl von den wahrnehmbaren Objekten her selbst erst zu fassen bekommt, gewährleisten die unmittelbar an den Phänomenen ablesbaren, augenscheinlichen Wahrheiten die notwendige Sicherheit im Handeln. Schließlich können auch theoretische Überzeugungen im Sinne des Augenscheinlichen „Wirkungen des Willens auf den Intellekt“295 sein. Es kann nicht nur augenscheinlich sein, »daß« das Feuer zu scheuen ist, sondern auch, »daß« die Welt im Kleinen genauso wie im Großen so und nicht anders eingerichtet ist. In etwas abgewandelter Form bedeutet diese Aussage mit Fichte gesprochen, dass Entlastung noch in der philosophischen Ausrichtung eines Menschen nachweisbar ist, die davon abhängt, was für ein Mensch er in seinem erfahrenden Umgang mit der Welt geworden ist. Auch als Philosophen, so können wir Gehlen verstehen, operieren wir in letzter Instanz ausgehend von einem solchen irrationalen »Daß«, also bestimmter, als Charaktereigenschaften das Fundament unserer Argumentationen bildenden und selbst nicht mehr argumentativ infrage zu stellenden Gewissheiten. Überzeugungen und Charaktereigenschaften sind an dieser Stelle nicht mehr voneinander zu trennen und bilden den Rahmen dessen, worüber sich noch Argumente austauschen lassen: „man erreicht sehr leicht den Punkt, wo eine Diskussion der Überzeugungen eines anderen zu einer Diskussion seiner Wesensart werden müßte und daher abzubrechen ist.“296 Gehlen beschreibt diesen Umstand schon in seiner Habilitationsschrift, die er als eine Psychologie der Philosophie versteht.297 Auch die Lebensführung des Philosophen ist vor dem Hintergrund der zu Charaktereigenschaften gewordenen Einstellungen zu verstehen, und diese infrage zu stellen heißt geradezu, die „Gewißheit der Realität meiner Existenz“298 anzuzweifeln, womit allerdings jeder Diskurs gesprengt wird: „Das ist ja die Grenze jeder Kritik: man müsste die essentiellen Voraussetzungen an diesem Menschen diskutieren, und das ist wohl nur in ganz grundsätzlichen Auseinandersetzungen leidenschaftlich verbundener Men-
295 296 297 298
GA 3.1, S. 362. Ebd. Vgl. GA 1, S. 119. Ebd., S. 298.
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schen möglich. Die Unterhaltung endigt oft in dem Wunsche, den anderen einzureißen und gänzlich neu zu erschaffen.“299 Die psychologische Betrachtung der Philosophie besteht im Anschluss daran in der Annahme, dass es das durch die Philosophie angestrebte Verstehen des Absoluten immer mit einem psychischen Zustand zu tun gehabt hätte. Philosophische Bildung zu erwerben bedeutet hiernach in letzter Instanz, weniger sich der objektiven Wahrheit in der Reflexion anzunähern, als eine bestimmte Haltung zur Welt zu verinnerlichen: „Denn die Geisteswissenschaften leben von einer psychologischen Kategorie: vom »Verstehen«, und wer Schopenhauer und Hegel »verstanden« zu haben glaubt, fragt nicht mehr, welcher von beiden denn objektiv recht hat.“300 Entgegen der Vermutung also, dass es die Philosophie allein mit einem Begreifen der Welt in der Sphäre des reflexiven Nachdenkens zu tun hätte, müssten wir uns vergegenwärtigen, dass sich die großen Gedanken der Philosophen auf gelebte und erfahrbare Zustände bezögen: „»Idee«, »Wille«, »extensio et cogitatio«, »deus sive natura«, »absoluter Geist«, – das waren nicht etwa induzierte Allgemeinbegriffe ohne eigentlichen Gegenstand, sondern Erfahrungen, und diese Denker pflegten in ihren methodischen Ausführungen die Mittel zu diskutieren, die dazu erforderlich seien; so ist Hegels Phänomenologie eigentlich eine Beschreibung der Voraussetzungen , die man zur Erfahrung des Absoluten als Geist erfüllt haben muß.“301 Das in diesem Zitat in unterschiedlichen Bestimmungen auftretende Absolute alleine in einem reflexiv problematisierenden Sinne begreifen zu wollen, erscheint Gehlen demgegenüber als depotenzierende Intellektualisierung: „Es hat keinen Sinn, das Absolute so weit fortzureflektieren, dass es nur gerade noch die äußersten Gedanken erreichen können, wenn einem auch noch nichts fraglicher ist, als das Recht, sich in bloßen Gedanken um die Realität zu bemühen.“302 Dass dieses als psychischer Zustand verstandene Absolute in der uns bereits bekannten Entgegensetzung durchaus als irrationale Gewissheit verstanden werden kann, wird durch den Hinweis auf denjenigen Zustand deutlich, der durch das Philosophieren erfahrbar werden soll: „Und das Absolute, der fraglose Zustand des Seins, muß näher heranzulocken oder – zu zwingen sein, als bis an die scheue Grenze meiner fernsten Gedanken, indessen das
299 300 301 302
Ebd. Ebd., S. 135. Ebd., S. 160. Ebd., S. 123.
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Auge kurzsichtig wird vom Nichtsehenwollen.“303 Ohne dass wir an dieser Stelle näher darauf eingehen können, wie genau Gehlen sich dort die Annäherung an diesen Zustand über die Stufen verschiedener »Seinsgrade«304 vorstellt, lässt sich an dem in Wirklicher und unwirklicher Geist vorgestellten Verhältnis zwischen diesem psychischen Zustand und dem Sein die Bedeutung des Lebens für den Begriff der irrationalen Gewissheiten nachvollziehen. So betrachtet Gehlen diese Gewissheiten nicht allein aus der Perspektive des subjektiven Gefühls, sondern geht von einer substanziellen Entsprechung derselben mit dem Sein aus. Unter dieser Voraussetzung verläuft die Unterscheidung zwischen dem wirklichen und dem unwirklichen Geist entlang der Demarkationslinie zwischen dem als Phase in die Handlung involvierten Bewusstsein und den handlungslosen Vollzügen der stillen Reflexion. Das bloße Nachdenken bewegt sich in der Sphäre des sich reflexiv von der Wirklichkeit distanzierenden unwirklichen Geistes. Demgegenüber lässt sich die verinnerlichte Nähe zum Absoluten mit dem wirklichen Geist identifizieren: Hiermit geht einher, dass die in der stillen Reflexion bestehende Entfremdung durch das unhintergehbare Gefühl, »daß« es sich so und nicht anders in der Welt verhält, überwunden und dass durch die hiermit einhergehende Haltung und Motivation zum Handeln auch tatsächliche Nähe zum Leben hergestellt werden kann. 2.5.1 Selbstbild und Sollen: Phantasia certissima facultas Die These, dass auch unsere theoretischen Annahmen in letzter Instanz eine dergestalt existenzielle Bedeutung haben, führt uns zurück an die Ausgangsbestimmung der Anthropologie Gehlens, nach der den Selbstdeutungen des Menschen als Bilder seiner Selbst keine bloß theoretische Dimension zuzuschreiben ist. Die praktische Dimension der Motivation zu einem Handeln, zu dem wir je nach Selbstbild „sehr verschiedene Befehle“305 in uns hören, ist nicht auf eine rationale Einsicht, sondern auf das durch diese Bilder indirekt vermittelte entfremdete Selbstgefühl zurückzuführen. Tatsächlich stoßen wir hiermit wiederum auf die Einbildungskraft als dem Medium menschlicher Orientierung – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass sich der Mensch in der Welt orientiert, indem er sich vermittels seiner Phantasie in die Dinge versetzt. Überdies ist die menschliche Phantasie ausgehend von der uns bereits bekannten Urphantasie auch das Vermögen, diejenigen metaphysischen Gewissheiten hervorzubringen, die die Stellung des Menschen in der Welt im übertragenen Sinne augenscheinlich werden lassen. 303 304 305
Ebd. Vgl. zur Theorie der Seinsgrade GA 1, S.151ff. GA 3.1, S. 3.
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Gehlen beruft sich in der Erörterung dieses Zusammenhangs zwischen Bild und Gewissheit wiederum auf die auch für die Bestimmung des instrumentellen Bewusstseins entscheidende Einsicht Vicos, dass das Wahre das Gemachte ist. Er nimmt in dieser Verbindung zwischen metaphysischer Gewissheit und Phantasie allerdings die später von Karl Löwith hervorgehobene und zuletzt in seiner breiten Untersuchung von Ferdinand Fellmann aufgearbeitete Lesart Vicos vorweg, die sich auf die in der idealistischen Tradition – etwa bei Croce – nicht hinreichend zur Kenntnis genommene Rolle der Phantasie als eines eigenständigen, nicht rationalen Organs menschlicher Wahrheitsstiftung bei Vico beruft.306 Der Mensch ist demnach neben seiner Fähigkeit, im experimentierenden Handeln Erkenntnisse zu sammeln, als das die Welt produktiv deutende Wesen zu verstehen; d.h., dass er sich nicht hintergehbare Bilder gegenüberstellt, von deren metaphysischer Auslegung seines Seins her er sich seiner Stellung und damit auch seiner Aufgaben im Handeln gewiss sein kann: „Wie daher die rationale Metaphysik lehrt »homo intelligendo fit omnia«, so lehrt die phantasieentsprungene Metaphysik »homo« non intelligendo fit omnia. »Und vielleicht liegt in diesem Wort mehr Wahrheit, als in jenem, denn durch das Verstehen klärt der Mensch seinen Geist auf, durch das Nichtverstehen macht er die Dinge aus sich selbst, verwandelt sie und wird selbst zum Ding« (Vico, zit. Witzenmann, Pol. Akt. u. soz. Mythos).“ 307 Die Entlastung durch die Institutionen besteht hiernach darin, dass sie durch erfahrbare Bilder – Vorbilder im weitesten Sinne – einen Horizont aus Verhaltensmotiven erfahrbar machen, die sich das Individuum, um mit den Anforderungen des Lebens umgehen zu können, als feststehende Willensbestimmung zu eigen machen soll.308 Hiermit zeichnet es die moralischen Gewissheiten in besonderer Weise aus, in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu 306
307
308
Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1949/53), in: Sämtliche Schriften 2, Stuttgart 1983, S. 125ff. [S. 146]; Ferdinand Fellmann, Das Vico Axiom: Der Mensch macht Geschichte, Freiburg/München 1976; vgl. Benedetto Croce, Die Philosophie Giambattista Vicos (1911), Tübingen 1927, S. 49ff. Vgl. zur Bedeutung der Phantasie für die Selbstdeutung des Menschen Bruno Accarino, Phantasia Certissima Facultas, in: Fischer/Joas (Hrsg.), Kunst, Macht und Institution, Frankfurt am Main 2003, S. 29. GA 3.1, S. 358; vgl. Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, Bd. 2, Hamburg 1990, S. 192 [405]; vgl. Walter Witzenmann, Politischer Aktivismus und sozialer Mythos. Giambattista Vico und die Lehre des Faschismus, Berlin 1935, S. 79. Dass Gehlen hiermit in seiner Beschreibung der irrationalen Erfahrungsgewissheiten „von einer analytisch-erklärenden auf eine eigentümliche ethische Ebene“ (Patrick Wöhrle, Metamorphosen (...), a.a.O., S. 103) übergeht, wird angesichts der beiden Dimensionen seiner teleologischen Betrachtung des Menschen verständlich: Es ist dem Menschen von Natur aus aufgegeben zu handeln und sich dem Leben in den durch die übersubjektiven Schichten der Institutionen vermittelten Gewohnheiten anzunähern.
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rationaler Erkenntnis und experimentellem Wissenserwerb zu stehen. Moralisches Sollen bewahrt seine für das Handeln relevante Gewissheit nur so lange, wie es unhinterfragbar als bestimmte Haltung in den Charakter einer Person eingegangen ist und sich damit auch einer rationalen Begründung verwehrt.309 Moral ist so gesehen als notwendiges Denken in einem emphatischen Sinne zu verstehen. Sie verlangt nach einem nicht durch rationale Argumente erschütterbaren verinnerlichten Wollen zu einem Handeln und damit das mit dem Gefühl der Verpflichtung einhergehende sacrificium intellectus, das moralisch Gebotene als eine notwendige, unhinterfragbar gültige Denkweise zu empfinden. Moral besteht in dieser Konzeption darin, sein Leben in dem Gefühl der Gewissheit einer Verpflichtung gegenüber „außerrationalen Werten“310 zu führen. So verstanden gründet Moral – und hierin besteht die Entlastung des Einzelnen – auf der verinnerlichten Gewissheit und dem entsprechenden Gefühl, »daß« man zu einem bestimmten Handeln verpflichtet ist. Philosophische Ethik, so der hiermit verbundene Gedanke, ist der Versuch einer rationalen Begründung eines sittlichen Verhaltens, das sich aus nichtrationalen Quellen der Phantasie speist. Moral mit den Mitteln des rationalen Erkennens zu traktieren bedeutete daher einen Reduktionismus – und Immoralität in dem Sinne, dass die instrumentelle Anwendbarkeit zu ihrem Maßstab gemacht und damit Geltungsansprüche als Arbeitshypothesen zur Disposition gestellt würden, deren Entlastungsfunktion und Krisenfestigkeit311 gegenüber den sich wandelnden Umständen gerade in der Unanfechtbarkeit der verinnerlichten Gültigkeit ihrer augenscheinlichen Gewissheit besteht. Diese Entgegensetzung kann man sich anhand Gehlens Kritik an Deweys Anwendung des operationalen Denkens auf alle Bereiche menschlichen Handelns vergegenwärtigen, die er trotz des eigenen, durch dessen Pragmatismus inspirierten Erkenntnisbegriffs in Stellung bringt.312 Obwohl auch Dewey die Rolle der Gewissheit und Gewohnheit für das menschliche Verhalten herausstellt, ist es nach seinem Dafürhalten eben nicht als das Wesen moralischen 309 310
311
312
Vgl. GA 3.1, S. 358. MH, S. 98. Dazu, dass Gehlen hiermit jedwede rationale Begründungen von Normativität ablehnt, vgl. Christian Thies, Moral bei Gehlen. Anthropologische, zeitdiagnostische und ethische Überlegungen, in: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie. Heft 1/2 (Sonderheft Nr. 2). Zwischen Führerkult und Mängelwesen. Zur Aktualität Arnold Gehlens, Leipzig 2005, S. 93ff., insb. ebd., S. 94: „Es sollen keinen Sollaussagen gemacht werden.“ Vgl. GA 3.1, S. 358. Die von Gehlen in Moral und Hypermoral problematisierte »Moralhypertrophie« in der Moderne lässt sich hiernach als Variante des von Hegel aufgezeigten Gegensatzes zwischen der schönen Seele des reinen moralischen Bewusstseins und der Sittlichkeit verstehen: An die Stelle tatsächlicher Sittlichkeit tritt die egoistisch motivierte individuelle Gesinnung. Vgl. PhG, S. 490; dazu: Christian Thies, Die Krise des Individuums, a.a.O., S. 103: „Dementsprechend kann Gehlen den Vormarsch der Moralität und den Abbau der Sittlichkeit als zwei Seiten einer Medaille begreifen.“ Vgl. GA 3.1, S. 356.
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Handelns zu verstehen, sich rückhaltlos an bestimmte, unabänderliche Selbstbilder und den darauf bezogenen Gewohnheiten gebunden zu fühlen; d.h., sich ihnen also in der Entlastung von bestimmten Überlegungen ganz zu unterwerfen. Ganz im Gegenteil geht es darum, angesichts der konkreten Begebenheiten durch den Verstandesgebrauch bestimmte Regeln aufzustellen, an denen sich das Handeln orientieren kann, um bessere Folgen im Handeln zu zeitigen – wie Dewey diese Sichtweise etwa in Human Nature and Conduct313 ausführt: „Freiheit ist die »Wahrheit der Notwendigkeit« nur, wenn wir eine Notwendigkeit dazu brauchen, eine andere abzuändern. Wenn wir das Gesetz dazu brauchen, Folgen vorauszusehen und zu bedenken, wie diese angewendet oder gesichert werden können, dann beginnt Freiheit. Die Erkenntnis des Gesetzes anwenden, um dem Begehren seine Durchführung zu erzwingen, das gibt dem Ingenieur seine Kraft. Die Erkenntnis des Gesetzes anwenden, um sich ihm ohne weiteres Tun zu unterwerfen, das macht das Wesen des Fatalismus aus, wie er sich sonst auch ausstaffieren mag. So kommen wir wieder zu unserer Hauptthese. Die Moralität hängt vom Geschehen ab, nicht von Geboten und Idealen, die nichts mit der Natur zu tun haben.“314 Die damit verbundene Vorstellung Deweys, die Moral in Abhängigkeit zu besseren Folgen im Handeln zu stellen, verwirft Gehlen als einen pragmatischen Rationalismus: „In einer Art Überoptimismus wirft Dewey das Problem einer planmäßigen, experimentellen Rekonstruktion (directed reconstruction) der ökonomischen, politischen und religiösen Institutionen auf, einer »Konstruktion von Werten durch experimentelles Verhalten« [...] Das ist pragmatistischer Rationalismus [...] Die Alleingeltung der reinen Handlung und die Autarkie des »operational thinking«.“315 Die für das moralische Handeln relevanten, institutionell vermittelten Gewissheiten unterscheiden sich demgegenüber von jedwedem rationalen Wissen darin, deshalb prinzipiell keinen disponiblen Stellenwert in einem Überzeugungssystem zu haben, weil sie nicht in der Schicht des rationalen, also instrumentellen Denkens anzusiedeln sind. Eingedenk des Schichtenmodells des Geistes wird damit nachvollziehbar, warum Gehlen sich einerseits 313 314 315
John Dewey, Human Nature and Conduct. An Introduction to Social Psychology, New York 1922. John Dewey, Die menschliche Natur. Ihr Wesen und ihr Verhalten, Zürich 2004, S. 222; vgl. ders. Human Nature and Conduct (...), a.a.O., S. 312f. GA 3.1, S. 356; vgl. John Dewey, The Quest for Certainty, New York 1929, S. 258: „Operational thinking needs to be applied to the judgement of values just as it has now finally been applied in conceptions of physical objects.“
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für den pragmatischen Ansatz hinsichtlich der Frage nach empirischer Erkenntnis stark macht und dennoch den Verstand – immer verstanden als Schicht des instrumentellen Bewusstseins – nicht für das angemessene Organ der Ermittlung moralischen Sollens hält. Moral, verstanden als die hohe Kultur eines in den Institutionen über sich selbst hinauswachsenden Menschen, gründet vielmehr auf einer Sicherheit im Handeln, die nur durch die verinnerlichte, „erfahrungsgesättigte Gewissheit“316 von Bildern und Phantasmen erreichbar ist, die in der vom instrumentellen Bewusstsein zu unterscheidenden höheren Schicht des Geistes zum „Schwungrad der Handlungen“317 wird. 2.5.2 Entlastung als Freiheit aus Entfremdung Mit Blick auf das eben beschriebene Wesen der Gewissheiten lässt sich nachvollziehen, in der Analyse der rationalen Wahrheit mit dem Hinweis auf die Pilatusfrage318 anzuheben: Wie immer man sich dieser Frage nähert, steht das Verhältnis von Glaubensgewissheit und Erkenntnis im Mittelpunkt. So auch bei Gehlen, der bereits in seiner Rekonstruktion des instrumentellen Bewusstseins auf die Gefahr verweist, dass sich das rationale Erkennen in schädlicher Weise auf die Gewissheiten des Menschen auswirken kann. Sich den Gewissheiten mit wissenschaftlichem Interesse zu nähern bedeutete hiernach, die einmal festgestellten Phasen des wirklichen Handlungsvollzugs zu bloßen Hypothesen des unwirklichen Reflektierens zu machen. Die Möglichkeit dafür sieht er gegeben, wenn das Bewusstsein eine distanziert objektivierende Perspektive auf diese Gewissheiten einnimmt, aus der heraus diese nicht mehr geglaubt werden und damit auch nicht mehr unbedingt zu wirklicher Tätigkeit verpflichten: „Diese [Möglichkeit, S.W.] ist dann erreicht, wenn im eigenen Bewußsein des Denkenden die ehemals dogmatischen, d.h. als metaphysische Wirklichkeit geltenden Wahrheiten und Werte zumindest erschüttert sind.“319 Für dieses Bewusstsein schwindet genauso die darin bestehende Entlastung, sich auf fraglos gewisse Verhaltensweisen verlassen zu können, wie die durch das verpflichtende Gefühl bedingte Motivation dazu, sich in entsprechender Weise zu verhalten. In dieser für die Wissenschaft unerlässlichen Distanz zu einem zum Handeln verpflichtenden Glauben spiegelt sich nach Gehlens Dafürhalten ein fundamentales Problem wider: So versteht er die Handlungslosigkeit und die 316 317 318
319
GA 3.1, S. 357. Ebd. Vgl. GA 3.1, S. 341. Dieser Topos findet sich zeitnahe etwa bei Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1920; Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), Aalen 1981; Carl Schmitt, Der Laviathan in der Staatslehre Thomas Hobbes, Hamburg 1938. GA 3.1, S. 463.
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Unverbindlichkeit des Nachdenkens als die „Entlastungsgefahren“320, durch die der Mensch der Welt fremd wird, indem er nicht mehr ins Tätigsein zurückfindet. Tatsächlich kann man sich klar machen, dass die Vorstellung einer solchen Gefahr notwendig aus der Bestimmung der geistigen Distanznahme als Phase des Handelns in der Wirklichkeit folgen muss: Indem Gehlen das Nachdenken in seiner Herleitung des Denkens aus der reflektierten Bewegung einseitig als Distanznahme zur wirklichen Handlungssituation bestimmt und damit jene Annäherung an die Wirklichkeit negiert, die nur in der Reflexionsdistanz des vernünftigen Denkens möglich ist, kann er das bei sich bleibende Denken nur als einen an sich der Wirklichkeit fernen Zustand verstehen. Begriffe, so können wir uns noch einmal vor Augen führen, sind nicht dazu geeignet, die Wirklichkeit zu begreifen, sondern sind Mittel der Handlungsführung im Umgang mit einer vom begrifflichen Verstehen substanziell zu unterscheidenden Wirklichkeit. Sofern wir das Nachdenken also nicht in tatsächliche Problemlösungen überführen, es unter der Annahme notwendiger Denkweisen abbrechen bzw. uns unter dem Eindruck einer durch ein Selbstbild verbürgten emotionalen Verpflichtung zu bestimmten Verhaltensweisen dem Handlungsvollzug zuwenden, drohen wir, uns von der Wirklichkeit und damit vom Leben selbst zu entfremden. 321 Gehlen beschreibt diesen Zusammenhang in Der Mensch eben so, dass unser Verhältnis zu den „direkt gegebenen Situationsbeständen“322 über die Verlagerungen in den unterschiedlichen Schichten des Handels immer unverbindlicher, distanzierter und „zunehmend »indirekter«“323 wird, was zunächst als die ausgezeichnete, auf die Kategorie der Entlastung zurückführbare Leistung unseres Bewusstseins zu bewerten ist. Der Mensch kann sein auf die Zukunft gerichtetes Leben nur deshalb führen, weil er seine festen Willensbestimmungen auf situationsferne Ziele richten kann. Diese anhand des Vergleichsbegriffs des Mängelwesens kenntlich werdenden Leistungen werden, so Gehlens Attest, allerdings in ihrer Überfunktion zu einem tatsächlichen Mangel: Der Mensch kann sich aufgrund seiner besonderen Konstitution von der unmittelbaren Handlungssituation distanzieren und soll sich aus der Distanznahme wieder der wirklichen Tätigkeit zuwenden – und läuft damit jedoch auch Gefahr, sein im Wechselspiel mit seiner Antriebsformierung auf Distanz zur Handlungssituation stehendes Bewusstsein nicht mehr mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Einerseits, indem sich die Reflexion der Reflexion nicht mehr im Handeln aufhebt, sondern sich 320 321
322 323
Ebd. S. 370. Dazu, dass das von Gehlen aufgezeigte Verhältnis von Reflexion und Wirklichkeit nur auf der Folie des Begriffs der Entfremdung nachvollziehbar ist, vgl. Michael Großheim, a.a.O., S. 206f. Ebd., S. 371. GA 3.1, S. 371.
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vielmehr auf unrealistische bzw. abgehobene – intellektualistische, artistische324 – Annahmen verlegt, und andererseits, indem er in seiner Distanznahme zum wirklich Handeln nicht einzulösende Bedürfnisse entwickelt: „In allen diesen Fällen wachsen also Vorteil und Schaden aus derselben Wurzel einer »riskanten« Organisation, denn ohne die Gabe, in sehr mittelbaren Verhaltensweisen selbst noch Antriebsbefriedigung zu finden, gäbe es keine Tätigkeit für ferne Zwecke.“325 In dem uns schon bekannten Sinne der normativen Ausrichtung des Handlungsbegriffs, der mit quasi-instinktiven Verhaltensweisen in der Kultur einhergeht, besteht die Aufgabe der Kultur und ihrer Institutionen darin, dieser Gefahr durch eine den Charakter formende Erziehung zum Tätigsein vorzubeugen: „Es besteht also die konstitutionelle Gefahr, die stets in neuer Zucht bewältigt werden muß, daß die menschlichen Antriebe nicht mehr zur Welt zurückfinden, sondern sich ins Unendliche raffinieren und in sich weiterlaufen.“326 Entfremdung bedeutet im Anschluss daran, sich der Wirklichkeit nicht mehr in einem durch die emotionale Bindung an irrationale Gewissheiten festgestellten Handeln zuzuwenden, sondern die Orientierung im Handeln wesentlich im individualisierten, situationsfernen und in sich reflektierenden Verstand zu suchen: Einmal, indem sich die subjektiven Bedürfnisse von den realistischen bzw. der menschlichen Natur zuträglichen Zielsetzungen im Handeln entfernen, und ein anderes Mal, indem das subjektive Nachdenken die Inhalte irrationaler Gewissheiten infrage stellt. Dass Gehlen diesbezüglich zumeist selbst nicht von Entfremdung spricht, obwohl es hier in der Sache um einen der Wirklichkeit fremd gewordenen Zustand geht, ist dem Umstand geschuldet, dass er über einen gegenteiligen, positiv konnotierten Begriff der Entfremdung verfügt. Diese Anwendung des Begriffs der Entfremdung wird ausgehend davon nachvollziehbar, dass das Verhältnis von Mensch und Welt anhebend mit dem ersten Tasterlebnis als ein sich am entfremdeten Selbstgefühl327 orientierendes Handeln zu verstehen ist: Wie wir es über die Schichten menschlichen Handelns kennen gelernt haben, erschließt sich die Welt in unserem Handeln, indem wir uns gegenüber den eigenen Gefühlen distanzieren und ihnen dadurch fremd werden, dass wir diese indirekt von den in unser Handeln involvierten Gegenständen, Sprachsymbolen und Selbstbildern her wahrnehmen. Korrespondierend mit dem damit einhergehenden Begriff des Selbstbewusstseins als Ausfällungsbestand des entfremdeten Selbstgefühls328 lassen sich die Institutionen dahingehend vor dem Hintergrund einer Freiheit aus Entfremdung verstehen, dass sie eine 324 325 326 327 328
Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. Abschnitt 2.3.3.
180
Distanznahme gegenüber den unmittelbaren Gefühlen durch die ihnen entsprechenden Verhaltensweisen verlangen: „Wenn man sagt, der Dienst an den Institutionen sei die »Entfremdung«, so ist das ganz richtig, aber diese Entfremdung ist die Freiheit, nämlich die Distanz zu sich selbst und zu dem, was sich so zufällig im Kopf und Herzen abgelagert hat, wenn diese lange genug den Meinungsmachern ausgeliefert waren.“329 Offenkundig ist dieser Gebrauch des Begriffs der Entfremdung der Verwendung bei Fichte und Marx gänzlich entgegengesetzt, die den Verlust der subjektiven Freiheit in den vom Menschen selbst erschaffenen Verhältnissen als Entfremdung beklagen. Demgegenüber sieht Gehlen die Entfremdung im Gewand der Entlastungsgefahr gerade dort aufkeimen, wo sich diese Bindung zu lösen beginnt. Anders gewendet: Gehlens Begriff der Freiheit korreliert so wenig wie seine Vorstellung von Selbstbewusstsein mit der größten Freiheit der Distanznahme der stillen Reflexion, durch die sich das Individuum autonom im Denken zu orientieren vermag. Vielmehr geht für ihn die Freiheit des Individuums mit einer Sicherheit im Handeln einher, die ihm nur durch seine Entfremdung in den Institutionen und damit die Entlastung durch dieselben zuteil werden kann. Die Freiheit des einzelnen Menschen geht in diesem Sinne daraus hervor, dass er sich von seinen Institutionen konsumieren lässt, wie Gehlen dieses auch durchaus polemisch gegen den Zeitgeist der Gegenwart herausstellt, der in Freiheit einzig die subjektive Selbstbestimmung zu sehen vermag.330 Wirkliche Freiheit dürfen wir also nicht in der Autonomie des reflektierenden Subjekts vermuten – sie geht vielmehr mit einer „Entlastung durch Stabilität“331 des eigenen Handelns durch die unhinterfragte Pflicht gegenüber den Forderungen der Institutionen einher, wie Gehlen es in Urmensch und Spätkultur betont: „Dies kommt natürlich auf den alten Satz heraus, daß man nur im Rahmen seiner Pflicht frei werden kann, aber gerade das lohnt sich zu wiederholen, wenn überall in Erscheinung tritt: das arbiträre Subjekt, das sei die Freiheit.“332 Einen Eindruck von Gehlens Bestimmung der Entfremdung sowohl als Entlastungsgefahr als auch in ihrer positiven Konnotation als Ort der Freiheit vermittelt der Aufsatz Über die Geburt der Freiheit aus Entfremdung (1952)333 . Dessen kulturkritische Pointe besteht nicht zuletzt im Hinweis auf 329 330 331 332 333
MH, S. 71. Vgl. US, S. 7; MH, S. 71. US, S. 30. Ebd. Arnold Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus Entfremdung (1952), in: GA 4, S. 351-365. Vgl. zur Bedeutung dieses Aufsatzes für das Gehlensche Verständnis des indirekten Weltver-
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den handlungslos reflektierenden – und damit selbst ein Stück weit den Entlastungsgefahren erlegenen – Standpunkt derjenigen Denker, die im negativen Sinne von der Entfremdung des Menschen sprechen. So ist es der „einzelne, handlungslose Denker“334 Fichte, der als erster den fruchtbaren Gedanken vorlegt, dass die Produkte des Menschen eine Eigenständigkeit entwickeln können, die rückwirkend das Verhalten der menschlichen Individuen bestimmen. Dessen auf den Begriff der Entfremdung gebrachte Denkfigur der „verlorenen Freiheit“335 des Ich (gemeint ist der Verlust der Freiheit an die Eigenständigkeit der menschlichen Schöpfungen) hält Gehlen neben der dialektischen Denkmethode für eine der beiden von Fichte entwickelten „folgenreichsten philosophischen Erfindungen der letzten beiden Jahrhunderte“336 . Fichte versteht dieses als Verlust der Freiheit des »Ich« und damit als eine zu überwindende Entfremdung; seine Wissenschaftslehre ist hiernach als der Versuch zu verstehen, „diesem entfremdeten Werk seiner Eigentätigkeit gegenüber die alte Freiheit und Täterschaft des Ich wiederherzustellen, die entfremdeten Produkte wieder in die Freiheit der Verfügung und Erzeugung zurückzunehmen und zu verflüssigen.“337 Über Schellings Adaption des Gedankens des Sichentfremdetseins und wieder Zusichkommens des Ich lässt sich dann die Denkfigur des Außer-sich-seins in der Entfremdung als wesentliches Element der hegelschen Philosophie verstehen, der Gehlen die entscheidenden Bausteine für seinen positiv konnotierten Begriff der Entfremdung entnimmt: „Fast immer ist da, wo Hegel von einem »Negativen«, einem Ansichsein oder einem »Unmittelbaren« spricht, der Fichtische Begriff einer sich entfremdeten, außer sich gekommenen schöpferischen Subjektivität gemeint, so etwa (Enzyklopädie § 244) in der Behauptung, die »Idee« erschließe
334 335 336 337
hältnisses Joachim Fischer, a.a.O., S. 271ff. Darauf, dass Gehlens Ausführungen über die Geburt der Freiheit aus Entfremdung als Ertrag seiner früheren Beschäftigung mit Fichte in der – in meiner Arbeit nicht ausführlich behandelten – Theorie der Willensfreiheit (Arnold Gehlen, Theorie der Willensfreiheit (1933), in Gehlen 2, S. 1-180) zu verstehen sind, verweist Michael Großheim: „Was er später unter dem Titel »Die Geburt der Freiheit aus Entfremdung« vorlegt, ist nur eine Ausarbeitung des Grundgedankens seiner »Theorie der Willensfreiheit«“ (Michael Großheim, a.a.O., S. 219ff.). Zur unterschiedlichen Bewertung der Eingebundenheit in die Institutionen als Entlastung bei Gehlen oder Entfremdung bei Adorno vgl. Christian Thies, Die Krise des Individuums, a.a.O., S. 150ff. GA 4, S. 368. Ebd. Ebd. Ebd., S. 367.
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sich, als Natur sich frei aus sich selbst zu entlassen, in ihr Anderssein überzugehen und (§ 245) unmittelbar und äußerlich zu werden.“338 Hier an die hegelsche Naturphilosophie anzuknüpfen, verweist zunächst auf die uns bereits bekannten Überlegungen zur Naturteleologie bei Gehlen. Wir müssen uns die den Menschen erziehenden kulturellen Gebilde als Produkte des durch das Tätigsein der Einzelnen hindurchwirkenden Lebensprozesses vorstellen, sodass die Institutionen im Anschluss an Hegel auf die freie innere Zweckmäßigkeit der außer sich tretenden und sich darin selbst negativ bzw. entfremdet gegenüberstehenden Natur zurückzuführen sind. Demgegenüber lässt sich der Begriff der Entfremdung im pejorativen Sinne einer Entlastungsgefahr als „Flucht aus der wirklichen Welt“339 im Denken verstehen, wie Hegel es in der Phänomenologie des Geistes340 sowohl der aufgeklärten Bildung als auch dem Aberglauben bzw. der willkürlichen Meinung attestiert. Beide Formen des Bewusstseins sind nach Hegels Analyse deshalb in „zweierlei Welten“341 beheimatet und hierin in sich selbst zerrissen, weil sie der Wirklichkeit, verstanden als der durch das Handeln des Menschen in seiner Welt objektivierte Geist, jeweils eigentümliche Formen des subjektiven „reinen Bewußtsein[s]“342 entgegenstellen. Dieser Ansicht entgegengesetzt verfügt auch Hegel über einen positiv konnotierten Begriff der Entfremdung, der sich auf die Vermittlung des individuellen Bewusstseins mit der durch das Tun des Menschen hervorgebrachten Welt – beispielsweise in Staat und Religion – und dem hierin objektivierten wirklichen Geist bezieht. Dieser Begriff der Entfremdung zielt darauf ab, dass das unmittelbare Bewusstsein durch die kulturellen Schöpfungen zu sich selbst in Distanz tritt und sich dabei durch die Aneignung die hierin objektivierten geistigen Gehalte zu einem der Wirklichkeit entsprechenden Bewusstsein bildet: „Wodurch also das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins. Diese Entäußerung ist daher ebenso Zweck als Dasein desselben; sie ist zugleich das Mittel oder der Übergang sowohl der gedachten Substanz in die Wirklichkeit als umgekehrt der bestimmten Individualität in die Wesentlichkeit. Diese Individualität bildet sich zu dem, was sie an sich ist, und erst dadurch ist sie an sich und hat 338
339 340 341 342
Ebd., S. 369f. Vgl. ENZ I, S. 393; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen, Frankfurt am Main 1970, im Folgenden zitiert als »ENZ II«, S. 13f. PhG, S. 363. Ebd., S. 389ff. Ebd., S. 363; vgl. StZ, S. 130. PhG, S. 363.
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wirkliches Dasein; soviel sie Bildung hat, soviel Wirklichkeit und Macht.“343 Demgegenüber bezieht sich Hegel in der negativen Verwendung dieses Begriffs auf die Entgegensetzung zwischen diesem wirklichen Geist der Bildung und der unwirklichen Welt des reinen Bewusstseins bzw. des Denkens.344 Entfremdung bedeutet in diesem pejorativen Sinne, dass das subjektive Bewusstsein das eigene – gebildete – Denken der objektiven Welt der Bildung entgegenstellt: „Der Geist der Entfremdung seiner selbst hat in der Welt der Bildung sein Dasein; aber indem dieses Ganze sich selbst entfremdet worden, steht jenseits ihrer die unwirkliche Welt des reinen Bewußtseins oder des Denkens. Ihr Inhalt ist das rein Gedachte, das Denken ihr absolutes Element.“ 345 Hegel folgend sieht auch Gehlen die Perspektive dieses auf sich selbst rekurrierenden reinen Bewusstseins einerseits in der Aufklärung und andererseits im bloßen Glauben als die in sich gegensätzlichen Momente dieser Entfremdung gegeben.346 Wo sich also der Glaube als bloßer Aberglaube an irgendwelche subjektiven Meinungen hält, geht die Entfremdung in der Aufklärung damit einher, das durch die Gewissheiten der übersubjektiven Institutionen motivierte Handeln durch das bloße subjektive Denken zu ersetzen. Entscheidend für Gehlens Begriff der Entfremdung im pejorativen Sinne bzw. der Entlastungsgefahr ist damit, dass er wie auch Hegel in einem ersten Schritt die Kritik der Aufklärung an dem bloßen subjektiven Glauben an irgendwelche willkürlichen Annahmen und Meinungen für durchaus berechtigt hält: „Die Aufklärung sagt nun gegen den Glauben richtig, daß das, was ihm als absolutes Wissen gelte, nur sein eigener Gedanke und ein vom Bewußtsein Hervorgebrachtes sei: sie erklärt damit den Glauben für Irrtum und Erdichtung, für ein dem Selbstbewusstsein Fremdes (!)“.347
343
344 345 346 347
Ebd., S. 364. Sich auf objektivierte geistige Gehalte zu beziehen, bedeutet in diesem Sinne eine Entfremdung vom unmittelbaren, reinen Bewusstsein in seiner Bezugnahme auf die Welt und damit indirekt auf sich selbst, was sich, so Walter Jaeschke, so zusammenfassen ließe, dass es für Hegel nichts Geistiges gibt, das nicht ein in diesem Sinne Entfremdetes wäre: „Geist ist ja nach dem (durchaus problematischen) Modell von Selbstbewußtsein als vermittelte Selbstbeziehung gedacht, und deshalb bildet auch »Entfremdung« als Relation des einzelnen Geistes zu seiner Substanz als zu einem Anderen die Grundstruktur des Geistes [...] »Entfremdung« ist somit konstitutiv für Geistigkeit überhaupt – sie ist geradezu die »Substanz« des Geistes: es gibt nichts Geistiges, das kein Entfremdetes wäre“ (Walter Jaeschke, Hegel Handbuch, Stuttgart 2003, S. 190). Vgl. PhG, S. 391; vgl. Walter Jaeschke, a.a.O., S. 191. PhG, S. 391. Vgl. GA 4, S. 370; PhG, S. 398ff. GA 4, S 371.
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Den Ausführungen Hegels folgend weist dann auch Gehlen in einem zweiten Schritt auf die Hybris der Aufklärung hin, sich in eben dieser Manier auf den Glauben in der Religion zu beziehen: „die Aufklärung betrachte den Inhalt des Glaubens als Fiktionen, als ein »nur Hervorgebrachtes des Bewußtseins«, bis zu der polemischen Vergröberung hin, er sein Pfaffenbetrug und Volkstäuschung.“348 Die Aufklärung wird demnach polemisch – „töricht“349, um mit Hegel zu sprechen – sofern sie jene Gewißheit seiner selbst, die das Bewusstsein im religiösen Glauben hat, als bloße Meinung bzw. Täuschung der Gläubigen hinzustellen sucht. Gehlen stimmt in diesem Sinne mit Hegel darin überein, dass man sich in diesem Glauben keineswegs täuschen kann. Vielmehr haben wir es hier mit einem institutionalisierten Selbstverhältnis zu tun, über das sich der Mensch vermittels seiner Deutungen indirekt – und damit entfremdet – zu sich selbst und damit zur Welt zu verhalten in der Lage ist. Die Welt, so kann man zusammenfassend sagen, ist als seine zweite Natur durch das Tun des Menschen geistig bzw. die objektive Welt durch seine Entfremdung begeistert und die Entlastung besteht darin, dass er sich durch diese Entfremdung indirekt durch die eigenen Produkte in stabilen Bahnen – also: festgestellt – zur Welt verhalten kann. Hinsichtlich der Institutionen darf also gerade nicht in einem pejorativen Sinne von Entfremdung gesprochen werden; ganz im Gegenteil kann von einer Geburt der Freiheit aus der Entfremdung die Rede sein, indem es die Entlastungen durch diese Schöpfungen des Menschen erst ermöglichen, dass er seine Handlungen mit der Sicherheit einer verinnerlichten, seine Gefühlswelt regulierenden Gewissheit in der Welt zu orientieren vermag. Trotz der Anleihen bei Hegels Begriff der Entfremdung im bloßen Meinen und aufgeklärter Bildung ist schließlich festzuhalten, dass Gehlen dessen Bestimmung einer Aufhebung dieser Entfremdung durch das „sich als das reine Wissen wissen“350 nicht teilen kann. Der Mensch ist das sich deutende Wesen und die durch die Phantasie vermittelten geistigen Momente der Institutionen sind so wenig in der Schicht des rationalen Verstehens zu verorten, wie sie in ihrer Eigenschaft als irrationale Gewissheiten in ein Wissen überführt werden können. Die Entfremdung des Menschen im Wissen aufheben zu wollen, ist somit das Zeichen eines Zustands der Kultur, in dem die geistigen Gehalte der Institutionen nicht mehr fraglos verinnerlichte Gewissheiten sein können. Im Gegensatz zu Hegels optimistischer Deutung des sich seiner selbst bewusst werdenden Geistes muss die Menschheitsgeschichte vielmehr als ein Niedergang verstanden werden – als ein Prozess, über den die höchsten Schichten des Geistes verloren gegangen und an deren Stelle der bloß rationale Zugang 348 349 350
Ebd.; vgl. PhG, S. 407. PhG, S. 407. PhG, S. 494.
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zur Welt und damit das in sich zerrissene, dem sich in den irrationalen Gewissheiten seiner Selbstbilder verwirklichenden Lebensprozess entfremdete, unwirkliche Bewusstsein übrig geblieben ist. Gehlen beschreibt diesen Zusammenhang an einer einschlägigen Stelle in Moral und Hypermoral zwar hypothetisch, bezieht sich aber mit der durch den „Zusammenbruch“351 der Institutionen verlustig gegangenen Abstimmung der Gefühle und Handlungen des Menschen auf „die Zwecke des Lebens“352, auf eben jenen Zustand der Entfremdung, in dem sich das Bewusstsein des modernen Menschen nach seinem Dafürhalten befindet: „Der Geist springt dann aus der realen Notwendigkeit, ein Leben zu führen, heraus und wird als »unwirklicher Geist« zu einer Ersatzform seiner selbst.“353
351 352 353
MH, S. 93. Ebd. Ebd.
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3 Leben in Kultur 3.1 Von der Entlastung im Leben zum entlasteten Geist Wenden wir uns der von Gehlen vorgelegten Kulturtheorie zu, dann ist zunächst auf die im Nachdenken verspürte Dissoziation zwischen Verstand und Lebensprozess als den uns bereits bekannten Ausgangspunkt in seinem Denken hinzuweisen: Weil die Entwicklung der Kultur zu einem allgemeinen Zustand der Entfremdung durch reflexive Distanznahme geführt hat, kann Gehlen sich überhaupt als Theoretiker auf diesen Prozess beziehen. Das hiermit verbundene Theorem des unwirklichen Geistes beschreibt er in den einführenden Bemerkungen seiner Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist als einen allgemeinen Verlust der Wirklichkeit1 des Geistes in dem Sinne, dass sich die unverbindliche Reflexion des Menschen „vom Lebenszentrum getrennt hat“2. Dieses existenzphilosophische Motiv beschreibt ein Bewusstsein, das, mit dem Zusammenbruch der Institutionen den Entlastungsgefahren erlegen, aus der Distanz seiner Reflexion nicht mehr in vollem Umfang in das Handeln zurückfindet und sich deshalb dem Leben selbst entfremdet hat. Einen Blick auf seine Habilitationsschrift der Analyse der wesentlich in Urmensch und Spätkultur und Die Seele im technischen Zeitalter entwickelten Kulturtheorie voranzustellen, erweist sich über diese Übereinstimmungen mit seinen anthropologischen Überlegungen hinaus deshalb als fruchtbar, weil Gehlen dort mit dem Begriff der Liebe und der Vorstellung eines Lebens in der Not der tätigen Auseinandersetzung mit der Natur die Konturlinien einer der modernen Zivilisation gegenübergestellten, dem Leben entsprechenden Kultur umreißt. Ausgehend von dem Problem der distanzierten Reflexion beschreibt er die Bewusstseinslage des modernen Menschen dort einerseits so, dass das „Bewußtsein für sich bleibt und lebt“3, indem es die Erfahrungen wesentlich als „bloßes »Wissen – darum«“4 interpretiert, „ohne die Kraft zu haben, Handlungen oder tiefergehende psychische Prozesse zu erregen, ohne zu wirken 1 2 3 4
Vgl. GA 1, S. 129. Ebd. GA 1, S. 130. Ebd.
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und einzuwirken.“5 Ein Zustand also, in dem im tätigen Umgang wohl Wissen, aber nicht die irrationale Gewissheit eines zum Handeln motivierenden »Daß« als Lebenserfahrung verinnerlicht wird. Hiermit geht einher, dass Wahrheit nur noch mit den subjektiven „Meinungen“6 des reflektierenden Denkens verbunden wird, eine „Sphäre objektiv verbindlicher, gemeinsamer Wahrheiten“7 jedoch verlustig gegangen ist. Die Unwirklichkeit des Geistes, so lässt sich mit Blick darauf feststellen, geht mit einer Vereinzelung der Menschen einher, weil den jeweils subjektiven „Weltbilder[n]“8 das verbindende Moment der Gewissheit eines über das individuelle Bewusstsein hinausgehenden Deutung menschlichen Seins fehlt. Mit den dem entgegengestellten Momenten einer dem Leben entsprechenden Kultur können wir an die oben reklamierte Nähe zu Freud9 in dem Sinne anknüpfen, dass es Gehlen – durchaus in einer Entsprechung von „Eros und Ananke“10 – sowohl um Liebe als auch die Not eines tätigen Lebens geht. So stellt er einerseits die Liebe als denjenigen zwischenmenschlichen Zustand heraus, der die Entfremdung des unwirklichen Geistes – ein „Außereinander [sic] im inadäquaten Seinsverhältnis“11 – zu überwinden vermag: „Von Wirklichkeit im eigentlichen und ausgezeichneten Sinne kann nur innerhalb menschlichen Lebens die Rede sein [...] nur von Mensch zu Mensch realisiert sich jene Innerung des Lebens, die nichts außerhalb läßt und in der es allein zur Ruhe kommen kann, da jedes Außereinander im inadäquaten Seinsverhältnis – Mensch und »Bildungswelt«, Mensch und Technik, Mensch und anorganische Natur – entwirklicht und äußerlich bleibt [...] Ich meine die einfache Beziehung des einen Menschen zum anderen, die sich erst in der Liebe erreicht, im wahrgenommenen Moment, welcher nie – bloßes Gefühl – handlungslos bleibt, sondern mich ganz beansprucht“.12 Dass wir uns dieses Liebesverhältnis in einer dem Leben gemäßen Weise als ein die gesamte Kultur durchdringendes Phänomen vorzustellen haben, lässt sich an den weiteren Ausführungen darüber nachvollziehen, dass zwischenmenschliche Liebe in der modernen Kultur des unwirklichen Geistes „nur noch in den elementarsten menschlichen Beziehungen: in der Familie, unter ein paar Vertrauten”13 anzutreffen ist. 5 6 7 8 9 10 11 12 13
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Abschnitt 1.7.1. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 66. GA 1, S. 159. Ebd., S. 159f. Ebd., S. 160.
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Als das dem Eros gegenüberstehende Moment der Ananke, also der Not eines anstrengenden Lebens in Tätigkeit, treffen wir dort auf die Vorstellung, dass sich die Problemlage eines dem Leben fremden, unwirklichen Geistes dort nicht stellt, wo der Mensch noch „in Not und Nutzen“14 in Einklang mit der Natur zu leben hat: „Dieses Leben in Not und Nutzen, die große Idee des natürlichen Lebens, liegt jenseits der Problematik des wirklichen und unwirklichen Geistes in einer einfachen Existenz, geduldig und fruchtbar wie der Boden, über den seit 2000 Jahren der Pflug geht, namenlos und stark, hart und zart, doch gerecht; keinem der innerhalb der Natur lebt, fehlt das Bewußtsein der Unergründlichkeit seines Tuns und der höheren Macht; die Religion hat man in den Städten zu Fall gebracht.“15 Der Mensch, so können wir mit den uns schon bereitstehenden Begriffen feststellen, ist in dieser Kultur durch die ständig im Handeln zu bewältigenden Belastungen vom Druck seines Antriebslebens entlastet. Überdies stellt sich auch dadurch Harmonie zum Leben ein, dass die Menschen in der ständig gegenwärtigen Sorge um das eigene Leben und das ihrer Familie sowie der schweren Arbeit „ein Zeichen eines unzweifelhaften inneren Sinnes des empirischen Lebens unterhalb seiner Erscheinungen“16 gewahr werden – sie leisten eine schwere, ihnen von der Natur aufgebürdete Arbeit, die doch zweifelsohne sinnvoll ist, weil sie diese Tätigkeit am Leben erhält. Dass wir mit Gehlens dortiger Bezugnahme auf die Religion auch dem Motiv der Liebe begegnen, liegt nur allzu nahe. So beschreibt Gehlen, allerdings nicht in Wirklicher und unwirklicher Geist, sondern wenig später in dem Aufsatz über Idealismus und Existenzphilosophie mit Fichte das Aufgehobensein in der Religion als das über die subjektive Freiheit hinausgehende Einswerden mit Gott in der Liebe: „Sowie durch den höchsten Akt der Freiheit und durch die Vollendung derselben dieser Glaube – nämlich an die Selbstständigkeit des Ich – schwindet, fällt das gewesene Ich hinein in das reine göttlich Dasein und man kann der Strenge nach nicht einmal sagen: daß der Affekt, die Liebe und der Wille dieses göttlichen Daseins die seinigen würden; indem überhaupt gar nicht mehr zweie, sondern nur Eins, und nicht mehr zwei Willen, sondern überhaupt nur noch einer und eben derselbe Wille Alles in Allem ist. Der Mensch kann sich gar keinen Gott erzeugen, aber sich selbst, als die
14 15 16
Ebd., S. 240. Ebd. Ebd.
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eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinkt er in Gott.“17 In Ergänzung des uns bereits bekannten Begriffs der irrationalen Gewissheit bedeutet diese Aussage, die Leistung der großen Entlastungen einer Hochkultur darin zu sehen, dass der Mensch seine Disharmonie auf der emotionalen – nach Gehlens Dafürhalten: der irrationalen – Ebene überwindet, indem er sich vermittels seines entfremdeten Gefühls in der Welt beheimatet fühlen kann. Eben diesen Gedanken der durch die Institutionen bedingten Heimat finden wir dann in den Ausführungen über die durch den Mythos geprägte Hochkultur in Urmensch und Spätkultur: „Die neuentwickelten institutionellen Grundlagen aller höheren Kultur hatten noch andere entscheidende Folgen [...] damit wird die Welt, die Natur zur »großen Heimat«, ihre »Ordnung« ist ihre Gültigkeit in dem Bewußtsein, daß man ihr moralisch gewachsen war.“18 Angesichts der hier vorgenommenen Engführung von Welt und Natur lassen sich die Fluchtlinien der dort vorgelegten und in Die Seele im technischen Zeitalter fortgeführten Kulturtheorie Gehlens folgendermaßen nachzeichnen: Es geht darum, zu zeigen, wie sich der Mensch in der Entwicklung seiner Kultur sowohl in seinem Tätigsein als auch vermittels seiner in sakralen Zusammenhängen stehenden Selbstbilder in ein dem irrationalen Prozess des Lebens nahe stehendes Verhältnis versetzt hat. Dieser Zustand ist in dem kulturhistorisch frühen Moment des durch den Mythos vermittelten, sich in den „sympathetischen Zusammenhang“19 des Weltganzen einfügenden Handelns und Bewusstseins erreicht, den ich fortan als Entlastung im Leben20 bezeichne. Der Mensch sieht sich durch die mythischen Erzählungen den Anforderungen des Lebens verpflichtet, die ihm in der objektiven Welt mit augenscheinlicher Gewissheit entgegentreten. Dabei befindet er sich in einem 17
18 19 20
GA 1, S. 401; vgl. Johann Gottlieb Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, Hamburg 1983, S. 130. Hier auf Fichte zu referieren, ist nicht nur angesichts der in dieser Arbeit nicht näher betrachteten Auseinandersetzung Gehlens mit Fichte einleuchtend. Ungeachtet dessen ist einsichtig, dass es ihm unter der Annahme irrationaler Gewissheiten gerade nicht – wie etwa Hegel – um ein Wissen von Gott gehen kann, was noch in seiner Bemerkung hervortritt, dass der „Streit zwischen Kierkegaard und dem Idealismus“ (GA 1, S. 400) dem „Streit zwischen zwei ewigen Formen des Christentums, dem paulinischen und dem johanneischen“ (ebd.) entspräche. Indem Gehlens eigener Ansatz mit einer existenzphilosophischen Wendung gegen den Idealismus einhergeht, vertritt er – gemäß seiner Typik – die johanneische Vorstellung der Kirche und damit der Religion überhaupt als einer nicht durch Wissen, sondern durch das Gefühl der Liebe gestifteten Gemeinschaft. US, S. 240. Ebd., S. 190. Gehlen selbst verwendet diesen Begriff und die folgenden Bestimmungen eines Lebens als Entlastung und eines Lebens durch Entlastung selbst nicht; allerdings erscheint mir diese Abfolge der Sache nach angemessen.
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durchaus durch die Liebe bestimmten Verhältnis nicht nur zu seinesgleichen, sondern auch im Zustand eines „geheimen Einverständnisses“21 mit den ihm sympathetisch entgegenkommenden „Dingen und Lebewesen“22. Ausgehend von dieser Entlastung im Leben beschreibt die Entwicklung der Kultur eine mit den Fortschritten der werkzeugtechnischen Entlastungen einhergehende, zunehmend emotionslos verobjektivierende Distanznahme gegenüber den Weltbeständen. In diesem Sinne geht schließlich mit der kopernikanischen Wende nicht nur die unmittelbar erfahrbare, augenscheinliche Gewissheit im Umgang mit der Natur verloren; genauso schwinden die durch erfahrbare Selbstbilder vermittelten metaphysischen Gewissheiten zugunsten der hinter den erfahrbaren Weltbeständen liegenden Metaphysik der Naturwissenschaft, die ihrerseits durch den jenseitigen Gott des Monotheismus erst möglich wurde. Diesbezüglich lässt sich von einer Bewegung des Entstehens und Vergehens eines durch Bilder und Augenscheinlichkeit geprägten Verhältnisses zur Wirklichkeit sprechen. Mithin haben wir es hier mit der Wellenbewegung eines Corso und Ricorso zu tun, wie wir sie von Vico23 her kennen, dessen Diktum der phantasieentsprungenen Metaphysik24 Gehlen genauso teilt wie die Vorstellung einer Dekadenz hin zur gegenwärtigen „Barbarei der Reflexion“25. Mit dieser Vorstellung einer Barbarei der untätigen Reflexion als das Ergebnis der Kulturentwicklung kommen wir zurück auf das unwirkliche Bewusstsein, mit dem Gehlen als die „bedeutsamste von allen“26 problematischen Tatsachen der Gegenwart den „Zweifel in Wesen und Wert des Geistes“27 verbindet. Ein Zweifel, der deshalb entstehen kann, weil die „Religionen und Metaphysik“28 jene „Motivationskraft verloren haben“29, die ihnen einstmals eigen war. Damit einhergehend sind auch die Problemstellungen des „Erkenntnistheoretiker[s]“30 nur unter der Bedingung eines solchen Zustandes möglich, in dem der Geist nicht mehr als „lebendiger Vollzug, der sich selbst trägt“31, fungiert. Gehlen betont den zuletzt genannten Aspekt in seiner Leipziger Antrittsrede Der Staat und die Philosophie32 und verdeutlicht damit 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32
US, S. 191. Ebd. Vgl. Abschnitt 3.3.3. Vgl. GA 3.1, S. 358; vgl. Giambattista Vico, Prinzipien (...), a.a.O., S. 192 [405]; vgl. Walter Witzenmann, a.a.O., S. 79. Giambattista Vico, Prinzipien (...), a.a.O., S. 604 [1106]; vgl. StZ, S. 129. GA 1, S. 127. Ebd. Ebd. Ebd. Gehlen 2, S. 298. Ebd., S. 298f. Arnold Gehlen, Der Staat und die Philosophie (1935), in: Gehlen 2, S. 295-310.
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nicht nur abermals, dass er die Möglichkeit auch des eigenen Denkens nur dann gegeben sieht, wenn sich der Geist in umfassender Weise vom Handlungsvollzug gelöst und damit vom Leben entfremdet hat; auch werfen seine dortigen Ausführungen ein erhellendes Licht auf den Entlastungsbegriff: „Da kann man nur sagen: diese Entwicklung geht eindeutig in dahin, den Geist zu entwerten, ihn aus dem Zentrum des Seins an die Peripherie zu verweisen, ihn zu entlasten [sic] und damit zu entmächtigen, in Frage zu stellen und zu begrenzen.“33 Ohne dass Gehlen an dieser Stelle darauf eingehen würde, handelt es sich offenkundig um eine Folge der durch die Technik bedingten Entlastung zweiten Grades. Gehlen nennt unsere Epoche das technische Zeitalter; da der Mensch allerdings zu jeder Zeit in einem technisch vermittelten Verhältnis zur Welt steht und der wesentliche Unterschied zu allen vorherigen Epochen im unwirklichen Bewusstsein der handlungslosen und damit dem Leben entfremdeten Reflexion besteht, halte ich die Bezeichnung das Zeitalter des entlasteten Geistes für noch aufschlussreicher. Unter diesen Vorzeichen befassen sich die folgenden Untersuchungen mit der Kultur- und damit der Institutionsphilosophie Gehlens. Die hiermit verbundene These ist, dass sich Gehlens kulturpessimistisch ausgerichtete Institutionsphilosophie nur adäquat von den lebensphilosophischen Prämissen her verstehen lässt. Hiervon ausgehend geht es mir weniger darum, eine Kritik an dem Zwangscharakter der gehlenschen Institutionstheorie vorzulegen, wie sie etwa – völlig zu Recht – von Karl Siegbert Rehberg geübt wird.34 Dessen Hinweise darauf, dass Gehlens „kulturpessimistische[r] Fatalismus“35 mit einem „Zwangskonzept“36 einhergeht, lässt sich eben darauf zurückführen, dass er von einem quer zur Vernunft stehenden Begriff des Lebens ausgeht. Seinen Ansatz in diesem Sinne mit einer von Rehberg an anderer Stelle benutzten Bezeichnung als einen „lebensphilosophisch begründeten Konservativismus“37 zu verstehen erklärt, dass es in Gehlens Konzeption nicht alleine um Pflichterfüllung um des stabilen Handlungsvollzugs willen geht, sondern um die durch die Institutionen gewährleistete Nähe zu den Zwecken des sub33
34 35 36 37
Ebd., S. 297. Die Relevanz dieser Vorstellung des entlasteten Geistes und damit der Entfremdung des Menschen für diese Theorie lässt sich nicht zuletzt daran bemessen, dass wir es hier m.W. mit der ersten Bezugnahme Gehlens auf das Problem der Entlastung zu tun haben. Es ließe sich hiermit also feststellen, dass Gehlen seine mit der Notwendigkeit der tätigen Entlastung einhergehenden Überlegungen ausgehend von dem oben als Entlastung zweiten Grades (vgl. Abschnitt 1.5) bezeichneten Phänomen entwickelt, das zum Problem der fehlenden Belastung des Menschen in der modernen Zivilisation geführt hat. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Ansätze (...), a.a.O., insb. S. 153ff. Ebd., S. 169. Ebd. Karl-Siegbert Rehberg, Metaphern des Standhaltens. In memoriam Arnold Gehlen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 28. Jg. (1976), S. 389ff. [S. 395].
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stanziell bestimmten Lebens. Welchen Unterschied diese Herangehensweise bei übereinstimmenden Annahmen über die Phänomene gegenüber einer sich kritisch den Erkenntnisfunktionen unseres Bewusstseins zuwendenden, anthropologisch fundierten Kulturtheorie macht, werden wir in Gegenüberstellung zu Ernst Cassirers Theorie des mythischen Bewusstseins38 sehen. Das Potenzial der Freiheit in der Kulturentwicklung aufzudecken, die auch Cassirer als mit einer zunehmenden Distanznahme gegenüber dem Eigengewicht der Objektwelt einhergehend versteht, kann nur unter der Voraussetzung der transzendentalphilosophischen Einsicht darin gelingen, dass der Fluchtpunkt ausnahmslos aller Annahmen über die Wirklichkeit das menschliche Bewusstsein ist. Trotz meiner sich an Gehlens substanzieller Bestimmung des Lebens aufhaltenden Kritik lässt sich nicht bestreiten, dass Gehlens Kulturphilosophie bemerkenswert ist. Dabei ist zunächst die Herleitung eines zweckmäßigen Umgangs mit der lebendigen Natur hervorzuheben, die nicht von den Zwecksetzungen der instrumentellen Vernunft ausgeht. So schafft es Gehlen, in seinen Analysen aufzuzeigen, wie sich der Mensch über den Umweg des totemistischen Rituals in ein Verhältnis zur Welt setzen konnte, indem er sich dem Lebendigen als „Selbstwert im Dasein“39 mit eigengewichtigen Ansprüchen nicht nur verbunden fühlt, sondern sich Pflanze und Tier auch für eigene Zweck nutzbar macht. Das hieraus abgeleitete Problem des gegenwärtigen Verhältnisses zur Natur, das in dieser nur mehr eine beliebig verwertbare Ressource für die technisch vermittelte Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu sehen vermag, ist auch ohne die problematische Entgegensetzung von rationalem Verstand und irrationalem Leben bedenkenswert. Nicht nur diesbezüglich ist hervorzuheben, dass die Stärke dieser Theorie im Aufzeigen der Probleme der Lebensbedingungen in der modernen Kultur liegt, die geradewegs aus der Schwäche der theoretischen Grundlagen folgt. So bekommt Gehlen, gerade weil er keinen adäquaten Begriff der Vernunft hat, diejenigen jenseits der vernünftigen Reflexion liegenden emotionalen Ansprüche in den Blick, die wir dem Menschen zweifellos auch unterstellen müssen. Mit dem Entlastungsbegriff kann er die existenzielle Bedeutung dieser Bindungen an die Welt aufzeigen, was als solches der Perspektive der Vernunft ja keineswegs widerspricht, jedoch aus dem Blickwinkel des Transzendentalphilosophen allzu leicht in Vergessenheit geraten kann.40 In diesem 38 39 40
Vgl. Abschnitt 3.5.3. US, S. 15. So lässt sich Gehlens Insistieren auf die notwendige emotionale Verankerung des Menschen wohl nicht in der Radikalität zustimmen, mit der er diese gegen die vernünftige Selbstbestimmung des Menschen ausspielt. Trotzdem können die vor dem Hintergrund der Irrationalität des Lebens angestellten Untersuchungen durchaus als ein Vademecum verstanden werden, das vor einer Verabsolutierung des wissenschaftlichen Weltbildes bewahrt, etwa derge-
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Sinne fruchtbar für weitere Überlegungen ist schließlich der auf der Folie des Bedürfnisses nach Selbstdeutung in Bildern entwickelte Begriff der Entlastungsfunktion der modernen Kunst. Diesbezüglich ist die in einer Linie mit dem Bedürfnis nach Selbstdeutung zu stellende, durchaus als Variation auf das Diktum Kants über „die Schöne Dinge“41 zu verstehenden Annahme Gehlens bemerkenswert, dass die Entlastung durch die Kunst in letzter Instanz darin besteht, uns anzuzeigen, dass wir in die Welt gehören; sie also unserem lebendigen Bedürfnis nach Beheimatung entgegenkommt.
3.2 Die zweite Natur der Gewohnheiten Ausgehend von der so aufgezeigten Kulturdiagnose ist zunächst noch einmal auf die doppelte Bestimmung der Kultur als die zweite Natur des Menschen hinzuweisen. Sie ist als zweite Natur des Menschen nicht nur im Sinne der auf der Grundlage der jeweiligen Umweltbedingungen selbst durch die Technik zur Lebensdienlichkeit umgearbeiteten, entgifteten Natur zu verstehen.42 Sie entspricht wesentlich dergestalt der zweiten Natur des Menschen, dass seine Gewohnheiten durch die in sein kulturelles Umfeld eingegangenen Momente des Geistes bestimmt sind. Den nicht nur durch den Spracherwerb, sondern auch den Umgang mit konkreten Objekten mit der zweiten Natur im Inneren43 korrespondierenden Geist in der Kultur können wir demnach als »objektiven Geist«44 im Sinne Hegels verstehen: Die Produkte menschlicher Tätigkeit sind immer auch bestimmte Objektivierungen von Geist im Material, die im gewohnten Umgang mit ihnen in das Verhalten und damit das Bewusstsein des Individuums eingehen. Gehlen versteht dieses Verhältnis von Objekt und
41
42 43 44
stalt, wie dieser Aspekt von Heinrich Rickert in den Schlussüberlegungen seiner kritischen Abhandlung zur Lebensphilosophie als das Recht dieser Denkströmung herausstellt wird: „Wo daher das Streben nach rationaler, wissenschaftlicher Auffassung des Ganzen dazu führt, das All der Welt in eine bloß rationale, bloß wissenschaftliche Welt zu verwandeln, da hat der Hinweis auf das lebendige Leben, das stets irrational und, wenn man so will, überverständig ist, in der Tat unantastbare Bedeutung“ (Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens, Tübingen 1922, S. 176). Eine ähnliche Einschätzung findet sich bei Ferdinand Fellmann, indem er herausstellt, dass die Lebensphilosophie lehrt, „daß die philosophische Reflexion nur dann einen Wert hat, wenn sie dem Leben dient“ (Ferdinand Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Reinbeck bei Hamburg 1993, S. 9). Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band XVI, Abt. 3: Kant's handschriftlicher Nachlaß, dritter Band, Berlin und Leipzig 1924, Refl. 1820a, S. 127: „Die Schöne [sic] Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.“ Vgl. GA 3.1, S. 37. Vgl. ebd., S. 412. Vgl. US, S. 6; GA 3.1, S. 453.
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gewohnheitsmäßigem Handeln genau dann als eine Institution, wenn es sich gegenüber den unmittelbar rationalen Zwecksetzungen des Individuums verselbstständigt hat.45 Eine solche Verselbstständigung ist in der Sprache immer vorauszusetzen und kann darüber hinausgehend sowohl beim gewohnheitsmäßigen Umgang mit Dingen, Werkzeugen und der kultivierten Natur als auch die mit den durch Bilder vermittelten, das Handeln auf ein bestimmtes Sollen festlegenden Institutionen der Fall sein. Nicht nur mit Blick auf letztere hat es die Kulturentwicklung mit den ein bestimmtes „Selbstverständnis“46 bereitstellenden Institutionen zu tun: „Sieht man das klar, dann steht man vor der neuartigen Aufgabe, die Verselbstständigung und Autonomie, welche die Institutionen gegenüber dem Einzelnen gewinnen, aus der Natur des Menschen abzuleiten, zwar auf einem realistischeren Niveau als dem, das Hegel, denselben Sachverhalt meinend, mit dem Begriff des »objektiven Geistes« betrat.“47 Tatsächlich differenziert Gehlens Begriff »Institution« als solcher nicht zwischen Institutionen wie dem gewohnheitsmäßigen Werkzeuggebrauch, der Familie, dem Recht, dem Eigentum etc. einerseits und andererseits denjenigen, die dem Bedürfnis nach Selbstdeutung entsprechen. Für das Verständnis seiner Theorie der Kultur und ihrer Entwicklung müssen wir uns allerdings, wie auch Johannes Weiß betont, auf diejenigen eine Deutung bereitstellenden Institutionen konzentrieren, welche die „Einheit und Ganzheit des Verhältnis zum Seienden auf Dauer stellen.“48 3.2.1 Gewohnheit und Freiheit Indem sich diese Betrachtung auf die Ausbildung von festen, gewohnheitsmäßigen Willensbestimmungen bezieht, steht der hier vorgestellte Begriff der Kultur der hegelschen Bestimmung der Gewohnheit als einer zweiten Natur nahe, die Hegel im Abschnitt zur Anthropologie in der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften49 und in seiner Rechtsphilosophie50 entwickelt. Allerdings lassen sich an dem von Gehlen reklamierten „realistischeren 45 46 47 48 49
50
Vgl. US, S. 38. US, S. 6. Ebd. Johannes Weiß, a.a.O., S. 22. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen, Frankfurt am Main 1970, im Folgenden zitiert als »ENZ III«, § 410, Anmerkung S. 187ff. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatsphilosophie im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, Frankfurt am Main 1970, im Folgenden zitiert als »GdPhR«,, § 151, S. 301f.
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Niveau“51 gegenüber der hegelschen Position die markanten Unterschiede zu dieser und jeder anderen mit einem starken Vernunftkonzept arbeitenden Kulturphilosophie festmachen. Diesbezüglich ist zunächst herauszustellen, dass Hegel von der Gewohnheit als der wirklichen Freiheit zugrunde liegend spricht, wohingegen Gehlen die zweite Natur selbst und damit das gewohnheitsmäßige Handeln als das wesentliche Moment derselben ausmacht. In diesem Verhältnis bestimmt Hegel allerdings schon die zweite Natur als solche als frei gegenüber der Natur, weil sie ihren Ursprung in der Eigentätigkeit des Menschen hat. Der Mensch bewegt sich in seinen Gewohnheiten als einer selbst etablierten zweiten Natur unabhängig von den Abläufen eines Naturgeschehens, in das alles andere Lebendige unwillkürlich eingebunden ist. Indem dieser Habitus dann allerdings selbst als fester Verhaltensautomatismus an die Stelle der unmittelbaren ersten Natur tritt, ist die zweite Natur ein für die Selbstobjektivierung in der freien Reflexion notwendiges und dieser vorangehendes Moment, sie ist für sich genommen aber noch „etwas bloß Anthropologisches“52. In seinen verinnerlichten Gewohnheiten erhebt sich der Mensch noch nicht seinem Begriffe entsprechend in freier Selbstbestimmung über die Zwänge natürlicher Abläufe, sondern wird zum „Sklaven“53 eben dieser festgelegten Verhaltensweisen. Wo Gehlen also von der „Angleichung unseres Bewusstseins an die vitalen Lebensprozesse“54 in den unwillkürlich festgestellten Willensbestimmungen des Charakters spricht, insistiert Hegel mit einem Hinweis auf „Athleten und Seiltänzer“55 darauf, dass die „Harmonie meiner Seele und meines Leibes“56 in der zweiten Natur der Gewohnheiten nicht verabsolutiert werden darf. Vielmehr muss diese als notwendige Bedingung dafür verstanden werden, losgelöst von den Zwängen gewohnheitsmäßig festgelegter Abläufe druch freie Selbstbestimmung den „Leib in Besitz nehmen“ 57 zu können. Der hierin hervortretende Unterschied zu Hegel 51 52
53 54 55 56 57
US, S. 6. ENZ III § 410, Anmerkung, S. 189. Hegels Rede von der bloßen Anthropologie darf nicht so verstanden werden, dass er eine anthropologische Betrachtung des Menschen für unberechtigt hielte. Wir dürfen allerdings nicht dabei stehenbleiben, sondern müssen die über die leiblichen Funktionen hinausgehende Rolle des reflexiven Selbstbewusstseins angemessen berücksichtigen. ENZ III § 410, Anmerkung, S. 189. GA 4, S. 16f. ENZ III § 410, Anmerkung, S. 190. Ebd. Ebd. Tatsächlich findet sich auch bei Gehlen in dem frühen Aufsatz Reflexionen über Gewohnheit (Arnold Gehlen, Reflexionen über Gewohnheit (1927), in: GA 1, S. S. 97-112) ein ganz ähnlicher Hinweis darauf, dass die Gewohnheit wohl „für die erstaunliche Leistung der Jongleure und Akrobaten“ (GA 1, S. 100) verantwortlich ist, als solche aber dazu tendiere, „das Bewußtsein zu ersetzen oder mindestens einzuschläfern“ (ebd.). Diesem Gedanken folgend unterscheidet er zwischen einer „Gewohnheit lähmender Art“ (ebd., S. 107), die sich in bloßen Wiederholungen ergeht und einer stärkenden Gewohnheit, die mit einem den ganzen
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zeigt sich noch prägnanter angesichts der auf die sittlichen Gewohnheiten bezogenen Rede von der zweiten Natur in dessen Rechtsphilosophie, trotzdem seine Ausführungen zunächst in eine andere Richtung zu verweisen scheinen: „Aber in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen erscheint das Sittliche, als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, – die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt, und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist.“ 58 Diese Bestimmung bedeutet allerdings gerade nicht, dass wir uns nur und ausschließlich nach irgendwelchen bereits bestehenden allgemeinen Handlungsweisen richten sollen. Vielmehr kann und soll sich der Mensch einen angemessenen Begriff von sich selbst machen, um sich sittlich verhalten zu können. So plädiert Hegel in seiner Wendung gegen die kantische Moralphilosophie zwar dafür, dass in einem sittlichen Gemeinwesen die moralische Pflicht des Einzelnen in nichts anderem zu suchen sei als dem, „was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist.“59 Damit ist aber nicht gemeint, dass der Widerspruch zwischen subjektiver Selbstbestimmung und institutionalisierter Sittlichkeit gänzlich darin aufgehoben sein soll, dass sich der einzelne Mensch den über das eigene Räsonieren hinausgehenden Normen durch Erziehung unterwirft. Ganz im Gegenteil hält Hegel die Kollision zwischen individueller Selbstbestimmung und allgemeiner Sittlichkeit in einem noch „ungebildeten Zustande der Gesellschaft und des Gemeinwesens“60 für unabwendbar, als Motor kultureller Entwicklung für notwendig und erst in einer Entsprechung beider im historischen Moment einer entwickelten Kultur und damit einer der Vernunft entsprechenden Sittlichkeit für aufgehoben:
58 59 60
Leib durchdringenden Können einhergeht, wie wir dieses schon mit dem Begriff der Lebenserfahrung im emphatischen Sinne kennengelernt haben. Ausgehend von diesem Gegensatz zwischen ihrer lähmenden und stärkenden Funktion stellt Gehlen dort Überlegungen darüber an, wie man nicht den Fixierungen der lähmenden Gewohnheit erliegt und hebt dabei wiederum auf die Phantasie als dem Vermögen ab, „in neuen Anschauungen unser verhärtetes Bewusstsein zu erfrischen“ (ebd., S. 108). Die uns interessierende Pointe dessen ist allerdings, dass er trotzdem nicht von einem Bedingungsverhältnis von Gewohnheit und freier Selbstbestimmung ausgeht, sondern in letzter Instanz dem festgestellten Willen zu einem bestimmten Verhalten die leitende Funktion zuspricht: „Ist es ihr [der Phantasie, S.W.] aber, allgegenwärtig wie sie ist, gelungen, die »stockende Seele in leichte, freie und fließende Bewegungen zu versetzen (Goethe)«, so tritt sie zurück zugunsten eines strengeren Herrn, des Willens, um fortan nur noch, wie die Winterblumen, an vergangene Freuden zu erinnern, welche vielleicht wiederkehren“ (ebd., S. 111). GdPhR, § 151, S. 301. Ebd., § 150, Anmerkung S. 298. Ebd., S. 299.
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„Die sittliche Substantialität ist auf diese Weise zu ihrem Rechte und dieses zu seinem Gelten gekommen, daß in ihr nämlich die Eigenwilligkeit und das eigene Gewissen des Einzelnen, das für sich wäre und einen Gegensatz gegen sie machte, verschwunden [ist], indem der sittliche Charakter das unbewegte, aber in seinen Bestimmungen zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene Allgemeine als seinen bewegenden Zweck weiß und seine Würde sowie alles Bestehen der besonderen Zwecke in ihm gegründet erkennt und wirklich darin hat.“ 61 Auch hierin wird deutlich: Folgen wir Hegel, dann sind Gewohnheiten eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung einer der menschlichen Natur als eines sich vermittels seiner Vernunft frei bestimmenden Wesens entsprechenden Kultur. Eine solche sich im Verstehen von den Gewohnheiten der durch die Deutungsschemata der Institutionen vermittelten zweiten Natur distanzierende Perspektive markiert demgegenüber für Gehlen, wie wir es mit dem Begriff der Freiheit aus Entfremdung bereits gesehen haben, das Abfallen von der Gewissheit im Handeln durch das Infragestellung derselben.62 Vor diesem Hintergrund versteht er den auf die freie Selbstbestimmung hinauslaufenden, aufgeklärten Begriff von Kultur als eine Reduktion des sich in übersubjektiven Schichten des Handelns manifestierenden objektiven Geistes in der Kultur auf die Schicht der rationalen Reflexion. Mithin bedeutete die historische Entwicklung der Kultur als einen rational strukturierten Prozess zu begreifen, eine dem auf die rationale Perspektive reduzierten Zeitgeist seiner Kulturepoche geschuldete „Selbstverklärung des Gelehrtenstandes“63.
61 62
63
Ebd., § 152, S. 302f. Dass sich die hegelsche Konzeption in dieser Bezugnahme auf die Vernunft von der Gehlenschen Auffassung der zweiten Natur unterscheidet bemerkt auch Jürgen Habermas: „Anders als Gehlen beharrt Hegel freilich auf der Bedingung, dass das selbstbewusste Subjekt nichts anzuerkennen braucht, was es nicht aus Einsicht als berechtigt akzeptieren kann [...] Deshalb ordnet Hegel den subjektiven Geist der objektiven Sittlichkeit nur mit dem Vorbehalt unter, dass die Institutionen – nach Maßgabe der Verwirklichung gleicher Freiheit für jeden – eine vernünftige Gestalt annehmen“ (Jürgen Habermas, Symbolischer Ausdruck und rituelles Verhalten. Ein Rückblick auf Ernst Cassirer und Arnold Gehlen, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt am Main 2001, S. 69). US, S. 7; vgl. GA 3.1, S. 480. Auf das uns bereits bekannte Moment, dass das hegelsche Projekt erst unter den Bedingungen des sich vom Leben entfremdeten, unwirklichen Geistes möglich ist, verweist auch Johannes Weiß: „Das bedeutet nämlich, daß die Weltansichten überhaupt den Status von bloßen »Gedankendingen« angenommen und ihren »in den lebendigen Kulturen« schlechthin verpflichtenden Charakter verloren hätten (Johannes Weiß, a.a.O., S. 42).“
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3.3 Der Schichtenaufbau in der Kultur In Gehlens Wendung gegen die Annahmen der „Hegelschen Konzeption“64 sollen wir uns den Aufbau der Kultur ausgehend von den „wirklichen Handlungen selbst“65 als in bestimmten Schichten des Tätigseins – „Verhaltensklassen“66 – gegliedert vorstellen, die in jeweils spezifischer Weise geistig sind und daher auch keineswegs mit einem auf das rationale Verstehen gemünzten Begriff des objektiven Geistes gefasst werden können: „Wir unterscheiden dagegen [gegen die hegelsche Konzeption des objektiven Geistes] ganze Verhaltensklassen, die in einem je spezifischen Geist betrieben werden.“67 Wie bereits in der Betrachtung des einzelnen handelnden Menschen meint Gehlen hiernach der „Selbsttäuschung des Verstehenkönnens“68 einer auf das sich selbst begreifende rationale Bewusstsein bezogenen Analyse durch einen vermeintlich realistischeren Blick auf die Kultur zu entgehen. Dieser besteht in der selbst nicht in diese Abläufe involvierten, äußerlichen Perspektive einer „Philosophie als einer empirischen Wissenschaft“69 auf drei voneinander zu unterscheidende Verhaltensschichten70 in der Kultur. Im Sinne des „Übersich-Hinauswachsen[s]“71 des Menschen in seine Institutionen hat es diese Betrachtung der Kulturentwicklung, so Gehlen, mit dem „Kampf des Menschen um seine Selbststeigerung“72 zu tun, die sich ausgehend von den verselbstständigten Gewohnheiten im instrumentellen Umgang vollzieht. Jene korrespondieren mit der höchsten geistigen Schicht individuellen Handelns, dem uns schon bekannten Gegenstandsbewusstsein der erwachsenen Weltsicht73. Darüber liegend und kategorial davon unterschieden sind bestimmte, 64 65 66 67 68 69
70
71 72 73
US, S. 104. US, S. 7. Ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 99. Ebd., S. 305f.; vgl. zu der Unterbestimmtheit dieser Perspektive, die in dem schon aufgezeigten Sinne das reflexive Moment der eigenen Betrachtung unterschlägt, Karl-Siegbert Rehberg, Ansätze (...), a.a.O., S. 70: „Gehlen ist ein »naiver« Perspektivist [...] der die Reflexionszwänge des seine Voraussetzungen mit verfestigenden Denkens, das gerade seiner Feststellungs-Sicherheit wegen »wissenschaftlich« heißt, stets unterschätzte, weil er Reflexion allzu einseitig verstand als intellektuelle Despotie in der Form des Gedankens“. Gehlen setzt auch hier das der Ontologie Nicolais Hartmanns entlehnte Konzept eines Schichtenaufbaus des Handelns voraus, gibt sich allerdings wenig Mühe, dessen Relevanz für seine gesamte Theorie in wünschenswerter Klarheit darzulegen. So wie sich der Hinweis auf das Schichtenmodell nur in dürren Worten an zwei Stellen in Der Mensch findet (vgl. GA 3.1, S. 15, 72), bezieht sich Gehlen in seinen kulturphilosophischen Hauptwerken nur an zwei Stellen explizit auf Hartmann (vgl. US, S. 79; StZ, S. 131f.). StZ, S. 130. US, S. 300. Vgl. Abschnitt 1.6.1.
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durch die Entlastung von der instrumentellen Bewältigung der sich stellenden Probleme möglich werdenden Verhaltensweisen, die als „Umkehr der Antriebsrichtung“74 bzw. als „Askesen“75 den Umgang mit den eigenen Antrieben zum Gegenstand haben: „Ein Verhalten, das die Veränderung des eigenen Innenzustandes, der eigenen Bewußtseins- oder Antriebslage erstrebt und durchaus zweckgerichtet sich nach innen hin entwickelt, angefangen von den hohen Formen der Askese bis zu Aldous Huxley, der Meskalin nimmt, um die »Pforten der Wahrnehmung« zu öffnen.“76 Mit der hiervon noch zu unterscheidenden höchsten Schicht des an Selbstbildern orientierten Verhaltens tritt zunächst der uns schon bekannte Bruch in dieser Theorie hervor, indem Gehlen dieses Verhalten auf das uns bereits bekannte Bedürfnis zurückführt, Harmonie zwischen sich und dem Leben herzustellen. In Urmensch und Spätkultur hebt er dieses hervor, indem er, eingebettet in eine Überlegung zu Nietzsche und Schopenhauer77, auf die Korrespondenz der Selbstbilder mit dem Leben spricht, die sich in ausgezeichneter Weise im sympathetischen Weltbild archaischer Kulturen verwirklicht: „Alle archaischen Weltbilder laufen auf eine prästabilierte Harmonie hinaus [...] und zunächst hat das Leben selbst, in der Organisationsform seiner Teile untereinander und in der Bewegung nach den Objekten hin, wie sie das Bedürfnis und die Begierde entwickeln, dem Geist ein Bild geliefert, in dem die materielle Welt sich ebenso wie die moralischen darstellen konnte.“78 Mit Blick auf die im Menschen wirkenden Tendenz des Lebens zu mehr Leben lässt sich angesichts dieser Schichtung auch feststellen, dass sich der Mensch als Gattungswesen dadurch zu ganzer Größe aufrichtet, dass er vermittels der höheren Schichten des Handelns in der Kultur an Haltung79 gegenüber dem sich hierin verwirklichenden Leben gewinnt. 74 75 76 77 78 79
US, S. 106. Ebd. Ebd. Ähnliche Überlegungen zu Nietzsches „Symbol des Übermenschen“ (GA 3.1, S. 382) finden sich auch in Der Mensch. Vgl. GA 3.1, S. 382f. US, S. 191f. So findet sich der Begriff der Haltung in Der Mensch zuerst im Umfeld der Erörterung der durch die Urphantasie vermittelten Selbstbilder des Menschen. Durch die Phantasie ist der Mensch in der Lage, sich indirekt von diesen Bildern her zu verstehen, die ihm eine „persönliche Haltung“ (GA 3.1, S. 378) sowohl sich selbst als auch den anderen Menschen gegenüber vermitteln. Da er diese auf die im Menschen wirkende Zweckmäßigkeit des Lebens zurückführt, die mit der „unbestimmten Verpflichtung“ (ebd., S. 78) korrespondiert, lässt sich diese Haltung durchaus in einer von Gehlen nicht gemachten Redeweise als Haltung gegenüber dem Leben verstehen.
200
3.3.1 Verpflichtende Symbole im rituellen Handeln Ausgehend von diesen unterschiedlichen Schichten des Handelns können wir uns zunächst klarmachen, inwiefern Gehlen sich das Handeln in der Kultur als durch Symbole vermittelt vorstellt. Dabei lässt sich anhand seiner Verwendung des Terminus »Symbol« in seiner Betrachtung der Kultur die kategoriale Differenz zwischen dem durch die produktive Tätigkeit im instrumentellen Handeln objektivierten Geist und den höheren Schichten nachweisen. Die irrationale Gewissheit des Selbstbildes einer der Phantasie entsprungenen Metaphysik führt Gehlen darauf zurück, dass diese Bilder auf einer anderen Form des symbolischen Weltverhältnisses des Menschen basieren, als es bei den aus dem entfremdeten Selbstgefühl hervorgegangenen, in den glatten Handlungsvollzug eingewobenen Symbolen der Fall ist. Damit verbunden gehen diese Symbole mit einem sich wesentlich von der tätigen Bewältigung der sich im Handeln stellenden Probleme unterscheidenden Verhalten einher; nämlich dem sakralen Ritual, das für Gehlen der ausgewiesene Ort für die Konstitution von moralischen Normen ist: Im Ritual konfrontiert sich der Mensch mit sich selbst und übersetzt dabei die uns schon bekannte Ahnung der unbestimmten Verpflichtung dem Leben gegenüber80 in ein konkretes Symbol; ein Bild von sich selbst, das mit bestimmten, sich auf seine gesamte Lebenswelt ausdehnenden verpflichtenden Verhaltensweisen verbunden ist. Dabei stellt Gehlen in seinen Ausführungen über die Kultur zunächst ein analog zur symbolischen Vermittlung des individuellen Handelns verlaufendes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gewohnheiten und den objektiv erfahrbaren Weltbeständen vor. Alle Artefakte des Menschen als selbst verfertigten Träger geistiger Gehalte sind hiernach in dem Sinne „Außenhalt von Gewohnheiten“81, dass mit ihnen bestimmte, erst sekundär durch eigentätiges Handeln etablierte Verhaltensformen konserviert werden: „Die Rolle aller gestalteten Produkte des Menschen – von Geräten und Symbolen bis hin zu Sozialformen – im Verhältnis zu seiner Konstitution ist aber die: daß sie sekundär den primär versagten Automatismen des Verhaltens gestatten, und damit vor allem: die eben nicht selbstverständliche Regelmäßigkeit des Verhaltens gegenüber den Dingen und gegeneinander, das zuletzt sicher und relativ voraussehbar abläuft.“ 82 Mit Blick auf diese Aussage lässt sich feststellen, dass Gehlen alle Formen des objektiven Geistes als symbolisch für das in der Gewohnheit vereinseitigte Handeln versteht und die an dieser Stelle von den Geräten unterschiedenen Symbole als „symbolische“ Symbole zu verstehen sind. Entscheidend ist 80 81 82
Vgl. Abschnitt 1.7.2. US, S. 19. US, S. 46.
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dabei deren genetische Differenz zu den Symbolen des handelnden Umgangs mit der Welt. Wo das Symbol in den kleinen Entlastungen und damit auch dem kulturell vermittelten, handelnden Gebrauch von Werkzeugtechnik aus dem reflektierten Bewegungsvollzug83 hervorgeht, entspringt das Symbol in den großen Entlastungen – ganz im Sinne der phantasieentsprungenen Metaphysik84 Vicos – dem Bedürfnis nach einer Überwindung der Disharmonie zum Leben und korrespondiert daher nicht mit den sich in der handelnden Objektivierung der Dingwelt ausprägenden Symboliken. Prägnant sind auch diese Symbole, allerdings nicht in dem Sinne, dass ein Ausschnitt aus dem Meer der Erfahrungsdaten als Pars pro toto für ganze Komplexe der unmittelbar erlebten Eindrücke steht. Vielmehr heben sich diese durch das schöpferische Vermögen hervorgebrachten Symbole der höheren Verhaltensklassen bzw. Handlungsschichten dadurch von den Symbolisierungen im alltäglichen Handeln ab, dass sie gemessen an diesen unwahrscheinlich sind85. Von Interesse auch für unsere späteren Betrachtungen über die moderne Malerei ist dabei der Umstand, dass Gehlen die Unwahrscheinlichkeit dieser Symbole mit dem Begriff des Schönen verbindet: Die „tiefe biologische Verwurzelung des Schönen“86 lässt sich überhaupt aus der Prägnanz des Symbols gegenüber dem Hintergrund ableiten und von dort aus bis in die gegenüber dem alltäglichen Erleben unwahrscheinlichen Symbole der Institutionen87 nachweisen. Die Selbststeigerung durch den Ritus lässt sich auch so verstehen, dass sich die an den „anschaulichen Dingen erlebbaren Lustgefühle“88 steigern.
83 84 85
86
87 88
Vgl. Abschnitt 1.5. Vgl. Abschnitt 2.5.1. An dieser Stelle lässt sich einmal auf die bereits bezüglich der Vorstellung symbolischer Prägnanz herausgestellten Gemeinsamkeiten zwischen dem Begriff des Prägnanten bei Gehlen und Cassirer hinweisen (vgl. Abschnitt 2.2.1). So lässt sich auch für Gehlens Begriff der Außeralltäglichkeit des Symbols im Ritus die von Cassirer attestierte Abhängigkeit der Prägnanz des religiösen – hier: des mythischen – Symbols von dem geistigen Gehalt eines vorausgesetzten Bezugssystems des Profanen geltend machen: „Das mythische Wahrzeichen faßt als solches den mythischen Grundgegensatz, den Gegensatz des »Heiligen« und »Profanen«, in sich“ (ECW 13, S. 229). Der Unterschied zu Cassirer zeichnet sich hier allerdings darin ab, dass Gehlen diese Prägnanz mit seinem Modell der unterschiedlichen Schichten des Handelns und nicht auf die Leistungen des Bewusstseins in seinen in sich differenzierten Ausformungen bezieht. Infolgedessen wertete Gehlen das Verschwinden des Ritus aus der Kultur nicht als einen Fortschritt in der Entwicklung des Bewusstseins, sondern als den Verlust der über dem alltäglichen Handeln liegenden Schichten versteht. Arnold Gehlen, Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens, in: Arnold Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied am Rhein 1963, S. 67. Vgl. ebd., S. 72. Ebd., S. 69.
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Hiervon ausgehend zeigt Gehlen eine „Symbolfähigkeit“89 bestimmter Objekte auf, die aus deren Unwahrscheinlichkeit gegenüber den Erfahrungsdaten des Alltags hervorgeht und verbindet diese Symbole mit dem nichtalltäglichen Handlungsvollzug im Ritus: „Die Rolle des Unwahrscheinlichen in primitiven Kulturen ist unübersehbar. Sir Alfred C. Lyall [...] gibt eine Übersicht über die Kulturformen in Indien, wo ein wahres Panoptikum aller Entwicklungsstufen vorliegt. Überall findet sich die Verehrung der hochkulturellen obersten Hindugottheiten und ihrer zahllosen Inkarnationen. Aber daneben und dazwischen gibt es den Kult von einfachen Hölzern, Klötzen und Baumstümpfen, von Steinen und lokalen Zufälligkeiten, die außergwöhnliche oder groteske Formen oder Lage haben, den Kult gefürchteter Tiere, den von sichtbaren Dingen jeder Art mit unverstehbaren Eigenschaften, den von Toten, den Kult von Personen, die auf sonderbare oder bemerkenswerte Weise umkamen oder bei Lebzeiten einen hohen Ruf genossen – mit einem Wort: die Kultfähigkeit des Außeralltäglichen, Auffälligen und Unwahrscheinlichen liegt überall klar vor Augen.“90 Den Zusammenhang zwischen diesen in spezifischer Weise symbolischen, außeralltäglichen Verhaltensweisen und den die ganze Kultur bestimmenden Pflichten haben wir uns hiernach so vorzustellen, dass sich im außeralltäglichen Ritus die mit Verhaltensnormen einhergehende Gruppenzugehörigkeit und damit das Selbstbewusstsein91 der Individuen konstituiert: „Das oft gerühmte Erlebnis der »Gemeinschaft«, der Gruppeneinheit ist keineswegs ein unmittelbares. Durch die bloße, auch langfristige Symbiose einer übersehbaren Zahl, durch gemeinsame Arbeit zu gemeinsamen Zwecken oder durch das Bewußtsein gleicher Abstammung wird es keineswegs erzeugt oder gesichert. Die Bedingung ist vielmehr, daß gerade das Selbstbewußtsein des Einzelnen mit dem der Anderen einen gemeinsamen Schnittpunkt hat, und eben diese Art des Selbstbewußtseins wird im darstellenden Ritus erzeugt, in ihm also fasst sich die Gruppe als Einheit, und seine institutionalisierte Wiederholung, angeknüpft an den Außenhalt periodischer Ereignisse oder dauernder Realitäten, stellt die Einheit auf Dauer. Zur Gruppe gehört, wer in dieselben bestimmten Verpflichtungen eingetre-
89 90 91
US, S. 167. US, S. 159. Wie wir bereits in der Auseinandersetzung mit Gehlens Konzeption des sprachlich vermittelten Selbstbewusstseins gesehen haben, geht dieser Begriff bei ihm nicht über das in ein gemeinsamen Verhalten involvierte Bewusstsein hinaus. Eine positiv konnotierte Bestimmung von Selbstbewusstsein im Sinne einer sich in der Reflexion einstellenden Bewusstwerdung seiner selbst findet sich bei ihm dementsprechend nicht.
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ten ist und wer sich gegenüber den elementaren Ereignissen der Außenwelt im Sinne der Anderen entschieden hat und dies mit ihnen festhält.“92 In dieser Unterscheidung zwischen der „lebensnotwendigen Arbeit“93 und dem rituellen Verhalten stoßen wir auf die von Hegel mit dem Hinweis auf deren Defizit gegenüber der integrierenden Leistung des vernünftigen „Selbstdenkens[s]“94 vorgestellte Abgrenzung zwischen dem „Werktag“95 einerseits und dem „Sonntag des Lebens“96 in der Religion andererseits. Eine solche Entgegensetzung versperrt sich der Einsicht darin, dass das philosophische Denken beides in sich zu vereinen mag. Eben diese Trennung beizubehalten versteht Gehlen unter der uns bekannten Entbehrung eines Begriffs der Vernunft als die realistische Perspektive auf dieses Verhältnis: Das Erledigen des alltäglichen, vermittels des rationalen Bewusstseins bewerkstelligten „Brocken und Beißens“97 ermöglicht hiervon entlastete Freiräume des rituellen Verhaltens, durch das sich der Mensch vermittels außeralltäglicher Symbole zu anderen und damit zu sich selbst verhalten kann. Betrachten wir dieses Verhältnis aus der Perspektive des von Gehlen zugrunde gelegten Schichtenmodells, dann ist seine Annahme nachvollziehbar, dass die außeralltäglichen Riten auf einem „Unterbau“98 der durch das instrumentelle Bewusstsein vermittelten „stabilisierten Gewohnheiten ruhen“99. In diesem Bedingungsverhältnis sind die im Ritus thematisch werdenden geistigen Gehalte dergestalt kategorial von denjenigen der darunter liegenden Schichten zu unterscheiden, dass das Leben selbst die grundlegenden, im Ritus zu thematisierende Problemlagen vorgibt. Gemeint sind beispielsweise jene Unsicherheiten, die sowohl mit der Übermacht des fremden Naturgeschehens als auch der eigenen Endlichkeit einhergehen. Im selben Moment besteht aber auch eine auf das materiale Verhältnis zwischen den Schichten zurückführbare Angleichung zwischen diesen unterschiedlichen Einstellungen des Geistes. Weil diese Riten den Alltag des Lebens – durchaus im Sinne des hartmannschen Gesetzes der Materie – als ihr Material haben und die in ihm eingeübten Pflichten an das alltägliche Handeln anschlussfähig sein müssen, sind sie wohl nicht ihrem geistigen Inhalte nach, aber doch in ihren besonderen Ausformungen von dem Unterbau der darunter liegenden
92 93 94 95 96 97 98 99
US, S. 170. US, S. 20. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 113. Ebd. Ebd. Vgl. GA 3.1, S. 56. US, S. 25. Ebd.
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„Lebenspraxis“100 bestimmt, wie Gehlen diesen Zusammenhang etwa am ägyptischen Totenkult verdeutlicht: „Mit anderen Worten: Das Bedürfnis nach einem rituellen Verhalten gegenüber dem Komplex Tod – Toter (Leiche) – Totengeist ist weitverbreitet gewesen und unabhängig von wirtschaftlichen Voraussetzungen, also in diesem Sinne primär. Die zu findende Form dieses Verhaltens mußte aber, wenn sie dauern sollte, bestimmte Aspekte vereinseitigen und mit anderen Aspekten des Lebens in Übereinstimmung bringen.“ 101 Von den höheren Schichten aus gesehen bestätigen und stabilisieren die Riten durch das in ihnen entstehenden Gemeinschaftsgefühl und die damit einhergehenden Pflichten eben diesen Unterbau, was Gehlen auf den Begriff der „Rückwärts-Stabilisierung“102 bringt.103 Die Wechselwirkung zwischen profaner Lebenswelt und Ritus besteht insofern auch darin, dass die bestehenden Verhältnisse durch die Adaption der gemeinschaftlichen Pflichten stabilisiert werden: „Solche Verhaltensweisen waren einerseits vom Alltagsleben scharf abgesetzt, aber ihre Inhalte waren zurückübersetzbar, denn alle Kulte bezogen
100 101 102 103
Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 255. Tatsächlich steht Gehlens Theorie der Kultur hiermit in enger Beziehung zu Durkheim. So kritisiert Theodor W. Adorno an Durkheims Theorie ein Moment, das an Gehlens Rede von der Geburt der Freiheit aus Entfremdung erinnert: „Reaktiv auf die Marxsche Theorie ward sie geschaffen dazu, den verhärteten Charakter der Gesellschaft, auf den sie eingeschworen ist, zu rechtfertigen, gesellschaftliche Entfremdung der Vergesellschaftung schlechthin gleichzusetzen, anstatt sie als Entsprungenes und der Möglichkeit nach Vergängliches zu erkennen“ (Theodor W. Adorno, Einleitung, in: Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 13). In diesem Zusammenhang findet sich auch bei Durkheim das von mir bei Gehlen wichtig erscheinende Moment, dass die mit der Entfremdung des Individuums bezahlte Entlastung durch die – religiös gefärbten – Institutionen mit dem Gefühl der Liebe korrespondiert. „Die Gesellschaft gebietet uns, weil sie außerhalb von uns und über uns steht; die moralische Distanz, die zwischen ihr und uns liegt, macht sie zu einer Autorität, vor der unser Wille sich beugt. Doch da sie andererseits auch in unserem Ich vorhanden ist, da sie wir selbst sind, lieben [sic] und wünschen wir sie in dieser Eigenschaft, wenngleich mit einem Wunsch besonderer Art; denn was wir auch tun, sie gehört uns immer nur zum Teil und steht unendlich weit über uns“ (Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 111). Eben diesen Aspekt der auf das Gefühl der Liebe zurückführbaren emotionalen Konstituierung von Gemeinschaft bei Durkheim stellt Helena Flam heraus: „Es herrscht kein Zweifel darüber, dass er seinen Begriff von Solidarität mit Gefühl verbindet, sogar oft als pures Gefühl versteht: Solidarität heißt, dass sich die Menschen lieben und »einander und an ein und derselben Gesellschaft hängen, an der sie teilhaben«“ (Helena Flam, Soziologie der Emotionen, Konstanz 2002, S. 62; vgl. Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt am Main 1999, S. 173).
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sich doch irgendwie auf die Alltagswelt zurück, sie sollten diese auf dem Optimumzustand stabilisieren.“104 Der uns bereits bekannten Figur des Geltungsverlustes institutionalisierten Sollens durch das Befragen desselben ist hiermit also hinzuzufügen, dass die durch rituelles Handeln festgehaltenen moralischen Geltungsansprüche sich dem rationalen Denken deshalb nicht erschließen, weil deren Symbole anderen Ursprungs und gleichzeitig mit anderen Verhaltensweisen verbunden sind, als es bei denjenigen des alltäglichen Umgangs in den Kreisbewegungen des Handelns der Fall ist. In eben dieser kategorialen Differenz liegt die noch von Jürgen Habermas geforderte Erklärung für das hiermit auftretende Problem „der Autorität von verpflichtenden Handlungsnormen“105 bei Gehlen, dass „alle Normgeltung an diesem Ursprung fixiert werden muss.“106 Dieses bedeutet allerdings auch, dass sich Gehlen keine Fortentwicklung des institutionalisierten Sollens durch den rationalen Zugriff vorstellen kann, eben weil der dieses Sollen konstituierende rituelle Handlungsvollzug in keinem kontinuierlichen Verhältnis zum rationalen Umgang mit der Welt steht. 3.3.2 Ideativer und instrumenteller Geist Da Gehlen davon ausgeht, dass sich die Schichten der Gewohnheiten in der Kultur wohl bedingen, sie sich dabei jedoch nicht in einem produktiven Sinne durchdringen, kann er das Zustandekommen und die Veränderungen des rituellen Handelns nicht direkt aus der Konstitution des Menschen als das handelnde Wesen ableiten. Hiermit ist festzuhalten, dass er den Menschen entgegen der Rekonstruktion des Bewusstseins aus dem Handlungsvollzug durchaus vom Geiste her bestimmt. So stellt Dieter Claessens heraus, dass Gehlen, indem er den durch das Leben bedingten Trieb zur Selbstdeutung voraussetzt, bereits eine bestimmte Form des sich in den Bildern durchsetzenden Geistes annimmt107; da wir uns den Menschen als empfänglich für diese Bilder vorzustellen haben, muss er eine sich von den in den Kreisprozessen des Handelns ausgebildeten Schichten des Bewusstseins unterscheidende Form menschlichen Geistes voraussetzen. Die Wendung gegen die Stufenlehren und Schelers Begriff von Geist108, so muss daher festgehalten werden, hält Gehlen nur bezüglich der kleinen Entlastungen durch. Hinsichtlich der großen Entlastungen ist er jedoch mit einer die Selbstdeutungen sowohl hervorbringen-
104 105 106 107 108
Urmensch und Spätkultur, S. 136. Jürgen Habermas, Symbolischer Ausdruck (...), a.a.O., S. 81. Ebd. Vgl. Dieter Claessens, a.a.O., S. 43. Vgl. Abschnitt 1.3.
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den als auch rezipierenden109 Form des Geistes ausgestattet, die Gehlen das „ideative Bewusstsein“110 nennt. Dieses Wechselspiel zwischen dem ideativen Bewusstsein und dem das Handeln bestimmenden Bild beschreibt er mit dem von Maurice Hauriou111 übernommenen Begriffen der in einem konkreten Material manifestierten „Leitidee“112, „Führungsidee“113 bzw. „idée directrice“114 : „Wenn wir dieses Bewußtsein, das wir vorhin das metaphysische nannten, jetzt näher das ideative nennen, so kann gesagt werden, daß sich die Schöpferkraft derselben in der Gründung von Institutionen ausweist, die wesensmäßig in einer idée directrice, einer Führungsidee zentrieren.“115 Dabei sind für das Verständnis der Führungsideen bei Gehlen zwei von Hauriou herausgestellte Eigenschaften der „»Leitidee des [eines] Unternehmens« (idée directrices de l´enterprise)“116 aufschlussreich. Erstens ist diese Leitidee als dasjenige zu verstehen, um dessentwillen eine Institution besteht. So ist etwa ein „Krankenhaus [...] eine Anstalt, die um einer Wohlfahrtsidee willen eingerichtet wird.“117 Davon zu unterscheiden sind dann genauso die in einem Krankenhausbetrieb zu erfüllenden Funktionen, wie etwa auch die Leitidee eines Staates „etwas ganz anderes als sein Zweck oder seine Funktion.“118 Zweitens kann auch Hauriou diese Leitideen nicht in einer pragmatischen Herangehensweise auf die rationalen Zwecksetzungen des Menschen zurückführen, weil er sie nicht mit den durch sie zu erfüllenden Funktionen gleichsetzt. Vielmehr muss er sie in dem Sinne als etwas natürlicherweise schon Bestehendes voraussetzen, dass der Mensch in seiner schöpferischen Tätigkeit „nur auf sie stoßen“119 kann. 109
110 111 112 113 114 115 116
117 118 119
Auf die hiermit aufscheinende Doppelfunktion des ideativen Bewusstseins verweist Johannes Weiß: „Derart lässt sich das ideative Bewußtsein zunächst einmal als das unter der Herrschaft der gesellschaftlichen Institution stehende, das institutionell eingespannte Bewußtsein bestimmen [...] Andererseits soll das »ideative Bewußtsein« aber auch dadurch definiert sein, daß es die beherrschenden »Leitideen« für die Institutionen bereitstellt“ (Johannes Weiß, a.a.O., S. 47). GA 3.1, S. 467. Vgl. Maurice Hauriou, Die Theorie der Institutionen und zwei andere Aufsätze, Berlin 1965, S. 36; vgl. dazu Karlheinz Weissmann, a.a.O., S. 49f. GA 3.1, S. 381, 462, 463. Ebd., S. 467, 479. Ebd., S. 369, 454, 461. Ebd., S. 467. Maurice Hauriou, a.a.O., S. 36. Wie eingangs bemerkt, geht es in Gehlens Kulturtheorie wesentlich um die Entwicklung der die Selbstdeutungen des Menschen bereitstellenden Institutionen; hiermit wird deutlich, dass er Hauriou nicht darin folgen würde, von den Leitideen eines Krankenhauses zu sprechen. Vgl. Maurice Hauriou, a.a.O., S. 36. Ebd. Ebd., S. 39.
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In dem von Gehlen in Anlehnung daran vorgestellten Abhängigkeitsverhältnis von erschaffenem Symbol und institutionalisiertem Verhalten wird zunächst kenntlich, dass wir es bei diesen bildlich vermittelten Ideen nicht mit propositionalen Gehalten, sondern irrationalen Gewissheiten zu tun haben, womit Gehlen deren „Nichtwiderlegbarkeit“120 durch den rationalen Zugriff herausstellt. Auch tritt mit dieser Annahme zutage, dass eine dauerhafte Stabilisierung der Gesellschaft durch die Rückwärts-Stabilisierung im rituellen Verhalten nur durch die konkrete Erfahrbarkeit des Symbols über lange Zeiten hinweg erhalten werden kann: „Man hält Führungsideen nicht bloß im Kopfe fest, sie müssen, von realen Institutionen reflektiert, in die Grundlage des Alltagsverhaltens eingegangen sein.“121 Die Dynamik der Entstehung der durch die Führungsideen bestimmten Verhaltensweisen in den Institutionen haben wir uns im Anschluss daran, wie es bereits Dieter Claessens bemerkt122, in Analogie zu Hegels Vorstellung der »List der Vernunft« als die in der menschlichen Kultur „hinter dem Rücken des Bewusstseins“123 wirkende, auf den Lebensprozess zurückführbare »List des ideativen Bewusstseins« vorzustellen. So stellt Gehlen heraus, dass sich der Mensch erst in Einklang mit der Zweckmäßigkeit des Lebens stellen konnte, als er in den totemistischen Religionen von den direkten Zwecksetzungen des instrumentellen Bewusstseins als Jäger und Sammler absah und seinen Umgang mit Flora und Fauna in Abhängigkeit zu dem durch das Totemtier vermittelten Glauben stellte: „Erst als sie, in der Hege von Totemtieren und Totempflanzen, dem Lebendigen zweckfrei sich verpflichteten, »trafen« sie auf Zweckmäßigkeiten, die die Ernährung als dauerndes Gefüge, als überindividuellen Prozeß institutionalisierbar machten.“124 In diesem Verhältnis zur Zweckmäßigkeit des Lebens – im Grunde ein „darauf stoßen“ wie bei Hauriou – wird die am ideativen Bewusstsein festgemachte Variante der hegelschen Denkfigur deutlich, dass hiermit die an sich immer bestehende Wirklichkeit des den Menschen mit einschließenden Prozesses für sein Bewusstsein wirklich wird: „So sieht jeder ein, daß Tiere von den periodischen Prozessen der »Ernährung« und »Fortpflanzung« nichts wissen, sondern daß diese Prozesse durch ihre Instinkte und ihr Verhalten hindurch, hinter dem Rücken ihres Bewußtseins ablaufen. In den menschlichen Institutionen der Familie und 120 121 122 123 124
US, S. 299. GA 3.1, S. 474. Vgl. Dieter Claessens, a.a.O., S. 42; Peter Jansen, a.a.O., S. 80: „Die Anklänge an die »List des Weltgeistes« bei Hegel sind nicht zu übersehen.“ GA 3.1, S. 478. Ebd.
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des Ackerbaus werden diese Prozesse thematisiert, nicht nur gelebt, sondern selbst noch Inhalte ihrer Zielsetzungen und Verpflichtungen. Was dort »an sich« geschah, geschieht hier »für sich«, aber gerade in Folge davon, daß das ideative Bewusstsein ganz andere Inhalte entwickelt, die in geistiger Weise durchaus Zwecke und Verpflichtungen für sich selbst waren.“ 125 Dass Gehlen die diese Inhalte bedingende Leitidee nicht mit der rationalen Zwecksetzung identifiziert, zeigt noch in einem von ihm aufgezeigten Problem der Moderne. Dieses besteht darin, dass die sich wesentlich auf die direkten Zwecksetzungen des instrumentellen Verstandes verlassenden Kultur der modernen „Wissenschaft, die ihrem Wesen nach »Aufklärung« ist“126 , die nur durch die indirekte Vermittlung des ideativen Bewusstseins ermöglichte Orientierung durch Gewissheiten „nicht ersetzen kann“127 : „Sie kann keine zureichenden Gründe für eine Gesamtorientierung zur Welt, für einen handelnden Glauben schaffen und keine echte Motivationskraft für elementare Entscheidungen bieten, so wenig wie zwingende, allgemeingültige Gewißheiten.“128 Vor dem Hintergrund des Schichtenaufbaus der Verhaltensklassen erschließt sich in dieser Entgegensetzung von direktem und indirektem Zugriff auf die Natur der für Gehlens Konzeption kultureller Entwicklung zentrale Begriff der „Realrepugnanz“129, den er wiederum von Nicolai Hartmann übernimmt130 . Hartmann bezieht sich mit diesem Begriff auf einen von den materiellen über die organischen Schichten bis hinein in den Geist nachweisbaren Widerstreit – einen durch Harmonisierung zu bewältigenden Antagonismus in den Schichten des Seins. In seiner Adaption stellt Gehlen diesen Begriff in den Zusammenhang, dass das instrumentelle und das ideative Bewusstsein in einem gegenläufigen Verhältnis zur Natur und damit zueinander stehen. Wo sich die Zwecke des Lebensprozesses im Geist der Selbstbilder mitteilen und ein ihnen entsprechendes Verhalten fordern, sieht sich die instrumentelle Schicht des menschlichen Bewusstseins der Natur als bloßes Mittel für seine Zwecke gegenübergestellt.131 Das instrumentelle Be-
125 126 127 128 129 130 131
Ebd. Ebd., S. 369. Ebd. Ebd., S. 369f. Ebd., S. 467. Vgl. Nicolai Hartmann, Der Aufbau der realen Welt, a.a.O., S. 320. Wichtig ist auch hier zu sehen, dass es sich bei diesem Widerstreit nicht alleine, wie von Peter Jansen herausgestellt, um zwei „widerstreitende Bewußtseinsformen“ (Peter Jansen, a.a.O., S. 58) handelt, von denen sich eine auf das „Sein im Ganzen“ (ebd.) und die andere auf die jeweils empirischen Probleme der anorganischen Materie bezieht. Gehlen geht ja gerade nicht von den Leistungen des Bewusstseins aus, sondern verbindet mit diesem Wider-
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wusstsein, in seiner kulturhistorischen Entfaltung mit der Entwicklung der Technik ebenfalls einer hinter dem Rücken der Menschen wirkenden Teleologie132 folgend, wirkt dem entgegen und ist damit schließlich für den Niedergang der Kultur verantwortlich, weil es keine Lebensführung nach den Zwecken der Natur, sondern einzig ein die Natur in seinen Zwecksetzungen ausbeutendes Verhalten bedingen kann: „Das instrumentelle Bewußtsein dagegen [im Vergleich zur Schöpferkraft des ideativen Bewusstseins, S.W.] ist den Kategorien der anorganischen Materie angemessen, es beutet die Natur aus, so wie das verstehende die Geschichte. Aber beide Instanzen des Geistes, das instrumentelle (mit seinem Appendix, dem verstehenden) und das ideative stehen im Verhältnis der »Realrepugnanz« (N. Hartmann), als widerstreitende Tendenzen, die sich ihren Kampf auf dem Schauplatz der menschlichen Inneren liefern. Jede gewinnt nur auf Kosten der anderen Terrain.“ 133 Infolgedessen lässt sich feststellen, dass Gehlen in einer gedoppelten Teleologie den Substanzbegriff und den Funktionsbegriff des Menschen in einem antagonistischen Verhältnis gegenüberstellt: Die durch das Theorem des Mängelwesens beschreibbaren Entlastungsleistungen des Menschen, deren freieste diejenige des instrumentellen Bewusstseins ist, wirkt in der historischen Entwicklung dem aus der substanziellen Disharmonie zum Leben abgeleiteten ideativen Bewusstsein entgegen134. Mit Blick auf den sich in den Bildern mitteilenden Geist des ideativen Bewusstseins lässt sich als Ergebnis dieses Widerstreits behaupten, dass die gegenwärtige Kultur die Zeitsignatur der Entgeisterung135 in sich trägt. Hiermit allerdings kommt den Lebensvoll-
132
133 134
135
streit, dass als Folge dieses Antagonismus der Kontakt zum Ganzen des Seins in einem substanziellen Sinne schwindet. Gehlen beschreibt dieses als die sich hinter dem Rücken des Menschen vollziehende Gesetzmäßigkeit, dass sich die Technik im Sinne der zunehmenden Entlastung des Geistes verselbstständigt (vgl. GA 6, S. 194). Er kennt so verstanden also durchaus eine im Kulturprozess wirkende, auf den in sich reflektierenden Geist zulaufende Teleologie, die er allerdings gerade nicht in dem oben mit Kant (vgl. Abschnitt 1.9) aufgezeigten Sinne wertet, dass Naturzweckmäßigkeit auf das hierüber reflektierende Bewusstsein bezogen werden muss. GA 3.1, S. 468. Wenn wir oben gesehen haben, dass Gehlens Begriff der Naturteleologie deshalb in sich widersprüchlich ist, weil diese Zweckmäßigkeit des Irrationalen nicht mit rationalen Begriffen gefasst werden kann (vgl. Abschnitt 1.9), dann wird mit dem Begriff der Realrepugnanz deutlich, dass Gehlen aus diesem Widerspruch das treibende Moment der Kulturentwicklung ableitet: Das mit der technischen Entwicklung fortschreitende rationale Erkennen der Welt verdrängt zusehends die mit den irrationalen Leben korrespondiere Hinwendung zur Wirklichkeit vermittels des ideativen Bewusstseins. Ich entlehne diesen Begriff der Literatur, und zwar der von Robert Menasse vorgelegten, fiktiven Dissertation Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens. Nicht nur scheint mir dieser Begriff trotz der sich von Gehlen unterscheidenden Adaption Hegels bei Menasse angemessen für das von Gehlen beschriebene Phänomen der daraus
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zügen, in denen eine Beheimatung des Menschen in der Welt noch möglich war, die Bestimmung eines jenseits des heute Leb- und Vorstellbaren gelegenen Nicht-Ortes zu, auf den der Begriff der Utopie anzuwenden ist. Offenkundig handelt es sich um eine negative Utopie, indem Gehlen nicht, wie etwa Ernst Bloch, seine Hoffnung darauf setzen kann, was der Mensch noch nicht ist; weil Gehlen das Fortschreiten in der Kulturentwicklung aus dem Erfolg der Technik und damit der zunehmenden Ausbeutung des Natur auf Kosten der Nähe zum Leben bezieht, kann diese Utopie nur davon handeln, dass der Mensch einmal in der Welt beheimatet war. 3.3.3 Kulturelle Kristallisation: Corso und Ricorso Gehen wir von dieser negativen Utopie aus und legen den Geist des Lebens als die treibende Kraft in der Kulturentwicklung einerseits und andererseits als das verloren gegangene Moment in der modernen Kultur zugrunde, dann lässt sich das Entstehen und Vergehen hoher Kultur durchaus zutreffend als das Auf- und Verblühen136 des sich selbst entfaltenden Lebensprozesses verstehen. Gehlen verwendet diesbezüglich bewusst kein auf organische Prozesse verweisendes Bild, sondern die Metapher der „kulturelle[n] Kristallisationen“137. Dabei geht es ihm mit diesem dem Bereich des Anorganischen entlehnten Begriff keineswegs darum, einer auf die Prozesse des Lebens zurückführbaren Interpretation der Kulturentwicklung entgegenzutreten. Tatsächlich können und müssen wir uns diese Kristallisationen unter der Voraussetzung des ideativen Geistes durchaus als Ausdruck des Lebensprozess vorstellen, allerdings nicht im Sinne eines schon bereits Entstehens, Vergehens und Wiederentstehens, wie es bei Organismen der Fall ist. Gehlen sucht mit dem Begriff der kulturellen Kristallisation vielmehr das Hervorgehen gesellschaftlicher Zustände in den Zusammenhang des Lebendigen zu stellen, ohne dabei, wie etwa Oswald Spengler, von der Morphologie des Entstehens, Vergehens und Neuentstehens der Kultur als Organismus einer bestimmten
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hervorgehenden Entfremdung des Menschen zu sein, dass er die Welt nicht mehr vom objektiven Geist seiner Selbstdeutungen her verstehen kann. Hilfreich für die Auseinandersetzung mit Gehlen ist überdies, dass man sich mit Menasses ironischem Blick die Einseitigkeit eines geschichtsphilosophischen Fatalismus vor Augen führen kann, wie diese Haltung auch Gehlen vertritt. Vgl. Robert Menasse, Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens, Frankfurt am Main 1995; vgl. dazu: Stefan Waller, Vom Verschwinden des Wissen: Robert Menasses Phänomenologie der Entgeisterung, in: Tobias Dangel/Cem Kömürcü/Stephan Zimmermann (Hg.), Dichten und Denken. Perspektiven zur Ästhetik, Heidelberg 2011, S. 85ff. Hierin bestätigt sich noch einmal die oben mit Verweis auf Norbert Elias herausgestellte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation bei Gehlen. Vgl. Abschnitt 1.6.2. Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: GA 6, S. 298-314, hier: S. 307.
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Klasse auszugehen. Kulturelle Kristallisation meint demgegenüber die nicht aufgrund eines bestimmten Musters vorhersehbare, einmalige Verfestigung von Gewohnheiten, die gleich eines in seiner Struktur nicht durch weitere Anreicherungen veränderbaren Kristalls einen Endpunkt in der Entwicklung markiert:138 „Der Ausdruck ist insofern vielleicht mißverständlich als er an Anorganisches erinnert [...] Ich fand ihn aber brauchbar und würde vorschlagen, mit dem Wort Kristallisation denjenigen Zustand auf irgendeinem Gebiet zu bezeichnen, der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind.“139 Bezüglich des Verfalls solcher festgelegten Strukturen finden sich bei Gehlen zwei Motive: zum einen dasjenige der Dekadenz als ein auch heute feststellbarer, durch Prosperität bedingter innerer Kulturverfall: „ungestörte Kulturen entarten immer von innen heraus, sie verfaulen an ihrer eigenen Fruchtbarkeit, und so hat jede ihre eigene unvoraussehbare Verfallsform.“140 Fruchtbarer für die Beurteilung der gesamtkulturellen Entwicklung ist allerdings das zweite, aus der Wechselwirkung der Rückwärts-Stabilisierung abgeleitete Motiv, dass die Veränderung der technischen Bewältigung der sich stellenden Probleme neue Anforderungen an das rituelle Verhalten stellt: Dramatische Veränderungen im Unterbau der Lebenswelt erzwingen einen Wechseln innerhalb der Form des rituellen Verhaltens, wie Gehlen es am Aufkommen des Mythos zeigt und wir es in der Erörterung der Entlastung im Leben noch sehen werden.141 Dieser Dynamik folgend können wir uns die gesamte Menschheitsgeschichte als einen Prozess der zunehmenden Technisierung vorstellen; eine im Sinne des mit dem Antagonismus der Realrepugnanz beschriebenen Gegensatzes von schöpferischem und instrumentellem Bewusstsein verlaufende Entwicklung vom Mythos zum Logos, an deren 138
139 140 141
Da Gehlen von kultureller Kristallisation auch mit Blick auf die Gegenwart spricht, kann es so aussehen, dass es sich um einen pejorativen Begriff handelt (vgl. Karlheinz Weissmann, a.a.O., S. 75; Johannes Weiß, a.a.O., S. 218ff.) Tatsächlich aber handelt es sich um einen wertfreien Begriff, den Gehlen überhaupt für die Verfestigung von Gewohnheiten in einer Kultur anwendet (vgl. Arnold Gehlen, Über kulturelle Evolution (1964), in: GA 6, S. 315329). In eben diesem Sinne spricht er davon, dass sich anhand der nach seinem Dafürhalten beobachtbaren Endgültigkeit des politischen, wissenschaftlichen und auch künstlerischen Lebens (vgl. ebd., S. 320) wieder eine solche Kristallisation eingestellt hat, die der Persistenz vorheriger Institutionen (vgl. ebd., S. 318) gleicht: „Wir hätten damit eine neue Variante des Nichtabsterbens kultureller Realität beschrieben, und die Kategorie der Kristallisation belegt“ (ebd., S. 325). Die negative Bewertung der modernen Kultur folgt demnach nicht aus dieser Eigenschaft, kristallisiert zu sein, sondern daraus, dass sich diese Gewohnheiten wesentlich innerhalb der Schicht des rationalen Bewusstseins bewegen. GA 6, S. 307. US, S. 120. Vgl. Abschnitt 3.5.
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Ende die allgegenwärtige Rationalisierung kaum mehr Raum für die selbst erschaffenen Leitideen lässt: „Es ist auch wohl kaum ein Zweifel daran möglich, daß es bisher in jeder Kultur einen langfristigen Umschwung in der Richtung »vom Mythos zum Logos« gegeben hat, man kann aber mit Bestimmtheit annehmen, daß es künftig niemals mehr ein mythisches Bewusstsein geben wird, denn der Rationalismus ist der im Aufbau begriffenen industriellen Erdumfangskultur immanent.“142 Trotz Gehlens Wendung gegen eine rationale Auslegung der Kulturentwicklung ist in solchen Ausführungen nicht zu übersehen, dass er bezüglich des Verlaufs dieser Entwicklung selbst ein durchaus vom rationalen Bewusstsein ausgehendes Konzept vorlegt. Um dieses nachzuvollziehen, erweist sich die in Der Mensch für den Begriff der Gewissheit einer phantasieentsprungenen Metaphysik herangezogene Interpretation143 der Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos als dienlich, weshalb eine kurze Zusammenfassung dieses Textes von Walter Witzenmann an dieser Stelle angebracht erscheint. Dieser Zusammenfassung muss allerdings vorangestellt werden, dass es dort um eine Erörterung über die Bedeutung des Mythosbegriffs bei Vico für den italienischen Faschismus144 geht. Dem Autoren ist es darum zu tun, dass der Faschismus in der Lage ist, den in der Lebensphilosophie problematischen Gegensatz von rationaler Reflexion und irrationalem Mythos miteinander zu vermitteln.145 Was Gehlen nicht nur angesichts dessen persönlich in seiner Stellung zum Nationalsozialismus146 anzulasten ist, kann im Kontext dieser Arbeit nicht besprochen werden.147 Aber auch ohne ein Urteil darüber abzugeben, lässt sich dennoch feststellen: Die sich hier abzeichnende positive Be142 143 144
145
146
147
StZ, S. 101. Vgl. GA 3.1, S. 358. Es ist durchaus auffällig, dass sich Gehlen auch in der überarbeiteten Fassung von Der Mensch nicht direkt auf die entsprechenden Passagen bei Vico beruft, sondern sich immer noch auf diese, sich mit der Lehre des Faschismus befassenden Schrift bezieht (Vgl. GA 3.1, S. 358). Vgl. Walter Witzenmann, a.a.O., S. 81: „Im Faschismus wird die unreflektierte Tat also nicht von einer Position aus gerechtfertigt, die das »Leben« gegen den »Geist« stellt, für die der Geist der »Widersacher der Seele« ist. Mit »lebensphilosophischen« Erklärungen ist darum nicht in den Faschismus mit seinem eigenartigen Nebeneinander von Irrationalität und Rationalität einzudringen“. Vgl. zu Gehlens Verhältnis zum Nationalsozialismus Karl-Siegbert Rehberg, Metaphern des Standhaltens, a.a.O., S. 394f.; Karl-Siegbert Rehberg, »Ordnung ist kein Gefängnis« – zum Leben und Werk Arnold Gehlens, in: Philokles. Zeitschrift für populäre Philosophie. Heft 1/2 (Sonderheft Nr. 2). Zwischen Führerkult und Mängelwesen. Zur Aktualität Arnold Gehlens, Leipzig 2005, S. 9ff. Vgl. zur Affinität zwischen Gehlens Konzeption und dem Nationalsozialismus Johannes Weiß, a.a.O., S. 103f.
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wertung der institutionalisierten Gewissheit unhinterfragbar geltender, durch den Mythos vermittelter Pflichten gibt kein Rüstzeug gegen faschistische Bewegungen an die Hand.148 Belassen wir es dabei und kommen zu der von Gehlen verwendeten VicoInterpretation. Ihr Autor hebt mit einer Kritik auf der zu kurz greifenden Interpretation des Vico-Axioms als bloße Antwort auf erkenntnistheoretische Problemstellungen ab. Demgegenüber stellt er den uns bereits bekannten Gedanken heraus, dass es Vico nicht alleine um ein Überwinden des cartesianischen Dualismus durch einen am instrumentellen Handeln orientierten Erkenntnisbegriff geht, sondern dass er mit dem uns schon bekannten Hinweis auf die Schöpferkraft des Menschen auch auf die Begrenztheit des rationalen Erkennens insistiert. Anhebend mit dem Hinweis auf die Rolle der Phantasie geht es ihm dann wesentlich darum zu zeigen, dass der Gegensatz zwischen rationaler Reflexion und menschlichem Schöpfertum bei Vico demjenigen zwischen reflexionsloser Tat und reflektierender Tatenlosigkeit entspricht. Vico vertritt mit seiner der Annahme der phantasieentsprungenen Metaphysik auch einen „metaphysischen Aktivismus“149, der, wie Witzenmann bemerkt, auf einen Dualismus zwischen der bloßen Virtualität des Erkennens und der Wirklichkeit des schöpferischen Handelns hinausläuft. Davon ausgehend ist Vicos Vorstellung von historischen Zyklen darauf zurückzuführen, »factum esse verum« in Sinne von »Tätigsein ist Wirklichkeit« im Gegensatz zur Unwirklichkeit der tatenlosen Reflexion zu verstehen: „Daß die Tat das Wahre ist („factum esse verum“), ist unzweifelhaft Vicos Seinsprinzip [...] Die Perioden des schöpferischen unreflektierten Tuns sind die des Aufstiegs, die Perioden der Rationalität die Zeiten der nicht mehr gestaltungskräftigen Zuständlichkeit, des Verfalls und Endes eines jeden »corso«.“150 Vico stellt sich die Abfolge der kulturellen Zyklen demnach wie folgt vor: Beginnend mit dem Urzustand eines sogenannten statio ferne findet die Auf148
149 150
Diesbezüglich ist auf Ernst Cassirers letztes Buch The Myth of the State hinzuweisen, in dem er in seinen abschließenden Betrachtungen den politischen Mythos als die Gefahr unserer Zeit identifiziert, den es im Wissen um seine Bedeutung und Macht zu bekämpfen gilt: „We should carefully study the origin, the structure, the methods, and the technique oft he political myths. We should see the adversary face to face in order to know how to combat it“ (Ernst Cassirer, The Myth oft the State, in: ECW 25, S. 291). Walter Witzenmann, a.a.O., S. 45. Ebd., S. 57f.; vgl. ebd., S.47: „Der metaphysische Aktivismus Vicos zeigt, was in seiner politischen Erscheinungsform besonders deutlich werden wird, die dualistische Anschauung einer wirklich seienden »taterfüllten«, also göttlichen Welt und einer scheinhaften »tatlosen«, zu der auch auf der ersten Stufe das menschliche Wissen und Erkennen in seiner Wahrscheinlichkeit gehört. Politisch-geschichtlich gesehen ist die taterfüllte Wirklichkeit Aufstieg und Höhe der Sozietät, die Tatenlosigkeit die Dekadenz des menschlichen, im Staate verwirklichten Zusammenlebens.“
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wärtsbewegung, der corso, seinen Höhepunkte in einem Zeitalter des tatenreichen Institutionsaufbaus; die Abwärtsbewegung kulturhistorischer Zyklen geht dann als ricorso mit Zeiten des tatenlosen Vernunftglaubens und der zersetzenden Rationalität einher. Anders ausgedrückt lässt sich diese Bewegung auch als negativ konnotierte Beschreibung der auch von Gehlen attestierten Entwicklung vom Mythos zum Logos151 verstehen. So ist in den schöpferischen Phasen noch die Phantasie in umfassender Weise wirksam. Hier verdichten sich die Vorstellungen des Menschen von sich selbst zu mythischen Selbstbildern; und genauso wie Gehlen die irrationalen Gewissheit der Führungsideen mit einem „handelnden Glauben“152 verbindet, stellt schon Vico eine Verbindung zwischen dem mythischen Bild und einem reflexionslosen Tun her: „Die aus dem sozialen Glauben erwachsende Tat wird zum mythischen Bilde apperzeptiv verdichtet und dieses ist wiederum das aktivierende Element für das konkrete künftige schöpferische Tun, das rückwirkend die anstachelnde Kraft des Mythos, dem es erwächst, verstärkt, ohne den aber das unreflektierte Tun ohne Bestimmung und Richtung wäre.“ 153 Die späteren Phasen des in der Reflexion behaupteten Anspruchs des rationalen Zugangs zur Welt stellt demgegenüber eine Abkehr von den fraglos akzeptierten Mythen und dem durch diese geleiteten Tätigsein dar. Hier ist das Stadium einer schlimmer noch als jeder Naturzustand zu bezeichnenden »Barbarei der Reflexion« erreicht, die sich einerseits als moralischer Anarchismus darstellt. So unterscheidet Vico, wie wir es schon bei Gehlen kennengelernt haben, zwischen dem „moralischen Tun, das innerhalb des zuvor geschaffenen Gefüges wirkt“154 und dem „subjektivistischen anarchischen Tun, das nicht der vorgegebenen, an sich transzendenten totalen Weltwirklichkeit, die im geschaffenen Gefüge immanent wird, vermittelt ist.“155 Andererseits und im Sinne der oben herausgestellten Annahme Gehlens, dass der Körper-Geist-Dualismus eine Folge des sich im handlungslosen Zustand befindlichen Denkens ist156 , stellt sich auch dieses Problem erst in dieser Phase ein. Gleichzeitig und sowohl im Sinne der fehlenden Belastungen als auch des ausbeutenden Charakters der instrumentellen Vernunft geht diese Stufe der Kulturentwicklung schließlich mit übermäßigem Luxus und Konsum einher:157 151 152 153 154 155 156 157
Vgl. StZ, S. 101. GA 3.1, S. 369. Walter Witzenmann, a.a.O., S. 68f. Ebd., S. 47. Ebd. Vgl. Abschnitt 1.3.2. Walter Witzenmann, a.a.O., S. 74: „Die Vernunft genießt das tätige Gewirke, das phantasievolle Geschaffene, das gläubige Geschöpfte in der Reflexion. Sinnlichkeit und Phantasie ver-
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„Die Hypertrophie der Ratio, die glaubt, alles sei nach menschlicher Vernunft entstanden, der Skeptizismus und auf der anderen Seite der Luxus, kurz; die geistige und körperliche Genußsucht statt der tätigen Anstrengung, der Atheismus statt des Glaubens zersetzen die menschliche Gemeinschaft. Ohne Tat, ohne Glauben verfallen die Völker in die »Barbarei der Reflexion«, die schlimmer als der statio ferne ist.“158 Kommen wir hiervon ausgehend auf Gehlens Begriff der kulturellen Kristallisation zurück, dann besteht der Unterschied in deren Rückführung auf das Leben nicht nur zu Vico, sondern auch zu Spengler und Toynbee in seiner resignativen Haltung, gerade nicht von Zyklen auszugehen, in denen sich mit dem Vergehen einer Hochkultur bereits das Entstehen einer neuen ankündigt. So vorzugehen erscheint ihm nicht nur als eine unbotmäßige Rationalisierung159 dieser Prozesse, sondern auch zu hoffnungsvoll bezüglich eines neuerlichen Erblühens von Kultur: „nach ihr [der Spengler-Toynbeeschen Kulturzyklentheorie] müßten geschichtlich unverbrauchte Völker vor den Toren der alternden westeuropäisch-amerikanischen Kultur bereitstehen, nach denen man vergeblich Umschau hält.“160 Gehlen spricht daher vom „Ende der Geschichte“161 und meint damit, dass sich der Mensch mit der „Art der Wucherung“162, die die instrumentelle Schicht des menschlichen Geistes in diesem Prozess erfahren hat, der Welt nur mehr und immerfort aus der Distanz rationalen Verstehens zuwendet. Die Besonderheit der Kristallisation der modernen Gesellschaft besteht damit einhergehend aufgrund der überall geforderten Distanzierung in der rationalen Reflexion darin, dass es die „große Schlüsselattitüde“163 eines sich auf die fraglose Selbstverständlichkeit eines Selbstbildes stützenden Handelns nicht mehr geben kann. Nicht die Entlastung und Selbststeigerung in der Gemeinschaft durch die idées directrices, sondern die „Intellektualisierung einer [im Sinne des tätigen Glaubens, S.W.] vom Handeln abgefilterten Kultur“164 müssen wir uns als die Lebensbedingungen des modernen Menschen vorstellen.165
158 159 160 161 162 163 164 165
lieren ihre Kraft, die Gläubigkeit verarmt; Vernunft, Abstraktion und Philosophie herrschen auf der dritten Stufe der geschichtlichen Entwicklung [...] die Natur des Menschen ist vernünftig: Die Mythen und die daraus abgeleiteten Rechtsfragen verschwinden. An ihre Stelle tritt ein ganz rationales und bis ins Einzelne kodifizierte Recht.“ Walter Witzenmann, a.a.O., S. 74f. Vgl. GA 4, S. 324. StZ, S. 98. Arnold Gehlen, Ende der Geschichte? (1975), in: GA 6, S. 336-351, hier: S. 336. GA 3.1, S. 466. GA 6, S. 300. US, S. 299. Mit Blick auf Vicos Geschichtsbild können wir diesen Modus noch an einer Bemerkung Ferdinand Fellmanns über den Verlust der beständig zur Tätigkeit motivierenden kulturellen Schöpfungen vor Augen führen: Durch den Verlust der mythischen Gewissheiten geraten wir
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3.4 Wandel der Weltanschauungen In Anlehnung an Vicos Geschichtsmodell können wir uns den von Gehlen aufgezeigten Corso des kulturellen Aufstiegs und den Ricorso spätkultureller Dekadenz als einen in drei epochalen Schritten verlaufenden Prozess vorstellen. So spricht er in der Rekonstruktion der epochalen Veränderungen von drei Kulturschwellen166, mit deren Überschreiten sich das Handeln und damit die Bewusstseinsstruktur167 des Menschen verändert hat: „In der Geschichte der Menschheit gab es drei große »Kulturschwellen«, nämlich den Übergang aus dem Jäger- und Sammlerleben zur Seßhaftigkeit und zur Agrarkultur. Er erfolgte im Neolithikum (Jungsteinzeit). Dann kam der Durchbruch monotheistischer Religionen, des unsichtbaren Gottes, mit einer kultischen Neutralisierung der Außenwelt. Und endlich begann vor etwa 250 Jahren die industrietechnische Kultur. In jedem Falle änderten sich auch die Bewußtseins-Strukturen der Menschheit.“168 Vor dem Hintergrund der Selbststeigerung im Schichtenaufbau der Verhaltensklassen in der Kultur lässt sich dieser Prozess demnach so verstehen, dass der Mensch in der durch den Mythos bestimmten Epoche geradezu zum großen Menschen wird. Wohlgemerkt haben wir es in dieser Hochkultur nicht mit dem großgeschriebenen Menschen im Sinne Platos zu tun, da Gehlen gerade nicht zwischen den im individuellen Handeln nachweisbaren Seelenvermögen und dem kulturell vermittelten Verhaltensweisen Parallelen zieht. Dem Schichtenaufbau in der Kultur folgend haben wir es hiernach ausgehend von einem über das alltägliche Gegenstandsbewusstsein hinausgehenden verobjektivierten Umgang mit den eigenen Antrieben in Formen des Sozialrauschs169 mit einem Prozess zu tun, der seinen Höhepunkt in dem Moment erlebt, in dem die dem ideativen Bewusstsein entsprungenen, sich in Bildern zeigenden ideés directrices auf den darunter liegenden Schichten ruhend das Weltverhältnis des Menschen bestimmt. Der mit dem Monotheismus anhebende Abstieg besteht dann wiederum in der Erosion dieser Schichten, bis nur noch die Schicht des rationalen Bewusstseins vorhanden ist. Im Sinne der mit dem Begriff der Realrepugnanz beschriebenen doppelten Teleologie in der Kulturentwicklung stellt sich dieser Prozess aus dem Blickwinkel des sich selbst entlastenden Mängelwesens betrachtet als ein kulturell
166 167 168 169
an den „Punkt, an dem die Arbeit des kollektiven Geistes versiegt und es den einzelnen nur noch übrigbleibt, in abstrakten Begriffen über das Gefundene zu reflektieren“ (Ferdinand Fellmann, Das Vico-Axiom, a.a.O., S. 79). Vgl. US, S. 3; StZ, S. 97. Vgl. US, S. 4. Vorwort zur letzten Ausgabe von Urmensch und Spätkultur (1976), in: US, S. 3. Vgl. ebd., S. 273.
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vermittelter Aufbau der Schichten von der Handlung bis zur handlungslosen Reflexion dar, der im Höhepunkt der menschlichen Kultur noch mit dem ideativen Bewusstseins korreliert. So beschreibt der corso zunächst das Aufkommen der unmittelbar an das Handeln gebundenen Riten des darstellenden Verhaltens, die dann durch den Ritus des an das Symbol des Tieres orientierten Totemismus abgelöst werden, welcher in einem nächsten Schritt durch die Ersatz-Handlung des Sprechens im Mythos entlastet wird. Von dieser im Neolithikum einsetzenden, durch den Mythos geprägten Epoche ließe sich dann behaupten, dass sich die beiden in der Kulturentwicklung feststellbaren Tendenzen idealiter treffen: Alles in der Welt ist durch das in das handelnde Sprechen involvierte Denken erfahrbar, das durch die Bilder und Erzählungen des Mythos vermittelt wird. Wie wir schon in der Auseinandersetzung mit Freud170 und Gehlens Überlegungen zum unwirklichen Geist gesehen haben, lässt sich der durch den Mythos vermittelte, durch den „sympathetischen Zusammenhang“171 geprägte Umgang mit der Welt als Liebesverhältnis zum Ganzen verstehen, in dessen Bewusstsein jeder Gegenstand und jedes Lebewesen ein bedeutungsvolles, emotional gefärbtes Eigengewicht bekommt. Mit Ernst Cassirer gesprochen fühlt der Mensch hier „eine fundamentale und unauslöschliche Solidarität des Lebens“172 , weshalb mir in Hinsicht auf Gehlens substanzontologischer Bestimmung des Lebens der Begriff der Entlastung im Leben sinnvoll erscheint. Der Entlastungsprozess der Distanznahme im Bewusstsein setzt sich dann im Sinne eines Ricorso über den Zwischenschritt des Monotheismus in die der handlungslosen Barbarei der Reflexion entsprechenden Kultur des entlasteten Geistes fort. Dabei sind es zunächst wieder die Antriebsenergien, die in der Epoche des Monotheismus das Thema des die Kultur leitenden Verhaltens vorgeben; jetzt allerdings nicht mehr als Ausleben derselben im Sozialrausch, sondern in ihrer formierenden Hemmung, indem der Wille eines nicht darstellbaren Gottes über das religiöse Dogma zur Willensbestimmungen des einzelnen handelnden Menschen wird. Als ein Leben als Entlastung lässt sich diese Epoche nach meinem Dafürhalten deshalb verstehen, weil das Thema der monotheistischen Religion eben die dem Menschen wesentliche Aufgabe ist, seinen Charakter in eigentätiger Entlastung durch Antriebshemmung zu formieren. Gleichzeitig findet mit dieser direkten Bezugnahme auf das Seelenleben des Menschen eine grundlegende Distanzierung zu der erfahrbaren Welt statt, indem sich der zu formierende eigene Wille einem als dem göttlichen Willen vorgestellten Prinzip gegenübergestellt sieht, das in einem ideellen Raum hinter den erfahrbaren Weltbeständen verortet ist. 170 171 172
Vgl. Abschnitt 1.7.1. US, S. 190f. VdM, S. 131.
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Die darauffolgende gegenwärtige Epoche beginnt mit dem Zerbrechen dieser harmonischen Abstimmung von Welt und göttlichem Willen und zeichnet sich dadurch als ein Leben durch Entlastung aus, dass der Mensch in einem noch nie gekannten Umfang durch die moderne Technik entlastet ist: Die vorher durch den einzelnen handelnden Menschen aufzubringende Leistung eigentätiger Entlastung wird zusehends durch den sich verselbstständigenden technischen Apparat übernommen. Hiermit wird der Blick auf die Welt wesentlich durch das instrumentelle Bewusstsein vermittelt, über das die bereits durch den Monotheismus in Distanz zum eigenen Seelenleben gestellten erfahrbaren Weltgehalte nur mehr als bloßes Surrogat für die instrumentellen Zwecksetzungen des Menschen genommen werden. Dem gegenüberstehend haben wir es mit dem Menschen in Minuskeln zu tun; einem Wesen, das, indem es nicht mehr über sich selbst hinaus zu wachsen vermag, sich nur noch vermittels des zwischen Geist und Köper, Individuum und Gemeinschaft sowie zwischen Leben und Denken trennenden, von der Handlung entlasteten Geistes auf die Welt bezieht. 3.4.1 Transzendenzen Einer näheren Betrachtung der in Bezug auf die drei Verhaltensweisen rekonstruierten Kulturentwicklung ist voranzustellen, dass diese und die aus ihnen abgeleiteten Gewohnheiten auf ein jeweils eigentümliches Verhältnis zu den Objekten in der Welt zurückzuführen sind. Kultur als Schichtenaufbau unterschiedlicher Verhaltensklassen ist demnach so strukturiert, dass der Mensch die sinnlich wahrnehmbaren Weltgehalte in verschiedenen Modi produktiver Tätigkeit tranzendiert. Die Dinge „nicht »selbst«, sondern nur assimiliert und angeeignet, eingeschmolzen in die Vielfalt unserer Tätigkeit“173 zu haben, lässt sich in einer vom Bewusstsein ausgehenden Analyse der Verhaltensweisen in der Kultur so beschreiben, dass das Substrat der Erfahrung in den Modi unterschiedlichen Verhaltens als bestimmter Inhalt transzendiert wird. Dass Gehlen an diesem Verhältnis ansetzt, bedeutet allerdings nicht, dass er gewissermaßen die Fronten gewechselt und jetzt selbst in einer transzendentalphilosophischen Konzeption aus der Perspektive des Bewusstseins argumentieren würde. Wir müssen an dieser Stelle vielmehr dasjenige voraussetzen, was er sowohl in Der Mensch als auch in Das Wesen der Erfahrung bereits erarbeitet hat. Wenn er seinerseits in der Analyse des Handelns in der Kultur ausgehend vom Bewusstsein von Transzendenzen spricht, dann denkt er das uns bereits bekannte Verhältnis von Objektivität und fester Willensbestimmung selbstverständlich mit, wie er diesen Zusammenhang in Der Mensch beschreibt: 173
GA 4, S. 13; vgl. GA 3.1, S. 203.
219
„Die wirkliche Objektivität wirklicher Dinge ist ein Korrelat des wirklichen Handelns oder Willens, die anschauliche Objektivität derselben Dinge im Bewusstsein ist ein Korrelat des möglichen Handelns oder Willens und keineswegs des bloßen Denkens oder Anschauens selbst.“174 Dessen eingedenk bezieht er sich mit seinen Ausführungen über Transzendenzen darauf, dass der Mensch in der Lage ist, alle möglichen und nicht unbedingt unmittelbar für die eigene Lebensführung zweckmäßigen äußeren Reize in seinen Blick zu bekommen und durch die im Handeln hergestellte Objektivität über deren unmittelbaren Eindruck hinaus zu transzendieren: „In der Wahrnehmung ist ein Ding oder Sachverhalt selbst gegeben, d.h. er transzendiert (übersteigt) als wahrgenommener die Zuwendung, die sich in seinem Eigensein vergißt. Ebenso bedeutet denken: etwas als seiend denken, das Denken erlebt ürsprünglich uns unmittelbar die Inhalte als unabhängig von sich selbst, man denkt »an etwas«.“175 Dieses Transzendieren zeigt sich zunächst etwa darin, dass wir einen Stein betasten, sehen und mit einem Wort bezeichnen und ihn dann infolge eines experimentellen Verhaltens in einer besonderen technischen Verwendung benutzen – beispielsweise als ein Schneidewerkzeug, wie es auch irgendwann in der Menschheitsentwicklung ein erstes Mal geschehen ist. Mit Blick auf die Kultur bedeutet diese Annahme, dass wir aufgrund des gewohnten Umgangs mit ihnen überhaupt an den uns begegnenden Steinen mehr als nur deren materiale Beschaffenheit wahrnehmen. Wir transzendieren den unmittelbaren Eindruck vielmehr hinsichtlich der uns schon bekannten, für uns objektiven Vorstellung seiner möglichen Verwendbarkeit.176 Korrespondierend damit sind die bereits bearbeiteten tatsächlichen steinernen Schneidewerkzeuge die zeitlich dauerhaften Träger dieser Vorstellungen. Sie sind dann in dem Sinne der als „steinerne Begriffe“177 objektiv gewordener Geist, als sie das Bewusstsein des mit ihnen gewohnheitsmäßig umgehenden Menschen bestimmen. Dieses in der gekonnten Bewegung objektivierende Zusammenspiel von Wille und Objekt markiert allerdings nur das unmittelbar funktionale Verhältnis von Handlung und Sache. Indem zu diesem Verhältnis noch die sich in der Lebenserfahrung formierende Interessen- und Bedürfnislage hinzutritt, nehmen wir sie immer in einem Spannungsfeld178 verschiedener Willensbe174 175 176
177 178
GA 3.1, S. 206. US, S. 13. Gehlen verwendet diesbezüglich den Begriff des „Handlungsphantasma“ (US, S. 10). Damit wird deutlich, dass es sich hierbei nicht um propositionales Wissen, sondern um Vorstellungen von gekonnten Handlungsabläufen handelt. US, S. 11. Dass wir im konkreten Umgang mit der Welt dergestalt zwei voneinander unterscheidbare Einstellungen des Willens aufeinander abstimmen, fasst Gehlen mit dem Begriff der tension stabilisée (vgl. GA 3.1, S. 207; US, S. 88) – einer „stabilisierenden Spannung“, die zwischen
220
stimmungen wahr. Wie betrachten sie also nicht nur hinsichtlich der in der gekonnten Bewegung möglichen Willensbestimmung, sondern transzendieren die uns begegnenden Dinge immer auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Befriedigung unserer jeweiligen Bedürfnisse und Interessen, was Gehlen deren „Daseinswert“179 nennt: „Daseinswert haben objektive Dinge und Inhalte jeder Art [...] als Gegenstücke aktueller oder potentieller Bedürfnisse jeder Art, von den ursprünglichen bis zu hoch bedingten oder intellektuellen. Also Wasser für den Durstenden, oder, als Beispiel für potentielle Bedürfnisse, ein Gegenstand, den man vorfindet und von dem man sagt: den hebe ich auf, das kann ich noch einmal brauchen.“180 Dabei lässt sich von etlichen Objekten und Sachverhalten behaupten, dass uns deren Daseinswert deshalb nicht bewusst wird, weil unsere entsprechenden Bedürfnisse andauernd erfüllt werden. Der größte Teil der zweiten Natur des Menschen tritt dadurch an die Stelle der ersten Natur, dass mit den entsprechenden Gewohnheiten im Umgang mit den Dingen bestimmte Bedürfnisse andauernd befriedigt werden und deren Bedeutung für die Lebensführung eben deshalb nicht problematisch wird. Gehlen beschreibt diesen Zusammenhang mit dem Begriff der „Hintergrundserfüllung“181 als die durch das Vorhandensein entsprechender Objekte und die mit ihnen einhergehenden institutionalisierten Gewohnheiten in unterschiedlichen Handlungsschichten gewährleisteten Entlastungen. Hierzu zählen nicht nur Nahrung oder die Verfügbarkeit bestimmter Techniken im Umgang mit Werkzeugen, sondern auch das Bedürfnis nach Geborgenheit in der Welt, wie dieser Zustand etwa durch die eigenen vier Wände oder die Gegenwart der Familie gewährleistet ist: „So lässt »meine Wohnung« das Bedürfnis nach Geborgensein gar nicht mehr aktuell werden, oder das Leben in der Familie rückt ein Bedürfnis
179 180 181
Handlungsinteressen und Handlungsvermögen entsteht. Sie lässt sich so beschreiben, dass wir im Umgang mit den Dingen in der Welt einen stabilen Ausgleich innerhalb unseres Antriebslebens zwischen den mit diesem Daseinswert verbundenen Bedürfnissen und den im Umgang mit ihnen angemessenen Bewegungsabläufen schaffen müssen: „Hier, gegenüber der objektiven Dingwelt, wird das Gleichgewicht der inneren Spannung zwischen einem Verhalten gemeint, das an den Dingen objektiv, um ihrer eigenen Eigenschaften willen angreift, wie z.B. niemand ein Glas mit Wucht auf den Tisch haut, und einem Verhalten, das an ihnen um anderen Interessen willen angreift, wie man eben aus dem Glas trinkt“ (GA 3.1, S. 208). Die Bedeutung dieser Spannung wird angesichts des Verhältnisses zwischen Individuum und der Pflichterfüllung gegenüber den Institutionen vielleicht etwas besser nachvollziehbar, indem Gehlen hiermit – in Rekurs auf Freud – auf die mit den Tabuvorschriften einhergehenden Ambivalenzen hinweist (vgl. US, S. 88ff.). Vgl. US, S. 11. Ebd., S. 14. Ebd.
221
nach der Gegenwart anderer Menschen in die Hintergrundserfüllung, das jemand in Einzelhaft sehr stark als unerfülltes erlebt.“182 Spätestens an der hier erwähnten, durch die Familie hergestellten Hintergrundserfüllung im Sinne einer Geborgenheit in der Welt kann man sich wiederum klar machen, dass die Einteilung der Welt nicht vollständig in das an einem Schneidewerkzeug oder einem Wasserglas illustrierbare Schema von objektivierender Transzendenz und Daseinswert, also dem Koordinatensystem eines subjektivem Bedürfnisses und der an einem Ding objektiv werdenden Möglichkeit der instrumentellen Befriedigung desselben gepresst werden kann. So erfüllen Institutionen wie die der Familie durchaus bestimmte Zwecke, beispielsweise indem sie das Bedürfnis nach Nähe von anderen Menschen oder etwa den Zweck einer Absicherung gegen finanzielles Unbill und vielerlei anderer Interessen des Individuums befriedigen. Sie deshalb aber einzig und alleine als zweckdienliche Einrichtung zur Befriedigung subjektiver Bedürfnisse zu verstehen, würde dieser Institution jedoch nicht in einem ihr angemessenen Sinne gerecht werden. Vielmehr hat diese wie jede andere Institution ein bestimmtes Eigengewicht, das über die bloße Zweckerfüllung bestimmter subjektiver Bedürfnisse hinausgeht. Unter diesen Voraussetzungen stellt sich der vom Umgang mit den Dingen bis in die höchste Schicht der Institutionen verlaufende Kulturaufbau für Gehlen so dar, dass sich der Daseinswert der im direkten instrumentellen Zugriff traktierten Dinge vom Eigenwert solcher greifbaren und denkbaren Objekte unterscheidet, die als „Selbstwert im Dasein“183 zu verstehen sind. Er formuliert diesen Zusammenhang auch so, dass der Selbstwert im Dasein den Daseinswert transzendiert, womit deutlich werden soll, dass hier der bereits im ersten entfremdeten Selbstgefühl vorliegende Mechanismus der Übertragung von Personalität auf das objektive Gegenüber greift. Durchaus dem Gedanken einer Freiheit aus Entfremdung im Umgang mit Dingen folgend, geht der Selbstwert im Dasein dann damit einher, dass wir den Objekten einen eigenen – subjektiven – Anspruch auf einen bestimmten Umgang mit ihnen unterstellen; wir handeln dergestalt „von ihnen her“184 : „Selbstwert im Dasein haben Dinge, Lebewesen jeder Art usw. dann, wenn ihr Daseinswert vorausgesetzt wird, aber sozusagen eingeklammert bleibt und nicht Thema des Verhaltens wird. Dieses Verhalten kann also nur darin bestehen, daß es an ihrem Sosein ausgerichtet wird, d.h. daß man von ihnen her handelt. Unter dieser Bedingung transzendieren die Dinge ihren Daseinswert, sie haben Selbstwert im Dasein.“185 182 183 184 185
Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd.
222
In diesem Sinne markiert der Übergang von Daseinswert eines Dinges zu seinem Selbstwert im Dasein eine „Trennung von Motiv und Zweck“186 des Handelns. Im Entstehen einer diese Objekte und Lebewesen mit einschließenden Institution entsteht so verstanden eine „selbstzweckhafte Eigengesetzlichkeit“187 des Handelns, sodass die eigenen Interessen nicht mehr durch eine direkt auf diese Bedürfnisse abzielende instrumentell-rationale Zwecksetzung, sondern indirekt durch das Erfüllen der von ihrer Führungsidee vorgegebenen Verhaltensweisen befriedigt werden: „Man handelt zunächst um der Sache willen, bei jeder Arbeit gibt es etwas, das getan werden muß, und diesem gilt ein verselbstständigtes Interesse; sodann handelt man in Fortsetzung der Gewohnheit und des eigenen Könnens, aus dem Pflichtgefühl der eigenen Tätigkeit heraus, und dazu mit einer Unendlichkeit individueller, unterwegs freigesetzter Motive – aber im allgemeinen niemals im Hinblick auf die »Aufhebung von Bedürfnissen«, also auf einen künftigen subjektiven Zustand der eigenen Befindlichkeit hin.“188 In vertikaler Fluchtlinie zu den an bestimmten Dingen und Lebewesen wahrgenommenen Selbstwerten im Dasein gibt es schließlich Institutionen, die so weit an Eigenständigkeit gewinnen und sich von der Bedürfnisbefriedigung verselbstständigen, dass sie nur mehr einzig um ihrer selbst willen vollzogen werden – womit den entsprechenden Gegenständen im äußersten Fall ein verpflichtender „Selbstwert im absoluten Sinne“189 zugesprochen wird. So sind die uns hinsichtlich der Kulturentwicklung interessierenden, die Selbstbilder des Menschen prägenden Institutionen in dem uns bekannten Sinne als Ritus mit Verhaltensweisen verbunden, die ausschließlich um den Selbstwert der zur Darstellung gebrachten Gottheiten willen vollzogen werden und dabei bis zur völligen „Aufgabe jedes Daseinswertes (für die eigenen Bedürfnisse)“190 führen können. Wie wir es schon in der Erörterung des Begriffs der Führungsidee kennen gelernt haben, dürfen wir uns diesbezüglich den Zusammenhang zwischen Erfahrbarkeit und Gewohnheit gar nicht eng genug vorstellen. Gehlen nennt diese sich ganz in der konkreten Darstellung manifestierenden ideés directrices „Transzendenz ins Diesseits“191 und meint damit, dass deren Glaubensvorstellungen ganz „auf dem Boden des Diesseits stehen“192 . Das Göttliche als solches ist hier genauso in der Darstellung 186 187 188 189 190 191 192
Ebd., S. 69. Ebd. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd.
223
erfahrbar, wie sich der damit verbundene „Glaube im wesentlichen auf das Diesseits bezieht.“193 In Sinne der Rückwärts-Stabilisierung bedeutet diese Annahme, dass dieser Glaube auch den alltäglichen Umgang mit den Dingen prägt, den diesseitig erfahrbaren Objekten durch das religiöse Selbstverständnis also ein über den bloßen Daseinswert hinausgehender Selbstwert im Dasein zukommt. Mit dem Begriff der Transzendenz ins Diesseits zeichnet Gehlen allerdings auch die in der Kulturentwicklung feststellbare Abwärtsbewegung vor, die sich an der Verlagerung des Bezugspunkts des absoluten Selbstwerts in der Religion festmachen lässt. Wo die in ihrer Hochphase durch den Mythos vermittelten Gottheiten früherer Kulturen noch im Sinne einer der Phantasie entsprungenen Metaphysik in der Darstellung selbst wahrgenommen werden konnten und diese Anschaulichkeit auch auf die Dinge und Lebewesen der profanen Lebenswelt übertrugen, ist bereits der monotheistische Gott als eine „Transzendenz ins Jenseits“194 nicht mehr in der sinnlichen Erfahrbarkeit gegeben: „Transzendenz ins Jenseits kann erst möglich sein, wenn der Eine, unsichtbare, also geistige Gott konzipiert ist – Monotheismus.“195 Nicht nur schwindet hiermit die unmittelbar augenscheinliche Bedeutsamkeit der in den Mythos gehüllten erfahrbaren Welt; auch kann dieser Gott aufgrund seiner geistigen Konzeption zum Gegenstand der tatenlosen Reflexion werden und ist damit geradezu angelegt dazu, über die Zeit der unhinterfragbar verpflichtenden Kraft eines absoluten Selbstwerts196 beraubt zu werden. Für Gehlen ist dieses Phänomen in der Entwicklungslinie vom Judentum zum Christentum hin zu einem aller Rituale und Symboliken weitgehend entkleideten Protestantismus197 auch offenkundig der Fall. Auf diese Weise ebnet die Vorstellung Gottes als eines jenseits des Erfahrbaren stehenden Prinzips den Weg für die sich ihrerseits auf das jenseits der Erfahrungsmöglichkeiten bestehende System von Naturgesetzen stützende wissenschaftliche Weltanschauung. Die hiermit verbundene Erosion der Handlungsschichten führt nicht alleine zu einem Verlust an überdauernden, bildhaften „Außenstabilisatoren“198, an denen sich das Handeln verlässlich orientieren könnte; es findet auch eine buchstäbliche Entgeisterung der Außenwelt statt, die in Ermange193 194 195 196
197 198
Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 17. Gehlen spricht diesbezüglich auch von den „Halbtranszendenzen“ (US, S. 18), die anhebend mit der monotheistischen Religion das Bewusstsein des Menschen bestimmen und die Hegel mit dem Begriff des objektiven Geistes zu beschreiben suchte (vgl. ebd.). Das sich hierin in Gegenüberstellung zu den Transzendenzen ins Diesseits zeigende Problem besteht nach seinem Dafürhalten darin, dass ihnen deren Grad an Verpflichtung, verstanden als „theogenische Kraft“ (ebd.) fehlt. Vgl. US, S. 304. US, S. 27.
224
lung der wahrnehmbaren Götter in den Dingen und Lebewesen geradezu „verstummt“199.
3.5 Entlastung im Leben Betrachten wir eingedenk des Begriffsapparats der Transzendenzen die eben skizzierte Entwicklungsgeschichte der Kultur etwas genauer, dann haben wir es in ihrer Entstehung mit der oben besprochenen List des ideativen Geistes zu tun. Trotz des sich hierin dokumentierenden Bruchs in dieser Theorie ist die damit verbundene Rekonstruktion des Ackerbaus im Sinne eines Umgangs mit Tieren und Pflanzen als Selbstwerte im Dasein bemerkenswert. Tatsächlich gelingt es Gehlen, eine Theorie vorzulegen, die den Ursprung der Pflanzenzucht und der Tierhaltung nicht auf instrumentelle Zwecksetzungen zurückführt. So kann er zeigen, wie sie aus dem bereits bestehenden rituellen Umgang mit Pflanze und Tier hervorgehen, von dem aus gesehen es dann gewissermaßen nur noch ein kleiner Schritt hin zu Landwirtschaft und Viehhaltung ist.200 Ihrem Ursprung nach muss die Land- und Viehwirtschaft nicht zweckgerichtet mit ihren Beständen rechnen und von diesen Berechnungen dann den Anbau und die Hege bestimmter Pflanzen und Tiere abhängig machen. Vielmehr ist sie von dieser immer neu anzustellenden Motivbildung entlastet, indem sie sich an dem durch die Religion vermittelten Selbstwert im Dasein von Scholle und Tier und damit den von ihnen her eingeforderten Pflichten im Handeln orientiert, durch deren Erfüllung sich dann auch der zum Überleben notwendige Ertrag einstellt. 3.5.1 Vom Totemismus zum Mythos Indem eine Entlastung im Leben erst mit dem Überschreiten der ersten Kulturschwelle erreicht ist, setzt Gehlens Rekonstruktion der Kulturentwicklung nicht mit dem Mythos an. Ausgangspunkt dieser Entwicklungsgeschichte ist vielmehr das noch davor liegende, mit dem Begriff einer „Umkehr der Antriebsrichtungen“201 beschreibbare Verhalten von Jäger- und Sammlerkulturen im Totemismus, das Gehlen aus dem objektivierenden Umgang mit überschüssigen Antriebsenergien in prähistorischen Praktiken ekstatischen Verhaltens herleitet. So haben wir es zu Beginn seiner Rekonstruktion der 199 200
201
US, S. 64. In diesem Sinne kann man Patrick Wöhrle darin zustimmen, dass Gehlen keineswegs „einer instrumentalistischen Verkürzung der Gattungsgeschichte“ (Patrick Wöhrle, Metamorphosen (...), a.a.O., S. 265) aufsitzt, wie von manchen Kritikern behauptet. US, S. 106.
225
Entwicklung menschlicher Kultur mit Handlungen zu tun, die über den Zweck der instrumentellen Problembewältigung hinausgehen, indem sie sich in entgegengesetzter Richtung auf die jeder Zwecksetzung noch zugrunde liegenden Antriebsquanten beziehen. Hier verhält sich der Mensch zu sich selbst als eines antriebsüberschüssigen Wesens, indem durch Rauschzustände „das Lustgefühl zum Zweck bewusster Handlungen gemacht wird, die diesen Zweck intendieren.“202 Die bereits in diesem indirekten Selbstverhältnis enthaltene Trennung von Motiv und Zweck besteht darin, dass die alltäglich in das zweckgerichtet zur Befriedigung bestimmter Interessen vollzogene Handeln involvierten Antriebe zum Motiv des Handelns werden. In diesem Verhalten werden diese Antriebe unter Absehung ihrer zweckdienlichen Befriedigung als solche zelebriert und gehen auf diese Weise als prägnante Symbole in das Verhalten ein: „In sehr vielen Fällen rücken dann die Akte, die gewöhnlich als periodische Endphasen [...] eintreten, wie Essen, Trinken oder sexueller Verkehr in die Ebene, wo sich sonst das zweckhafte rationale Verhalten abspielt, sie werden also als Mittel vollzogen, um nämlich »symbolisch« einen rein inneren ekstatischen Zusammenhang im Menschen auszudrücken.“203 Obwohl diese sich in Musik, Tanz und Gelagen vollziehenden Selbstkonfrontationen als durchaus orgiastische Sozialräusche204 zu verstehen sind, subsumiert Gehlen diese als Umkehrungen der Antriebsrichtung unter dem Begriff der Askese205: „Diese »Umkehr der Antriebsrichtung« ist offenbar zu verstehen als eine progressive Steigerung der Beherrschbarkeit der Antriebe, ja in den hohen, überorgiastischen Formen der Askese als eine Fortsetzung der Instinktreduktion, d.h. der Prozesse der Menschwerdung.“206 Die Verwendung dieses Begriffs wird nachvollziehbar, wenn man Askese nicht nur als die Formierung der eigenen Antriebe durch die eigene „Willenskraft“207 , sondern 202 203 204 205
206 207
Arnold Gehlen, Über einige Kategorien (...), a.a.O., S. 75. GA 3.1, S. 56; vgl. US, S. 273ff. Vgl. GA 3.1, S. 56. Gehlen spricht an dieser Stelle von einer „Askese als Stimulans“ (GA 3.1, S. 56), die noch von den Askesen als „Disciplina oder Sacrificium“ (ebd.) unterschieden werden müsse. Die zuletzt genannten Formen von Askesen beschreibt Gehlen in Moral und Hypermoral als die mit dem „Dienst an einer organisierten Gemeinschaft“ (MH, S. 70) einhergehenden Disziplinierung einerseits und dem religiösen „Selbstopfer als Verarbeitung von Aggressionsmassen“ (ebd., S. 72) andererseits. Bezüglich der Religion wird uns in unserer Untersuchung allerdings das dort nicht herausgestellte Merkmal der monotheistischen Religion interessieren, sich wesentlich auf die Hemmung der eigenen Antriebe und damit den Willensbestimmungen des Menschen zu beziehen (Vgl. Abschnitt 3.6). Überdies ist in der Untersuchungen zur Magie (Anschnitt 3.7.1) anzumerken, dass Gehlen die Praxis des Schamanen aus dieser orgiastischen Umkehr der Antriebsrichtung als Askese als Stimulans ableitet (vgl. MH, S. 69). GA 3.1, S. 56. Ebd., S. 471.
226
grundlegender noch als einen Umgang versteht, in dem die eigenen Antriebe absichtlich im Sinne einer einfachen Umleitung vom eigentlichen Triebziel gehemmt und auf diese Weise im eigenen Handeln objektiv werden. Indem es sich um ein außeralltägliches, in dieser Objektivierung die eigene Konstitution symbolisierendes208 Verhalten handelt, sind in diesen Askesen des archaischen Menschen, wie Gehlen es in Anlehnung an Durkheim ausführt, schon die essenziellen Voraussetzungen religiös vermittelter Moralität enthalten: „Als Naturwesen ist er virtuell hemmungslos. Der Asketismus gehört daher zu den ganz fundamentalen Erscheinungen der geistigen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner eigenen Konstitution und ist deshalb, wie auch schon Durkheim sah, »un élément essential« der Religion.“209 Daran anschließend beschreibt Gehlen die ersten Formen des auf einem Bild beruhenden Verhaltens zu sich und der Welt als ein im Sinne der Befreiung von den alltäglichen Zwecksetzungen „zweckfrei darstellendes Verhalten“210 , durch das im rituellen Handlungsvollzug das eigene Sein als handelndes Wesen in einem prägnanten Handlungsvollzug als „Darstellung in vivo“211 symbolisiert wird.212 Gehlens Annäherung an die erste Kulturschwelle setzt dann damit an, dass der Mensch das eigene Selbst nicht mehr alleine im tatsächlichen Handlungsvollzug symbolisiert, sondern sein Verhalten im Zwischenspiel von unbestimmter Verpflichtung und verpflichtendem Symbol an den Umgang mit zufällig entstandenen, prägnanten und damit in dem bereits erwähnten Sinne das Lustgefühl steigernden, schönen Artefakten knüpft: „Das absichtslos, beherrschte Gebilde hat plötzlich Appellqualität, und der Automatismus der unbestimmten Verpflichtung muß einspringen.“213 In diesem Sinne wird das sich zunächst nur unmittelbar durch den tatsächlichen Vollzug konstituierende Selbstverhältnis des Menschen dadurch in den Horizont eines gewohnheitsmäßig vollzogenen Ritus gestellt, dass der Handlungsvollzug durch ein überdauerndes Bild von seiner symbolisierenden Auf208 209 210 211 212
213
Vgl. ebd., S. 56. Ebd., S. 472. US, S. 143. Ebd., S. 167. Dabei lassen sich in dieser frühen Form des durch ein Symbol hergestellten Selbstverhältnisses die drei grundlegenden Aspekte der rituellen Konstitution von Selbstbewusstsein nachweisen, wie etwa Veit Steinkamp hervorhebt: „Es sind insbesondere drei Thesen, die Gehlen in Zusammenhang mit dem rituell darstellenden Verhalten aufstellt. Erstens stabilisiert der darstellende Ritus die sozialen Beziehungen, zweitens kommt es durch seinen Vollzug zu einer Herausbildung und Steigerung des Selbstbewußtseins, und drittens entwickelt sich durch und mit ihm die Symbolfähigkeit des Menschen“ (Veit Steinkamp, Mensch und Technik bei Arnold Gehlen. Zur Kritik der anthropologischen Technikbegründung, Köln 1994, S. 116). US, S. 170f.
227
gabe entlastet und gleichzeitig durch eben diese Darstellung auf Dauer festgestellt wird. Mithin ist dieses Verhältnis von Handlung und Bild eine im Sinne der Kategorie der Entlastung verlaufende Distanzierung vom unmittelbaren Handlungsvollzug durch das Symbol: „Es gibt Grund anzunehmen, daß die mimische Darstellung »in vivo«, in Form des nachahmenden Verhaltens, ursprünglich ist und daß sie der Entwicklung objektiver Darstellungsmittel, also der Gravierung, Malerei und Plastik vorausging [...] So gesehen wäre dann die gegenständliche Darstellung eines Tieres seine Ablösung vom mimischen Ritus, eine Entlastung dieses Ritus von sich selbst und seinem Vollzug.“214 Hiervon ausgehend zeichnet Gehlen ein, wie auch Patrick Wöhrle bemerkt, wiederum in der Nachfolge Durkheims stehendes Modell des „sakralen Charakter[s]“215 der institutionell vermittelten moralischen Pflicht auf, nach dem sich das Aufkommen und die Funktion des Totemismus216 bzw. Tierkults wie folgt beschreiben lässt: Die verobjektivierende Distanznahme, die zuerst einzig und alleine im unmittelbaren Vollzug des darstellenden Verhaltens im Ritus möglich war, wird dadurch stabilisiert, dass sich der Mensch indirekt von einem als absoluten Selbstwert aufgefassten Gegenstand her vollzieht; nämlich dem Totemtier, das dem kollektiven Bewusstsein durch Taburegeln bestimmte Verhaltensweisen zur Pflicht werden lässt. Tatsächlich geht Gehlen davon aus, dass der Mensch an diesem Punkt seiner Entwicklung erst darin wirklich humanisiert wird, dass er zu Selbstbewusstsein im Modus einer solchen indirekten Identifikation in der Rollenübernahme des außer ihm liegenden „Nicht-ich“217 im totemistischen Ritus findet. Individualität entsteht hier, indem sich der Einzelne indirekt durch die Anforderungen des Totemtiers als ein Teil der Gemeinschaft fühlt. In diesem Stadium der Menschheitsentwicklung identifiziert er sich im emphatischen Sinne mit diesem Tier – sein Bewusstsein ist in diesem Rollentausch davon durchdrungen, dass er dieses Tier ist: „An dieser Stelle ist das Sichidentifizieren, d.h. das darstellende Sichverwandeln in ein Tier sehr wörtlich zu nehmen. Ich haben oben schon mehrfach auf die große anthropologische Bedeutung des Fundes von Mead hingewiesen, daß ein »Sichversetzen in den anderen«, die »Nachahmung«, wenn man will, das Selbstbewußtsein freilegt. Dann aber bedeutet der To-
214 215 216 217
US, S. 140. Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie, a.a.O., S. 111. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main und Leipzig, insb. S. 608-653; vgl. Patrick Wöhrle, Metamorphosen (...), a.a.O., S. 274. GA 3.1, S. 470.
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temismus zunächst einmal die primitivste, noch indirekte Realisierung des Selbstbewußtseins.“218 Wohlgemerkt dürfen wir diese frühe Stufe menschlichen Selbstbewusstseins gerade nicht als größtmögliche Individuation des einzelnen Subjekts denken, dessen Bewusstseinsstruktur erst dem Verlust an Identifikation mit gemeinschaftlichen Führungsideen in der Folge des letzten Epochenschritts geschuldet ist. Demgegenüber nimmt sich das »Ich« in der Identifikation mit dem Totemtier im emphatischen Sinne vom »Wir« der Gemeinschaft her wahr und orientiert sich an der von diesem Glauben durchdrungenen Außenwelt: „Aber fragen wir nun: Was muß eine Theorie des Totemismus mitsetzen? Natürlich die kardinalen Punkte: daß es Gruppen gibt, die sich jeweils mit bestimmten Tieren »identifizieren« und deren Namen tragen, daß das Totemtier als Ahn der Gruppe gilt, und daß für diese Gruppe die Tötung bzw. das Essen des Totemtieres verboten zu sein pflegt. Ferner muß die Theorie das hocharchaische Alter des Totemismus einrechnen, also eine prähistorische Bewußtseinsstruktur, von der wir mindestens eins mit hoher Wahrscheinlichkeit aussagen können, daß nämlich dieses Bewußtsein überwiegend an der Außenwelt orientiert, d.h. im geringen Grade reflexives Selbstbewußtsein war.“219 Die Auswirkungen des Totemismus bestehen wie bei allen Formen des rituellen Verhaltens also nicht alleine darin, dass der Ritus zu einer dauerhaften Institution wird. Im Sinne einer die gesamte Kultur betreffenden Führungsidee gehen mit den totemistischen Tabuvorschriften bestimmte auf die Gemeinschaft bezogene Verpflichtungen einher, die in dieser frühen Stufe der Kulturentwicklung als fundamental für die Moralisierung des Menschen verstanden werden müssen. Diesbezüglich unterstreicht Gehlen nicht nur die komplexen sexuellen Reglementierungen innerhalb totemistischer Tabusysteme, sondern hebt vor allem das Überkommen der Anthropophagie als Leistung dieser frühen Kulturen gegenüber den primitiveren Formen menschlichen Lebens hervor.220 In dieser Abhängigkeit von Selbstbewusstsein und Identifikation mit dem Totemtier hemmt der Mensch natürlich auch den direkten Umgang mit dem hier zur Darstellung gebrachten Gegenstand. Indem das Totemtier mit den Tabuvorschriften behaftet ist, wird der Menschen von einem bloß instrumentellen Umgang mit demselben221 abgehalten. Anders gesprochen: Er konsumiert es nicht in einem direkten Zugriff nach den Maßgaben eines an seinem Hunger gemessenen Daseinswerts, sondern behandelt es dahingehend als 218 219 220 221
Ebd., S. 469. Ebd. Vgl. ebd., S. 478. Vgl. US, S. 16.
229
einen Selbstwert im Dasein, dass er es nicht verzehrt, sondern im sakralen Umgang hegt.222 Indem mit dem Tabusystem einhergeht, dass bestimmte Pflanzen und Tiere nicht direkt als vorgefundene Nahrung zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse benutzt wurden, sondern mithilfe eines durch Hemmung formierten Handelns mit ihnen umgegangen werden konnte, können wir die Institutionen der Viehzucht und des Ackerbaus als Folgen dieser außeralltäglichen Selbstdisziplinierung verstehen:223 „Diese Disziplinierung kann ursprünglich nur die Kraft eines Tabus geleistet haben, ein Berührungsverbot, das mit der Hegung der Totempflanze zusammenhing, und ebenso ist die »Reindarstellung«, die exklusive Hegung einer Pflanze, aus deren Nähe man alles nicht Dazugehörige fernhielt, nicht anders denkbar, als aus magischen Quellen entsprungen.“224 Hiermit wir nicht nur die oben angeführte Herleitung des zweckdienlichen Umgangs mit Flora und Fauna nachvollziehbar, die sich nicht auf die ZweckMittel-Relation des instrumentellen Bewusstseins stützt; aus dieser Entwicklung leitet sich auch der Übergang von der totemistischen Weltanschauung zur Welt des Mythos ab. 3.5.2 Die Welt des Mythos In diesem durch den Totemismus selbst bedingten Wandel wird schließlich das Verhältnis von religiöser Selbst- und Weltdeutung zur bestehenden Lebenswelt problematisch, womit die bestehende Selbstdeutung auf Grund dieser technischen Errungenschaften nicht mehr haltbar ist: Weil die neue Technik der Agrargesellschaften mit neuen Gewohnheiten im alltäglichen Umgang mit der Welt einhergeht, ist die Rückwärts-Stabilisierung durch den Totemismus obsolet. Vielmehr ist die diesen Gewohnheiten entsprechende Form des religiösen Selbstverständnisses diejenige des Mythos. Gehlen 222
223 224
An dieser Stelle ist noch einmal auf die oben dargelegte Unterscheidung zwischen dem ausbeutenden Charakter des instrumentellen Bewusstseins und damit auf die Verbindung hinzuweisen, die Gehlen zwischen der vortotemistischen Kultur und der Gegenwart herstellt: Die Primitivität der Kultur der Jäger und Sammler besteht darin, das Vorgefundene einfach zu konsumieren – womit sie nicht nur den Ansprüchen des Lebens nicht gerecht wurde, sondern auch unter gegebenen Umständen die Anthropophagie zur Sicherstellung des Nahrungsbedarfs nicht zu vermeiden war (vgl. GA 3.1, S. 474). In der modernen Kultur sind wir demgegenüber wohl nicht auf Menschenfleisch angewiesen; Gehlen beschreibt allerdings in einem späten Aufsatz einen Rückfall „in eine Barbarisierung höherer Ordnung“ (Arnold Gehlen, Über Barbarei (1977), in: GA 6, S. 566-576, hier: S. 568). Diese besteht nach seinem Dafürhalten darin, dass ausnahmslos alles unter den Maßgaben instrumenteller Zweckdienlichkeit verwertet wird. Vgl. Karlheinz Weissmann, a.a.O., S. 52. GA 3.1, S. 475.
230
formuliert diesen Übergang so, dass mit den im Mythos thematisierten, aus dem Totemismus hervorgegangenen sekundären Zweckmäßigkeiten die „Lebensprämie“225 der archaischen Kulte „rückwärts stabilisiert“226 wurden. Der Mythos legt nicht mehr nur das durch Taburegeln bestimmte Verhältnis zu einer durch das Totemtier symbolisierten Gottheit aus, sondern begründet alle anderen schon als mittelbare Folge des totemistischen Weltbildes zu Institutionen kristallisierten Gewohnheiten im Umgang mit der Natur: „Sein generelles Thema ist die »Gründung« der Institutionen durch ebendieselben Wesenheiten, die im Ritus verkörpert werden, die aber nun nicht mehr die unmittelbare Daseinsnot und Daseinserfüllung regieren, sondern eine neue, geordnete Fülle.“227 Mit Blick auf die in dieser Entwicklung enthaltene, der List des ideativen Bewusstseins entgegenlaufende Distanzierung im Bewusstsein vollzieht sich der Übergang vom Totemismus zum Mythos in der Weise, wie wir es bereits im Übergang vom Handeln zum Ersatz-Handeln des einzelnen handelnden Menschen kennen gelernt haben. So überschreitet der Mensch als Gattungswesen die erste Kulturschwelle vom Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern erst vollends in dem Moment, in dem der wesentlich durch das Sprechen vermittelte Mythos den totemistischen Ritus ablöst. Die hierin vollzogene Distanzierung zur ganzkörperlichen Bewegung im totemistischen Ritus ist als ein „Sichentlasten des Ritus vom vollen Eigenvollzug in das Sagbare“228 ganz im Sinne des Sprechens als Tätigkeit und damit nicht schon als Übergang in den Bereich der Reflexion zu verstehen. 229 Wenn wir oben also bereits gesehen haben, dass mit der Sprache alles in der Welt in den Horizont des „Daseinsgefühls“230 des Menschen rückt, so lässt sich die Kultur des sprechenden Mythos als ein Intimverhältnis höchstmöglichen Grades verstehen, weil buchstäblich alles in der Welt mit ihm spricht.
225 226 227 228 229
230
US, S. 255. Ebd. Ebd., S. 252. Ebd., S. 258. Aus dem so kenntlich gemachten Verhältnis von Sprache und Mythos erschließt sich, warum Gehlen die Sprache selbst nicht ob ihrer Verselbstständigung gegenüber dem Einzelnen als eine Institution bespricht. Wohl geht das Sprachsymbol selbst mit bestimmten normativen Ansprüchen einher – „von der Sprache aus kommt man in das Gebiet normierter Sitten und Verhaltensformen“ (US, S. 47). Allerdings ist sie – wie bereits bemerkt – nur die Basis dessen und muss, wie Johannes Weiß betont, als eine „Hilfsinstitution“ (Johannes Weiß, a.a.O., S. 166), selbst noch in eine Institution eingebunden werden. Die von mir betonte Nähe zum Leben kann sich nicht in der Sprache für sich genommen einstellen, da sie dergestalt eine „mögliches Vehikel verderblicher Emanzipiation“ (ebd., S. 165), d.h. ohne eine solche Einbindung das Organ des reflexiven Weltverhältnisses ist. GA 3.1, S. 235.
231
Im gesprochenen Wort kommt die Welt selbst mit den eigenen Ansprüchen in einem selbst erschaffenen, sinnlich erfahrbaren Medium zur Geltung: „In dieser Zwischenwelt der Sprache lebt der Mythos, er erzählt von endgültigen Urzeithandlungen der Götter und Dämonen, und dabei wendet er sich nicht an einen bestimmten Einzelnen, wie die Mitteilung, eine Bitte, ein Befehl, es ist auch kein Einzelner mehr, der spricht, sondern er ist die »Erzählung an sich«, die Namenlosen an Namenlose weitergegeben wird.“231 In diesem Sinne tritt der Mythos in einer ritualisierten Form des Erzählens auf, die als eine erfahrbare stereotypisierte Erzählung gerade nicht als eine mit bestimmten in der Vergangenheit liegenden Ereignissen befassten Geschichtsschreibung missverstanden werden darf. Als der alles entscheidende Unterschied zwischen Mythos und der erst viel später aufkommenden Historie ist vielmehr festzuhalten, dass es nicht um das Aufarbeiten des in einer linearen Zeitleiste zu verortenden Vergangenen geht, sondern um die Auslegung immer gegenwärtiger Weltzusammenhänge. Auch für Gehlen gilt das von Birgit Recki mit Blick auf Ernst Cassirers Begriff des Mythos hervorgehobene Unterscheidungsmerkmal zum historischen Bewusstsein: Der Mythos handelt „von dem, was niemals war, sondern immer ist.“232 In seinen Mythen, so Gehlen, behandelt der Mensch die aus dem Totemismus hervorgegangenen Institutionen des Ackerbaus und der Tierhaltung, der Fortpflanzung, der Initiation und dem Tod, sowie alle anderen sein Leben bestimmenden Sachverhalte als immer schon bestehende Selbstwerte im Dasein, die von sich aus das ihnen angemessene Verhalten fordern. Das ideative Bewusstsein macht sich in der Fortentwicklung dessen weiterhin darin bemerkbar, dass der Mythos eine Stufe der Komplexität erreicht, die wiederum nur durch eine bildliche Darstellung festgehalten werden kann. So lässt sich die Funktion des Bildes für den Mythos in der Weise verstehen, dass dessen Dauerhaftigkeit ein jenseits des flüchtigen Wortes stehendes Überdauern der an den Mythos gebundenen Gewohnheiten sicherstellt: „Das in Stein geschnittene, in Stein geformte mythische Bild muß in seiner sichtbaren Unendlichkeit der Dauer und in seiner überwältigenden Indifferenz gegen das Zur-Kenntnis-genommen-werden für das archaische Bewußtsein von höchster Bedeutung gewesen sein. Daß also der Mythos sich in Ägypten, Babylonien usw. als Bild oder als Schriftdenkmal niederschlug, hat nichts Überraschendes, denn damit wurde die im Mythos angelegte Tendenz zur Endgültigkeit, zur Stereotypisierung gesteigert.“233
231 232 233
US, S. 266. Birgit Recki, Kultur als Praxis, Berlin 2004, S. 87. US, S. 266.
232
Diese Einheit von Mythos und Bild bildet das Rückrad der Entlastung im Leben und damit jener Kulturepoche, die wie im Anschluss an Vico als die von den Gewissheiten einer phantasieentsprungenen Metaphysik gestützte Phase eines durch das Tätigsein bestimmten Lebens verstehen können. Im Stande dessen sind alle wesentlichen Bereiche menschlichen Sozialverhaltens durch den Mythos reguliert, der den Menschen in ein emotional gefärbtes Verhältnis zu den Weltbeständen versetzt. In dieser sich durch alle Lebensbereiche durchwirkenden mythischen Erzählung sieht Gehlen jenes im Leben selbst angelegte Sinnmoment verwirklicht, das sich der instrumentellen Rationalität verschließt. So ist der sich hinter dem Rücken des menschlichen Bewusstseins vollziehende Übergang vom Totemismus zum mythischen Bewusstsein der in der biologischen Konstitution des Menschen angelegten Tendenz geschuldet, sich die in der lebendigen Natur angelegten Zweckmäßigkeiten nutzbar zu machen234, womit in deren Objektivierung im Mythos nicht weniger geschieht, als dass „Natur und Kultur zusammenfallen“235. 3.5.3 Entlastung im Leben und mythisches Bewusstsein Mit Blick auf die in diesem Sinne aus dem Totemismus hervorgegangene Bewusstseinsstruktur können wir festhalten, dass die Entlastung im Leben durch den Mythos mit Ernst Cassirer gesprochen als ein Leben im mythischen Bewusstsein verstanden werden muss. Tatsächlich bietet sich ein Vergleich zwischen den hiermit verbundenen Denkfiguren an, da sehr ähnliche Beschreibungen des Phänomens vorliegen, die ob ihrer systematischen Voraussetzungen mit ganz unterschiedlichen Bewertungen einhergehen. Eine solche Gegenüberstellung findet sich auch bei Jürgen Habermas236, der in seiner Kritik an Gehlen jedoch einzig auf den nicht durch die Vernunft geleiteten, verpflichtenden Charakter der Institutionen abhebt.237 Wichtig erscheint mir demgegenüber herauszustellen, dass sich die Differenz zwischen Cassirer und Gehlen an den unterschiedlichen Bestimmungen des Lebens festmachen lässt.
234 235 236 237
Ebd., S. 295. Ebd., S. 293. Vgl. Jürgen Habermas, Symbolischer Ausdruck (...), a.a.O., S. 63ff. Habermas spricht hier noch davon, dass sich die rituellen und symbolischen Ausdrucksformen in der modernen Gesellschaft vor ihrer Realisierung dem „Säurebad eines erbarmungslosen öffentlichen Diskurses“ (Jürgen Habermas, Symbolischer Ausdruck (...), a.a.O., S. 82) zu stellen haben, damit sie noch „des letzten Scheins von Naturwüchsigkeit“ (ebd.) verlieren. Ohne näher darauf einzugehen, ist an dieser Stelle auf seine spätere Anerkennung der Bedeutung des Ritus für das Gemeinschaftsgefühl hinzuweisen. Vgl. Jürgen Habermas, Eine Hypothese zum gattesgeschichtlichen Sinn des Ritus, in: ders. Nachmetaphysisches Denken II, Berlin 2012, S. 77ff. [insb. S. 95].
233
Wenden wir uns der Theorie Cassirers zu, die mit Gehlen darin übereinstimmt, dass sich das mythische Bewusstsein keineswegs im Modus des rationalen Verstandes bewegt.238 Das Substrat des Mythos239 ist nicht die Ratio und damit der verstehende Intellekt; vielmehr appelliert die mythische Erzählung an das Gefühl des Menschen. Dabei müssen wir uns den durch den Mythos geprägten Weltzusammenhang so vorstellen, dass das mythische Bewusstsein nicht wie der rational-analytische Weltzugang von einem logisch systematisierbaren Ganzen ausgeht, sondern von kontigenten Phänomenen, die sich über jeweils bestimmte Mythen erschließen. Das mythische Bewusstsein ist in dieser Weise von nicht als eine Einheit zusammenhängenden, für sich alleine stehenden Ideen240 besetzt, die in den unterschiedlichen Mythen thematisch sind, indem diese alles in der Welt seinem Ursprung nach ausgelegen und hierin in einer ihm eigenen Weise emotional einfärben241. Diesbezüglich ist es Cassirer wichtig herauszustellen, dass diese Erzählungen wohl in keinem begrifflich nachvollziehbaren Zusammenhang zueinanderstehen, in sich selbst aber durchaus rational strukturiert sind. So verstanden ist das Chaos der nicht in einen sie verbindenden Zusammenhang zu bringenden, in den verschiedenen Mythen thematischen Vorstellungen und die durch das Tabusystem geforderten Verhaltensweisen, nicht aber deren innere Struktur irrational bzw. prälogisch zu nennen.242 Ungeachtet dieser auch von Gehlen attestierten, sich in ihrer Fortentwicklung steigernden inneren Rationalität der Mythen243 ist es dem mythischen Bewusstsein wesentlich, sich nicht über die eigene Leistung bewusst zu sein. Der Mensch bringt bestimmte Formen der Weltdeutung in seinen Mythen hervor, die ihm durchaus im Sinne einer sich hinter seinem Rücken vollziehenden Entwicklung nicht als Eigenschöpfungen bewusst sind, sondern als eine von ihm unabhängig bestehende Wirklichkeit erscheinen. Cassirer benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der „unbewusste[n] Fiktion“244 , um herauszustellen, dass es dem Menschen im mythischen Bewusstsein nicht transparent sein kann, dass er es selbst ist, der die Welt durch sein schöpferisches Tun in mythische Erzählungen kleidet. Dabei weist auch Cassirer auf das Moment der wirklichen Erfahrbarkeit des Bedeutsamen in „realer Identi-
238 239 240 241 242 243 244
Vgl. Birgit Recki, Kultur als Praxis, a.a.O., S. 92. Vgl. VdM, S. 129. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 127. Vgl. US, S. 258: „Der Mythos ist selber Logos, und was ihn tötet, ist nicht die steigende Rationalität, sondern das entstehende historische Bewußtsein.“ VdM, S. 119.
234
tät“245 mit dem Bedeutungsträger hin, die Gehlen mit dem Begriff der sich auf alle Lebensbereiche auswirkenden Transzendenz ins Diesseits fasst. So kennt das mythische Bewusstsein keine ideelle Welt hinter dem sinnlichen Surrogat, sondern identifiziert genauso das gesprochene Wort246 wie auch die bildliche Gestalt mythischer Wirklichkeit mit dessen Gehalt: „Das »Bild« stellt die Sache nicht dar – es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. Man kann es demgemäß geradezu als ein Kennzeichen des mythischen Denkens bezeichnen, daß ihm die Kategorie des »Ideellen« fehlt und daß es daher, wo immer ihm ein rein Bedeutungsmäßiges entgegentritt, dieses Bedeutungsmäßige selbst, um es überhaupt zu fassen, in ein Dingliches, in ein Seinsartiges umsetzen muß.“ 247 Die in den Mythos gehüllte Welt interpretiert Cassirer hiernach genauso wie auch Gehlen im Sinne einer in sich nicht reflektierbaren Bindung des Bewusstseins an das Handeln248. So entfaltet der Mythos seine Kraft in den Medien der Sprache und bildlicher Darstellungen und ist dabei seinem Inhalte nach wesentlich als in sich nicht reflektierte Auslegung menschlichen Handelns zu verstehen: „Wir müssen das, was am Mythos der theoretischen Vorstellungswelt angehört, was an ihm bloßer Bericht oder geglaubte Erzählung ist, als eine mittelbare Deutung desjenigen verstehen, was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist.“249 Vor diesem Hintergrund eines denkbar engmaschigen Eingewobenseins der realen Geltung mythischer Bedeutungsträger in das Tätigsein des Menschen stimmt Cassirer weiterhin mit Gehlen darin überein, dass sich das mythische Bewusstsein nicht in propositionales Wissen übersetzen lässt: einerseits, weil das mythische Bewusstsein konstitutiv in den Vollzug bestimmter Handlungen involviert ist und andererseits, weil dieses Bewusstsein so weit durch dessen Geltung beeindruckt ist, dass es fraglos an die Wirklichkeit des Mythos glaubt: „Ohne den Glauben an die Wirklichkeit seines Gegenstandes würde der Mythos seine Grundlage verlieren.“250 In diesem Sinne ist es auch für 245 246
247 248 249 250
Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken, in: ECW 12, Hamburg 2002, S. 47. Vgl. Ernst Cassirer, Sprache und Mythos, in: ECW 16, Hamburg 2003, S. 229: „Daß Name und Wesen in einem innerlich notwendigen Verhältnis zueinander stehen, daß der Name das Wesen nicht nur bezeichnet, sondern daß er das Wesen selbst ist und daß die Kraft des Wesens in ihm beschlossen liegt: dies gehört zu den Grundvoraussetzungen der mythischen Anschauung selbst.“ ECW 12, S. 47. Vgl. VdM, S. 126. ECW 12, S. 47. VdM, S. 121.
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Cassirer eben nichts anderes als dieser dem reflektierenden Bewusstsein abgehende emotional verankerte Glaube an die Wirklichkeit der Mythen, durch die sich der Mensch als Mitglied einer Gemeinschaft des Lebendigen eingebettet fühlt: „Für das mythische und religiöse Empfinden wird die Natur zu einer einzigen großen Gesellschaft, der Gesellschaft des Lebens. Der Mensch hat in dieser Gesellschaft keine Vorrangstellung. Er ist ein Teil von ihr, und er steht in keiner Hinsicht höher als irgendein anderes Glied.“251 Die Welt des mythischen Bewusstseins ist so verstanden durch das in den Mythen zur Darstellung gebrachte Drama widerstreitender Kräfte des Lebens bestimmt, in die der Mensch eingebettet ist und mit denen er in der durch das Tabusystem geregelten Weise umgeht. Betrachten wir diese hier in aller Kürze wiedergegebene Analyse des mythischen Bewusstseins bei Cassirer, dann sind die grundlegenden Übereinstimmungen zu dem Konzept der Entlastung durch den Mythos offenkundig. Der alles entscheidende Unterschied zu Gehlen besteht allerdings darin, dass Cassirers Untersuchungen ausschließlich von den Leistungen des menschlichen Bewusstseins ausgehen. Die dem mythischen Bewusstsein des archaischen Menschen252 eigene Vorstellung von der Nähe zum Leben ist demnach wie alles in der Welt des Menschen das Produkt seines in sich unteilbaren Geistes, der sich den sinnlich wahrnehmbaren Tatbeständen aus ganz unterschiedlichen Modi der Symbolisierung von erfahrbaren Weltgehalten – symbolischen Formen253 – nähert: „Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird der Mythos, wird die Kunst, werden die Sprache und die Erkenntnis zu Symbolen: nicht in dem Sinne, daß sie ein vorhandenes Wirkliches in der Form des Bildes, der hindeutenden und ausdeutenden Allegorie bezeichnen, sondern in dem Sinne, daß jede von ihnen eine eigene Welt des Sinnes erschafft und aus sich hervorgehen lässt.“254 Hiermit gilt auch für das mythische Bewusstsein, dass es sich um eine aus transzendentalphilosophischer Perspektive verstehbare Form der „Selbstent251 252
253
254
Ebd., S. 132. Da Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen davon ausgeht, dass sich mythisches Bewusstsein auch in der Gegenwart nachweisen lässt, ist an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es hier um das ungebrochene mythische Bewusstsein des archaischen Menschen geht. Vgl. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ECW 16, S. 79: „Unter einer »symbolischen Form« soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“ ECW 16, S. 233.
236
faltung des Geistes“255 handelt, das keineswegs in einem Verhältnis zu einer ihm substanziell gegenüber gestellten Wirklichkeit – wie etwa derjenigen der Zweckmäßigkeit eines an sich irrationalen Lebensprozesses256 – gedacht werden darf: „Die Frage, was das Seiende an sich, außerhalb dieser Formen der Sichtbarkeit und der Sichtbarmachung sein und wie es beschaffen sein möge: diese Frage muß jetzt verstummen.“257 Indem diese Betrachtung nur im Stande der sich von den eigenen Produkten distanzierenden Reflexion möglich ist, kann und muss Cassirer schließlich bei aller Betonung der die Kultur fundierenden Schöpfungen des Mythos auf die tiefe Unfreiheit eines ungebrochen mythischen Bewusstseins hinweisen. Diese Unfreiheit resultiert daraus, dass sich der Mensch nicht selbst als Schöpfer dieser Weltgehalte begreift. Hier lebt der Mensch in einer Distanzlosigkeit zu den eigenen Produkten, aus der heraus es ihm nicht gelingt, selbstständig und frei ein positiv formuliertes Ideal258 zu entwickeln, an dem er sich im Denken orientierend in seinem Handeln bestimmen kann. So ist die Weltorientierung des archaischen Menschen rein negativ durch die an sein Gefühl appellierenden Verbote des durch seine Mythen vermittelten Tabusystems bestimmt, denen gegenüber er sich nicht anders verhalten kann, denn es als eine unhintergehbare, sein Handeln bestimmende Wirklichkeit hinzunehmen. Cassirer beschreibt das kulturgeschichtliche Entwicklungsstadium des mythischen Bewusstseins daher auch nicht wie Gehlen als Freiheit im Sinne einer Entlastung im Leben, sondern trotz der emotionalen Geborgenheit des Menschen in der Welt als eine fortschreitende Belastung. Die normativen Ansprüche des Menschen haben zwar ihren Ursprung im mythischen Weltverhältnis; er muss sich hiervon jedoch emanzipieren, um nicht unter der 255 256
257 258
Ebd. Diesbezüglich ist Cassirers Auseinandersetzung mit der Entgegensetzung von Leben und Erkennen bei Bergson in der Einleitung des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen aufschlussreich; vgl. ECW 13, S. 44f.: „Bergsons Metaphysik geht von den reinen Phänomenen des Lebens aus, das nur in der Emanzipation von allen Formen des Wissens zu ergreifen sei – aber sie wäre nicht Metaphysik, sie wäre nicht philosophische Erkenntnis, wenn sie uns nicht zugleich ein »Wissen vom Leben« verspräche. Und doch fehlt, schärfer betrachtet, seiner Philosophie, die sich rein in der intuitiven Schau gründen will, eben das Moment, das erst die Möglichkeit einer derartigen Schau verständlich machen könnte. Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin in sich selbst verbleibt [...] Die Welt des Lebens von der der Form schlechthin anzulösen und beide einander entgegensetzen, heißt nichts anderes als seine »Wirklichkeit« von seiner »Sichtigkeit« trennen – aber sollte nicht ebendiese Trennung selbst in die Klasse jener »künstlichen« Abstraktionen gehören, gegen welche sich Bergsons Metaphysik schon in ihrem ersten Ansatz gewandt hatte?“ Vgl. zu der hier in aller Kürze wiedergegebenen Stellung Cassirers zur Problematik der Lebensphilosophie Christian Möckel, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, Hamburg 2005. ECW 16, S. 233f. Vgl. VdM, S. 168.
237
„unerträglichen Last des Tabusystems“259 zu ersticken. Damit der Mensch nicht unter der Bürde der unreflektierten, selbst auferlegten Zwänge des Mythos zerbricht, bedarf es jedoch der Befreiung durch eine verobjektivierende Distanzierung zu diesem Zeichensystem260, das damit zwar nicht vollends an normativer Kraft, jedoch an unmittelbarer Macht über das Individuum verliert. Den ersten Schritt in diese Richtung zu tun ist das Verdienst der Religion, die deshalb eine höhere Stufe gegenüber dem mythischen Bewusstsein darstellt, weil sie ihn in eine zunehmende Reflexionsdistanz261 gegenüber den eigenen Schöpfungen zu bringen vermag, indem sie zwischen Bedeutung und Bedeutungsträger zu differenzieren weiß: „Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: Indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben.“262 Cassirer verbindet diese Aussage mit der Vorstellung, dass das mythische Bewusstsein in seinem Ganzheitsanspruch der Bewusstwerdung des Menschen in der Wissenschaft Platz machen soll. Für diesen normativen Blick auf die Kulturentwicklung ist die eigene Perspektive Evidenz genug: Weil sich der Mensch – nicht zuletzt in der Gestalt des Kulturphilosophen – reflexiv zu den eigenen Kulturschöpfungen verhalten kann, ist es ihm auch aufgegeben, sich im Prozess der Selbstkultivierung über sich selbst aufzuklären und hierin ein selbstbestimmtes und in einem aufgeklärten Sinne moralisches Leben zu führen. Mit dem von Birgit Recki bei Cassirer herausgearbeiteten Begriff der Kultur als der sich in seinen Schöpfungen entfaltenden Praxis des Menschen lässt sich daher sagen: „Wo Mythos war, soll Wissenschaft werden.“263 Gleichzeit sieht auch Cassirer den hiermit einhergehenden Verzicht auf die gefühlte Nähe zum Leben, der sich etwa darin bemerkbar macht, dass sich die 259 260
261 262 263
Ebd., S. 170. Im Gegensatz zu Gehlen ist Cassirers Freiheitsbegriff einzig mit der Distanznahme im Bewusstsein verknüpft. Vgl. Birgit Recki, Cassirer, Stuttgart 2013, S. 75: „Entscheidend für das Verständnis von Cassirers nirgendwo definiertem Freiheitsbegriff ist das, was man DistanzApriori nennen kann: Er betont an Symbolen aller Art, dass der Mensch in der (produktiven wie rezeptiven) Verobjektivierung seine Eindrücke auf Abstand bringt. Im Umgang mit den – gleichermaßen epistemologisch wie poietologisch verstandenen – »Werken« ist es dieser Distanzgewinn, der Freiheit verschafft: In der Objektdistanzierung kommt es gleichursprünglich zu einem distanzierten Selbstverhältnis; erst mit dem Objekt konstituiert sich das Subjekt. Und in dieser Doppelrelation der Abstandnahme eröffnet sich mit dem Freiraum der Verfügung der Spielraum der Reflexion und des Handelns. Durch jeden Akt der Symbolisierung gewinnt der Mensch in der distanzierenden Verobjektivierung einen Spielraum der Verfügung, in dem Cassirer den Ursprung der Freiheit erkennt.“ Vgl. Birgit Recki, Kultur als Praxis, a.a.O., S. 98. ECW 12, S. 280. Birgit Recki, Kultur als Praxis, a.a.O., S. 86.
238
Sprache in diesem Prozess selbst „zum bloßen Begriffszeichen“264 und „Vehikel des Denkens“265 ausbildet und damit die „Fülle der unmittelbaren Anschauung mehr und mehr“266 verliert, bis schließlich „nichts anderes als das bloße Gerippe“267 dessen bleibt. Wie wir es schon bei Freud kennen gelernt haben, ist also auch Cassirer durchaus bewusst, dass der Fortschritt nur um einen zu zahlenden Preis zu haben ist. Dabei kann er, indem er den Menschen von seinen unterschiedlichen Bewusstseinsleistungen und damit verbunden den auch immer bestehenden Ansprüchen und Leistungen her versteht, auf die Funktion der Kunst – hier: der Lyrik Hölderlins – verweisen, dem Bedürfnis nachzukommen, an der „Fülle des Lebens“268 teilzuhaben. Dass es sich hierbei um mehr als bloße Kompensation des Verlorengegangenen handelt, wird deutlich, indem er diesbezüglich die darin bestehende „Befreiung“269 herausstellt, dass es sich hier um „das ästhetische befreite Leben“270 handelt, das wohl noch mit den Elementen mythischen Bewusstseins operiert, jedoch nicht mehr den Zwängen seiner ungebrochenen Geltung unterworfen ist: „Der Geist lebt und waltet im Wort der Sprache wie im mythischen Bilde, ohne von beiden beherrscht zu werden [...] Diese Befreiung vollzieht sich nicht dadurch, daß der Geist die sinnliche Hülle des Wortes und des Bildes wegwirft, sondern dadurch, daß er beide als Organe gebraucht und daß er sie damit als das, was sie ihrem tiefsten Grunde nach sind, als seine eigenen Selbstoffenbarungen versteht.“271 Gehlen hingegen, dessen Konzeption der Entlastung durch die bildende Kunst durchaus vor dem Hintergrund der Kompensation des verlustig gegangenen mythischen Weltzusammenhangs verstanden werden kann272 , legt keine dementsprechenden Überlegungen vor. Vielmehr kann er aufgrund der substanziellen Bestimmung des Lebens im Verlust des mythischen Bewusstseins ein so nicht wieder einholbares Fremdwerden des Menschen gegenüber der Wirklichkeit dieses in und außer ihm waltenden irrationalen Prozesses sehen. Wo Mythos war, ist über den Zwischenschritt der monotheistischen Religion schließlich Wissenschaft geworden und ein der Sympathie des Ganzen und 264 265 266 267
268 269 270 271 272
ECW 16, S. 310. Ebd.; vgl. Birgit Recki, Cassirer, Stuttgart 2013, S. 80f. ECW 16, S. 311. Ebd. Ähnliche Überlegungen finden sich in Der Mensch, indem Gehlen unter der Überschrift Höhere Sprachentwicklung (GA 3.1, S. 320ff.) die fortschreitenden Funktionalisierung der Sprache beschreibt, an deren Ende ein „verarmter Schematismus einsetzt“ (GA 3.1, S. 332). ECW 16, S. 311. Ebd. Ebd.. Ebd. Gehlens Bestimmung der Entlastungsfunktion der modernen Kunst wird uns an späterer Stelle interessieren (vgl. Abschnitt 3.8.2).
239
damit der Liebe des – seines – Lebens verlustig gegangenes, auf sich selbst gestelltes Wesen hervorgegangen.
3.6 Leben als Entlastung Kommen wir zurück auf Gehlens Theorie des sich indirekt einstellenden Überschreitens der Kulturschwellen, dann lässt sich im epochalen Übergang von Totemismus zum Mythos noch kein Wechseln in der leitenden Verhaltensweise des Menschen feststellen. Die durch den Mythos bedingte Entlastung im Leben ist genauso durch das erfahrbare Bild vermittelt und damit vor dem Hintergrund der Transzendenzen ins Diesseits zu verstehen, wie dieses auch schon im Totemismus der Fall war. Diese Weltanschauung reicht nach seinem Dafürhalten von den mythisch geprägten einfachen Agrargesellschaften bis zu den Religionen der sichtbaren Götter, beispielsweise der ägyptischen oder babylonischen Hochkulturen. So verstanden ist auch der Übergang von den einfachen Naturreligionen zu den Religionen der Hochkultur noch keineswegs als fundamentale Bewusstseinsänderung im Sinne der drei anzunehmenden Kulturschwellen zu verstehen. Vielmehr vollzieht sich hiermit eine Veränderung innerhalb des durch den Mythos geprägten Bewusstseins, die auf die sich wandelnden Lebensumstände zurückzuführen ist: In der Folge der sich vergrößernden Gesellschaften und der Ausdehnung des Lebensraums, über die sich die Beziehungen der Menschen zueinander über die Grenzen der Blutsverbände hinaus erweitern, treten die abstrakten Gottheiten der Hochreligion mit ihren spezifischen Mythen hervor.273 In dieser Form bleibt der über den Ursprung der Religion im Mythos nachvollziehbare mythische Kern der Hochreligionen bis zum „Sprung zum Monotheismus“274 erhalten, den Gehlen sich jedoch nicht wie beim Entstehen des Mythos zutraut, positiv aus den Veränderungen der instrumentellen Daseinsbewältigung abzuleiten. Allerdings gibt er eine negative Bestimmung dieses Wandels, den er an der Zerstörung der Macht des Mythos durch das historische Bewusstsein275 festmacht, als dessen Katalysator die Schrift auf den Plan tritt. Wenn wir oben bereits gesehen haben, dass der Mythos „von dem, was niemals war, sondern immer ist“276 handelt, so ist es dem schriftlich festgehaltenen historischen Bewusstsein eigen, von dem zu berichten, was einmal war und nie wieder sein wird. Im Gegensatz zum Mythos also, der bedeutsame Geschehnisse nicht als solche festhält, sondern im mythischen Sprechen als 273 274 275 276
Vgl. US, S. 261ff. Ebd., S. 305. Vgl. ebd., S. 251f.; ebd., S. 268. Birgit Recki, Kultur als Praxis, a.a.O., S. 87.
240
einen Teil des ewig Seienden einflechtet277, geht mit dem historischen Bewusstsein einher, dass solche Geschehnisse als punktuelle Begebenheiten – Ereignisse in der Zeit – in die Kontinuität eines chronologischen Ablaufs gestellt werden. Mithin werden diese erst dadurch zu »Ereignissen«, dass sie mithilfe der Technik der Schrift als solche festgehalten werden. Angesichts der Bedeutung der Schrift für den kulturellen Fortschritt des Menschen und die möglichen Bezüge, die sich zwischen der Entlastung im sprechenden Handeln und dem demgegenüber möglichen Distanzgewinn durch den Text herstellen ließen, ist es geradezu erstaunlich, dass Gehlen die Schrift auf nur wenigen Seiten in Urmensch und Spätkultur verhandelt.278 Dabei ist es ihm wichtig, auf den profanen Ursprung der Schrift als Mittel des sich erweiternden Warenverkehrs279 zu verweisen. Hiervon ausgehend weist er darauf hin, dass die später entstehende schriftliche Überlieferung Epoche machender Ereignisse280 ein neues, sich vom mythischen Bewusstsein unterscheidendes Zeitbewusstsein entstehen lässt. Der Text handelt nicht mehr davon, was niemals war und immer ist. Der Unterschied zum Mythos liegt vielmehr in einer Perspektive auf Ereignisse, die diese schon in der Gegenwart als mögliche Vergangenheit betrachtet: „Dieses besteht, kurz gesagt, in der Fähigkeit, ein gegenwärtiges Ereignis mit den Augen künftiger Generationen zu sehen.“281 Sich selbst als ein nicht nur räumlich, sondern auch in den zeitlichen Abläufen nicht festgestelltes Wesen zu verstehen, ist hiernach keineswegs eine immer schon vorauszusetzende, konstitutiv zum Menschsein gehörende Disposition, sondern dem durch die Schrift vermittelten historischen Bewusstsein geschuldet, mit dessen Genese der „Verlust der mythischen »Urzeit«“282 einherging. Wenn mit dem Aufkommen der Historie also jene Distanzierung gegenüber zeitlichen Abläufen bedingt ist, die das moderne Bewusstsein bestimmt, zeichnet die monotheistische Religion für die Zerstörung der emotionalen Bindung an die Erfahrungswelt verantwortlich. So geht der Monotheismus damit einher, dass die seelischen Dispositionen, d.h. der durch Pflichten zu einem bestimmten Handeln formierte Wille, nicht mehr indirekt durch die Anforderungen erfahrbarer Transzendenzen ins Diesseits an den Menschen bestimmt sind. Vielmehr thematisiert er das menschliche Seelenleben in einem direkten Zugriff: In der monotheistischen Religion geht es wesentlich um die Willensbestimmung des Menschen als solche, d.h. um die festgestellte Ausrichtung der subjektiven Zwecksetzungen. Sie hat es in diesem Sinne 277 278 279 280 281 282
Vgl. US, S. 267. Vgl. ebd., S. 266ff. Vgl. ebd., S. 266. Vgl. ebd., S. 267 Ebd., S. 267. Ebd., S. 269.
241
damit zu tun, welche Ziele sich der einzelne Mensch dauerhaft setzen soll, d.h., in welcher Weise er seinen Willen formieren soll – und auf diese Weise damit, welchen Charakter der Mensch hervorbringen soll. In dieser objektivierenden Bezugnahme auf den eigenen Willen fußt der Monotheismus genauso wie auch die dem mythischen Bewusstsein vorangehende archaische Umkehr der Antriebsrichtung auf einer Form der Askese, aber in entgegengesetzter Art und Weise: Wo der Mensch in den archaischen Orgien und Räuschen noch durch die umlenkende Hemmung als nicht an bestimmte Zweckerfüllung gebundenes Ausleben seiner Antriebe in ein indirektes Verhältnis zu sich tritt, hat es der Monotheismus wesentlich mit der willentlich hemmenden Formierung des überschüssigen Antriebslebens zu tun: „dem durch Wort und Willen schaffenden Gott entspricht in der Seele des Glaubenden die Aufnahme dieses Wortes in den eigenen Willen.“283 Wenn wir das Leben im Mythos bzw. das mythische Bewusstsein als Entlastung im Leben verstehen können, dann lässt sich die durch die monotheistische Weltdeutung geprägte Lebensführung ob dieses Wissens ein Leben als Entlastung nennen. In der monotheistischen Religion weiß der Mensch um die Notwendigkeit der Charakterbildung als Selbstzucht und damit, dass er sich selbst in ethischer Hinsicht feststellen muss: „Die vormonotheistischen Religionen auf der Hochkulturstufe haben nicht den Gedanken gefaßt, den Gott, die eigene Seele und die Weltereignisse in einem Erlebnis zur Deckung zu bringen: dem ethischen.“ 284 Obwohl die Epoche der monotheistischen Religion mit der objektivierten Bewältigung des fundamentalen Problems menschlichen Daseins einhergeht, sich selbst zu etwas zu machen und darin ein nie wieder erreichtes moralisches Wertesystem285 entwickelt hat, zeichnen sich an ihrem Gegenstand und ihrer metaphysischen Konzeption bereits hier die Entlastungsgefahren ab, die das Bewusstsein der letzten Kulturepoche bedingen. So sind es nicht mehr die Anforderungen der erfahrbaren Weltgehalte, in die sich der Mensch durch sympathetisches Entgegenkommen der Dinge und Lebewesen beheimatet wiederfindet. Vielmehr sieht sich der Mensch einem dieses spezifischen Bedeutungshorizonts entbehrenden Weltganzen gegenübergestellt, in dem es 283
284 285
US, S. 305. Zu der Verbindung zwischen der Umkehr der Antriebsrichtung in den ekstatischen Ritualen archaischer Kulturen und den sich auf den Willen richtenden Anforderungen der monotheistischen Religion vgl. ebd., S. 304f.: „Die »Umkehrung der Antriebsrichtung« schließlich hat, obzwar zunächst unter den barbarischen Formen des Rausches und der Ekstase verdeckt, doch von Anfang an einen inneren Weg in sich vorgezeichnet gefunden, der sich um so klarer abhob, je mehr er die Richtung zur Askese einschlug, bis der aus den vorhergehenden Formen der Religion, wie wir glauben nicht ableitbare Sprung zum Monotheismus die Religion des Willens und damit ein Ziel des inneren Weges herausstelle, das mit rein inneren Mittel erreichbar war“. Ebd., S. 166. Vgl. StZ, S. 104.
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seinen Willen in der durch die Religion geforderten Weise auszurichten gilt. Begreifen wir das Leben im Mythos mit Cassirer und auch Gehlen als eine Einbettung des Menschen als ein Wesen inmitten der Gesellschaft des Lebens, so findet damit eine so gestaltete „»Entsozialisierung« der Natur“286 statt, dass der Mensch diese nicht mehr als seinesgleichen, sondern sich selbst als ein gegenüber der restlichen Natur erhöhtes Wesen sieht – und die Welt damit als einen seinem rationalen Zugriff fremd gegenübergestellten Ort empfindet. Die in dieser Weise mit dem Monotheismus einhergehende Zerstörung mythischemotionaler Bindungen verschärft sich dann mit der Entfremdung, die mit den Entlastungen des Bewusstseins durch die moderne Technik einhergeht: „Am Ende einer langen Geschichte der Kultur und des Geistes ist die Weltanschauung der »entente secréte«, die Metaphysik der einverstandenen und streitenden Lebensmächte, zerstört worden, und zwar durch den Monotheismus von der einen, den wissenschaftlich-technischen Mechanismus von der anderen Seite her, für den seinerseits der Monotheismus, die Natur entdämonisierend und entgötternd den Platz erst freigekämpft hatte.“287 Um zu verstehen, wie genau sich Gehlen diesen Zustand vorstellt, müssen wir gewissermaßen noch einmal neu ansetzen und uns seine Theorie der Technik als des in jeder Epoche der Kulturenwicklung vorhandenen Mittels der Bewältigung der mit der Disharmonie und der vergleichsweise mangelhaften körperlichen Konstitution des Menschen einhergehenden Problemlagen vergegenwärtigen.
3.7 Das technische Zeitalter Bevor wir uns der letzten, mit dem Überschreiten der absoluten Kulturschwelle anhebenden gegenwärtigen Epoche zuwenden, ist es unerlässlich, sich Gehlens Begriff der Technik vor Augen zu führen. Dabei ist es durchaus irreführend, diese letzte Epoche der Menschheitsgeschichte mit Gehlen als das »technische Zeitalter« zu bezeichnen – gerade so, als sei das menschliche Handeln und Bewusstsein erst heute durch seine Techniken bestimmt. Ganz im Gegenteil vertritt auch Gehlen einen Begriff der Technik, der, wie es das Theorem des Mängelwesens auch gar nicht anders zuließe, den Menschen als einen immer schon mithilfe der Technik der Aufgabe eigentätiger Entlastung nachkommenden homo faber bestimmt. Es ist ja überhaupt die Technik, die es ermöglicht, sich an jedem beliebigen Ort niederzulassen und aus den unwirtlichen Umweltbedingungen eine ihm zugängliche zweite Natur zu erschaffen. 286 287
US, S. 160. US, S. 296.
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In dieser Eigenschaft ist es der Technik, wie wir diesen Umstand bereits anhand des gewohnheitsmäßigen Umgangs mit Werkzeugen288 kennen gelernt haben, wesentlich, als „Außenhalt von Gewohnheiten“289 auch Gegenstand der zurückempfundenen Selbstobjektivierung zu sein, von dem ausgehend sich der mit dieser Technik operierende Mensch selbst zu fassen bekommt. Indem die Technik zwischen den Menschen und die ihm gegenüberstehenden Naturgegebenheiten tritt, ist sie damit ein alle Bereiche der Kultur durchdringendes Abbild der existenziellen Problematik menschlichen Daseins, weshalb Gehlen die Welt der Technik als den großen Menschen290 beschreibt: „geistreich und trickreich, lebenfördernd und lebenzerstörend, wie er selbst, mit demselben gebrochenen Verhältnis zur urwüchsigem Natur, wie der Mensch, »nature artificielle«.“291 3.7.1 Der große Handlungskreis: Die Technik der Magie In einer ersten Annäherung scheint diese umfassende Bestimmung der Technik die Vorstellung zu konterkarieren, dass die Kultur als der in verschiedenen Schichten von „Verhaltensklassen“292 gegliederte große Mensch sei. Die Technik als den großen Menschen zu qualifizieren, legt vordergründig eine ubiquitäre Geltung des instrumentellen Bewusstseins nahe, die nicht mit einer noch über den rationalen verständigen Umgang mit der Welt hinausgehenden Schichtung menschlichen Verhaltens übereingebracht werden kann. Dieser systematische Einwand erweist sich jedoch als ein bloß scheinbares Problem, da sich Gehlens Begriff der Technik keineswegs einzig auf den Zusammenhang zwischen Werkzeug und den zuletzt mithilfe rationaler Theorie möglichen instrumentellen Zwecksetzungen bezieht. Vielmehr betrachtet er das Problem der Technik auch aus der Perspektive der Disharmonie zwischen Mensch und irrationalem Lebensprozess. Dergestalt beschreibt er einerseits die mit den Leistungen der instrumentellen Rationalität korrespondierende Werkzeugtechnik. Andererseits geht Gehlen davon aus, dass gleichursprünglich damit die „übernatürliche Technik der Magie“293 anzuführen ist: „Nach unserer Auffassung ist die rationale Technik so alt wie die Magie und sind beide so alt wie der Mensch“.294 Sich zu vergegenwärtigen, dass sich die 288 289 290 291 292 293 294
Vgl. Abschnitt 3.3.1. US, S. 19. Vgl. StZ, S. 7. StZ, S. 7f. US, S. 105. StZ, S. 18. Arnold Gehlen, Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie (1953), in: GA 6, S. 151163, hier: S. 155. Tatsächlich muss diese Aussage schon innerhalb des gehlenschen Theoriegebäudes differenziert beurteilt werden, da er selbst eine Theorie des Entstehens der Magie
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Magie auf eine andere Schicht als diejenige des instrumentellen Bewusstseins bezieht, ist von allerhöchster Wichtigkeit für das Verständnis der Perspektive Gehlens auf die Technik. Sieht man von den unterschiedlichen Handlungsschichten ab und versteht die Technik einzig aus der auf das instrumentelle Bewusstsein bezogenen Perspektive, dann lässt sich Gehlens negativer Blick auf den Erfolg in der Naturbeherrschung durch die instrumentelle Vernunft nicht angemessen verstehen. 295 Die Funktion der Magie haben wir uns hiernach so vorzustellen, dass der Mensch aufgrund seiner disharmonischen Konstitution und dem damit einhergehenden Entwicklungsdruck den Antrieb dazu verspürt, die unberechenbaren Wetterlagen, Erdbeben, Krankheiten etc. in seine Verfügungsgewalt zu bekommen. Da er allerdings nicht einmal annähernd über die werkzeugtechnischen Mittel und das instrumentelle Wissen verfügte, diesen Gewalten tatsächlich Einhalt zu gewähren, wurde dieses Problem über die längste Strecke menschlichen Daseins durch die Magie gelöst: „Der Mensch muß danach streben, seine Macht über die Natur zu erweitern, denn dies ist das Lebensgesetz und notfalls genügt ihm – und hat ihm über Jahrtausende genügt – eine imaginäre Macht, die Magie, solange er den Weg zur realen nicht fand.“296 Eingedenk des Zusammenhangs zwischen der „Tendenz des Lebens zu »mehr Leben«“297 und dem Hervorbringen eines Selbstbildes wird nachvollziehbar, dass diese imaginäre Technik im ideativen Bewusstsein wurzelt und ihre Macht in Form einer bestimmte „Selbstdeutung über ein Nicht-Ich“298 entfaltet: „Eine Theorie der Magie läßt sich nur mit dieser Leitidee der nichtrational anschaulichen, als phantasmatischen Festlegung der unbestimmten Verpflichtung in der Richtung auf »Mehr an Leben« [...] aufstellen.“299 Gehlen spricht diesbezüglich von einem „Resonanzphänomen“300 und meint
295
296 297 298 299 300
vorlegt, die diese als Abkömmling der rauschhaften Umkehr der Antriebsrichtung beschreibt (vgl. US, S. 280ff.). Die Magie hat sich dann in der durch den Mythos bestimmten Phase des sympathetischen Weltzusammenhangs als Technik des Umgangs mit der Wirklichkeit gehalten (vgl. US, S. 283) und verschwindet wie das mythischen Bewusstsein selbst erst vollends mit der Entsozialisierung der Natur durch den Monotheismus: „erst die absolute Schwelle des Monotheismus bringt sie an ihr Ende“ (US, S. 286). Vgl. auch zu Gehlens Theorie der Magie Arnold Gehlen, Über die Verstehbarkeit der Magie, a.a.O., S. 79ff. So etwa bei Veit Steinkamp, a.a.O., S. 147: „Hatte Gehlen noch zuvor in seiner elementaren Anthropologie gefordert, daß der Mensch biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen sei, so soll jetzt auf einmal das von Descartes offen ausgesprochene Programm uneingeschränkter Naturbeherrschung kritikwürdig sein.“ StZ, S. 23. GA 3.1, S. 380. StZ, S. 16. GA 3.1, S. 381. GA 6, S. 156; StZ, S. 16.
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damit, dass der archaische Mensch in dem durch den Mythos bestimmten Weltverhältnis mit dieser Technik hantieren konnte, indem er in die Abläufe der Natur eine Darstellung des eigenen Handelns projizierte. Als eine nähere Beschreibung dessen ist die „Faszination durch den Automatismus“301 zu verstehen. Der Mensch, so der damit verbundene Gedanke, ist von Automatismen fasziniert, weil sowohl seine organischen Funktionen als auch diejenigen seines Handelns in Kreisbewegungen eine automatisierte Form haben: „Nun ist aber der Mensch in der Tat in ganz zentralen Bereichen seiner Natur Automatismus, er ist Herzschlag und Atmung, er lebt geradezu in und von sinnvoll funktionierenden, rhythmischen Automatismen, wie sie in der Bewegung des Gehens, vor allem aber in den eigentlichen Hantierungen und Arbeitsgängen der Hand vorliegen, in dem »Handlungskreis«, der über Sache, Hand und Auge zur Sache zurücklaufend sich schließt und dauernd wiederholt.“302 Hiervon ausgehend bezieht sich die Magie als der „große Handlungskreis“303 auf die Natur als einen „irgendwie beseelten Automatismus“304, den sie mithilfe „der rechten und genau repetierten Formel“305 zu lenken imstande ist. Der Mensch, so lässt sich diese Konstellation auch beschreiben, kann in der Magie eine Haltung gegenüber dem Leben einnehmen, indem er durch die Übertragung eines Bildes seiner selbst auf die Naturgewalten auf Augenhöhe mit ihnen zu kommunizieren in der Lage ist. Dabei bedient er sich gerade keines in Naturgesetzen ausgedrückten Wissens, das die erfahrbaren Phänomene in Abhängigkeit zu einer systematisierten Theorie stellt. So wie der Mythos nicht als ein im reflektierten Denken einholbares System aus Dogmen und Ideen verstanden werden kann, sondern sich in der unmittelbaren Erfahrung mitteilt, hat auch die Magie einen rein diesseitigen Zugang zu den Phänomenen. In dieser Eigenschaft liegt ihre innere Rationalität wohl genauso wie die der Naturwissenschaft darin, empirische Phänomene in Verbindung mit außer ihnen liegenden Gehalten zu stellen; Dreh- und Angelpunkt der Magie ist es im Unterschied zu allen Werkzeugtechniken allerdings, nicht von Ursachen und damit von den Kausalverbindungen einer Theorie „»hinter« den Phänomenen“306 auszugehen. Vielmehr werden die Gründe für bestimmte Ereignisse aus den durch den Mythos vermittelten, augenscheinlichen307 und 301 302 303 304 305 306 307
StZ, S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 18. Ebd., S. 15. Ebd., S. 15. US, S. 196. Vgl. GA 3.1, S. 367. Auf diese Verbindung zwischen dem Augenscheinlichen und der Magie weist Gehlen schon in Wirklicher und unwirklicher Geist hin: „Für die, die etwas damit anzufangen wissen, noch diesen Gedanken zum Begriff der Erscheinung: das Sichtbare ist das ei-
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gefühlten Verbindungen zwischen den Phänomenen und den in ihnen wirkenden „Geistern und Agenten“308 abgeleitet: „Man muß also diese wahrnehmbaren Zuordnungen durch Gründe erklären, die über sie hinausgehen – eine an sich völlig richtige Annahme. Und diese Gründe findet man im Modell des eigenen Strebens und Widerstrebens, der erlebbaren Sympathie und Antipathie, der zwingend, mit dem Druck der Notwendigkeit gegebenen Bedürfnisse und Abschreckungen.“309 Indem sich die Magie auf eine vom instrumentellen Bewusstsein unterschiedene Schicht des Handelns bezieht, muss das Vorhandensein der Magie auch als eine Begrenzung des werkzeugtechnisch Machbaren verstanden werden. Die Werkzeuge und damit auch das rational-instrumentelle Bewusstsein waren „über mehrere hunderttausend Jahre“310 dadurch in Fortentwicklung und Gegenstandsbereich begrenzt, dass sich die Magie der existenziellen Bedrohung menschlichen Daseins durch die Naturgewalten widmete und sich damit einer werkzeugtechnischen Bewältigung derselben in den Weg stellte. Die Ausbreitung der instrumentellen Technik konnte dergestalt auch nur durch das Verschwinden des Mythos und damit der Magie als dem großen Handlungskreis, mithin der Erosion der höheren Handlungsschichten311 stattfinden, die auf die mit dem Monotheismus einhergehende „»Entsozialisierung« der Natur“312 zurückzuführen ist. Hiervon ausgehend erst konnte sich das instrumentell-rationale Bewusstsein durch den „in aller bisherigen Geschichte nie dagewesenen Erfolg“313 der Werkzeugtechnik, der den Eintritt in die gegenwärtige Kulturepoche markiert, über alle durch den Mythos noch gesetzten Grenzen im Umgang mit der Natur hinwegsetzen.
308 309 310 311
312 313
gentlich Magische, und es scheint sich das Bild in der Welt weiter und tiefer zu erstrecken als alle Sinnesorgane; es scheint ein Sehen ohne die leiblichen Augen zu geben, ein Hellsehen in unsagbaren Fernen“ (GA 1, S. 216). US, S. 195. US, S. 271. StZ, S. 20. Unter dieser systematischen Voraussetzung wird nachvollziehbar, wie Gehlen es schafft, sich in den einleitenden Ausführungen in Die Seele im technischen Zeitalter gegen die Kulturkritik Nietzsches und Spenglers und ihren Vorbehalten gegen die Technik mit dem Hinweis auf das immer schon durch seine Technik geprägte Weltverhältnis des Menschen zu wenden und trotzdem selbst eine auf die Auswirkungen der Technik zurückgeführte Verfallstheorie der Kultur vorzulegen: Nicht die Technik als solche zeichnet hierfür verantwortlich, sondern die mit dem Schwinden des Mythos und damit auch der Technik der Magie auswuchernde Werkzeugtechnik (vgl. StZ, S. 5). US, S. 160. GA 3.1, S. 466.
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3.7.2 Der kleine Handlungskreis: Die Werkzeugtechnik Wenn wir gesehen haben, dass die Magie aus dem Resonanzphänomen hervorgehend die Kreisbewegung menschlichen Handelns in die belebte Natur hineinträgt, so nehmen Gehlens Ausführungen über die Entwicklung der Werkzeugtechnik ihren Ausgang im Aufzeigen eines ganz analogen Zusammenhangs. Diesbezüglich spricht er von der Objektivierung der Kreisbewegung im kleinen Handlungskreis314 des tatsächlich Machbaren, d.h. des instrumentell Handhabbaren. Mit diesem Verweis auf das Objektivwerden der Kreisbewegung will Gehlen zunächst dem akademischen Vorurteil315 entgegentreten, dass die Technik „»nur rational« und »bloß auf Zwecke abgestellt« sei.“316 Diese Annahme bedeutet in erster Annäherung, dass wir uns das Aufkommen der Technik nicht so vorzustellen haben, dass der Mensch zweckrationale Überlegungen zur Bewältigung von bestimmten Problemen angestellt hätte, deren Ergebnis dann ein bestimmtes Artefakt, beispielsweise ein Schlagstein, war. Vielmehr ist das Aufkommen der Technik so zu verstehen, dass sie auf die „Darstellung“317 des menschlichen Handelns, also der Kreisbewegungen, in einem konkreten Gegenstand zurückzuführen ist: in einem noch nicht zweckgerichteten experimentierenden, den Gegenstand verändernden Umgang wird er in den eigenen Handlungskreis integriert und in der Folge dessen erst als Werkzeug zu bestimmen Zwecken eingesetzt. Auch mit Blick auf die Werkzeugtechnik bei der Darstellung anzusetzen bedeutet keineswegs, eine auf das Resonanzphänomen zurückführbare funktionale Ähnlichkeit zwischen dieser Technik und der Magie zu behaupten. Wo die Leistung der Magie darauf beruht, dass der Mensch ein Bild von sich selbst in die Natur hinein imaginiert, ist das Werkzeug immer auf die davon zu unterscheidende reale Bewältigung von Sachproblemen hin angelegt; wobei seine Funktionsweise darauf zurückzuführen ist, dass der Handlungskreis in einem konkreten Objekt vergegenständlicht wird. Dieser Unterschied zur Magie zeichnet sich noch darin ab, dass Gehlen seine Theorie des Handlungskreises im Werkzeug als eine Erweiterung des von Ernst Kapp vorgelegten Theorems der „Organprojektion“318 versteht. Kapp geht mit diesem Theorem davon aus, dass die Werkzeuge des Menschen nach dem Bild der eigenen Organe geformt sind, die er also nicht in die Natur hinein imaginiert, sondern die Beschaffenheit seiner zum Handeln notwendigen Organe realiter als 314 315 316 317 318
Vgl. StZ, S. 19. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, Braunschweig 1877, insb. S. 29-39; vgl. Arnold Gehlen, Anthropologische Ansicht der Technik (1965), in: GA 6, S. 189-203, hier: S. 189.
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„mechanische Nachformung einer organischen Form“319 in das Material projiziert, d.h., dass sie ihrer Form nach in das Material hineingearbeitet werden. In dieser Nähe zu Kapps Begriff der Organprojektion stehend geht Gehlens Theorem der Darstellung des sachlichen Handelns in der Technik nicht nur von der Form des Organs menschlicher Tätigkeit, sondern des ganzen Ablaufes der Kreisbewegung im Werkzeug aus. Der primitive Hammer, also der Schlagstein, ist nicht nur geformt wie eine Hand, sondern übersetzt die Funktion der tätigen Kreisbewegung ins Material. Auch Gehlens Theorie der Werkzeugtechnik, so lässt sich feststellen, basiert auf der erfahrenden Auseinandersetzung mit der Welt in dem Sinne, dass dieser Bewegungsablauf in der tätigen Kommunikation mit dem Sachwiderstand der Wirklichkeit ins Artefakt übersetzt wird.320 Als Außenhalte des gewohnten Umgangs mit demselben ist hiermit nicht nur die Form, sondern auch die Bewegung in demselben objektiviert – wie es etwa beim Schlagstein der Fall ist: „Der Stein ist eine »Darstellung« des Faustschlages, er vertritt diesen, und zwar mit ungleich größerem Erfolg.“321 Dessen eingedenk und ausgehend vom Funktionsbegriff des Mängelwesens beschreibt er die grundlegende Form der Technik als diejenige des „Organersatzes“322 und der „Organverstärkung“323 im unmittelbaren Umgang mit den sich im Handeln stellenden Problemen. Die einfachsten und ältesten Techniken des Menschen sind einerseits als Organersatz zu verstehen, weil sie die ihm zu bestimmten Tätigkeiten fehlenden Organe ersetzen, wie es etwa bei Waffen als Ersatz nicht vorhandener Klauen und Reißzähnen der Fall ist. Gleichursprünglich mit dieser Funktion als Organersatz ist die Technik andererseits als Organverstärkung zu verstehen, indem die bereits körperlich vorhandenen Möglichkeiten eigentätiger Entlastung in ihr eine Leistungssteigerung erfahren: „Der Schlagstein in der Hand ist von ungleich größerer Wirkung als die bloße Faust, so daß neben die »Ergänzungstechniken«, die uns versagte Leistungen ersetzen, die »Verstärkertechniken« treten, welche unsere Organleistungen überbieten: Der Hammer, das Mikroskop, das Telefon potenzieren natürliche Fähigkeiten.“324
319 320
321 322 323 324
Ernst Kapp, a.a.O., S. 42. In diesem Sinne lässt sich davon sprechen, dass Gehlen eine Entstehungsgeschichte des Werkzeugs vorlegt, die nicht auf das instrumentelle Bewusstsein, sondern den noch auf keine bestimmten Zwecke ausgerichteten kommunikativen Umgang mit der Welt zurückgeht. StZ, S. 18. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd.
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Angesichts dieser Rückführung aller Techniken auf die Prozesse eigentätiger Entlastung mag es zunächst redundant erscheinen, noch von einer dritten Kategorie der „Entlastungstechniken“325 zu sprechen. Allerdings meint diese Rede nichts anderes als einen weiteren, über den Organersatz und die Organverstärkung hinausgehenden Schritt der Objektivierung der Kreisbewegung, indem hiermit die Tätigkeit selbst ins Artefakt abwandert. In dem uns bereits bekannten Sinne einer Entlastung zweiten Grades spricht Gehlen davon, dass sich diese Formen der Technik auf die „Organentlastung, Organausschaltung und schließlich auf Arbeitsersparnis überhaupt“326 beziehen. Dass diese Entlastungstechniken alle drei Formen der Entlastung durch Technik in sich aufnehmen können und sich eine Distanzierung zur unmittelbaren Handlungssituation einstellt, die sich mit der Entwicklung der Technik erweitert, wird an dem von Gehlen gegebenen Beispiel des Flugzeugs als einer arrivierten Entlastungstechnik deutlich: „Wer im Flugzeug sitzt, kann alle drei Prinzipien in einem haben: es ersetzt die uns nicht gewachsenen Flügel, überbietet weit alle organischen Flugleistungen überhaupt und erspart unsere Fortbewegung über ungeheure Entfernungen jegliche Eigenbemühung.“327 Leicht einzusehen ist, dass die hier aufscheinende Entlastung von der Tätigkeit in der unmittelbaren Handlungssituation auch den Spielraum für das instrumentelle Nachdenken erweitert328 . Entlastungstechniken, so der keineswegs von Gehlen in wünschenswerter Klarheit explizit gemachte Gedanke, lassen uns nicht nur immer weitere räumliche Distanzen überwinden; auch erweitern sie durch die Entlastung von der Arbeit den Spielraum des instrumentellen Bewusstseins. In Fortführung dieses Gedankens lässt sich dieser Zusammenhang so verstehen, dass mit der fortschreitenden Entwicklung der Entlastungstechniken vom Rad bis zur Maschinentechnik der Raum für das zuletzt selbst technisch vermittelte Probehandeln freigelegt wurde. So haben wir mit dem Experiment329 bereits diejenige Form der Technik kennen gelernt, über die sich das instrumentelle Bewusstsein Wissen über die Welt verschafft. Ergänzend lässt sich noch hinzufügen, dass es selbst als Apparat immer auch schon die technische Umsetzung der an ihm ablesbaren Erkenntnisse ist: „Schon die schiefe Ebene, auf der Galilei den verlangsamten Fall beobachtete, ist eine »einfache Maschine« dieser Art. Und zweitens hat man kraft der Logik des Experiments einen Naturvorgang, den man isoliert und 325 326 327 328 329
Ebd. Ebd., S. 6f. Wie oben schon bemerkt, geht die Rede von der Technik als Organausschaltung auf Paul Alsberg zurück (vgl. Abschnitt 1.5). Ebd., S. 7. Vgl. Abschnitt 1.7.2. Vgl. Abschnitt 2.4.1.
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unter wechselnden Bedingungen beobachtet, eo ipso in der Hand, das Experiment ist der erste Schritt zu seiner technischen Verwendung.“ 330 Ohne dass Gehlen den sich hier anschließenden Gedanken genau so einfädelte, lässt sich an dem Phänomen der sich durch den Fortschritt der Entlastungstechniken erweiternden Distanznahme eine weitere von ihm aufgezeigte Entwicklung festmachen, die sich auf das bearbeitete Material bezieht. So versteht er es als eine Auswirkung der Technik, dass mit dem Fortschreiten des Organersatzes ein erweiterter „Ersatz des Organischen“331 stattgefunden hat. Dieser Umstand wird mit Blick auf Gehlens Annahme nachvollziehbar, dass es das instrumentelle Bewusstsein nicht mit der Wirklichkeit des Lebendigen, sondern dem vorliegenden Material zu tun hat332 . Die Entwicklung des instrumentellen Zugriffs auf das Material mit einem fortschreitenden Ersatz des Organischen zu verbinden ist demnach eine Variation der Vorstellung, dass sich das irrationale Leben und damit auch die lebendige Seite der objektiven Welt dem rationalen Denken verschließt: „Unsere rationale Denkkraft, die abstrakten Modelle, die sie entwickelt, und ihre mathematische Begriffsbildung kommen in der anorganischen Natur mit einer erstaunlichen Treffsicherheit an, während wir über das, was »Leben« eigentlich ist, trotz aller Fortschritte der organischen Chemie kaum besser unterrichtet sind, als die ersten Philosophen des griechischen Altertums.“333 Mit der durch die Technik bedingten, fortschreitenden Distanznahme im instrumentellen Bewusstsein hat sich somit auch die technische Verfertigung des Stoffes in immer größerer Raffinesse auf die anorganische Seite verlegt. Wo die Technik in ihren frühen Formen noch ob der relativ geringeren Ablösung von der unmittelbaren Handlungssituation den unmittelbar vorgefundenen „gewachsenen Stoff“334 verwendet, bedient sich die entwickelte Technik aufgrund der mit der räumlichen Distanzierung einhergehenden, zunehmenden Reflexionsdistanz immer verfeinerter anorganischer Materialien. Dabei vollzieht sich auch im Material ein Prozess des die Leistung steigernden Ersetzens und Überbietens335, wie Gehlen diesen Prozess in den unterschiedlichen Schichten eigentätiger Entlastung sieht. Metalle sind leistungsstärker, d.h. belastbarer und vielseitiger einsetzbar als Stein und Holz; genauso sind auch Kohle, Koks energieeffizienter als naturgewachsene Brennstoffe.336 330
StZ, S. 11. Ebd., S. 8. 332 Vgl. Abschnitt 3.3.2. 333 StZ, S. 9. 334 Ebd., S. 8. 335 Vgl. ebd. 336 Vgl. ebd. 331
251
Nicht nur in der Vielzahl von modernen, synthetischen Treibmitteln potenziert sich diese Leistungsfähigkeit zuletzt noch darin, dass die vorgefundenen Materialien nur noch als Rohmaterialen für den raffinierten Stoff von Relevanz sind, der in seiner Beschaffenheit vollends durch die im wissenschaftlichen Experiment herausgearbeiteten rationalen Zwecksetzungen bestimmt ist: „Schließlich wird das Ziel des Menschen, wie Freyer sagt, schlechthin der Stoff mit gewünschten Eigenschaften. So sagt der Chemiker: »Ich will einen Stoff machen, der erst formbar ist, dann aber selbst härtet; einen anderen, der bis in alle Temperaturen plastisch bleibt; einen dritten, der in idealem Maße schnitzbar, einen vierten, der in feinsten Graden verspinnbar ist.“337 Entscheidend für Gehlens Kulturdiagnose ist an diesem Beispiel, dass hierin die mit dem Monotheismus einsetzende „Neutralisierung der Außenwelt“338 an ihr äußerstes Ende gelangt: Dieses Material hat kein Eigengewicht mehr, sondern ist voll und ganz durch seinen Daseinswert für den Menschen bestimmt. Das hiermit einhergehende Problem besteht darin, dass sich diese Perspektive in der technisierten Lebenswelt der Moderne nicht alleine auf die synthetischen Materialen beschränkt, sondern alle möglichen Dinge und Lebewesen nicht mehr mit den Ansprüchen von Selbstwerten im Dasein verbunden werden, sondern nur mehr als bloßer Stoff für die Zwecksetzungen des Menschen erscheinen. Die empirische Welt wird auf diese Weise zum auszubeutenden „Rohstoff“339; d.h., sie wird als wirkliches oder potenzielles Material einer dem technischen Zugriff uneingeschränkt verfügbaren „Faktenaußenwelt“340 wahrgenommen: „Dieser Bereich geht mit verschieblicher Grenze in den unergriffenen über: die Sterne, die Gräser und Insekten sind schlicht vorhanden, doch sind sie Gegenstand eines verselbstständigten Kulturgebietes, den Naturwissenschaften. Der Unterschied zwischen beiden Sphären ist ein bloß praktischer, theoretisch dagegen und schon in der Wahrnehmung fallen sie zusammen, es ist das eben die Natur als Faktenaußenwelt mit ihren Eigenschaften und Gesetzen in eigener Ebene.“341 Dass wir uns dieses Verhältnis trotz des hiermit ermöglichten intellektuellen Zugriffs auf alle möglichen Weltbestände als eine Entfremdung vom Leben zu verstehen haben, ist uns mit Blick auf Gehlens Substanzbegriff des Lebens hinlänglich bekannt. Warum Gehlen den Prozess zunehmender Tech337 338 339 340 341
StZ, S. 8. Arnold Gehlen, Vorwort zur letzten Ausgabe von Urmensch und Spätkultur (1976), in: US, S. 3. US, S. 117. Ebd. Ebd.
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nisierung allerdings trotz der strukturellen Ähnlichkeit zwischen den Abläufen des kleinen Handlungskreises und dem durch die Magie in die Natur imaginierten Bild als ein Fremdwerden auch gegenüber den eigenen Produkten begreift, lässt sich erst mit Blick auf seine Vorstellung der modernen Lebenswelt verstehen, die er nicht mehr als einen den Menschen mit einschließenden großen Handlungskreis, sondern als den großen Automaten342 beschreibt. 3.7.3 Verselbstständigung der Technik: Der große Automat Erinnern wir uns an dieser Stelle an den von Gehlen mit dem Begriff der Realrepugnanz beschriebenen Widerstreit in den Tendenzen des ideativen und instrumentellen Bewusstseins, dann wird nachvollziehbar, dass er aus der Entwicklung der Werkzeugtechnik ein Gegenmodell zum großen Handlungskreis der Magie ableitet. Ausgehend von dem Entsprechungsverhältnis von instrumenteller Vernunft und toter Materie haben wir uns die Entwicklung der Technik als einen sich „vom Rücken her oder instinktiv [!] durch die gesamte menschliche Kulturgeschichte“343 hindurch ziehenden Prozess vorzustellen, in dem „eine hintergründige, bewußtlos aber konsequent verfolgte Logik“344 waltet. Sie bedingt, dass die Kreisprozesse des Handelns nicht mehr durch den großen Handlungskreis ins Leben, sondern mit der Erweiterung des kleinen Handlungskreises durch „die vom Menschen selbst geschaffene technische Apparatur“345 in die „unbelebte Natur“346 hineingetragen werden. Über welche Schritte diese Entwicklung verlaufen ist, macht er an dem von Hermann Schmidt347 übernommenen „Drei-Stufen-Gesetz“348 fest, nach dem jede Entwicklungsstufe eine Form der Objektivierung von Arbeitsleistungen ist, die Gehlen seinerseits auf das Entlastungstheorem zurückführt. In dieser entwicklungsgeschichtlichen Abfolge können wir die Technik als Organersatz und Organverstärkung als den ersten Schritt verstehen: „Erst werden nur Organleistungen verstärkt, übertrumpft, verbessert und entlastet.“349 Hierauf folgend bildet die Entlastung von physischer Anstrengung durch Entlastungs342
343 344 345 346 347
348 349
Der Begriff des großen Automaten findet sich bei Gehlen nicht; allerdings meine ich in Anbetracht seiner Vorstellung der Verselbstständigung der Technik durch automatisierte Abläufe hiermit den zutreffenden Begriff gefunden zu haben. GA 6, S. 194. StZ, S. 19. Ebd., S. 22. Ebd. Vgl. Hermann Schmidt, Die Entwicklung der Technik als Phase der Wandlung des Menschen, in: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Bd. 96, Nr. 5, Düsseldorf 1954, S. 118-122. StZ, S. 20. Ebd.
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techniken den zweiten Schritt: „die organische (menschliche oder tierische) Kraftleistung wird den unbelebten Natur aufgebürdet.“350 Der hiervon noch zu unterscheide, gegenwärtige und in diesem Sinne „jetzt gerade fällige“351 dritten Schritt besteht in der Entwicklung von Automaten, die nicht nur von den physischen Anstrengungen entlasten, sondern als Computer – „elektrische Rechenautomaten“ 352 – auch die Leistungen des Geistes übernehmen: „Schließlich können elektrische Rechenautomaten besser und schneller als der Mensch Differenzial- und Integralgleichungen lösen, sie erweisen sich als »eine Quelle neuer mathematischer Erkenntnisse«.“ 353 Eben hierin zeigt sich, dass die von mir vorgeschlagene Bezeichnung Zeitalter des entlasteten Geistes als Epochenbeschreibung zutreffender ist als diejenige des technischen Zeitalters: Die letzte Entwicklung der Technik, so müssen wir Gehlens Rekonstruktion verstehen, hat dazu geführt, dass nicht nur der Körpereinsatz, sondern auch die geistigen Funktion des Menschen nicht mehr in die Abläufe der zu erledigenden Arbeit eingebunden sind. Im „Regelkreis“354 des Automaten reguliert sich eine Bewegung selbst durch die Rückmeldungen – also: Hemmungen der Bewegungen –, die sie im Vollzug erfährt.355 Auch wird in Verbindung mit Gehlens Theorie der Technik als Darstellung des Handlungskreises deutlich, dass wir uns die Automatentechnik deshalb als den letzten Schritt dieser Entwicklung vorzustellen haben, weil in ihr der Handlungskreis vollständig objektiviert ist.356 Sofern also jede nur mögliche Technik nach dem Modell der Darstellung des Handlungskreises im Material zu verstehen ist, kann es nach der vollständigen Objektivierung desselben keine weitere strukturelle Entwicklung des technischen Zugriffs mehr geben: „Ferner kann es im Sinne dieses Gesetzes keine Entwicklung der Technik über die Stufe der möglichst vollständigen Automatisierung hinaus geben, 350 351 352 353 354 355 356
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 21. Vgl. zu dem hiermit von Gehlen vorgelegten Modell der Kybernetik Gotthard Günther, a.a.O., S. 202f. Ein durchaus bemerkenswerter Gedanke, dem man ergänzend hinzufügen könnte, dass es wie oben angemerkt nicht nur das Ziel der Biologie, sondern überhaupt der durch die moderne empirische Wissenschaft möglichen Technik wäre, den Homunkulus herzustellen (vgl. Abschnitt 2.4.1). Ein treffendes Bild dafür wäre etwa der Computer HAL in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum, ein autonom operierender Apparat, der zuletzt durch das Bekunden von Angst menschliche Züge zeigt. Darüber hinaus steht der Name HAL, der sich aus den jeweils vorhergehenden Buchstaben zusammensetzt, für den Computerkonzern IBM und damit, so könnte man behaupten, für die Verselbstständigung des großen Apparats, wie Gehlen ihn beschreibt.
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denn es sind keine weiteren menschlichen Leistungsbereiche angebbar, die man objektivieren oder der Außenwelt aufhalsen könnte.“357 Nun könnte man diese Vorstellung der vollständigen Objektivierung des Handlungskreises als den Beleg dafür nehmen, dass das Verschwinden der Magie nicht nur kompensiert, sondern deren Leistung zu ihrer Vollendung gebracht wurde: Die nur imaginäre Macht, die mit der Projektion des Handlungskreises in den natürlichen Abläufen einherging, findet im Automaten ihre reale Entsprechung. Mithin könnten wir hiervon ausgehend feststellen, dass sich der Mensch in der modernen Welt beheimatet fühlen kann, weil sich die Rhythmik des eigenen Daseins als handelndes Wesen im »Nicht-Ich« der allgegenwärtigen Maschinen und Automatentechniken widerspiegelt. Tatsächlich scheint Gehlen auch eben diese Annahme zu vertreten, indem er auf dieselbe Faszination wie in der Magie hinweist, die sich heute noch in Bezug auf „Uhren, Motoren und Maschinen jeder Art“358 nachweisen lässt. Genauso tritt in dem „Zauber“359, den beispielsweise „die Autos auf unsere Jugend ausüben“360, das bereits die Magie bestimmende Resonanzphänomen zutage. Abgesehen von dieser Faszination der Maschinen stellt er überdies heraus, dass wir in uns mit den Automatentechniken den „selbst in vielen Hinsichten nach der Modellform des rückgekoppelten Funktionskreises“361 organisierten Abläufen der Natur auch tatsächlich annähern können, weil uns diese Funktionsabläufe nicht mehr nur durch die Übertragung eines Bildes, sondern realiter durch ihre Beherrschung in diesen Apparaturen entgegenkommen: „Dies bedeutet eine Intimisierung der Natur, ähnlich der, die bloß sprachlich und daher wirkungslos seit undenklicher Zeit entworfen wurde, nunmehr aber in einem die Praxis einschließenden Sinne, so daß die Natur den Eingriffen und Steuerungen, die wir in medizinischer und biologischer Praxis längst bewirken, nun von sich aus entgegenzukommen scheint“. 362 Dass es ihm trotzdem gerade nicht um eine sich einstellende Beheimatung des Menschen in seiner Welt geht, wird mit seiner Perspektive auf die Gesamtheit der von Automatentechniken durchdrungenen modernen Zivilisation sinnfällig. Den Blick darauf gerichtet umreißt Gehlen das Forschungsprogramm der Kybernetik als „Universalwissenschaft“363 von den sich durch die Technik in den Apparat verlegenden Kreisprozessen. Deren Gegenstandsbereich müsse sich nach seinem Dafürhalten nicht nur auf die an den ein357 358 359 360 361 362 363
GA 6, S. 194. StZ, S. 15. Ebd., S. 15. Ebd, S. 15. GA 6, S. 196. Ebd. Ebd.
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zelnen „rückgekoppelten Maschinen“364 feststellbaren Abläufe beschränken, sondern sich auch den hiervon zu unterscheidenden technischen Apparaturen im allergrößten Maßstab zuwenden: „Hiervon zu trennen ist der eigentliche technische Fortschritt, wie er sich in der Automation der Maschinenproduktion, in Raumfahrtprogrammen usw. realisiert, er besteht dann nach wie vor in der Selbstentlastung des Menschen bis hin zur Entlastung von den Lebensbedingungen der ErdUmwelt. Sofern auch hierin auch die Verfügungsgewalt über die Außenwelt gesteigert wird, hängen beide Bereiche zusammen.“365 Wie genau wir uns die Kybernetik als Wissenschaft nach Gehlens Dafürhalten vorzustellen haben, muss uns an dieser Stelle nicht interessieren366 . Wichtig ist vielmehr, dass er einen Zusammenhang zwischen dem sich selbst regulierenden Automaten einerseits und den Funktionsabläufen der technisierten Lebenswelt andererseits herstellt, der sich auf die Tendenzen ihrer Verselbstständigung bezieht. So wie der einzelne Automat mit einer Objektivierung der Leistung des Bewusstseins einhergeht, die sich ohne menschliches Zutun selbst reguliert, haben wir uns die Verselbstständigung der Apparate überhaupt als das wesentliche Moment in der industrialisierten Lebenswelt vorzustellen. Gehlen verwendet diesbezüglich den Begriff der in ihrem Fortschreiten unabhängig von unserem Zutun in sich automatisierten „Superstruktur“367 . Der damit verbundene Gedanke ist, dass sich die Entwicklung der Technik bisher zwar immer unkontrolliert hinter dem Rücken des menschlichen Bewusstseins vollzogen hat, die jeweiligen aus diesem Prozess hervorgegangenen Techniken jedoch den bewussten Zwecksetzungen des Menschen im Umgang mit den sich stellenden Problemen dienlich waren: Ein Pflug ist so verstanden wohl das Produkt der sich unbewusst für Ackerbauern in der Menschheitsgeschichte durchsetzenden Tendenz der Technik, die körperlichen Kräfte zu verstärken und die nicht vorhandenen Organe zu ersetzen; das Gerät selbst ist jedoch das Mittel seiner durch die tradierten Institutionen bedingten Zwecksetzungen. Die Verselbstständigung der Automaten im große Stil bedeutet demgegenüber, dass sich der Mensch einer Entwicklung der Technik ausgesetzt sieht, die durch die kapitalistische Wirtschaftsweise368 befeuert und 364 365 366 367 368
Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 196f. GA 3.1, S. 369; vgl. StZ, S. 10ff. Vgl. StZ, S. 11. Obwohl Gehlen an dieser Stelle darauf verweist, dass wir uns den durchschlagenden Erfolg der modernen Technik nur vor dem Hintergrund der kapitalistischen Wirtschaftsweise erklären können, finden sich bei ihm keine gehaltvollen Überlegungen zur Funktion des Marktes und des Geldes überhaupt. Dieses kann eingedenk der durch den Markt
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ihrer inneren Sachlogik folgend in immer rasanterem Tempo neue Apparate hervorbringt. Der Mensch wird hiermit, wie Gehlen dieses Phänomen wie Hannah Arendt in Bezugsnahme auf Werner Heisenberg beschreibt, zu einem Wesen, das sich dadurch in „eine Art Schaltier“369 verwandelt, dass er, entfremdet von den Ansprüchen der Natur, innerhalb einer Schale „der Kontrolle des Menschen entzogen[en]“370 , verselbstständigten Abläufe seiner automatisierten Technik lebt. Kommen wir hiervon ausgehend an den Ausgang seiner Überlegungen zur Technik zurück, dann ist unschwer zu erkennen, wie sich das durch die Technik vermittelte Verhältnis von Mensch und Welt in sein Gegenteil verkehrt. Obwohl die Technik der Magie keine wirkliche Kontrolle über die Natur hatte, konnte sich der Mensch darin von der Übermacht der Natur entlasten, indem er sich in der magischen Kommunikation mit ihr als der in ihr beheimatete Lenker des Geschehens fühlte. Die moderne Technik hingegen hat in einem nie da gewesenen Maße die wirkliche Kontrolle über die Natur übernommen; sie ist in ihrer Verselbstständigung allerdings seiner Verfügungsgewalt entzogen – vergebens zu hoffen, das sich Heimat in einem geheimen Einverständnis371 mit dem Leben oder diesen dem Einzelnen fremd gegenüberstehenden Mächten herstellen ließe. Um auf das Bild der durch die Magie als einer auf den höheren Schichten des Handelns operierenden Technik zu kommen, die Augenhöhe zwischen Mensch und Natur herstellt, lässt sich angesichts dessen feststellen, dass mit dem Fortschritt der Technik die dort noch bewältigte Aufgabe des Menschen, „sich mit der ungebrochenen Natur außer sich und in sich auseinanderzusetzen“372, in unerreichbare Ferne gerückt ist. In Gehlens Worten: „seit der Mensch die Natur wirklich beherrscht, wird er mit sich selbst nicht mehr fertig.“373
3.8 Leben durch Entlastung Angesichts dieses desillusionierten Attests ist nachvollziehbar, dass Gehlen die Lebensbedingungen der modernen Zivilisation mit der Abwesenheit derjenigen Momente verbindet, die ihm als wesentlich für die Entlastung des
369 370 371 372 373
freigesetzten Kräfte vor dem Hintergrund einer Theorie der Leistungssteigerung durch Entlastung durchaus verwundern. GA 6, S. 199; vgl. Hannah Arendt, Vita Activa – oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 139; Werner Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 14f. GA 6, S. 199; vgl. Werner Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 14f. Vgl. US, S. 191. Ebd., S. 196. Ebd.
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Menschen erscheinen. Für das Leben durch Entlastung, das der Fortschritt der Technik mit sich gebracht hat, ist ein Preis bezahlt worden, der Gehlen ob des Verlustes an Lebensnähe als geradezu unermesslich hoch erscheint. Mit Blick auf die vollendende Entsozialisierung der Natur, und hier können wir wieder an die Gegenüberstellung zu Cassirer anknüpfen, ist die moderne Lebensweise mit „Verzichtsnotwendigkeiten“374 verbunden, die „in die Natur des Menschen tief eingreifen, die »unmenschlich« und gefährlich sind.“375 Gehlen, der diesen Prozess aufgrund seines Begriffs vom Leben eben nicht wie Cassirer als eine Befreiung von der Herrschaft des Mythos verstehen kann, spricht diesbezüglich von „Askesen“376 . Mit der Betonung des Verzichts wird aber deutlich, dass »Askese« an dieser Stelle nicht im Sinne einer sich positiv auf die Charakterbildung auswirkenden, formierenden Hemmung der Antriebe zu verstehen ist. Vielmehr geht es um Verzichte bezüglich des existenziellen Bedürfnisses, die Fremdheit in der Welt aufzuheben. Hierzu ist die nicht mehr tragende Vorstellung des Wirkens Gottes in der Natur377 und dem kulturhistorisch noch vorausgehend der Verzicht auf die Wirkkraft „unmittelbarer Wünsche an die Tatsachen, bis zum Wunsch einer magischen Beeinflussung hin“378 zu zählen. Damit einhergehend ist überhaupt der „Verzicht auf den Augenschein und auf unser durchaus instinktives Sichverlassen auf die Denkweisen, die der Augenschein aufnötigt“379 , also die irrationale Gewissheit eines augenscheinlichen »Daß« im Umgang mit Dingen und Lebewesen, zu beklagen. Der Mensch, so lassen sich diese Verzichte in den Zusammenhang des von Vico übernommenen Geschichtsbildes stellen, ist durch die mit der Ubiquität der instrumentellen Vernunft einhergehende „Entmythologisierung“380 der Welt entwurzelt; er kann sich aufgrund der mit der fortschreitenden Technik einhergehenden „Verwissenschaftlichung oder Verbegrifflichung“381 weder auf die Gewissheit eines tätigen Glaubens verlassen noch sich in Welt beheimatet fühlen. Die hiermit einhergehenden Belastungen der Barbarei der Reflexion zeigen sich in der an das Individuum gestellten Aufgabe, sich auf allen Ebenen des Handelns durch eigene, sachlich-rationale Motivbildung in der Welt zu verorten: „Wir sind [...] genötigt, in dauernd wacher Bewußtheit, in einer Art chronischen Alarmzustand die Umwelt und unser eigenes Handeln immerfort 374 375 376 377 378 379 380 381
GA 3.1, S. 367. Ebd., S. 368. Ebd., S. 367. Vgl. ebd., S. 365. Ebd., S. 366. Ebd., S. 367. Ebd., S. 566. Gehlen 7, S. 9.
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sachdiagnostisch und ethisch zu kontrollieren, ja, jederzeit Grundsatzentscheidungen zu improvisieren.“382 Diesem Zustand chronischer Wachheit gegenüberstehend geht gerade die Gleichförmigkeit der weder die ganze Bandbreite der physischen noch der geistigen Kapazitäten des Menschen beanspruchenden Arbeitswelt – also eine fehlende Belastung – mit der seelischen Unausgeglichenheit einer hohen „Nervenbelastung“383 einher, zu der sich noch das durch die Flut an medialen Informationen ausgelöste „Chaos in unserem Kopfe“384 gesellt. Letzteres verbindet Gehlen mit dem Begriff einer „Erfahrung zweiter Hand“385, deren Abbreviatur die „Meinung“386 ist. Mit diesem Hinweis auf die bloß übernommenen Meinungen geht es ihm allerdings nicht alleine in dem eingangs erwähnten Sinne darum, den Verlust an Wirklichkeitsbezug gegenüber einer jeden in der „mit Kopf und Hand“387 vollzogenen Handlung verinnerlichten Erfahrung herauszustellen. Tatsächlich ist auch die Meinung eine Form des entlastenden Verhaltens, indem sie sich zur verselbstständigten Technik und der Belastung durch mediale Überforderung in etwa so verhält wie die magische Wortformel zum großen Handlungskreis der Natur: Die subjektive Meinung imaginiert in den chaotischen Fluss der Ereignisse eine nachvollziehbare und damit unsere „gequälten Geister und Herzen“388 entlastende „Verlaufsrichtung“389 hinein. Anders gewendet bedeutet dieses den Zwang, sich Meinungen zuzulegen, um das Gefühl zu haben, sich trotz der verselbstständigten Schale der Apparate in einer sich sinnvoll gegenüber den eigenen emotionalen Ansprüchen „verhaltenden“ Welt zu bewegen. An dieser Stelle ist auch auf Gehlens Überlegungen zur Astrologie hinzuweisen, in der sich ein „durchaus nicht belangloser Rest“390 der die Magie bestimmenden Vorstellung des großen Handlungskreises noch gehalten hat. Dabei spiegelt sich in der Astrologie 382 383 384
385 386 387 388 389 390
StZ, S. 58. Arnold Gehlen, Mensch und Technik (1953), in: GA 6, S. 141-150, hier: S. 147. GA 6, S. 147. Zu dem Problem der Nervenbelastung durch mediale Überflutung vgl. ZB, S. 63: „Die moderne chaotische Kultur mit ihren endlosen Überraschungen und Neuigkeiten, mit ihren ewig wechselnden und sich gegenseitig nur halb bestätigenden Erfahrungen, mit ihren auch moralischen und spirituellen Bremseffekten macht das Dasein im glatten Vollzug schon für den Einzelnen unmöglich, geschweige denn im sozialen Beieinander [...] So wird die Zuständlichkeit der Reflexion chronisch, ein alarmierender Spannungszustand des immer wieder gestörten Sicheinregelns wird stehender Hintergrund, vor dem sich die täglichen Unterscheidungskonflikte, Fehlidentifizierungen, Schocks und Überraschungen abspielen, wir sind alle an diese selbst stetige Situation interferierender Erfahrungsmassen, Wertungen und Appelle bereits gewöhnt und halten sie auf Kosten unserer Nerven durch.“ StZ, S. 51ff. Ebd., S. 51. Arnold Gehlen, Erfahrung zweiter Hand (1974), in: GA 6, S. 204-213, hier: S. 205. Ebd., S. 210. Ebd.. StZ, S. 15.
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das Bedürfnis nach Entlastung nicht gegenüber den unkontrollierbaren Abläufen der unbezähmbaren Natur, sondern den gesellschaftlichen Lebensbedingungen wider.391 Allerdings ist die Entlastungsleistung der Astrologie, jedes anderen subjektiv vertretenen Weltbildes und jeder Meinung deshalb von nur begrenzter Reichweite, weil hieraus nicht mit Gewissheit abgeleitet werden kann, was zu tun ist: „Der Meinungsbildzwang angesichts undurchschaubarer, aber drastisch wirksamer Tatsachen wäre vielleicht eine Entlastung, kreuzte er sich nicht mit der Unsicherheit, welche Handlungen eigentlich wegen oder trotz der oft geäußerten Überzeugung und Kundgebung zu erwarten sind.“392 Parallel zu diesem Problem der haltlosen Meinung und ganz im Sinne des von Vico aufgezeigten, barbarischen Endpunkts des ricorso hat die technisch vermittelte Entwicklung zu einer einzigen, den Willen des modernen Menschen bestimmenden Gewissheit geführt: derjenigen, dass alles in der Welt frei von Beschränkungen konsumiert werden kann. So zeigt sich das Zusammenspiel zwischen Wissen und Handeln ja nicht nur in der von der sonstigen Lebenspraxis abgehobenen, alleine um der naturwissenschaftlichen Erkenntnis willen vollzogenen Technik des Experiments, sondern in einer alle Lebensbereiche bestimmenden, industriellen Verwertung derselben. Die parallel zu den Naturwissenschaften fortschreitende Entwicklung und Verselbstständigung der industriellen Ausbeutung der Rohstoffe zu einer Superstruktur muss in diesem Sinne im Spannungsfeld zwischen unbeschränktem „Wissenwollen“393 und grenzenlosem „Konsumierenwollen“394 erörtert werden: „Der Zusammenhang von Wissenschaft, technischer Anwendung und industrieller Auswertung bildet längst auch eine Superstruktur, die selbst automatisiert und ethisch völlig indifferent ist. Eine durchgreifende Änderung ist fast nur so vorstellbar, daß sie an den extremsten Enden angreift: beim Wissenwollen, dem Anfangspunkt, oder beim Konsumierenwollen, dem Endpunkt des Prozesses. In beiden Fällen wäre die Askese, wenn sie irgendwo aufträte, das Signal einer neuen Epoche.“ 395 Mit der so anklingenden Utopie einer sich entweder des Wissens oder des Konsumierens enthaltenden Epoche scheint durch, dass Gehlen hier sowohl auf das eigentliche moralische Problem als auch das Problem der Moral in der modernen Zivilisation verweist. So ließe sich einerseits von dem moralischen Problem einer sich im Zusammenwirken von Wissenschaft und Technik 391 392 393 394 395
Zweifelsohne ist dieser Gedanke bemerkenswert und kann angesichts des gegenwärtig prosperierenden Esoterikmarktes noch um einiges erweitert werden. StZ, S. 57. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd.
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gegenseitig bekräftigenden Versündigung gegenüber der Schöpfung sprechen. In der Weise wie die Naturwissenschaft nur den eigenen Fortschritt im Erkennen und „keinerlei sie übergreifende Verpflichtungen“396 kennt, ist auch der industriellen Ausbeutung der Rohstoffe jedwede durch höhere Schichten institutionalisierten Sollens bedingte Selbstbeschränkung gegenüber den Ansprüchen des Lebens wesensfremd: „Der Bund nun, mit den die Naturwissenschaften mit der Technik und Industrie geschlossen hat, trifft unglücklicherweise auf Partner, von denen dasselbe gilt: die Technik, am Anorganischen ansetzend, kennt wesensmäßig nicht die Vorstellung, eine Beschränkung der erlaubten Mittel, die, ökonomisch gesehen, dem mit dem Lebendigen wirtschaftenden agrarischen Zeitalter entsprach. Daneben entwickelt, wie Max Weber schon sah, ein wirtschaftlicher Betrieb eine sachliche Sonderlogik und rationale Eigengesetzlichkeit, die ethisch nicht kommensurabel ist, und umso reiner heraustritt, je unabhängiger der Betrieb von den irrationalen Einflüssen des Atmosphärischen und Vegetativen wird, also je technisierter er ist.“ 397 Auch diesbezüglich mit Vico von Barbarei zu sprechen, erschließt sich darin, dass ein genauso wenig durch kulturelle Leistungen reglementierter Zugriff auf die Natur vorliegt, wie in der vortotemistischen Epoche. Mit Blick darauf kann Gehlen vom enthemmten barbarischen Konsumismus „im Sinne verwilderter und brutaler Zugriffe“398 auf die natürlichen Ressourcen sprechen. Mit der Entgrenzung von Wissenschaft und Technik als moralisches Problem andererseits auch das Problem der Moral benannt zu haben, ergibt sich aus der Annahme, dass sich die gegenwärtige Moral wesentlich auf die zu bewerkstelligende Erfüllung unserer Konsumbedürfnisse bezieht. Die mit dem negativen Bild der Rationalisierung einhergehende negative Bewertung aufgeklärter Moral findet ihren Ausdruck so verstanden darin, ihre Vollendung in einer an die Stelle jedweder durch die höheren Schichten des Handelns vermittelten Moral getretenen „Ethisierung des Wohllebens“399 zu sehen. Blicken wir ausgehend von dieser den „Zustand der Entbehrung oder gar des Leidens“400 als zu bewältigendes Übel betrachtenden „WohlstandsIdeologie“401 auf die eingangs bemerkten Konturlinien einer dem Leben entsprechenden, durch Liebe und Not geprägten Kultur, dann ist umso nachvollziehbarer, warum Gehlen im pejorativen Sinne von einer in der modernen 396 397 398 399 400 401
GA 3.1, S. 368. Ebd., S. 369. GA 6, S. 569. MH, S. 56. Ebd. Arnold Gehlen, Das entflohene Glück. Deutung der Nostalgie (1976), in: GA 6, S. 552-565, hier: S. 554.
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Zivilisation nicht nur faktisch erreichten, sondern überdies moralisch aufgeladenen, übermäßigen „großen Entlastung von den negativen Seiten des Lebens, angefangen von der schweren Arbeit bis zu physischen Not und Entbehrung“402 spricht. Es „zerläuft das Leben wie Wasser zwischen den Fingern, die es halten wollen“403 , indem wir davon entlastet sind, uns mit dessen Problemlagen in schwerer Eigentätigkeit konfrontieren zu müssen. Dem hiermit einhergehenden Zustand der Disharmonie kann deshalb nicht in einer direkten Hinwendung zur Natur abgeholfen werden, weil dessen Zwecke nur durch die Vermittlung in den darüber liegenden Schichten der Kultur zu Motiven des eigenen Handelns werden können: Wir kommen auf diese Weise nicht jenen bedeutsamen Ansprüchen des Lebens an unser Handeln nahe, die nur indirekt durch die Selbststeigerung in der Kultur zu fassen sind. Die Möglichkeit, sich überhaupt noch drüber Gewissheit zu verschaffen, dass uns die Welt mit einem der Emotion der Liebe entsprechenden Gefühl entgegenkommen kann, sieht Gehlen demnach auch keineswegs in einer unmittelbaren Hinwendung zur Natur gegeben.404 Vielmehr können wir diese große Entlastung nur noch dort erahnen, wo es die Residuen von Kultur noch zulassen: Es bleibt nur mehr „das Bild an der Wand“405 . 3.8.1 Anpassung an die Organisation Betrachten wir die Lebensbedingungen in der modernen Zivilisation noch etwas genauer, dann können wir uns angesichts der Entwicklungsgeschichte der Technik klarmachen, warum Gehlen neben den uns bereits bekannten Momenten der schädlichen Entlastungen von der Schwere der Tätigkeit und den damit einhergehenden Entlastungsgefahren mit den „zivilisatorischen
402 403 404
405
GA 4, S. 136. US, S. 300. In diesem Sinne bespricht Gehlen ein solches »Zurück zur Natur« in Zeit-Bilder unter der Überschrift Neu-Primitivismus und meint damit, dass die sich u.a. im Expressionismus abzeichnende Tendenz der modernen Kunst, sich dem Natürlichen zuzuwenden, in dem Sinne »primitiv« ist, dass es nicht mehr auf der Höhe der Traditionen stattfindet. Der expressionische Künstler kommt hiermit allerdings nicht dem Leben nahe, sondern produziert lediglich „den kulturellen Gegensatz zur der Kultur, aus der er wegstrebt“ (ZB, S. 146). Ganz offenkundig spricht hiermit der Gegen-Rousseau – dem es allerdings nicht in den Sinn kommt, dass auch die eigene Hypostase einer dem Leben entsprechenden Kultur genauso fragwürdig sein muss, weil sie ein Produkt der gegenwärtigen Verhältnisse ist; sie also genauso wie der kritisierte Expressionismus im Wesentlichen etwas über die Zivilisation aussagt, der sie entspringt. Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie uns Ästhetik der modernen Malerei, erste Auflage, Bonn 1960, im Folgenden zitiert als »ZB 1«, S. 225.
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Superstrukturen“406 mit dem „Begriff der Anpassung“407 ein weiteres problematisches Moment der Entfremdung beschreibt: „Die großen Superstrukturen der neuen Zivilisation verselbstständigen sich und »entfremden« (Hegel, Marx) sich, sie zwingen das innere und äußere Verhalten des Menschen in die Form der Anpassung, ein Vorgang, der nur zum Teil willkürlich und kontrolliert vor sich geht, zum größeren Teil aber unbewußt – und dies vor allem dann, wenn er in einer Veränderung der Auffassungsweisen, der Denkformen, ja der Bewußtseinsstrukturen selbst besteht und nicht bloß in dem Zwang, immer neue Inhalte aufnehmen und bewältigen zu müssen.“408 Dass wir trotz der gehlenschen Formel einer Geburt der Freiheit aus der Entfremdung in den Institutionen Anlass dazu haben, hier von Entfremdung im pejorativen Sinne auszugehen, erschließt sich vor dem Hintergrund des Schichtenmodells. Die Verselbstständigung der Superstrukturen spielt sich einzig innerhalb der untersten Schicht des instrumentellen Handelns ab und ist deshalb genauso wenig dazu angetan, Nähe zum Leben herzustellen, wie eine Entlastung durch die Sicherheit einer irrationalen Gewissheit zu gewährleisten. In Abwesenheit dessen haben wir es in der Moderne mit dem Menschen in Kleinbuchstaben zu tun, der sich den seinem Zugriff entzogenen, ständig wechselnden Umständen ausgesetzt sieht: „Für den Einzelnen hat dies zunächst die Folge, daß seine Begriffe von dem, was er tut, und von dem was ihm widerfährt, nicht mehr zusammenhängen: er tut z.B. ordentlich seine Arbeit und wird durch eine irgendwo auf dem Erdball ausgelöste, ihm völlig unverständliche Krise arbeitslos.“409 Angesichts dessen beschreibt Gehlen mit dem Begriff der Anpassung verschiedene Strategien des Umgangs mit diesen Problemlagen, die sich in der
406 407
408 409
StZ, S. 42. Ebd. Dieser Begriff der Anpassung unterscheidet sich wesentlich von der uns schon im Umfeld der notwendigen Belastungen bekannten Verwendungsweise dieses Begriffs durch Alexis Carrel (vgl. Abschnitt 1.6.2). Carrel verwendet diesen nicht in einem pejorativen Sinne der notwendigen Anpassung an die subalternen Bedingungen der Moderne, sondern spricht von einem durch den technischen Fortschritt bedingten „Absterben der Anpassung“ (Alexis Carell, a.a.O., S. 310). Diese negative Einschätzung bedeutet, dass der Mensch auf Grund der Entlastung durch die moderne Technik nicht mehr in einem ihm entsprechenden Sinne dazu kommt, sich körperlich aktiv unter Einsatz aller „Anpassungsenergien“ (ebd.) an die Härten des Lebens anzupassen. StZ, S. 42. Ebd., S. 42f. Gehlen kennt diesen Begriff noch nicht, spricht an dieser Stelle in der Sache allerdings von denjenigen Problemen, die wir mit der allgegenwärtigen Globalisierung verbinden.
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modernen Gesellschaft beobachten lassen: „Opportunismus“410 , Eskapismus als eine Art der „Selbstauslöschung“411 und der in dem oben beschriebenen Sinne als letzte Gewissheit noch bestehende „mit dem besten Gewissen betriebene Konsum“412. Gemein ist diesen Verhaltensweisen ihre Gesinnungslosigkeit; mithin erscheint es Gehlen als die seltene Ausnahme, angesichts dieser Lebensbedingung aus eigenen Mitteln noch so etwas wie eine unbeirrbar gewisse, moralisch relevante Haltung an den Tag zu legen: „Das heißt, es werden Menschen selten, die aus persönlichen, verinnerlichten Werthaltungen heraus »nach Prinzipien« handeln, die es gestatten, eine Gesamtorientierung über den zufälligen Wechsel der Situationen hinaus festzuhalten.“413 Fragen wir vor dieserm Hintergrund nach der Rolle der Institutionen als mögliche Träger einer solchen Gesamtorientierung, dann ist auf den von Gehlen attestierten „Ersatz der Institutionen durch Organisationen“414 hinzuweisen. Die Stoßrichtung dieser Unterscheidung besteht darin, dass die Organisationen nicht mehr als Selbstwerte im Dasein von sich aus mit Ansprüchen an das Individuum herantreten, die über die bloße Zweckerfüllung hinausgehen und mit deren pflichtgemäßen Erfüllung sich indirekt auch die eigenen Bedürfnisse befriedigen. Vielmehr sind auch diese Organisationen vor dem Hintergrund der allgemeinen Verbegrifflichung der Lebenswelt zu betrachten, indem sie keiner eigengewichtigen Führungsidee folgen, sondern „auf das Zweckmäßige reduziert [sind], oder besser auf das, was man für zweckmäßig hält“415 . Dass Gehlen auch diesbezüglich der Sache nach von einer notwendigen Anpassung an diese Organisationen im pejorativen Sinne spricht, die von sich aus keine irrationale Gewissheit zu bieten hat, liegt auf der Hand: „Die rationalen Zwecke der Gesellschaft haben heute eine ungeheuere Ausdehnung, der Mensch wird bis ins Innere hinein verwaltet; und diese Übermacht vernünftig zur Geltung zu bringen, genügt die schnell erworbene Fachausbildung. Aber es ist schwer, es ist eine Leistung persönlichen Stils, die Treuepflicht zu außerrationalen Werten, die geschichtlich uns zu410 411 412 413 414
415
Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Ebd., S. 131. Ein ganz ähnlicher und für die Bedeutung des Lebens in Gehlens Theorie aufschlussreicher Gedanke findet sich bei Oswald Spengler, der die Organisation als Gegenbegriff zum Organischen in Stellung bringt und als Kennzeichen der mechanisierten modernen Zivilisation beschreibt: „Alles Organische erliegt der um sich greifenden Organisation. Eine künstliche Welt durchsetzt und vergiftet die natürliche. Die Zivilisation ist selbst eine Maschine geworden, die alles maschinenmäßig tut oder tun will“ (Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, München 1931, S. 78f.). StZ, S. 130.
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geschobene Verantwortung, Motive, feinerer Rücksicht und qualitativen Taktes in rationalen Funktionen selbst zur Geltung zu bringen.“ 416 An dieser Punkt angelangt bieten sich zwei mögliche Perspektiven auf Gehlens Beschreibung der Lebensbedingungen in der modernen Zivilisation an: Einerseits ließe sich mit Blick auf den hier aufscheinenden Begriff der Persönlichkeit der Frage nachgehen, wie er sich den Ausnahmenfall eines trotz der bestehenden Verhältnisse über sich selbst hinauswachsenden Menschen vorstellt, dessen Möglichkeit wir genauso schon in der Anspielung auf den nur mehr seltenen Fall eines Menschen mit wirklicher Lebenserfahrung417 wie auch in der Figur des apostrophierten Gegen-Rousseaus418 kennen gelernt haben. Gehlen bringt dieses Motiv in Die Seele im technischen Zeitalter auf den Punkt, indem er eine Analogie zwischen „»Persönlichkeit« cum emphasi“419 und einer Institution im eigentlichen Sinne herstellt: „Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Falle“420. In unserer Untersuchung des gesamtkulturellen Zusammenhangs müssen wir die Frage nach der Möglichkeit eines solchen Charakters im ausgezeichneten Sinne allerdings zurückstellen. Ausgehend von dem Trieb nach einer Aufhebung der Disharmonie zum Leben werden wir uns daher in einer abschließenden Betrachtung des Schichtenaufbaus in der Kultur der Frage zuwenden, ob und inwiefern das Bedürfnis nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins noch durch das erfahrbare Bild befriedigt werden kann. 3.8.2 Entlastung durch die Kunst Wenden wir uns mit dieser Frage Gehlens Theorie der modernen Kunst zu, die er in Zeit-Bilder entfaltet, dann scheint diese in eine ganz andere Richtung zu verweisen. So stellt er die dort vorgelegten Untersuchungen der modernen abstrakten Malerei auf der Folie eines kulturhistorischen „Wechsel[s] der Bildrationalität“421 an, in dem sich die aufgezeigte Erosion der Handlungsschichten widerspiegelt, indem er etwa von dem sich in der modernen Malerei in ihrer Affinität zur rationalen Theorie zeigenden, allgemeinen „Gefälle zur Subjektivität“422 spricht. Trotz den in ihren Analysen richtungweisenden Ausführungen seiner Theorie der abstrakten Malerei ist damit festzuhalten, dass Gehlen ihren Bezugspunkt in der „menschliche[n] Subjektivität, und 416 417 418 419 420 421 422
Ebd., S. 129f. Vgl. Abschnitt 1.6.2. Vgl. Abschnitt 1.7.1. StZ, S. 132. Ebd., S. 133. ZB, S. 15. Ebd., S. 74.
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zwar in ihrer reflektierten, in sich selbst zurückgespiegelten Form“423 sieht und sie damit als defizitär gegenüber der vorher an die Traditionen gebundenen, sich auf die höheren Schichten des Handelns beziehenden Malerei versteht. Das moderne abstrakte Bild ist im Gegensatz dazu als „Reflexionskunst“424 zu verstehen, die in sich selbst wohl Höhepunkte in ihrer Umsetzung erlebt425. Als solche ist sie aber ein Abbild des Kulturverfalls, indem sie „den modernen Zustand der chronischen Reflektiertheit schlechthin von Bilde her zu erreichen“426 sucht. Dieser Konzeption folgend beschreibt er die Erscheinungsformen der Malerei in drei epochalen Stufen427, deren erste die „ideelle Kunst der Vergegenwärtigung“428 ist. Für „alle religiöse und mythologische Malerei“429 ist hiernach ein Zusammenhang zwischen dem dargestellten Gegenstand und seiner „Konnotation“430 anzunehmen. Diese Konnotationen beruhen darauf, dass bestimmte Dinge oder Szenen auf den Bildern nicht alleine im Sinne der Korrespondenz zwischen Begriff und Anschauung431 als solche wiedererkannt werden können; vielmehr vergegenwärtigen und beleben sie schon bekannte „Bedeutungsfelder“432 im Bewusstsein des Rezipienten: „Das ist die Vergegenwärtigung in ihrem Doppelsinn: Das Irgendwann und Irgendwo wird wiederbelebt, und man wünscht es sich zu bewahren.“433 Mit Blick darauf ist für unsere Untersuchung wichtig, dass Gehlen auf die moralischen Implikationen dieser Bilder als „Außenhalt“434 der ihnen „übergeordneten Institution“435 hinweist, die er in den vergangenen Epochen gegeben sieht, weil es noch religiöse „Formen der Moral gab“436, die sich in ihnen exemplarisch zeigen konnten. Hiervon zu unterscheiden ist die „Realistische Kunst“437, als welche die „Bildform der Neuzeit seit der Renaissance und der Epoche der Entdeckungen“438 zu verstehen ist. Der Bezugspunkt dieser Kunst ist, ganz im Sinne des 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438
Ebd., S. 17. Ebd., S. 84. Vgl. ebd. S. 74. Ebd., S. 62. Gehlen ist sich sehr wohl darüber bewusst, dass er dabei mit einem für kunstgeschichtliche Untersuchungen viel zu weitmaschigen Epochenschema arbeitet (vgl. ebd., S. 39). Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 10; S. 15. Vgl. ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd.
266
von Gehlen attestierten Schwindens irrationaler Gewissheiten, nicht mehr die Konnotation, sondern der Umgang mit dem „Vorgefundenen, Gegenwärtigen und Wiederholbaren“439 . Hiermit verweist er auf „eine entschiedene innere Beziehung diese Malerei zur Naturwissenschaft“440 in dem Sinne, dass es ihr unter Absehung von Konnotationen als „Unterordnung unter vorgegebene Gedankenwelten“441 um die „Aneignung und [...] Durcharbeitung des Diesseits“442 geht. Diese Malerei wendet sich, noch ganz an den wahrnehmbaren Phänomenen443 orientiert, wesentlich dem gegenständlichen Wiedererkennen zu und nimmt damit in ihrer elaborierten Gestalt, man denke hier etwa an Leonardo da Vinci und Michelangelo444, naturwissenschaftliche Form an: „Si pinge col cervello, non colla mano – man malt mit dem Kopf, nicht mit der Hand.“445 Diese mit der Renaissance beginnende Kunst der „vorindustriellen, unwiderstehlich emporstrebenden bürgerlichen Gesellschaft“446 wird mit dem Niedergang des Bürgertums und dem Erstarken der Industriegesellschaften in der „Epoche der Weltkriege“447 durch die abstrakte Malerei abgelöst. In dieser Kunst sind insofern Parallelen zur fortgeschrittenen Naturwissenschaft nachzuweisen, als sie sich ebenfalls von der unmittelbaren Naturbetrachtung abwendet. Dieses ist so zu verstehen, dass es in der abstrakten Malerei weder um Konnotationen noch das Wiedererkennen bestimmter Gegenstände geht, sondern sich diese Malerei genauso wie die moderne naturwissenschaftliche Theoriebildung in einem experimentellen Vorgehen wesentlich auf den hinter den Phänomenen liegenden Bereich der „unanschaulichen Modellgedan-
439 440 441 442 443
444 445 446 447
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 42: „Dieser Bund von Malerei und Naturwissenschaft hatte auch von seiten der letzteren Bedingungen gehabt, nämlich die alte aristotelische und noch von Goethe laut bekannte Überzeugung, daß die Natur sich wesensmäßig und von innen heraus in die Sichtbarkeit hinein entfalte, demnach »hinter den Phänomenen nichts zu suchen« sei.“ Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (zweite Fassung), in: Neumann / Dewitz (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke, Band 10, Frankfurt am Main 1989, Betrachtung Nr. 136, S. 578: „Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen. Sie selbst sind die Lehre.“ Angesichts dessen ist es naheliegend, dass Gehlen die uns schon aus Der Mensch und Urmensch und Spätkultur bekannte Rede von den Theorien hinter den Phänomenen dieser Betrachtung Goethes entlehnt bzw. gegenüberstellt. Vgl. ZB, S. 33ff. Ebd., S. 34. Ebd., S. 15. Ebd., S. 15.
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ken“448 bezieht; ihre Abstraktheit ist demnach so zu verstehen, dass sie die unanschaulichen geistigen Gehalte des Nachdenkens auf die Bildoberfläche zu bringen sucht: „Sie [die abstrakte Malerei, S.W.] ist durch und durch experimentell, tatstet sich am Geglückten weiter, ihre Funktion heißt Einstrahlung in die innere Oberflächenspannung, nicht mehr »vor Augen halten«; zum Umkippen ihrer Axiome ist sie jederzeit bereit, und sie hat sich sogar der moralischen Neutralität der großen emanzipierten Mächte angenähert.“449 Im selben Moment, und das kann angesichts der sich hier abzeichnenden „moralische[n] Neutralität des Produktes“450 zunächst verwundern, sieht er in dieser Kunst Momente von Freiheit und Entlastung vorgängig: „Ihr eigenes moralisches Pathos ist in der Ausdrucksweise stürmisch, in der Substanz eine usurpierende Art der Opposition: Hier zuerst erschien die Bemühung der Freiheitsoasen, sich unter dem allgemeinen Druck der riesigen Gesellschaften auszudehnen. Stichwort: Entlastung.“451 In seiner Untersuchung der abstrakten Malerei geht es Gehlen also darum, sowohl die aus dem Funktionsbegriff des Menschen abgeleiteten Momente des experimentellen Handels aufzuzeigen als auch die auf die substanzielle Bestimmung zurückgeführte Überwindung der Disharmonie nachzuweisen. Dessen eingedenk geht er das Problem der modernen Malerei von dem uns bereits mit dem Begriff der Erfahrung zweiter Hand bekannten Problem an, dass wir uns nicht mehr auf in Lebenserfahrung verinnerlichte, augenscheinliche Sachlagen verlassen können, sondern uns in einer Kultur der sich „ewig wechselnden und sich gegenseitig nur halb bestätigenden Erfahrungen“452 bewegen, mit denen es in chronischer „Zuständlichkeit der Reflexion“453 umzugehen gilt. Wenn wir einleitend gesehen haben, dass Gehlen die Problemstellung des Erkenntnistheoretikers454 nur unter den defizienten Bedingungen des entlasteten Geistes gegeben sieht, dann gilt hiermit dasselbe für den Darstellungsbereich der abstrakten Malerei. Sie entsteht demnach in dem Moment, in dem wir uns nicht mehr ungebrochen auf dasjenige verlassen können, was wir sehen, und wir deshalb nach den Bedingungen der Möglichkeit danach zu fragen beginnen, wie wir sehen. Ausgehend von diesem Gedanken zeichnet er zunächst die Entwicklung vom Impressionismus zum Kubismus auf, indem er zuerst auf die Eigenständigkeit der Bildfläche als eines neben 448 449 450 451 452 453 454
Ebd., S. 16. Ebd., S. 222. Ebd., S. 16. Ebd. Ebd., S. 63. Ebd. Vgl. Abschnitt 3.1.
268
dem dargestellten Gegenstand bestehenden Bedeutungsträgers im Bild hinweist: „Die entscheidende Erfindung bestand in der Zweischichtigkeit des Bildes, nämlich in seiner Verselbstständigung zu einer Reizfläche eigenen Rechts bei dennoch festgehaltener Gegenständlichkeit. Man führte den Blick des Betrachters in den dargestellten Gegenstand hinein, ließ ihn dann aber nicht glatt durch das Bild hindurch in eine vorgestellte, illusionäre Welt weiterlaufen, sondern bremste ihn ab, ließ ihn von der Bildfläche abfangen und in ein eigengültiges Reizerlebnis umschlagen.“455 Festzuhalten ist, dass Gehlen mit der in dieser Beschreibung verwendeten Bewegungsmetaphorik eine Analogie zwischen dem in sich gebrochenen Bilderlebnis und der Kreisbewegung aufzeigt, die durch die Hemmung von der glatten Bewegung in die Reflexion des Handlungsvollzugs übergeht: Indem sich die Lokalfarbe vom dargestellten Gegenstand absetzt, wirft die Bildoberfläche uns als Betrachter auf uns selbst zurück und lässt uns darüber reflektieren, was wir tun, wenn wir sehen. Dieses Thema der Auseinandersetzung mit den subjektiven Wahrnehmungsleistungen findet ihre volle Entfaltung in der sich gänzlich von der Wiedergabe von Gegenständen abwendenden Abstraktion des Kubismus, der die Frage danach ins Bild setzt, wie das Bewusstsein Welt konstruiert: „Diese Aufgabe wird jetzt, kurz gesagt, darin bestehen, jene bewußtlos verfahrende, konstruktive und welterzeugende Arbeit des Bewußtseins in die Reflexion zu heben, sie in Reinheit und systematisch zu wiederholen, so sozusagen in den freien Vollzug zu übernehmen. Man findet dieses Programm in dem Satze des von Juan Gris wieder: »Ich hoffe, mit großer Präzision eine imaginäre Realität mit rein geistigen Elementen aufbauen zu können« (25. 8. 1919).“456 Auch hier ist die Parallele zwischen Gehlens pessimistischer Kulturdiagnose und seiner Theorie der Kunst nicht zu übersehen. Der erst mit der Unwirklichkeit des Geistes eintretende Zweifel an seinen Fähigkeiten und die Malerei treffen sich im Kubismus darin, dass er das transzendentalphilosophische „Misstrauen gegen eine Wahrnehmung, welche sich zur Außenwelt erweitere“457 , ins Bild setzt. Ausgehend von dem Bedingungsverhältnis zwischen den Fragen des Erkenntnistheoretikers458 und dem Kulturverfall lassen sich, wie Gehlen dieses mit Daniel-Henry Kahnweilers Analysen über das Werk
455 456 457 458
ZB S. 64. Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. Abschnitt 3.1.
269
von Juan Gris herausstellt459 , im Kubismus die von ihm im Gegensatz zu Kahnweiler „selbst keineswegs vertreten[en]“460 erkenntnistheoretischen Voraussetzung Kants nachweisen, „nach der die gesamte Außenweltserfahrung aus Konstruktionen des menschlichen Bewußtseins hervorgeht“461. Anhand dieser Entwicklung von dem auf einer Bildebene noch am Wiedererkennen orientierten Impressionismus hin zum ausschließlich mit Abstraktionen arbeitenden Kubismus lassen sich die Bestimmungen der beiden zentralen Begriffe dieser Theorie der abstrakten Malerei nachvollziehen: peinture conceptuelle462 und die Kommentarbedürftigkeit463 des Bildes. Den ersten Begriff fasst Gehlen so, „daß peinture conceptuelle eine Bildauffassung bedeuten soll, in die eine Überlegung eingegangen ist, welche erstens den Sinn der Malerei, ihren Daseinsgrund gedanklich legitimiert und zweitens aus dieser bestimmten Konzeption heraus die bildeigenen Elementardaten definiert.“464 Es ist nicht die augenscheinlich gewisse Erfahrung der Objekte, sondern das reflektierende Nachdenken des Künstlers, das sowohl die Bedeutung des Bildes als auch dessen Umsetzung in einem bestimmten Material – die „kunsteigenen Ausdrucksmittel“465 – bestimmt. Indem sich der Kunst459
460
461 462
463 464 465
Vgl. ZB, S. 86ff.; vgl. zu der von Gehlen übernommenen Interpretation des Kubismus vor dem Hintergrund der Kantischen Transzendentalphilosophie Daniel-Henry Kahnweiler, Juan Gris. Leben und Werk, Stuttgart 1968, S. 190ff. ZB, S. 89. Aufschlussreich bezüglich Gehlens Kritik an der Transzendentalphilosophie ist die vorher gemachte Bemerkung, dass diese erst infolge einer „Gleichgewichtsstörung der Wirklichkeitsbewusstseins“ (ebd., S. 13) plausibel wird; ihre in einem relativierenden Sinne als „Weltanschauung“ (ebd., S. 86) zu verstehende Perspektive ist also als Folge der Entlastung des Geistes von seiner Eingebundenheit in die Tätigkeit zu verstehen. ZB, S. 86. Vgl. ZB, S. 75. Gehlen verweist mit diesem Begriff wiederum auf Kahnweiler, der in seinem Aufsatz Negerkunst und Kubismus eine knappe Definition dessen gibt. Kahnweiler geht es dort um eine dahingehende Ähnlichkeit zwischen der so apostrophierten „Negerkunst“ und dem Kubismus, dass beide Kunstformen als Begriffskunst zu verstehen sind: „Inwiefern aber bestätigt die afrikanische Kunst das Denken der kubistischen Maler? Ich kann nur immer wieder betonen, daß diese Maler nicht nur eine möglichst genaue und erschöpfende bildhafte Gestaltung, sondern auch die Schaffung von aus und in sich selbst existierenden Kunstwerken anstrebten. Eine solche Kunst ist ihrem Wesen nach eine begriffliche Kunst“ (DanielHenry Kahnweiler, Negerkunst und Kubismus, in: Moras / Paeschke (Hg.), Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, XIII. Jg. 1959, Heft 131-144, Heft 138, S. 723). Offenkundig geht es Gehlen in seiner Epocheneinteilung nicht um diese Ähnlichkeit. So stellt er zwar einen Zusammenhang zwischen primitiver Kunst und der abstrakten Malerei im Sinne eines „Neo-Primitivismus“ (StZ, S. 37) heraus, allerdings ohne diese als peinture conceptuelle zu qualifizieren. Darüber hinaus beschreibt er das Phänomen eines „Neu-Primitivismus“ (ZB, S. 144) in der Kunst in abwertender Absicht als Kennzeichen einer direkten – rousseauistischen – Hinwendung zum Natürlichen infolge ihres Traditionsverlustes (vgl. ebd., S. 146). Vgl. ZB, S. 162ff. Ebd., S. 75. Ebd.
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schaffende auf unanschauliche Theorien bezieht, die keinen Widerpart in konkreten Gegenständen haben, folgt der zweite Begriff schon aus dem ersten – das Bild bedarf des in Worten gefassten Kommentars: „Sobald jedoch der Künstler sich zur peinture conceptuelle wendet, wird das Bild verrätselt, und er muß den Ausschnitt der reflektierenden Subjektivität, den er im Bild einfängt und den er für seine Grundkonzeption vom Daseinsgrund des Bildes für seine Definition der Chiffren verwendet, selbst in Worte fassen oder dies anderen überlassen.“ 466 Gehen wir unter den uns bereits bekannten Voraussetzungen mit Gehlen davon aus, dass es dem Sehen wesentlich ist, im Wiedererkennen eine Verbindung zwischen Anschauung und Begriff herzustellen, dann wird der prinzipielle Charakter467 nachvollziehbar, den er dem Zusammenwirken von Kommentar und abstraktem Bild zuschreibt: Die Bilder verlieren zusehends an Gegenstandsbezug und werden dadurch alleine für sich genommen immer begriffsloser, sodass der die entsprechenden Begriffe liefernde Begleittext – im Falle des Kubismus: der neukantische Kommentar468 – eine unabdingliche Notwendigkeit darstellt. Um angesichts der notwendigen Intellektualisierung des Zugriffs auf die abstrakte Malerei nachzuvollziehen, worin ihre jenseits des rationalen Bewusstseins zu verortende Entlastung besteht, müssen wir uns zunächst klarmachen, dass es sich auch bei dieser Reflexionskunst immer noch um sinnlich erfahrbare Objekte handelt. Zwischen Rezipient und Text steht immer noch ein eigengewichtiges Bild, dessen Erfahrung nicht vollends im Kommentar aufgehen kann, weshalb Gehlen diese Werke auch keineswegs als bloße Illustrationen abstrakter Überlegungen versteht469. Mit Blick darauf betont er vielmehr, dass sich parallel zur Abwanderung des Begriffs aus dem nicht mehr gegenständlichen Bild in den kommentierenden Begleittexten das
466 467 468
469
Ebd., S. 96. Ebd., S. 162. Vgl. ebd., S. 96. Richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit der klassischen Moderne erscheinen mir in diesem Zusammenhang die dortigen Ausführungen Gehlens darüber, dass die Malerei Klees eines gestaltpsychologischen Kommentars und die Werke Kandinskys und Mondrians eines individuell-subjektiven Begleittextes bedürftig sind (vgl. ebd.). In diesem Sinne ist peinture conceptuelle für Gehlen zwar ein Qualitätsmerkmal guter Kunst, ohne damit im Sinne einer vollkommenen philosophischen Entmündigung der Kunst davon auszugehen, dass die sinnliche Erfahrung des Bildes als zweitrangig oder gar als überwunden zu betrachten ist. Die sich auf letzteres beziehende „Prahlerei mit den leeren Taschen“ (ZB, S. 224) in der Kunst sollte vielmehr auch angesichts des spätestens mit Malewitsch vollständig erreichten Abbaus an Form und Gegenstand der Einsicht weichen, dass die modernen Kunst auch als peinture conceptuelle immer noch Bilder produziert. Zu diesem Problem vgl. Arthur Danto, Die philosophische Entmündigung der Kunst, München 1993, S. 23ff.
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Moment des Sinnlichen, verstanden als der nichtbegrifflich materiale, optische „Eigenreiz“470 der Kunstwerke noch steigert. Diesbezüglich ist nicht alleine auf die mit der Zweischichtigkeit des impressionistischen Bildes beginnende „Verflächung“471 hinzuweisen. In Fortführung ihrer Konzentration auf den gegenstandslosen „Flächenreiz“472 des Bildes ist es überdies als das Wesen der fortschreitenden abstrakten Malerei zu bezeichnen, die Möglichkeiten ihres Materials auszuloten. Eingedenk der uns bereits bekannten Überlegungen zum Verhältnis von Stoff und Technik ist leicht einzusehen, dass Gehlen ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen der Malerei und der „Chemie der Kunststoffe“473 darin gegeben sieht, dass beide im experimentellen Vorgehen neue Stoffe erzeugen. Eine Entwicklung, die nach seiner Analyse mit dem Kubismus474 beginnt und dann bei Paul Klee475 erstmals in ihrer ganzen Vielseitigkeit zum Tragen kommt. Dabei erzeugen die Künstler dadurch eine „neue Empfindungsqualität“476 , dass sie einerseits „Neomaterien“477 herstellen und andererseits organischen und anorganischen Abfall als Bedeutungsträger nutzen. Das „Verwitterte und Verfleckte, Abgegriffene, das »décrépit« der Farbfläche“478 spielt hier genauso eine Rolle wie der Umgang mit selbstverfertigten „imaginären Substanzen“479 – „Emulsionen und Säuren, bei denen die Ausgangsmaterialien artistisch sind“480 . Dieser Hinweis auf die Stofflichkeit ist nicht alleine in dem von Monika Wagner herausgestellten Sinne zu verstehen, dass die moderne Kunst das „very image of a new world “481 abgibt. Gehlen zeigt auch auf, dass diese 470 471 472 473 474 475
476 477 478 479 480 481
ZB, S. 95; S. 109. Ebd., S. 65. Ebd., S. 65. Ebd., S. 197. Vgl. ebd., S. 196. Vgl. ebd., S. 196. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass sich Gehlen mit diesem vor dem Hintergrund seiner Techniktheorie so naheliegenden Hinweis auf die Rolle des Materials als richtungweisend für die Kunsttheorie erweist, wie dieses – viel später – eindruckvoll von Monika Wagner belegt wird. Vgl. Monika Wagner, Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001. Zu Gehlens Hinweise auf den Zusammenhang zwischen den Bildern und den neuen Materialien vgl. ebd. S. 186. ZB, S. 197. Ebd. Ebd. Ebd., S. 199. Ebd., S. 200. Vgl. Monika Wagner, Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 187. Dieses Moment findet sich in der von Gehlen ebenfalls aufgezeigten, der Bezugnahme auf das Unkontrollierte entgegenstehenden Entwicklung in der Kunst, „imaginäre technische Zusammenhänge“ (ZB, S. 200) darzustellen. Auch dabei geht sie mit imaginären Substanzen um, sodass manches Kunstwerk „wie eines der Produkte aus den unzugänglichen Glaspalästen der Chemie“ (ebd., S. 200) erscheint.
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Stoffe, indem sie sich von der kontrollierten industriellen Verfertigung des Materials durch die verselbstständigten Prozesse der Industrie absetzen, das „Unkontrollierte“482 der unverfügbaren Natur imitieren. Auf diese Weise zeichnet sich an diesen Materialien ein „Reiz der Natürlichkeit“483 ab, der in die Richtung einer Annäherung zwischen dem abstrakten Bild und dem Leben weist: „plötzlich bemerkt man, daß die Kunst wieder naturnahe geworden ist!“484 Tatsächlich beschreibt Gehlen hiermit auch einen mithilfe der Kategorie der Entlastung beschreibbaren Fortschritt in der Entwicklung der modernen Kunst, der sich analog zum Übergang von der Darstellung »in vivo« zur Einbindung des Bildes in das Ritual verhält. Wo der Expressionismus noch in einer direkten Übertragung die eigenen Gefühlsstöße auf das Bild bringt485, bezieht sich der Umgang mit den imaginären Substanzen vom Bild her auf unsere Emotionen. Die moderne Malerei setzt sich auf diese Weise durch das Bild in ein indirektes Verhältnis zur Natur; sie hat in diesem Übergang „gelernt, die stimulierenden und exaltiertenden Reize des Ungeordneten nicht mehr selbst aufzuwenden, sondern von außen zu beziehen“486. Das Moment der Entlastung durch die der moderne Kunst setzt hier ein. Sie vermag schon aufgrund ihrer Materialität eine Schicht im Menschen zu erreichen, die genauso wenig wie die „Empfindlichkeit des Auges“487 von den geleckten, polierten, hygienischen488 synthetischen Materialen der technisierten Welt berührt werden kann: die „Unsicherheit des Herzens“489 . Analog zu dem oben beschriebenen Lustgewinn, der mit der primitiven Umkehr der Antriebsrichtungen beginnt und sich in der Selbststeigerung durch das mythische Bild fortsetzt, werden wir durch ein „freies Spiel“490 der Kunst mit ihren Materialen berührt, weil es hiermit unwahrscheinlich und damit prägnant gegenüber dem Stoff erscheint, der unseren alltäglichen Umgang mit der Welt bestimmt. Die in dieser Bezugnahme auf das freie Spiel491 durchscheinende und eingangs erwähnte Nähe seiner Theorie der abstrakten Malerei zum kantischen 482 483 484 485
486 487 488 489 490 491
ZB, S. 198. Ebd. Ebd., S. 199. So beschreibt Gehlen den Expressionismus als eine Form des „Neu Primitivismus“ (ZB, S. 147), weil er es wesentlich mit einem durch den „Verlust von Traditionen“ (ZB, S. 148) bedingten, undifferenzierten Umgang mit den Emotionen zu tun hat (vgl. ebd., S. 149). Ebd., S. 199. Ebd., S. 198. Vgl. ebd., S. 199. Ebd., S. 198. ZB, S. 199. Sicherlich erscheint diese Nähe anhand Gehlens Bezugnahme auf das freie Spiel aufzuzeigen auf den ersten Blick assoziativ, da er sich auf den Umgang mit Materialen und nicht auf das
273
Diktum von der durch schöne Dinge angezeigten Beheimatung des Menschen in der Welt492 , lassen sich anhand seiner weiteren Ausführungen zur Entlastung493 und der später völlig überarbeiteten Schlusserörterung494 in der ersten Ausgabe von Zeit-Bilder aufzeigen. Dabei geht es mit der aufgezeigten Nähe zwischen dem mythischen Bild und dem abstrakten Kunstwerk gerade nicht um eine positive Bewertung der möglichen Distanznahme des Menschen gegenüber seinen Zeichen, wie wir es bei Ernst Cassirer gesehen haben. Gehlen beschreibt vielmehr eine mögliche Kompensation des Verzichts auf Lebensnähe, indem er Residuen der Selbststeigerung des Menschen durch seine Bilder aufzeigt, die im eigentlichen Sinne einer durch das verpflichtende mythische Bild gewährleisteten Entlastung im Leben unwiederbringlich der Vergangenheit angehört. In Abwesenheit mythischer Gewissheiten bedeutet die Not der moralischen Neutralität des Kunstwerks diesbezüglich allerdings auch seine Tugend: Gerade weil die Kunst keine Funktion als Außenhalt ritueller Gewohnheit und damit auch keine moralischen Implikationen mehr hat und haben kann, „gelingt ihr eine Entlastung des Bewußtseins“495 des Individuums, das sich ansonsten an die Organisationen anzupassen hat. Das abstrakte Bild ist so gesehen wohl genauso wie das Symbol des Ritus ein „Wunder an Unwahrscheinlichkeit“496 gegenüber der alltäglichen Bewusstseinlage. Da es jedoch keine durch Traditionen vermittelte, in den höheren Schichten des Handelns verortete Moral mehr gibt, kann es seine Größe nur durch Enthaltsamkeit genauso gegenüber moralischen Forderungen497 als überhaupt der „Diszip-
492
493 494 495 496 497
freie Spiel der Erkenntniskräfte bezieht. Allerdings ist es ja die Pointe der Ausführungen über die Entlastung durch diese Bilder, auf die damit einhergehende Stimulierung des Betrachters hinzuweisen. Vgl. Abschnitt 3.1. Diese Nähe zum kantischen Begriff der Schönheit kann man sich am Gegenstand der Betrachtung klarmachen: Wir haben es mit Bildern zu tun, die aufgrund ihrer Abstraktheit auf keinen bestimmten Begriff gebracht werden können und deshalb – sofern sie gelungen sind – in besonderer Weise dazu angetan sind, das von Kant herausgestellte freie Spiel der Erkenntniskräfte zu evozieren (vgl. KdU, § 9, B 28). ZB 1, S. 204ff. Ebd., S. 220ff. Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. Gehlen meint hiermit auch, dass es nicht in der Macht der Kunst stehen kann, die gegenwärtigen Verhältnisse zu verändern, wie er diese Ansicht in einer Podiumsdiskussion mit Max Bense, Joseph Beuys, Max Bill und Wieland Schmied betont. In Gegenposition zu Beuys verweist er darauf, dass die Kunst kein revolutionäres Potenzial haben kann, weil sie in ihrer heutigen Funktion gesellschaftlich wirkungslos ist. Vgl. Joseph Beuys, Provokation Lebensstoff der Gesellschaft / Kunst und Antikunst (Podiumsdiskussion „ende offen. Kunst und Antikunst“ zwischen Max Bense, Joseph Beuys, Max Bill, Arnold Gehlen, Wieland Schmied, 27. Januar 1970), Buchhandlung Walter König, Köln 2003, S. 42, 47.
274
lin“498 und dem „praktischen Dogmatismus“499 des modernen Lebens halten, die sich in der Schicht des rationalen Verstandes bewegen. In dieser Ablösung von den alltäglichen Problemstellungen ist das hiervon unbeeindruckte experimentelle Vorgehen des Künstlers ein in seinen Werken vorgeführter „Halt für Bewußtseinsexkursionen, für die der Platz sonst überall zugestellt ist.“500 Gleichzeitig wird Freiheit als ein sich selbst steigerndes Über-SichHinauswachsen in diesen Kunstwerken spürbar, gerade weil sie „in der unglaublichen Erlebnisfrische glücklicher Lösungen“501 durch „reflexionsdurchtränkte Inspiration“502 auf unsere Affekte einwirken; sie dergestalt unter Absehung von alltäglichen Verpflichtungen „an genau umgrenzter, erwarteter Stelle beunruhigen.“503 Wenn wir oben gesehen haben, dass Gehlens Begriff des Schönen mit dem außeralltäglichen, prägnanten Symbol des Ritus verbunden ist, angesichts dessen sich das Lustgefühl des Menschen steigert, dann wird nachvollziehbar, dass er in diesen Kunstwerken eine im Vergleich zur Tradition zwar selten gewordene, aber dennoch mögliche Schönheit ausmacht – die abstrakte Malerei kann deren „breathtaking beauty“504 noch bezeugen. Hiermit einhergehend lässt sich das Moment des durch die Bilder vermittelten Gefühls einer Beheimatung in der Welt anhand Gehlens weiteren Ausführungen ablesen. Wenn wir uns nach geistiger Durchdringung in Auseinandersetzung mit dem Kommentar, im Sehen wieder auf diese an sich begrifflosen Bilder einlassen, können sie unserem „Bedürfnis nach Anschaulichem und nach optischen Steigerungen“505 nachkommen. Es handelt sich dabei offenkundig um ein Bedürfnis, das sich vor dem Hintergrund der mit dem ideativen Bewusstsein korrespondierenden großen Entlastung als Überwindung der Disharmonie zum Leben erschließt. In eben diesem Sinne spricht Gehlen von einer Nähe zwischen der modernen Kunst und dem mythischen Bild, sofern die Malerei ihre Freiheit darin bewahrt, sich „aus allen Zurechenbarkeiten“506 des Alltäglichen fernzuhalten: „Nur in dieser Verfassung läßt sie sich in das Zweite Neolithikum mit herüberziehen, in das Urahnzeitalter, in eine Welt, die von der Kunst dasjenige Ethos nicht mehr verlangen wird, aus dem sie doch vor Jahrtausenden
498 499 500 501 502 503 504 505 506
ZB 1, S. 205. Ebd. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd., S. 206. Ebd., S. 206. Ebd., S. 208. Ebd. Ebd., S. 209.
275
entstand: Die Freiheit im Gehorsam, im Hinhören und Nachfolgen. Die »Nachahmung« im große, ursprünglichen Sinne.“507 Es ist schließlich die sich mit diesem Hinweis auf das mythische Bild abzeichnende Ambivalenz zwischen seiner offenkundigen Begeisterung für die Möglichkeiten einer Kunst, in der Gehlen sich selbst als wacher Denker wiedererkennen kann508 und seiner pessimistischen Kulturdiagnose, die die Schlusserörterungen in der ersten Ausgabe von Zeit-Bilder bestimmen. Den allgemeinen Wunsch nach einem Halt durch „traditionelle Formen“509, so Gehlen, kann das Kunstwerk heute nur noch erfüllen, indem es sich „von den Spuren vergangener, innerer Durcharbeitung des Lebens“510 befreit. So bleibt als Erbe der Tradition einzig seine Form als „Bild an der Wand“511 erhalten, das seinem Gehalte nach allerdings doch nur „das Spiegelbild der heutigen Gesellschaft“512 ist. Trotzdem ist die moderne Kunst, so müssen wir Gehlen verstehen, das einzige, was uns im Sinne einer durch die Kultur ermöglichten Selbststeigerung und damit auch der Überwindung unserer Fremdheit in der Welt noch bleibt. In einer „denaturiert[en] (oder dekulturiert[en])“513 Kultur bietet diese einzig die Transformation früherer Ansprüche in die „Beglückungen der Sensibilität und Reflexionslust“514 durch das abstrakte Bild, das, obwohl es um das „spezifische Gewicht“515 der irrationalen Gewissheit eines handelnden Glaubens erleichtert ist, die Erfahrung einer durch die eigenen Schöpfungen bedingten, mit dem Gefühl der Liebe korrespondierenden Haltung gegenüber dem Leben doch noch erahnen lässt: „So bleibt eben das Bild an der Wand, aber es ändert seinen Anspruch, und die Malerei erscheint in unserer Zeit als eine geglückte Möglichkeit, die Kunst in die Reichweite der Begabung unserer Herzen zu rücken. Man kann sich vor diesen Bildern halten, und darum lieben wir sie.“516 507
508 509 510 511 512 513 514 515 516
Ebd. Angesichts der Bedeutung der Nachahmung, die Gehlen in Urmensch und Spätkultur für die bildliche Vermittlung der Transzendenzen im Diesseits geltend macht (vgl. US, S. 16), meint er offenkundig, dass sich auf der Basis ihrer Enthaltsamkeit gegenüber dem Alltäglichen eine Verbindung zwischen dem mit Verpflichtungen einhergehenden, den Zweckmäßigkeiten des Lebens nahe stehenden Bild im Neolithikum und dem modernen abstrakten Bild herstellen lässt, also: etwas vom Urahnzeitalter in die moderne Welt gerettet wird, die allerdings ein moralisches Sollen nicht mehr von ihm verlangen wird. In diesem Sinne ist auch das Werk Zeit-Bilder selbst „ein Kommentar, es will zum Verständnis moderner Kunst beitragen“ (ZB, S. 54). ZB 1, S. 222. Ebd. Ebd. Ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Ebd., S. 225. Ebd. Ebd., S. 225.
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Allerdings belässt Gehlen es nicht dabei, die Beglückungen durch das abstrakte Bild herauszustellen und vertritt in der überabeiteten Fassung der Schlusserörterungen von Zeit-Bilder eine ungleich pessimistischere Einschätzung. Dort spricht er in einer an Nietzsche gemahnenden Verwendungsweise dieses Begriffs von der Demokratisierung der Kunst517 im Sinne von Gleichmacherei und Verflachung ihrer Inhalte. So findet die bildende Kunst heutzutage eine „rapide Verbreitung“518 und verliert, dergestalt massenkompatibel geworden, ihren intellektuellen Anspruch. Sie wird auf diese Weise selbst zu einem Konsumgut und hört damit letztlich auf, Kultur im Sinne eines über das alltägliche Bewusstsein hinausgehenden Verhältnisses zur Wirklichkeit zu sein, wie Gehlen diese Ansicht in einem wiederum an Nietzsche angelehnten Ausblick verdeutlicht: „Ob die Demokratisierung aber der Kunst bekommt, ist zweifelhaft, denn vielleicht war sie in ihren besten Zeiten so sehr menschlich, daß sie am besten als prachtvoller Parasit lebte, der irdischen Herrschaft folgend. Auch paßt sie sich virtuos dem Klima an. Doch man kann, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, schließlich nicht alles haben: 20 kg pro Jahr an Süßigkeiten und Knabberwahren, Sattheit, Komfort, Ungeschorenheit und Raum für Forderungen, jederlei Freiheit und Stimmrecht, Ferien und langes Leben – wer dann auch noch »Kultur« verlangt, wäre allzu menschlich: nicht böse, nicht gut, aber unersättlich.“519 Im Sinne der eingangs gemachten Bestimmung des unwirklichen Geistes beschreibt Gehlen hiermit nichts anderes als die am Bild feststellbare Entfremdung des Menschen – mit den fortschreitenden technischen Entlastungen und der damit einhergehenden konsumistischen Weltsicht ist die durch die Kultur vermittelte emotionale Bindung an das Leben verloren gegangen. Das in diesem pessimistischen Blick auf die Gegenwart kenntlich werdende Pro517
518 519
Vgl. ZB, S. 231ff. Hiermit wendet sich Gehlen auch gegen die Vorstellung, dass es eine „Annäherung der Kunst an die Religion“ (ZB, S. 232) gäbe: Indem es nach seiner Analyse das Wesen der modernen Malerei ist, den verpflichtenden Gehalt der religiösen Bilder nicht mehr mitzuführen, kann er dieser Engführung nicht zustimmen. Wenn überhaupt von einer Gemeinsamkeit zwischen Religion und moderner Kunst gesprochen werden kann, dann einzig mit Blick auf das „Thema der Gleichheit“ (ZB, S. 232), das sowohl das Christentum als auch der Demokratie und damit mittelbar der Kunst demokratisch verfasster Gesellschaften eigen ist. Die feststellbare Gemeinsamkeit zwischen moderner Kunst, Demokratie und Religion besteht so verstanden in einer Gleichmacherei, durch die der besondere Charakter des Kunstwerks verloren geht. Gehlen bezieht sich hiermit in einem pejorativen auf die Demokratie als Erbin der Religion, wie Nietzsche dieses vor dem Hintergrund seiner Theorie von der Heerdenthier-Moral entwickelt: „die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen“ (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Fünftes Hauptstück: zur Genealogie der Moral, Aph. 202, in: KSA 5, S. 125). ZB, S. 232. Ebd., S. 233.
277
blem seiner Perspektive auf den Menschen lässt sich allerdings bereits ausgehend von der Bewertung des abstrakten Bildes in der ersten Fassung von ZeitBilder aufzeigen. Zwar ist diese Fassung noch ungleich hoffnungsvoller, sie handelt im Kern allerdings auch vom Kulturverlust, indem sie es der modernen Kunst abspricht, die „alte Dichte personaler Bindungen“520 und damit die Entlastung sicherzustellen, die noch durch das in den Ritus eingebundene Bild gewährleistet wurde.
520
ZB 1, S. 224.
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4 Schlussbetrachtungen 4.1 Entsubstanzialisierter Mythos Indem wir es in der Kunst der Gegenwart mit einer der durch das Ritual gewährleisteten Nähe zur Zweckmäßigkeit des Lebens entbehrenden, entleerten Form zu tun haben, ließe sich von einer Entsubstanzialisierung des Bildes sprechen. Hiermit haben wir einen Topos benannt, der uns in doppelter Hinsicht einen Schlüssel zum Problem dieser Theorie in die Hand gibt: Einerseits können wir jetzt konkret bestimmen, von welchem Problem Gehlen ausgeht, und andererseits lässt sich zeigen, wie problematisch eine daraus entwickelte Theorie vom Menschen sein muss. Wenden wir uns also der Ausgangsbestimmung zu, dass der Mensch einer „Deutung des eigenen menschlichen Daseins”1 in Form eines Bildes bedürftig ist. Diese Annahme, so lässt sich am Ende unserer Untersuchungen feststellen, ist in dem Sinne vom mythischen Bewusstsein her zu verstehen, als Gehlen dort in der Empfindung2 dieses Bedürfnisses der Notwendigkeit einer Entlastung im Leben gewahr wird; im selben Moment ist er sich jedoch in seinem Denken des Umstands bewusst, dass die Substanz des Bildes in Form des unbedingt zum Handeln verpflichtenden Mythos verloren gegangen ist, eben weil er hierüber Reflexionen anstellen kann. Es ist diese Perspektive eines mythischen Bewusstseins ohne realen Gegenstand – des entsubstanzialisierten Mythos – aus der heraus er den Menschen als ein Wesen vorstellt, das nicht der Orientierung im Denken, sondern der Entlastung durch eine gefühlte Beheimatung im Leben bedürftig ist. Das aus dieser Perspektive entwickelte Programm seiner Untersuchung des Menschen fasst Gehlen in der ersten Fassung von Der Mensch unter dem Leitmotiv einer „Gegenaufklärung aus dem Geiste der Wissenschaft“3 zusammen. Obwohl er diese programmatische Gegenüberstellung der ihm als falsch und zutreffend erscheinenden Grundlagen für eine solche Untersuchung in der überarbeiteten Fassung streicht, lassen sich hieran doch die in dieser
1 2
3
GA 3.1, S. 3. An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Gehlen auf das von „nachdenkenden Menschen empfundene [Kursivierung: S.W.] Bedürfnis“ (GA 3.1, S. 3) verweist; also nicht von einem Wissen, sondern einem sich einstellenden Gefühl spricht. M1, S. 347.
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Arbeit besprochenen Grundlagen seines Denkens noch einmal aus dem Blickwinkel des entsubstanzialisierten Mythos aufzeigen. So ist der erste Punkt aufseiten der negativ formulierten Annahmen die Konfrontation des Menschen mit dem seinem begrifflichen Denken substanziell fremd gegenüberstehenden Leben. Wie wir es in seiner Auseinandersetzung mit Driesch und in Fortführung dessen anhand des Bedürfnisses nach einer Deutung des eigenen menschlichen Daseins kennengelernt haben, stellt Gehlen es auch dort eine Fehleinschätzung vor, dass „das rationale Denken eine in der Irrationalität des Lebens vielleicht vermißte absolute Gewißheit bieten könne.“4 Diese Aussage verbindet er mit der Annahme, dass die Denker der Aufklärung und infolgedessen alle mit einem starken Vernunftbegriff arbeitenden Theorien darin falsch lägen, dass „es im Menschen mit dem Denken, der Ratio, einen »metaphysisch« ausgezeichneten Bereich gäbe.“5 Gehlen, so haben unsere Untersuchungen allerdings gezeigt, begibt sich hiermit in eine widersprüchliche Position, indem er selbst einen metaphysischen Standpunkt einnimmt, den er nicht in seine Theorie vom Menschen einfließen lässt. Gleichzeitig vertritt er eine problematische Metaphysik des Lebens, dessen Zweckmäßigkeit sich dem rationalen Zugriff verschließt und zu dem wir uns den Menschen in einer substanziellen Bestimmung als in Disharmonie befindlich vorzustellen haben. Ohne diesen Substanzbegriff vom Menschen dort aufzugreifen, beschreibt er es in einem weiteren negativ formulierten Punkt ganz im Sinne der nicht im Denken, sondern nur durch das Deuten herstellbaren Harmonie mit dem Leben als eine Fehlannahme, dass die „Philosophie allein ein erfolgreiches oder zuverlässiges Handeln auch im Bereich der breiten Erfahrung gewährleiste, etwa »eine vernünftige Sozialordnung«.“6 Sicherlich können wir ihm darin zustimmen, dass es eine vermessene Behauptung wäre, es einzig der Philosophie zuzutrauen, das soziale Handeln zuverlässig zu regeln (es wäre überhaupt zu bestreiten, dass hierin ihre Aufgabe läge). Allerdings kann sie darüber aufklären, dass das Telos des individuellen und gesellschaftlichen Lebens nur in einem Zustand liegen kann, der den „selbstbestimmten Gebrauch der eigenen Vernunft“7 befördert – eben weil es einzig diese Perspektive ist, aus der heraus sich begründete Annahmen über dessen Zweckmäßigkeit und den sich darin zeigenden Sinn formulieren lassen. Dabei müssen wir die von Gehlen auch herausgestellte Relevanz der in den kleinen Entlastungen des eigentätigen Handelns und durch die erzieherische Leistung der Institutionen erworbenen Lebenserfahrungen keineswegs bestreiten. Verinnerlichte Erfahrungen 4 5 6 7
M1, S. 347. Ebd. M1, S. 347. Volker Gerhardt, Immanuel Kant, a.a.O., S. 263.
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allerdings mit der „Angleichung unseres Bewusstseins an die vitalen Lebensprozesse“8 durch die irrationale Gewissheit der durch „einen handelnden Glauben“9 sichergestellten „Gesamtorientierung zur Welt“10 zu verbinden, kann nur einem das Gefühl der Beheimatung in der Welt gegen die Freiheit der eigenen Reflexion ausspielenden Denken vom Mythos her einleuchten. Damit korrelierend ist der auf der Grundlage des Funktionsbegriffs des Mängelwesens entwickelte Begriff des Menschen als das handelnde Wesen dahingehend problematisch, dass die normativ auf die Steuerung des Handlungsvollzugs abgestellte Bestimmung des Bewusstseins keinen Raum für die Innenperspektive des sich in selbstreflexiver Bewusstwerdung frei im Denken orientierenden »Ich« lässt. Gehlens Beschreibung des Menschen als das handelnde Wesen läuft demgegenüber auf das Ideal einer quasi-instinktiv festgestellten Sicherheit im Handeln hinaus, deren kulturell durch den Mythos vermittelte Einswerdung mit dem Leben nur um den Preis eines sacrificium intellectus zu haben ist – er nennt dieses die Geburt der Freiheit aus Entfremdung. Wie sich diese gegen die Ideale der Aufklärung wendende Bestimmung der Kultur mit einer wissenschaftlichen, den Dualismus von Körper und Geist zu überwindenden Untersuchung des Menschen vereinbaren lässt, wird wiederum aus der Perspektive des entsubstanzialisierten Mythos nachvollziehbar. Konzentrieren wir uns auf den wesentlichen Punkt der in seiner Gegenüberstellung positiv beschriebenen Aufgabe einer Philosophischen Anthropologie, dass „Natur- und Geisteswissenschaften am Gegenstand des Menschen nicht trennbar sind“11, dann lassen sich deren Voraussetzungen wie folgt beschreiben: Unter der Annahme, dass die geistigen Funktionen des Menschen wesentlich seiner zweckmäßigen Einrichtung zum Handeln entsprechen, ist es der Zustand mythischen Bewusstseins, in dem Gehlen die Integration von Leib, Seele und wirklichem Geist im Handlungsvollzug gegeben sieht. Demgegenüber entspricht die Bewusstseinsstruktur der modernen Zivilisation derjenigen der untätigen rationalen Reflexion. Mit dieser Vorstellung der aus der Distanznahme des Nachdenkens nicht mehr in vollem Sinne zum Handeln findenden allgemeinen Bewusstseinslage des unwirklichen Geistes korrespondiert das mithilfe der in Anlehnung an Nicolai Hartmanns Schichtenontologie konzipierten Kategorie der Entlastung vorgestellte Modell des zusehends in Distanz zur Wirklichkeit tretenden Bewusstseins. Dieses erreicht über die Schichten des Handelns als Körperbewegung und dem Sprechen als ErsatzHandlung schließlich den Zustand der Handlungslosigkeit des sich in rationalen Begriffen „bewegenden“, nachdenkenden Probehandelns. Nicht nur 8 9 10 11
GA 4, S. 16. M1, S. 347. Ebd. M1, S. 348.
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sieht Gehlen den Dualismus von Körper und Geist hier faktisch vorliegen, weil das stille Nachdenken vom Handeln abgetrennt ist; überdies kann es sich in der Beschreibung des Menschen nur auf eine außer ihm liegende, dem Erkennen transzendente Wirklichkeit seiner „Leib-Seele-Geist-Einheit“12 im Handlungsvollzug beziehen. Eingedenk der Verwandtschaft zwischen Gehlens Kulturphilosophie und Vicos Theorie der Kulturzyklen zeigt sich seine Perspektive auf den Menschen und seine Kultur dann wie folgt: In der Blütezeit der Kultur einer mythisch vermittelten Entlastung im Leben ist die Einheit von Geist und Körper gegeben, weil sich der Mensch in seiner Bindung an die über den rationalen Zugriff hinausgehenden Schichten des rituell vermittelten Handelns nicht in reflexive Distanz zum eigenen Dasein bringt. Demgegenüber kann eine sich dem Menschen als ihrem Gegenstand zuwendende Philosophische Anthropologie nur dann aufgestellt werden, wenn diese Einheit zerbrochen ist. Die oben apostrophierte Trennung des Geistes vom Lebenszentrum und eine sich in den Dualismen der begrifflichen Verobjektivierung bewegende Wissenschaft, gehen so verstanden Hand in Hand, wie Gehlen es etwa in einem Aufsatz über Die Bedeutung Descartes´ für eine Geschichte des Bewußtseins13 formuliert: „Indem nun Cartesius das Selbstbewußtsein des Menschen auf die Ratio einschnürte und schon den Leib für eine Maschine erklärte, hat er nicht nur die Anthropologie, sondern sogar, im Zuge der von ihm mitbegründeten Entwicklung, den Menschen selbst denaturiert.“14 Blicken wir hiervon ausgehend auf Gehlens Anthropologie, dann lässt sich feststellen, dass wir es hier mit solch einer Theorie zu tun haben. Einerseits operiert sie in der eigenen Unterscheidung zwischen res activa und res cogitans mit einer Variante des cartesischen Dualismus; andererseits können wir ausgehend von seiner Theorie der Technik attestieren, dass das Modell des sich vermittels kommunikativer Handlungen mit der Welt bewegenden Menschen nach dem Vorbild einer Maschine, nämlich dem sich in kybernetischen Kreisprozessen selbst regulierenden Automaten, konzipiert ist.15
12 13 14 15
GA 3.1, S. 7. Arnold Gehlen, Die Bedeutung Descartes´ für eine Geschichte des Bewußtseins (1937), in: Gehlen 2, S. 363-376. Gehlen 2, S. 371. Diese Konzeption zeigt sich etwa darin, dass die Magie die Natur deshalb als einen Automatismus interpretiert, weil der „»Handlungskreis«, der über Sache, Hand und Auge zur Sache zurücklaufend sich schließt und dauernd wiederholt“ (StZ, S. 16) als ein Automatismus zu verstehen ist. Genauso kann Gehlen die Funktionsweise des Automaten nur deshalb auf die Handlungsvollzüge des Menschen zurückführen, weil er den Menschen nach dem Vorbild eines Automaten beschreibt.
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Au der Perspektive dieser mechanistischen Vorstellung vom Menschen als eines komplexen, sich aufgrund eines unter den Geschöpfen der natura naturans einmaligen „Organisationsprinzip[s]“16 selbsttätig in der Welt orientierenden Wesens können wir uns den von Gehlen vorgestellten Zusammenhang zwischen individuellem und sozialem Handeln noch einmal klarmachen: Im Körper des einzelnen handelnden Menschen hat die Natur ein sich „hinter dem Rücken des Bewusstseins“17 entfaltendes Programm angelegt, das ihn dazu befähigt, sich in den hierarchisch geordneten Schichten sensibler Bewegungen – Handlungen als eigentätige Entlastungen – in der Welt zu orientieren. In Abstimmung darauf müssen wir uns das Bewusstsein als eine genauso die im Handeln gewonnenen Eindrücke verarbeitende wie die Bewegungen in den unterschiedlichen Schichten menschlichen Handelns steuernde „Schaltzentrale“ vorstellen. Dabei bedient es sich seinem Rückgriff auf die Seele im Sinne einer verinnerlichten „historische[n] Reaktionsbasis“18 der bereits in tätiger Erfahrung verinnerlichten Zusammenhänge von Bewegungsabläufen und Eindrücken. Hiervon ausgehend wird nachvollziehbar, dass Gehlen das rationale Erkennen wesentlich als dasjenige Vermögen des menschlichen Bewusstseins versteht, bestimmte, in der erfahrenden Auseinandersetzung mit der ihm fremd gegenüberstehenden Wirklichkeit gewonnenen Erfahrungsdaten auf mögliche Bewegungen in der Welt zu beziehen. Indem er auf dieser Weise die Ratio auf die sich von den anderen Formen bewusster Bewegungen unterscheidenden Schicht der instrumentellen Handlungsführung reduziert, verbindet Gehlen die Disposition dazu, in Gemeinschaft zu handeln, mit einer hiervon unterschiedenen, nichtrationalen Funktion des menschlichen Bewusstseins. Diese haben wir als das ideative Bewusstsein kennen gelernt, in dem sowohl das Vermögen angelegt ist, Deutung des eigenen Seins in schöpferischer Tätigkeit hervorzubringen, als auch dasjenige dazu, sich in Abhängigkeit zu diesen Bilder zu verhalten. Diesen Automatismus beschreibt er mit der im Individuum anzutreffenden Ahnung einer unbestimmten Verpflichtung, die in Abstimmung mit der sich in der Gemeinschaft als erfahrbares Bild konkretisierenden Führungsidee zu einer mit irrationaler Gewissheit befolgten Pflicht wird. Soziales Handeln, so haben wir gesehen, verbindet Gehlen auf diese Weise keineswegs mit einer sich in rationaler Kommunikation ergebenden Selbstbewusstwerdung des Menschen, sondern mit der gleichförmigen Ausrichtung des Verhaltens der in der empirischen Beschreibung jeweils als homo clausus gedachten Individuen. Angesichts dessen wird deutlich, inwiefern das grundlegende Problem dieser Theorie auf den Dualismus zwischen dem Betrachter und seinem 16 17 18
GA 3.1, S. 12. GA 4, S. 14. GA 3.1, S. 295.
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Gegenstand zurückzuführen ist. Indem Gehlen die eigene Perspektive auf den Menschen nicht in seine Theorie vom Menschen einfließen lässt, behandelt er ihn wie ein dem eigenen Denken gegenüberstehendes Objekt; ein sich selbstständig in der Welt bewegendes und im Zusammenwirken mit anderen Menschen der Führung bedürftiges Lebewesen, dessen Bewusstsein dasjenige nicht zu leisten vermag, was dem Theoretiker – nolens volens – selbstverständlich ist: Die im unmittelbaren Eingebundensein in die Tätigkeit erfahrenen Differenzen zwischen Gegenstandsbewusstsein und Wirklichkeit, individuellem und gesellschaftlich-objektivem Geist dadurch aufzuheben, dass er sie auf den Begriff bringt.19 Gehen wir noch einen Schritt zurück, dann nimmt dieses Problem seinen Ausgang in Gehlens Blick auf das Leben. Auch die den Menschen mit einbeziehenden Prozesse des Lebens stellt er in einem verdinglichenden Zugriff als ein dem Betrachter substanziell fremd gegenüberstehendes, äußerlich beschreibbares, aber seiner inneren Zweckmäßigkeit nach nicht verstehbares Geschehen vor. Wir haben allerdings gesehen, dass wir uns weder einen solchen Substanzbegriff vom Leben machen können noch von einer dem begrifflichen Denken fremden, irrationalen Zweckmäßigkeit desselben ausgehen dürfen. Genauso ist eine sich jedweder Metaphysik enthaltende, alleine auf das empirisch Erfahrbare gestützte Theorie vom Menschen als eines sich in Disharmonie zum Leben befindlichen Wesens unmöglich. Die Fähigkeit, sich Begriffe zu machen, liegt nicht nur jeder empirischen Beschreibung zugrunde, sie muss vielmehr im Sinn vernünftiger Selbstreflexion als das über die Leistung des Bewusstseins im tätigen Handlungsvollzug hinausgehende, wesentliche Merkmal menschlichen Daseins begriffen werden. Das Staunen des Philosophen, so können wir die hiermit verbundene Kritik an Gehlen zusammenfassen, mag wohl mit einem Gefühl der Fremdheit der uns begegnenden Vielfalt des Lebens beginnen. Zur Philosophie gelangen wir aber erst, indem wir Abstand zu diesem Gefühl gewinnen und uns dessen bewusst werden, dass wir im Denken einen jenseits der Erfahrung liegenden Standpunkt im Leben einnehmen können, aus dem heraus sich die Wirklichkeit erschließt. Verstehen wir schließlich das ungebrochene mythische Bewusstsein als einen solchen Zustand, in dem der Mensch seine emotionale Bindung an die Phänomene noch nicht durch die Distanznahme in der begrifflichen Reflexion zu überwinden vermag, dann lässt sich feststellen, dass der entsubstanzialisierte Mythos nicht Entfremdung vom Leben bedeutet; ganz im Gegenteil ist 19
Wir haben zwar gesehen, dass Gehlen es für ein Missverständnis des Idealismus hält, die Grenze zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein nicht anzuerkennen (vgl. Abschnitt 2.3.3); allerdings überschreitet er diese Grenze – nolens volens – schon dadurch selbst, dass er sie aufzeigt und damit in seinem Bewusstsein über einen Begriff von Wirklichkeit verfügt, der beide Seiten in sich aufzuheben vermag.
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dieses die Bedingung der Möglichkeit dafür, sich der Einheit von menschlichem Dasein und Leben im Denken bewusst zu werden.
4.2 Leben in Entlastung – ein Fazit Wenden wir uns hiervon ausgehend schließlich in einem Fazit der Frage zu, was Gehlens Theorie zu leisten vermag, dann müssen wir uns zunächst klarmachen, welcher Perspektive auf die Welt sie überhaupt entspricht. Dabei folgt nicht nur aus den genannten Gründen, dass es sich nicht um unseren Blickwinkel als Philosophen handeln kann; indem Gehlen zwischen sich selbst als Theoretiker und dem objektiv in seinen Handlungsvollzügen beschriebenen Menschen unterscheidet, wird überdies deutlich, dass hierin auch nicht sein Anspruch liegt.20 Diese Anmerkung entlastet diese Theorie zwar nicht von ihren Defiziten; einen solchen Perspektivwechsel zu vollziehen, lässt allerdings den darin liegenden Erkenntnisgewinn hervortreten, menschliches Dasein als Leben in Entlastung zu beschreiben. Diesem Ergebnis ist voranzustellen, dass die Rekonstruktion der sich in entlastenden Handlungsvollzügen einstellenden Intimität mit der Welt im Sinne einer Vorgeschichte des erwachsenen Gegenstandsbewusstseins noch vor dieser perspektivischen Differenz anzusiedeln und als solche richtungsweisend ist. Auch wenn er sich gegen einen transzendentalphilosophischen Ansatz wendet, lassen sich diese Überlegungen doch für einen solchen fruchtbar machen: Wir können uns mit Gehlen klarmachen, dass unser verständiger Zugriff auf die Welt eine Vorgeschichte des gekonnten Umgangs mit den Dingen hat. In einer über seinen Ansatz hinausgehenden Überlegung müssen wir dann allerdings feststellen, dass dieser von unten beschriebene, sich von den einfachen Köperbewegungen bis ins Sprechen ziehende Aufbau nur von oben, d.h. unter der Voraussetzung der allen menschlichen Individuen gleichermaßen zukommenden Verstandesleistungen, mithin eines transzendentalen Subjekts, aufgezeigt werden kann. Wie die weiteren Untersuchungen ergeben haben, können wir Gehlen jedoch keineswegs darin zustimmen, eine seinerseits von oben auf das sich verständig in der Welt orientierende Individuum wirkende Schicht des sich kategorial dem rationalen Zugriff verschließenden, durch die Institutionen vermittelten Handelns anzunehmen. Als Philosophen können wir uns jederzeit 20
Dieses zeigt sich etwa in einem Streitgespräch zwischen Gehlen und Theodor W. Adorno vom 3. Februar 1965. So verneint Gehlen dort die selbst an Adorno gestellte Frage danach, ob man allen Menschen zumuten könne, „die Belastung mit Grundsatzproblematik, mit Reflexionsaufwand, mit tief nachwirkenden Lebensirrtümern [zu bewältigen, S.W.], die wir durchgemacht haben, weil wir versucht haben uns freizusschwimmen“ (Friedmann Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen, Frankfurt am Main 1974, S. 250).
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klarmachen, dass sich hierin keine außerhalb unserer intellektuellen Kapazitäten zu verortende Substanz verwirklicht. Der Vorstellung der großen Entlastungen ist so verstanden jene befreiende Entlastung entgegenzuhalten, die mit der Erkenntnis einhergeht, sich keiner Weltanschauung oder Religion als eines über unsere intellektuellen Fähigkeiten hinausgehenden geistigen Gehalts unterwerfen zu müssen. Indem es sich hier um Produkte des Menschen handelt, kann auch deren vermeintlich höheres Wissen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was die bloße Vernunft zu leisten vermag – wofür die auch von Gehlen in Anspruch genommene Möglichkeit einer theoretischen Untersuchung der menschlichen Kultur der beste Beleg ist. Wollen wir allerdings die Leistung des Begriffs der Entlastung verstehen, dann können wir Gehlen darin zustimmen, dass sich an diesem Problem auch ein Perspektivenwechsel zwischen einem philosophischen und einem ganz alltäglichen Zugang zur Welt festmachen lässt. Legen wir also die Brille des Philosophen für einen Moment ab und betrachten die Sache aus der Perspektive des Alltagsbewusstseins. Aus diesem Blickwinkel können wir uns zunächst klarmachen, dass das Leben selbst als ein eigenwillig strukturierter Prozess erscheinen muss, weil er sich nicht mit Begriffen und Vorstellungen erschließt, die einzig auf die Bewältigung des alltäglichen „Brockens und Beißens“21 eingestellt sind. Genauso wird nachvollziehbar, dass der Ritus eine jenseits dieser Vorstellungswelten liegende Wirklichkeit zur Geltung bringt, indem er sich bestimmter Symboliken bedient, denen der Alltagsverstand sonst nirgendwo begegnet. Hiervon ausgehend können wir die darin bestehende Entlastung des Bewusstseins nachvollziehen, dass die dort transportierten Selbstdeutungen des Menschen nicht mit dem entwickelten, auf die Bewältigung von Sachproblemen eingestellten Gegenstandsbewusstsein der „»erwachsene[n]« Weltsicht“22 korrelieren. Nur in dieser Form als von außen an das Individuum tretende Gewissheiten können sie an der Stelle Orientierung und Sicherheit bieten, wo sich der eigene Verstand prinzipiellen Grenzen gegenübergestellt sieht. Die Distanznahme gegenüber diesen Bildern geht so betrachtet durchaus einseitig mit einem Verlust an gefühlter Beheimatung im Leben einher, weil sie den Einzelnen auf das beschränkte Terrain des bloßen Verstandes zurückwirft und gleichzeitig das „innere Gewoge“23 seiner ungehemmten Antriebe an Halt verliert. Dass eine solche Distanznahme sowohl einen Verzicht auf die Befriedigung grundlegender Triebe als auch einen Verlust an Lebensfülle bedeutet, haben wir in der Auseinandersetzung mit Freud und Cassirer gesehen. Mit Blick auf diese Autoren lässt sich feststellen, dass die Stärke der Theorie Geh21 22 23
GA 3.1, S. 56. GA 4, S. 14. Friedmann Grenz, a.a.O., S. 247.
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lens aus der Schwäche ihrer Grundlegung folgt. So kann Gehlen deshalb ein scharf konturiertes Bild der Probleme des modernen Lebens zeichnen, weil er die Möglichkeit einer auf die Leistung der vernünftigen Einsicht abgestellten positiven Auflösung derselben von vornherein ausschließt. Beschränken wir uns auf die mit dieser einseitigen Betrachtung einhergehende Beschreibung der Phänomene, dann ist ihm durchaus darin zuzustimmen, dass die moderne Zivilisation nicht jenes mit der Emotion der Liebe korrelierende Gefühl der Beheimatung in der Welt stiften kann, das in einer durch den sympathetischen Zusammenhang des Ganzen geprägten Kultur noch vorhanden gewesen sein mag. Hiervon ausgehend einen Gegensatz zwischen der entlastenden Orientierungsleistung eines mit irrationaler Gewissheit befolgten Glaubens und der darin bestehenden Belastung aufzuzeigen, sich in chronischer Reflexionswachheit um das eigene Fortkommen kümmern zu müssen, leuchtet ein. Nicht nur diesbezüglich ist auf die Vorteile in der Phänomenbeschreibung hinzuweisen, die die wesentlich auf den Fortschritt der Entlastungstechniken abgestellte Theorie der Kulturentwicklung zu bieten hat. Es scheint tatsächlich zuzutreffen, bestimmte Probleme des modernen Menschen darauf zurückzuführen, dass ein Großteil der zu leistenden Arbeit von Maschinen und zuletzt Automaten übernommen wird und er infolgedessen sowohl körperlich unterfordert als auch intellektuell überfordert ist. Dass wir Gehlen nicht darin folgen können, dieses mit dem Problem einer Unwirklichkeit des nicht in den tätigen Handlungsvollzug eingebundenen, entlasteten Geistes zu verbinden, haben wir uns bereits mit Blick auf den zu kritisierenden Dualismus zwischen Reflexion und Aktion klargemacht. Verstehen wir eine solche Unwirklichkeit, gewissermaßen in Form eines kleinsten gemeinsamen Nenners, jedoch als eine gewisse Orientierungslosigkeit, von der sich der Zeitgenosse durch das Aneignen einer bestimmten Meinung oder eines Weltbildes entlasten will, dann scheint nicht zuletzt der sich im stetigen Wachstum befindliche Esoterikmarkt in diese Richtung zu verweisen. Tatsächlich lässt sich bezüglich der hiermit berührten Entlastungsfunktion unhinterfragbar für wahr angenommenen Überzeugungen sehr viel von Gehlen lernen. So ist nachvollziehbar, dass wir uns in der Welt nur unter der Voraussetzung bestimmter nicht infrage zu stellenden Gewissheit bewegen können, »daß« sie uns auf die eine oder andere Weise unabhängig von unserer eigenen Verfügungsgewalt entgegenkommt. Dazu bedarf es nicht unbedingt eines Faibles für Astrologie, Esoterik oder einer religiösen Sozialisation; wir erleben diese Entlastungen größtenteils in Form der Liebe unseres Partners, der Geborgenheit in der Familie oder der Loyalität unserer Freunde24. Sicher24
Den von Gehlen diesbezüglich nicht nur in Wirklicher und unwirklicher Geist herausgestellten Umstand, dass wir das Gefühl einer uns entgegenkommenden Liebe heute „nur noch in den elementarsten menschlichen Beziehungen: in der Familie, unter ein paar Vertrauten“
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lich können wir uns auch diesbezüglich täuschen; in der dann erlebten Enttäuschung zeigt sich allerdings, dass die Ansprüche, die wir ihnen gegenüber erheben, über dasjenige hinausgehen, was wir bloßen Arbeitshypothesen zutrauen. Hier ließe sich in der Tat von einer „»Wirkung des Willens auf den Intellekt«“25 in der Weise sprechen, dass wir uns nicht dessen erwehren können, in der unerschütterlichen Gewissheit leben zu wollen, dass wir Entlastung durch solche Zuwendungen erfahren. Aus diesem Wollen die wesentliche Bestimmung der Moral abzuleiten greift sicherlich zu kurz. Moralisches Handeln geht darüber hinaus, eine verinnerlichte Haltung gegenüber den Ansprüchen solcher und anderer Selbstwerte im Dasein einzunehmen. Mit Blick auf die Perspektive des Alltagsbewusstseins lässt sich allerdings sagen, dass Gehlen hiermit keinen geringen Anspruch formuliert, der, so wir Hegels Bestimmung der Sittlichkeit folgen, dasjenige ausdrückt, was wir überhaupt an Moralität vom Anderen erwarten können. Es ist allerdings der Einseitigkeit der Analysen Gehlens geschuldet, im Aufbrechen der traditionellen Vermittlung der Werte einzig den Verlust an Gewissheit und Haltung auszumachen und nicht – wie Hegel – den darin liegenden Fortschritt zu erkennen, dass Einheit von Sittlichkeit und Vernunft entstehen und moralische Forderungen überhaupt in rational begründeter Form vorgebracht werden können. Diese Wendung gegen eine rationale Begründung von Werten haben wir auch in Gehlens Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus John Deweys kennen gelernt, die sich ihrerseits auf die alleine auf die Bewältigung von Sachproblemen zugeschnittene, instrumentelle Bestimmung der Ratio zurückführen lässt. Folgen wir Gehlen in dieser einseitigen Betrachtung, dann lassen sich trotz dieser Unterbestimmung bedenkenswerte Einsichten hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen zur Natur gewinnen. So können wir mit Gehlen attestieren, dass es ein auf die Ausweitung des instrumentellen Zugriffs zurückführbares Problem der modernen Zivilisation ist, in der Ausbeutung natürlicher Ressourcen den Eigenwert des Lebendigen zu übergehen. Dieses Problem aufzuzeigen lässt sich tatsächlich auch ungeachtet der Bestimmung von Naturzweck bei Gehlen nachvollziehen – so können wir beispielsweise auch mit Kant zu der Einsicht gelangen, dass, indem sich Zweckmäßigkeit in der Natur nachweisen lässt, es auch unabhängig von uns Lebewesen gibt, die so weit Zwecke an sich selbst sind, dass deren eigene Ansprüche darüber hinausgehen, dass sie einzig als Mittel für unsere Zwecksetzungen zu behandeln sind.
25
(GA 1, S. 160) finden, können wir ganz ohne den kulturpessimistischen Einschlag übernehmen und uns klarmachen, dass dieses die Orte sind, an denen wir dieses erfahren können. Vgl. dazu ZB 1, S. 224; vgl. zur Bedeutung kleiner in Freundschaft verbundener Gruppen StZ, S. 82. GA 3.1, S. 361.
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Ungeachtet dessen, wie genau dieses auszusehen hat, lässt sich hieran anschließend feststellen, dass wir mit Gehlen in dem Sinne GegenRousseauisten sein müssen, dass wir den adäquaten Umgang mit der Natur als eine Kulturleistung anerkennen. So ist ihm darin zuzustimmen, dass sich die Kultivierung der lebendigen Natur nicht prinzipiell gegen ihre innere Zweckmäßigkeit richtet, sondern die Möglichkeit eines zweckmäßigen Umgangs mit ihr erst eröffnet: Der Mensch lebt konstitutiv in der Kultur im Sinne einer zweiten Natur und jeder sinnvolle Umgang mit dem Lebendigen kann einzig als eine Kulturleistung verstanden werden. Infolgedessen bedarf es einer innerkulturellen Besinnung auf bestimmte, über die instrumentelle Verwertung des Lebens hinausgehende Zwecksetzungen. Mit Blick darauf ist der Rede von der Primitivität einer Konsumentenhaltung, die nicht über die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse hinauszugehen vermag, genauso zuzustimmen wie seinem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beschränkung unseres technischen Zugriffs auf das Leben. Dieses allerdings mit einem Einklang zwischen Kultur und einem in Opposition zur Vernunft stehenden Leben in Verbindung zu bringen, kann nur einem raffinierten Rousseauisten wie Gehlen einleuchten. An dieser Stelle können wir die Brille des Philosophen also wieder aufsetzen und uns vergegenwärtigen, dass wir nicht den fehlenden Einklang mit der Natur zu beklagen brauchen, den Gehlen dem „Leben in Not und Nutzen“26 vergangener Tage unterstellt. Es kann weder ein „Zurück zur Kultur!“27 geben, noch ist eine sich von der Ratio abwendende Rückbesinnung auf das Leben selbst vonnöten, eben weil wir nicht die von Gehlen gemachte Entgegensetzung von Begriff und irrationalem Leben teilen müssen. Eingedenk dessen kann Gehlen wohl die Probleme und Belastungen in der modernen Zivilisation beschreiben; der daraus abgeleiteten pessimistischen Zeitdiagnose brauchen wir jedoch nicht zuzustimmen, da die Leistung unserer Vernunft über diejenige des bloßen Alltagsverstandes hinauszugehen vermag. Aus dieser Perspektive können wir das Leben selbst als den „Ursprung und die Bedingung aller spezifischen menschlichen Leistungen“28 verstehen – wozu eben auch die Vernunft zu zählen ist – und dürfen deshalb auch darauf vertrauen, vernünftige Lösungen im Einklang mit seinen Anforderungen zu finden. Dabei kann ein Begriff des Menschen als Leben in Entlastung dergestalt hilfreich sein, dass wir uns anhand dessen die Bandbreite unserer Ansprüche an das Leben vergegenwärtigen können. Wohl können wir uns nur aus der Perspektive des reflektierenden Bewusstseins verstehen; wir sind als 26 27 28
GA 1, S. 240. GA 4, S. 132. Volker Gerhardt, Die Politik und das Leben. Antrittsvorlesung an der Humboldt Universität zu Berlin am 30. Juni 1993, hg. von Marlis Dürkop, Berlin 1993, S. 7.
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Menschen jedoch nicht reiner Geist, sondern darauf angewiesen, uns die Welt und damit auch uns selbst in erfahrender Tätigkeit anzueignen; darüber hinaus sind wir durchaus einer uns auch emotional berührenden Orientierung bedürftig, aus der sich die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und unseres Daseins überhaupt erschließt. Mit Gehlen können wir uns allerdings auch darauf einstellen, dass sich diese Bedürfnisse in unserer Kultur nicht ohne Weiteres befriedigen lassen. Die moderne Arbeitswelt gibt es weitgehend nicht her, dass wir nach einem alle unsere physischen und geistigen Energien fordernden, erfahrungsreichen Leben „alt und lebenssatt“29 sterben; auch stellt das Problem einer sinnvollen Orientierung im Leben jeden Einzelnen vor eine Aufgabe, an der er auch scheitern kann. In dieser Hinsicht sind wir als Menschen in der Tat riskierte Wesen. Dieses einzusehen muss uns nicht melancholisch stimmen. Es gemahnt uns allerdings, dass es aufgrund der enormen Entlastungen, die mit der Befreiung von den Zwängen der Traditionen und den Annehmlichkeiten unserer durch und durch technisierten Welt einhergehen, zusehends in unsere eigene Verantwortung gestellt ist, Halt im Leben zu finden, indem wir in der eigenen Lebensführung versuchen, in freier Selbstbestimmung eine ihm angemessene Haltung einzunehmen
29
GA 1, S. 218.
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Literatur Schriften von Arnold Gehlen Arnold Gehlen, Gesamtausgabe, hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 1978-, Bandhg.: Lothar Samson (1, 2), Karl-Siegbert Rehberg (3, 4, 6). Gehlen, Arnold (1978), Philosophische Schriften I [GA 1]: Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch (1927), S. 19-97. Reflexionen über Gewohnheit (1927), S. 97-112. Wirklicher und unwirklicher Geist. Eine philosophische Untersuchung in der Methode absoluter Phänomenologie (1931), S. 113-383. Idealismus und Existenzphilosophie (1933), S. 383-402. Gehlen, Arnold (1978), Philosophische Schriften II [GA 2]: Theorie der Willensfreiheit (1933), S. 1-180. Wirklichkeitsbegriff des Idealismus (1933), S. 181-198. Der Staat und die Philosophie (1935), S. 295-310. Der Idealismus und die Lehre vom menschlichen Handeln (1935), S. 311-346. Die Bedeutung Descartes´ für eine Geschichte des Bewußtseins (1937), S. 363-376. Gehlen, Arnold (1993 [1950]), Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940 [GA 3.1; GA 3.2]. Gehlen, Arnold (1983), Philosophische Anthropologie und Handlungslehre [GA 4]: Vom Wesen der Erfahrung (1936), S. 3-24. Die Resultate Schopenhauers (1938), S. 25-49. Ein Bild vom Menschen (1941), S. 50-62. Zur Systematik der Anthropologie (1942), S. 63-112. Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie (1952), S. 127-142. Zur Geschichte der Anthropologie (1957), S. 143-164. Über instinktives Ansprechen auf Wahrnehmungen (1961), S. 175-202. Ein anthropologisches Modell (1968), S. 203-215. Philosophische Anthropologie (1971), S. 236-246. Formen und Schicksale der Ratio (1943), S. 306-350. Über die Geburt der Freiheit aus Entfremdung, S. 366-381. Gehlen, Arnold (2004), Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften [GA 6]: Die Seele im technischen Zeitalter (1949/1957), S. 1-139 [StZ] Mensch und Technik (1953), S. 141-150.
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Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie (1953), S. 151-163. Anthropologische Ansicht der Technik (1965), S. 189-203. Erfahrung zweiter Hand (1974), S. 204-213. Über kulturelle Kristallisation (1961), S. 298-314. Über kulturelle Evolution (1964), S. 315-329. Ende der Geschichte? (1975), S. 336-351. Das entflohene Glück. Deutung der Nostalgie (1976), S. 552-565. Über Barbarei (1977), S. 566-576. Außerhalb der Gesamtausgabe zitierte Texte Arnold Gehlens: Gehlen, Arnold, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 2., unveränderte Auflage, Berlin 1941 [M1]. Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur (1956), hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004 [US]. Gehlen, Arnold, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969), hg. von Karl-Siegbert Rehberg, Frankfurt am Main 2004 [MH]. Gehlen, Arnold, Zeit-Bilder. Zur Soziologie uns Ästhetik der modernen Malerei, erste Auflage, Bonn 1960 [ZB 1]. Gehlen, Arnold, Zeit-Bilder. Zur Soziologie uns Ästhetik der modernen Malerei, dritte, erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 1986 [ZB]. Gehlen, Arnold, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied am Rhein 1963, darin: Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens, S. 64-78. Über die Verstehbarkeit der Magie, S.79-62. Probleme einer soziologischen Handlungslehre, S. 196-231. Stellungnahme zu den Hauptsachen, S. 140-148.
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Personenregister Adorno, Theodor W. 9, 182, 205, 285 Alsberg, Paul 57, 250 Arendt, Hannah 257 Aristoteles 13, 63, 148 Beuys, Joseph 274 Bloch, Ernst 211 Bolk, Louis 52 Buonarroti, Michelangelo 267 Buytendijk, Frederik Jacobus 126 Carrel, Alexis 71, 72, 83, 263 Cassirer, Ernst 15, 29, 48, 93, 121, 193, 198, 202, 214, 218, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 243, 258, 274, 286 Claessens, Dieter 55, 57, 89, 206, 208 Croce, Benedetto 149, 175 da Vinci, Leonardo 267 Danto, Arthur 271 Delitz, Heike 9, 21, 32, 124, 129 Descartes, René 13, 38, 40, 245, 282 Dewey, John 105, 110, 150, 155, 156, 159, 176, 177, 288 Driesch, Hans 11, 13, 14, 15, 17, 18, 19, 140, 280 Durkheim, Emile 205, 227, 228 Elias, Norbert 70, 101, 144, 211 Fellmann, Ferdinand 175, 194, 217 Fichte, Johann Gottfried 155, 172, 181, 182, 189, 190 Fischer, Joachim 9, 10, 11, 38, 86, 90, 124, 126, 141, 175, 182 Freud, Sigmund 75, 78, 80, 81, 82, 83, 84, 117, 188, 218, 221, 239, 286 Galilei, Galileo 250
Gerhardt, Volker 69, 93, 100, 102, 280, 289 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 197, 267 Gris, Juan 269, 270, 295 Großheim, Michael 20, 108, 179, 182 Häberlin, Paul 18, 106, 113 Habermas, Jürgen 10, 198, 206, 233 Hartmann, Nicolai 14, 16, 17, 60, 71, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 100, 101, 102, 124, 151, 199, 209, 210 Hauriou, Maurice 207, 208 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 19, 93, 109, 110, 142, 145, 155, 161, 162, 163, 167, 173, 176, 182, 183, 184, 185, 190, 195, 196, 197, 198, 204, 208, 224, 263, 288 Heisenberg, Werner 36, 37, 257 Herder 28, 37, 125, 137 Hölderlin, Friedrich 239 Honneth, Axel 50, 143, 144 Husserl, Edmund 121 James, William 150, 151 Kahnweiler, Daniel-Henry 270 Kant, Immanuel 16, 25, 26, 27, 28, 69, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 121, 150, 159, 168, 194, 210, 270, 274, 280, 288 Kapp, Ernst 248, 249 Kierkegaard, Sören 26, 161, 162, 190 Klee, Paul 272 Lepenies, Wolf 79 Litt, Theodor 33, 111 Lorenz, Konrad 30, 78, 79, 80 Löwith, Karl 175
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Mead, George Herbert 117, 118, 126, 127, 134, 141, 142, 143, 144, 228 Menasse, Robert 210, 211, 296 Möckel, Christian 237, 296 Nietzsche, Friedrich 19, 22, 23, 32, 33, 53, 150, 200, 277 Novalis 171, 296 Peirce, Charles Sanders 150 Plessner, Helmuth 57, 86, 140, 141, 145 Recki, Birgit 98, 232, 234, 238, 239, 240 Rehberg, Karl-Siegbert 10, 11, 12, 24, 25, 29, 40, 78, 95, 111, 113, 117, 124, 125, 133, 141, 160, 166, 192, 199, 213 Rickert, Heinrich 194 Sartre, Jean Paul 160 Scheler, Max 34, 35, 41, 42, 43
300
Schelling, Friedrich 165 Schiller, Ferdinand Canning Scott 151, 152 Schmidt, Hermann 253 Schopenhauer, Arthur 18, 19, 37, 38, 50, 51, 113, 173, 200 Spengler, Oswald 71, 178, 211, 216, 264 Thies, Christian 9, 30, 57, 79, 111, 176, 182 Uexküll, Jacob von 38, 44, 45, 47, 48, 49 Vico, Giambattista 71, 149, 170, 175, 191, 213, 214, 215, 216, 217, 233, 258, 260, 261 Vogt, Peter 40, 41, 105, 159, 168 Wagner, Monika 272, 297 Wöhrle, Patrick 9, 10, 29, 40, 41, 83, 111, 144, 175, 225, 228 Xenophanes 153, 154
Index A abstrakte Malerei 267ff.. Aggressionstrieb 78ff. Animismus 191, 236f., 242f. Anpassung 71ff., 262f. Antriebsformierung 62ff., 74ff. Antriebsüberschuss 46ff., 59, 61, 74ff Antwortbewegung 116, 130, 141 Askese 200, 226, 242, 258 Astrologie 259f. Aufklärung 184, 209 Augenscheinlichkeit 171f., 190f., 202, 246f., 258, 275f. Außeralltäglichkeit 203ff., 226f., 274 Automatismus, Automaten 246, 269ff., 253ff. B Barbarei 261 Barbarei der Reflexion 191, 215f., 258 Belastung 56, 58, 70ff., 86, 237, 289 Bewegungen, siehe auch: Handlung 33ff. Bewusstsein38ff., 62ff., 62ff., 73 Bewusstseinsphilosophie 38, 90, 151, 160 Bewusstseinsstrom 69, 145 Bewusstseinsstruktur 85, 217, 229, 233, 281, Biologismus 24ff. C cartesianischer Dualismus 30ff., 33ff., 36ff., 105ff., 112, 215f., 281f., 287
Charakter 62ff., 64ff., 70ff. corso 191, 211ff., 217f., 260 D Daseinswert 221ff., 229, 252 Selbstwert im Dasein 193, 222ff., 228, 230, 232, 252, 264, 288 absoluter Selbstwert 224, 228, Denken, siehe auch: lautloses Denken 107, 132ff. Disharmonie 30, 50ff., 57, 74, 79f., 96, 169, 190, 202, 210, 243f., 262, 265, 268, 275, 280, 284 Distanznahme 74, 85ff., 105, 108, 134, 156, 178f., 241, 251, 281, 286 E Eingepasstheit 38, 44, 50, 53f. empirische Philosophie 24ff., 57, 103, Entartung 71f. entdifferenziertes Triebleben 71, 79 entfremdetes Selbstgefühl 115f., 125, 127, 130ff., 142f., 157, 172, 174, 180, 201 Entfremdung 99, 108, 110, 118, 133, 149, 174, 178ff., 252, 263, 277, 281, 284 Entgeisterung 210, 224. Entlastungsprinzip 56ff., 156f. entlasteter Geist 72, 191f., 218f., 254, 268f., siehe auch: unwirklicher Geist Entlastung im Leben 190f., 218, 225ff., 229, 233ff., 240, 242, 274, 279, 282
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Entlastungsgefahr 104, 178, 181ff., 242, 266 Entlastungstechnik 250f., 253f., 287 Instinktentlastung 61, 76 Kategorie der Entlastung 60, 89, 90ff., 105, 130, 157, 159, 179, 228, 273, 281 kleine Entlastungen 56, 58ff., 82 93, 107, 169, 202. 206, 280 große Entlastungen 56ff., 68, 82, 84, 94, 169, 190, 202, 206, 262, 275, 282 sekundäre Entlastungen 57, 192, 250 Entsozialisierung 243, 247, 258 Entwicklungshemmung 52 Erfahrung 62ff. Erfahrungen zweiter Hand, siehe: Meinung Lebenserfahrung 64ff., 70ff., 111f., 142, 152, 164, 166f, 170ff., 188, 220, 265, 268, 280 Erinnerung 138ff. Erkennen, siehe: rationale Erkenntnis Ersatz des Organischen 251, 289 erwachsene Weltsicht 67ff., 81ff., 199, 285f. Existenzphilosophie 10, 161ff. Experiment 149ff., 157ff., 167ff., 170f., 175ff., 220, 248ff., 260, 267ff. F Faktenaußenwelt 252 Formierungszwang 47 Fraglosigkeit 162, 165, 173, 178, 185, 215, 216, 235 Freiheit 27, 62, 91ff., 96ff., 108, 147, 149, 160, 177, 178ff., 195ff., 237, 263, 268, 275ff. Führungsidee 207ff., 215, 223, 229, 264, 283 Funktionsbegriff 23, 29, 53, 56ff., 79, 210, 249, 281
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G Gedächtnis des Leibes 66f., 138, 166 Gedanke 135f. Gegen-Rousseau 83, 265, 289 Gegenaufklärung 279 Geist, siehe auch: Bewusstsein 32, 42, 108ff., 113 Gewohnheit 32, 47, 49, 78, 176f., 194ff., 201ff., 206, 212, 219ff., 227, 230ff., 244, 274 Glaube 168f., 171, 178f., 183ff., 189f., 208f., 215f., 223f., 235f., 242f., 258, 276, 281, 287 H Haltung 63, 126, 173f., 176, 200, 246, 264, 276, 288, 290 Handlung 23, 28ff., 30ff., 33ff., 36ff., 49f., 112ff., 281ff. Ersatz-Handlung 107f., 146, 218, 281 Handlungs-Schichten 92ff., 101ff., 105ff., 114f., 199f., 201, 209f., 216f., 222, 245, 247, 263, 275, 283ff. Handlungskreis 106, 145, 244ff., 248ff., 253ff., 259 Handlungslosigkeit 40f., 69, 94, 102, 105ff., 113, 145f., 153, 157ff., 160, 174, 178f., 181f., 192, 218f., 281 Probehandeln 87, 107f., 147f., 156ff., 250, 281 Harmonie, siehe auch: Disharmonie 38, 50ff., 74, 79f., 89, 189f., 196, 200, 209, 219, 280 Heimat 190, 194, 211, 246, 255, 257f., 274f., 279, 281, 286f. Hiatus 76f., 85, 108, 113, 116, 141 Hintergrundserfüllung 221f., historisches Bewusstsein 232, 240f. historische Reaktionsbasis 140f., 164, 167, 283
I Idealismus 10, 13, 18, 65, 140, 142, 152, 154ff., 161ff., 189 ideatives Bewusstsein 206ff., 217f., 225, 231f., 245, 253, 275, 283 idée directrice, siehe: Führungsidee Impressionismus 268, 270 Innerlichkeit 144ff. Instinkt 22, 25, 28f., 32, 38f., 42f., 46ff., 50ff., 61f., 68, 75ff., 83, 86, 89, 110, 120, 126, 130, 180, 208, 226, 253, 258, 281 Institutionen 21, 47ff., 56, 58ff., 62, 68f., 73, 77f., 82f., 94f., 100ff., 114, 125, 127, 169, 175ff., 180ff., 191ff., 197ff., 202ff., 207ff., 214f., 221ff., 228ff., 231ff., 256f., 261, 263ff., 266, 280, 285 instrumentelles Bewusstsein 11, 88, 148f., 150ff., 159f., 167, 175ff., 193, 199f., 204, 206ff., 212f., 215f., 219, 222, 230, 233, 244ff., 250f., 253f., 258, 263, 283, 288f. irrationale Gewissheit 19f., 64, 149, 159f., 166ff., 170ff., 180, 185f., 188ff., 197ff., 208, 215, 258, 263f., 267, 276, 281, 283, 287 K Kommentarbedürftigkeit 270f. Konnotation 266ff. Konsumismus 215, 260f., 264, 277, 289 Kreisbewegung/Kreisprozess 76, 112ff., 118ff., 125, 135ff., 147ff., 158, 206, 246, 248ff., 253ff., 269, 282 Kubismus 271f. Kultur 41ff., 59f., 70f., 80f., 99ff., 194ff., 199ff., 211ff., 225ff., 261f., 277f., 289f. kulturelle Kristallisation 211ff., Kulturpessimismus 80ff. Kulturschwellen 217, 225, 227, 231, 240, 243
Kulturzyklen 214ff., 282 Kybernetik 255f. L Lautbewegung 107, 125ff., 132ff., 139, 146 Lautgeste 126, 129f. lautloses/stilles Denken 40, 107f., 145ff., 152f., 156ff., 181, 282 Leben als Entlastung 218, 240ff. Leben durch Entlastung 215, 257ff. Lebensphilosophie 10, 12, 19, 145, 192, 213 Lebensprozess 11, 13, 16, 19f., 24, 27, 42f., 50ff., 61, 70, 74, 82, 84f., 96, 102, 105, 145, 184ff., 187, 196, 207f., 236f., 244, 281 Liebe 81ff., 187, 188ff., 240, 261f., 276, 287 M Magie 244ff., 253ff., 259 Mängelwesen 9, 28ff., 33, 36, 46, 50, 53, 56, 58, 74ff., 101, 179, 210, 217f., 243, 249, 277 Meinung 179, 185, 259, 260, 287 Merkzeichen 45f. Metaphysik 24ff., 32, 50, 54, 175, 191, 201f., 213f., 224, 233, 243, 280, 284 Mitwelt 141, 145, 147, 151 Monotheismus 191, 217ff., 224, 239ff., 247, 252 moralisches Sollen, 89, 102f., 163f., 174ff., 181f., 197f., 204ff., 228ff., 260ff., 288f. Mythos 190f., 212ff., 217f., 225ff., 279 mythisches Bewusstsein 84, 193, 212ff., 233ff., 279ff. N Nachdenken, siehe: lautloses/stilles Denken Nationalsozialismus 213f.
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Naturzweck 19, 27, 30, 34, 41, 46, 50, 52f., 58, 61, 73f., 85, 88f., 90, 95f., 96ff., 108, 183, 208, 233, 237, 264, 279ff., 288f. Naturgesetz 98, 224, 246 notwendige Denkweisen 165, 167 O oberste Führungssysteme 95 Ordnungslehre 14f. Organersatz 249ff., 253 Organisation 262ff., 274 Organprimitivismus 52 Organprojektion 248f. Organverstärkung 249f., 253 P peinture conceptuelle 270f. Persönlichkeit 70, 265 Pflicht, siehe: moralisches Sollen Phantasie 54ff., 106, 116ff., 126f., 138, 142, 170, 174f., 185, 201, 214f. Bewegungsphantasie 123f., 132 Empfindungsphantasie 123, 132 Lautphantasie 133 Platonismus 139 Pragmatismus 105, 150ff., 176, 288 psychophysische Neutralität 34ff. R Rationale Erkenntnis 36f.., 88f., 149ff. Realrepugnanz 209ff., 217, 253 Reflexion 39ff., 135f. Reflexion auf die Reflexion 107, 111, 113, 146f., 162f., 179 Reflexionskunst 262, 267 Reizüberflutung 43, 56, 58f., 114 Resonanzphänomen 245, 248, 255 ricorso, siehe: corso Ritus/Ritual 49, 193, 201ff., 227ff., 232, 278f., 286 Rollentausch 117, 126f., 141ff., 228f.
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Rückempfindung 106, 114ff., 119, 125, 136 Rückwärts-Stabilisierung 205, 208, 212, 224, 230 S Sachwiderstand 134ff., 158. 249 sacrificium intellectus 105, 165, 178, 281 Schichtenontologie 60, 90ff., 281 Schockerlebnis 170f. Schönheit 194, 202, 227, 274f., Schrift 240ff. Schwerpunktbildung, 86f., 90 Seele 62ff., 74ff., 92, 137ff., 167, 196f., 218f., 241f., 283 Seinsgrade 174 Selbstbewusstsein 110, 118, 125f., 137ff., 170, 180f., 184, 203, 228f., 282 Selbstdeutung/Selbstbild 20ff., 24ff., 53ff., 169f., 174ff., 208ff., 216, 227f., 245ff., 276ff., 279 Selbststeigerung 53f., 199, 202, 216f., 226, 262, 273f., 276 Sexualtrieb 78ff. Sonderstellung 24, 28ff., 34, 36, 41, 44, 52, 58 Spiel 126f., 142 Sprache 124ff. Sprachwurzeln 125ff. Stufenschema 32f. Substanzbegriff 29, 36, 58, 60, 74, 210, 252, 280, 284 Superstruktur 256, 260f. Symbolbildung 106, 114ff., 140f., 201ff., 227ff., 236ff. symbolische Prägnanz 120, 197, 202, 224, 227, 273, 275 T Technik 57ff., 71, 87f., 148, 157, 205f., 211, 219, 230f., 243f.., 244ff., 248ff., 253ff., 257ff., 262ff., 272, 282
Totemismus 208, 218, 225ff., 230ff., 233, 240 Transzendentalphilosophie 17f., 47f., 67, 90f., 193, 219, 236, 269f., 285f. Transzendenzen 219ff. Transzendenz ins Diesseits 223f., 235, 240f. Transzendenz ins Jenseits 224 Trennung von Motiv und Zweck 223, 226 U Übersicht 87, 116, 118, 122, 146 Umkehr der Antriebsrichtung 200, 225, 242, 273 Umwelt 9, 28, 42ff., 50ff., 58, 61, 74, 120 unbestimmte Verpflichtung 89f., 201, 227, 245, 283 unbewusste Fiktion 234 unwirklicher Geist 108, 140f., 146, 174, 178, 184, 186ff., 214, 269, 277, 281, 287 Urphantasie 54, 84, 89, 174 V Verhaltensklassen 199, 202, 209, 217, 219, 244 Vernatürlichung 82 Vernunft 11, 14, 26f., 32f., 34, 38ff., 55, 66, 73, 96ff., 109f., 138, 142,
148, 168, 170, 192f., 196ff., 216, 233, 280, 286, 288f. instrumentelle Vernunft, siehe: instrumentelles Bewusstsein List der Vernunft 208 Vernunft des Leibes 32, 96, 151 Verzicht 75, 238f., 258, 274, 286 W Wahrheit 149ff., . Welt 41, 65 Weltoffenheit 25, 41ff., 56ff., 63, 128, Werkzeug 57, 87f., 191, 195, 202, 220ff., 244ff., 248ff., 253f. Wiedererkennen 129ff., 267ff., Wille 63f., 68f., 172f., 219f., 240ff. Wirklichkeit 109ff., 139f., 179 Wirkzeichen 45f. Z Zivilisation 70ff., 79ff., 187, 255, 257f., 262ff., 281, 287ff. zweite Natur, siehe auch: Kultur 42, 45, 47f., 56, 59, 185, 194ff. Zwischenwelt 108, 132, 134, 137, 145, 147, 232
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Heike Delitz Arnold Gehlen 2011, 152 Seiten ISBN 978-3-86764-057-2 Klassiker der Wissenssoziologie Band 14 Arnold Gehlen (1904–1976) gilt – neben Max Scheler und Helmuth Plessner – als berühmter und umstrittener Vertreter der Philosophischen Anthropologie und ebenso als brillanter Soziologe. Heike Delitz zeigt mit dieser Einführung in Leben und Werk Arnold Gehlens, dass dieser eine grundlegende soziologische Theorie und damit auch eine veritable ›Wissenssoziologie‹ entwickelte: eine Theorie der menschlichen Welt- und Selbstbilder und ihrer institutionell verankerten »Leitideen«. Gehlens Perspektive ist die der Philosophischen Anthropologie, die beschreibt, wie sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet: Die Besonderheiten des Menschen als »nicht festgestellten Tieres« erfordern und ermöglichen die »Institutionen«, also subjekt- und weltformende soziale Verpflichtungen. Ins Zentrum rückt Heike Delitz Gehlens bahnbrechendes Buch ›Urmensch und Spätkultur‹ sowie die dafür grundlegende Anthropologie »Der Mensch«. Vor diesem Hintergrund macht sie Gehlens Kunst- und Moralsoziologie als differenzierte Gesellschaftsdiagnosen der Moderne sichtbar. Dr. Heike Delitz vertritt derzeit den Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie/ Gesellschaftstheorie am Institut für Soziologie und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal.
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