Armutsbekämpfung: Eine Grundlegung 9783205792529, 9783205794684


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Armutsbekämpfung: Eine Grundlegung
 9783205792529, 9783205794684

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Clemens Sedmak

Armutsbekämpfung Eine Grundlegung

2013 B öh l au Ve r l ag Wi e n Köl n We i m ar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Sonja Knotek, Wien Umschlaggestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : FINIDR s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-205-79468-4

Inhalt

Vorwort   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil  : Über Armut nachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ? . Zur Ethik des Nachdenkens über Armut . . . Die Frage nach der Perspektive . . . . . . . . Die Wunde des Wissens . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil  : Die Kernthese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die These  : Armut »von innen« denken . . . . . . . Armut und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . Armut und Integrität. . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus. .

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Dritter Teil  : Innenseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen.. Die Innenseite des Politischen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen . . . . . . . . Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur. . . . . .

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Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ? . . . . . . . . . 133

Der Status der Frage . . . . . . . . . . . Die Frage nach dem guten Leben . . . . Die Frage nach der guten Gesellschaft.. Liebe ohne Zögern  : Ian Brown . . . . .

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Fünfter Teil  : Armut bekämpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Soziale Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Privilegienabbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armutsbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hospitalität und Innerlichkeit  : Georg Sporschill . . . . . . . . . . Schönheit gegen Armut  : Stacey Edgar . . . . . . . . . . . . . . . Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen.. Inhalt

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Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Selbstdisziplin und Vertrauen  : Dave und Liane Phillips . . . . . . . . . . . 263 Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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Inhalt

Vorwort  

Armut wird nicht bekämpft werden können, wenn sich nicht Einstellungen verändern und wenn nicht notwendiges Wissen verfügbar ist. Einstellungen und Wissen deuten auf »die innere Situation« des Menschen hin. Diesem Gedanken – der Rolle der Innerlichkeit in der Armutsbekämpfung – will das vorliegende Buch nachgehen. Dabei werden die Überlegungen zur Armutsbekämpfung in Überlegungen zum guten Leben und zur guten Gesellschaft eingebettet. Das Buch arbeitet mit einer Reihe von Beispielen, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, nicht das einzubüßen, was Wittgenstein »Reibung« genannt hat. Als Dialog zwischen philosophischen Überlegungen mit Erfahrungen in der Armutsbekämpfung ist dieses Buch gewissermaßen ein Experiment. Es möge mit Wohlwollen aufgenommen werden, wenn es auch sicherlich einige grobe Skizzen zeigt und das Risiko, den Aspekt der Innerlichkeit zu stark zu akzentuieren, mit sich bringt. Das hinter diesem Buch stehende Anliegen ist, Vorarbeiten zu ­einem »Identitäts-« oder »Integritätszugang« zu Armut und Armutsbekämpfung zu leisten. Ich greife dabei auf bereits von mir publizierte Arbeiten zurück, die im Literaturverzeichnis angeführt sind und in diesem Buch in einen systematischen Kontext gestellt werden. Bedanken möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen am King’s College London und am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Herzliches Danke an Christine Zwilling für die Arbeit am Literaturverzeichnis. Ganz großer Dank an meine Frau Maria für die Hilfe bei Manuskriptkorrekturen. Mein Dank gilt auch Ursula Huber vom Böhlau Verlag, die das Projekt kompetent und freundlich begleitet hat. Ich möchte dieses Buch mit großem Respekt und mit großer Dankbarkeit Heinrich Schmidinger widmen. Er steht nicht nur für »tiefe Politik«, sondern auch für die Kraft der Freundschaft, die zum guten Leben und in eine gute Gesellschaft gehört. London und Salzburg, im Herbst 2013

Vorwort  

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Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ? 1.1 Armut, verfestigt, gewichtig und wählerisch, soll nicht sein. Verfestigte Armut ist eine Lebensform wie eine dicke Eisdecke, die nicht aufgebrochen werden kann  ; gewichtige oder signifikante Armut ist das Vorkommen solcher Lebenslagen in einer im sozialen Vergleich bedeutsamen Häufigkeit und Tiefe  ; wählerische oder selektive Armut bedeutet, dass diese Lebenslage nur Teile eines Gemeinwesens betrifft. Das Grundanliegen dieses Buches ist dieser Gedanke  : Verfestigte, signifikante und selektive Armut soll nicht sein. Das ist ein normativer Anspruch, der einzulösen ist. Armut, verfestigt, gewichtig und wählerisch, muss nicht sein, ist vermeidbar, kann bekämpft werden. Das ist ein empirischer Anspruch, der gezeigt werden muss. Diese beiden Ansprüche rechtfertigen das Buch. 1.2 Das vorliegende Buch möchte dreierlei bieten  : (i) Eine Einbettung der Diskussion von Armut und Armutsbekämpfung in eine Theorie von gutem Leben und ernsthafter Gesellschaft  ; (ii) eine Verbindung von grundsätzlichen Überlegungen und dichten Beispielen  ; (iii) eine klare These und Perspektive, die Idee nämlich, Armut(sbekämpfung) von der Innerlichkeit des Menschen her zu verstehen und Armut »von innen« her, mit Blick auf die epistemische Situation des Menschen zu denken. 1.3 Das Buch arbeitet vor allem mit Beispielen (E), Mikrotheorien (MT) und Referenzdenken (RD). (E)  : Ein Beispiel hat zumindest drei Funktionen  : Es illustriert einen bereits geäußerten Anspruch  ; es erklärt eine Sichtweise  ; es vertieft einen Punkt, der um »Dichte« und »Frische« ergänzt wird. Beispiele »zeigen« und unterliegen Regeln. Das Beispiel ist etwas Besonderes, weist aber auf etwas Allgemeines hin. Durch das Beispiel wird die Verbindung zwischen der Regel des Sprachgebrauchs und der Anwendung der Regel hergestellt – oder auch zwischen der allgemeinen These und deren Transfer auf eine Situation. Beispiele sind gerade dort angebracht, wo keine allgemeinen Regeln zur Verfügung stehen. Wenn ArmutssituaWieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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tionen in ihrer Einmaligkeit gewürdigt werden sollen, eignet sich das Mittel des Beispiels in besonderer Weise. (MT)  : Eine Mikrotheorie ist die Analyse einer »dichten Beschreibung«, die als »Fenster in Fundamentales« fungiert. Eine Mikrotheorie ist eine systematische und interessengeleitete Darstellung von relevanten Punkten aus einer Erfahrungsbeschreibung. Die genaue Analyse einer besonderen Erfahrung vermittelt einerseits einen Sinn für strukturelle Faktoren, die den Einzelfall geprägt haben, andererseits erleichtert die Analyse eines besonderen Kontexts die Identifikation von relevanten Faktoren, auf die auch in anderen Kontexten und im Sinne allgemeiner Thesenbildung zu achten ist. Mikrotheorien über Armut arbeiten mit dichten Beschreibungen von Armutssituationen und Armutsdynamiken  ; sie vermitteln Plastizität, Polyfonie und Dringlichkeit. Plastizität bedeutet die detailreiche Beschreibung einer kontingenten und einzigartigen Situation, Polyfonie meint die vielen Schichten, Untertöne und Nuancen, die Armut annehmen kann, Dringlichkeit bezieht sich auf die Relevanz des Wissens von Armut, das zum Handeln hin drängt. Eine Mikrotheorie folgt einem Dreischritt  : Mit einer Ausgangstheorie, die Schlüsselfragen und Schlüsselbegriffe liefert und das Interesse leitet, wird eine dichte Beschreibung angenähert. Aus der Beschreibung werden Beispiele für die Schlüsselfragen und Schlüsselbegriffe gewonnen  ; diese werden einer allgemeinen Reflexion zugeführt, mit Blick auf die Frage  : Was sagt dieses besondere Beispiel Allgemeines über das Thema aus  ? Damit ist eine Mikrotheorie der Struktur eines hermeneutischen Zirkels unterworfen  : Das Vorverständnis von relevanten Punkten aufgrund einer Vortheorie erleichtert die Identifikation von relevanten Punkten im Textmaterial, was wiederum die Vortheorie verfeinert und die Suche nach weiteren relevanten Punkten verschärft. Die Mikrotheorien sind glaubwürdigen Erfahrungen von Armutsbekämpfung entnommen. (RD)  : Die Theorie wird in Auseinandersetzung mit Hintergrundtheorien, mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, entwickelt. Diese Quellen stellen »Referenzdenken« bereit, Reflexions- und Theorienangebote, auf die sich die Theoriebildung bezieht. E 1.1 Die Ausgangsfrage für ein Buch über Armutsbekämpfung kann lauten  : Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ? Hier entstehen Begründungsverpflichtungen. Bücher zur Armutsforschung können etwa mit Blick auf »Wissenslücken« gerechtfertigt werden. Es gibt viele armutsrelevante Aspekte, bei 10

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

denen die Datenlage (etwa  : Sklaverei im globalen Kontext, illegale Migration, Schwarzarbeit, ländliche Armut in Entwicklungsländern, lokale Umsetzung von Makrostrategien) unzureichend und unsicher ist. Wie verwenden armutsgefährdete Menschen tatsächlich ihr Geld  ? Wie viel an anekdotischem Wissen ist im Umlauf  ? Esther Duflo kommentiert, dass sich der Diskurs über Mikrofinanzierung »wie viele Armutsdiskussionen mehr aus Emotionen und Anekdoten denn aus Reflexionen und konkreten Fakten« speist.1 Anirud Krishna nennt eine Reihe von Wissenslücken für Armut in Entwicklungsländern  : »Among people who are presently poor, how many were born poor and how many others have become poor within their lifetimes  ? We do not know. How many people have fallen into poverty anew during the past 10 or 20 years  ? How many previously poor people have escaped from poverty in the same period  ? For what reasons have only some poor people (and not others) succeeded in escaping out of poverty  ? We do not have reliable answers to any of these questions.«2 Bücher über Armutsbekämpfung können auch mit der Idee einer Begriffsschärfung oder eines Wörterbuchs gerechtfertigt werden. Raymond Williams hatte seinerzeit eine Kulturtheorie anhand von Schlüsselbegriffen (industry, democracy, class, art, culture) entwickelt.3 Ähnlich kann man sich dem komplexen Thema »Armut« annähern, indem man über Schlüsselbegriffe in einem »Wörterbuch der Armutsforschung« nachdenkt, Begriffe wie »Zugehörigkeit«, »Verwundbarkeit«, »Spielraum«. Ein Buch über Armutsbekämpfung kann mit Originalität gerechtfertigt werden – oder auch mit der Dienstleistung, »good practices« zusammengestellt zu haben. Das sind Beispiele für Begründungen. Das vorliegende Buch möchte von Mikrotheorien lernen und einer besonderen Perspektive (einem Fokus auf Interiorität) nachgehen. RD 1.1 Der hier entwickelte Zugang zu Armutsbekämpfung arbeitet mit Beispielen und Mikrotheorien. Einsichten in die Theorie des Beispiels können wir dem Werk Ludwig Wittgensteins entnehmen  ; Wittgenstein macht sich in seinen sprachphilosophischen Untersuchungen, in denen er mit Beispielen arbeitet, selbst den Vorwurf, dass er nicht zu sagen vermag, was denn das Wesentliche des Sprachspiels sei.4 Er macht sich den Vorwurf, sich in Beispielen zu verlieren. Dabei deutet er an, dass dies in der Art des untersuchten Materials liege und Teil der Methode sei. In Wittgensteins Untersuchungen ist ein Beispiel gleichzeitig Modell für philosophische Untersuchungen und Anwendungsfall. Wenn die Vielfalt des Sprachgebrauchs in den Blick genommen werden soll, erweist sich die Analyse von Beispielen als gangbarer Weg. Das Beispiel formuliert keine allWieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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gemeine Marschroute, weist aber in die Richtung, in die man weitergehen kann, es schließt die »Lücke« zwischen grammatischer Regel und der Anwendung.5 Sprache wird durch Beispiele und Übung gelernt.6 Das Beispiel ist also notwendiger Bestandteil der sprachlichen Praxis und der Lernpraxis und nicht bloß eine Dekoration oder ein Accessoire. Neben der Funktion der Regeletablierung ermöglichen Beispiele auch die Überraschung, den Hinweis auf die Möglichkeit, von der gewohnten Richtung abzuweichen.7 Beispiele leisten etwas, was wir mit anderen Mitteln nicht leisten können. Ähnlich wie Metaphern nach einer bestimmten Metapherntheorie dort einzusetzen sind, wo die etablierten sprachlichen Mittel an Grenzen stoßen, sind Beispiele gerade in unterbestimmten Bereichen zu wählen, also etwa dort, wo keine allgemeinen Regeln zur Verfügung stehen.8 Dabei ist die exemplarische Darstellung nicht der Beliebigkeit überlassen. Ein Beispiel »zeigt« etwas. Und wenn »gezeigt« wird, haben wir es mit beispielgebenden Akten, mit Exemplifikation zu tun. Eine hinweisende Definition ist in der Regel eine Definition anhand eines Beispiels. Ich zeige auf eine Wand und sage  : »Das ist kaminrot.« Damit wird ein Beispiel gegeben  ; dieses Beispiel geht von einer »Vortheorie« aus, die durch das Beispiel vertieft und konkretisiert werden kann. Beispiele und Mikrotheorien, wie sie dieses Buch durchziehen, erfüllen eine »Zeige«-Funktion. Das »Zeigen« beschäftigte Wittgenstein bereits im Tractatus. In einer berühmten Passage schreibt Wittgenstein  : »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem auf er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.«9 Das ist der vorletzte Satz des Tractatus und hat eine bestimmte »resolute oder therapeutische Lesart« des Tractatus, wie sie James Conant, Cora Diamond, Juliet Floyd oder Michael Kremer vorgestellt haben, mitmotiviert.10 Nach einer therapeutischen Lesart geht es Wittgenstein nicht darum, eine »Theorie« zu präsentieren, sondern um eine bestimmte Weise des Sprechens und des Sehens. Der Tractatus kann so verstanden werden, dass er – so möchte ich es nennen – »gezeigtes Wissen« oder »demonstratives Wissen« vermittelt. Der Tractatus erinnert uns daran, dass Philosophie eine Aktivität ist, nicht die Konstruktion von Theorien. Diamond und Conant stellen die Frage  : Was sagt der Tractatus über den Status seiner eigenen Propositionen  ? Anders gefragt  : Was »zeigt« der Tractatus  ? Was zeigt der Tractatus über sich selbst  ? Sie vertreten die Auffassung, dass die Form des Tractatus mit seiner philosophischen Ambition verbunden ist. Als Schlüsselbegriff wird der in der zitierten Passage 12

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

6.54 verwendete Begriff des »Erläuterns« identifiziert. Wittgensteins Text wird als Übung in der besagten Erläuterung angesehen, die gleichzeitig eine »Läuterung« der Wahrnehmung ist. Das wichtigste Bild des Tractatus ist nach dieser Lesart das Bild der Leiter. »On this reading, first I grasp that there is something that must be  ; then I see that it cannot be said  ; then I grasp that if it cannot be said it cannot be thought (that the limits of language are the limits of thought)  ; and then, finally, when I reach the top of the ladder, I grasp that there has been no ›it‹ in my grasp all along (that that which I cannot think I cannot ›grasp‹ either).«11 Die »erläuternde« oder »zeigende« Strategie des Tractatus lädt den Leser und die Leserin ein, sich auf eine bestimmte Erfahrung einzulassen, eine bestimmte Veränderung durch das, was gezeigt wurde, zu erfahren. Die Leserin ist eingeladen, zu erfahren, was Sprache »zeigen« kann. Nun kann man sich überlegen, dass Mikrotheorien, die von Lebenserfahrungen zeigen, ähnlich »erläutern« – die einzelnen Aussagen erläutern eine Lebenserfahrung im Ganzen so wie die Lebenserfahrung im Ganzen, die auch »zwischen den Zeilen« und im Bereich des Unsagbaren lokalisiert ist12, die einzelnen Aussagen erläutert. Die einzelnen Sätze einer Lebensbeschreibung sind Sprossen auf einer Leiter, die es erlauben, das Leben im Ganzen zu sehen, wenn man die Leiter emporgestiegen ist. Damit erlaubt eine Mikrotheorie, um im Bild zu bleiben, eine Höhe zu erreichen, von der aus auch andere Gebiete überblickt werden können. Mikrotheorien sind – ähnlich wie Beispiele – »Zeigeinstrumente«. Mikro­ theo­rien können als »Fenster in eine Lebensform« angesehen werden. Ein Leben mit einer bestimmten Lebenserfahrung steht zwar für einen besonderen »Ort« und für einzigartige und nichtwiederholbare Situationen. Dennoch haftet Situationen auch etwas Typisches an. Der dichte und tiefe Blick auf eine bestimmte Ordnung sagt etwas Allgemeines über den Begriff der Ordnung aus, in dem Sinne, in dem Beispiele auf Allgemeines zugreifen lassen. Mikrotheorien sind also »Fenster in Fundamentales«. Diese Methode von »windows into regions« hatte der Sozialanthropologe S. P. F. Senaratne in Sri Lanka entwickelt  : Senaratne hatte eine Reihe von Dörfern ausgewählt, die Lebensbedingungen in Sri Lanka repräsentierten. Diese Dörfer dienten als »Fenster in eine bestimmte Region«.13 Auf diese Weise konnten auf der Grundlage von Detailuntersuchungen in zehn Dörfern Einsichten in den Lebenskontext Sri Lankas gewonnen werden, was die Methode von Mikrountersuchungen mit dem Interesse für den Makrokontext verbinden ließ. Eine bestimmte Kultur ist unübersichtlich und weit, hier kann eine genaue Analyse eines Details tiefe Einblicke bieten  ; diese können im Rahmen einer Mikrotheorie, die von einer Vortheorie ausgeht und selbige Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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entsprechend transformiert, gerade was Fragestellungen, »good practices« und »erhellende Fehler« angeht, systematischer gefasst werden. Mikrotheorien »zeigen Allgemeines auf«, »zeigen auf Allgemeines«  : Der englische Armutsforscher David Hulme, um ein Beispiel zu nennen, hat eine Studie vorgelegt, in der er auf die Mikroebene der Armut aufmerksam gemacht und die Geschichte eines Zwei-Personen-Haushalts in Bangladesh verfolgt hat, Jahr für Jahr, Ereignis für Ereignis. Er reflektiert auf die Geschichte von Maymana und Mofizul. Am Beispiel dieser Lebensgeschichte treten Aspekte zutage, die im Leben vieler Menschen in vergleichbaren Kontexten eine Rolle spielen  : Hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Existenzsicherung, die Verwundbarkeit armutsgefährdeter Familien, die Auswirkungen von Behinderung auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, die sozialen Veränderungen nach dem Tod des Familienoberhauptes in traditionellen Settings, die soziale Rekalibrierung der Familie nach dem Todesfall und der geringere soziale Status der Witwe, der verweigerte Zugang zum Rechtssystem, die Kraft der Traditionen mit Heiratspolitik u. a. m. Hulme blickt auf Details dieses Lebens, zieht Material aus Interviews. Dieser Blick auf die Details und auf konkrete Lebensgeschichten ist wichtiges Korrektiv für das »große Denken in den großen Begriffen« auf der Makroebene, wie es die Armutsforschung bestimmt  : »Much contemporary thinking on poverty is ›big‹ in terms of the units of analysis examined, the scale of policy intervention that is planned and the level of theoretical generalisation that is presented. Countries, often with tens of millions of poor people, are the common unit of analysis and in the last few years much debate has focussed on enumerating global poverty … The level at which intervention is planned has also become increasingly ›big‹  : poverty is not simply tackled by projects and programmes but by national, continental and global plans … This ›big thinking‹ (units, ideas, numbers, plans and ambitions) has much to recommend it … However, such grand approaches are not unproblematic. Ultimately it is individual people who experience the deprivations of poverty, not countries or regions … In addition, ›big‹ approaches can lead to the relative neglect of micro-level actors and processes in analysis and action.«14 Der Blick auf die Mikroebene, der Blick auf einzelne Schicksale und individuelle Geschichten ist ein wichtiger Beitrag auf dem Weg zu einem »Überlegungsgleichgewicht« zwischen Makroebene und Mikroebene, zwischen Struktur und Person, zwischen Projekten und Lebensgeschichten. Hier können Mikro­ ebenen auf allgemeine Aspekte zeigen, ähnlich wie dies Literatur zu tun vermag. Mit Blick auf literarische Werke hatte Aristoteles Regeln dafür formuliert, wie das Zeigen durch Tragödien gelingen könne – etwa dadurch, dass tragi14

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

sche Charaktere gute Menschen sein sollten,15 dass das Leiden in der Tragödie mit ­einem Zweck verbunden werden müsse,16 dass Tragödien eine kathartische Funktion hätten und bestimmte Emotionen evozieren sollten.17 Literatur, so wie sie Aristoteles in einer pädagogischen Funktion versteht, zeigt Schicksalhaftes am Beispiel auf. Anders gesagt  : Anhand eines beispielhaften Schicksals, das zwar einzigartig ist, aber auch in ähnlicher Weise sich anderswo zutragen könnte und das Ähnlichkeiten mit dem Leben anderer Menschen, vor allem der Zusehenden aufweist, wird auf allgemeine Lebensbedingungen gezeigt. Daraus lassen sich nur bedingt Folgerungen ziehen  ; aus dem Exemplarischen sind keine allgemein zwingenden Schlüsse über das Enthymem hinaus ableitbar.18 Das gilt auch für Mikrotheorien. Der Erkenntnisanspruch von Mikrotheorien ist entsprechend eingeschränkt – nicht Sätze »Alle A sind X« sind auf der Ebene von Mikrotheorien möglich, aber doch Sätze der Art »Es gibt ein A derart …« oder »Nicht alle A sind X«, vielleicht sogar »Einige A sind X« … der eingeschränkte Geltungsanspruch hat freilich auch mit einer Auffassung von Armutsforschung und Armutsbekämpfung zu tun, die sich nicht mit »großen Lösungen« und »einheitlichen Strategien« beschäftigen möge, sondern mit einer Politik der kleinen Schritte, der lokalen Lösungen, der differenzierten und multiplen Herangehensweisen. Mikrotheorien arbeiten mit dichten Beschreibungen. Hier wird anhand von Details und Nuancen, bestimmten sprachlichen Formulierungen, illustrierenden Erlebnissen, ein Hintergrund gezeichnet, von dem aus einzelne Beschreibungen tiefer verstanden werden können, sich auch Anspielungen als solche erkennen und Rückbezüge herstellen lassen. Die Unterscheidung zwischen einer dichten und einer dünnen Beschreibung wurde von Gilbert Ryle eingeführt, der sie am Beispiel eines Knaben vorstellt, der zwinkert bzw. mit den Augen zuckt.19 Eine dünne Beschreibung (»thin description«) ist eine Oberflächenbeschreibung, die den Unterschied zwischen Zwinkern und Zucken nicht in den Begriff bekommen kann. Eine dichte Beschreibung (»thick description«) ist eine solche, die die Tiefengrammatik einer Situation analysieren und Nuancen herausarbeiten kann, also herausfindet, dass hier ein Knabe eine Form der Augenbewegung übt, die wie ein Zucken aussehen soll aber doch intentional gesetzt ist. Eine dünne Beschreibung gibt sozusagen das dürre Skelett beobachtbarer Daten wieder, eine dichte Beschreibung liefert Hintergrund- und Kontextinformation, »Fleisch und Blut« einer Analyse. Der amerikanische Kulturanthropologe Clifford G ­ eertz hat die Unterscheidung zwischen »dicht« und »dünn« im Rahmen seiner Überlegungen zur Erforschung von Kulturen aufgegriffen und von der Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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dichten bzw. dünnen Beschreibung einer Kultur gesprochen.20 Er hält fest, dass es das Ziel der Kulturanthropologie sei, eine dichte Beschreibung von Kultur zu liefern. Das ergebe sich aus den Daten, die der Ethnografin zur Verfügung stehen  : »What the ethnographer is in fact faced with … is a multiplicity of complex conceptual structures, many of them superimposed upon or knotted into one another, which are at once strange, irregular, and inexplicit, and which he must contrive somehow first to grasp and then to render.«21 Das Geschäft der Ethnografie erinnere an den Versuch, ein Manuskript zu lesen – »foreign, faded, full of elipses, incoherencies, suspicious emendations-, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shaped behaviour.«22 Das Bild des Manuskripts oder der Handschrift ist bezeichnend. Das Entziffern der Zeichen auf einem Manuskript ist nur ein erster (notwendiger) Schritt zum Verständnis. Erst die Einbettung in ein philosophisches System und eine geschichtliche Ordnung lässt den Sinn tiefer erschließen, wobei jede einzelne Zeile eines Manuskripts auch Rückschlüsse auf den allgemeinen Kontext erlaubt. Die Kenntnis von Details differenziert und verdichtet die verwendeten allgemeinen Begriffe, sodass die gebrauchten Kategorien als verfeinert und erfahrungsbezogen aus diesem Analyseprozess hervorgehen. Der Anthropologe nach Geertz »approaches such broader interpretations and more abstract analyses from the direction of exceedingly extended acquaintances with extremely small matters. He confronts the same grand realities that others – historians, economists, political scientists, sociologists – confront in more fateful settings  : Power, Change, Faith, Oppression, Work, Passion, Authority, Beauty, Violence, Love, Prestige  ; but he confronts them in contexts obscure enough – places like Marmusha and lives like Cohen’s – to take the capital letters off them. These all-too-human constancies, ›those big words that make us all afraid,‹ take a homely form in such homely contexts. But that is exactly the advantage.« 23 Mikrotheorien sind möglich auf der Grundlage allgemeiner Begriffe (wie »Macht«, »Veränderung«, »Unterdrückung«, »Arbeit«, »Abstumpfung«), aber diese allgemeinen Begriffe erfahren eine Nuancierung und Vertiefung durch die Anwendung auf bestimmte und lokale Kontexte mit partikulären Beispielen.24 Hier ist also eine Dialektik am Werk oder eine hermeneutische Spirale  : Spezifische Gegebenheiten werden mithilfe allgemeiner Begriffe analysiert und dadurch auf ein bestimmtes Niveau gehoben, das von bestimmten spezifischen Eigenarten absehen lässt und bedingt allgemeine Aussagen erlaubt, wobei die gebrauchten Begriffe durch die Anwendung in ganz bestimmten und besonderen Situationen verfeinert, durch Beispiele gesättigt und so »verdichtet« werden. 16

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Auf diese Weise entstehen allgemeine spezifische Begriffe für spezifische und »lokal typische« Beispiele.25 Mikrotheorien achten auf Details, auch auf einzelne Formulierungen, arbei­ ten mit dicht ausgearbeiteten Szenarien  ; Mikrotheorien lassen sich auch aus der Literatur gewinnen, denn Literatur zeigt Schicksalhaftes an Beispielen auf. Dabei sind auch die verwendeten Wendungen und Begriffe von Interesse und Relevanz. Literatur hat auch sprachformenden Charakter, wobei die Einsichten in die Kraft des Wortes Teil jener Lektionen sind, die man im Rahmen einer Mikrotheorie aus dem Rohmaterial gewinnen kann. Ein Roman etwa kann über die Funktion verständlich gemacht werden, eine Brücke zu schlagen zwischen allgemeinen Aussagen zur Conditio humana und deren Anwendung auf bestimmte Lebensschicksale – oder umgekehrt  : die Darstellung besonderer Schicksale und deren allgemeine Bedeutung. Literatur wirkt wie ein Seismograf, der gesellschaftliche Umwälzungen aufzeichnet und sensibel auf Störungen des sozialen Gleichgewichts reagiert. Literatur arbeitet an Unabgegoltenem. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe definiert in seinem Aufsatz ������������������ »The Truth of Fiction« Kunst als »man’s constant effort to create for himself a different order of reality from that which is given to him  ; an aspiration to provide himself with a second handle on existence through his imagination.«26 Diese Vorstellungskraft zeigt Grenzen des Status quo auf und deutet auch emotionale Dichte und Tiefe an. Martha Nussbaum sieht literarische Werke als ein wichtiges Werkzeug zur Einübung von Gefühlen und von Mitfühlen an.27 Literarische Werke zeigen uns Lebensmöglichkeiten, zeigen uns, was das Leben sein könnte und manchmal auch, was es sein soll. Literatur ist damit ein wichtiges »Fenster zu einer Kultur«, im Sinne des heuristischen Zugangs von Senaratne. Tina Rosenberg weist darauf hin, dass angesichts der komplexen Situation Lateinamerikas Romane den besten Zugang zur Wahrheit über die Situation dieses Kontinents geben können.28 Die Funktion der Literatur besteht nach Jürgen und Ursula Link-Heer nicht allein in der Verknüpfung historischer Spezialdiskurse, sondern darüber hinaus in der Vermittlung von diskursivem Wissen und individueller Subjektivität.29 In der Literatur werden humane Grunderfahrungen artikuliert  : »Wenn die Philosophen selber die Schwelle der Metaphysik verlassen, dann geschieht es, daß der Dichter dort den Metaphysiker ablöst  ; und dann ist es die Poesie, nicht die Philosophie, die sich als die wahre ›Tochter des Staunens‹ offenbart«, formuliert Saint-John Perse in seiner Dankrede für den Nobelpreis am 10. Dezember 1960, um mit dem bedenkenswerten Satz zu schließen  : »Und dem Dichter genügt, das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein.« 30 Literatur formuliert Einsichten in Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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menschliche Existenz und Identität, in Leben und Gesellschaft, wie es wissenschaftlichen Darstellungen nicht möglich ist.31 Literatur hat aber auch die Kraft, Unmenschlichkeit zu thematisieren. Um ein Beispiel zu nennen  : Der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun, der Autor des umstrittenen Buches »Cette aveuglante absence de lumière«, schildert in diesem Buch auf der Basis eines Betroffenen die Tragödie von Tazmamart  : Dieses geheime Straflager im Mittleren Atlas von Marokko war 1973 eigens für die Teilnehmer an dem gescheiterten Putsch gegen Hassan II. am 10. Juli 1971 konstruiert worden. Tazmamart wurde zu einem Synonym für unvorstellbares Grauen, herrschte doch im Gefängnis Dunkelheit  : Kein Licht drang in die fensterlosen, unterirdisch gelegenen, nur 1,50 m hohen Zellen. Tahar Ben Jelloun hält die literarische Verarbeitung, nicht die Dokumentation, für das adäquate Werkzeug, um über diese sorgfältig inszenierte Unmenschlichkeit zu schreiben, weil Literatur aufgrund der verfügbaren Mittel stärker sein kann als ein Bericht. Die Literatur verfügt über die Kraft, in jenen Situationen sprachlichen Halt zu geben, in denen die Sprache angesichts des Ausmaßes des Grauens an ihre Grenzen stößt. Wenn man »Armut« auch als grauenvolle Realität ernst nehmen will32, ist die Literatur ein geeignetes Medium, um entsprechende Mikrotheorien zu erzeugen. Mikrotheorien arbeiten also mit Rohmaterial, das dichte Beschreibungen liefert und seismografisch den Finger auf Bedeutsames legt. RD 1.2 Mikrotheorien entstehen durch eine bestimmte Art, dichte Beschreibungen zu lesen. In diesem Fall ist Lesen ein Akt, eine Arbeit an Perspektiven und an wandernden Blickpunkten, um die verschiedenen Aspekte der Vortheorie mit dem Rohmaterial der dichten Beschreibung abzugleichen. Diese Form der Auseinandersetzung mag nicht nur für die Erstellung von Mikrotheorien Gültigkeit haben. Nach einer bestimmten Theorie des Lesens kann Lesen erst durch dieses Arbeiten am Text gelingen  : »Das Lesen wird erst dort zum Vergnügen, wo unsere Produktivität ins Spiel kommt, und das heißt, wo Texte eine Chance bieten, unsere Vermögen zu betätigen.«33 Das Lesen mit der Absicht, eine Mikrotheorie zu erstellen, ist eine Form der Übersetzung, der Übersetzung in eine andere Ordnung. Hans Georg Gadamer versteht die Tätigkeit des Lesens überhaupt als eine Form des Übersetzens34, was jedoch gerade im Fall von Mikrotheorien plausibel ist. Hier wird ein Text in eine andere Sprache, hier wird ein Kontext in einen anderen Kontext übersetzt. »Tatsächlich ist das Geheimnis des Lesens wie eine große Brücke zwischen den Sprachen. Auf ganz verschiedenen Niveaus scheint es die gleiche hermeneutische Leistung zu sein, zu übersetzen oder auch zu lesen. 18

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Schon das Lesen von dichterischen ›Texten‹ in der eigenen Muttersprache ist wie eine Übersetzung, fast wie eine Übersetzung einer Fremdsprache. Denn sie ist Umsetzung von starren Zeichen in einen strömenden Fluß von Gedanken und Bildern. Das bloße Lesen originaler oder übersetzter Texte ist in Wahrheit schon eine Auslegung durch Ton und Tempo, Modulation und Artikulation … Lesen und Übersetzen sind bereits ›Auslegung‹ … Lesen ist wie Über-setzen von einem Ufer zu einem fernen anderen, von Schrift in Sprache. Ebenso ist das Tun des Übersetzers eines ›Textes‹ Über-setzen von Küste zu Küste, von einem Festland zum anderen, von Text zu Text«.35 Das Übersetzen von »persönlichem Wissen« in »abstraktes Wissen«, wie es im Fall der Erzeugung von Mikrotheorien vonstattengeht, ist eine besondere Variante dieser hermeneutischen Leistung. Wer eine Mikrotheorie erstellt, geht von einer Vortheorie aus, die dem Rezeptionssubjekt einen mit Stanley Fishs »informiertem Leser« vergleichbaren Status verleiht, man ist eine Leserin, die sich zum Beispiel durch Sprachkenntnis, semantische Kompetenz, literarisches Wissen und die Zugehörigkeit zu relevanten epistemischen Gemeinschaften auszeichnet.36 Mikrotheorien entstehen auf der Grundlage von engagiertem Lesen. Mikrotheorien »übersetzen« Besonderes in Allgemeines und wiederum Allgemeines in Besonderes. Auch bei George Steiner finden wir dieses Bild des Übersetzens  : »Wenn wir irgendeine Aussage der Vergangenheit lesen oder hören, sei es den Leviticus oder den Bestseller vom vorigen Jahr, übersetzen wir.«37 Steiner spricht ungeniert vom »echten Leser« (dem »wahren Leser« oder dem »guten Leser«) und macht diese Zuschreibung an der Qualität der Lektüre fest, und zwar an der ethischen Qualität der Lektüre  : »Gut zu lesen bedeutet, dem Text zu antworten, sich ihm gegenüber verantwortlich zu fühlen. Gut zu lesen heißt, in ein verantwortungsbewußtes wechselseitiges Verhältnis mit dem Buch, das man liest, einzutreten, sich auf einen bedingungslosen Austausch einzulassen.«38 Aus diesem Grund rühmt er auch Randbemerkungen als das unmittelbarste Anzeichen für die Antwort des Lesers. Mikrotheorien im genannten Sinn haben eine responsive Struktur, lassen einen besonderen Text auf allgemeine Fragen »antworten« und antworten auf das Besondere des Textes mit einer allgemeinen Einbettung. Den Drang, auf einen Text zu antworten, hält Steiner für ein Qualitätsmerkmal des Lesers  : »Jeder Akt vollkommenen Lesens ist von dem latenten Drang begleitet, ein Buch als Antwort auf das Buch zu schreiben. Ein Intellektueller ist ganz einfach jemand, Mann oder Frau, der beim Lesen eines Buches einen Stift in der Hand hält«.39 Lesen ist kräfteraubend, weil Literatur Kraft birgt. »Ein besonders schönes Gedicht, ein klassischer Roman, bedrängen uns, bestürmen uns mit Fragen, setzen sich fest an den Kernstellen Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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unseres Bewußtseins. Sie üben auf unsere Phantasie, unsere Wünsche, unsere Ambitionen und unsere verborgensten Träume eine seltsam bezwingende Gewalt aus. Die Menschen, welche Bücher verbrennen, wissen schon, was sie tun.«40 Das Rohmaterial, das einer Mikrotheorie zugrunde liegt, wird als kraftvolle Quelle von Einsichten interpretiert und auf der Grundlage der Vortheorie bewertet. Steiners einschlägige Beschreibung des Lesens mag für Lesen insgesamt gelten, hat aber für Mikrotheorien eine besondere Plausibilität. Lesen, so erinnert uns George Steiner, ist kräfteraubend, weil es eine Positionierung abfordert, echtes Lesen impliziert Beurteilen  : »Der Akt und die Kunst ernsthaften Lesens bein­halten zwei geistige Tätigkeiten  : die der Interpretation (der Hermeneutik) und die des Bewertens (der Kritik, des ästhetischen Urteilens).«41 Dieses Urteil schlägt eine Brücke zwischen Text und Kontext, zwischen Rohmaterial und Vortheorie, zwischen Vortheorie und verfeinerter Theorie. E 1.2 Als ein Beispiel für den »zeigenden« Wert der Literatur für die Armutsforschung kann der (autobiografische) Roman »Jetzt und auf Erden« (»Now and on Earth«) von Jim Thompson dienen, ursprünglich 1942 erschienen.42 Der Roman schildert eine amerikanische Armutsbiografie in den 1930er-Jahren. Thompson beschreibt das harte Leben. Die Arbeit in der Fabrik ist körperlich anstrengend, sozial mühsam, gesundheitsschädlich, die Arbeiter sind einer steten Lärmbelästigung ausgesetzt.43 Er hat Angst vor gewissen sozialen Dynamiken in der Fabrik, obwohl er sich heraushalten möchte – der Kollege »bereitet mir nur deshalb Sorgen, weil er mir Ärger machen könnte, und ich weiß nicht, wie viel ich davon noch aushalten kann« (T N E 49f ). Er beschreibt, wie ihn die harte Schichtarbeit in einer Fabrik, die ständige Geldknappheit und die dauernden Alltagsprobleme (Schule, Vermieter, Gesundheit, Spannungen in der Familie) dazu bringen, sich in einer Weise zu verhalten, die nicht seinen eigenen moralischen Vorstellungen entspricht. Auf dem Heimweg von der Arbeit begegnet er in einer Anfangsszene des Romans seiner neunjährigen Tochter und reagiert gereizt, wohl auch, weil er sich ärgert, dass seine Frau mit den zwei anderen Kindern in die Stadt gefahren ist, um Schuhe zu kaufen, anstatt die Miete zu zahlen  : »Verdammt noch mal  !«, fluchte ich. »Und was zum Teufel machen wir jetzt  ? Was glotzt du so  ? Geh spielen. Geh weg. Geh mir aus den Augen. Na los  !« Ich streckte die Hände aus, um sie zu schütteln, doch ich besann mich und umarmte sie stattdessen. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand unfreundlich zu Kindern ist – zu Kindern, Hunden oder alten Leuten. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war, dass ich Jo schütteln wollte. Ich weiß es nicht. »Ach, schon gut, Kleines«, sagte ich. Du weißt doch, ich 20

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

meine das nicht so.« Jo lächelte. »Du bist müde« (T NE 12)  ; tatsächlich  : »Ich war müde, und alles tat mir weh« (T NE 13). Müdigkeit und Schmerzen, Erschöpfung und Gesundheitsprobleme durchziehen die Lebensbeschreibung. Das Wort, das Thompson zur Charakterisierung der Armut verwendet, ist  : »Verzweiflung«.44 Der ständige Mangel ist in einigen Formulierungen greifbar  : »Im Kühlschrank gab es ein paar Eiswürfel. Nichts außer Eiswürfeln, altem Stangensellerie, ein paar Grapefruits und einem Stück Butter. Aber das war ja schon mal was« (T N E 13)  ; »Wir mochten nie, was gut für uns war, wahrscheinlich weil wir so selten Gelegenheit hatten, uns an den Geschmack zu gewöhnen« (T NE 17)  ; »Jo hatte außer einem Erdnussbuttersandwich den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ich hatte auch noch nichts …« (T NE 21). Mutter »hatte schon seit Jahren nicht mehr richtig gegessen« (T NE 16f ). Aufgrund der anhaltenden Aussichtslosigkeit hält sich der Ich-Erzähler mit Alkohol über Wasser und weigert sich, langfristig oder auch nur an morgen zu denken  ; nach ausgiebigem Alkoholkonsum sagt seine Schwester zu ihm  : »Morgen früh wirst du einen Riesenkater haben« »Das ist morgen«, erwiderte ich. »Heute – zum Wohl« (T NE 31).45 Der Whiskey wird ihm vom fünfjährigen Kind (»Ich hab dem Mann gesagt, ich will fünf Cent. Damit du dir Whiskey kaufen kannst«. Ich schnappte nach Luft und wollte schon schimpfen, doch dann dachte ich  : Ach, wozu«  ; T NE 72f ) und der Ehefrau (»Das war mein Geld für den Kirchgang«  ; T NE 76) zugeführt. Teil der Aussichtslosigkeit ist die empfundene Alternativenlosigkeit. Der Ich-Erzähler schafft es nicht, eine Perspektive zu entwickeln. Schwester Frankie spricht ihn auf die Fabriksarbeit an und kommentiert  : »Du wirst es dort nie schaffen, Jimmie. Nicht mit der Einstellung« … »Und was machst du jetzt  ?« »Mich betrinken« (35). Er wird vom Vorarbeiter drangsaliert, »das Schlimmste, ja, die Hölle an der ganzen Sache ist, dass ich nicht kündigen kann« (T NE 98), er ist Anfeindungen und Schikanen weitgehend ausgesetzt. Das Bild der Hölle kommt öfter in diesem Roman als Ausdruck einer Qual ohne Aussicht auf Veränderung vor.46 Daraus ergibt sich auch die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden  : »Vor allem aber wollte ich an einem anderen Ort sein, wo es still war und es keine Menschen gab« (T N E 39). Diesen Frieden findet er zu Hause auch nicht (»ich bin lieber in der Fabrik als daheim«  ; T N E 65). Eine Signatur des Unfriedens, unter dem er leidet, ist das Misstrauen, das er Menschen entgegen zu bringen gelernt hat  : »Natürlich sollte ich es mittlerweile wissen  : Niemand tut etwas für mich, ohne dass nicht ein Haken an der Sache ist« (T N E 51). Hier zeigen sich »innere Aspekte« des Lebens in Armut, Kategorien wie »Ruhe«, »Vertrauen«, »moralische Standards«. Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung  ?

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Thompson beschreibt auch die Sehnsucht nach Höhepunkten und nach Ausschnitten eines besseren Lebens, die einen rationalen Umgang mit Geld bremsen  ; es wäre schließlich rational, in einer Armutssituation mit mangelnder Ernährungssicherheit etwaiges Extrageld für billige Grundnahrungsmittel auszugeben, doch angesichts zweier verdienter Extradollar zeigt sich  : »Nach einer langen, überaus wohlwollenden Diskussion beschlossen wir, die zwei Dollar extra für das Sonntagsessen auszugeben. Ich sollte die Mahlzeit planen und zubereiten« (T NE 104). Hier werden Aspekte wie Verzweiflung, Mangel, Unfrieden, Alternativen- und Perspektivenlosigkeit, Misstrauen und Sehnsucht in einer Plastizität deutlich, wie sie nur Literatur liefern kann. Sprache wie Inhalt könnten zu den glatten Einordnungsmöglichkeiten und dem Repertoire gesellschaftlicher Selbstbeschreibung quer liegen. In seinem Vorwort zur verwendeten Ausgabe bemerkt Stephen King  : »Meiner Meinung nach ist Jim Thompson deshalb groß zu nennen, weil er … keine Angst hatte vor der Scheiße, die manchmal die Gullys verstopft, die sich am Boden des ganz gewöhnlichen gesellschaftlichen Denkens und Handelns befinden« (T N E  7)  ; »jemand muss die Stuhlproben der Gesellschaft untersuchen, jemand muss die Tumoren beschreiben, vor denen die Kultivierten unter uns zurückschrecken. Jim Thompson war einer der wenigen, die das taten« (T NE 9).

Zur Ethik des Nachdenkens über Armut 1.4 Das Nachdenken über Armut wirft ethische Fragen im Sinne einer »Ethik des Nachdenkens über Armut« auf. Hier haben wir es mit Fragen der Ethik der Erkenntnistheorie zu tun. Man kann sich hier etwa fragen, welchen Unterschied es in erkenntnistheoretischer Hinsicht macht, mit vollem Bauch oder fastend über die Frage des Welthungers nachzudenken – ist dieser Unterschied ethisch relevant  ? Nachdenken über Armut soll, um diesen ethischen Herausforderungen gerecht zu werden, »praktisches Wissen« und »wichtige Sätze« hervorbringen. Das Nachdenken über Armut und Armutsbekämpfung gründet in Protosituationen, in denen es aufbricht. Man kann vier solcher Protosituationen unterscheiden  : Staunen (Warum gibt es Armut  ?), Zweifel (Ist Armut notwendig  ?), Wut (weil es Armut gibt) und Scham (darüber, dass und wie sich Armut zeigt). In Protosituationen brechen Fragen auf.

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Erster Teil  : Über Armut nachdenken

1.5 Diese Fragen durchbrechen Denkgewohnheiten, Armut ist ein disruptives Phänomen. In dem Moment, in dem man beginnt, über etwas nachzudenken, wird bereits ein Handlungsfluss unterbrochen. Darin unterscheidet sich das Nachdenken über Armut nicht vom Nachdenken über die Ursachen des Dreißigjährigen Krieges. Die Freiheit des Menschen hängt in einem wichtigen (d. h. fruchtbar näher zu analysierenden) Sinn mit der Fähigkeit zusammen, stehen zu bleiben, den Handlungsfluss und die etablierte Gewohnheit auszusetzen und nachzudenken. Der disruptive Charakter von Armut geht aber noch wesentlich weiter. Das Nachdenken über Armut wird seinerseits von immer neuer Rohheit des Materials durchbrochen. Ruhiges Nachdenken über Armut könnte als pragmatischer Widerspruch gesehen werden  ; das Phänomen vermag immer wieder aufs Neue zu erschüttern. Selbst eine nüchterne Analyse soll die »Fähigkeit eines immer neuen Erschreckens« nicht nehmen. Wer an disruption fatigue leidet, kann dem Phänomen nicht mehr gerecht werden. Armut wirkt aufgrund dieser beiden Eigenarten wie ein »Stachel im Fleisch«. Das Ziel des Nachdenkens über disruptive Phänomene kann deswegen nicht ein bequemes Überlegungsgleichgewicht sein, das Teilphänomene sicher einordnen lässt, sodass Tatsache und Kategorie wie Topf und Deckel zusammengebracht werden könnten. Disruptive Phänomene ermöglichen eher das, was man »irritationsoffene Vorordnung« nennen kann, eine je vorläufige Stabilität, die um Erschütterbarkeit weiß. Dabei ist die ruhige und nüchterne Analyse zweifellos notwendig. 1.6 Ein in ethischer Hinsicht zentraler Hinweis auf das Nachdenken über Armut ist die Erinnerung, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, vor allem Menschen sind und nicht in erster Linie Repräsentanten einer Kategorie »Armut«. Armutsforschung muss »reduktionssensibel« sein, sensibel auf das Risiko sein, Menschen auf Teilaspekte zu reduzieren. Das Nachdenken über Armut hat die Aufgabe, nicht zu vergessen, dass wir es hier mit Gesichtern und Geschichten, Schicksalen und Situationen zu tun haben und nicht nur mit Fällen oder Zahlen. Respekt vor Menschen bedeutet in diesem Fall auch eine bestimmte Ethik des Nachdenkens  : Sie verlangt angesichts des Einzigartigen menschlicher Schicksale eine bestimmte Haltung, die eine Scheu vor vorschnellen allgemeinen Aussagen und Abstraktionen zeigt. Die Arbeit an Kategoriensystemen in der Armutsforschung muss sich an diesem Respekt vor dem Einzelfall orientieren. E 1.3 Jean Ziegler beschreibt seinen Eindruck von einem Aufnahmelager in Äthiopien zur Zeit einer Hungersnot im Jahr 1985  : »Das erschütterndste SchauZur Ethik des Nachdenkens über Armut

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spiel boten jene Lumpenpakete, die sich sanft im Rhythmus ihres Atems hoben und senkten. Kleine Kinder lagen in den Lumpen … Ich hatte solche Bilder schon zuvor im Fernsehen gesehen. Um mich dagegen immun zu machen, hatte ich mir eingeredet, der Tod durch Verhungern sei ein sanfter Tod, hervorgerufen durch eine fortschreitende Schwächung, die im Endstadium in eine Art Bewusstlosigkeit übergeht. Nun, das ist nicht wahr  ! Die kleinen runzligen Gesichter, die manchmal mit schmerzverzerrter Miene aus den Lumpen auftauchten, zeugten von schrecklichen Qualen. Die kleinen Körper krümmten sich wimmernd. Von Zeit zu Zeit hob eine Mutter oder eine Schwester sanft ein Tuch und bedeckte ein Gesicht.«47 Die Anerkennung der disruptiven Kraft von Hunger lässt den Satz zu »Ich werde mich nie daran gewöhnen«. Dieser Satz deutet an, dass die Beschäftigung mit dem Phänomen nicht zur Routine werden möge, dass man sich die Gabe des je ersten Blicks, der je ersten Erschütterung behalten solle. Distanz zu einem Phänomen, wie es im Falle von Eliten in Bezug auf Armut auftritt, kann zu einer entsprechenden disruptionsfreien Wahrnehmung von Armut führen. Abram de Swaan kommt nach einem komparativen Forschungsprojekt über Elitewahrnehmungen von Armut zum Schluss  : ������������������� »The elites experience the presence of the poor as mostly irrelevant, neither much of a threat nor much of an opportunity, they will tend to be indifferent toward the fate of these masses.«48 Der Schritt von Armutsbeschreibung zur Armutsbekämpfung schließt die Überwindung von Gleichgültigkeit ein. RD 1.3 Menschen, die von Armut betroffen sind, sind in erster Linie Menschen. Martha Nussbaum mahnt die Fähigkeit, in allgemeinen Kategorien des Menschlichen zu denken, als Grundidee von Bildung ein.49 Auch die Armutsforschung ist nicht frei von der Herausforderung, dass Phänomene eingeebnet und Menschen in »epistemische Objekte« verwandelt werden.50 Der Frosch, der in einer wissenschaftlichen Zeitschrift genannt wird, hat den Weg vom lebendigen Einzelwesen zum epistemischen Objekt, das »reduziert« und »prototypisch« präsentiert wird, zurückgelegt. Ein hungernder Mensch ist in den Augen der Forschung mitunter weniger ein Mensch als vielmehr ein Fall von Hunger. Einen Menschen anzuerkennen bedeutet unter anderem, ihn in seiner Einzigartigkeit und damit in seiner Differenz zu anderen Menschen zu sehen. Das ist ein Akt der Humanisierung. Es kann als Form der Dehumanisierung angesehen werden, einen Menschen nicht in seiner Einzigartigkeit zu sehen. Jodie Halpern und Harvey Weinstein haben auf die Bedeutung der Berücksichtigung von Einzigartigkeit für eine Humanisierung des Anderen hingewiesen.51 Gerade nach einem 24

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Konflikt ist es für einen Versöhnungsprozess entscheidend, den Menschen als Person und nicht als epistemisches Objekt zu sehen – nur dann können Veränderungen in der Wahrnehmung eintreten  : »Perceptual shifts … that occur when one becomes interested in another’s distinct subjective perspective are central to rehumanization.«52 Die große Herausforderung in einem Versöhnungsversuch besteht darin, »Dehumanisierung« umzukehren »and to return humanity to those from whom categorization has removed all individual attributes«.53 Dehumanisierung besteht gerade darin, das Einzigartige an einem Menschen zu leugnen und den Menschen auf ein epistemisches Objekt zu reduzieren. Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, einen anderen Menschen in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen und ihm aufgrund dieser Einzigartigkeit zu begegnen. So gesehen ist Empathie nur auf der Grundlage der Anerkennung von Einzigartigkeit möglich. ������������������������������������������������������������������������ »I think it takes time – it took me time – to realise just how very different people are from each other«������������������������������������������� , schreibt Stephen Grosz nach 25 Jahren Erfahrung als Psychoanalytiker.54 Einen Menschen anzuerkennen hat gerade auch damit zu tun, ihn als besonderen und einzigartigen Menschen zu sehen. Für die Armutsforschung kann dies vor allem bedeuten, nicht zu vergessen, dass hinter Zahlen über Armut »Gesichter« und »Geschichten« stehen. Kevin Bales respektiert diese Suche nach einem Gleichgewicht zwischen »warmen Faktoren« und »kalten Daten«, indem er seine Studie über Sklaverei mit der Schilderung des Schicksals von Seba beginnt, einem westafrikanischen Mädchen, das aus ihrer Heimat an eine reiche Pariser Familie verkauft und in Paris als Sklavin gehalten wurde.55 Auf diese Weise bekommt die Information, dass derzeit weltweit mehr als 20 Millionen Menschen in verschiedenen Formen von Sklaverei leben, ein Gesicht und eine Dringlichkeit. Es geht um eine doppelte Herausforderung  : Einerseits angesichts eines tragischen Einzelfalls nicht den Sinn für Proportionen zu verlieren, andererseits darum, hinter allgemeinen Aussagen die Einzelschicksale nicht zu übersehen. Diesen Blick auf den einzelnen Menschen als einzelnen Menschen hat J. M. Coetzee in einem Roman illustriert  : In seinem Roman Michael K sagt eine Krankenschwester zu Michael K.  : »Ich bin der einzige, der in Dir die ursprüngliche Seele sieht, die Du bist. Ich bin der einzige, dem etwas an Dir liegt. Ich bin der einzige, der Dich weder als einen leichten Fall für ein leichtes Lager sieht, noch als einen schweren Fall für ein schweres Lager, sondern ich sehe Dich als eine menschliche Seele außerhalb von Klassifikationen, als eine von Doktrin, von Geschichte gnädig verschonte Seele, die ihre Schwingen regt in diesem schwer beweglichen Sarkophag, die murmelt hinter ihrer Clownsmaske.«56 Zur Ethik des Nachdenkens über Armut

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E 1.4 Menschen, die von Armut betroffen sind, sind in erster Linie Menschen  ; die Gefahr Menschen auf Kategorien zu reduzieren, ist auch in anderen Situationen, in denen Menschen prägenden Markern einer Conditio ausgesetzt sind, zu beobachten. Die Neurowissenschaftlerin Lisa Genova beschreibt beispielsweise in ihrem Roman Mein Leben ohne Gestern eine Psychologieprofessorin namens Alice, die fünfzigjährig mit der Alzheimererkrankung diagnostiziert wird. Mit der Diagnose bricht ihre Welt zusammen. Sie definiert sich selbst und ihr Leben in Panik über die Krankheit, wird auch von ihrem Umfeld in erster Linie als Alzheimerpatientin gesehen. Doch nach und nach wehrt sie sich gegen diese »sticky labels«. Alice hat einen letzten großen Auftritt, einen Vortrag anlässlich eines großen Kongresses über die Alzheimerkrankheit. Sie erzählt von ihrer eigenen Erfahrung mit Demenz und liest einen sorgfältig vorbereiteten Text  : »Ich fühle mich geehrt, diese Gelegenheit zu haben, heute zu Ihnen zu sprechen und Ihnen, wie ich hoffe, einen Einblick davon zu vermitteln, wie es ist, mit Demenz zu leben. Bald, auch wenn ich dann immer noch wissen werde, wie es ist, werde ich nicht mehr imstande sein, es Ihnen gegenüber auszudrücken. Und irgendwann, in nicht allzu langer Zeit, werde ich nicht einmal mehr wissen, dass ich Demenz habe … Wir im Frühstadium der Alzheimerkrankheit sind noch nicht völlig inkompetent. Wir sind nicht ohne Sprache oder Meinungen, die zählen, oder längere Phasen der Klarheit. Und doch sind wir nicht mehr kompetent genug, um vielen Anforderungen und Aufgaben unseres einstigen Lebens zuverlässig gerecht zu werden. Wir haben das Gefühl, weder hier noch da zu sein … Es ist ein sehr einsamer und frustrierender Ort … Ich verliere mein Gestern … Und ich habe keine Kontrolle darüber, welches Gestern ich behalte und welches gelöscht wird. Diese Krankheit lässt nicht mit sich handeln … Oft habe ich Angst vor dem nächsten Tag. Was, wenn ich aufwache und nicht mehr weiß, wer mein Ehemann ist  ? Was, wenn ich nicht mehr weiß, wo ich bin, oder mich selbst nicht mehr im Spiegel erkenne  ? Wann werde ich nicht mehr ich selbst sein  ? … Die Diagnose »Alzheimer« zu bekommen, ist, als würde man mit einem scharlachroten A gebrandmarkt werden. Genau das bin ich jetzt  : jemand mit Demenz. Als genau das habe ich mich selbst eine Zeit lang definiert, und als genau das definieren andere mich noch immer. Aber ich bin nicht nur, was ich sage oder tue oder in Erinnerung behalte. Ich bin so viel mehr als das. Ich bin eine Ehefrau, Mutter und Freundin und werdende Großmutter. Ich fühle und verstehe noch immer die Liebe und Freude in diesen Beziehungen, und ich bin sie wert … Bitte sehen Sie nicht auf unser scharlachrotes A und schreiben Sie uns nicht ab. Sehen Sie uns in die Augen, reden Sie direkt mit uns … Wenn mein Gestern ver26

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

schwindet und mein Morgen unsicher ist, wofür lebe ich dann noch  ? Ich lebe für jeden Tag. Ich lebe im Augenblick.«57 Menschen, die von Armut betroffen sind, sind nicht in erster Linie arm, sondern vor allem und unabsprechbar  : Menschen. Menschen in einer besonderen und schwierigen Lebenssituation. Das hat auch Konsequenzen für Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, weil wir es hier mit der Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten und sensiblen Personen zu tun haben und nicht mit Mechanismen, die allein mithilfe bestimmter Sozialtechnologien gesteuert werden könnten. Aussagen, dass Armutsbekämpfung allein eine Frage der finanziellen Ressourcen oder struktureller Maßnahmen sei, vermitteln den Eindruck einer »Herstellbarkeit einer armutsfreien Welt«. Der in diesem Buch gewählte Zugang stellt sich dieser Idee entgegen.58 RD 1.4 Eine Ethik des Nachdenkens über Armut kann auch die Frage stellen  : »Welches Wissen erzeugt die Armutsforschung  ?« Die Kunst des Nachdenkens hängt ja auch mit der Frage zusammen, worauf ein Forschungs- und Reflexionsprozess hinauslaufen soll. Man könnte sich fragen  : Welches Wissen erzeugt armutsbekämpfungsrelevante Armutsforschung  ? Diese Diskussion erinnert an eine einschlägige Diskussion, wie sie im 13. Jahrhundert mit Blick auf eine andere Disziplin, aber mit relevanten Argumenten geführt wurde. Im 13. Jahrhundert wurde die Frage verhandelt, ob die Theologie eine praktische oder eine theoretische Wissenschaft sei. Diese Diskussion ist insofern für die Armutsforschung von Interesse, als wir es hier mit den Anfängen einer wissenschaftstheoretischen Selbstvergewisserung einer Disziplin zu tun haben, die sich um »Veränderung von Menschen« und »Veränderung von Welt« bemühte. Relevant sind vor allem auch die eingebrachten und vorgebrachten Gesichtspunkte. Gegen Thomas von Aquin, der die Theologie als theoretische Disziplin mit dem spekulativen Ziel der »visio beatifica« ansah, führten die Franziskanertheologen der Zeit im Wesentlichen drei Argumente ins Treffen, um den praktischen Charakter der theologischen Wissenschaft zu rechtfertigen  : Theologie sei praktisch, weil sie »sapientia« sei, weil sie eine Form von »lex« darstelle und weil sie »ad operationem« hingeordnet sei. Zum ersten Argument  : Die Theologie ist eine Form von Weisheit  ; Weisheit ist lebenswichtiges Wissen, das die Grenze zwischen Wissen und Tun überschreiten lässt. Das Verständnis von Theologie als Weisheit geht auf Augustinus zurück.59 Wir finden dieses Motiv auch bei William von Ockham, der davon ausgeht, dass die Theologie Orientierungswissen bereitstellt – »quia viator indiget aliquo directivo in divinis mandatis implemendis.«60 Der wohl bedeutendste Vertreter dieser Idee, dass Theologie Weisheit sei, ist freilich IoanZur Ethik des Nachdenkens über Armut

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nes Bonaventura – die Theologie hat nach seinem Verständnis damit zu tun, die Menschen zu verändern, »ut boni fiamus«.61 Der Mensch soll aufgrund von Einsicht verändert werden.62 Die Theologie hat es mit der Erfüllung des Intellekts in Ausrichtung auf den Affekt zu tun – diesen Zustand nennen wir »Weisheit«. Weisheit ist ein Wissen über das, wonach sich der Mensch in seinem Leben ausrichten soll. Zum zweiten Argument  : Die Theologie ist eine normative Disziplin, weil sie die Vorgaben der Heiligen Schrift übersetze und damit eine Form der Gesetzesauslegung betreibe. Wilhelm de la Mare ist der wohl wichtigste Vertreter dieser Auffassung.63 Die primären Sprechweisen der Theologie sind in den präskriptiven Sätzen der Schrift enthalten. Nichtpräskriptive Sprechweisen der Heiligen Schrift sind auf die Erfüllung des Gesetzes hingeordnet.64 Die Heilige Schrift zielt auf das rechte geistliche Leben ab65, sodass hier für alle Menschen Orientierung zu finden ist  : »Quicquid necessarium est omni homini ad salutem, sufficientissime in sacris litteris invenitur.«66 Das Wissen der Theologie sei deswegen praktisch, so Wilhelm de la Mare, weil die Theologie im Unterschied zu anderen Wissenschaften, die Aussagen aufstellen, normative Aussagen mache  ; normative Aussagen leiten das Handeln an, geht es doch in der Theologie darum, nicht ein Lebensziel zu beschreiben, sondern zum Lebensziel zu gelangen.67 Zum dritten Argument  : Theologie ist praktisch, weil sie auf das Handeln ausgerichtet ist. »Eine praktische Wissenschaft ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht ein Wissen erzeugt, mit dessen bloßem Besitz man sich zufrieden geben könnte, sondern ein Wissen, das über sich hinausweist und das gerade seinen Inhalt in der Anleitung zu rechtem Handeln hat.«68 Diese Auffassung finden wir in besonders deutlicher Akzentuiertheit bei einem Schüler von Wilhelm de la Mare, dem Franziskaner Ioannes Duns Scotus. Gegen seinen diesbezüglichen intellektuellen Kontrahenten Heinrich von Ghent, der den spekulativen Charakter der Theologie so sieht, dass hier aus spekulativen Sätzen Handlungsanweisungen abgeleitet werden, hält Scotus fest  : Aus spekulativen Sätzen können keine praktischen Sätze abgeleitet werden.69 Die Theologie ist praktisch, weil sie das Spekulative nur so weit behandelt, als seine Erkenntnis für die praktische Erkenntnis oder die Leitung der Praxis erforderlich ist. Unter Praxis versteht Scotus den Akt eines vom Intellekt verschiedenen Vermögens, der der Tätigkeit des Intellekts natürlicherweise nachfolgt und darauf ausgerichtet ist, der rechten Einsicht gemäß hervorgebracht zu werden  : »Dico ergo quod praxis ad quam cognitio practica extenditur est actus alterius potentiae quam intellectus, naturaliter posterior intellectione, natus elici conformiter rationi rectae ad hoc ut sit rectus.«70 Die Theologie hat es mit dem freien einsichtsvollen Handeln des 28

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Menschen zu tun  ; weder ist Glaube ein spekulativer Habitus noch ist die Gottesschau, die dem Glauben folgt, eine spekulative – sondern »fides« wie »visio« sind praktisch – denn die Gottesschau muss von ihrem Wesen her der Hingabe entsprechen und ihr natürlicherweise im geschaffenen Intellekt vorangehen, damit die rechte Hingabe ihr entsprechend hervorgebracht wird.71 Die Theologie ist also auf das Werk hingeordnet und gerade deswegen praktisch. Diese drei Argumentationsstränge lassen die Theologie als praktische Disziplin verstehen. Was heißt das für die Armutsforschung  ? Auch hier haben wir es mit grundsätzlichen Fragen des Lebens zu tun, kann doch die Frage nach dem normativen Status von Armut nicht absehen von der normativen Frage nach der guten Gesellschaft und dem guten menschlichen Leben. Ähnlich wie in der Theologie geht es auch bei diesen ethischen Grundfragen um »erste« und »letzte« Fragen menschlicher Existenz und des menschlichen Zusammenlebens. In diesem Sinne kann in Bezug auf die Armutsforschung durchaus die These vertreten werden, dass das im Rahmen von Armutsforschung erzeugte Wissen »Weisheit« sei, da der Diskurs über Armut nicht von allgemeinen Orientierungsfragen, etwa einem Diskurs über die gute Gesellschaft oder einem Diskurs über das gute Leben abgetrennt werden könne und die rechte Einschätzung von Armut ein Wissen um normative Standards und moralische Güter verlange. Weisheit ist im Übrigen als Form des Wissens anzusehen, bei der der Schritt vom Denken zum Tun vorbereitet werde.72 Zweitens sind die referierten Argumentationen insofern für den Diskurs über Armut von Relevanz, als es Bestrebungen gibt, den normativen Status von Armut mit Blick auf eine Exegese der Menschenrechte zu etablieren und damit präskriptive Sätze zum Ausgangspunkt zu machen. Drittens kann man die These finden, dass die Armutsforschung »auf das Handeln« hingeordnet sei. Armutsforschung solle etwas verändern – dieser Gedanke ist etwa in der Forschung Esther Duflos zu finden.73 Unter diesen Gesichtspunkten kann das von der Armutsforschung erzeugte Wissen, das auch für die gegenständliche Frage ausschlaggebend ist, als praktisches Wissen charakterisiert werden. Ich möchte also auf dem Hintergrund der skizzierten Diskussion aus dem 13. Jahrhundert die These vertreten, dass eine systematische Beschäftigung mit Armutsbekämpfung praktisches Wissen hervorzubringen hat, also ein Wissen, mit dessen bloßem Besitz man sich nicht zufriedengibt. Das bedeutet beispielsweise, dass die erzeugten Mikrotheorien Entwürfe guter Praxis enthalten, die bestimmte Formen von Praxis an anderen Kontexten anstoßen können. Das im Rahmen von Forschungen zu Armutsbekämpfung erzeugte Wissen bietet Überzeugungen zur Lebensorientierung insgesamt und ist »auf das Handeln« ausgerichtet. Zur Ethik des Nachdenkens über Armut

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RD 1.5 Armutsbekämpfung ist eine Frage, die mit menschlicher Praxis verbunden ist und nicht von Perspektiven auf das Leben als Ganzes (»gutes Leben«) und normative Grundfragen der Gesellschaft (»gerechte/gute Gesellschaft«) getrennt werden kann. Das Nachdenken über Armutsbekämpfung soll deswegen wichtige Sätze hervorbringen. Bernard Bolzanos 1838 entstandener und 1849 veröffentlichter Aufsatz Was ist Philosophie  ? enthält eine Reflexion auf »wichtige Sätze«.74 Wichtige Sätze sind nach Bolzano Sätze, die einen allgemeinen Einfluss auf unsere Tugend und Glückseligkeit haben.75 Dieser Einfluss kommt nicht auf zufällige Weise zustande, sondern liegt in Gründen, die wiederum in der Natur des Menschen liegen. Edgar Morscher hat Bolzanos Begriff des wichtigen Satzes folgendermaßen rekonstruiert  : »Ein Satz an sich S ist (allgemein) wichtig  : ↔ Für jeden Menschen M, jeden subjektiven Satz D und jeden Z ­ eitpunkt t gilt  : Wenn M zu t den subjektiven Satz D hat und S von D erfasst oder vorgestellt wird, dann hat D einen allgemeinen (d. h. einen nicht bloß zufälligen) Einfluss auf die Tugend von M oder D hat einen allgemeinen Einfluss auf die Glückseligkeit von M.«76 Wichtige Sätze sind also Sätze, die für das Leben eines Menschen im Ganzen gesehen, einen systematischen Einfluss ausüben. Wenn die Reflexion auf Armutsbekämpfung aufgrund der Verknüpfung mit normativen Grundfragen mit dem Leben insgesamt zu tun hat, sind wichtige Sätze zu erwarten  ; »Sätze, die einen Unterschied machen«. Dieser Gedanke kann mit dem Begriff des »Impakts« noch deutlicher gemacht werden. Der Impakt eines Satzes ergibt sich aus den Verpflichtungen, die durch Akzeptanz des Satzes übernommen werden  : Wenn wir Propositionen (als ernsthafte Kandidaten für wahre Propositionen und somit als ernst zu nehmende Propositionen) akzeptieren, gehen wir bestimmte Verpflichtungen ein. Diese Verpflichtungen könnte man als Commitments bezeichnen. Dabei können wir »epistemische commitments«, die sich auf das Fürwahrhalten von Sätzen und Satzsystemen beziehen, und »praktische commitments«, die Konsequenzen für die Handlungsplanung und Lebensführung umfassen, unterscheiden. Die praktischen Verpflichtungen einer Proposition sind jene praktischen Konsequenzen, die diese Proposition erfordert, wenn sie als ernsthafter Kandidat für einen wahren Satz (als wenigstens potenziell wahr) akzeptiert wird. Der Impakt eines Satzes ist die Menge der mit diesem Satz verbundenen praktischen und epistemischen Konsequenzen. Wir haben es hier also mit einem Bündel von Handlungen und mit einem Bündel von Überzeugungen zu tun, die von einem Satz betroffen sind. Die Größe dieses Bündels (Zahl der Handlungen bzw. Überzeugungen, die von diesem Satz betroffen sind) konstituiert das, was man die Reichweite der Konsequenzen nennen könnte. Darüber hinaus ist das Gewicht der 30

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Konsequenzen zu berücksichtigen, das sich aus der »Tiefe« der Konsequenzen ergibt. Zur Einschätzung des Gewichts schlage ich die Unterscheidung zwischen fundamentalen, gravierenden und punktuellen Konsequenzen vor. Ein Satz kann fundamentale praktische bzw. epistemische Konsequenzen haben, wenn er eine Lebensform als solche oder ein Überzeugungssystem insgesamt (im Sinne eines »Paradigmenwechsels«) umgestalten lässt. Von gravierenden praktischen bzw. epistemischen Konsequenzen kann man dort sprechen, wo der Satz Handlungstypen oder Handlungsschemata bzw. ein weltanschauliches Gebiet überhaupt betrifft. Der harmloseste Fall von praktischen bzw. epistemischen Konsequenzen eines Satzes sind punktuelle Konsequenzen, die nur einzelne Handlungen bzw. einzelne Überzeugungen tangieren. Epistemische und praktische Konsequenzen können in der Regel nicht voneinander getrennt werden können, da Lebensform und Weltbild miteinander verbunden sind. Der Impakt eines Satzes ist umso größer, je größer die Reichweite und je größer das Gewicht der Konsequenzen dieses Satzes sind. Wichtige Sätze im Sinne Bolzanos sind Sätze mit fundamentalen epistemischen und fundamentalen praktischen Konsequenzen. Diese Sätze betreffen die Einstellung zum Leben als Ganzem. Das Nachdenken über Armut soll, wenn man Überlegungen zu Armut in allgemeine Überlegungen zum guten Leben und zur guten Gesellschaft einbetten will und praktisches Wissen erzeugen möchte, wichtige Sätze hervorbringen.

Die Frage nach der Perspektive 1.7 Eine Grundfrage des Zugangs zu Armut ist die Perspektive. Unterscheiden wir zwischen »erster Person-Perspektive«, »zweiter Person-Perspektive« und »dritter Person-Perspektive«. Nennen wir diese Perspektiven P1, P2, P3. P1 ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Aussagen in der ersten Person Singular machen lassen. Die Perspektive der ersten Person kann in erkenntnistheoretischer Hinsicht als einzigartig verstanden werden, als eine Sichtweise, die nicht auf andere Perspektiven reduziert werden kann. P1 beruht auf »Erfahrung« und »Erleben«, auf persönlicher Exponiertheit und Bekanntschaft. Aussagen in der ersten Person Singular geben dieses »ownership« über die je eigene Erfahrung wieder. P2 ist eine Perspektive, die sich aus der anerkannten Anwesenheit eines Gegenübers ergibt  ; sie lässt »angesichts des Anderen« denken und urteilen. P2 unterscheidet sich von P1 durch die dialogische Situation, mit der wir es hier zu tun haben. P3 ist die versachlichende Perspektive, die über ein Phänomen im Modus Die Frage nach der Perspektive

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einer bestimmten Distanziertheit forscht. P3 objektiviert die Armutssituation und sieht sie als ein »von außen« zu erforschendes Feld. P3 ist eine Perspektive, die zu einer Systematik führt. P3-Wissen von Armut ist »Wissen über Armut«, eine Form von Wissen, bei der die Armutssituation Gegenstand des Wissens und die Analyse »von außen« Methode der Wissenserzeugung ist. P3-Wissen von Armut kann man paradigmatisch mit der Situation einer Schriftstellerin vergleichen, die aus der Perspektive einer Erzählerin ein Geschehen festhält. 1.8 Diese drei Perspektiven können weiter differenziert werden. Ich möchte weitere Unterscheidungen, die für die Begegnung mit Armutssituationen grundlegend sind, vorschlagen  : (i) Erstens die Unterscheidung zwischen »reflektiert« und »unreflektiert«. Diese Unterscheidung bezieht sich auf die Art der Verarbeitung von Daten der Armutssituation. Die Konfrontation mit einer Armutssituation kann im Modus des Einordnens oder im Modus des bloßen Erlebens erfolgen  ; »reflektierter« Umgang und damit ein Einordnen schlägt sich in expressiven Akten wie Versprachlichung und urteilenden Akten wie Gewichten, Bewerten und Vergleichen nieder. Kriterium ist hier die Einnahme einer urteilenden Metaperspektive über die Erlebnisperspektive hinaus. (ii) Zweitens die Unterscheidung zwischen »engagiert« und »degagiert«. Die Beschäftigung mit einer Armutssituation kann in einem Modus erfolgen, der auf Veränderung hin ausgerichtet ist und zum Handeln drängt (»engagiert«)  ; diese Beschäftigung kann aber auch in einem handlungsentlasteten Modus erfolgen, der Dinge zur Kenntnis nimmt, Verhältnisse perzipiert, Umstände beschreibt, Situationen abbildet (»degagiert«). Kriterium ist hier die »Handlungsnähe«, also das Maß an handlungsmotivierender Kraft, die aus dem Umgang mit einer Armutssituation gewonnen wird, die Distanz, die zwischen Konfrontation mit einer Armutssituation und dem Willen und Wirken von Veränderung liegt. (iii) Drittens die Unterscheidung zwischen »flüchtig« und »tief«  : Damit ist die Frage nach der Struktur der Konfrontation mit Armut angesprochen – handelt es sich um eine substanzielle, handfeste, andauernde Auseinandersetzung oder nur um einen ephemeren Kontakt  ? Kriterium zur Unterscheidung zwischen »flüchtig« und »tief« sind Intensität und Dauer der Auseinandersetzung mit Armutssituationen. (iv) Viertens die Unterscheidung zwischen »monochrom« und »pluriform«. Diese Unterscheidung bezieht sich auf den Horizont an berücksichtigten Armutssituationen, auf das Spektrum der Situationstypen, die in das Wissen von Armut einfließen, in die Zahl von Armutsformen, auf die sich das jeweilige Wissen von Armut bezieht. Diese Unterscheidungen von Wissenstypen liegen quer zur Unterscheidung der 32

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Perspektiven, und sie können jede Perspektive in vierfacher Hinsicht weiter differenzieren. 1.9 Welche Perspektive soll im Rahmen der Erforschung von Armutsbekämpfung eingenommen werden  ? Bisher wurde der Standpunkt erarbeitet, dass Armutsbekämpfungswissen praktisch sein und in wichtigen Sätzen ausgedrückt werden solle  ; dass es irritationsoffen sein möge und die Einzigartigkeit von Menschen anerkennen solle – das Wissen muss also »stechen und beißen«, um es poetisch auszudrücken. Eine disruptionssensible und irritationsoffene Perspektive, die die Einzigartigkeit von Menschen anerkennt und sich selbst von Inhalten berühren lässt, kann nur in der Begegnung mit einem irritierenden Gegenüber erfolgen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die eigene Person im Sinne von Selbstreflexion und Selbsttransformation und von daher die Möglichkeit, sich jene Instrumente auf persönliche Weise zu eigen zu machen, die eine systematische Betrachtung von einem methodischen Außen ermöglichen. Man könnte dies mit der Konstruktion einer Mikrotheorie vergleichen  : In der Begegnung entsteht eine Vortheorie, die den eigenen Standort bestimmen lässt bzw. zur Reflexion über den eigenen Standort einlädt, eine weitere Begegnung mit dem Rohmaterial ermöglicht und auf dieser Grundlage eine systematischere Sicht, die dann Grundlage für weitere Begegnungen ist, durch die sich Vortheorien verfeinern können. Die Perspektive, die ich vorschlagen möchte, ließe sich darstellen als  : P 2,1232. Es handelt sich um eine Perspektive, die den Weg von Begegnung zu Selbstreflexion zu Begegnung zu Systematisierung zurücklegt. Oder anders gesagt  : Es handelt sich bei P 2,1232 um eine begegnungsgestützte selbsttransformative Perspektive mit systematischem Interesse. Im Sinne der oben gemachten Unterscheidungen und mit Blick auf die Forderung nach praktischem Wissen und wichtigen Sätzen kann man reflektiertes, engagiertes, tiefes und pluriformes Wissen von Armut einfordern. E 1.5 Die Perspektive und das Hintergrundwissen, der Erfahrungshorizont und die Reflexionsebene spielen eine signifikante Rolle. Der Spiegel (31/1993) veröffentlichte seinerzeit einen einschlägigen Artikel mit dem Titel »Arm an Wissen über Armut«, der die Basis sozialpolitischer Entscheidungen thematisierte. Polemischer ausgedrückt  : Ist es klug, Beamte mit großer Lebenssicherheit oder Politiker/innen mit hohem Lebensstandard oder Wissenschaftler/innen mit Job Security und gesichertem Lebensstandard über den Umgang mit Armutssituationen urteilen zu lassen  ?77 Die eigene Lebenssituation wirkt sich auf die Art des Die Frage nach der Perspektive

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Erwerbs von Wissen und damit auch auf die Formen von Wissen aus, über die eine bestimmte Person verfügt. Diese Erfahrung machte etwa Mikrofinanzunternehmer Vikram Akula, der nach einer Kindheit und Jugend in den US A mühsam lernen musste, dass er über wesentliche Elemente von lokalem Wissen in einem indischen Kontext, das eine dichte Kenntnis der Kultur voraussetzt, nicht verfügte und nicht einmal seine Verdauungsgeschäfte im dörflichen Kontext (wo kann man sich erleichtern  ? Wie kann man sich erleichtern  ?) regeln konnte.78 Die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner füllten Akulas Wissenslücken, teilten ihr Wissen mit ihm, was ihn zum Leben im Dorf ermächtigte. Die Frage »Who are the experts  ?«79 ist eine Grundfrage. Diese hängt mit der Frage zusammen, welche Art von Wissen denn leitend sein solle. Die Erfahrung hat einen Einfluss darauf, auf welche dichten Beispiele jemand zurückgreifen kann, der Lebenshorizont prägt die Anliegen und den Sinn für Dringlichkeit. In diesem Sinne haben sozialwissenschaftliche Theorien auch autobiografische Bestandteile, machen Aussagen über Leben und Person der Wissenschaftlerin. »Die Wissenschaftler erzählen sich gegenseitig ihre eigenen Geschichten und ›jede Theorie ist eine Autobiografie‹«, wie Roy Weintraub es ausgedrückt hat.80 Auch auf struktureller Ebene wirkt sich die Perspektive aus. Alice O’Connor ist der Frage nach den unterschiedlichen Wissenskulturen über Armut in einem einflussreichen Buch über den amerikanischen Kontext nachgegangen, gerade mit Blick auf kulturelle Rahmenbedingungen und die aufkommende »poverty research industry«, die sich von Armutswissen als Kulturkritik entfernte. 81 Der Fokus wurde mehr und mehr verengt, was sich denn auch auf die Sozialpolitik auswirkte. Es ist kritisch die Frage zu stellen, inwieweit Armutsforschung nicht auch zur Armutsproduktion beiträgt – durch die Schaffung von Kategorien, in die Phänomene dann eingeordnet werden können.82 In einem Working Paper referieren Anthony Bebbington und Armando Barrientos unterschiedliche und auch widersprüchliche Thesen zu Ursachen von Armut in Indonesien  : »Armut ist eine Frage von ›good governance› und ein strukturelles Problem«, »Armut ist ein Verteilungsproblem«, »Armut ist eine Frage mangelnden Wirtschaftswachstums«, »Armut entsteht durch einen Mangel an Zugang zu Dienstleistungen im Gesundheits- und Bildungssektor«, »Armut ist Ausdruck von Mechanismen sozialer Ausgrenzung.«83 Diese unterschiedlichen Thesen berufen sich auf je unterschiedliche Datensätze und Wissensbasen. Gleichzeitig sind »bodies of knowledge« Grundlagen für die Planung von Armutsbekämpfungsprogrammen, wobei sehr viel Wissen »in house«, von den einschlägigen Organisationen selbst produziert wird. 34

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

RD 1.6 Die skizzierten Perspektiven P1, P2, P3 können exemplifiziert und in erkenntnistheoretischer Hinsicht dargestellt werden. P1  : Mit der Anerkennung von »indigenem Wissen« und »lokalem Wissen« wurde die Perspektive der ersten Person auch in den Armutsdiskurs eingebracht.84 Sie tritt in Formen von Sätzen wie »Ich erfahre Armut als« auf. In der groß angelegten von der Weltbank durchgeführten partizipativen Studie über die subjektive Erfahrung von Armut wurde eine Stimme aus Litauen zitiert  : »Poverty is humiliation, the sense of being dependent on them, and of being forced to accept rudeness, insults, and indifference when we seek help.«85 Diese Aussage ist als Aussage der ersten Person (»Ich habe Armut als Erniedrigung und Abhängigkeit erfahren«) zu lesen. Eine solche Aussage hat einen besonderen Status, weil sie nicht mit Einwänden der Art »Das stimmt nicht« zurückgewiesen werden kann. Pierre Bourdieu hat in einer berühmten Studie Das Elend der Welt (EW ) den Versuch unternommen, durch eine Reihe von Interviews die Situation von Opfern der Weltwirtschaftsentwicklung zu verstehen und P1 in die Armutsforschung einzubringen.86 Bourdieu will dabei P1 nicht isolieren, sondern geht von der Prämisse aus, dass eine Situation nicht adäquat verstanden werden könne, wenn man die einzelnen Standpunkte isoliert betrachtet. Die verschiedenen Standpunkte »müssen … miteinander konfrontiert werden, nicht um sie im Wechselspiel der endlos sich kreuzenden Bilder zu relativieren, sondern ganz im Gegenteil, um durch den schlichten Effekt des Nebeneinanderstellens sichtbar zu machen, was aus der Konfrontation der unterschiedlichen oder gegensätzlichen Weltsichten hervorgeht.«87 Es gehe darum, eine »mehrdimensionale« Darstellung zu liefern. Durch viele Gespräche mit vielen verschiedenen Gesprächspartnern aus unterschiedlichen »Ecken« der Gesellschaft hat Bourdieu versucht, diesem Anspruch gerecht zu werden. So entsteht ein Mosaik aus Geschichten, die jede für sich Raum und Stimme erhält, aber doch P1 eine prominente Position einräumt. Die Berücksichtigung von P1 bringt bestimmte Verzerrungen, Vertiefungen und Nuancierungen mit sich. Im Jahr 1947 wurde Edward Hoppe gefragt, was er von abstrakter Kunst halte. Er antwortete  : »Es gibt eine Malerschule, die sich abstrakt oder nicht-gegenständlich nennt … und den Versuch unternimmt, das ›reine Gemälde‹ herzustellen – das heißt, eine Kunst, die Form, Farbe und den Entwurf um ihrer selbst willen und unabhängig von der Erfahrung des Menschen mit seinem Leben und seiner Verbindung mit der Natur einsetzt. Ich glaube nicht, dass ein Mensch ein solches Ziel erreichen kann. Ob wir es nun wollen oder nicht, wir sind alle erdgebunden durch unsere Erfahrung des Lebens und die Reaktionen unseres Verstandes, Herzens und Auges, und unsere EmpfinDie Frage nach der Perspektive

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dungen bestehen keineswegs nur aus Form Farbe und Entwurf. Wir würden eine Menge weglassen, das ich der Darstellung in der Malerei für wert erachte und das nicht von der Literatur ausgedrückt werden kann.«88 Dieser Hinweis auf die Bedeutung der Einbindungen in besondere und bestimmte Lebenszusammenhänge hat auch für die Frage nach der Auseinandersetzung mit Armut eine Relevanz. Auch in der Armutsforschung bzw. der Gerechtigkeitsdiskussion ist man um eine Verbindung von grundsätzlicher Reflexion und empirischer Sozialwissenschaft bemüht – David Miller, Jonathan Wolf und Avner de-Shalit mögen als Beispiele gelten.89 Ich möchte auf den Blick auf menschliche Erfahrungen nicht verzichten. P2  : Die zweite Person Perspektive ist politisch relevant  : Im Rahmen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde von »sozialer Wahrheit« gesprochen, die nur dadurch hervortritt, dass Menschen in ein Gespräch miteinander treten.90 Ein echtes Gespräch ermöglicht Korrektur und lässt das Gegenüber stets wieder einen »Zug« machen. P2 wurde wesentlich von partizipativen Methoden in der Armutsforschung vorangetrieben.91 Die Organisation AT D Quart Monde hat den Versuch unternommen, akademische Perspektiven und Betroffenenperspektiven zusammenzubringen.92 Auf diese Weise entsteht dialogisches Wissen von Armut. Diese Form reflektierten P2-Wissens von Armut kommt durch Austausch und echtes Gespräch zustande, einem Gespräch, bei dem, um ein bekanntes Bild Gadamers zu verwenden, die Horizonte verschmelzen. Das ist offensichtlich eine hermeneutische Übung. Dieses Wissen wird im Diskurs, im Austausch, im Aufeinanderhören erzeugt. Es verlangt wechselseitige Lernbereitschaft. Die Perspektive der zweiten Person liegt dort vor, wo sich zwei Subjekte als Quellen von Ansprüchen, als Ursprünge von Normativität anerkannt haben.93 Wenn man die Begegnung einer Person erkenntnistheoretisch deutet, kann dies bedeuten, eine besondere, in der Begegnung liegende Qualität von Wissen zu identifizieren, das sich vor allem mit narrativen Werkzeugen, in Erzählungen und Geschichten ausdrücken lässt. Eleonor Stump hat diesen Gedanken entwickelt, indem sie ein Anliegen von Frank Cameron Jacksons bekanntem Gedankenexperiment »What Mary Didn’t Know«94 aufgegriffen und Überlegungen über die Perspektive der zweiten Person und die Bedeutung von Narrationen angestellt hat.95 Ein Mädchen namens Mary weiß alles, was es über Personen zu wissen gibt, hat aber noch nie ihre Mutter getroffen. Dann begegnet sie ihrer Mutter und lernt durch diese Begegnung etwas Neues  : »Mary will know things she did not know before even if she knew everything about her mother that could be made available to her in expository prose, including 36

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

her mother’s psychological states.«96 Die Perspektive der 2. Person ist eine im Rahmen einer Interaktion engagierte Perspektive, die eine nicht auf andere Formen von Wissen reduzierbare Form von Wissen mit sich bringt. Eleonor Stump versucht zu zeigen, dass diese Form des Wissens nicht als propositionales Wissen (»knowledge that«) verstanden werden kann und dass dieses Wissen sich vor allem auch in Geschichten ausdrücken lässt  ; oder anderes gesagt  : Geschichten repräsentieren, wenigstens teilweise, den distinkten Charakter der Perspektive der zweiten Person, da sie ja auf ein Gegenüber hin adressiert sind  ; zweitens entstehen in dieser Perspektive neue Formen von Begründungen, die Stephen Darwall »second personal reasons« genannt hat, Gründe, deren Gültigkeit auf relationalen Strukturen beruht, die mit der Anerkennung von Autorität und Rechenschaftspflichtigkeit zu tun haben. Wenn ich im Rahmen einer Interaktion Gründe für Ansprüche anführe, ergeben sich diese Gründe aus dem Kontext der Beziehung, etwa auch durch den Rekurs auf geteilte Vergangenheit oder durch die Bezugnahme auf Versprechen und eingegangene Verpflichtungen. Drittens ermöglicht eine Perspektive der zweiten Person neben einer neuen Form von Wissen und einer neuen Form von Gründen auch eine neue Form von Selbstwahrnehmung, die sich daraus ergibt, dass ein Subjekt sich von einem anderen Subjekt wahrgenommen und angesprochen weiß. Dieser P2-gestützte Blick auf neue Wissensformen, denen durch die Konstruktion von Mikrotheorien Rechnung getragen werden soll, auf neue Begründungen und auf neue Selbstpositionierungen hat Konsequenzen für die Darstellung. Diese Perspektive kann auch mit Gerald Cohens Idee eines »interpersonal test« verbunden werden, den Test also, der Sprecher- und Hörerrollen in eine Argumentation einbezieht und die Frage stellt, »whether the argument could serve as a justification of a mooted policy when uttered by any member of society to any other member.«97 P2 ist ethisch relevant, weil bestimmte Ansprüche mit Blick auf andere erhoben und verteidigt werden. Diese Einsicht wurde durch die zitierte Arbeit von Stephen Darwall zur Bedeutung von second person accounts für die Ethik vertieft. Wir könnten uns den Diskurs über Armut auch als Dialog mit Menschen, die in verfestigten Armutssituationen leben, vorstellen – was würde sich ändern  ? Anders gefragt  : Welche Aussagen, die im Modus P3 in isolierten Kontexten gemacht werden, lassen sich in einer P2 Situation aufrechterhalten  ? Konkreter  : Welche der Aussagen, die »über Armutsbetroffene« gemacht werden, lassen sich auch als Aussagen »gegenüber Armutsbetroffenen« realisieren  ? Es lässt sich zeigen, dass sich Stil wie Erkenntnisse der Armutsforschung verändern, wenn der Dialog zwischen »Forschung« und »Betroffenen« gesucht wird.98 Die Frage nach der Perspektive

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P3 ermöglicht Distanzierung und Systematisierung. Systematisches Wissen von Armut hat Charles Booth Mitte der 1890er-Jahre durch seine systematische Untersuchung in Londons East End erzeugt  ; Berichte über die Situation in einzelnen Haushalten, Polizeiberichte und erhältliche Statistiken wurden von ihm als Quellen herangezogen. 1899 erschien sein Opus magnum Life and Labour of the People. Hier zeigt sich P3-Wissen von Armut in seiner akademisch wichtigsten Form – mit klarer Datenbasis und einer klaren Aussage, die Grundlage für die Idee einer Armutsschwelle legte  ; ein zweites, damit zusammenhängendes prominentes Beispiel von systematischem Wissen findet sich in den Studien von Benjamin Seebohm Rowntree, der 1902 mit einer Studie über York seine einflussreiche Arbeit Poverty  : A study of town life vorlegte. In dieser Studie, die die erste Verwendung des Begriffs »poverty line« zeigt, wurden 46 000 Menschen (zwei Drittel der Bevölkerung Yorks) berücksichtigt  ; der berühmte Text führt zu einer Einteilung von Armutsbetroffenen nach messbaren Indikatoren. Hier finden sich P3-Formen von Wissen in wissenschaftlicher Form  : systematisches Wissen. Diese Form des Wissens von Armut ist eng mit »Vergleichen«, »Messen« und »Einteilen« verbunden. Diese Perspektive ist notwendig für die Theorienbildung und die systematische Zusammenstellung von Erkenntnissen. P3 bringt jedoch auch die Gefahr einer hegemonischen Perspektive mit sich. 99 Mit dem aus P3 gewonnenen systematischen Wissen ist nach einer Einsicht von David Foster Wallace auch die Gefahr der Abstraktion und der Überinterpretation verbunden.100 Einen Fallstrick von P3 kann man sich an folgender Anekdote, die der Philosophiestudent Thomas Mahler erzählt hat, klar machen  : »Einmal hatte mir ein Mitstudent erzählt, er schreibe seine Magisterarbeit über den Hunger als ästhetische Kategorie. ›Und befasst du dich dann auch mit dem richtigen Hunger‹, hatte ich ihn gefragt, ›zum Beispiel in der Welt und so  ?‹ – ›Ach Gott, nein.‹ Sein Lachen hatte angewidert und überrascht geklungen, als sei die Frage völlig abwegig. ›Natürlich nicht. Das hat doch mit Wissenschaft nichts zu tun.‹«101 Aus diesem Grund soll P3 nicht als präferenzielle Perspektive vorgeschlagen werden. RD 1.7 P2 wurde als vorrangige Perspektive ausgezeichnet. Einer der wichtigsten Denker, der sich über eine Du-Perspektive Gedanken gemacht hat, ist Martin Buber. Martin Buber unterscheidet grundsätzlich zwischen einer »Es«- und einer »Du«-Perspektive102  ; die sich aus der Es-Perspektive ergebende Es-Welt ist ursächlich gebunden, der Mensch in seiner Freiheit durchschreitet diese Ursächlichkeit immer wieder (B DP 54). Die Du-Perspektive beruht auf der Anerkennung von Gegenseitigkeit und hebt einen Menschen aus der Welt der 38

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Dinge heraus  : »Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend« (BDP 12)  ; das ist ein besonderer Schritt, der, wie man vermuten könnte, auf der Anerkennung von »Innerlichkeit« beruht. »Innerlichkeit« ist jene Dimension, die einen Menschen von einem materiellen »Ding« unterscheidet  ; die zweite Person Perspektive erkennt Tiefe und Unausschöpfbarkeit und Eigenwirksamkeit zu. Echte Begegnung kann dabei nicht in Begriffen von »Recht« und »Anspruch« ausgedrückt werden, sondern ist sprachlich anders zu vermessen  : »Das Du begegnet mir von Gnaden« (BDP 15). Die Anerkennung eines »Du« ist die Anerkennung von einem Gegenüber, das Präsenz zeigt, Präsenz vermittelt und Präsenz verlangt  ; diese Präsenz schließt ein Moment von Widerstand und Widerständigkeit ein  ; P2 erkennt damit an, dass das Gegenüber Quelle von Ansprüchen ist, Achtung verdient und nicht beliebig manipuliert werden kann103  : »Nur dadurch, daß das Du gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart … Gegenwart ist nicht das Flüchtige und Vorübergleitende, sondern das Gegenwartende und Gegenwährende« (BDP 16f )  ; eine solche Einstellung steht offensichtlich quer zu einem sozialtechnologischen Zugang zu Armut und Armutsbekämpfung.104 Eine P2 Perspektive lehrt, dass nicht Armut gewissermaßen unter Abstraktion von den Beteiligten bekämpft, sondern die Lebenssituation von Menschen gemeinsam mit den betroffenen Menschen verändert werden solle. Das ist kein objektivierender Blick auf die in Armutssituationen verstrickten Menschen. P2 unterscheidet sich grundsätzlich von P3  : »Wer Du spricht, hat kein Etwas zum Gegenstand« (BDP 8). Die Perspektive der zweiten Person verlangt nach Bubers Verständnis das Engagement der gesamten Person, verlangt also Engagement von innen her  : »Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden« (BDP 15). Die echte Begegnung zwischen Menschen beruht auf »Bewegung von innen«, »bewegter Innerlichkeit«  : »Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. Der Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer, Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem Geheimnis ansprechende Du, Geist ist Wort« (BDP 41)  ; Buber vergleicht dabei den Geist mit der Luft, die man atmet. Der Geist als Ausdruck der epistemischen Gesamtsituation des Menschen ist ausschlaggebend für die Qualität der Begegnung. Durch die widerständige Präsenz des Du wird auch der Gegenpol zu einer Transformation bewegt  ; anders gesagt  : Wenn »Ich« auf »Du« trifft, wird auch »Ich« verändert. »Das Ich des Grundworts Ich-Du erscheint als Person und wird sich bewußt als Subjektivität« (BDP 65). Armutsbekämpfung als Begegnung Die Frage nach der Perspektive

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mit Personen schließt die Selbsttransformation der Beteiligten ein, sodass nicht mehr borniert zwischen »Veränderndem« und »Verändertem« unterschieden werden kann. Anders gesagt  : Armutsbekämpfung ist auch »Arbeit am Selbst«. Begegnung ist wechselseitige Transformation.105 Wenn wir den buberschen Satz »Der Mensch wird am Du zum Ich« (BDP 32) in Bezug zur Armutsbekämpfung setzen, was würde daraus folgen  ? Jacqueline Novogratz hat diese Erfahrung gemacht – sie hat sich von einer Bankerin an der Wall Street zu einer Betreiberin eines philanthropischen Investment Fonds verwandelt auf dem Hintergrund einer Begegnung in Brasilien mit einem sechsjährigen Straßenkind.106 P2 hat offensichtlich disruptiven Charakter  : »Die Begegnungen ordnen sich nicht zur Welt, aber jede ist dir ein Zeichen der Weltordnung. Sie sind untereinander nicht verbunden, aber jede verbürgt dir deine Verbundenheit mit der Welt. Die Welt, die dir so erscheint, ist unzuverlässig, denn sie erscheint dir stets neu, und du darfst sie nicht beim Wort nehmen  ; sie ist undicht, denn alles durchdringt in ihr alles  ; dauerlos, denn sie kommt auch ungerufen und entschwindet auch festgehalten  ; sie ist unübersehbar  : willst du sie übersehbar machen, verlierst du sie« (BDP 36) – damit sagt Martin Buber auch Erhellendes über die Methodik von Mikrotheorien aus  : Sie sind keine Makrotheorien, die das Ganze in den Blick nehmen und in eine Ordnung bringen, es handelt sich um disruptive, das Allgemeine durchaus infrage stellende, »kleine Theorien«, vergleichbar der Idee von »local theologies.«107 Allerdings sind diese Mikrotheorien auch Verbindungen mit den Fragen nach dem Ganzen und dem Guten und in diesem Sinn auch verbunden und komplementär. P2 ist anstrengend – weil disruptiv, weil Präsenz fordernd, weil widerstandsbringend. Buber hält fest, dass P2 keine Perspektive sei, die auf Dauer und im Ganzen durchzuhalten wäre  ; das Gegenüber wird auch zum »Es«, kann auch beschrieben und beurteilt, gemessen und eingeordnet werden  : »Das aber ist die erhabene Schwermut unsres Loses, daß jedes Du in unserer Welt zum Es werden muß« (BDP 20). Dieser Aspekt ist insofern für die Armutsforschung von Relevanz, als hier nicht die Last aufgebürdet wird, eine ununterbrochene Perspektive der zweiten Person durchzuhalten. Die Perspektiven oszillieren, entscheidend ist in Bubers Modell die fundamentale Bereitschaft und Fähigkeit zur »Du«Perspektive. Die Integration von P2 in die eigene Persönlichkeit lässt einen Menschen zur Person werden  : »Der Mensch ist umso personhafter, je stärker in der menschlichen Zweifalt seines Ich das des Grundworts Ich-Du ist« (BDP 68)  ; »Person« wird dabei von Buber strikt von »Eigenwesen«, das sich mit dem »je Meinen« beschäftigt, unterschieden (BDP 66f ). Personalität steht zwischen 40

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

»Innen« und »Außen«  : Das Du bindet Inneres und Äußeres auf eine ganz besondere Weise zusammen  : Einrichtungen sind das Draußen, in dem man sich zu allerlei Zwecken aufhält  ; Gefühle sind das »Drinnen«, in dem man lebt und sich von den Einrichtungen erholt – hier ist man daheim und streckt sich im Schaukelstuhl aus (BDP 45) – »aber das abgetrennte Es der Einrichtungen ist ein Golem und das abgetrennte Ich der Gefühle ein umherflatternder Seelenvogel« (BDP 46)  ; denn Es wie Ich haben keinen Zugang zum wirklichen Leben. Wieder anders gesagt  : »Einrichtungen ergeben kein öffentliches und Gefühle kein persönliches Leben« (BDP 46).108 Die Perspektive der zweiten Person ermöglicht jenes Wissen von Welt, das »persönlich, aber nicht privat«, »relevant für den öffentlichen Raum, aber nicht menschenignorierend« ist. Die Auszeichnung von P2 bedeutet gerade nicht eine Zurückstufung der Berücksichtigung von Innerlichkeit, sondern die Ermöglichung eines reichen Verständnisses von Interiorität wie auch von Öffentlichkeit. E 1.6 Wichtige Einsichten in die Bedeutung von Perspektiven finden sich in Colin Wilsons Klassiker über die Perspektive des Außenseiters oder auch des Ausgeschlossenen.109 Der Außenseiter hat in der Gesellschaft keinen Platz und deswegen »no mission to fulfill« (C WO 11). Er ist der Unsicherheit des Lebens ausgesetzt (C WO 108), weil er sich nicht der Sicherheit der Bürgerlichkeit unterwirft oder nicht von dieser geschützt ist. Da er ausgeschlossen ist, zeigt er eine Verweigerung der fundamentalen Lebensakzeptanz (C WO 18), hat einen »sense of strangeness« (C W O 15), lässt sich deswegen von Strömungen nicht mitreißen (C WO 47) und sieht »tiefer« und »mehr« und gerade jene chaotische Seite der Gesellschaft, die die Insider nicht sehen können  : »›He sees too deep and too much‹ , and what he sees is essentially chaos« (C WO 15). Oder in einer anderen Formulierung  : »The Outsider is he who cannot accept life as it is, who cannot consider his own existence or anyone else’s necessary. He sees ›too deep and too much‹« (C WO 82). Der Außenseiter erkennt, dass er in einem Gefängnis ist, auch er kann dem Gefängnis nicht entfliehen, aber er erkennt, dass dies der Fall ist, und er übernimmt die Aufgabe, sich selbst kennenzulernen – »the Outsider’s first business is to know himself« (C WO 155). Mit dieser Differenz zwischen »Person« und »System«, um es in dieser Sprache auszudrücken, sieht der Außenseiter weiter und tiefer.110 Die Außenseiter haben wichtige Funktionen zu erfüllen, sie werden »poets or saints« (C WO 59), sie tragen zur Vitalität einer Gesellschaft bei, weil sie von außen Anstöße geben können. Und die Freiheit für diese Anstöße hat der Außenseiter, weil er sich nicht den ErwartunDie Frage nach der Perspektive

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gen, Standards und Normen der Bourgeoisie unterwirft. 111 Außenseiter haben eine Sehnsucht nach Fülle (»the urge to care about ›more abundant life‹«), die der Bürgerlichkeit mit ihrer Sorge um »comfort and stability« nicht gegeben ist (C W O 256). Was könnten diese Überlegungen für die Frage nach der Per­ spektive in der Armutsforschung bedeuten  ? Zumindest dreierlei  : Menschen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, Zugang zu einer »mission« zu geben  ; Insidern der Gesellschaft die Chance zu geben, nicht in die Bequemlichkeit einer Normalität zu verfallen, sondern einen »Stachel im Fleisch« zu verspüren  ; diejenigen, die eine aufmerksame Außenposition in der Gesellschaft einnehmen, als Lehrer/innen zu akzeptieren.

Die Wunde des Wissens 1.10 P2,132 ist die Grundlage für eine irritationsoffene und personenbezogene Haltung, die zu Selbsttransformation führt. Die Begründung von P2,132 im Sinne der Auflistung erkenntnistheoretischer Vorteile ist zu unterscheiden von der engagierten Bewegung, sich P 2,132 zu eigen zu machen. Als Basis für diese Motivation, die auch Grundlage für die Möglichkeit einer tiefen Begegnung ist, die zu Selbsttransformation führt, möchte ich die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit vorschlagen. Verwundbarkeit hat zumindest vier Dimensionen  : (i) Wir sind verwundbar in dem Sinne, dass wir verletzt und beschädigt werden können  ; (ii) wir sind verwundbar in dem Sinne, dass unsere Existenz grundsätzlich fragil ist, dass das, was unsere Identität ausmacht, beschädigt oder zerstört werden kann  ; (iii) wir sind verwundbar in dem Sinne, dass die Welt in ihrer metaphysischen Struktur kontingent ist und sich die Dinge ändern können und die Verhältnisse stets anders sein könnten, als sie sind  ; (iv) wir sind schließlich auch verwundbar in dem Sinne, dass wir fehlbar sind, dass wir Fehler machen, Schuld auf uns laden, anderen Unrecht tun und mit der Aufrechterhaltung unserer Existenz Kosten entstehen, die andere zu tragen haben. Diese vier Pfeiler von Verwundbarkeit – Verletzbarkeit, Fragilität der Existenz, Kontingenz der Welt, Fehlbarkeit – finden wir selbst bei den mythischen Gestalten des Samson (das Haar) und des Achilleus (die Ferse). Die Anerkennung der vierfachen Verwundbarkeit hat vor allem die Konsequenz, dass wir unser Leben nicht mehr unabhängig von anderen verstehen können, nicht außerhalb einer Conditio der Angewiesenheit. Anders gesagt  : Verwundbarkeit führt zu einem Denken in der zweiten Person. Das wohl größte Hindernis im Diskurs über Armut und den 42

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

kulturellen Praktiken zur Armutsbekämpfung ist die Illusion der eigenen Unverwundbarkeit. 1.11 Die Anerkennung der Verwundbarkeit kann tief werden, wenn sie entsprechend verankert ist  ; ich schlage vor, diese Verankerung über eine Frage zu leisten, die ich die »Zerbrechlichkeitsfrage« nennen möchte. Sie lautet  : Wie würde ich mein Leben jetzt und hier und künftig leben, wenn ich jetzt und hier weiß, dass mein Leben dereinst von Angewiesensein, Verwirrung und Verfall gekennzeichnet sein wird  ? Die Zerbrechlichkeitsfrage unterscheidet sich von einem allgemeinen Blick auf das Ende – erstens durch den Status von P1, der Betroffenheit und Selbstbezüglichkeit einschließt, zweitens durch die Tiefe, die P1 durch dichte Beschreibungen gewinnen kann, drittens durch die Dringlichkeit, die die Zerbrechlichkeitsfrage durch das unbestimmte »Dereinst«, das jederzeit einzutreten vermag, gewinnt. Die Zerbrechlichkeitsfrage hat drei Merkmale  : (i) Sie wird aus der engagierten Perspektive der ersten Person Singular konzipiert und geht der Frage nach dem Lebensentwurf nach  : Wie soll mein Leben aussehen  ? Diese Perspektive hat den Vorteil, dass das Subjekt der Frage nicht ersetzbar ist – und sich nicht das Problem stellt, wie Angelegenheiten allgemeiner Gültigkeit ganz zu eigen gemacht werden können. Es soll nicht um eine allgemeine Perspektive auf die gesamte Gesellschaft gehen, sondern um einen je persönlichen Standpunkt auf das je eigene Leben, der mit entsprechendem Engagement zu rechtfertigen ist. (ii) Die Zerbrechlichkeitsfrage stellt nicht die Frage nach den Prinzipien einer wohlgeordneten Gesellschaft, sondern die Frage nach einer wohldurchdachten persönlichen Lebensform, also nach einer Lebensform, die die Conditio der Verwundbarkeit reflektiert hat und diesem Wissen Rechnung trägt. (iii) Die Zerbrechlichkeitsfrage ist als hypothetische Frage »vom Ende her« konzipiert  ; sie nimmt also einen Standpunkt ein, der das Leben als Ganzes in den Blick nimmt, und zwar aus einer »letzthin ratifizierenden« Perspektive, in der die einzelnen Herausforderungen Gewicht und Proportion erhalten. Sie ist nicht von der Frage zu trennen  : Wie werde ich, auf mein Leben zurückblickend, mein Leben gelebt haben wollen  ? 1.12 Die Zerbrechlichkeitsfrage lässt die normative Grundfrage nach der Lebensgestaltung in Form einer »Wunde des Wissens« stellen. Unter einer »Wunde des Wissens« verstehe ich schmerzhaftes Wissen, das an die eigene Verwundbarkeit erinnern lässt. Eine »Wunde des Wissens« ist insofern tragisch, als sie einen epistemischen Status erzeugt, bei dem ein Mensch gleichzeitig zu viel und Die Wunde des Wissens

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zu wenig weiß  ; er weiß zu viel, um das Leben unbeschwert leben zu können, er weiß zu wenig, weil er die Kontrolle über das Leben nicht zurückgewinnen kann. Durch die Wunde des Wissens entsteht Einsicht in die eigene Abhängigkeit von Anderen und Anderem. Sie ist ein Beitrag zur Anerkennung der Gleichheit. Armutssituationen sind von dieser Wunde des Wissens in besonderer Weise gezeichnet, von einem Wissen darum, dass Lasten drückend und die Befreiung von diesen Lasten nicht in Sicht ist. Die Erfahrung der Wunde des Wissens in einer Armutssituation erbringt eine epistemische Situation, die die Zerbrechlichkeitsfrage nicht als hypothetische Frage stellen lässt. Das wiederum bedeutet, dass einer Lebensform, die sich armutsfest wähnt, eine Quelle der Einsicht in Verwundbarkeit nicht zur Verfügung steht. Wenn man Verwundbarkeit als Basis für die Motivation für P2,123 ansieht, die auch Grundlage für die Möglichkeit einer tiefen Begegnung ist, die zu Selbsttransformation führt, wird man die Wunde des Wissens als kostbare Ressource für »Arbeit am Selbst« ansehen. E 1.7 Die Zerbrechlichkeitsfrage kann durch dichte Beschreibungen vertieft werden. Dadurch gewinnt sie an Dringlichkeit, Kraft, Tiefe und die Möglichkeit, die Frage in das eigene Leben zu integrieren, wird erleichtert. Ein Beispiel  : Arno Geiger hat in seinem bekannten Werk Der alte König in seinem Exil seinem Vater ein Denkmal gesetzt.112 Ein Kind erlebt den geistigen Verfall des Vaters durch eine Demenzerkrankung. Das fällt schon einmal schwer, weil Kinder daran gewohnt sind, dass die Eltern stark sind. Geiger spricht wiederholt die Verwunderung an, dass es seinen Vater erwischt hat, das habe er ihm nicht »zugetraut« (AGK 25). Zu Beginn der Krankheit, als die Diagnose noch nicht erfolgt ist, reagiert der Sohn mit Zurückweisung  : »Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf« (AGK 23). Es ist bitter, Zeuge einer unaufhaltsamen Verwandlung zu sein  : »Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus« (AGK 12). Der Vater verliert das Gefühl der Geborgenheit in der Welt, das Gefühl für Vertrautheit, das Vertrauen in Leben und Welt. »Mich erschreckte jedesmal, wie verwundbar er wirkte, wie verlassen. Er hatte sich verändert, sein bedrückter Gesichtsausdruck sprach nicht mehr von der Verzweiflung darüber, vergesslich zu sein, sondern von der tiefen Heimatlosigkeit eines Menschen, dem die ganze Welt fremd geworden war« (AGK 55). In dieser Verlorenheit wächst das Angewiesensein auf andere. Mit fortschreitender Erkrankung steigt die Abhängigkeit. »Der Vater war jetzt nicht mehr in der Lage, 44

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

den Alltag ohne Gefahren für sich selbst zu bewältigen. Ohne die Fürsorge anderer wäre er verloren gewesen« (AGK 63). Diese Verlorenheit zeigt sich an allen Ecken und Enden, auch im Elementarsten  : Der Vater sitzt vor einem Stück Brot und weiß nicht, was er damit anfangen soll (AGK 113). Der Vater resigniert. Das drückt sich in Sätzen aus, wie wir sie auch bei Kafka finden  : »›Leider, ich weiß‹, fügte er hinzu, ich erbringe keine guten Ergebnisse mehr, meine Leistungen sind ziemlich schwach geworden. Es ist schwierig. Ich werde dir wohl nicht viel helfen können« (AGK 100). Oder  : »Ich bin einer, der nichts zu melden hat. Da ist nichts mehr zu machen« (AGK 114). Die Krankheit ist unumkehrbar, der Verfall schreitet voran. Das Leben hat dem Menschen eine Niederlage zugefügt, eine Wunde, von der er sich nicht mehr erholen wird. Arno Geiger erkennt, »dass es einen Unterschied macht, ob man aufgibt, weil man nicht mehr will, oder weil man weiß, dass man geschlagen ist. Der Vater ging davon aus, dass er geschlagen war« (AGK 8). Diesen Punkt, an dem wir uns geschlagen geben müssen, weil die Spuren des Alters nicht mehr kaschiert werden können, erreichen viele Menschen – ohne Zeitpunkt und Umstände vorhersagen zu können. Wenn man Arno Geigers Schilderung gelesen hat und sich vorstellen kann, dereinst auch mit dieser Verwirrung und Angewiesenheit das eigene Leben zu beschließen, der wird sich leichter zum Gedanken motivieren können, dass wir alle verwundbare Wesen sind, die aufeinander angewiesen sind. Wenn jemand weiß, dass unsere Identität grundsätzlich vorläufig ist und wir uns stets in Situationen finden können, in denen unsere Abhängigkeit von anderen Menschen tiefer und direkter sichtbar wird, dann wird man mit einer gewissen Demut und mit einer grundsätzlichen Bereitschaft, Lebensrisiken anderer Menschen mitzutragen, durchs Leben gehen. E 1.8 Armut erzeugt eine gesteigerte Verwundbarkeit  ; Armut führt zu einer gesteigerten Verwundbarkeit als »capacity to be wounded«113 und zu einer gesteigerten Erfahrung der Vorläufigkeit unserer Identität.114 Verwundbarkeit ist ein Wissen um das Menschsein, dessen allgemeine Lebensrisiken nicht auf null reduziert werden können und das gerade in Armutssituationen »exposure to contingencies and stress« aufweist.115 Wir könnten hier vielleicht zwischen »stillen Wunden« und »schreienden Wunden« unterscheiden, zwischen einem empörenden Elend und einem unauffälligen Leiden. Beides sind Formen von Verwundbarkeit. Sie kommen auch in literarischen Texten zur Sprache. In einem Leben in Armut stellen sich die Prioritäten anders dar. Heinrich Böll weist im Brot der frühen Jahre darauf hin  : »Ich habe den Preis für alle Dinge erfahren müssen – weil Die Wunde des Wissens

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ich ihn nie zahlen konnte –, als ich als sechzehnjähriger Lehrling allein in die Stadt kam  : der Hunger lehrte mich die Preise  ; der Gedanke an frischgebackenes Brot machte mich ganz dumm im Kopf, und ich streifte oft abends stundenlang durch die Stadt und dachte an nichts anderes als  : Brot.«116 Toni Morrison beschreibt in ihrem Roman Menschenkind  : »Denver, die glaubte, sie wisse alles über die Stille, war überrascht zu erfahren, daß Hunger das vermochte  : einen still zu machen und auszulaugen … Je hungriger sie wurden, desto schwächer auch  ; je schwächer sie wurden, desto stiller auch.«117 Reichtum hat umgekehrt die Konsequenz, sich gegen Verwundbarkeiten schützen zu können, sogar gegen Regen, wie Tom Wolfe in einer Szene in New York schildert  : »Browning ging unter dem Baldachin zu seinem Wagen. Sein Chauffeur hielt ihm den Wagenschlag auf. Nicht ein Regentropfen berührte seine glänzende Gestalt, und verschwunden war er, glatt und makellos, in der Masse der roten Schlußlichter, die die Park Avenue hinunterschwebten«.118 Diese Sätze deuten eine Lebensform an, die weitgehend organisieren kann, womit sie in Berührung kommen möchte – aber auch hier hat die Zerbrechlichkeitsfrage eine unleugbare Kraft. RD 1.8 Die Frage ist als solche nicht neu. Die Erinnerung an die eigene Sterbestunde ist Teil des geistlichen Repertoires, wie wir es prominenterweise in der Imitatio Christi finden. Johannes X X I I I ., der sich in dieser Tradition verankert wusste, hat sich das Wort »Bei all deinen Dingen denk an dein Ende« bzw. »in omnibus respice finem« zu eigen gemacht.119 Hier wird die Perspektive auf die eigene Todesstunde ins Zentrum gerückt. Dieses Motiv ist auch aus den geistlichen Übungen von Ignatius von Loyola bekannt.120 Es ist für die rechte Perspektive auf die Dinge entscheidend, das Leben als Ganzes in den Blick zu nehmen. Existenzphilosophische Überlegungen haben immer wieder die Bedeutung von Tod und Sterblichkeit für das Verständnis des menschlichen Lebens thematisiert.121 Eine dichte Beschreibung eines möglichen Endes zur Erzeugung eines tiefen Wissens um die eigene Verwundbarkeit kann freilich noch einen anderen Effekt erzielen. Diese Perspektive hat den Vorteil, dass das Subjekt der Frage nicht ersetzbar ist – und sich nicht das Problem stellt, wie Angelegenheiten allgemeiner Gültigkeit ganz zu eigen gemacht werden können.122 Es soll nicht um eine allgemeine Perspektive auf die gesamte Gesellschaft gehen, sondern um einen je persönlichen Standpunkt auf das je eigene Leben. Diese Fragestellung unterscheidet sich von der von John Rawls entworfenen Situation einer »ex ante«-Entscheidung vor Beginn sozialer Faktizitäten unter einer Kondition umfassender Ignoranz, da es sich um eine Perspektive »inmitten« des ver46

Erster Teil  : Über Armut nachdenken

wundbaren Lebens und im Wissen um Zerbrechlichkeit handelt. Damit können Einwände, wie sie gegen »veil of ignorance«-Szenarien erhoben werden (mangelnde Entscheidungsfähigkeit blinder Subjekte  ; Identitätslosigkeit der Entscheidungsträger  ; Frage nach Motivation und Maßstab) umgangen werden. 123 »Veil of ignorance«-Szenarien können schwerlich Dringlichkeit und persönliches Engagement erzeugen. Die Wunde des Wissens erlaubt eine Form der Reflexion, wie sie Pascal gegenüber einer cartesianischen Analytik vorgeschlagen hat. In den Fragen, die Wittgenstein die »Lebensfragen« der Menschen genannt hat, bedarf es nach Blaise Pascal eines besonderen Urteilsvermögens, eines »esprit de finesse« und einer »logique du cœur«.124 Man könnte sich mit gutem Grund angesichts der Komplexität des Lebens und der existenziellen Dimension für einen behutsamen Reflexionsprozess aussprechen, wenn es um jene Fragen geht, die die Verwundbarkeit des Menschen betreffen. Pascal spricht ein gewisses »Taktgefühl der Reflexion« an, das eine Haltung des Detachments gegenüber dem Denkgegenstand nahe legt – man kann sowohl den Fehler machen, zu stark an etwas zu denken, als auch den Fehler, nicht genug an etwas zu denken  ; in beiden Fällen verschwimmt das Urteil (BPP 21/381).125 Es geht also, so könnte man sagen, um eine »Höflichkeit im Denken«, um Höflichkeit gegenüber dem Erkenntnisgegenstand. Diese Höflichkeit gelingt nur, wenn man selbsteinsichtig ist. Das Nachdenken über die großen Lebensfragen kann nach Pascal nur eingedenk des eigenen Elends gelingen. In diesem Sinne ist die Reflexion, gerade auch die Reflexion auf das Leben als Ganzes, »Arbeit an einem selbst«. Ein erster Schritt ist die Kultivierung des Staunens ob der eigenen Schwäche (BPP 33/374).126 Der Imperativ zur Selbsterkenntnis (BPP 72/66) gilt für sämtliche Auseinandersetzungen mit den Lebensproblemen. Der Imperativ zur Selbsterkenntnis führt nach Pascal zur Einsicht in die Notwendigkeit der Herzenspflege. Nur die Selbsteinsicht wird der Widersprüchlichkeit, der Größe und Niedrigkeit des Menschen gerecht (BPP 613/443).127 Wenn ich zum Schluss komme  : Wie hohl und voller Schmutz ist doch das menschliche Leben (BPP 139/143), sehe ich die Notwendigkeit der Arbeit an mir selbst ein. Diese Arbeit geht tief, berührt die ganze Persönlichkeit. Wir erkennen Wahrheiten nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen (BPP 110/282). Und das Herz meint die ganze menschliche Persönlichkeit mit Innerlichkeit und Geschichtlichkeit. Hier haben wir uns weit von einem »Schleier des Nichtwissens«-Szenario entfernt. Die Wunde des Wissens ist mehr einer pascalschen Arbeit am Selbst als einer cartesianischen Analytik zugänglich. Zudem erlaubt ein Blick auf das Leben als Ganzes vom Ende her eine Sondierung des Lebensfundaments  : Der letzte Die Wunde des Wissens

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Lebens­abschnitt ist »Zeit der Ernte« und damit auch jener Lebensabschnitt, in dem es nicht in erster Linie darum geht, die eingegangenen Bindungen um weitere zu ergänzen, sondern darum, die eingegangenen Bindungen an Wertvorstellungen einer Beglaubigung zuzuführen. Commitments trotz Widrigkeiten, wie sie sich in Zeiten von Abbau und Verfall einstellen, zu honorieren, ratifiziert diese Bindungen.

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Erster Teil  : Über Armut nachdenken

Zweiter Teil  : Die Kernthese

Die These  : Armut »von innen« denken 2.1 Die These, die ich vertrete, kann in einem schwächeren und in einem stärke­ ren Sinn formuliert werden  ; in einem schwächeren Sinn könnte die These lauten  : Armutsdynamiken können tiefer verstanden werden, wenn man die Innenseite von Armut einbezieht. In einem stärkeren Sinn lautet die These  : Ohne Berücksichtigung der Innenseite von Armut wird man Armut nur unzureichend verstehen und nicht wirkungsvoll bekämpfen können. Armutsbekämpfung ist auf epistemische und moralische Ressourcen, auf Wissen und auf moralische Einstellungen angewiesen. Armutsbekämpfung bedarf entsprechender Einstellungen. Diese These soll im vorliegenden Buch entwickelt werden, mit e­ iner Reihe von mitunter groben Pinselstrichen, die auch nur andeuten können, was diese These für politische, ökonomische oder soziale Fragen bedeutet. Es geht darum, so könnte man sagen, eine »Innentheorie« von Armut zu entfalten oder auch  : Armut und Armutsbekämpfung von der Innenseite unter Berücksichtigung menschlicher Interiorität zu verstehen. Hintergrund dieser These ist ein bestimmtes Menschenbild, das davon ausgeht, dass Menschen Wesen mit Tiefe und Innerlichkeit sind, mit reichem Innenleben, das unter anderem in der traditionellen Rede von »Seele« gespiegelt wurde. Dabei soll diese These weder besagen, dass die Berücksichtigung von Strukturen und äußeren Gütern nicht notwendig wäre, noch dass das Innere des Menschen eine vom Gespräch mit der Welt auf geheimnisvolle Weise unabhängige »Essenz« bilde. 2.2 Die »Innenseite der Armut« betrifft die Innerlichkeit des Menschen, die menschliche Interiorität. Darunter verstehe ich insbesondere die epistemische und moralische Situation der Betroffenen. Diese Situation möchte ich, auch wenn es etwas schwerfällig klingt, als »episthetische Situation« bezeichnen. Die episthetische Situation ist die Gesamtheit der im erkennenden Subjekt verankerten Orientierungsbedingungen  ; Orientierungsbedingungen sind die Strukturen, die einen Menschen sein Verhältnis zu sich selbst und damit sein Verhältnis zur Welt bestimmen lassen  ; die episthetische Situation ist also jene »innere Situiertheit« des Menschen, die mit emotionaler, erkenntnisbezogener und moralischer Orientierung zu tun hat. Nun kann man sich nicht sinnvoll über die Die These  : Armut »von innen« denken

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episthetische Situation Gedanken machen, wenn man nicht den Versuch einer »Kartografie des Inneren« unternimmt, wie dies in philosophischen und religiösen Traditionen auch immer wieder unternommen wurde. Wenn man über jene Kräfte nachdenkt, die die Orientierung eines Menschen oder seine »Innerlichkeit« prägen, kann man verschiedene Vermögen unterscheiden – ich möchte den Vorschlag machen, die episthetische Situation über sieben Pfeiler zu charakterisieren, will aber nicht behaupten, dass damit eine abschließende Beschreibung des Inneren gelungen wäre. Die sieben Aspekte, die jedenfalls von Relevanz sind  : Erinnerungskraft und Erinnerungen (memoria), Vorstellungskraft und Vorstellungen (Fantasie/Hoffnung), Urteilsvermögen und Überzeugungen (Reflexion), Feinfühligkeit und Gefühle (Emotionalität), Strebekraft und Strebebewegungen (Wille), Haltungen und Einstellungen (Tugenden), moralisches Empfinden (Gewissen). Diese sieben Dimensionen ergeben »Fragerichtungen«, die man zur Erhellung der episthetischen Situation verwenden kann. 2.3 Die episthetische Situation für die Zwecke der Armutsforschung oder Armutsbekämpfung nutzbar zu machen, bedeutet, den Blick auf bestimmte Aspekte zu richten und bestimmte Fragen zu stellen  : (i) Welche Auswirkungen hat Armut auf Erinnerungen und Gedächtnis  ? Können bedrückende und belastende Erinnerungen oder auch ein Mangel an »Familiengeschichtsbewusstsein« zur Verfestigung von Armut beitragen  ? Was muss die Armutsbekämpfung leisten, um durch Erinnerungsarbeit zur Überwindung von Armut beizutragen  ? (ii) Inwieweit hängt Armut mit einem eingeschränkten »Möglichkeitssinn« und einer eingeschränkten Vorstellungskraft zusammen  ? Inwiefern ist es bedeutsam zur Bekämpfung von Armut, an der Vorstellungskraft der Menschen anzusetzen und die Überwindung von Armut an die Entwicklung von bestimmten Vorstellungen zu knüpfen  ? (iii) Ist Armut verbunden mit einem Mangel an Reflexionsvermögen, das insofern mit »Bildung« verbunden ist, als Bildungsprozesse Referenzpunkte zur Beurteilung von Sachverhalten bereitstellen  ? Inwieweit schränkt eine Armutssituation auch die Urteilskraft ein  ? Ist »Bildung« als ­eines der wichtigsten Werkzeuge der Armutsbekämpfung nicht vor allem auch ein Weg zur Kultivierung von Reflexionsvermögen und Urteilskraft  ? (iv) Trägt der Druck von Armutssituationen zur Bedrohung von Feinfühligkeit bei  ? Welche emotionalen Auswirkungen hat Armut  ? Inwiefern und wie müssen Anstrengungen zur Armutsbekämpfung Emotionen und Emotionalität berücksichtigen, ist Armut doch »heiße Geschichte« mit starker emotionaler Involviertheit der Betroffenen  ? (v) Welche Rolle spielen Wünsche und vor allem auch Wünsche 50

Zweiter Teil  : Die Kernthese

zweiter Ordnung in Armutssituationen und in Bemühungen um Wege aus der Armut  ? Inneres Wachstum wird in vielen spirituellen Traditionen als Kontrolle über Wünsche zweiter Ordnung verstanden – was bedeutet dies für die Armutsbekämpfung, die schließlich auch am Wachstum von Menschen interessiert sein muss  ? (vi) Welche Haltungen und Gewohnheiten tragen dazu bei, dass sich Armut verfestigt – aufseiten der Betroffenen wie auch aufseiten derjenigen, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht in einer Armutssituation befinden  ? Welche grundsätzlichen Einstellungen müssen verändert, welche »guten Gewohnheiten« etabliert werden, um Armut zu bekämpfen  ? Diese Frage kann auch lauten  : Welche Rolle spielen Routine und Alltag in Armutsverfestigung und Armutsbekämpfung  ? (vii) Inwieweit ist Armut mit moralischem Empfinden und Fragen von Gewissen und Gewissensbildung verbunden  ? Ist verfestigte selektive Armut Ausdruck von Gewissenlosigkeit auf Seiten derjenigen, die Armut erzeugen oder wenigstens ermöglichen  ? Kann Armut aufgrund der reduzierten moralischen Spielräume zu einer Form von Gewissensabstumpfung führen  ? Inwieweit müssen in der Armutsbekämpfung Fragen nach Gewissen und Gewissensbildung berücksichtigt werden  ? – diese Fragen sind Ausdruck von Fragerichtungen, die sich aus der vorgeschlagenen tentativen Kartografie der episthetischen Situation ergeben. Sie sollen weniger einen Weg als eine Gehrichtung für die Reflexion auf Basis der formulierten These andeuten, Armut »von innen her« zu denken. 2.4 Für die Annäherung an Armut und Armutsbekämpfung »von innen« möchte ich einige Argumente anbieten. Erstens ergibt sich die Berücksichtigung der Innerlichkeit des Menschen aus dem Menschenbild – Menschen sind Wesen, die von Komplexität und Tiefe gekennzeichnet sind und ein reiches Innenleben an Überzeugungen, Gefühlen, Haltungen und dergleichen haben. Zweitens können Ereignisse, die zur Verarmung von Menschen führen, in vielen Fällen mit der Innerlichkeit handelnder Personen in Zusammenhang gebracht werden, mit Erkenntnisstrukturen und charakterlichen Aspekten, also moralischen Strukturen. Die moralische Situation eines Menschen ist für die Armutsbekämpfung von besonderer Bedeutung, weil die Frage nach dem Charakter von armutsbetroffenen Menschen relevant ist, wenn sie Bindungen eingehen oder Versprechen abgeben müssen  ; weil die Frage nach dem Charakter derjenigen, die mit armutsbetroffenen Menschen zu tun haben, relevant ist  ; weil diejenigen, die in Fragen der Armutsbekämpfung »bystanders« sind, von ihren Charakterstrukturen relevant sind. Drittens ist eine Konsequenz von Armut eine Belastung oder gar der Verlust des inneren Gleichgewichts und damit eine Frage des Verlusts von »Gelassenheit«, Die These  : Armut »von innen« denken

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»innerem Frieden« oder auch geistiger Gesundheit. Viertens spielen Aspekte menschlicher Innerlichkeit wie etwa »Sorge« oder »Vorstellungskraft« eine entscheidende Rolle in der Armutsbekämpfung. Fünftens kann die Verfestigung von Armut mit Überzeugungen von Menschen in Zusammenhang gebracht werden, etwa mit Klischees oder Grundhaltungen aufseiten derjenigen, die nicht von Armut betroffen sind. Sechstens wirft die Berücksichtigung von menschlicher Innerlichkeit ein neues Licht auf Grundfragen der Ökonomie, deren Forschungsbereich vor allem auch mit menschlichem Wünschen und Begehren zu tun hat. RD 2.1 In seinem viel beachteten Werk über die Ökonomie von Gut und Böse erinnert uns Tomas Sedláček1 daran, dass die Wirtschaftswissenschaften von ungeklärten Voraussetzungen, ja mythischen Grundlagen ausgehen, die das Innere des Menschen betreffen. Die Ökonomie, so Sedláček, bleibe eine Antwort auf die Schlüsselfrage, was denn eigentlich »utility« sei, schuldig. Das Wirtschaftsgeschehen würde seinerseits von »desires« getrieben, die nach einem diffusen Verständnis von Innerlichkeit im Inneren des Menschen machtvoll wirken, Kräfte entfalten und treiben. Aufgrund der Maßlosigkeit der Begierden seien Mäßigung und Bescheidenheit, also Tugenden, die »von innen« kommen, das Remedium für die überhitzte Wirtschaft. Dass Begierden nicht rationale Konstrukte sind, sondern auf der Gesamtheit der emotionalen und kulturellen Situation des Menschen beruhen, hat u. a. die Wirtschaftssoziologie gezeigt. Wünsche sind in kulturelle Kontexte eingebunden, ökonomische Phänomene können nicht angemessen außerhalb kultureller Zusammenhänge mit ihrer relationalen Struktur analysiert werden. Wünsche haben mit Beziehungen ebenso zu tun wie mit Überzeugungen, Erinnerungen, Vorstellungen des guten Lebens oder Emotionen. Viviana Zelizer hat in zahlreichen Arbeiten die Bedeutung der Kultur für wirtschaftliche Phänomene wie Kaufentscheidungen, Geldauffassungen oder Besitzverständnisse oder die kulturelle Basis von »intimate economies« oder »economy of care« herausgearbeitet.2 Die mythische Grundlage der Wirtschaft, wie sie Sedláček sondiert, verweist uns auf den Bereich des Nichtmessbaren  : »Nehmen wir zum Beispiel die Überzeugung, dass wir einen schönen Ausblick, die Landeschaft oder die Ästhetik nicht mit Werbung verschmutzen lassen. So ein Gefühl lässt sich nicht mit Händen greifen, es ist eine ›weiche‹ Angelegenheit. Das Erlebnis eines schönen Anblicks ist ein Wert, der kein Preisschildchen trägt. Werbung. Materialismus und Gewinn stehen hingegen für eine ›harte‹ Kraft  ; das ist ein Wert, der einen Preis hat – einen harten, unerbittlichen Preis. Zwischen beiden tobt ein schrecklich ungleicher Kampf.«3 Das Erlebnis eines 52

Zweiter Teil  : Die Kernthese

schönen Anblicks hat mit einer Dimension zu tun, die man als »Feinfühligkeit« bezeichnen könnte. Damit wenden wir uns nach innen  ; Sedláček interessiert sich besonders für den Zusammenhang zwischen dem wilden Inneren und dem als rational dargestellten Wirtschaftsgeschehen. Gegen Ende seines Buches wendet er sich explizit dem menschlichen Inneren zu  : Er zitiert Miltons Wort  : »He who reigns within himself and rules passions, desires, and fears is more than a king.« Der letzte Abschnitt des Buches ist der Idee »Das Leben ist woanders  : in uns« gewidmet, beschäftigt sich mit Innerlichkeit und schließt mit den Sätzen  : »Die wilden Dinge liegen nicht in der Vergangenheit, in den Geschichten und Filmen über Helden oder in fernen Dschungeln, sondern in unserem Inneren.« 4 Dieses Innere möchte ich vorschlagen, soll für Armutsforschung und Armutsbekämpfung in den Blick genommen werden. E 2.1 Armut hat eine Außenseite und Armut hat eine Innenseite. John Steinbeck hat an einer eindrucksvollen Stelle auf die Verflechtung dieser beiden Dimensionen aufmerksam gemacht  : »Das Land im Westen wird unruhig unter der beginnenden Veränderung. Die Weststaaten werden unruhig wie Pferde vor einem Gewitter. Die großen Eigentümer werden unruhig, sie spüren die Veränderung und wissen nichts von dem Charakter der Veränderung. Die großen Eigentümer schlagen zu auf das Unmittelbare, auf die sich vergrößernde Regierung, die wachsende Einheit der Arbeiterschaft, auf die neuen Steuern und neuen Pläne, ohne zu wissen, daß diese Dinge Ergebnisse sind, nicht Ursachen. Ergebnisse, nicht Ursachen. Die Ursachen liegen tief und sind einfach – die Ursachen sind Hunger im Bauch, millionenmal vervielfacht, Hunger in der Seele, Hunger nach Freude und ein wenig Sicherheit, millionenmal vervielfacht  ; Muskel und Gehirne, die wachsen, arbeiten und schaffen wollen, millionenmal vervielfacht. Die letzte klare, bestimmte Funktion des Menschen – Muskeln, die arbeiten wollen, Gehirne, die schaffen wollen über das einfache Bedürfnis hinaus – das ist der Mensch.«5 Armut höhlt Identitätsressourcen aus  ; sie verändert die episthetische Situation des Menschen, die prägt die Innerlichkeit. Das zeigt sich vor allem auch in der Bedeutung, die Scham in einer Armutssituation spielt. Eine eindrückliche Beschreibung dieser Dynamik einer Erosion von Identitätsressourcen liefert der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee in seinem autobiografischen Text Der Junge. Er zeichnet in diesem Text die Entwicklung seines Vaters nach, nachdem dessen Anwaltskanzlei verloren ging. »Der Vater schaut sich nach Arbeit um. Jeden Morgen pünktlich um sieben macht er sich in die Stadt auf. Doch ein oder zwei Stunden später – das ist sein Geheimnis –, Die These  : Armut »von innen« denken

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wenn alle anderen aus dem Haus sind, kommt er zurück. Er zieht wieder den Schlafanzug an und geht mit dem Kreuzworträtsel der Cape Times, einer Taschenflasche Brandy und einem Krug Wasser ins Bett. Um zwei nachmittags, ehe die anderen zurückkommen, zieht er sich an und geht in seinen Klub.«6 Der Sohn entdeckt das Geheimnis des Vaters, als er eines Tages krankheitshalber der Schule fernbleibt. Der Vater sperrt sich nicht nur im Haus ein und verfällt dem Alkohol, er versteckt auch die Rechnungen, die mit der Post zugestellt werden – und die Situation eskaliert, die Familie verliert nahezu alles. Der Sohn verliert jegliche Achtung vor dem Vater  : »Die ganze Zeit kocht er vor Zorn. Dieser Mann, so nennt er den Vater, wenn er mit der Mutter spricht, zu voll von Haß, um ihn beim Namen zu nennen  ; warum müssen wir etwas mit diesem Mann zu tun haben  ? Warum läßt du diesen Mann nicht einfach ins Gefängnis gehen  ?«7 Der Sohn hofft darauf, dass sein Vater, der sich kaum mehr zu Aktivitäten aufrafft, Selbstmord begehen würde, aber »er hat nicht den Mut, Schlaftabletten zu nehmen, wie er auch nicht den Mut hat, sich nach Arbeit umzusehen«  ; der Sohn wünscht sich, »nicht hier zu sein und Augenzeuge der Schande zu werden.«8 Hier zeigen sich Konturen von Scham  : Es ist die Rede von einem Geheimnis, das der Vater sowohl gegenüber der Außenwelt als auch gegenüber der eigenen Familie aufrecht zu halten sucht. Dieses Geheimnis erzwingt eine klare Unterscheidung zwischen »öffentlich« und »privat«, wobei der Aspekt des Öffentlichen und Offiziellen auch in den Intimbereich der Familie hineingetragen wird, sodass im Kontext der Familie Illusionen erzeugt und stabilisiert werden sollen  ; die Existenz des Vaters verliert an Integrität, weil »Innen« und »Außen« (im Sinne einer Mindestanforderung an Authentizität) nicht mehr kongruieren. Die Umstände scheinen den Vater zu zwingen, seine Integrität preiszugeben und seine Glaubwürdigkeit zu riskieren. Der Vater entzieht sich dem Druck der Wirklichkeit und flüchtet in eine Scheinwelt  ; er verfügt nicht mehr über innere Ressourcen, die eine Auseinandersetzung mit der sozialen Welt erlauben würden. Dadurch ist nicht nur das Ansehen des Vaters ad extra (gegenüber der Außenwelt der Familie) gefährdet, sondern auch die Stabilität der Familie ad intra, weil der Vater sich aus dem gemeinsamen Raum ausklinkt. Der Sohn beschreibt seine Wahrnehmung mit Begriffen von »Identitätsabschreibungen« – er verweigert dem Vater die Zugehörigkeit zur Familie, kann Achtung und Respekt nicht mehr mobilisieren, weil die Grundlage für die Zuerkennung von Respekt gebietender Identität genommen ist – und damit die raison d’être – und rekurriert auf die Kategorie der Schande. Der Vater verliert wichtige Quellen von Identität  : Zugehörigkeit und Anerkennung (sein eigener Sohn spricht ihm Mitglied54

Zweiter Teil  : Die Kernthese

schaft in der Familie ab), Strukturen der Sorge (durch wachsende Apathie und Gleichgültigkeit) und die Fähigkeit, sein Leben zu erzählen (weil er sich in eine Lebenslüge flüchten muss). Die Schilderung macht deutlich, dass die Arbeitslosigkeit des Vaters als Identitätsverlust erfahren wird. Durch die Erosion von Identitätsressourcen kann die Identitätsarbeit nicht mehr verrichtet werden, die Konsequenz sind Scham und Beschämung. Damit wird ein Mensch »von innen« und »im Inneren« zermürbt. E 2.2 Armutserfahrung kann »von innen her« verstanden werden, weil sie Auswirkungen auf die innere Situiertheit des Menschen, auf die episthetische Situation hat. Der deutsche Philosoph Thomas Mahler zeigt die Bedeutung von Innerlichkeit in seiner ein Jahr dauernden Erfahrung mit Hartz IV.9 Er hat seinen Job an der Bar hingeworfen, aus Überdruss und einer politischen Haltung heraus (»Ich rief laut auf die Straße  : Zeit zu kündigen  ! Zeit, mit der prekären Selbstunterwerfungsscheiße aufzuhören  ! Zeit, Foucault mal ein bisschen ernst zu nehmen  !«  ; T M H 58). Er findet sich in der Schlange vor der Arbeitsagentur, ein Augenblick, vor dem er sich gefürchtet hat, seit er weiß, was »sozialer Status« bedeutet (T M H 14)  ; er hat begriffen, »dass Selbstbewusstsein unglaublich viel damit zu tun hat, für wen man sich gerade hält« (TMH 14). Das ist eine Frage der inneren Ressourcen. Er bemüht sich um inneren Abstand, bemüht sich darum, »einen gedanklichen Schirm um mich aufspannen, in dem ich mir vormachen kann, dass ich nicht wirklich zu dieser Schlange gehöre« (T M H 76), doch »je länger ich mich in dieser Schlange aufhalte, desto mehr verliere ich anscheinend meine ironische Distanz« (T MH 28). Er tröstet sich mit bestimmten Gedanken (»In einer Zeitschrift habe ich vor kurzem gelesen, dass sogar Sean Connery … eine Zeit lang, vielleicht in den fünfziger Jahren, jeden Monatsanfang zum Sozialamt spaziert ist, um sich dort ein bisschen Bargeld abzuholen«  ; T MH 19 oder  : »Ich sage mir, dass fünfhundert Euro wirklich nicht viel sind und dass mir das Geld nicht aus Großzügigkeit gezahlt wird, sondern als Lohn dafür, dass ich nicht auf die Straße gehe, Autos anzünde und einen Aufstand anzettele«  ; T M H 162f ), er stellt ein Gedankenexperiment an10, um Distanz zu gewinnen, er flüchtet sich in utopisches Denken11, er bemüht sich um eine veränderte Semantik seiner Situation (»Ich bin nicht arbeitslos, sondern momentan arbeitssuchend«  ; T M H 76).12 Man sieht, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden epistemischen Ressourcen, die er sich auch während des Studiums angeeignet hatte13, zu nutzen versucht. Es sind weniger materielle Sorgen, sondern vor allem Fragen von »Status« und »Ruf«, die ihn beschäftigen, macht er doch die Beobachtung, Die These  : Armut »von innen« denken

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dass Arbeitslosigkeit als persönliches Versagen wahrgenommen wird (T MH 22), bemüht er sich doch darum, nicht weiter über seine Situation nachzudenken, da ihm seine Gedanken zu schaffen machen14, und Kontakt und Vergleich mit erfolgreichen Menschen zu vermeiden (T M H 54). Er kämpft mit seinen Emotionen  : »Unruhe steigt in mir auf. Eine tiefe, ernste Angst. Wo soll ich hin  ? Was soll ich jetzt tun  ? Wer werde ich jetzt sein  ?« (TMH 90). Das Bewerbungstraining engt den Spielraum der Wahrhaftigkeit ein und nimmt damit Einfluss auf die eigene moralische Positionierung (das Wort »Krankheit« solle man vermeiden  ; »wenn man krank sei, sagt der Dozent, nun ja, das sei dann schon schwierig. Davon solle man lieber nicht sprechen«  ; T M H 134). Eine besondere Belastung ist die Erfahrung von Scham, die einen inneren Widerspruch zwischen Ist und Soll ausweist. Er schämt sich vor seinen Verwandten, auf die Frage nach seinem Lebensunterhalt antworten zu müssen, er schämt sich, Geld von seiner Tante zugesteckt zu bekommen (und doch  : »Wenn man das Geld in den Händen hat, dann ist Schamgefühl nicht mehr so wichtig«  ; T M H 161), seine Mutter schämt sich für ihn und »hat mir im letzten Telefongespräch gestanden, das Wort Hartz IV vor ihren Freundinnen nicht über die Lippen zu bringen. Sie sage dann einfach  : Der schlägt sich so durch. Und hofft, dass die Frage damit erledigt ist« (T MH 177). Erst als er den Buchvertrag in der Tasche hat, um die Situation von Hartz IV zu beschreiben, ändert sich mit der neu gewonnenen Einstellung das Lebensgefühl  : »Ich bin jetzt ein V-Mann. Und merke  : Es ist etwas völlig anderes, in einem Milieu nur zu recherchieren und dabei sein Selbstbewusstsein insgeheim aus der Differenz zu diesem Milieu zu beziehen, als diesem Milieu selbst anzugehören. Jetzt kann ich endlich wieder nett sein« (T M H 239). Man kann am Beispiel Thomas Mahlers die Kosten von Arbeitslosigkeit verfolgen – neben den wie auch immer geringen Sozialtransfers (Hartz IV) , Fähigkeitskosten (Verlust von Fähigkeiten), sozialen Kosten (Vereinsamung, Erosion sozialer Netze) und politischen Kosten (Frustration mit dem politischen System) fallen gerade auch »innere Kosten« an  : Verlust von Selbstwert und Selbstwertgefühl sowie andere psychische Konsequenzen, Verlust an Identitätsressourcen.15 E 2.3 Katherine Boo hat drei Jahre in einem Slum in der Nähe des Mumbai Flughafens verbracht und die kulturellen Dynamiken in einem bemerkenswerten Zeugnis von »deep reporting« beschrieben.16 Auch hier wird die Innenseite von Armut deutlich. Sie zeigt die Rolle von Sehnsüchten, die Konflikte innerhalb der armen Bevölkerung um den »trash flow« und die Kontrolle über die ertragreichsten Abfallquellen (Flughafen  !), die reduzierte Vorstellungskraft17, die verengten 56

Zweiter Teil  : Die Kernthese

moralischen Spielräume und die Vorurteile, die den Slumbewohner/inne/n stets entgegenschlugen  : »To be poor in Annawadi, or in any Mumbai slum, was to be guilty of one thing or another.«18 Sie zeigt auch die Rolle von »Image« und der Frage nach der »äußeren Erscheinung«  : »Like most scavengers, Sunil knew how he appeared to the people who frequented the airport  : shoeless, unclean, pathetic. By winter’s end, he had defended against this imagined contempt by developing a rangy, loose-hipped stride for exclusive use on Airport Road. It was the walk of a boy on his way to school, taking his time, eating air. His trash sack was empty on this first leg of his daily route, so it could be tucked under his arm or worn over his shoulders like a superhero cape.«19 Aufschlussreich für die moralphilosophische Analyse der Situation ist eine Neuakzentuierung des moralischen Vokabulars  : »In the West, and among some in the Indian elite, this word, corruption, had purely negative connotations  ; it was seen as blocking India’s modern, global ambitions. But for the poor of a country where corruption thieved a great deal of opportunity, corruption was one of the genuine opportunities that remained.« 20 Die moralische Landschaft stellt sich unter bestimmten Rahmenbedingungen anders dar. RD 2.2 Menschen sind Wesen, die in einer Sprache zu beschreiben sind, die davon ausgeht, dass es neben der Ebene des beobachtbaren Tuns eine komplexe Welt von Gefühlen, Gedanken und Reflexionskräften gibt. Diese Annahme ist für Selbstverständnis und Auffassung von »Selbst« entscheidend. Die Bezugnahme auf »Innerlichkeit« prägt die Bedeutung von Begriffen wie »Selbsterkenntnis«, »Selbstreflexion«, »Selbstannahme«, »Selbstwirksamkeit«, »Selbstwertgefühl« oder »Selbstbewusstsein«. Das handelnde Subjekt handelt auf dem Hintergrund von Gefühlen, Gedanken, Strebungen und Wahrnehmungen, die in einer komplexen Sprache, die vom Begriff der Innerlichkeit Gebrauch macht, ausgedrückt werden müssen. Damit sind auch einer wissenschaftlich-objektivierenden Beschreibung »von außen« Grenzen gesetzt. »Innerlichkeit« ist eine Signatur der neuzeitlichen Identität.21 Die auf einem bestimmten Verständnis von Innerlichkeit beruhende Reflexivität wird seit der Neuzeit als entscheidendes Charakteristikum des Menschen angesehen.22 »Wir sind Geschöpfe mit innerer Tiefe, mit einem Inneren, das zum Teil unerforscht und dunkel ist.«23 Identität entsteht dabei durch einen ausdrücklichen Gemeinschaftsbezug, als »Selbst unter Selbsten« – oder, wie Taylor es formuliert hat, »in Geweben sprachlichen Austausches«.24 Grundlage von Identität und Interiorität ist das Gespräch, wie es durch P2 ermöglicht wird. Das Verständnis von Innerlichkeit ergibt sich als das Die These  : Armut »von innen« denken

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Resultat eines dialogischen Prozesses. Diese Einsicht hat Walter Davis treffend zum Ausdruck gebracht  : »No depth exists in subject until it is created. No a priori identity awaits us … Inwardness is a process of becoming, a work, the labour of the negative. The self is not a substance one unearths by peeling away layers until one gets to the core, but an integrity one struggles to bring into existence.«25 Charles Taylor hat in seinem klassischen Werk Sources of the Self das neuzeitliche Verständnis des Menschen als Begriff eines Wesens mit »Innerlichkeit« und unausschöpfbarer »Tiefe« charakterisiert und den geistesgeschichtlichen Wendepunkt in den Confessiones des Augustinus angesiedelt. 26 Das Innere des Menschen ist nach dem Verständnis des Augustinus Personkern, Subjekt, aber auch Ort eines dynamischen Geschehens, an dem sich die Regungen in der Seele abspielen, der Ort, an dem Intellekt, Gedächtnis und Wille herrschen.27 Damit hat Augustinus irreversible Bezugspunkte für die Selbstverständnisdiskussion geschaffen. Augustinus beschreibt sich selbst im Besonderen und den Menschen im Allgemeinen in dieser Schrift als ein Wesen, das über unausschöpfbare Tiefe und reiche Innerlichkeit verfügt. Vielsagend sind die Bilder, die Augustinus für das Innere verwendet  : das Bild des Hauses (Conf I,5), das Bild vom Herz als Gefäß von Dingen aller Art (Conf X,35), das Bild des Ackerfelds (Conf II,3) oder auch das Bild eines Kampfplatzes (Conf V I I I,8). Während das Bild des Hauses die inneren Weiten andeutet, die im 16. Jahrhundert bei Teresa von Avila als »Wohnungen der inneren Burg« gedeutet werden, drückt das Bild des Ackerfelds die harte Arbeit aus, die mit der Formung des Inneren verbunden ist, während das Bild des Kampfplatzes die Dramatik, die sich im Inneren des Menschen abspielt, andeutet. Das Innere ist nach augustinischer Auffassung der »Kern« des Menschen  ; das Innere ist der Ort, an dem Gott dem Menschen begegnet – die Stätte, »wohin Gott kommt zu mir« (Conf I,2).28 Das Innere ist auch der Sitz jenes »Sinnes«, mit dem die Stimme Gottes vernommen werden kann – »et clamasti de longinquo  : ego sum qui sum. et audivi, sicut auditor in corde« (Conf V II,10). Das Innere ist das Vermögen, von Gott angesprochen zu werden, Augustinus spricht auch von »meines Herzens Ohren« (Conf I,5). Gott ist die eigentliche Mitte des Inneren, »innerlicher als das Innere« (Conf I I I,6). Gerade deswegen kennt Gott den Menschen besser als der Mensch sich selbst zu kennen vermag, da ein Mensch die innersten Tiefen nicht ergründen kann. Das Innere ist voll von Dynamiken des Strebens und Begehrens, Erinnerns und Urteilens, Fühlens und Empfindens. Dabei kann »die Seele« als eigentlicher Ort des Inneren sowohl als »handelndes Subjekt« wie auch als »Ort und Bühne« beschrieben werden, 58

Zweiter Teil  : Die Kernthese

in dem sich Geschehnisse ereignen. Das Innere des Menschen ist zwar unausschöpfbar, aber nicht unstrukturiert. Das Innere ist der Sitz distinkter Vermögen (Wille, Gedächtnis, Verstand), aber auch distinkter Gemütsbewegungen (Begierde, Freude, Furcht und Trauer  ; Conf X,14). Einen besonderen Höhepunkt in der Darstellung des Inneren stellt das zehnte Buch dar, in dem Augustinus die »memoria«, das Gedächtnis, behandelt. 29 Nach Augustinus ermöglicht das Gedächtnis das Denken, denn Denken heißt Zerstreutes zusammenholen (Conf X,11). Immer wieder staunt Augustinus über den inneren Reichtum, den das Gedächtnis birgt, das ja Heterogenes zusammenhalten kann. Die memoria spielt nach dem Verständnis des Augustinus eine zentrale Rolle in der Frage nach Personkern und der Mitte der Innerlichkeit. An einer Stelle spricht Augustinus davon, dass er zum Sitz seiner Seele selbst ging, »der in meinem Gedächtnis« ist (»intravi ad ipsius animi mei sedem quae illi est in memoria mea, quoniam sui quoque meminit animus«  ; Conf X,25). Das Gedächtnis funktioniert auch als Metagedächtnis, ich erinnere mich, mich erinnert zu haben (Conf X,13). Das Gedächtnis ist schließlich auch der Ort, an dem der Mensch sich selbst begegnet (Conf X,8).30 Diese Fähigkeit, sich zu sich selbst ins Verhältnis zu setzen, ist wohl eine der zentralen Säulen einer Kultur der Innerlichkeit. So bietet sich uns in den »Bekenntnissen« des Augustinus ein reiches Bild inneren Reichtums. Das, was dem menschlichen Leben »Tiefe« und »Echtheit« verleiht, ist die Interiorität.31 Im Inneren sind die Vermögen in einem Ringen miteinander verstrickt  ; aus dem Inneren erwachsen die Handlungsgrundlagen von Streben, Urteilen und Erinnern. Entscheidend ist allerdings, dass das Innere strukturiert ist, gestaltet werden kann und Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die sich auch angeben lassen32 – Hinweise zur Struktur des Inneren finden sich in der frühen christlichen Literatur vor allem bei Johannes Cassian.33 Innerlichkeit kann im Leben eines Menschen an Bedeutung gewinnen, wenn sich die äußeren Umstände als widrig und eng erweisen. Dietrich Bonhoeffer war seit April 1943 in Haft und sein Leben wurde den äußeren Aktivitäten nach auf eine enge Gefängniszelle beschränkt. Immer wieder thematisiert Bonhoeffer das Innere in seinen Briefen und Aufzeichnungen aus dem Gefängnis34  : Er spricht von einer »inneren Umstellung« und der Notwendigkeit, »sich innerlich« zurechtzufinden (B W E 44), er schreibt von einer »bewussten inneren Aussöhnung« (B W E 55) und dem Umstand, dass er »innerlich ganz ruhig« sei (B W E 134). Trübe Tage sind »von innen« aufzuhellen, etwa durch Lektüre (B W E 182). Gefährlich ist innere Ungesammeltheit (B W E 189). Deswegen ist es entscheidend, sich um Sammlung, Fokus und Konzentration zu bemühen. Dadurch wird Die These  : Armut »von innen« denken

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innere Weite möglich, kann man das Innere doch als einen weiten Raum ansehen, »wir haben es … doch wirklich gelernt, wieviel Freude und Kummer zugleich im menschlichen Herzen Platz haben können« (BW E 51). Die Hoffnung, die im Herzen getragen wird, ist »schön und groß« (B W E 57). Bonhoeffer ist sich – geschrieben im April 1944 – dessen bewusst, dass man in diesen Wochen »innerlich sehr fest« sein muss (BW E 401), um unter zusehends schwerer werdenden Bedingungen ruhig weiterleben zu können.35 Innerlichkeit ist also gerade dann von existenzieller Bedeutung, wenn die äußeren Lebensumstände widrig sind, wie es ja auch bei einer Armutssituation der Fall ist. Nun kann man natürlich sagen, dass die Veränderung äußerer Strukturen den Primat haben muss, aber erstens werden äußere Veränderungen nicht nachhaltig und tief sein können, wenn sie nicht auch die episthetische Situation eines Menschen einbeziehen, zweitens kann an der Innerlichkeit eines Menschen mit geringerem Koordinationsaufwand angesetzt werden, drittens soll in widrigen Situationen kein Mittel zur Linderung oder Bekämpfung der Not vorschnell ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang sei der Hinweis gestattet, dass die religiöse Dimension in Armutslinderung und Armutsbekämpfung nicht unterschätzt werden möge, wie die praktische Arbeit Wolfgang Puchers zeigt.36

Armut und Identität 2.5 Die These will Armut »von innen« denken. Das setzt voraus, dass Armut Auswirkungen auf die innere Situation eines Menschen, auf die episthetische Situation hat. Dabei vertrete ich folgendes Verständnis von Armut  : Armut tritt in Armutssituationen auf. Eine Armutssituation ist eine Lebenslage, die durch spezifische Mängel gekennzeichnet ist  ; diese Mängel können sich beziehen auf »materielle Güter«, »Gelegenheiten«, »Zugang zu Fähigkeiten«, »Zugang zu fundamentalen gesellschaftlichen Kontexten wie Arbeit, Bildung, Gesundheit, Recht«, »Zugang zu Land«. Diese Aspekte sind allesamt relevant, ich möchte den Akzent aber auf einen besonderen Aspekt legen – auf die Identität des Menschen  : Unter Armut verstehe ich eine Deprivation von Identitätsressourcen – und damit eine Deprivation von Ressourcen zum Aufbau von Integrität als des Fokus von Identität. Armut, so will ich den Begriff verstehen, ist ein sozial erzeugter Mangel an bzw. die sozial geförderte Deprivation von (in jedem Fall auch  : materiellen) Gütern, die ein nach Maßgaben begründeter Identitätsansprüche gutes Leben, das sich am Schlüsselwert von »Integrität« orientiert, er60

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schweren oder unmöglich machen. Diese Charakterisierung besagt, dass eine Lebenssituation von Armut Auswirkungen auf die Identität eines Menschen hat, und enthält die Idee, dass ein Mensch aufgrund einer Armutssituation das Projekt eines in entscheidenden Aspekten gewählten besonderen und bestimmten Lebens nicht oder nur unter großen Mühen verfolgen kann. Das bedeutet, dass Armut den Zugang zu Identitätsressourcen erschwert. Wenn Identität nun vor allem mit der episthetischen Situation des Menschen zu tun hat, bedeutet dies, dass Armut einen erschwerten Zugang zur inneren Situiertheit des Menschen zur Folge hat oder auch wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass die Gestaltung der episthetischen Situation erschwert wird. Entsprechend sind Armut und Armutsbekämpfung mit Blick auf die episthetische Situation des Menschen zu sehen. 2.6 »Identität« wird damit zu einem Schlüsselbegriff der Armutsbekämpfung. Bemühen um Identität ist das Bemühen darum, den Ort zu definieren, von dem aus ich spreche und an dem ich angesprochen werden möchte. Identität ist fundamental für und wird ausgedrückt durch eine erste Person Perspektive, die Aussagen mit der Autorität einer unreduzierbaren Perspektive macht, die damit Quelle von Geltungsansprüchen ist. Identität ist fragil, komplex und responsiv  : Identität ist zerbrechlich, weil Menschen grundsätzlich verwundbare Wesen sind, Identität ist vielschichtig, weil sie von verschiedenen Typen von Quellen und vielen einzelnen Quellen genährt wird, Identität hat eine antwortende Struktur, weil sie auf die Dynamik eines bestimmten geschichtlich verfassten Kontexts reagiert. Identität ist auf Identitätsressourcen angewiesen. Identitätsressourcen sind vor allem  : Anerkennung, Handlungsmacht, Zugehörigkeit, Rahmung, sorgende Bindung. Anerkennung bedeutet, von anderen Menschen Formen von Respekt zu erfahren  ; Handlungsmacht ist die Fähigkeit, als Handlungssubjekt in Erscheinung zu treten und durch eigenes Tun Welt verändern zu können  ; Zugehörigkeit bedeutet die Mitgliedschaft in einer identitätsstiftenden Gruppe  ; Rahmung ist die Idee, das eigene Leben in einen größeren, kohärenten Zusammenhang einbetten und diesen auch (etwa in Form einer Erzählung) darstellen zu können, sorgende Bindung ist die ernsthafte und stabile Sorge um das Wohl eines anderen Menschen. Identität schafft über diese Quellen Räume der Bedeutsamkeit, ist ausschlaggebend dafür, dass zwischen »bedeutsam« und »weniger bedeutsam« unterschieden werden kann. Menschen haben ein Bedürfnis danach, mit dem in Berührung zu stehen, was für sie von Bedeutung ist. Dadurch bekommt das Leben Substanz und Gewicht. Armut ist eine Lebenssituation, die Armut und Identität

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den Zugang zu Identitätsressourcen erschwert. Armut wird als Verachtung und Demütigung, als Ohnmacht und Entmachtung, als Exklusion und Einsamkeit, als Fragmentierung und Entfremdung, als Druck auf Bindungen oder auch als Druck, wichtigen Menschen nicht das geben zu können, was man ihnen geben will, erfahren. Armutsbekämpfung als Kampf gegen die Deprivation von Identitätsressourcen wird sinnvollerweise bei Identitätsressourcen ansetzen. 2.7 Armut als Deprivation von Identitätsressourcen kann in die Erfahrung eines fremdbestimmten, anonymen Lebens führen. Das steht einer fundamentalen P1-Erfahrung entgegen. Die Erfahrung, das eigene Leben selbst zu leben, ist fundamental  ; es ist die Erfahrung, dass ich es bin, der/die dieses Leben lebt  ; und gleichzeitig die Erfahrung, dass dieses Leben nur von mir gelebt werden kann. Es handelt sich also um eine Erfahrung fundamentaler Non-Komparativität. Dies wird deutlicher, wenn man die Rede von der Identität des Menschen mit der Idee verbindet, dass »Identität zu haben« bedeutet, ein besonderer, bestimmter, »lebensbesitzender« und versprechensfähiger Mensch zu sein. (i) Ein »besonderer Mensch« zu sein zielt auf Unverwechselbarkeit, Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit ab. Ein besonderer Mensch hat sich einen Ort im (sozialen, epistemischen, kulturellen) Raum geschaffen, der nur von diesem besonderen Menschen eingenommen werden kann  ; oder auch  : einen Ort, der durch diesen Menschen erst konstituiert wurde. (ii) Ein bestimmter Mensch ist ein Mensch mit Profil und mit Konturen, mit Wiedererkennbarkeit und Regelmäßigkeit, mit Kontinuität und der Möglichkeit, dass andere etwas »Nennenswertes« über ihn zu sagen haben. Ein bestimmter Mensch zu sein, impliziert die Verankerung an einem »Lebensplatz«, an einem Netz von Strukturen, innerhalb deren sich menschliches Leben entfalten und konsolidieren kann. Einen Lebensplatz zu haben bedeutet, im Kosmos eine Nische identifiziert zu haben, in der ich mein Leben leben kann. Ein bestimmter Mensch zu sein bedeutet, im Umgang mit anderen in relevanter Hinsicht über die Eigenschaften von Stabilität und Verlässlichkeit zu verfügen oder auch  : über Eigenschaften, die ihm in hinreichend stabiler und verlässlicher Weise zugeschrieben werden können. (iii) Ein »lebensbesitzender Mensch« verfügt über das eigene Leben, hat sein Leben gestaltend in die Hand genommen und kann in der ersten Person Singular sagen, dass »ich« es bin, der handelt und weiß auch, dass mein Handeln Teil dessen ist, was mich zum handelnden Ich macht, das ich bin. (iv) Ein »versprechensfähiger« Mensch ist ein Mensch, dessen Identität in Bindungen verankert wurde, für deren Stabilität er auch einstehen kann  ; die Fähigkeit, identitätsstiftende 62

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Bindungen einzugehen, ist strukturell mit der Fähigkeit verbunden, Versprechen abzugeben. RD 2.3 Armut erodiert Identitätsressourcen. Die Bedeutung der inneren Situation für das Verständnis von Armut kann man der Rolle entnehmen, die die Scham in der Erfahrung von Armut spielt. Wir haben bereits am Beispiel von Coetzees autobiografischem Roman Der Junge die Dynamik von Scham gesehen. Stefan Selke hat in seinen empirischen Untersuchungen zu »Tafel«nutzer/ inne/n in Deutschland immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Scham ein massiver Faktor in der Erfahrung von Armut ist und sein Buch einschlägig betitelt.37 Deutschland verwandle sich in ein Schamland, in dem die Gewinner sich gegenseitig applaudieren, die Verlierer aber beschämt werden.«38 Mehr und mehr Menschen tragen innere Kosten von Armut, »Vertrauensverlust, Verlassensängste und Selbstabwertung«.39 »Scham ist das Grundgefühl der Armut.«40 Das Moment der Scham und Schande ist aus einer dichten Beschreibung von Armut nicht wegzudenken. Wulong, die Hauptfigur in Su Tongs Roman Reis, erfährt die beschämende Erniedrigung  : »Als sie mit einer Schale übriggebliebenem Reis aus der Küche kam, war Wulong in den Laden gegangen und stritt sich mit ein paar Verkäufern. Qiyun zerrte ihre Schwester am Ärmel aus dem Laden. ›Er hat Läuse  !‹ schrie sie. ›Typen wie der haben immer Läuse.‹ Wulongs hageres Gesicht wurde vor Scham rot, als man ihn aus dem Laden warf. Er drehte sich um und schimpfte wütend. Zhiyun bekam nicht mit, was er sagte, aber sie sah, wie Qiyun mit dem Besen auf ihn losging. ›Wie kannst du es wagen, so mit uns zu sprechen  ? Du schmutziger Bettler  !‹«41 Etwas später – er wird als Gehilfe aufgenommen und nimmt an den Mahlzeiten der Besitzerfamilie teil – zeigt sich das schamrote Gesicht der Exklusion von Neuem  : »Als er sich die vierte Schale Reis nahm, sah er, wie Qiyun auf seine Hände starrte. ›Sieh mal, Vater, er nimmt noch einmal. Du wolltest einen Gehilfen einstellen, aber du hast ein gefräßiges Schwein erwischt.‹ Wulongs Hände erstarrten in der Luft. ›Darf ich das  ?‹ fragte er. ›Wenn nicht, höre ich auf.‹ Das Gelächter an beiden Tischen traf ihn schmerzhaft. ›Hast du denn noch Hunger  ?‹ fragte Besitzer Feng. ›Wenn nicht, hör auf. Wir müssen unseren Reis genauso bezahlen wie alle anderen auch.‹ ›Dann höre ich auf‹, sagte Wulong mit rotem Gesicht.«42 Menschen, die in Armut leben, sind in vielen Fällen von einem Leben in Scham gezeichnet. Scham hat etwas mit dem Verfehlen von Erwartungen, dem Nichterfüllen geforderter Standards und der Empfindung eigenen Versagens zu tun. Scham zeigt einen Widerspruch zwischen »Ist« und »Soll« auf und bedeutet, dass IdentitätskosArmut und Identität

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ten – jene Kosten, die zu entrichten sind, um Identität im öffentlichen Raum aufrechterhalten zu können – nicht mehr aufgebracht werden können. Scham ist deswegen soziologisch relevant, weil die Emotion insofern eine politische Komponente hat, als sie Aussagen über soziale Erwartungen zulässt.43 Das soziale Leben ist mit Kosten der Imagepflege verbunden, was man sich mit den bekannten Studien Goffmans vor Augen führen kann.44 Scham ist das Grundgefühl der Armut, die im sozialen Raum verankert ist und sich als Exklusionserfahrung manifestiert.45 Der Begriff der Scham impliziert eine »Außenperspektive«, die als »Metareflexion« oder als »Blick von außen« auftritt. Das Phänomen des »fremden Blicks« ist typisch für die Scham. »Ich schäme mich über mich vor Anderen«, hatte Sartre formuliert46 und Scham als Einsicht in eigene Knechtschaft rekonstruiert. Scham wird genährt von Beobachtung und Bloßstellung, von urteilender Außenperspektive auf eine Situation, die nicht als Binnenlebenswelt wahrgenommen werden kann, sondern dem kontrollierenden Zugriff von außen unterliegt.47 Scham zeigt auf, dass die Identitätsstruktur eines Menschen innerlich desorganisiert ist und ein eindeutiges und öffentlich stabil tragbares Selbstkonzept verloren gegangen ist und Bedingungen für Zugehörigkeit nicht mehr selbstverständlich und mühelos erfüllt werden können. E 2.4 Armutssituationen können ohne Blick auf die Frage nach Identitätsvorstellungen und Identitätsarbeit nicht angemessen verstanden werden  ; eine der entscheidenden Faktoren von Identität ist die Vorstellung von einem guten Leben. Der Diskurs über Armut kann nicht vom Diskurs über ein gutes Leben abgetrennt werden. Abhijit Banerjee und Esther Duflo haben in ihrer Studie über die Ökonomie von armutsbetroffenen Menschen darauf hingewiesen, dass armutsbetroffene Menschen nicht »Überleben«, sondern »gutes Leben« zu kaufen trachten  : »When very poor people get a chance to spend a little bit more on food, they don’t put everything into getting more calories. Instead, they buy better-tasting, more expensive calories.«48 Ähnliches haben sie in einer Begegnung in Marokko erlebt  : »We asked Oucha Mbarbk, a man whom we met in a remote village in Morocco, what he would do if he had more money. He said he would buy more food … We were starting to feel very bad for him and his family, when we noticed a television, a parabolic antenna, and a DV D player in the room where we were sitting. We asked him why he had bought all these things if he felt the family did not have enough to eat. He laughed, and said, ›Oh, but television is more important than food  !‹«49 Diese Bemerkung sagt viel über »Innerlichkeit« aus, über den Zugang zu Bildern und Vorstellungen, Eindrücken und Gedan64

Zweiter Teil  : Die Kernthese

ken, bestimmten erinnerbaren Erfahrungen und Begehrlichkeiten. Armutsbekämpfung, die sich auf »äußere Überlebensstrategien« beschränkt und nicht auch die »tiefen Lebenswünsche« berücksichtigt, wird dem Menschen als Wesen mit Tiefe und Innerlichkeit nicht gerecht. RD 2.4 Innerlichkeit spielt im Armutsdiskurs auch insofern eine prominente Rolle, als es Verhaltensmuster gibt, armutsbetroffenen Menschen reiche Innerlichkeit abzuerkennen. Eine besondere, im Alltag auftretende Form der Missachtung menschlicher Würde ist die Behandlung von Menschen, als ob sie Dinge wären. Die französische Sozialanthropologin Anna Sam hat in der Schilderung ihrer mehrjährigen Erfahrungen als Kassiererin in einem Supermarkt die Dynamik beschrieben, selbst wie eine Sache, wie ein Gegenstand behandelt worden zu sein.50 Sie identifiziert die Kundinnen und Kunden als die größte Belastung und als Eintrittsstelle für Erniedrigung in diesem Beruf. Kundinnen und Kunden begegnen der Kassiererin als austauschbarem Objekt, häufig ohne Blickkontakt, geschweige denn mit einem Austausch von Worten. Die Interaktion mit einer Kassiererin wird in vielen Fällen nicht als Begegnung, sondern als Transaktion mit austauschbarem Terminal abgewickelt. Eine Kundin, ein Kunde nimmt die Kassiererin ausschließlich als Element eines Prozesses wahr, bei dem es darum geht, Einkäufe abzuschließen. Die Kassiererin wird als Teil der Maschine wahrgenommen, nicht als Mensch mit Innerlichkeit und Tiefe. Florence Aubenas, die sich ein Jahr im Niedriglohnsektor als Reinigungskraft verdingt hat, um als Journalistin diese Seite der Welt kennenzulernen, wurde in einem Vorbereitungskurs darauf aufmerksam gemacht, dass eine Reinigungskraft nicht damit rechnen dürfe, gegrüßt zu werden, daran müsse man sich gewöhnen.51 Eine Reinigungskraft wird nicht selten wie ein Möbelstück behandelt, das man zwar nicht umrennen kann, mit dem man aber doch nicht interagieren muss. Wir haben es hier mit einer Einstellung zu tun, die Menschen wie dinghafte Gegenstände behandeln lässt. Florence Aubenas, die als Journalistin im Kosovo, in Ruanda, in Afghanistan und im Irak gearbeitet hat, wo sie auch entführt wurde, hat ihren Selbstversuch als »salariée précaire«, als Frau im Niedriglohnsektor anschaulich beschrieben. Aubenas entwickelte ein Alter Ego mit gefärbten Haaren und Brille und meldete sich per Anzeige als 48-jährige Frau ohne besondere Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt. Sie positionierte sich damit im Zonierungsmodell von Robert Castel in die Kategorie der Prekarität.52 Sie steigt in einem möblierten Zimmer ab, macht sich intensiv auf Arbeitssuche. Sie geht zu einer Arbeitsvermittlungsagentur und verkündet triumphierend  : »Ich nehme alles an.« Die Armut und Identität

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Antwort  : »Hier nehmen alle alles.«53 Die Einstellung bringt ihr keine Vorteile auf dem dichten Markt der Erwerbsverzweifelten, ihr Alter bringt sie sogar an den unteren Rand dieser Zielgruppe, als »Bodensatz des Kochtopfs« (»vous êtes plutôt le fond de la casserole«  ; FA 20) – die Minimalvoraussetzungen sind »ein kleines Diplom«, »ein wenig Erfahrung«, »ein kleines Auto« (FA 28). Gerade das Auto entpuppt sich als unabdingbar.54 Selbst für eine Anstellung als Rezeptionistin mit einem 6-Monate-Niedriglohn-Vertrag sind einschlägiger Ausbildungsabschluss, zwei Jahre Arbeitserfahrung, ausgezeichnete Englischkenntnisse und ein eigenes Auto erforderlich (FA 35). Aubenas findet heraus, dass auch die Arbeit als Reinigungskraft, so schlecht sie auch bezahlt und so anstrengend sie auch ist, anspruchsvoll ist  : Man solle schnell und gründlich arbeiten, solle dabei die Arbeitnehmer/innen nicht stören, höflich sein, sich dem Milieu anpassen (Reinigungsarbeit in einem Krankenhaus ist etwas anderes als Reinigungsarbeit in einer Bank), etc. Florence Aubenas arbeitet als Reinigungskraft auf einer Fähre, erlebt am eigenen Leib, dass es sich dabei um Hochleistungsarbeit handelt, sind doch in kürzest möglicher Zeit unter großem körperlichen Einsatz bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Das Reinigen der Toiletten ermöglicht noch dazu einen tiefen Blick auf die Unterseite der Gesellschaft, auf das, was Ervin Goffmann als »off stage« beschrieben hat.55 Dass Handlungsräume »off stage« verwundbarer für Erniedrigung und Ausbeutung sind, ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Handlungsräume nicht in der Öffentlichkeit des Rechtsstaates stattfinden. Die Anerkennung eines Menschen als Menschen kann nicht getrennt werden von der Anerkennung von Innerlichkeit. Ian Brown ringt mit der Frage, ob sein schwerbehinderter Sohn Walker, der sich nicht sprachlich artikulieren kann, ein Innenleben habe, als ob von dieser Frage etwas für die Tiefe des Lebens seines Sohnes abhinge  : »Was mich beschäftigte, war, ob er ein Gefühl für sich selbst besaß, ein Innenleben. Manchmal schien das die drängendste Frage von allen zu sein«  ;56 aus diesem Grund las er auch »Essays über alle möglichen Formen des Innenlebens.«57 Wenn Menschen Innerlichkeit abgesprochen wird, wenn Menschen so behandelt werden, als hätten sie keine Innerlichkeit, ist damit eine Haltung gegeben, die der israelische Philosoph Avishai Margalit als »blindness to the human aspect« beschrieben hat.58 Diese »blindness to the human aspect« bedeutet eine Einstellung, die einen Menschen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner äußeren Erscheinung betrachtet. Wir haben es hier mit einer Form von Wahrnehmung zu tun, die sich nicht als Ausdruck einer Entscheidung, einer Wahl ergibt, sondern mit tiefer liegenden Aspekten der menschlichen Lebensform zu tun hat. Das Menschsein einer anderen Person erschließt 66

Zweiter Teil  : Die Kernthese

sich einem menschenblinden Menschen nicht durch Wahrnehmung und Erleben, sondern durch Nachdenken und »Konstruktion«. Nach diesem Verständnis ist Menschenblindheit ein Krankheitsbild, eine Dysfunktionalität, die analog zur Farbenblindheit verstanden werden kann. Margalit weist darauf hin, dass diese Form der Blindheit sich auch darin äußern kann, Menschen zu ignorieren, durch sie hindurchzuschauen. Es ist ein Topos der antikolonialistischen Literatur, Menschen nicht wahrzunehmen.59 Es ist zwar ein Unterschied, ob Menschen als Dinge wahrgenommen oder schlichtweg übersehen werden, es bleibt aber die perzeptive Verweigerung, einen Menschen als Menschen zu sehen. Wir bewegen uns hier auf der Stufe der Wahrnehmung  ; wir sind mit Wahrnehmungsmustern konfrontiert, nicht mit rational gerechtfertigten Interpretationen. Menschenblindheit kann sich auf einzelne Menschen beziehen, tritt aber häufig im (etwa rassistischen oder auch sexistischen) Umgang mit Menschengruppen auf, die nicht unter dem Gesichtspunkt des Menschlichen gesehen werden.60 Wir haben es hier häufig mit Vorurteilen zu tun, die Menschen auf Objekte reduzieren. Das ist eine Form der Wahrnehmung, die einen entsprechenden Handlungsmodus erzeugt und in besonderer Weise durch asymmetrische Beziehungen begünstigt wird. Das Risiko, Gegenstand menschenblinder Wahrnehmung zu werden, trifft besonders verwundbare Menschen in höherem Maße. Das Dramatische an diesen auch aus dem Alltag bekannten Verhaltensmustern, Menschen wie Dinge zu behandeln, liegt wohl darin, dass wir uns nicht auf der Ebene argumentationsgestützten »Urteilens« bewegen, sondern auf der Ebene eines bestimmten »Sehens«. Dieses Sehen wird durch bestimmte Erfahrungen und Beispiele grundgelegt und eingeübt. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Untersuchungen zur Wahrnehmung den Umstand ventiliert, dass wir stets »etwas als etwas« sehen.61 Im Wahrnehmungsprozess treten bestimmte Aspekte hervor  ; wenn andere Aspekte in den Blickpunkt rücken, ändert sich die Wahrnehmung.62 Aspekte können auch »aufleuchten« (»flashing«), »half visual experience, half thought.«63 Dieses »Seherlebnis« (»visual experience«) kann nicht so ohne Weiteres durch Entscheidungen gesteuert werden. Eine Veränderung der Wahrnehmung ist Menschen oftmals nicht bewusst.64 Wahrnehmung und Deutung sind nicht zwei verschiedene Akte, die getrennt betrachtet werden könnten. Sie bilden eine Einheit, die wiederum mit der Lebensform, mit der Weise des Sprechens und des Handelns, verbunden ist. Wahrnehmung und Sprache sind insofern miteinander verbunden, als das Abgeben von Wahrnehmungsurteilen als ein Sprachspiel aufgefasst werden muss  ; als Sprachspiele sind Wahrnehmungsurteile eingebettet in einen Kontext von sprachlichen und Armut und Identität

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außersprachlichen Elementen.65 Sie sind Teil einer Lebensform.66 Sätze über Wahrnehmungsgegenstände, wie etwa Sätze über Farben, werden häufig »an der Grenze von Logik und Empirie« gebraucht.67 Entsprechend der Komplexität der Lebensform sind auch die Wahrnehmungsbegriffe entsprechend komplex und können nicht einfach durch die Einführung von Regelwerken diszipliniert werden. Veränderungen müssen tiefer gehen und die Lebensform tangieren. Gerade hier wird Armutsbekämpfung ansetzen müssen, will sie nachhaltige Veränderungen ermöglichen. RD 2.5 Armut kann auch als Einschränkung der Fähigkeiten, Versprechen zu geben, verstanden werden. Ein Mensch bindet sich an einen anderen Menschen durch ein Versprechen  ; Thomas von Aquin versteht ein Versprechen als Akt der Vernunft, da die Vernunft die Handlungen des Menschen lenkt und ein Versprechen eine Lenkung des Handelns auf Zukunft hin bedeutet (STh II-II, 88, 1, resp). Ein Versprechen legt künftiges Handeln auf einen anderen hin fest. Das Versprechen ist Ausdruck des Willens, setzt einen Spielraum voraus, was im Begriff der »deliberatio«, die einem Versprechen vorausgeht, ausgedrückt wird (eb.). Der Wille als Ausgangsbeweger bewegt die Vernunft, etwas zu versprechen, das der willentlichen Kontrolle unterliegt (STh II-II, 88, 1, ad 2). Man könnte also sagen, dass in einem Versprechen Vernunft und Wille kooperieren. Ein Versprechen verlangt nach dem rechten Vernunftgebrauch  ; aus diesem Grund können Kinder auch keine Versprechen im vollen Sinn abgeben (STh II-II, 88, 9, resp). Ein Versprechen bezieht sich auf etwas, das dem Adressaten des Versprechens nützt und das in der Verfügungsgewalt des Versprechenden liegt (STh II-II, 88, 2, resp  ; STh II-II, 88, 8, resp). Im Unterschied zu einem Gelübde, das Gott gegenüber abgelegt wird und dem Versprechenden nützt, ist ein Versprechen unter Menschen auf das Wohl des Adressaten ausgerichtet (STh II-II, 88, 4, resp). Man könnte dann interpretierend hinzufügen, dass ein Versprechen dementsprechend einen Begriff von »bonum« in Bezug auf den Adressaten des Versprechens braucht. Grundsätzlich ist ein Versprechen freiwillig, wird also aus dem Willen, der sich auch anders entscheiden und anders verfügen könnte, gegeben. Ein Versprechen wird explizit durch entsprechende Zeichen ausgedrückt, es ist also eine öffentliche Angelegenheit im sozialen Raum und nicht ein geheimes, gottgegebenes Gelübde. Durch explizite Verkündigung vor Zeugen kann der öffentliche und bindende Charakter eines Versprechens noch stärker akzentuiert werden (STh II-II, 88, 1, resp). Es ist dann eine dem natürlichen Gesetz geschuldete Pflicht zur Ehrlichkeit, das Versprechen auch zu halten (STh II-II, 68

Zweiter Teil  : Die Kernthese

88, 3, ad 1). Wenn sich herausstellt, dass ein Versprechen nicht gehalten werden kann, muss der Versprechende zumindest alle Anstrengung unternehmen, das Versprechen soweit möglich zu halten (STh II-II, 88, 3, ad 2). Genau an diesen Punkten sieht man auch, warum ein Versprechen bindet, Vertrauen schafft und voraussetzt und die Beteiligten aneinander bindet und miteinander verbindet und eine neue Qualität der Beziehung etabliert. Das gilt für Versprechen zwischen zwei Einzelpersonen ebenso wie für Versprechen, die institutionelle Träger oder Gemeinwesen einschließen. Versprechen sind damit Ausdruck und Ausgangspunkt von elementarem sozialen Kitt, nämlich von Verträgen und Vertrauen. Hier wird Zukunft strukturiert und damit wird Stabilität gewonnen. Ein Versprechen ist in der Analyse des Thomas der Beginn einer Handlung, nicht bloß die Ankündigung einer Handlung, die erst in der Zukunft liegt (STh IIII, 88, 1, ad 3). Mit dieser Handlung des Versprechens werden der zukünftige Interaktionsraum und die jetzt vorliegende Beziehung strukturiert. Deswegen unterscheidet sich eine Handlung, die Einlösung eines Versprechens ist, von einer anderen Handlung, die spontan erfolgt – der sittliche Wert, der Verdienstcharakter ist im Falle des Einlösens eines Versprechens größer, weil hier eine stärkere Bindung zum Ausdruck kommt und weil die Selbstverpflichtung auf das Gute nachhaltiger erfolgt (STh II-II, 88, 6, resp). Versprechen schaffen Stabilität, auf Zukunft hin. Eine Armutssituation erschwert Versprechen aufgrund der unsicheren Zukunft, zweitens aufgrund des oftmals reduzierten Möglichkeitssinns und der eingeschränkten Vorstellungskraft in Bezug auf Handlungsräume, drittens aufgrund der oftmals fehlenden Möglichkeit, die vorliegende Situation einzuschätzen, da es an Analyseinstrumenten und epistemischen Ressourcen mangelt. Wenn ich in Armut lebe, kann ich nicht versprechen, dass ich meine Rechnungen bezahlen kann (entsprechen reduziert ist die Kreditwürdigkeit), kann ich nicht versprechen, dass ich soziale Abmachungen einhalten kann, weil mein Alltag instabil und stets gefährdet ist  ; wenn ich von Armut betroffen bin, kann ich nicht versprechen, dass Beziehungen unter dem von Armut erzeugten Stress und Druck halten werden. Eheversprechen, Freundschaftsversprechen, Arbeitnehmerversprechen stehen unter Druck. Der Sprechakt des Versprechens setzt zumindest (i) Kenntnis der vorliegenden Situation, (ii) Kenntnis der eigenen Möglichkeiten, (iii) einen Begriff von Zukunft und (iv) Wissen um die Adressatin/den Adressaten voraus. Der erschwerte Zugang zu Versprechen hat Auswirkungen auf die Möglichkeit, den sozialen Raum zu strukturieren. Versprechen geben einem Gemeinwesen Stabilität – Hannah Arendt hat deswegen angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten das Versprechen als Armut und Identität

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Grundakt gesehen, der soziales Leben erst ermöglicht.68 Nach Hannah Arendt sind Versprechen notwendig, um mit der Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten umgehen zu können. Diese Zerbrechlichkeit ist in einer Armutssituation besonders ausgeprägt, imminent, drohend in die Lebenssituation hineinragend. Der erschwerte Zugang zu Versprechen wirkt sich auf Identität und Vertrauenswürdigkeit aus. Versprechen sind insofern identitätsstiftend, als sie indirekt Aussagen über Subjekt, Adressat/in, deren Beziehung zueinander und deren In-der-Welt-Sein macht. Versprechen oszillieren zwischen Vertrag und Vertrauen und entfalten ihre Bindungskraft dadurch, dass Verträgen vertraut und der Vertrauenskultur getraut wird. »Vertrauen ist eine notwendige Bedingung der Kooperation, wobei Vertrauen beinhaltet, daß eine Seite dazu bereit ist, sich darauf zu verlassen, daß eine andere Seite in bestimmter Weise handelt.« 69 Versprechen schaffen diese Verlässlichkeit – wenn die Möglichkeit, Versprechen zu geben, eingeschränkt ist, reduziert dies die Vertrauenswürdigkeit, wie sie Bernard Williams charakterisiert  : »Vertrauenswürdigkeit als spezifische Neigung kommt erst vor einem weitgehend eingespielten Hintergrund zum Tragen  : in einer Situation, in der Muster der Kooperation schon etabliert sind und darauf vertraut wird, daß die Leute ihr Soll zu einem Unterfangen beisteuern, bei dem sie ihren Beitrag erst leisten, nachdem die übrigen Teilnehmer das Ihre getan haben.«70 Durch die reduzierte Möglichkeit, Versprechen abzugeben, sind weitere Dynamiken von Exklusion gegeben, entfernen sich armutsbetroffene Menschen mehr und mehr vom Gemeinwesen. Armutsbekämpfung wird sich deswegen auch um den Aspekt bemühen, die Versprechensfähigkeit zu verstärken.

Armut und Integrität 2.8 Armut ist eine Deprivation von Identitätsressourcen, die sich in erschwertem Zugang zur Versprechens- und Bindungsfähigkeit zeigt. Damit sind moralische Güter tangiert, die das Leben eines Menschen wesentlich ausmachen. Moralische Güter sind abstrakte Gegenstände, die ein »gutes Leben« in einem ethischen Sinn ermöglichen bzw. zu einem guten Leben in einem sittlichen Sinn beitragen. Nun wurde ein Menschenbild vertreten, das den Menschen durch »Innerlichkeit« kennzeichnet und die episthetische Situation des Menschen auszeichnet. Aus diesem Fokus auf Innerlichkeit und Identität ergibt sich ein Hinweis auf ein moralisches Schlüsselgut – das Gut der wohlgeordneten epistemischen und moralischen Ressourcen bzw. das Gut der geglückten Identität. Ich 70

Zweiter Teil  : Die Kernthese

möchte dieses Gut »Integrität« nennen und die These vertreten, dass Armut den Zugang zu Integritätsressourcen erschwert. 2.9 Integrität als Ausdruck geordneter Innerlichkeit und geglückter Identität kann durch fünf Dimensionen charakterisiert werden  : Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Integration, Responsivität und Unversehrtheit. (i) Aufrichtigkeit ist die Grundhaltung, sich nach Maßgabe der eigenen Persönlichkeit um eine klare Position zu bemühen. Aufrichtigkeit bedeutet Ehrlichkeit im Auftreten, aber auch eine »Genuität«, also eine Form des Lebens, die das, was jemand tatsächlich fühlt und als bedeutsam ansieht, zum Ausdruck bringt. Hier rührt Integrität an »Authentizität«, an die Eigenschaft, in jener einzigartigen Weise zu leben, die dem einzigartigen Profil eines Menschen entspricht  ; (ii) Ernsthaftigkeit bedeutet die Anstrengung, das Gute zu suchen und zu verfolgen, Bindungen einzugehen und diese Bindungen als identitätsstiftend wirken zu lassen  ; integer zu sein, bedeutet in Übereinstimmung mit dem, was einem Menschen wichtig ist und woran sich ein Mensch gebunden hat, zu handeln. Integrität drückt hier auch die Grundüberzeugung aus, dass das Leben wichtig und gewichtig ist und dass es einen Unterschied macht, wie wir unser Leben leben. Das kann denn auch so verstanden werden, dass Integrität mit der Fähigkeit und Bereitschaft einhergeht, Versprechen abzugeben und Selbstverpflichtungen zu akzeptieren. (iii) Integration bedeutet, dass die verschiedenen Aspekte einer menschlichen Persönlichkeit so integriert werden, dass sie ein geordnetes Ganzes bilden und nicht Teile abspalten oder leugnen müssen  ; diese Art der Integration ist die Voraussetzung für »wholeheartedness« im Verfolgen von Zielen oder in der Übernahme von Sorge oder dem Eingehen von Bindungen. (iv) Responsivität betrifft einen Aspekt von Redlichkeit, auf soziale Erwartungen zu antworten und das eigene Leben im Rahmen von sozialen Verpflichtungen zu sehen. Redlichkeit zeigt sich, wenn man so will, in der Integration berechtigter sozialer Erwartungen, im Respekt vor anderen Subjekten im sozialen Raum  ; (v) Unversehrtheit schließlich meint einen angemessenen Standard von äußerer und innerer Unbeschädigtheit. Integrität ist damit auch »innerer Friede«, der sich aus dem Wissen, was wichtig ist, und der Fähigkeit, dies auch auszudrücken, ergibt. Die Bedeutung von »Integrität« kann insofern schwerlich zurückgewiesen werden, als die Struktur des Inneren in jeder Handlung und bei jeder Wahrnehmung, bei jedem Urteil und bei jeder Erfahrung beteiligt ist. Von da aus kann auch argumentiert werden, dass »innerer Friede« höchstes Gut ist, da es nach innen wie nach außen wirkt. Integrität ist ein fundamentales moralisches Gut, von dem sämtliche moralisch relevanten Aspekte des menschlichen Lebens abhängen. Armut und Integrität

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2.10 Die Zerbrechlichkeitsfrage führt zu einer Wunde des Wissens. Diese Wunde des Wissens lässt uns uns selbst als verwundbare Menschen sehen, die in einer Conditio der Verletzlichkeit, existenziellen Fragilität, Kontingenz der Welt und persönlicher Fehlbarkeit leben. Diese Einsicht hat Auswirkungen auf Integrität – die Wunde des Wissens transformiert, so möchte ich es nennen, das Schlüsselgut der Integrität in »zweite Integrität«. Zweite Integrität ist Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Integration und Responsivität – hat aber an »Unversehrtheit« eingebüßt. Die Illusion der Unverwundbarkeit ist das größte Hindernis zur Entwicklung einer Kultur von Solidarität. Hier ist ein Weg von erster zu zweiter Integrität zurückzulegen. Menschen, die von Armut betroffen sind, haben diese Versehrtheit erfahren und ringen um Identität im Sinne einer zweiten Integrität, die um Wunden und Fehler weiß. Diese zweite Integrität ist das moralische Gut, das im Rahmen von Bemühungen zur Armutsbekämpfung ins Zentrum rückt. Zweite Integrität macht die Identitätsarbeit anspruchsvoller und läutert die Aspekte von Integrität, nämlich Aufrichtigkeit (Eingeständnis von Wunden und Fehlern), Ernsthaftigkeit (schmerzhaftes Wissen um das, was auf dem Spiel steht), Integration (Herausforderung, Wunden, Fehler, Schatten zu integrieren) und Responsivität (Anerkennung der moralischen Ebenbürtigkeit von Menschen aufgrund der geteilten Wunde des Wissens). RD 2.6 Zweite Integrität als geglückte Identität und als wohlgeordnetes Inneres angesichts einer Wunde des Wissens kann mit einem Gedanken, der sich einer Interpretation von Platons Staat verdankt71, in Verbindung gebracht werden – der Idee nämlich, dass Platon im Staat nicht eine Stadt, sondern die menschliche Seele beschreibt, deren verschiedene Vermögen geordnet werden können. »Integrität«, wie ich den Begriff verwende, bezieht sich auf die innere Ordnung, auf die Ordnung der verschiedenen Pfeiler der episthetischen Situation des Menschen. Wohlinformiertes und authentisches Leben verlangt epistemische wie moralische Ressourcen. Wenn man »Innerlichkeit« als wesentlichen Aspekt des Menschseins anerkennt, der auch für die Identität von Menschen entscheidend ist, wird man nicht umhin können, die Frage nach der Qualität von Innerlichkeit zu stellen. Natürlich kann man verschiedene Bezeichnungen wählen, man könnte etwa von »aufgeklärtem inneren Frieden«72 sprechen oder von »Reinheit des Herzens«, die John Rawls als Inbegriff moralischen Handelns angesetzt hat.73 Die Bedeutung dieses Gutes als primäres moralisches Gut kann mit der Fundamentalität begründet werden. Die Rede von Integrität kann mit einigen philosophischen Diskussionen verbunden werden  : Der Be72

Zweiter Teil  : Die Kernthese

griff der Ernsthaftigkeit drückt die Bereitschaft aus, die fundamentalen Fragen nach der Lebensgestaltung zu stellen und sich damit selbst ernst zu nehmen. Die Wunde des Wissens hilft uns, uns selbst ernst zu nehmen und kraftvoll die Frage nach dem »Wohin« und »Warum« und »Wie« des Lebens anzugehen  : »Sich ernst zu nehmen bedeutet, sich nicht einfach so hinzunehmen, wie man eben ist«.74 Hier ist ein Moment von Frage und Suche impliziert. Hier wird auch die Grundüberzeugung ausgedrückt, dass das Leben wichtig und gewichtig ist und dass es einen Unterschied macht, wie wir unser Leben leben.75 Sich selbst ernst zu nehmen, ist eine Form von Aufrichtigkeit und Authentizität. Aufrichtigkeit ist die Grundhaltung, sich nach Maßgabe der eigenen Persönlichkeit um eine klare Position zu bemühen. Robert und Edward Skidelsky haben in ihrem gemeinsamen Entwurf »Persönlichkeit« als Basisgut angesetzt, als ein universelles, finales, unverzichtbares Gut sui generis, im Sinne von Gütern, die »sine qua non einer anständigen Existenz sind und Priorität bei jeder Verteilung knapper Ressourcen haben müssen.«76 Dabei meint »Persönlichkeit« vor allem die Fähigkeit, einen Lebensplan zu entwerfen und umzusetzen, einen Lebensplan, der das eigene Temperament, die eigenen Vorstellungen des Guten und die eigenen Vorlieben berücksichtigt. Damit ist nicht nur »Autonomie« oder »praktische Vernunft« gemeint, sondern auch ein Moment von Tatkraft, Individualität und Spontaneität. Auch Robert und Edward Skidelsky verbinden die Idee einer Persönlichkeit mit einer Vorstellung von Innerlichkeit  : »Zur Persönlichkeit gehört ein privater Raum, ein ›Hinterzimmer‹, wie Montaigne sagte, in dem das Individuum sich entfalten kann, auch sich selbst gegenüber. Der Begriff bezeichnet die Innenseite der Freiheit, das, was den Ansprüchen der öffentlichen Vernunft und Pflicht widersteht.«77 Diese »Innenseite« ermöglicht inneres Engagement und Aufrichtigkeit im Sinne von Ehrlichkeit im Auftreten, aber auch im Sinne von »Genuität« als Form des Lebens, die das, was jemand tatsächlich fühlt und als bedeutsam ansieht, zum Ausdruck bringt.78 Hier rührt Integrität an »Authentizität«, an die Eigenschaft, in jener einzigartigen Weise zu leben, die dem einzigartigen Profil eines Menschen entspricht. Ernsthaftigkeit bedeutet, wie oben gesagt, die Anstrengung, das Gute zu suchen und zu verfolgen, Bindungen einzugehen und diese Bindungen als identitätsstiftend wirken zu lassen. Bernard Williams hat Integrität im Sinne von »identity-conferring commitment« verstanden  ; integer zu sein, bedeutet in Übereinstimmung mit dem, was einem Menschen wichtig ist und woran sich ein Mensch gebunden hat, zu handeln.79 Das ist eine Frage der Redlichkeit  : Redlichkeit bedeutet, auf soziale Erwartungen zu antworten und das eigene Leben im Rahmen von soArmut und Integrität

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zialen Verpflichtungen zu sehen.80 Integre Menschen »embrace a moral point of view that urges them to be … careful about acknowledging as well as weighting relevant moral considerations.«81 Dieser moralische Standpunkt verlangt Selbstreflexion – Selbstreflexion ist Voraussetzung für »Integration« – Erik Erikson hat »Integration« als die entscheidende Aufgabe im letzten menschlichen Lebensabschnitt ausgewiesen.82 Harry Frankfurt hat die Idee einer »wholly integrated person« vorgestellt, die die Wünsche verschiedener Ordnungen zu integrieren vermag.83 Diese Art der Integration ist die Voraussetzung für »wholeheartedness« im Verfolgen von Zielen oder in der Übernahme von Sorge oder dem Eingehen von Bindungen. Selbstreflexion und Liebe als Grundlage von Strukturen der Sorge konturieren das ernsthafte Leben. Unsere Entscheidungen prägen unsere Folgeentscheidungen, unsere Lebensstrukturen prägen unsere Entwicklung. Entsprechend sind wir auch mitverantwortlich für das, was wir sind. Die Zerbrechlichkeitsfrage lädt uns ein, die Frage zu stellen, was wir aus unserem Leben, »im Ganzen betrachtet« machen wollen, worum wir uns sorgen wollen  ; denn manche Dinge sind nur deshalb von Bedeutung für uns, weil wir uns um sie sorgen.84 Wie angedeutet, stellt uns die Zerbrechlichkeitsfrage das Gewicht unseres Lebens vor Augen, macht deutlich, dass wir durch unsere Entscheidungen unserem Leben eine Richtung geben. Willentliche Entscheidungen sind Ausdruck unserer selbst  ; wir sind aufgrund unserer Entscheidungen in einer besonderen Weise mit unserem Leben verbunden, in unser Leben eingebunden, machen dieses Leben »zu unserem Leben«. Die »touristische Lebensweise«, die sich das Leben nicht zu eigen macht, ist mit der ernsthaften Lebensform nicht vereinbar.85 Sorgen strukturieren unser Leben, geben unserem Leben eine Richtung und auch Gewicht. »Wenn es nichts gäbe, um das wir uns sorgten – wenn unsere Reaktion auf die Welt ganz einförmig und monoton wäre –, hätten wir keinen Grund, uns um irgendetwas zu sorgen.« 86 Die Zerbrechlichkeitsfrage gibt einen Maßstab an die Hand, das Leben im Ganzen zu betrachten. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Leben führt zu einer Vergewisserung dessen, worum wir uns sorgen. Die Grundhaltung einer starken und tätigen Sorge kann man »Liebe« nennen. Die Liebe schlägt die Brücke zwischen Gestalten und Geformtwerden in den verschiedenen Abschnitten des menschlichen Lebens. Sie stellt Endzwecke bereit und legitimiert sie auch. Liebe ist auf paradigmatische Weise persönlich und lässt Strukturen des Lebens in paradigmatisch persönlicher Weise hervortreten. Aufgrund der Liebe sorgen wir uns um etwas, was wiederum entscheidenden Einfluss auf unseren Charakter und die Qualität unseres Lebens hat.87 Dadurch, dass wir uns um Dinge 74

Zweiter Teil  : Die Kernthese

sorgen, werden sie für uns wichtig, »it is by caring about things that we infuse the world with importance.«88 Wenn wir etwas »mit ganzem Herzen« anstreben, haben wir uns das Leben zu eigen gemacht und handeln aus Eigenem heraus. Dann wird Identität als »robuste Identität«, die an den eigenen moralischen Vorstellungen auch angesichts von Widrigem festhalten kann89, zur geglückten Identität, dann wird das Innere nach je persönlichen Präferenzsetzungen im Sinne von Integrität geordnet. E 2.5 Eine Illustration für das Verständnis von »zweiter Integrität« können wir der jüdischen Tradition entnehmen. Im Buch Genesis schildert eine berühmte Erzählung einen Ringkampf zwischen Jakob und Gott oder auch zwischen Jakob und einem Engel (Gen 32,23–33). Die Geschichte kann in erkenntnistheoretischer Absicht als Schilderung des Übergangs zu zweiter Integrität gelesen werden  : (i) Jakob ringt allein  ; er hat seine Frauen, Mägde und Kinder und auch seine Besitztümer an einen sicheren Ort gebracht. Er ist schutzlos und ohne Begleitung. In dieser Situation trifft er auf einen Gegner, der mit ihm ohne erzählerisch angedeutete Einleitung zu ringen beginnt. (ii) Sie ringen die ganze Nacht. Sie ringen bis zur Morgenröte. Das Bild »der ganzen Nacht« ist das Bild für einen abgeschlossenen, »ganzen« Zeitabschnitt, das Bild für eine tief greifende Krise, die zu einer unumkehrbaren Veränderung führt  ; (iii) Die beiden Gegner sind einander ebenbürtig, Jakobs Gegner schlägt ihm aufs Hüftgelenk  ; Jakob wird nach diesem Ringkampf von nun an hinken, er ist gezeichnet, verlangsamt, geschlagen  ; (iv) Jakobs Gegner will den Wettkampf angesichts der Morgenröte, die wohl auch sein Gesicht erkennen lassen könnte, beenden und bittet Jakob, ihn loszulassen  ; Jakob lässt aber erst los, als ihn sein Gegner segnet  ; er hält am Gegner fest  ; er klammert sich, bindet sich an seinen Gegner, bis der Wettkampf zu einem für ihn gütlichen Ende gekommen ist  ; (v) Jakob erhält einen neuen Namen  : Er wird von seinem Gegner gefragt »Wie heißt du  ?« und erfährt »Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel (Gottesstreiter)«  ; die Erfahrung hat Jakob also von Grund auf verändert  ; der Name ist das Tor zur Identität, Namen zu geben oder gar Namen auszulöschen sind Zeichen höchster Macht  ; (vi) Jakob sucht den Namen seines Gegners zu erfahren, erhält aber nur zur Antwort  : »Was fragst du mich nach meinem Namen  ?«  ; er muss mit dem Unbekannten leben, muss damit leben, dass ihn ein Gegner ohne Name auf die Hüfte geschlagen hat  ; (vii) Jakob empfängt den Segen von seinem Gegner – der Segen gilt als wirkmächtiges und unwiderrufliches Zeichen einer Verpflichtung und Verbindung. Diese mythische Erzählung spricht den Weg zu zweiter Integrität Armut und Integrität

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an  ; es zeigt sich ein Übergang vom Unversehrten zum Versehrten, damit eine Einsicht in die eigene Verwundbarkeit, damit eine Transformation. Jakob wird zur Führungspersönlichkeit durch diese Wunde des Wissens.

Eine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus MT 1  : Armut als Deprivation von Identitätsressourcen, als Bedrohung von Integrität und als Lebenslage mit einer Innenseite soll anhand eines einflussreichen Zeugnisses nachgezeichnet werden  : »July 15, 1955 The birthday of my daughter Vera Eunice. I wanted to buy a pair of shoes for her, but the price of food keeps us from realizing our desires. Actually we are slaves to the cost of living. I found a pair of shoes in the garbage, washed them, and patched them for her to wear« (C M J 3).90 Dies ist der Beginn der veröffentlichten Version des Tagebuchs von Carolina Maria de Jesus. In diesen drei Zeilen hält sie fest, dass es besondere Tage im Leben gibt, dass besondere Tage besondere Handlungen verlangen, die einen besonderen Aufwand bedeuten, dass sie eine klare Vorstellung von der entsprechenden Gabe hatte, dass der Preisdruck Wünsche nicht verwirklichen lässt und das in einem Ausmaß, dass die Betroffenen Sklavinnen und Sklaven der Lebenskosten sind.91 Aufgrund ihrer Initiative und ihres Erfindungsreichtums gelingt es Carolina Maria de Jesus das (nützliche  !) Geburtstaggeschenk für ihre Tochter zu besorgen, Ergebnis von Handlungen des Suchens, Reinigens und Reparierens. In diesen drei Zeilen wird der Leserin, wird dem Leser ein Bild des Lebenskampfes vermittelt, der keinen Waffenstillstand bietet. Am 20. Juni 1958 schreibt sie  : »I felt I was as a battlefield where no one was going to get out alive« (CMJ 58). Am 12. Juli 1959 heißt es  : »My battle of the day was to fix lunch« (CMJ 166). Carolina Maria de Jesus wurde 1913 in Sacramento im Inneren Brasiliens geboren  ; nach zwei Jahren brach ihre Schulbildung wegen eines Umzugs ab  ; mit 16 begann sie in verschiedenen Jobs zu arbeiten, schlug sich in der großen Stadt São Paulo durch. Sie wurde von einem portugiesischen Seemann schwanger und lebte nun in einem Verschlag. »With a baby she couldn’t work. He had to be looked after constantly. She heard that junkyards paid for scrap paper and so, strapping her tiny son to her back, she walked the streets of rich São Paulo looking for trash.«92 Zwei weitere Kinder von zwei anderen Männern folgten. Sie finanzierte das Leben der Familie nicht durch Betteln, sondern durch das Sammeln und Sondieren von Müll. Wichtiger Lebensanker wurde ihr das Sch76

Zweiter Teil  : Die Kernthese

reiben. Auf die Frage, was sie denn so mache, antwortete sie einer portugiesischen Dame  : »I pick up paper, scrap iron, and in my free time I write« (CM J 96). Schrei­ben öffnete ihr eine eigene Welt  ; sie schrieb auf Notizheften, die sie im Müll gefunden hatte. Mit dem Schreiben schuf sie sich einerseits einen privaten Freiraum, einen persönlichen Innenraum93 und einen sozialen Spielraum – Letzteren dadurch, dass sie die Nachbarn wissen ließ  : »I’m going to put all your names in my book  !«94 Andererseits machte sie sich durch das Schreiben auch verwundbar, wurde sie doch mit Spott und Argwohn wegen ihres allseits bekannten Schreibens bedacht.95 1960 wurde eine von Audalio Dantas editierte Version ihres Tagebuchs unter dem Titel Quarto de Despejo publiziert. Mit diesem Buch zeigte sich Carolina Maria de Jesus als »a kind of tour guide through the usually hidden world of poverty«.96 Sie wurde schlagartig bekannt, konnte sich eine feste Behausung leisten, zog – unter dem lautstarken und auch gewaltsamen Protest der Nachbarn, die einen Anteil von ihrem Vermögen haben wollten, hatte sie doch über sie geschrieben – aus der Favela aus. Sie zog in einen Vorort um, wo sie aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert wurde und sich nicht mehr an die Konventionen anpassen konnte97  ; ihre weiteren Bücher wurden keine Erfolge, obwohl sie dem autobiografischen Genre mit einer Schilderung ihrer Erfahrungen in einem Mittelklassenmilieu treu blieb.98 Sie konnte ihr Geld nicht halten und »within a short time, she was forced to sell the house of her dreams and return to collecting cans, paper, and wire. A newspaper published a photograph of Carolina scavenging, but no outcry was raised.«99 Am 13. Februar 1977 starb Carolina Maria de Jesus und wurde in ärmlichen Umständen bestattet. Eine tragische Figur, hat sie doch einen Klassiker der Armutsliteratur hinterlassen100 und damit einen Anstoß für eine politische Subkultur im Sinne Gayatri Chakravorty Spivaks viel beachtetem Essay »Can the Subaltern Speak  ?« geleistet.101 Carolina Maria de Jesus hat in ihren Tagebüchern über sich und ihr Leben nachgedacht und damit autobiografisches Wissen über Armut als reflektiertes Wissen von Armut in der ersten Person-Perspektive hervorgebracht. 102 Wir haben es hier mit einer Form des Wissens zu tun, die auf Erfahrung beruht und voraussetzt, dass die Erfahrung in den Horizont der Persönlichkeit integriert ist, aristotelisch gesprochen  : wenn hier tatsächlich eine Erfahrung vorliegt. 103 Es handelt sich um eine Form »persönlichen Wissens«, die Teil der Persönlichkeit geworden ist. Die Welt des Geschriebenen eröffnet ihr eine Tiefendimension. »I don’t know how to sleep without reading. I like to leaf through a book. The book is man’s best invention so far« (C M J 17) – und  : »Everyone has an ideal in life. Mine is to be able to read« (C M J 18). Carolina Maria de Jesus hatte nie im Eine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus

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Blick, ihr Tagebuch zu veröffentlichen. Das Tagebuchschreiben war für sie (im Unterschied zu anderen Texten, die sie vergebens zu publizieren versuchte) nicht ein Weg in die Öffentlichkeit, sondern ein Weg heraus aus der Mikroöffentlichkeit ihres sozialen Radius. Das enge soziale System bedeutet für sie weniger Unterstützung als vielmehr Kontrolle und Neugierde  : »I can’t stand these favela women, they want to know everything. Their tongues are like chicken feet. Scratching at everything« (C M J 6). Schreiben ist Inhalt und Resultat von kostbaren Ruhemomenten, »rare moments of inner tranquillity« (C M J 8). Sie schreibt regelmäßig, »every day I write. I sit in the yard and write« (CM J 15). Immer wieder finden wir sie schreiben (CMJ 11, CMJ 13, CMJ 15, CMJ 19, CMJ 43, CMJ 52, CMJ 58, C M J 71, C M J 77, C M J 88, C M J 111, C M J 121, C M J 131), sie steht auch frühmorgens auf, um schreiben zu können, das sind die einzigen friedvollen Stunden, die sie in der Favela erlebt /C M J 19). Sie träumt sich in eine andere Welt (C M J 52)  ; gleichzeitig hält sie im Tagebuch Erlebnisse und Erfahrungen fest, schreibt, wie sie es auf Nachfrage nennt, ein »realistisches« Buch (C M J 99). Sie schreibt für sich, auch aus kathartischen Gründen – »when they upset me, I write« (CM J 8), aber auch aus sozialen Gründen  : »The troublemakers of the favela see that I’m writing and know that it’s about them« (CM J 13  ; vgl. CM J 16). Sie weiß sich als die einzige, die über das Leiden am Lebenskampf schreibt, »I do this for the good of the others« (C M J 28). Sie glaubt an die Kraft des Schreibens  : »I don’t have any physical force but my words hurt more than a sword. And the wounds don’t heal« (C M J 41). »If this diary is ever published, it’s going to make a lot of people angry« (CM J 70). Sie findet immer wieder bemerkenswerte Formulierungen mit dichterischer Ausdruckskraft  : »Hard is the bread that we eat. Hard ist the bed on which we sleep. Hard ist the life of the favelado« (CM J 33). »How horrible it is to hear the poor lament. The voice of the poor has no poetry« (C M J 129). Oder  : Bread is just like the heart of a politician. Hard in the face of human need« (CM J 46).104 Oder  : »In the old days macaroni was the most expensive dish. Now it’s rice and beans that have replaced the macaroni. They’ve crossed over to the side of the nobility. Even you, rice and beans, have deserted us  ! You who were the friends of the marginal ones, the favelados, the needy« (CM J 35). Oder  : »The tongue of a woman in the favela is acid. It’s not bone, but breaks bones« (C M J 116).105 »I went to pick up kindling wood. It seems that I came into the world predestined to pick things up. The only thing I don’t pick up is happiness« (C M J 74). ���� Ausdrucksstark auch ein Bild zur Raumerfassung  : »I classify São Paulo this way  : The Governor’s Palace is the living room. They mayor’s office is the dining room 78

Zweiter Teil  : Die Kernthese

and the city is the garden. And the favela is the backyard where they throw the garbage« (CM J 24).106 Immer wieder verwendet sie den Begriff »garbage dump« für die Favela. Durch das Schreiben von Carolina Maria de Jesus eröffnen sich tiefe Einsichten in die Lebenssituation von Armut  : »The poor don’t rest nor are they permitted the pleasure of relaxation« (C M J 4). Armut wirkt sich auf das innere Gleichgewicht aus  : »I am not happy with my spiritual state. I don’t like my restless mind« (CM J 141). Diese Unruhe des Geistes gilt besonders für die Armen  : »I’ve always heard it said that the rich man doesn’t have peace of mind. But the poor doesn’t have it either, because he has to fight to get money to eat with« (C M J 150). Umgekehrt gilt, dass das Geld Ängstlichkeit nimmt  : »In the end money always dissipates nervousness« (C M J 25).107 Ein Leben in Armut bedeutet ein Leben in ständigem Kampf  : »Here in the favela almost everyone has a difficult fight to live« (CM J 28) – der Kampf wird nicht gekämpft, sondern »gelebt«, der Kampf ist das Leben. Armut bedeutet Unfrieden, die Unmöglichkeit, »peace of mind«, inneren Frieden zu finden.108 Die Favela lässt aufgrund der stickigen Luft und des Lärms nicht schlafen (CMJ 83). Hunger hindert am Schlafen  : »He who is hungry doesn’t sleep« (C M J 122). Auch die Flöhe rauben die Nachtruhe (C M J 108  : C M J 125). Ein andermal muss sie in einer Regennacht ständig das Dach abdichten (C M J 117). Dazu kommt für sie die Enge ihres Schlafraumes, »it is so confining« (CM J 120). Der Kampf verschärft sich, als das Wasser in der Favela durch die wachsende Bevölkerung knapp wird (C M J 106). Der Kampf verschärft sich auch in der Regenzeit, wenn sie durch Wasserfluten waten muss und der Alltag noch beschwerlicher wird (CM J 138f ). Sie hat keinen ruhigen Platz zum Schreiben (CM J 93). Der ständige Kampf verändert die Menschen. »The favelados are the few who are convinced that in order to live, they must imitate the vultures« (CM J 33). Aufgrund dieser Lebenseinstellung eines Kampfes aller gegen alle ist der einzige Weg in der Favela der Weg der Abschottung  : »Who lives in the favela must try and isolate themselves – live alone« (C M J 41). Sie schreibt von der engen sozialen Kontrolle in der Favela, wo alle alles über alle wissen und ständige Gerüchte die Runde machen (CM J 51). Deswegen geht sie auch so ungern zur Wasserstelle, wo alles durchgeredet wird und Neugierde der Modus der Begegnung ist (C M J 82). Sie stellt wichtige Fragen  : »Why is it that the poor don’t have pity on the other poor  ?« (CM J 73). »The Judges don’t have the ability to shape the character of the children. What’s lacking  ? Concern for the unfortunate or money from the State  ?« (C M J 81). Sie macht politische Aussagen  : »The cost of living makes the worker lose his sympathy for democracy« (CM J 103). Eine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus

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Die Chronistin der Favela ist entsetzt über die Gewalt, die sie ansehen muss, den Hass, den sie erlebt, die Destruktivität der Favelados (z. B. CM J 63).«I’m so used to seeing fights« (CM J 94). Auch sie selbst schlägt ihre Kinder und schreibt mit einer Selbstverständlichkeit von diesem Erziehungsmittel. Sie hasst es, in der Favela leben zu müssen  : »What disgusts me is that I must live in a favela« (CM J 14). Sie vergleicht die Favela mit der Hölle (CM J 153). »A favela is a strange city and the mayor here ist he Devil. The drunks who are hidden during the day come out at night to bother you« (C M J 83).109 Das Leben hat eine Dynamik nach unten, eine Dynamik der Verrohung und der Verhärtung. »Sometimes families move into the favela with children. In the beginning they are educated, friendly. Days later they use foul language, are mean and quarrelsome. They are diamonds turned to lead. They are transformed from objects that were in the living room to objects banished to the garbage dump« (CM J 30). Auch Carolina selbst hat einen Weg der Verhärtung zurückgelegt.110 Gewalt als Weg zur Konfliktbearbeitung ist in der Favela gang und gäbe, »things that could be solved with words they transform into fists« (CM J 44). Sie ist erschütternd, dass die Armutsbetroffenen untereinander keinen Frieden halten und einander das Leben schwer machen. Eines Tages, so lesen wir im Juli 1958, ist sie krank  ; die Nachbarn wissen, dass sie krank ist, aber niemand kommt, um Hilfe anzubieten (CM J 84). Ihr Sohn wird von einem anderen Kind bestohlen, das bereits gelernt hat, Brieftaschen zu entwenden (C M J 74f ). Eines Tages werden fünf Säcke Papier verbrannt, das sie gesammelt und gelagert hat. »I don’t resent it. I’m so used to human malice« (C M J 20). Sie ist entsetzt, zu berichten, dass das Schlachthaus Kerosin über die Fleischabfälle geschüttet hat, um die Favelados daran zu hindern, nach Essbarem zu suchen (CM J 37). Ein andermal beklagt sie den Umstand, dass verfaulendes Obst in der Nähe der Favela entsorgt wurde, sie spricht von einer Form der Folter (CM J 134). Die dargebotenen Einsichten in das Leben in Armut sind auch politisch relevant  : »My advice to would-be politicians is that people do not tolerate hunger« (CMJ 21f )  ; »Brazil needs to be led by a person who has known hunger. Hunger is a teacher« (CM J 22)111  ; »the real slavery – hunger« (CM J 23). Die Politiker müssen etwas gegen die Perspektivenlosigkeit der Armut tun  : »The politicians must give us things. That includes me too, because I’m also a favelado. I’m one of the discarded. I’m in the garbage dump and those in the garbage dump either burn themselves or throw themselves into ruin« (C M J 29). Das Leben in drückender Armut ist ein Leben, das nicht zum Blühen kommen kann. Darin drückt sich auch die Erfahrung aus, dass man mit Unterstützung nicht rechnen könne – »I don’t see any help from the Social Services regarding the favelados« (CM J 33).112 80

Zweiter Teil  : Die Kernthese

Die Politiker, von denen sie schreibt, interessieren sich nur in Wahlkampfzeiten für die Favela. Einmal trifft sie einen politisch ambitionierten jungen Mann, den sie nach seinen politischen Plänen befragt  : »I want to get as rich as Adhemar«, lautet die Antwort – »I was shocked. Nobody has any patriotism« (CM J 94). Armut ist nicht nur eine Frage der Situation von Armutsbetroffenen, sondern eine relationale und deswegen auch strukturelle Angelegenheit, die die soziale Schichtung und Zonierung betrifft. »May God enlighten the whites so that the Negroes may have a happier life« (C M J 23), schreibt Carolina an einer Stelle.113 An einer anderen Stelle beschreibt sie, wie ein Lastwagen mit Dosenwürsten in die Favela einbiegt. »I thought  : this is what these hardhearted businessmen do. They stay waiting for the prices to go up so they can earn more. And when it rots they throw it to the buzzards and the unhappy favelados« (CM J 25). »I went past the canning factory and found a few tomatoes. The manager when he saw me began to swear at me. But the poor must pretend that they can’t hear« (CM J 64). Die Favela lebt in ständiger Ablehnung (»we of the favela are feared«  ; C M J 75). »The neighbors in the brick houses look at the favelados with disgust. I see their looks of hate because they don’t want the favela here. They say the favela debases the neighbourhood and that they despise poverty« (C M J 49). Nachsatz  : »They forget that in death everyone is poor« (CM J 49).114 Diese sich nach dem Absoluten ausstreckende Perspektive hilft Carolina Maria de Jesus, Dinge in Proportion zu setzen und auch einen Maßstab für die Gewichtung zu erhalten  : »The poor are creatures of God. And money is a metal created and valued by man« (CMJ 50). Armut führt zu Beschämung. Sie schreibt über die Beschämung, in Lumpen gekleidet zu sein (CM J 6f )  ; mitunter kann sie die Kleider nicht waschen, weil sie kein Geld für Seife hat (CM J 87, CM J 91) »If I walk around dirty it’s because I’m trapped in the life of the favelado« (C M J 35). Sie schreibt über das Ringen, aus dem Abfall zu essen, gibt mitunter nach, aber nur in extremer Not und nur unter Todesängsten, weil sie einmal erleben musste, wie ein kleiner Bub Reste aus dem Müll fischte und sie auch zum Essen einlud  ; sie versuchte ihn, davon abzuhalten, am nächsten Morgen war der Bub tot (C M J 31f ). Armut bedeutet auch einen Mangel an ästhetischer Erfahrung, einen Mangel an Schönheit. Wenn sie in die Stadt kommt, ist Carolina bewegt von der Schönheit dessen, was sie sieht, die vielfarbigen Häuser, die schön gekleideten Menschen (C M J 77). Im Gegensatz dazu ist der nackte Schuppen, in dem sie lebt, eine Belastung  : »I’m walking from one side to the other because I can’t stand being in a shack as bare as this« (CM J 97). Neben Beschämung und einem Mangel an Schönem bedeutet Armut auch Einschränkung der Wahlmöglichkeiten, der Möglichkeiten, Präferenzen zu setEine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus

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zen – »nowadays nobody can afford to have preferences or be squeamish« (C M J 60). Armut bedeutet Erschöpfung und Verzweiflung  ; immer wieder lesen wir von Carolinas Müdigkeit. Wir stoßen auf Suizidgedanken, so am 24. Juli 1958  : »How horrible it is to get up in the morning and not have anything to eat. I even thought of suicide« (CM J 92  ; auch CM J 94). Wir lesen  : »I’m starting to lose my interest in life«, spatter hält sie fest, »It’s beginning to revolt me and my revulsion is just« (CM J 27). Armut bedeutet auch Schutzlosigkeit  : Sie nimmt an einer kostenlosen Krankenuntersuchung nicht teil, »because I can’t buy the medicine to cure it« (CM J 93). »I’m tired of working so hard« (CM J 169). »I was furious with life and with a desire to cry because I didn’t have money to buy bread« (CMJ 173). Das grausamste Gesicht von Armut, wie es Carolina beschreibt, ist der Mangel an Ernährungssicherheit. Ein Bäcker geht durch die Favela und preist sein Brot, »gerade rechtzeitig für das Frühstück« an – »How little he knows that in the favela there are only a few who have had breakfast« (C M J 26). Carolinas ständiger Begleiter ist der Hunger, »my problem is always food« (CM J 43) – am 27. Mai 1958 hatte sie kein Frühstück, »I didn’t have any breakfast and walked around half dizzy« (CM J 37). Am 7. August 1958 schreibt sie  : »I got out of bed at 4 a.m. I didn’t sleep because I went to bed hungry. And he who lies down with hunger doesn’t sleep« (C M J 98). Ein Stück Brot verändert das Leben und den Blick auf die Welt  : »What a surprising effect food has on our organisms. Before I ate, I saw the sky, the trees, and the birds all yellow, but after I ate, everything was normal to my eyes« (C M J 37). Aufgrund des Hungerdrucks ist der Samstag der härteste Tag, weil sie für das ganze Wochenende zu sorgen hat (C M J 40). Hunger ist ständige Quelle von Sorge, Stress, Druck, Angst. Hunger macht aggressiv und führt in die Verzweiflung. Am 9. August 1958 schreibt sie  : »I got out of bed furious. With a desire to break and destroy everything. Because I only have beans and salt. And tomorrow is Sunday« (C M J 99). Etwas für die Kinder zu essen zu bekommen, beruhigt (»it calmed my spirit«  ; C M J 92). Die Favela ist ein Ort des Hungers  : Am 7. Oktober 1958 schreibt sie in ihr Tagebuch  : »A child died here in the favela. He was two months old. If he had lived he would have gone hungry« (CM J 115). Eine der drückendsten Seiten von Armut, wie sie Carolina Maria de Jesus erlebt, ist die Sorge, den Sorgepflichten nicht Genüge tun zu können. Die Kinder sind unzufrieden, der Sohn geht auch aus Nahrungsgründen auf eine Party (»The food there must be better than yours«  ; CMJ 60), sie kann ihrer Tochter zum Geburtstag keine Party geben (schlimmer noch  : »Today there’s not going to be any lunch«  ; CM J 85), die Kinder weinen, wenn sie keine Schuhe haben, Tochter 82

Zweiter Teil  : Die Kernthese

Vera schluchzt, dass sie nicht arm sein will (C M J 59).115 Die Tage ohne Nahrungssicherheit sind häufig und drücken sich in Tagebuchsätzen aus wie  : »Today the children are only going to get hard bread and beans with farinha to eat« (CM J 96).116 »A mother is always worried that her children are hungry« (C M J 108). Carolina schreibt, dass sie innerlich krank wird, wenn sie an ihre Tochter denkt  – »she hates to live in the favela« (C M J 72). Wir stoßen hier auf den Druck, der daraus entsteht, den Kindern nicht ein Lebensumfeld bieten zu können, das sie affirmieren können. Carolina musste ihre Kinder stundenlang einsperren, wenn sie ausging, Müll zu sammeln. Der Freiheitsentzug ist im Vergleich zur Schutzlosigkeit in der Favela das kleinere Übel. Häufig geht es auch um die elementare Frage nach Nahrungsmitteln. »When I have little money I try not to think of children who are going to ask for bread« (C M J 43). »The worst thing that a mother can hear is the symphony  : ›Mama, I want some bread  ! Mama, I am hungry  !‹« (CM J 55). Als ihre Tochter Vera eines Tages krank ist, organisiert Carolina Milch. »All I know is that milk is an extra expense and is ruining my unhappy pocketbook  !« (CM J 58). Dass Armut die moralische Integrität angreift, zeigt sich auch in der Verrohung der Kinder. Die Favela verhärtet auch die Kinder  ; eines Tages wird ihr Sohn angeklagt, versucht zu haben, ein zweijähriges Mädchen zu vergewaltigen, »I wept« (CM J 79). Die Kinder sind einerseits Anker, andererseits auch stete Sorgenquelle, stete Quelle inneren Unfriedens  : »There are times when I am furious with myself for letting men trick me into having these children« (C M J 79). Eine kleine Szene kann diese Ambivalenz illustrieren  : Sie organisiert Schuhe für ihre Tochter Vera. »She put on the shoes and began to smile. I stood watching my daughter’s smile, because I myself don’t know how to smile« (C M J 95). Der Lebenskampf um die Kinder hat ihr die Fähigkeit zu lächeln genommen, das Strahlen des Kindes ist aber Quelle von Kraft. Inmitten des Lebenskampfes bemüht sich Carolina darum, Haltung zu bewahren. Carolina Maria de Jesus versucht sich auch, Haltung und Form zu bewahren, gibt sich selbst ein Versprechen ab  : »I’ve made a promise to myself. I want to treat people that I know with more consideration. I want to have a pleasant smile for children and the employed« (CM J 21)117 – sie bemüht sich darum, sich gegen die nagende Resignation und die drohende Apathie zu stemmen. Sie sieht die Favela auch als Lebensschule.118 Sie will Verantwortung wahrnehmen, zeigt »Strukturen der Sorge«  : »My kids are not kept alive by the church’s bread. I take on all kinds of work to keep them« (CM J 8). Ihr Verantwortungsbewusstsein führt zu Selbstdisziplin und dem Selbstauftrag eines kontrollierten Lebens. »I’m not going to drink. I don’t want that curse. I have responsibilities. My children  !« Eine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus

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(C M J 13).119 Sie versucht, sich eine Perspektive zu erhalten  : »I am living in a favela. But if God helps me, I’ll get out of here« (C M J 12). »My dream is to be very clean, to wear expensive clothes and live in a comfortable house, but it’s not possible« (CM J 14). Der letzte Satz des publizierten Tagebuches lautet (Eintrag vom 1. Januar 1960)  : »I got up at 5 and went to get water« (C M J 176). Ähnlich wie der Eingangssatz lässt sich auch aus diesen wenigen Wörtern ein »Fenster in eine Armutssituation« herauslesen – das frühe Aufstehen, der klar vorgegebene Tagesbeginn, die Mühsal auch des Alltäglichsten und Notwendigsten.

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Zweiter Teil  : Die Kernthese

Dritter Teil  : Innenseiten

3.1 »Innenseiten« können bei Dingen, Ereignissen und Strukturen festgestellt werden  ; diese »Innenseiten« ergeben sich aus der Analyse dieser Entitäten von der episthetischen Situation des Menschen her. Von da aus lassen sich Konsequenzen für das Verständnis von Politik, Ökonomie und Armutsbekämpfung erkennen.

Die Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen 3.2 Dinge haben eine Innenseite, sie haben einen symbolischen Wert  ; sie machen Aussagen über den Besitzer oder die Besitzerin. Die Innenseite betrifft eine Tiefendimension, die sich jenseits der Analyse des Sichtbaren und Beobachtbaren ergibt. Dinge haben eine »Botschaft« und eine »Bedeutung«. Daraus ergibt sich eine Tiefendimension des Materiellen. Dinge haben eine Geschichte, einen Anfang und in vielen Fällen stellt sich die Frage nach dem Ende. Die tangible, dinghafte Struktur der Welt – exemplifiziert an Privathaushalten und deren Besitztümern – deutet auf eine intangible Struktur von Identitätsarbeit, enthüllt die Welt der Dinge als Welt von Identitätsressourcen. Dabei ist die tangible Struktur nicht nur »Ausdruck« und »Konsequenz« der intangiblen Struktur, sondern durchaus auch »Ausgangspunkt«. Es zeigt sich, dass die sichtbaren und tangiblen Strukturen eine Sprache sprechen, die ihnen Bedeutung verleiht  ; diese Sprache wird nur möglich, wenn man eine intangible Infrastruktur zugrunde legt. Erst der Blick auf die intangible Infrastruktur lässt die Frage nach dem »Warum« stellen. 3.3 Dinge sind Ausdruck der materiellen Verfasstheit der Welt. Die Materialität der Welt bedeutet, dass in einem »Hic et Nunc« operiert wird, in einer Sphäre des Praktischen, die sowohl die Möglichkeit zur stets befristeten Stabilität wie auch die Möglichkeit zur stets begrenzten Gestaltung einschließt. Materielle Güter zeichnen sich durch wenigstens fünf Merkmale aus – sie sind tangibel, d. h. berührbar und können an einer Raum/Zeit-Stelle identifiziert werden  ; sie sind vergänglich, d. h., sie können ihre Form nur eine bestimmte Zeit lang erhalten und sind Veränderungen unterworfen  ; sie sind drittens miteinander kohärent, Die Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen

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will heißen, dass materielle Güter ein System bilden, das durch rekonstruierbare Gesetzmäßigkeiten gekennzeichnet ist  ; sie sind viertens aufgrund des ersten und des dritten Merkmals kontrollierbar und können manipuliert, d. h. verändert und formgebenden Akten unterworfen werden  ; fünftens sind materielle Güter knapp, d. h. nur im Modus der Endlichkeit und Begrenztheit verfügbar. Diese Charakteristika materieller Güter sind ausschlaggebend dafür, dass aufgrund ihrer Formbarkeit und Berechenbarkeit mit materiellen Gütern Existenz aufgebaut, aber nicht – wegen ihrer Vergänglichkeit und Knappheit – letzte Sicherheit erzielt werden kann. Materielle Güter strukturieren die Sphäre menschlichen Handelns. Menschliches Handeln findet, wenn man hier eine ontologische Topografie versuchen wollte, in der Sphäre des Praktischen statt. Diese Sphäre ist wesentlich durch Gesetzmäßigkeiten der Kausalität und durch kausale Zusammenhänge gekennzeichnet. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein Nachdenken über materielle Güter ein Nachdenken nicht nur über begriffliche Gründe, sondern auch über kausale Erklärungen beinhalten muss. Die Gesetzmäßigkeiten der Kausalität machen deutlich, dass wir es hier mit Regelmäßigkeiten zu tun haben, die wiederum auf der Eigenschaft der materiellen Güter aufruhen, Widerstand zu leisten und sich nicht beliebig formen zu lassen. Sie sind kausalem Gesetz unterworfen und üben selbst kausale Autorität in dem Sinne aus, dass sie nicht beliebig manipuliert werden können – weder durch begriffliche Bestimmungen noch durch spirituelle Einstellungen. Eine Gefängnismauer bleibt eine Gefängnismauer, selbst wenn sie als »geborgenheitsstiftender Schutzwall« bestimmt oder als Einladung und Ermöglichung inneren Wachstums verstanden werden kann. Einen besonderen Fall von Materialität stellt der menschliche Körper dar. Die Unterscheidung zwischen »Körper« und »Leib« deutet an, dass das leibhafte In-der-Welt-Sein identitätsstiftend ist. Auf diesem Hintergrund kann man sich Gedanken über den Begriff der »Gesundheit« machen, der als »Fähigkeit zweiter Ordnung« verstanden werden kann, als die Fähigkeit, mit der eigenen körperlichen Ausstattung gut umgehen zu können. Das Verhältnis zum Körper ist auch in der Armutsforschung ein wichtiges Thema. 3.4 Die Innenseite von Dingen ist für die Auseinandersetzung mit Armut aus verschiedenen Gründen bedeutsam  : (i) In einer materiell kleinen Welt können einzelne Gegenstände einen besonderen Wert erhalten, ist es auch einfacher, eine besondere Beziehung zu besonderen Gegenständen aufzubauen. Hier ist Achtsamkeit im Umgang mit dem einzelnen Gegenstand geboten  ; (ii) Armut wird in der Regel auch mit einer Knappheit bzw. einem Mangel an materiellen 86

Dritter Teil  : Innenseiten

Gütern in Verbindung gebracht. Es sind nicht nur innere Ressourcen erschwert zugänglich oder auch knapp, sondern auch materielle Dinge, die nicht vorschnell »spiritualisiert« werden sollen  ; (iii) Armutsbekämpfung kann in der Bereitstellung materieller Güter nicht auf die Berücksichtigung der Innenseite dieser Dinge verzichten  ; eine Situation, in der Hunger beherrscht, beispielsweise, kann nicht hinwegsehen über die zumeist dichten Regelwerke, die Nahrungsmittel umgeben  ; Ähnliches gilt für die Einschätzung der Bedeutung von vermeintlichen Luxusgegenständen (wie ein Musikinstrument) in einer kargen Lebenssituation – hier kann ein Gegenstand zu einer Quelle von Lebenskraft werden. Menschliches Leben folgt nicht mechanisch einer universalen Bedürfnispyramide. E 3.1 Gegenstände können eine besondere Bedeutung bekommen, etwa durch die Entstehungsgeschichte (»Tauf- oder Einführungszeremonie«) oder durch die Gebrauchssituation. Im Umgang mit Dingen zeigen sich Fragen der Identität, der sozialen Zugehörigkeit, der Wertehaltungen. Georges Perec charakterisiert im Roman Die Dinge (Les Choses) die Protagonisten über die Beschreibung von Dingen, von imaginären oder echten Besitztümern. Pierre Bourdieu hat die Veränderung im Umgang mit den Dingen beschrieben, die soziale Veränderungen mit sich bringen  ; es verändert sich eine wichtige Verbindung zu Dingen, nämlich der Geschmacksinn, jener Sinn, der bestimmte Typen von Dingen anderen Dingen vorziehen lässt.1 Dinge können einen besonderen Wert bekommen. Ein Haus kann Symbol für sozialen Aufstieg sein, steht für Sicherheit, für Identität.2 Gegenstände können aufgrund einer gemeinsamen Geschichte eine geteilte symbolische Bedeutung erhalten. Man denke an die Bedeutung eines Teppichs, auf dem sich die Schauspieler/innen während eines Theaterprojekts in Kabul versammelten  : »Robert hatte einen großen Hazaragi-Kelim besorgt, der nun auf dem Rasen im Garten der Kulturstiftung ausgebreitet lag. Er hatte Quadrate wie ein Kreuzworträtsel, doch in kräftigem Orange, tiefem Rot und leuchtendem Blau, angeordnet in Rhomben- und Sägezahnmustern. Das gewebte Farbmuster spiegelte die Pracht der Geranien und Tulpen im Garten. Der Kelim sah alt aus  ; wahrscheinlich hatte er seit mehr als einer Generation den Boden eines Raums im Haus jener Hazara-Familie bedeckt, deren Frauen ihn gewebt hatten … In der Folge wurde der Kelim bei jeder Probe und Aufführung benutzt  ; er entwickelte sich zum inoffiziellen Totem der gesamten Unternehmung. Frauen, deren Namen für immer vergessen sind, haben ihn hergestellt und dabei wahrscheinlich niemals daran gedacht, dass sie ein Kunstwerk schufen.«3 Die Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen

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Die symbolische Bedeutung von Dingen hat etwa Georg Simmel in einer soziologischen Betrachtung untersucht.4 Die gesellschaftliche Bedeutung des Schmucks liegt in der Synthese von Haben und Sein  ; im Tragen des Schmucks wird Haben-für-Andere auffällig  ; das soll auch so sein, um das Haben zu einer sichtbaren Qualität des Seins und der Persönlichkeit werden zu lassen. Das »Haben« erfolgt mit Blick auf die Anderen, wird aber aufgrund der Wahrnehmung durch die anderen auch auf das Subjekt rückbezogen. In seiner Novelle »La parure« hat Guy de Maupassant die soziale Bedeutung des Schmucks aus Sicht unterschiedlicher Gesellschaftsschichten ebenso tragisch wie anschaulich illustriert. José Saramago hat in seinem Erstlingsroman, der erst posthum veröffentlicht wurde, eine kluge Betrachtung über die Welt der Dinge angestellt  : »Sie war eine ausgezeichnete Hausfrau. Das merkte man auch an der Einrichtung der Wohnung, an den kleinsten Details … Die Möbel waren ärmlich, aber sauber und besaßen eine gewisse Würde. So wie Haustiere – Hund und Katze zumindest – das Temperament und den Charakter ihrer Besitzer spiegeln, so verraten ganz fraglos auch Möbel und selbst unbedeutende Einrichtungsgegenstände etwas über ihre Eigentümer. Sie strahlen Kälte oder Wärme, Herzlichkeit oder Reserviertheit aus. Sie sind Zeugen und berichten ständig wortlos davon, was sie erlebt haben oder wissen.«5 Dinge sagen etwas über die Identität von Menschen und die Werte einer Kultur aus. Materielle Güter sind Teil einer Ordnung  ; diese Ordnung lässt die äußeren Güter insofern im Modus der »Sakramentalität« begreifen, als hier ein sichtbares Gut Ausdruck einer unsichtbaren Ordnung ist und dadurch Zeichencharakter erhält. Dietrich Bonhoeffer wies im kargen Kontext einer Gefängniszelle darauf hin, dass Dinge Träger geistiger Realitäten seien.6 Diese Sakramentalität der äußeren Güter, die ihren Wert von einer Ordnung her bekommen, deren Teil sie sind, kann etwa an Thomas Glavinics Roman Die Arbeit der Nacht illustriert werden. Hier stoßen wir auf ein Szenario, in dem ein Mensch eines Morgens aufwacht und sich allein auf der Welt findet. Dadurch stellen sich die materiellen Güter, wie sie in verlassenen Supermärkten, Luxusgeschäften, Autohäusern, Fabriken zu finden sind, in einem ganz neuen Licht dar – erstens entfällt der soziale Werte eines Gutes – ein Auto wird in dieser Situation nur mehr nach seiner Leistung, nicht aber nach dem Prestige bewertet, das mit dem Besitz des Autos verbunden ist  ; dadurch bekommen die Lebensmittel, die überlebensnotwendigen Güter einen neuen Vorrang vor Luxusgütern mit vermindertem »cash value«  ; zweitens ist angesichts des schier unbeschränkten Zugangs zu materiellen Gütern, die nicht mehr der Knappheitsbedingung unterliegen, und aufgrund des Wegfalls sozialer Kontrolle wie auch sozialer Anreize der 88

Dritter Teil  : Innenseiten

Charakter des Protagonisten in einer besonderen Weise herausgefordert  : Nach welchen Visionen soll die Gestaltung des Lebens ausgerichtet werden, nach welchen Prinzipien soll der Umgang mit den Gütern angeleitet sein  ? Der Wert der äußeren Güter muss unter den veränderten sozialen Bedingungen neu bestimmt werden. Dinge haben einen Wert für jemanden, was sie mit einer Dimension ausstattet, die über das materiell Greifbare hinausgeht. RD 3.1 Die Gestaltung materieller Güter erfolgt in der Sphäre des Praktischen. Materielle Güter kann man auf zweifache Weise gestalten – sie können kausal bearbeitet und verändert werden (so lässt sich etwa aus einem Holzstück eine Statue schnitzen) und sie können Gegenstand begrifflicher und interpretativer Anstrengung von Einordnung und Zuordnung sein. Diese doppelte Gestaltbarkeit ist nicht im Sinne von zwei voneinander zu unterscheidenden Schritten zu sehen, sondern ein und derselbe Schritt. 7 Neben dieser Gestaltbarkeit ist die Sphäre des Praktischen als eine geregelte und strukturierte aufzufassen, die der Gestaltbarkeit Anhaltspunkte bietet und Grenzen auferlegt. Menschliches Handeln strukturiert diese Sphäre und orientiert sich an ihr. Diese Sphäre hängt auch mit dem menschlichen Wollen zusammen, mit der Welt von Planung, Beratung, Entscheidung und Kontrolle, denn eine Handlung ist eine Form menschlichen Verhaltens, die gesetzt oder unterlassen werden kann. In dieser Sphäre des Wollens und Handelns wird die Manipulation der Welt durch menschliche Entscheidungs- und Machenskraft vorbereitet und realisiert. Bereits dieser Konnex zeigt einen Zusammenhang zwischen äußeren Gütern und der Welt des Materiellen auf der einen Seite und der Sphäre des Geistigen mit Werten und Wünschen auf der anderen Seite. Die Gestaltung der materiellen Welt wird von der Fähigkeit zum antizipierenden Planen strukturiert. Das macht spezifisch menschliches Weltgestalten aus, was Karl Marx an einem einleuchtenden Bild illustriert hat  : »Eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.«8 Der Mensch kann nur als symbolverarbeitendes Wesen zum homo faber werden, der die äußere Welt technisch verändert  : »Die ›Gestalt‹ der Welt ›ist‹ nicht praeexistent, um nachher sichtbar gemacht zu werden – sondern im Sehen und für das Sehen bildet sich die Gestalt.«9 Die Gestalt der Welt folgt einer bestimmten Weise des Sehens, die auch kulturell geformt und sozial eingebettet ist. Thoreau hatte sich in seinem berühmten Experiment »Walden« ein neues Verhältnis zu den Die Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen

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Dingen angeeignet und auch etablierte Haltungen gegenüber Dingen einer Kritik unterzogen.10 Dinge werden nicht nur in bestimmter Weise »benutzt«, sie werden auch in bestimmter Weise »gesehen«. Das bedeutet denn auch, dass die Bekämpfung von Armut (oder auch der Abbau von Privilegien) nicht nur mit dem Umgang mit materiellen Dingen, sondern auch mit einer entsprechenden Kultur des »Sehens« einherzugehen hat, will man diesen Dynamiken gerecht werden. Materielle Dinge sind Teil einer materiell verfassten Kultur. Wohlstand kann paradoxerweise zu einem Verlust an materieller Kultur führen. Julie Hill betont beispielsweise, dass wir zu vielen Gegenständen keine Beziehung haben, dass wir so wenig über die materielle Welt verstehen, wir verstehen nicht, woher die Dinge kommen und wohin sie gehen und das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir sorglos mit den Dingen umgehen.11 Katherine Hibbert hat nach Job- und Wohnungsverlust ein Jahr am Rande der Gesellschaft von den entsorgten Dingen gelebt12 und dabei die Erfahrung gemacht  : Wir haben mehr als wir glauben zu haben. Wir fallen aufgrund der Dinge, die wir für selbstverständlich nehmen, in eine bequeme Routine. Armut ist demgegenüber gerade deswegen im Alltagsleben gefährdet, weil diese Routine im Umgang mit materiellen Dingen fehlt, wie wir am Beispiel des Tagebuchs von Carolina Maria de Jesus gesehen haben. Auch Petra van Laak hat beschrieben, dass der Umgang mit Konsumgütern sich durch den sozialen Abstieg unfreiwillig zum Kritischen verändert habe.13 Es geht auch um eine Weise des »Sehens«, die die Umstände erzwingen können  : »Was ist schon Materie  ? Es ist verblüffend, wie schnell Gegenstände an Bedeutung verlieren können, wenn die eigene Existenz auf dem Spiel steht. Es hatte geradezu etwas Kathartisches, nach dem Scheitern meiner Ehe und der angekündigten Zwangsräumung des Hauses mit wenig mehr als nichts auf der Straße zu stehen.«14 Die Pointe soll hier nicht sein, dass Armutsbekämpfung angesichts materieller Mängel in der Indoktrinierung einer neuen »Weise zu sehen« bestehe, aber doch, dass die immateriellen Aspekte der Dinge nicht ausgeklammert werden dürfen, wenn es um Fragen von Armut und Armutsbekämpfung geht – Doraja Eberle hat beispielsweise die Bedeutung von Haarfärbemitteln im Nachkriegsbosnien betont  : »Viele Frauen hatten kohlpechrabenschwarze Haare und so ein, zwei, manchmal auch drei Zentimeter weiße Haaransätze. Du hast sofort gedacht, oh, die haben sich immer die Haare gefärbt, aber im Krieg gibt es keine Haarfarbe. Wenn ich einen weißen Haaransatz hätte und mein Mann gar nicht weiß, dass ich färbe, dann nichts wie Haarfarbe kaufen. Sofort. So haben wir es immer gehalten.«15 Der Punkt ist, dass ein Gut (in diesem Fall das »bonum« eines Haarfärbemittels) angesichts 90

Dritter Teil  : Innenseiten

des immateriellen Werts armutslindernde Wirkungen haben kann, auch wenn es ohne Hintergrundwissen wie ein Luxusgut wirken mag. RD 3.2 Materielle Dinge werden »besessen«, »gehabt«. Haben drückt eine Form der Zugehörigkeit aus. Emile Benveniste hat Einsichten über das »Haben« aus sprachwissenschaftlicher und sprachphilosophischer Sicht formuliert  : Die meisten Sprachen der Welt verfügen nicht über ein Haben im Sinne »Habeo«, sondern folgen eher dem Muster »mihi est«  ; alle bekannten Sprachen freilich können Zugehörigkeit (pertinence) ausdrücken und die Frage beantworten – was gehört zu wem  ?16 Haben-Sätze »verlangen neben dem Subjekt als weitere Handlungsrolle ein Objekt im Akkusativ. Doch besteht ein gravierender Unterschied zu den normalen Sätzen dieses Satzbaumusters. In der Tat hat das Elementarverb H A BE N nur zum Schein ein Akkusativ-Objekt bei sich. Inhaltlich (»semantisch«) handelt es sich bei dem Objekt des Elementarverbs H A BE N um ein Habitus-Objekt (nach lat. habitus für die ›Gewohnheit des Habens‹). Bei einem solchen Objekt wird das Verständnis nicht auf das Objekt hin gelenkt, sondern vielmehr in der Gegenrichtung (»retro-transitiv«) zum Subjekt zurückgelenkt. Die H A BE N-Prädikation beruht folglich ebenso wie die SE I N SPrädikation auf einer Inversion. Doch wird das jeweilige Subjekt durch H A BE N als Zubringerwort nicht mit neuen Merkmalen angereichert, sondern es wird stattdessen von zugehörigen Personen oder Sachen her charakterisiert. Die Herstellung und Feststellung von Z UGE HÖR IGK E I T (Pertinenz) ist demnach eine Grundbedeutung des Verbs H A BEN …«17 Damit kann festgehalten werden, dass »Haben«-Sätze auf die Frage der Zugehörigkeit (Wer/was gehört zu wem/was  ?) Antwort geben. Diese Zugehörigkeit wird in einer bestimmten Stabilität ausgedrückt, was sich auch etymologisch aus dem Zusammenhang von »Haben« und »Halten« nahe legt.18 Etwas zu haben ist häufig das Resultat eines Prozesses (etwas in Besitz nehmen, etwas erhalten). Diese Zugehörigkeit ist hartnäckig, was die Grammatik mit dem Verbot der Passivierung von Haben-Sätzen ausdrückt. Das Objekt haftet am Subjekt an.19 Für die Armutsforschung bedeutet dies, dass das Verhältnis von Mensch zu materiellen Dingen nicht als allein äußeres gedacht werden kann  ; man kann das etwa mit Michael Polanyis Begriff des persönlichen Wissens vergleichen – ähnlich wie Wissen Teil der Persönlichkeit wird, wenn man es zu eigen gemacht und in den eigenen Wissenshorizont und die eigene Lebensform integriert hat, verhält es sich mit Dingen  : Eine Wohnung ist für die meisten Menschen nicht bloß eine beliebig wechselbare »Hülle«, sondern Teil der Lebensform mit ihren identitätsstiftenden und identitätsverDie Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen

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gewissernden Zügen. Wenn etwa, wie Markus Breitscheidel beschreibt, Hartz IV-Beziehende aufgrund der vorgeschriebenen Maximalgröße der Wohnung zum Umzug gezwungen sind, ändert sich sehr viel mehr als nur der Ort der vier Wände.20 Wenn ich eine armutsbetroffene Familie zwinge, ein Familienerbstück zu versetzen, verliert sie sehr viel mehr als ein Objekt. Oder wie Daniel Miller es ausgedrückt hat  : Menschen haben Beziehungen zu Dingen. »Diese Beziehungen bilden materielle und soziale Muster, die dem Leben des einzelnen Ordnung, Sinn und in der Regel auch ethische Maßstäbe geben und ihm darüberhinaus ein Trost und eine Zuflucht sind«.21 Das bedeutet auch, dass das »Geben von Dingen« als Teilaspekt von Unterstützung darauf zu achten hat, Dinge in einer Weise zu vermitteln, die es möglich machen, eine Beziehung zu den Dingen aufzubauen. RD 3.3 Dinge sind wichtig  ; sie sind gewissermaßen Ausdruck eines »Gesprächs über die eigene Identität«, sozusagen Ausdruck eines Selbstgesprächs. Dinge drücken Botschaften aus wie »Das bin ich«, »das fühle ich«, »hier gehöre ich dazu«, »das will ich sein«, »das tue ich«. »Die Persönlichkeit eines Menschen hinterlässt Spuren in der materiellen Welt, ob man das will oder nicht.«22 Durch eine Lebensgemeinschaft entsteht auch eine Besitzgemeinschaft, die im Fall der Trennung zu mühsamen Diskussionen über den Wert von Dingen führt. Auch im Falle eines Umzugs in ein Altersheim ist der Verlust von Dingen eine schmerzhafte Erfahrung.23 Den Symbolwert der Dinge hat der englische Anthropologe Daniel Miller untersucht – Miller hat die je subjektive Bedeutung von Gegenständen in Wohnungen einer Straße im Süden Londons untersucht. Dinge sind keine toten Objekte oder bloße Requisiten, sondern prägen das Handeln von Menschen und werden von den Geschichten der Menschen »beseelt«. Sie haben eine identitätsstiftende Bedeutung, weisen über sich hinaus  ; anders gesagt  : Dinge sind mehr als »Dinge«  ; sie haben mit Identitäten zu tun. Daniel Miller beschreibt etwa die Bedeutung einer Briefmarkensammlung, hinter der eine Lebensgeschichte steht  ; ähnlich bedeutungsvoll ist Christbaumschmuck, der im Laufe einer Familiengeschichte aus verschiedenen Quellen zusammengetragen wurde, auch das Verschmelzen von wenigstens zwei Familientraditionen im Fall einer Lebenspartnerschaft sein kann.24 Fotografien, Bilder an den Wänden, Dekorationsgegenstände, Tätowierungen – sie alle weisen auf Identität hin. Die »Ordnung der Dinge« bildet sich im Laufe der Jahre in einem Haushalt heraus.25 Dinge sind ebenso Teil der Welt wie andere Menschen  ; die Fähigkeit, Beziehungen zu Dingen aufbauen zu können, ist nicht vollständig verschieden 92

Dritter Teil  : Innenseiten

von der Fähigkeit, Beziehungen zu Menschen aufbauen zu können. Wallendorf und Arnould haben in einer interkulturellen Studie und einem Vergleich von Niger und den US A herausgearbeitet, dass diejenigen, die viele Lieblingsdinge nennen konnten, auch viele und bedeutsame soziale Kontakte pflegten.26 Es gibt viele Gründe, warum Menschen etwas oder auch etwas Bestimmtes besitzen.27 Dinge können auch Geborgenheit vermitteln  ; der von Annette Schäfer interviewte Robert Wiezorek hat nach einer Baukatastrophe, bei dem ein Haus zusammengebrochen war, seine ganze Wohnung mit allen geliebten Dingen verloren  : »Mir kam es vor, als wäre mir mein Nest, meine Schutzhülle weggezogen. Ich fühlte mich verletzbar, irgendwie nackt … Es kam mir vor, als würde mit diesen Dingen auch ein Teil meiner Person untergehen.«28 Ein einzelner Feuerwehrmann durfte das einsturzgefährdete Haus noch einmal betreten  ; Wiezorek hatte eine Stunde Zeit, eine Liste mit zu bergenden Gegenständen (im Umfang von zwei Einkaufswagen) zu erstellen  ; hier sind Aussagen über Identität zu machen. Wenn man materielle Anhaltspunkte verliert, verliert man auch Verankerungen für Identität. Ein Mensch kann sich anhand von Dingen seiner Identität vergewissern  ; er kann seine Identität ausdrücken  ; er kann mithilfe der Dinge auch Identität konstituieren. Russell Belk hat in verschiedenen Beiträgen gezeigt, dass Dinge im Sinne einer »extended Self-Theorie Ausdruck der menschlichen Identität sind.29 Die Dinge, die wir unser eigen nennen, sind eine Erweiterung unseres Selbst. Damit wird ein Gedanke ausgedrückt, den wir etwa in philosophischen Theorien über die Liebe finden (einen Menschen zu lieben, bedeutet, die Grenzen des Selbst auszuweiten und etwas oder jemanden als zu sich gehörig zu zählen)  : Jemand kann die Grenzen dessen, was sie oder er als zu sich gehörig ansieht, als »ich selbst«, ausweiten. Dinge werden zu »meinen Dingen« in einem Prozess der »self-extension«. Aus diesem Grund kaufen Menschen auch Dinge einer bestimmten »Marke«, weil es eben nicht nur um das Gut in seiner Funktionalität geht – ein namenloses Produkt kann die gewünschten technischen Funktionen ebenso erfüllen  ; es kommt bei einem Markenprodukt eben noch etwas anderes hinzu, etwas, was mit meiner Identität zu tun hat. Dinge bekommen eine besondere Bedeutung. Wenn man etwas verpfänden muss, bedeutet dies in vielen Fällen, dass man sich von lieben Dingen lösen muss. Wir können uns in diesem Zusammenhang auch fragen  : Warum berühren uns die Haare, Goldzähne von Auschwitz so stark  ? Es handelt sich um Gegenstände, die in unmittelbarem Bezug zu Menschen und deren Identität stehen. Susan Spencer Wendel berichtet von der Bedeutung von Make-up für ihr Leben und von ihrer Entscheidung, sich im Zuge ihrer fortschreitenden Muskelatrophie permanentes Make-up machen Die Innenseite der materiellen Welt  : die Bedeutung von Dingen

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zu lassen.30 Auch hier stehen Dinge für Aussagen und Vergewisserungen über die eigene Identität. Gerade auch bei Menschen, die in ärmlichen Verhältnissen leben müssen, zeigt sich eine Innenseite der Dinge, die Bedeutung, die Gegenstände haben können.31 Natürlich sind Haustiere keine »Dinge«. Es ist aber dennoch in Bezug auf die These nach der identitätsstiftenden Bedeutung von Entitäten aufschlussreich, dass Belk in Tiefeninterviews mit Haustierbesitzer/inne/n Metaphern identifiziert hat, die die Bedeutung von Haustieren aufzeigen – das Haustier als »pleasure«, »problem«, »part of self«, »member of the family«, »toy«.32 Mihaly Csikszentmihalyi und Eugene Rochberg-Halton verfolgten in einer Studie über die Bedeutung von Dingen die Tiefendimension von Dingen, die Ziele verkörpern und die Identität der Benützer/innen und Besitzer/innen deutlich machen.33 Dinge sind entscheidende Faktoren, die Umgebung symbolisch zu gestalten, mit Bedeutungen aufzuladen. Sie haben eine Innenseite, die sich aus der identitätsvergewissernden Funktion von Dingen ergibt  ; Dinge werden damit zu Symbolen, bei denen »etwas« für »etwas anderes« steht. Auf diese Weise verbindet sich tangible Infrastruktur mit intangibler Infrastruktur. Gabriel Marcel hat dem Haben eine philosophische Betrachtung gewidmet.34 Dem Haben haftet nach dieser Analyse ein doppelter Makel an  : Unreinheit und Unklarheit, denn Haben ist in den Dunstkreis der »Macht« geraten. Demgegenüber gibt es aber auch ein geistiges Haben (»eine Vorstellung von etwas haben«), wobei Haben in der Regel der Körperlichkeit zugeordnet ist – die Tatsache, ­einen Körper zu haben, ist Urbild und Wurzel von Haben überhaupt. Alles Haben definiert sich von meinem Körper her. Die angesprochene Tiefenbedeutung von Körper als »Leib« beschäftigt Marcel auch insofern, als er die Körperlichkeit als Grenzbereich zwischen Haben und Sein ansieht  ; was ich habe, fügte sich meinem Ich hinzu, Haben ist also identitätsstiftend. Das bedeutet auch, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, erhebliche Nachteile zu gewärtigen haben. Das gilt auch für den Umgang mit dem eigenen Körper  : Der eigene Gesundheitsbegriff sagt viel über die Beziehung zum Körper aus. Johannes Bircher hat Gesundheit als dynamischen Zustand des Wohlbefindens beschrieben, der durch ein Potenzial gekennzeichnet wäre, das die dem persönlichen und kulturellen Kontext entsprechenden Lebensanforderungen erfüllen lässt.35 Hier tritt uns der Gesundheitsbegriff als kontextgebunden und dynamisch entgegen, wobei auch die je persönliche Situation eines Individuums zu berücksichtigen ist  ; gewissermaßen zeigt sich hier eine »Innendimension« des Körperlichen. Martin Kämpchen bemerkt, dass die Armen in den indischen Dörfern, die er seit 40 Jahren kennt, kein vernünftiges Verhältnis zum eigenen Körper haben.36 Die Frage 94

Dritter Teil  : Innenseiten

nach »health literacy« im Sinne der Fähigkeit, kompetent mit Fragen der Gesundheitsvorsorge und -versorgung umzugehen, ist eine Schlüsselfrage für Armutssituationen, da Gesundheit den Genuss und die Nutzung anderer Güter erst ermöglicht und in diesem Sinne als »transzendentales Gut« angesehen werden kann. Das Verhältnis zum Körper ist auch deswegen für die Armutsforschung zentral, weil Standardisierungen von Schönheitsidealen neue Eintrittsstellen für Exklusion in einer Gesellschaft mit sich bringen und die Möglichkeiten kosmetischer Chirurgie neuen Druck ausüben können. Hier zeigt sich auch, dass das Verhältnis zum eigenen Körper, wie es ja auch das Beispiel Susan Spencer-Wendels gezeigt hat, von sozialen Faktoren abhängig ist. Gesundheit und Schönheit werden mehr und mehr als »Kapital« angesehen – sogar in der biblischen Tradition, um ein Beispiel zu nennen, wurden Zähne Insignien von Schönheit und Macht.37 Wenn man Körperlichkeit von der Innenseite her sieht, kann man Gesundheit als »Ressource zweiter Ordnung« verstehen, als die Fähigkeit, bestmöglich mit der jeweiligen körperlichen Ausstattung und deren Grenzen umzugehen. Armutsbekämpfung hat demnach nicht nur mit Fragen der körperlichen Gesundheit, sondern auch mit Fragen der Einstellung zum Körper zu tun.

Die Innenseite des Politischen 3.5 Auch Ereignisse haben eine Innenseite. Die Frage nach der Innenseite von historischen, auch politischen Ereignissen lässt die Frage nach der Symbolhaftigkeit von Ereignissen stellen. Was sagen uns Ereignisse über die moralische Struktur, über die »Innerlichkeit« der involvierten Handelnden  ? Was sagen uns Ereignisse über die moralische Verfasstheit, den Charakter, die Struktur von Wünschen, die Werteordnung der handelnden Personen  ? Damit ist eine zweite Frage verbunden – welche Gründe aufseiten der Handelnden im Sinne einer »agent-causality« sind bei einem Ereignis beteiligt  ? Der Begriff der »Agentcausality« lässt Gründe für das Handeln im Handelnden suchen – manche Ereignisse, so die These, sind nicht von anderen Ereignissen versursacht, sondern von intentional Handelnden. Die Innenseite von Ereignissen lässt also die Fragen nach inneren handlungsleitenden Strukturen und Gründen für das Handeln stellen. Eine Innensicht von Ereignissen lässt ein Ereignis als »Sprache« sehen, in der Überzeugungen der Handelnden und auch deren Moralstrukturen zum Ausdruck kommen. Von besonderem Interesse für den Kontext dieses Buches sind politische Ereignisse. Die Innenseite des Politischen

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3.6 Die Innenseite des Politischen betrifft Ressourcen zweiter Ordnung. Sie zeigen sich in zwei Dimensionen  : zum einen in der politischen Bedeutung »des Inneren« von Politikschaffenden, von Machthabenden und Machtgestaltenden  ; zum anderen in den Auswirkungen von Politik auf das Innere von Menschen, auf die episthetische Situation von Bürgerinnen und Bürgern. Wir könnten Erstere »politisches Ethos« und Zweitere »Innerlichkeitspolitik« (oder »episthetische Politik«) nennen. »Politisches Ethos« oder auch »Ethos von Politikerinnen und Politikern« bezieht sich auf die »Strukturen der Innerlichkeit«, gerade auch auf die moralischen Gerüste, von denen sich Politikerinnen und Politiker leiten lassen. Das politische Ethos bezieht sich auf die reflektierte Gestaltung der episthetischen Situation von Politikschaffenden. »Innerlichkeitspolitik« bezieht sich auf eine Form der Politikgestaltung, die Fragen nach Zugang zu Identitätsressourcen und Integrität zum politischen Thema macht. Die beiden angeführten Aspekte der Innendimension von Politik machen auf die Bedeutung von »inneren Gütern« für die Politikgestaltung aufmerksam. Diese Fragen führen in die Mitte der heiklen Diskussion um das »Telos« der Politik. Wozu soll Politik dienen  ? Was ist das Ziel politischer Arbeit  ? Ich möchte einen Vorschlag machen  : Ein wichtiges telos der Politik ist die Ermöglichung von Integrität. 3.7 Ich möchte Politik, die das Innere von Menschen berücksichtigt und sich um Integrität und die Möglichkeit von Integrität als politische Ziele bemüht, »tiefe Politik« nennen. Tiefe Politik ist eine Form der Politik, die Wahrheit und Sinn berücksichtigt. Tiefe Politik weiß sich der Idee verpflichtet, ernsthaften Fragen nach Wahrheit und dem guten Leben nicht ausweichen zu können. Tiefe Politik kultiviert Innerlichkeit in dreierlei Hinsicht  : Erstens aufseiten der politischen Verantwortungsträger, die aus einer Innenwelt von tiefen Überzeugungen und Fragen Politik gestalten und eine Kultur der Selbstreflexion pflegen, die das Gespräch fördert  ; zweitens als politisches Thema, das sich mit »intangibler Infrastruktur« beschäftigt, also mit den Wissens- und Wertegrundlagen eines Gemeinwesens  ; und drittens im Sinne eines politisch unterstützten Zugangs zu Innerlichkeit, der es den Mitgliedern des Gemeinwesens ermöglichen soll, innere Identitätsressourcen zu erschließen. Tiefe Politik ist entscheidend, will man Armut als Deprivation von Identitätsressourcen bekämpfen. E 3.2 Ereignisse verraten viel über die epistemische und moralische Situation der Beteiligten. Das Flugunglück vom 27. März 1977 in Teneriffa hatte viel mit der Persönlichkeitsstruktur des zuständigen Kapitäns Jacob van Zanten zu tun. 96

Dritter Teil  : Innenseiten

Als am 11. Mai 1996 acht Bergsteiger auf dem Mount Everest ums Leben kamen, waren Faktoren wie Selbstüberschätzung, Erwartungsdruck und »Effekt der versenkten Kosten« am Werk.38 Am 16. März 1968 haben 120 amerikanische Infanteriesoldaten unter dem Kommando von Ernest Medina in vier Stunden fünfhundert Bewohnerinnen und Bewohner eines vietnamesischen Dorfes hingeschlachtet, im Blutrausch und mit unbeschreiblicher Grausamkeit. Jonathan Glover charakterisiert das Massaker von My Lai in moralphilosophischer Absicht mit folgenden Stichwörtern  : fehlender moralischer Bezugsrahmen, Verlust eines Sinnes von Normalität, Konformität und Gruppendruck, moralische Kluft zwischen »Innen« und »Außen«, Erosion moralischer Ressourcen mit einem Verlust von Empathie und einer Aushöhlung des Charakters mit seinen moralischen Bindungen.39 Der Blick auf die episthetische Situation der Beteiligten erlaubt eine »Tiefensicht« von Ereignissen. E 3.3 Diese Analyse kann auch in einem Makrokontext angestellt werden  : Den Zusammenhang zwischen individualethischem Spielraum und volkswirtschaftlichem Makrokontext hatte seinerzeit Gunnar Myrdal in seinen Studien Auswirkungen der Korruption auf die Dritte Welt untersucht40 und dabei vor allem zwei Faktoren genannt  : a) gewohnheitsmäßige Korruption bereitet autoritären Regimen den Weg  ; b) »Folklore der Korruption«  : Übertriebene Vorstellung von Korruption »der Höheren« löst beim Volk Fatalismus und Resignation aus. Myrdal wies nach, dass in skandinavischen Ländern die Korruption durch »good governance« abgebaut wurde – durch eine Besoldungsreform und Festigung der Moralauffassungen von höheren Beamten. Soziale Rahmenbedingungen verändern, so könnten wir sagen, den moralischen Spielraum und schaffen die (integritätsrelevante) Möglichkeit, nach wohlbegründeten moralischen Standards zu handeln. In den 1940er-Jahren hatte Myrdal ein ähnliches Projekt, das den Zusammenhang zwischen episthetischer Situation von Individuen und den politischen Makrobedingungen analysierte, realisiert.41 Mrydal spricht von einem unterdrückten moralischen Konflikt (A A D lxx), von einer Situation, die beschämend ist, moralisches Unbehagen hervorruft, mit individuellem und kollektivem Schuldgefühl verbunden ist und von manchen als Bedrohung wahrgenommen wird (A A D lxix). Das Dilemma, das Myrdal ortet, entsteht als ein Konflikt zwischen den amerikanischen Werten, wie sie nach außen vertreten werden und der Situation einer signifikanten Bevölkerungsgruppe. Das Bekenntnis zu »fairer Verteilung von Chancen« (Chancengleichheit  : A A D 214) und »Freiheit individueller Anstrengung« (A A D 210) wird durch die Realität der südlichen U S A Die Innenseite des Politischen

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Lügen gestraft, eine Realität, die hohe Arbeitslosigkeitsrisiken aufseiten der Afroamerikaner/innen zeigt, eine Perpetuierung des Gefälles und der Bedingungen, eine Modernisierung auf Kosten der Armen, denn der technische Fortschritt ersetzt systematisch einen »schwarzen Job« durch einen »weißen Job«. Gleichzeitig spiele die afroamerikanische Bevölkerung eine wichtige Rolle in der Statuskonstruktion von weißen Amerikaner/inne/n (A A D 593).42 Wir haben es nach Myrdal mit einem sozialen Problem zu tun, das von einer unleugbaren moralischen Natur (A A D lxxi) und emotional aufgeladen ist (A A D 1035). Es handelt sich um eine moralische Herausforderung, die mit der gesamten Struktur der amerikanischen Gesellschaft zusammenhängt und entsprechend nicht isoliert werden könne (A A D lxxvii). Myrdal spricht Grundeinstellungen an und sieht das Hauptproblem in der Einstellung der Weißen (A A D 43). Myrdal weist auch darauf hin, dass eine systematisch verharmlosende Sprache bemüht ist, das Problem wegzuwischen.43 An dieser Analyse zeigt sich, dass politische Rahmenbedingungen, sprachliche Einrichtungen und die episthetische Situation miteinander verwoben sind, was einen Blick auf die Tiefendimensionen des Politischen als fruchtbar ausweist. Der Konnex zwischen Makrostruktur und Innerlichkeit kann auch anhand der Frage »Was bedeuten politische Entscheidungen für das Innere von Menschen, für deren episthetische Situation  ?« behandelt werden – ein immer noch nachwirkendes Beispiel aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist der Vietnamkrieg, der tiefe Wunden in das Innere von vietnamesischen und amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern geschlagen hat. In dem 1971 erschienenen Aufsatz »Lying and Politics«, in dem sie mit der Vietnampolitik der US A abrechnet, spricht Hannah Arendt von der »Glaubwürdigkeitslücke«44 und tatsächlich hat der Vietnamkrieg eine Vertrauenskrise in die amerikanische Politik gebracht, die sich bis zu den Golfkriegen gezeigt haben dürfte.45 Hier zeigt sich im Sinne einer Analyse der Folgen politischer Ereignisse für die episthetische Situation von Individuen gewissermaßen eine hermeneutische Spirale  : Die in bestimmten Rahmenbedingungen verortete episthetische Situation von Machthabern führt zu Entscheidungen, die Ereignisse nach sich ziehen, die wiederum die episthetische Situation von Individuen verändern, was wiederum Auswirkungen auf die Rahmenbedingungen hat. Für die Armutsbekämpfung sind diese Aspekte im Sinne der angesprochenen Innenseite der Gerechtigkeit auch strukturell relevant. E 3.4 Die Innenseite des Politischen zeigt sich eingedenk der eben angesprochenen hermeneutischen Spirale gerade auch in der episthetischen Situation von politischen Machthabenden. Dazu ein Beispiel  : Die Innendimension historischer 98

Dritter Teil  : Innenseiten

Ereignisse zeigt sich auf ebenso deutliche wie erschütternde Weise in Napoleons Russlandfeldzug von 1812 – die Grundlage für diese desaströse Operation ist »im Inneren Napoleons« zu suchen. Machtgier, die Überzeugung, vom Schicksal auserwählt zu sein, utopischer Ehrgeiz46 haben bei der Entscheidung für den politisch wie militärisch unsinnigen Krieg ebenso mitgespielt wie das Ringen um Ruf und Reputation. Napoleon war zum einen davon überzeugt, dass allein sein Name in seiner Abwesenheit von Paris mögliche Angreifer fernhalten würde, zum anderen war er von der Gier nach militärischen Erfolgen durchdrungen, um seine Reputation zu befestigen.47 Und auf der Grundlage dieser Entscheidung wurden die Identitäten von Hunderttausenden Menschen beschädigt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieses Unternehmen auf die seelische Gesundheit von Millionen Menschen Auswirkungen hatte. Die Soldatenberichte sind erschütternd. »Was ich seit vierzehn Tagen für Elend gesehen, ist unbeschreiblich«, schreibt Albrecht Adam, ein Zeichner, der dem 4. Armeekorps zugeordnet war, am 11. Juli (als die großen Leiden noch bevorstanden  !) an seine Frau. »Die meisten Häuser stehen leer und sind ohne Dach. Man hat in den Gegenden, welche wir durchzogen, meistens Strohdächer, und dieses alte Stroh diente den Pferden zur Nahrung. Die Wohnungen sind ruiniert oder ausgeplündert, die Bewohner entflohen oder sind so arm, daß sie sich kaum vor dem Hungertod retten könnten  ; viel mehr lassen ihnen die Soldaten nicht. Alle Straßen liegen voll toter Pferde, welche bei der jetzt eingetretenen Hitze weithin einen fürchterlichen Geruch verbreiten … Das ist ein abscheulicher Krieg.«48 Es ist erschreckend zu sehen, dass Napoleon auf Sankt Helena zum Schluss kam  : »Alexander und ich, wir waren beide wie zwei Maulhelden, die zwar keine Lust haben, sich zu schlagen, aber sich gegenseitig erschrecken wollten.«49 Um es noch einmal klar zu sagen  : Unreife, Größenwahn und moralische Erosion haben zum elenden Tod von Hunderttausenden Menschen geführt. E 3.5 Ein dramatisches Ereignis, das die Innenseite des Politischen offenbart, ist die Hungerkatastrophe in China  : Zwischen 1958 und 1962 verhungerten Millionen Menschen. Yang Jisheng und Frank Dikötter haben die Dynamik dieser Ereignisse analysiert.50 Mao zwang das Land in den »großen Sprung vorwärts« weil er vollmundig verkündet hatte, dass China Großbritannien in den nächsten fünfzehn Jahren überholen würde – eine Aussage, die Mao gemacht hatte, nachdem Khrushchev angekündigt hatte, dass die Sowjetunion die US A überholen würden. Mao verlangte entschiedenen Enthusiasmus und aufopferungsvolle Hingabe in der Verfolgung dieses prestigereichen Ziels.51 Das Gut, das er anstreDie Innenseite des Politischen

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ben ließ, war das immaterielle Gut der Reputation, des symbolischen Kapitals, des sozialen Status – im Vergleich mit relevanten »players«. Mao übte Druck auf den Kader aus, der wiederum Druck auf die Provinzen ausübte. Ein Klima der Megalomanie machte sich breit, mit immensen Bewässerungsprojekten, die unter enormem Aufwand Flüsse umleiten sollten. Gleichzeitig waren Politiken der öffentlichen Beschämung und eine um sich greifende Kultur des Misstrauens an der Tagesordnung – Letztere führte zu Hausdurchsuchungen, Misshandlungen und die konsequente Zerstörung von Familiengütern und Privateigentum. Ungelernte und unterernährte Bauern wurden von der Landwirtschaft abgezogen und auf den gigantomanischen Großbaustellen eingeteilt. Neben den Bauprojekten wurden die Bauern auch für die Zwecke der Schwerindustrie eingesetzt, was die landwirtschaftlichen Erträge bei gleichzeitig steigendem Erwartungsdruck weiter verringerte. Weiters wurden landwirtschaftliches Gerät und andere Utensilien zum Antrieb der Schwerindustrie den Schmelzöfen geopfert, sodass es in vielen Haushalten nicht einmal mehr Töpfe zum Kochen gab. Die Menschen wurden gezwungen, in zentralen Gemeinschaftskantinen zu essen, was zu einer weiteren Verschwendung von Ressourcen führte. Durch die Lebensmittelknappheit entstand ein nicht kontrollierbarer Schwarzmarkt, der vor allem die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft wie ältere Menschen, Kranke und Kinder ausschloss. Dass Kannibalismus nicht nur ein Einzelphänomen war, kann als belegt gelten. Mit der Knappheit und den verschärften Bedingungen, ja Überlebenskämpfen griff Korruption in großem Stil um sich  ; sie sickerte in alle Poren des Landes, nicht zuletzt auch begünstigt durch die Zentralisierung der Macht und die damit verbundene Bürokratie. Der große Sprung vorwärts brachte eine wuchernde Bürokratie und Planpolitik mit sich mit vielen Beamtinnen und Beamten, die ihren persönlichen Vorteil zu schützen suchten. In den Provinzen entstanden kompetitive Planorgien – »every local dictator, it seemed, wanted to have his ten pet projects in slavish imitation of the capital«.52 Mao sollte mit besonderen Projekten beeindruckt werden, wie dies auch in Peking geschah. Zwischen den Provinzen brach ein Wettkampf aus, wer die schönsten Villen für Mao errichten konnte. Die Provinzen sahen sich gezwungen, aufgrund des Erwartungsdrucks irrationale Ernteprognosen zu machen, was wiederum zu einer Kultur der Täuschung führte, mit einer sorgfältig geplanten Verteilung von Falschinformationen. Aufgrund politischen Drucks mussten immer höhere Erträge gemeldet werden, jede Schätzung lag höher als die vorige und diese falschen Zahlen wurden zur Grundlage weiterer ehrgeiziger Ertragsziele verwendet. In einer extrem aufgeladenen politischen Atmosphäre traute sich niemand zu zweifeln. Unter dem unmöglich 100

Dritter Teil  : Innenseiten

zu erfüllenden Erwartungsdruck wurde zusammengerafft, darunter Nahrungsmittelrationen und das Saatgut für das kommende Jahr. Gleichzeitig unternahm Mao Anstrengungen, dem Gläubiger Sowjetunion die Schulden vorschnell zurückzuzahlen. So wurde auch Getreide exportiert, obwohl die Menschen im Land verhungerten. Warum  : Weil es niemand wagte, die Wahrheit zu sagen. Diese Hungerkatastrophe entstand in friedlichen Zeiten, in einem Jahr ohne Missernten oder Seuchen. Sie entstand durch die Gier nach Prestige, die sich von der Spitze der Regierung bis in die kleinsten Dörfer durchsetzte  ; je weiter unten diese »avaritia« reiste, desto stärker wurde sie mit Überlebensängsten verbunden. Wer das Spiel nicht mitspielte, bezahlte mit dem Leben. Die staatlichen Kontrollmöglichkeiten, die bis ins letzte Bergdorf vorgedrungen waren, verschärften das Klima von Angst und Misstrauen. Gier und Angst können also als die Leitmechanismen der chinesischen Hungerkatastrophe ausgewiesen werden. Die Dynamik der chinesischen Hungerkatastrophe hat erschreckend viel mit dem Märchen »Des Kaisers neue Kleider« zu tun. In einem Klima von Misstrauen und Angst tat die Verwaltung auf allen Ebenen ihr Möglichstes, um Nachrichten über den Hunger nicht nach draußen dringen zu lassen. Ein System von Täuschung, Selbsttäuschung, Lüge und Vertuschung wurde etabliert. Die Kosten für Wahrheit und moralischen Widerstand waren hoch  : Wer die Wahrheit sagte, musste damit rechnen, umgebracht zu werden. Mao war der Ansicht, dass Probleme mit einer feudalistischen Gesinnung und mangelndem Revolutionsgeist erklärt werden konnten. Auch Mao legte seinem Urteil also (ironischerweise) eine wie auch immer verzerrte »Innensicht der Ereignisse« zugrunde. Eine »innere Lesart« der chinesischen Hungerkatastrophe 1958–1962 wird auf die durch eine »Gier nach Prestige« ausgelöste Dynamik zu sprechen kommen. Wenn ein unreifes Kind ungehinderten Zugang zu Süßigkeiten hat, wird es sich nicht selbst Grenzen auferlegen können  ; es wird essen bis zum Erbrechen. Wenn ein unreifer Mensch von peers unter Druck gesetzt wird, weil sie einen fest etablierten Standard geschaffen haben, den er zwar nicht gut heißt, aber dem er sich nicht entziehen kann, wird er sich dem Druck um des Status willen beugen. RD 3.4 Politik, die die episthetische Situation des Menschen ernst nimmt, wurde als tiefe Politik bezeichnet. »Tiefe Politik« ist im Sinne Bubers eine Form des Politischen, die die Ausübung von Macht dem Geist unterstellt.53 Ein Beispiel für selbst reflektierte politische Arbeit finden wir bei Václav Havel, dem letzten Staatsoberhaupt der Tschechoslowakei und dem ersten Präsidenten der Tschechischen Republik. Politiker von diesem Ethos, die auch unter persönlichen OpDie Innenseite des Politischen

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fern dem Ganzen der Öffentlichkeit zu dienen bereit sind, sind rar geworden. Havel hat sich in seinem politischen Leben, bereits als »Dissident«, um ein mit Kosten und persönlichen Einschränkungen verbundenes Ethos bemüht, das seinen Brennpunkt in Havels Verständnis von »Leben in der Wahrheit« hat. In der Wahrheit zu leben bedeutet, einer authentischen menschlichen Existenz gerecht zu werden, die von Verantwortungssinn und wachem Gewissen gekennzeichnet ist. Gewissen stellt nach Havel eine reale politische Kraft dar. 54 »In der Wahrheit« zu leben bedeutet, sich stets der ständigen Verantwortung bewusst zu sein, die ein Mensch trägt.55 Diese Verantwortung bildet die Grundlage und den Kern unserer sozialen Existenz, unserer Existenz als soziale Lebewesen, die auf Gemeinwesen und damit auf die Gestaltung dieses Gemeinwesens durch die Politik angewiesen sind. Verantwortung ist Grundlage für Identität, ist Schwerpunkt, Bauprinzip, Achse, Kitt.56 Oder noch deutlicher – in einem Brief aus dem Gefängnis an Ehefrau Olga gesagt  : »Verantwortung ist das Messer, mit dem wir unseren uneinholbaren Umriß in das Panorama des Seins einschneiden.«57 Es ist Teil dieser Verantwortung, bereit zu sein, das Leben für den Sinn, den es gefunden hat, zu opfern.58 Diese Rede vom – nie verordbaren und stets nur freiwillig zu gebenden und in der Macht des einzelnen liegenden – Opfer deutet die Bereitschaft an, einen Preis für das als wertvoll, als »bonum« Erkannte zu zahlen. Václav Havel hat sich seinerzeit explizit Gedanken über das »Wohin« des Gemeinwesens gemacht – in seinen »Sommermeditationen« entwirft Havel eine solche Vision für die Zukunft der Tschechischen Republik59, in einer Rede in der parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 10. Mai 1990 in Straßburg artikuliert Havel die Notwendigkeit, »das Unmögliche zu träumen.«60 Grundlage der Souveränität von Gemeinschaftsgebilden ist die Selbstbestimmung des Einzelnen, von innen wie von außen her  : »Die Souveränität der Gemeinde, der Region, des Volkes, des Staates, jegliche höhere Souveränität hat nur dann Sinn, wenn sie von der in der Tat einzigen originalen Souveränität abgeleitet ist, nämlich von der Souveränität des Menschen, die ihren politischen Ausdruck in der Souveränität des Bürgers findet.«61 Hier entsteht »tiefe Politik«. Grundlage tiefer Politik ist der einzelne Mensch und Grundlage des Menschseins ist seine Innerlichkeit. Ein anderes Beispiel für tiefe Politik kann im schwedischen Politiker und UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld gefunden werden  ; er ist ein berühmtes Beispiel eines um »Ethos« bemühten Politikers, der sich in seiner politischen Arbeit immer wieder auf die Bedeutung der Selbstreflexion und auf das Ringen um ein geordnetes Inneres bezogen hat. Hammarskjölds Tagebuch ist Zeugnis 102

Dritter Teil  : Innenseiten

dieser konsequenten Arbeit an sich selbst.62 Es ist Zeugnis dafür, dass hier ein Mann mit Macht und Verantwortung ein intensives Innenleben entfaltet, dieses Innenleben als Fundament des äußeren Engagements ansieht und um Reife und Wachstum bemüht ist. Hammarskjöld hat sein Leben in Verbundenheit mit der Existenzphilosophie so verstanden, dass es im Leben darum ginge, das eigene Selbst zu finden und zu wählen – »In jedem Augenblick wählst du dein Selbst« (DH Z 51). Der eigenen Berufung zu folgen verlangt auch, alles abzuwerfen, was diesem Weg entgegensteht (DH Z 88), sodass die Selbstwahl verbunden ist mit Selbsterkenntnis und Selbstdisziplin. In bestimmten schwer wiegenden Entscheidungen, wie sie die politische Arbeit immer wieder abverlangt, zeigt sich der ganze Mensch, der ganze Mensch wird gefordert. »Bei einem bedeutenden Entschluss spielt unser ganzes Wesen mit, seine Niedertracht wie seine Güte« (D H Z 87). Freiheit und Verantwortung, die auch wahrgenommen wird, bringen das Ganze des Selbst ins Spiel, lediglich im bürokratischen Spiel oder in reaktiver und kurzfristiger Tagespolitik kann man sich verstecken  : »Verkleidet ist das Ich, das nur aus gleichgültigen Urteilen, sinnlosen Anschauungen und protokollierten ›Leistungen‹ geschaffen ist. Eingeschnürt in die Zwangsjacke des Naheliegenden« (DH Z 155). Hammarskjöld verwendet an einer Stelle das vielsagende Bild eines ausgeblasenen Eis, das zwar wunderbar schwimmen kann, aber innerlich leer ist (DH Z 66). Entsprechend ringt Hammarskjöld um Selbsterkenntnis und einen schonungslosen Blick in sich  : Ähnlich wie in den Confessiones des Augustinus finden wir in den Notizen Hammarskjölds das Motiv des Erschauderns vor dem eigenen Inneren und das Mühen um Durchdringung des eigenen Wesens. »Welche Ströme von Ehrgeiz durchfließen mein Streben als Mensch  ?« (DH Z 98). Wir finden auch die Idee der Innerlichkeit und den Aufbau von Innerlichkeit als Schlüssel zu gelingender Existenz  : »Lass dem Inneren den Vorrang vor dem Äußeren, der Seele vor der Welt« (D H Z 99). Selbsterkenntnis als anspruchsvolle Aufgabe wird ihm zur selbst auferlegten Pflicht  : »Es ist wichtiger, die eigenen Beweggründe zu erkennen, als die Motive des anderen zu verstehen« (DH Z 123). Aufmerksamkeit nach innen ist Grundlage für Aufmerksamkeit nach außen – »je treulicher du nach innen lauschst, umso besser wirst du hören, was um dich ertönt« (DH Z 46). Entsprechend gilt der Satz, niedergeschrieben im Jahr 1950  : »Die längste Reise ist die Reise nach innen« (DH Z 81). Diese Reise ist Grundlage für die rechte Ausübung von Macht, die nach Hammarskjölds Einsicht »seelische Selbstzucht« (DH Z 79) verlangt. Das bedeutet vor allem, jene Regungen und Bewegungen unter Kontrolle zu bringen, die von der Integrität abhalten. Hammarskjöld hat Selbstbewunderung als Gefahr Die Innenseite des Politischen

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und Nemesis erkannt (DH Z 44), die Gefallsucht thematisiert (DH Z 125) und an anderer Stelle von »dickhäutigem Selbstgefallen« (DH Z 82) geschrieben. Gerade ein Leben mit den Privilegien, die Macht und Status mit sich bringen, birgt die Gefahr, dass Selbstgefälligkeit sprießen kann. Der hochbegabte und schon früh mit großer Verantwortung betraute Dag Hammarskjöld war sich der Gefahren von Selbstgefälligkeit (gar  : Selbstbewunderung) wohl bewusst. Er verwendet an einer Stelle das Bild des Gartens, der rein von Unkraut zu halten sei. Die Grenzen dieses Gartens sind durch die eigenen Fähigkeiten abgesteckt, der Gefahr der Selbstgerechtigkeit ist entsprechend zu begegnen (DH Z 47), konsequent ist hier zu arbeiten  : »Wer seinen Garten rein halten will, darf keinen Fleck dem Unkraut überlassen« (DH Z 48). Das hat auch mit jener Selbstvergessenheit zu tun, die aus der »Reinheit von Halbheiten« (vgl. DZ 120) herrührt. Sehr tief lässt folgendes Bild blicken, das uns wieder an das Motiv der Selbstbewunderung erinnert  : »Ein Märchen berichtet  : von einer Krone, so schwer, dass nur der sie tragen vermochte, der in völliger Vergessenheit ihres Glanzes lebte« (DH Z 86). Die Ämter, die Hammarskjöld bekleidete, erinnern an die Krone, vor allem auch das spätere Amt des UN-Generalsekretärs, wobei besagter Eintrag aus dem Jahr 1951 stammt. Der Gefahr der Selbsttäuschung kann man dadurch vorbeugen, dass man nicht das Amt, sondern die Aufgaben, nicht die Ehre, sondern den Dienst in die Mitte stellt.63 Hier werden Konturen eines politischen Ethos deutlich. Hier zeigt sich ein das politische Geschehen gestaltender Mann, der die zitierten Worte Sedláčeks »Die wilden Dinge sind in uns« ernst nimmt und um Integrität ringt. E 3.6 Ein Beispiel für ein Land, das zumindest offiziell – der Alltag mag anders aussehen – eine Politik verfolgt, die sich dem Inneren des Menschen verpflichtet weiß, ist der kleine Himalayastaat Bhutan. Bhutan verfolgt eine Politik, die im Unterschied zu einer Konzentration auf das Bruttonationalprodukt das »Bruttonationalglück« in die Mitte rückt. Der Gedanke selbst hat Tradition  : In seiner berühmten Ansprache vom 18. März 1968 an der Universität von Kansas sprach sich Robert Kennedy klar dafür aus, die Grenzen des Bruttonationalprodukts deutlich zu sehen  : »Yet the gross national product does not allow for the health of our children, the quality of their education or the joy of their play. It does not include the beauty of our poetry or the strength of our marriages, the intelligence of our public debate or the integrity of our public officials. It measures neither our wit nor our courage, neither our wisdom nor our learning, neither our compassion nor our devotion to our country, it measures everything in short, 104

Dritter Teil  : Innenseiten

except that which makes life worthwhile.«64 Richard Easterlin hatte 1974 auf das Paradox hingewiesen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Wohlstand aufgrund des Wirtschaftswachstums eklatant gestiegen sei, dies aber gerade nicht für die Lebenszufriedenheit der Menschen gelte.65 Seit den 1970er-Jahren hat sich Bhutan der Suche nach dem Bruttonationalglück verschrieben – ausgehend von einer Bemerkung des damaligen Königs, dass die Suche nach Bruttonationalglück wichtiger sei als das Bruttonationalprodukt.66 Bhutan, das keine Kolonialgeschichte kennt, und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast gänzlich von äußeren Einflüssen abgeschnitten war, plante seine Entwicklung auf der Basis buddhistischer Wertvorstellungen. Die Idee des Bruttonationalglücks kann in diesem Sinne als politisches Mandat zur Schaffung einer Umgebung verstanden werden, in der die Kultivierung mentaler Gelassenheit möglich ist und gefördert wird.67 Das ist eine für die Frage nach Innerlichkeitspolitik geradezu aufregende Überlegung  : Welche politischen Auswirkungen hat die Idee, innere Gelassenheit, inneren Frieden, innere Harmonie als Ziel des politischen Handelns anzusehen  ? Eine primäre Staatsfunktion besteht dann darin, jene Einschränkungen zu beseitigen, die dem Erreichen von Glück und Erleuchtung im Wege stehen. Aus diesem Grund ist im Artikel 9 der bhutanischen Verfassung im ersten Absatz die Soll-Bestimmung verankert  : »The State shall strive to promote those conditions that will enable the pursuit of Gross National Happiness.« Mit der Bindung an eine Politik des Bruttonationalglücks verfolgt Bhutan die Realisierung eines Glücksbegriffs, der sich als Gemeinschaftsaufgabe unter institutionellen Rahmenbedingungen ergibt. Diese Rahmenbedingungen sind aufgrund der historischen Gegebenheiten durchaus günstig, verfügt Bhutan doch über natürliche Ressourcen (Wald, Wasser), weist Bhutan doch eine kohärente Gemeindestruktur auf, verfügt Bhutan doch seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über eine ausgezeichnete Angebotslage der Entwicklungszusammenarbeit.68 Neben diesen äußeren Bedingungen kann wohl auch die »intangible Infrastruktur« eines Wertegefüges, einer Kultur und einer Vision als Basis für Bhutans Glückspolitik festgehalten werden. Stefan Priesner, Mitarbeiter der U N DP, hält etwa fest, »that a major reason for Bhutan’s smooth and successful development was that Bhutan possessed a powerful vision, which evolved from the country’s unique historical, geopolitical and sociological circumstances and determined the broad framework, how to proceed«.69 Politisch verfolgt die Umsetzung von »Gross National Happiness« die Implementierung von vier »policy areas«  : nachhaltige Entwicklung, Schutz der Umwelt, Erhaltung und Förderung der Kultur, »good governance«. Das wirkt sich etwa im Bereich des Umweltschutzes aus – im Jahr 1974 wurde in Die Innenseite des Politischen

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Bhutan gesetzlich festgesetzt, dass die bewaldete Fläche nicht unter 60 Prozent sinken dürfe  ; mittlerweile sind 26 % der Fläche Bhutans als Nationalpark deklariert. Auf mögliche höhere Erträge aus der Forstwirtschaft wird verzichtet. Relevant wird diese Politik auch im Bereich des Tourismus, in dem Bhutan gleichfalls höhere Erträge erzielen könnte, sich aber aus Gründen von Umweltschutz und Kulturerhalt für einen limitierten (und durchaus elitär strukturierten) Tourismus entschieden hat.70 Sozialwissenschaftlich interessant ist der 2010 umgesetzte G N H Index Survey, in dem – repräsentativ in allen 20 Distrikten – 7241 Interviews durchgeführt wurden, bei denen Menschen nach 758 Variablen befragt wurden. Die Konzeption der Befragung erfolgte auf der Identifikation von neun Dimensionen des Bruttonationalglücks  : psychological well being / health / time use / cultural diversity and resilience / good governance / community vitality / ecological diversity and resilience / living standard / education. 71 Für jede dieser Dimensionen wurden Indikatoren identifiziert, die bei m GNH Survey abgefragt wurden. So zeigte sich etwa in den Fragen nach dem Umgang mit Zeit, dass auch offiziell Arbeitslose deutlich zum Gemeinwohl beitragen, weil sie Versorgungs- und Haushaltsarbeiten übernehmen. Dieses Ergebnis sollte den Diskurs über Arbeitslosigkeit beeinflussen. Die Ausrichtung der Politik auf das Glück, verstanden als innere Gelassenheit, leitet ein Umdenken ein, das auch die Sinnfrage zum Teil des politischen Diskurses macht und insofern für die Armutsbekämpfung von Relevanz ist, als man sich etwa in Diskussionen um das enge Netz von Sanktionen bei ohnehin kargen Mindestsicherungsentwürfen die Frage stellen kann, ob es hier nicht gerade darum geht, explizit möglichst viel Stress zu erzeugen.

Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen 3.8 Eine Innenseite kann auch für die Wirtschaft lokalisiert werden. Wirtschaften ist grundsätzlich planvolles Handeln zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung mit knappen Gütern. Wir haben es hier mit drei Kernbegriffen zu tun  : »Handeln«, »Bedürfnis« und »Gut«. Alle drei Begriffe sind mit der episthetischen Situation von Menschen in Verbindung zu bringen. Wirtschaftliches Handeln verweist auf intangible Strukturen wie »Vertrauen« und »Planen« hin. Neben dem Grundakt des Herstellens kennt wirtschaftliches Handeln den Grundakt des Tauschens. Etwas wird für etwas anderes gegeben  ; damit wird das Erhaltene zum Symbol für das Gegebene und umgekehrt. Die Mindestan106

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forderung an einen Tauschakt ist die symbolische Äquivalenz, also die Idee der Gleichwertigkeit der beiden Tauschobjekte, die einander zum Symbol geworden sind. Philosophisch gesehen befinden wir uns hier im Gebiet der Tauschgerechtigkeit, der kommutativen Gerechtigkeit. Da »Verschiedenes als gleichwertig« getauscht wird, ist ein Tauschakt auf eine Vergleichsbasis angewiesen und auf Vertrauen, da die langfristige oder ganzheitliche Entwicklung eines Produktes zum Zeitpunkt des Tauschgeschäfts nicht sicher vorhergesagt werden kann. Der Grundakt des Tauschens verlangt also Vertrauen, weil immer auch Risiko eingeschlossen ist. Vertrauen ist eine soziale Notwendigkeit und meint die Bereitschaft, ein aus Sicht des Gebenden wertvolles Gut in die Hände eines anderen zu legen, ohne die Garantie zu haben, dass dieses Gut nicht missbraucht oder beschädigt werden könnte. Arbeitgeber und Arbeitnehmer treten in ein Tauschverhältnis ein, in dem Leistung und Remuneration getauscht werden  ; Geschäftspartner tauschen Leistungen miteinander, Anbieter und Käufer tauschen Gut gegen Geld. Vertrauen kann mit gutem Grund als Grundlage wirtschaftlichen Handelns angesehen werden. Der zweite Schlüsselbegriff ist der Begriff des Bedürfnisses. »Bedürfnisse« sind Lebensnotwendigkeiten, die auf ihre Deckung drängen und deswegen zum Handeln motivieren. Dabei hängt das Verständnis von »Bedürfnis« von Präferenzen und Lebensentwürfen ab und nicht von Aspekten der Biologie. Für einen religiösen Menschen beispielsweise stellen sich »basic needs« anders dar, man denke an Maximilian Kolbe. Ein »Gut« als dritter Schlüsselbegriff ist etwas, das durch eine Werthaltung zum »bonum« wird  ; X ist ein »bonum«, wenn durch das X eine Situation in einer bestimmten Art markiert wird  ; X ist »Situationsmarker«. Das bedeutet, dass X für das Verständnis der Situation eine relevante Rolle spielt und die Situation nicht angemessen beschrieben werden kann, ohne X in die Beschreibung einzubeziehen. X wird zum bonum für eine Person P, wenn P eine X-markierte Situation einer Situation, in der X nicht vorkommt, vorzieht. Der Begriff des »Gutes« kann nicht abgelöst werden vom Verständnis eines guten Lebens und von Fragen der Identität. Man könnte eine Ware als einen Gegenstand verstehen, der Aussagen über das gute Leben und die Identität von Menschen macht, in dem Sinne, dass eine Ware als Kandidat für ein Gut Ansprüche zur Gestaltung von Identität erhebt. Auf diese Weise werden Waren auch erkenntnistheoretisch von Interesse, weil sie Geltungsansprüche erheben und Überzeugungen in Bezug auf Identität zum Ausdruck bringen. Das heißt wiederum, dass die Berücksichtigung der Innenseite der Ökonomie ein »rethinking of economics in epistemological terms« motiviert. Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen

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3.9 Wirtschaftliches Handeln findet nicht in einem wertfreien Raum statt, also in einem Raum, in den Wertvorstellungen »von außen« hineingetragen werden müssten  ; noch deutlicher gesagt  : Man kann im Grunde nur mit Werten wirtschaften, also mit Gütern, die »kostbar«, »begehrenswert« und »wertvoll« sind. Wenn wir etwas kaufen oder verkaufen, kaufen oder verkaufen wir uns selbst. Das wirtschaftliche Handeln macht Aussagen über die menschliche Identität. Wirtschaftliches Handeln stellt Güter her und bietet Güter zum Tausch an – und damit Dienstleistungen und Dinge, die auf Bedürfnisse, Nöte und Fragen der Menschen reagieren. Güter sind »responsiv«  ; sie »antworten« auf Fragen der Lebensbewältigung. Äußere Güter können nicht ohne Bezugnahme auf eine symbolische und soziale Ordnung interpretiert und eingeordnet werden  ; dies ergibt sich erstens aus der symbolischen Strukturiertheit menschlicher Welterfassung und zweitens aus den nichtmateriellen Möglichkeiten, die durch den Zugang zu äußeren Gütern erschlossen werden. Äußere Güter haben nicht nur einen »cash value« aufgrund des unmittelbaren Nutzens (vergleichbar dem Literalsinn eines Wortes), sondern auch einen identitätsstiftenden Wert (vergleichbar dem übertragenen Sinn eines Wortes) aufgrund der Verortung dieser Güter in einer immateriellen Werteordnung, die mit dem Zugang zu äußeren Gütern (Immobilien, Fahrzeugen, Schmuck, etc.) auch Zugang zu immateriellen Gütern (Handlungsalternativen, soziale Anerkennung, Sicherheit et al.) ermöglicht. Der Zugang zu materiellen, äußeren Gütern ist also intrinsisch verschränkt mit dem Zugang zu immateriellen Gütern  ; mehr noch  : Äußere Güter sind nur Güter aufgrund ihres »Mehrwerts«, der über die materiellen Aspekte des Gegenstands hinausgeht. Es bleibt also festzuhalten, dass äußere Güter nicht aus sich selbst heraus verstanden werden können, dass sie als »Güter« – auch wenn sie im Rahmen von kausalen Wirksamkeiten und nicht allein in Rahmen von begrifflichen Überlegungen zu interpretieren sind – bereits im Kontext einer Ordnung begriffen werden, aufgrund derer sie Gewicht und Bedeutung erlangen, und dass der Umgang mit diesen Gütern Bindungen an eine immaterielle Ordnung reflektiert. 3.10 Ich möchte den Vorschlag machen, Ökonomie als identitätsstiftendes Gespräch zu verstehen  ; ökonomisches Geschehen ist ein Gespräch mit der Welt und ein Gespräch mit uns selbst. Ökonomisches Handeln reagiert auf Bedürfnisse, orientiert sich an Nachfrage. Anders gesagt  : Ökonomisches Geschehen antwortet auf Fragen, die die Menschen an die Welt herantragen. Das Wirtschaftsgeschehen hat eine responsive Struktur und setzt gleichzeitig auf die Grundfähigkeit der klugen Frage. Unternehmerisches Handeln bedeutet einer108

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seits, die richtigen Fragen zu stellen, und andererseits, menschengemäße Antworten auf Probleme und Fragen zu finden. Wirtschaft trägt insofern zum guten Leben bei, als durch wirtschaftliches Handeln Güter hergestellt werden, die Probleme lösen und Lebensqualität verbessern. Wirtschaftliches Handeln sucht nach angemessenen Antworten auf Fragen von Mensch und Gesellschaft. Sie setzt voraus, dass diejenigen, die Produkte entwickeln, nahe am Alltag der Menschen sind. Man kann hier eine Analogie aus der Tradition der Rechtsprechung heranziehen  : Richterinnen und Richter sollen nach einer starken Begründungstradition des Berufsstandes nicht zu fern von den Menschen wohnen, sondern »inmitten der Gesellschaft« ein »gewöhnliches Leben« führen, sodass sie die Alltagsherausforderungen und Lebensfragen der Menschen verstehen. Werte – und damit ein entscheidender Aspekt einer intangiblen Infrastruktur – sind die Grammatik für dieses Gespräch  ; sie geben die Regeln für die Fragen und auch für die Antworten an. Wirtschaftsethik kann in der Kernfrage zusammengefasst werden  : Welche Fragen stellt die Wirtschaft und welchen ethischen Status haben diese Fragen  ? Wertesensibles Wirtschaften wird einen Primat des Immateriellen vor dem Materiellen anerkennen, den Primat einer intangiblen Infrastrultur vor einer tangiblen Infrastruktur. E 3.7 Die responsive Struktur der Wirtschaft wird aus einer Szene aus der Autobiografie des erfolgreichen Geschäftsmanns Alan Sugar deutlich. Alan Sugar, der nachmalige Lord Sugar of Clapton, beschrieb seine Geschäftstätigkeit in einer Autobiografie What You See Is What You Get.72 Sugar machte seinen Durchbruch mit Stereoanlagen. Er stellte selbst die Abdeckplatten her und konnte damit Anlagen entsprechend billig verkaufen  ; entscheidend war eine Idee  : »Ann and I visited my mum and dad’s for tea and I noticed they had a plastic butter dish – a red-tinted one. As I lifted the lid up, I saw a moulding mark, known to me now as a sprue mark – the place where the plastic is injected – and in that moment, something clicked in my brain. Here we had a coloured, see-through plastic butter lid, and all I needed to do was to make a similar item but much bigger, also see-through, with a nice grey tint to it.«73 Eine Fabrik stellte das entsprechende Gerät für ihn her, um diese Stereoanlagenabdeckungen zu produzieren. Dann entschied sich Sugar dafür, die Stücke teuer zu verkaufen (400 % Marge  !). Die Konkurrenz hatte er diesmal deutlich hinter sich gelassen, weil er die Produktionsmittel besaß. »That was it – the start of the big time for me«.74 Alan Sugar reagierte auf die Wünsche der Menschen, wobei er immer »the truck driver and his wife« vor Augen hatte75. Sein Anliegen war es, auf Wünsche dieser Zielgruppe zu Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen

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reagieren – sie wollten etwas Schickes zuhause haben, die Klangqualität musste vielleicht nicht die letzte Nuance wiedergeben, aber es sollte eine anständige Qualität zu einem günstigen Preis sein. Das zeigt die responsive Struktur des Wirtschaftens – Antworten zu geben auf Fragen der Menschen. Alan Sugar bediente »Werthaltungen« und »Sehnsüchte«. Er legte das Wirtschaften als Dialog mit der Welt an. RD 3.5 Ein Beispiel für Wirtschaften »von innen her« oder »Innenökonomie«, also für Wirtschaften unter Berücksichtigung eines Primats des immateriellen Inneren vor dem materiellen Äußeren kann in monastischer Wirtschaftstradition gefunden werden. Besonders aufschlussreich für ein Verständnis von Innenökonomie ist die benediktinische Tradition. Benediktinerklöster sind ökonomisch resilient. Sie erhalten die Wirtschaftsstrukturen auch in schwierigen Zeiten und erweisen sich, auch in schwierigen Zeiten als erstaunlich stabil. Bruno Frey und Emil Inauen haben in einer Studie untersucht, warum Benediktinerklöster im deutschsprachigen Raum auch in ökonomischer Hinsicht widerstandsfähig sind.76 Sie haben unter anderem die geteilte und im Alltag verankerte Wertebasis als Faktor identifiziert. Ein resilientes Unternehmen hat nicht nur eine klare Struktur, sondern auch eine Wertebasis als Teil einer »intangiblen Infrastruktur, auf die ein Unternehmen im Krisenfall zurückgreifen kann. Das ist bei Benediktinerklöstern in einer eminenten Weise der Fall. Der Schlüsseltext zum Verständnis der benediktinischen Tradition ist selbstredend die einflussreiche »Regula Benedicti«– die dem Benedikt von Nursia zugeschriebene Regel, mit der die benediktinischen Traditionen des Zusammenlebens im sechsten Jahrhundert begründet wurden . Der Text zielt darauf ab, das Zusammenleben von verschiedenen Menschen, die ganz unterschiedliche Lebensgeschichten haben, auf Dauer möglich zu machen. Wie können Menschen als Einzelne und wie kann eine Gemeinschaft als ganze gedeihen  ? Die Regula Benedicti77 enthält eine Reihe von Hinweisen, die für das wirtschaftliche Handeln relevant sind  : Ein Grundgedanke der Regula ist der Gedanke der Nachhaltigkeit, der sich mit dem im Prolog zitierten biblischen Bild des auf Fels gebauten Hauses ausdrückt (RB Prolog, 33f, Verweis auf Mt 7, 24f )  ; Nachhaltigkeit wird auch als Wert in der Rekrutierung betont  : Es sind nur jene Mönche aufzunehmen, die sich über die vor ihnen liegende Härte und Beschwerlichkeiten im Klaren sind (RB 58,8). Es werde vor allem die Beständigkeit geprüft. So ergibt sich eine Stabilitas aus den Lebenswerten und dem Gemeinschaftssinn  ; die Gemeinschaft wird auch durch die besondere Aufmerksamkeit gegenüber 110

Dritter Teil  : Innenseiten

den schwächsten Mitgliedern betont  : Der Abt muss auf Schwäche Rücksicht nehmen (RB 48,25). Das heißt wohl auch, dass ein Kloster in der Rekrutierung nicht in erster Linie auf eine möglichst ausgeprägte Leistungsfähigkeit achtet. Hier wird deutlich, dass es nicht um Maximierung geht. Der Schlüssel zum benediktinischen Wirtschaften ist wohl das Wertesystem. Hier gilt ein Primat der Innerlichkeit – bereits im Prolog der Regula wird die Bedeutung des Gebetes betont, wenn man etwas Gutes beginnt (RB, Prolog, 4). Der Primat des Geist­ lichen zeigt sich auch in der Grundhaltung des Gottvertrauens, das mit Hinweis auf Mt 6,33 und Lk 16,2 anempfohlen wird. Der Abt soll aus Grundvertrauen agieren – »wegen des vielleicht allzu geringen Klostervermögens soll er sich nicht beunruhigen« (RB 2, 35). Auch die Armut gilt nicht als schändlich – in RB 48,7 lesen wir  : »Wenn es die Ortsverhältnisse oder die Armut fordern, dass sie die Ernte selber einbringen, sollen sie nicht traurig sein«  ; es sollen harte Erntearbeit und Armut also nicht die Regel werden, aber wenn dies auftritt, dann ist aus dem Primat des Geistlichen heraus diese Tätigkeit zu erbringen. Mit diesem Primat des Geistlichen vor dem Wirtschaftlichen ist eine Kultur des Maßes gegeben  : Es soll alles, auch die harte Arbeit, maßvoll geschehen (RB 48,9), um niemandem Anlass zum Kummer zu geben. Der Blick für das rechte Maß ist in besonderer Weise dem Abt aufgetragen (RB 64,17f ). Entscheidend für das angedeutet Verständnis von Innenökonomie ist wohl die Einsicht, dass ein klösterlicher Wirtschaftsbetrieb nicht ein Unternehmen ist, das – möglicherweise als Klotz am Bein – ein Kloster neben sich hat, sondern ein Kloster ist eine geistliche Einrichtung, die zur Existenzsicherung auch über Wirtschaftsbetriebe verfügt. Hier ist ein Unterschied, der sich auch in der Prioritätensetzung auswirkt. Man kann dies etwa im Abschnitt 57 der Regula sehen  : Es geht in diesem Abschnitt um Mönche als Handwerker, also um Männer, die nach einer Handwerksausbildung in das Kloster eingetreten sind. Es wird ihnen in diesem Textteil zugestanden, ihr Handwerk auszuüben, allerdings mit einer klaren Einschränkung  : »Wird aber einer von ihnen überheblich, weil er sich auf sein berufliches Können etwas einbildet und meint, er bringe dem Kloster etwas ein, werde ihm seine Arbeit weggenommen« (RB 57,2). Es zeigt sich, dass der wirtschaftliche Erfolg und der ökonomische Ertrag dem geistlichen Wohl nachgeordnet sind. Weder geht es um »Eigennutzenmaximierung« noch auch um ökonomische »Gemeinschaftsnutzenmaximierung« – im eben zitierten Abschnitt heißt es  : »Bei der Festlegung der Preise darf sich das Übel der Habgier nicht einschleichen. Man verkaufe sogar immer etwas billiger, als es sonst außerhalb des Klosters möglich wäre« (RB 57,7–8) – und als Grund wird angegeben  : Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen

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»damit in allem Gott verherrlicht werde« (RB 57,9). Hier ist von einem Kloster die Rede, das durch den Verkauf von eigenen, veredelten Produkten Gewinne erzielen kann  ; an der Idee, einen Gewinn zu erzielen, wird auch nicht gerüttelt, sollen die Produkte doch verkauft werden. Es wird aber explizit vor der »avaritia« gewarnt, die dem geistlichen Wohl entgegenstehe und ein viel größeres malum darstellt als es ein wirtschaftlicher Erfolg als bonum ist. So wird eine Bremse eingezogen, einer Maximierungsversuchung wird nicht nachgegeben. Ähnliches finden wir in der Aufnahme von Mitbrüdern – sollten sie über Eigentum verfügen, wird es ihnen freigestellt, dieses an die Armen zu verschenken oder durch Schenkung dem Kloster zu vermachen (RB 58,24)  ; auch hier wird eine Chance, Erträge zu maximieren, nicht festgeschrieben. Dem Cellerar als dem Wirtschaftsverantwortlichen des Klosters, wird auch ans Herz gelegt, sich besonders um Kranke, Gäste und Arme zu kümmern, sogar »cum omni sollicitudine«, mit großer Sorgfalt (RB 31,9)  ; das ist mit einem ausschließlich wachstumsorientierten Wirtschaften und einem auf Maximierung hin ausgerichteten Wirtschaftsmodell nicht vereinbar. Der Benediktinerpapst Gregor der Große kann weitere Anstöße zum Verständnis benediktinischen Wirtschaftens geben. In seinen Briefen beschäftigt er sich immer wieder mit handfesten wirtschaftlichen Fragen. Besonders deutlich wird dies in drei Briefen an Subdiakon Petrus in Sizilien, der für die wirtschaftlichen Belange zuständig war. 78 Gregor ermahnt Subdiakon Petrus im Zusammenhang mit der Verwaltung der Kirchengüter, dass sich die Bischöfe nicht mehr in zeitliche Angelegenheiten einlassen, als es die Not und der Schutz der Armen erfordern würde. Hier finden wir einerseits einen Hinweis auf den Primat des Geistlichen und andererseits eine Ermahnung zur besonderen Verantwortung für die Armen. Immer wieder finden wir Hinweise auf den milden, großzügigen und unterstützenden Umgang mit den Armen. Wirtschaften kann auch mit einer vorrangigen Option für die Armen in Zusammenhang gebracht werden. Gregor weist auch darauf hin, dass es inakzeptabel ist, dass Menschen durch die Verwalter kirchlicher Güter Unrecht erleiden  ; dies sei auf unkomplizierte Weise zurückzuerstatten. Was Gott gefällt, ist rechtes Leben und nicht Vermehrung des Gewinns  ; und vor Gott wird Rechenschaft abzulegen sein  : »Im Hinblick also auf die Majestät des kommenden Richters gib Alles zurück, was mit Sünde genommen ist, und wisse, daß Du mir großen Gewinn verschaffest, wenn Du eher Verdienste als Reichthümer sammelst« (Brief I,20). Selbst wenn es um Rechte der Kirche geht, sollen diese nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. In einem anderen Brief verwehrt er sich gegen drückende Pachtauflagen, 112

Dritter Teil  : Innenseiten

die von Seiten der Kirche erlassen worden sind. Der Subdiakon möge gut abschätzen können, was der Landbevölkerung zugemutet werden könne. Diesen maßvollen Umgang will Gregor auch schriftlich in aller guten Ordnung geregelt haben, damit auch nach seinem Tod diese Regelung nicht aufgehoben werden kann. Realismus, Maß und Wohlwollen zeigt sich auch in der Abgabengebarung  : »Ausserdem haben Wir erfahren, daß der erste Steuertermin Unsre Landleute in große Noth versetzt, weil man sie den Zins zu zahlen zwingt, noch ehe sie ihre Ernte verkaufen konnten. Wenn sie dann ausser Stande sind, aus ihrem Eigenen zu geben, so entlehnen sie bei öffentlichen Mäklern und geben noch bedeutendes Aufgeld für diese Aushilfe  ; so kommen sie in schwere Verluste« (Brief I, 23). Deshalb befiehlt Gregor, dass die Menschen von Amtswegen einen Vorschuss erhalten sollen. Auch andere wirtschaftliche Angelegenheiten werden im Detail geregelt  ; der sorgsame Blick auf Zahlen und Menschen zeichnet diesen Zugang zu ökonomischem Handeln aus. Gregor ermahnt alle im Dienst der Kirche Stehenden, dass niemand auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein dürfe, der von Kirchenvermögen lebt. Die »Tragedy of the Commons« darf, um es so auszudrücken, in die Kirche nicht Einzug nehmen. Der realitätsnahe und maßvolle Blick auf Details wird auch in einem Schreiben deutlich, in dem sich Gregor zu landwirtschaftlichen Fragen äußert  : »Kühe, die schon vor Alter unfruchtbar sind, oder Ochsen, die nicht mehr brauchbar scheinen, soll man verkaufen, damit wenigstens aus ihrem Erlös sich ein Nutzen ergebe. Die Stutereien aber, die wir sehr nutzlos halten, sollen alle aufgelöst und nur 40 junge Stuten zur Nachzucht behalten werden. Man soll jedem der 400 Pächter eine Stute überlassen, wofür sie dann jedes Jahr Etwas zu entrichten haben. Denn es ist höchst unwirthschaftlich, 60 Solidi für die Roßknechte auszugeben und kaum 60 Denare aus den Stutereien zu beziehen. Deine Wohlerfahrenheit gehe also so zu Werk, daß ein Theil, wie gesagt, unter alle Pächter vertheilt, der andere verkauft und zu Geld gemacht werde. Die Roßknechte aber vertheile in den Besitzungen, damit sie durch Landbau sich nützlich machen können. Alles Sattelzeug aber, das etwa in Syracus oder Palermo der Kirche angehört, muß man verkaufen, ehe es vor Alter gänzlich zu Grunde geht« (Brief II, 4). Hier zeigt sich auch eine Geschäftstüchtigkeit im Sinne der nüchternen Einschätzung von Aufwand und Ertrag. Ein weiterer aufschlussreicher Punkt ist der Primat der Stabilität vor der Ertragshöhe  : Es ist besser Stabilität bei der Verpachtung sicher zu stellen, als maximalen Ertrag zu erzielen. »Auch befehlen Wir«, schreibt Gregor an Subdiakon Petrus, »Deiner Wohlerfahrenheit, wohl darauf zu achten, daß die Verpachtung der Kirchenguter nicht nach dem Angebot des größern Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen

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Pachtschillings geschehe, weil bei der ausschließlichen Rücksicht auf denselben ein zu großer Wechsel in den Pächtern veranlaßt wird« (Brief I,20). Diese langfristige, stabilitätsorientierte Ausrichtung kann sicherlich als Schlüsselmoment benediktinischen Wirtschaftens bezeichnet werden. Die Begründung ist auch eine wirtschaftliche, gegeben in Form einer Frage  : »Wohin kommt es aber mit diesem Wechsel, als dahin, daß die Landgüter der Kirche unkultivirt bleiben  ?« Es zeigt sich, dass benediktinische Werte von Maß, Achtsamkeit und einem Primat des Geistlichen durchaus konkret und handfest in das Wirtschaftsleben eingebracht werden können. Hier wird »Innenökonomie« deutlich. Diese ist auch für das 21. Jahrhundert von Relevanz, wie Benediktinerabt Johannes Eckert zeigt.79 E 3.8 Ein Beispiel für einen Text, der die Innenseite der Ökonomie explizit, wenn auch in unrealistischer Weise berücksichtigte, ist der auf einen 1928 gehaltenen Vortrag zurückgehende Aufsatz »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder« von John Maynard Keynes.80 Keynes stellte sich die Frage  : »Welchen Stand des wirtschaftlichen Lebens können wir vernünftigerweise von jetzt an in hundert Jahren erwarten  ? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder  ?« (K W M 136). Er erkennt an, »dass die Bedürfnisse der Menschen unersättlich zu sein scheinen« (K W M 140), unterscheidet dann aber zwischen absoluten und relativen Bedürfnissen und ist der Ansicht, dass Menschen nach Stillung der absoluten Bedürfnisse es vorziehen, ihre weiteren Kreise nicht wirtschaftlichen Zwecken zu widmen. Relative Bedürfnisse würden darauf hinauslaufen, uns ein Gefühl der Überlegenheit über andere Menschen zu vermitteln. Das Problem der Wirtschaft freilich bestehe in der Befriedigung der absoluten Bedürfnisse  ; Keynes geht davon aus, dass in absehbarer Zukunft dieses wirtschaftliche Problem nicht mehr beständiges Problem der Menschheit sein werde. »Wenn das wirtschaftliche Problem gelöst ist, wird die Menschheit eines ihrer traditionellen Zwecke beraubt sein.« (K W M 141). Es werde dann darum gehen, sich innerlich umzustellen  ; es geht um die Herausforderung, die Freizeit, die nun nicht mehr von wirtschaftlichen Notwendigkeiten bestimmt wäre, gut auszufüllen. Die Bedeutung der wirtschaftlichen Aufgabe solle nicht überbewertet werden und wir sollten auch nicht »ihren vermeintlichen Notwendigkeiten andere Dinge von größerer und beständigerer Bedeutung opfern« (K W M 146). Wiederum erfolgt ein Hinweis auf menschliche Innerlichkeit  : »Für den durchschnittlichen Menschen ohne besondere Begabungen ist es eine beängstigende Aufgabe, sich selbst zu beschäftigen« (K W M 142)  ; es gilt, einen neuen 114

Dritter Teil  : Innenseiten

Lebensplan zu entwerfen, da drei Stunden Arbeit in Hinkunft ausreichend sein werden. Das werde sich auch auf die Moralvorstellungen auswirken, wenn die Akkumulation von Reichtum nicht von großer gesellschaftlicher Bedeutung mehr sein werde – die Liebe zum Geld als Wert an sich wird als krankhaftes Leiden erkannt werden (K W M 143).81 Geldgierigen Menschen solle nicht mehr Beifall gespendet werden  : »Ich sehe deshalb für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und zuverlässigsten Grundsätzen der Religion und der althergebrachten Werte zurückzukehren − dass Geiz ein Laster ist, das Eintreiben von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld abscheulich, und dass diejenigen am wahrhaftigsten den Pfad der Tugend und der maßvollen Weisheit beschreiten, die am wenigsten über das Morgen nachdenken. Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden diejenigen ehren, die uns lehren können, wie wir die Stunde und den Tag tugendhaft und gut vorbeiziehen lassen können« (K W M 145). Die Zeit wird schrittweise kommen, mahnt Keynes, wir sollten sachte Vorbereitungen treffen, um uns auf einen neuen Abschnitt einzustellen, indem Menschen fähig werden, »sich unmittelbar an den Dingen zu erfreuen, die Lilien auf dem Feld, die sich nicht mühen und die nicht spinnen« (K W M 146). Der Grundirrtum, wenn man so sagen darf, den Keynes begangen und Sedláček entlarvt hat, besteht in der Annahme, dass die Menschen in ihren Wünschen und Bedürfnissen einen Sättigungspunkt erreichen. Keynes übersieht, dass »desires« »von innen« gesteuert werden, von einem Raum also, in dem es keine durch natürliche Ressourcen vorgegebene Grenzen gibt – die Vorstellungskraft ist schließlich auch unbegrenzt. RD 3.6 Eine wichtige wirtschaftstheoretische Ausrichtung, die Fragen der Identität mit Fragen der Ökonomie verschränkt, ist die »identity economics«. Sie hat wichtige Anstöße zu einem tieferen Verständnis von Wirtschaft unternommen. Identitätsökonomie zieht psychologische und soziale Aspekte von Identität in Betracht. Sie entwickelt die Idee, dass Menschen ökonomische Entscheidungen auf der Basis von Identitätsannahmen treffen – sie versuchen Entscheidungen, die Identitätskonflikte mit sich bringen und dem Selbstverständnis widersprechen, zu vermeiden. Menschen versuchen, Handlungen zu setzen, die ihnen Identitätsnutzen bringen und jene Handlungen zu vermeiden, die zu Identitätskosten führen. »Identitätsnutzen« ist die Stärkung des (wohl aufgrund von Erwartungen) entstehenden Selbstverständnisses. »Identitätskosten« ist der Aufwand, der zu betreiben ist, um eine bestimmte Identität aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. Bereits 1987 hat der ungarische Ökonom László Garai über den Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen

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Zusammenhang zwischen sozialer Identität und Ökonomie nachgedacht.82 In einem postkapitalistischen System müsse die Wirtschaft dafür sorgen, dass Menschen nicht nur technische Dispositionen entwickeln, sondern auch über soziale Dispositionen verfügen, die es den Menschen ermöglichen, ihren Status zu etablieren. So ist es nicht verwunderlich, dass in bestimmten Fällen Produkte wesentlich von der sozialen Identität des Produzenten mitbestimmt sind. Im Jahr 2000 haben George Akerlof und Rachel Kranton ihren bahnbrechenden Beitrag über Identitätsökonomie veröffentlicht.83 Identität wird hier als »a person’s sense of self« verstanden und als wirtschaftliche Fundamentalentscheidung. Akerlof und Kranton stützen sich dabei auf Beckers und Goffmans Untersuchungen aus den 1950er-Jahren.84 Identität wird von ihnen als Konstruktion auf der Basis von sozialen Kategorien angesiedelt (identity is based on social categories), wobei jede Kategorie mit sozialen Erwartungen verbunden ist, denen Menschen zu entsprechen suchen. »Individuals’ behaviour depends on who people think they are.« 85 Menschen teilen sich und andere in soziale Kategorien ein – soziale Kategorien und soziale Normen sind automatisch miteinander verbunden, sodass Menschen in verschiedenen sozialen Kategorien sich auch verschieden verhalten sollten.86 Normen führen zu einem Sinn für soziale Zugehörigkeit, zumal sie häufig auch mit einem Ideal verbunden sind, dem Menschen zu entsprechen suchen. Identität ist also eine Funktion von Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie und den damit verbundenen Normen/Verhaltenserwartungen. Diese Normen werden nicht nur als äußerer Aspekt der Verhaltenskoordination, sondern als Teil der Persönlichkeit angesehen  : »In identity economics, we presume that people follow norms much of the time because they want to do so. They internalize the norms and adhere to them.«87 Dadurch wird der soziale Kontext in die ökonomische Analyse eingebracht, was »body art« und selbstzerstörerisches Verhalten88 ebenso neu analysieren lässt wie Fragen nach »acting white« versus »acting black«.89 Um die eigene Identität aufrechtzuerhalten, ist ein Aufwand zu treiben. Es ist aufwendig, einen ununterbrochenen Zugriff auf Identitätsressourcen zu haben, auf jene Ressourcen, die Identität konstituieren und nähren. Wenn man innerhalb einer Organisation – und hier spielen Fragen der Identität eine wichtige Rolle – zwischen »Insidern« und »Outsidern« unterscheiden kann, je nachdem ob sich jemand mit der Organisation identifiziert, ist auch klar, dass Identitätsveränderungen aufwendig und auch ökonomisch relevant sind.90 Das kann man auch auf die Frage nach Armut und Armutsbekämpfung übertragen. Die Frage nach Identität ist auch juristisch wie politisch relevant, weil Zugehörigkeiten zu sozialen Kategorien auch durch Gesetze betont oder aufgelöst werden können, was 116

Dritter Teil  : Innenseiten

die von der Identitätsökonomie aufgeworfenen Fragen zu politisch relevanten Fragen, zu Fragen einer »Innerlichkeitspolitik« macht, wie Claire Hill gezeigt hat.91 Armutsbekämpfung kann Fragen der Identität von Menschen nicht ignorieren, weil es doch um die Neuzuordnung im sozialen Raum geht  ; hier sind die sozialen Kategorien mit ihren Normen relevant – ein Beispiel  : Liane Phillips vom »welfare to work« Programm »Cincinnati Works« berichtet, dass die größte drop out Quote aus ihrem Programm appalachische Frauen waren – »after their husbands or boyfriends threatened to beat them for joining Cincinnati Works and trying to enter the workforce. Some Appalachian men in poverty considered having their spouses or girlfriends working outside the home to be an affront to their manhood and viewed outsiders like us with great suspicion.« 92 Das ist offensichtlich eine Frage der Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie mit ihren Normen. Hier ist im Rahmen von Armutsbekämpfungsbemühungen Identitätsarbeit zu leisten. Diese Identitätsarbeit hat mit dem Zugriff auf identitätsstiftende Dinge mit deren Symbolwert, aber auch auf Erfahrungen (gezeigt an der Innenseite von Ereignissen) zu tun. Identität drückt sich in einem Gespräch mit der Welt aus. E 3.9 Das Innengeschehen der Ökonomie kann man sich mit der Bedeutung der »Gier« für das ökonomische Handeln vor Augen führen. Wenn man das Buch von John Kenneth Galbraith »The Great Crash 1929« heranzieht, wird die Innenseite der Ökonomie vermittelt – es ist hier die Rede von überhitzter Stimmung, Hast, Gier, überzogenen Erwartungen und kurzfristigem Denken.93 Galbraith hebt die Aura der Allwissenheit hervor, die die Banker an der Wallstreet genossen, pflegten und erhielten (G G C 41,80f ), er beschreibt »the seminal lunacy which has always seized people who are seized in turn with the notion that they can become very rich« (G G C 26). Er spricht in diesem Zusammenhang von »insanity«, an anderer Stelle von einem »inordinate desire to get rich« (G G C 32) und einer »speculative orgy« (G G C 40). Galbraith weist auf den verordneten Optimismus hin, der mahnende Stimmen als pessimistische Stimmungsbrecher zum Schweigen bringen wollte (G G C 94f ). »The bankers were also a source of encouragement to those who wished to believe in the permanence of the boom« (G G C 96). Das größte Desiderat der Zeit war »wisdom« – was uns mit dem Paradox konfrontiert  : »who is to make wise those who are required to have wisdom« (G G C 51). Kein Zweifel  : Hier wird eine Sprache für »Inneres« gewählt, hier wird Interiorität beschrieben, Gier und Stimmung, Optimismus und Leichtgläubigkeit, der Traum vom anstrengungsfreien Reichtum – und ein Mangel an Weisheit. Auch der Crash von 1929 Innenwirtschaft  : die Innenseite des Ökonomischen

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lässt sich in Begriffen der Interiorität und über eine Bezugnahme auf moralische Ressourcen beschreiben. Die entscheidende Kraft, die auch von Sedláček so benannt wurde, ist die Gier, die Habsucht.94 Habsucht kann dann nicht nur als Hindernis auf dem Weg zum inneren Wachstum gezeichnet werden, sondern auch als Hindernis auf dem Weg zur Gerechtigkeit Avaritia führt zur Abstumpfung – in diesem Sinne sagt Thomas von Aquin, dass das Herz des Habsüchtigen von Mitleid nicht erweicht wird.95 Im Abschnitt 19 der Enzyklika Populorum progressio finden wir den Satz  : »Quam ob rem sola oeconomicorum bonorum conquisitio non modo prohibet, quominus homo humanitate crescat, sed eius etiam germanae granditati adversatur.« Das Streben, die »conquisito« nach materiellen, d. h. in diesem Kontext ökonomischen Gütern, verhindert, dass der Mensch in seinem Menschsein, in seiner Menschlichkeit, wächst – als Mensch wächst und steht so seiner wahren »granditas« entgegen. An diese Aussage schließt sich der denkwürdige Hinweis an, dass die Habsucht die offensichtlichste Form moralischer Unterentwicklung, bei Individuen wie bei Nationen ist. Anschließend wird für einen neuen Humanismus plädiert, der notwendig ist, um Entwicklung tatsächlich möglich zu machen – dadurch, dass menschliches Streben durch höhere Werte wie Liebe und Freundschaft angeleitet wird, durch Gebet und Kontemplation, was es möglich macht, dass Menschen sich selbst finden. Erst auf dieser Grundlage der Selbstfindung ist authentische Entwicklung hin auf wahrhaft menschliche Bedingungen möglich. Das ist eine Aussage über die ökonomische Bedeutung von Innerlichkeit.96

Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur 3.11 Die Innenseite des Sozialen verweist auf den Begriff der intangiblen Infrastruktur. Während Aspekte der materiellen und tangiblen Infrastruktur sich auf Straßen, Eisenbahnnetz, Wasserversorgung, Energielogistik oder Flughäfen beziehen, hat es die intangible und immaterielle Infrastruktur mit wissens- und wertbasierten Kontexten zu tun, wie etwa Bildung, Prioritätenordnung, Gesundheitswesen, rechtlichen Rahmenbedingungen, Finanzpolitik. Man könnte die Vermutung aufstellen, dass sich die intangible Infrastruktur zur materiellen Infrastruktur ähnlich verhält wie Vermögen erster Ordnung zu Vermögen zweiter Ordnung. Vermögen erster Ordnung sind Fähigkeiten, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen. Ein Vermögen ist eine Fähigkeit, einen bestimmten Weltzustand herzustellen. Vermögen zweiter Ordnung sind Vermögen, mit Vermögen 118

Dritter Teil  : Innenseiten

gut umgehen zu können  ; Vermögen zweiter Ordnung kultivieren, koordinieren, gestalten Vermögen erster Ordnung. Vermögen erster Ordnung verändern Wirklichkeit, Vermögen zweiter Ordnung verändern Vermögen. Ähnlich wie Vermögen zweiter Ordnung den Umgang mit Vermögen erster Ordnung koordinieren, bestimmt die intangible Infrastruktur als Quelle von Wissen und Werten den Umgang mit der materiellen Infrastruktur. 3. 12 Grundkategorien der Innenseite des Sozialen sind die Kategorien »Ehre« (»Reputation«, »Prestige«, »Anerkennung«, »Status«), »Vertrauen« und »Solidarität«. Die Innenseite des Sozialen kann man sich dabei am besten mit Blick auf die »Innenseite von Gerechtigkeit« verdeutlichen. Die Innenseite der Gerechtigkeit ist der geteilte »Gerechtigkeitssinn«, der »Wille zum Zusammenhalt«, der Gerechtigkeitsvorstellungen vorgelagert ist und in jede Gerechtigkeitstheorie einfließen muss. Gerechtigkeitstheorien können sich nicht rein vertraglich realisieren lassen, da jeder Vertrag wenigstens ein Minimum von Vertrauen verlangt. Vertrauen ist ein Schlüssel für soziale Kohäsion  ; Vertrauen ist gewissermaßen der Kitt, der eine soziale Struktur zusammenhält  ; Vertrauen senkt die Transaktionskosten und schafft Inseln dessen, was man »Geborgenheit« nennen kann. Vertrauen ist der vielleicht wichtigste intangible Faktor im menschlichen Zusammenleben – er beruht auf der Erfahrung der Anerkennung von Ebenbürtigkeit und wird dort gefährdet, wo sich Menschen selbstverständlich mehr nehmen, als ihnen zusteht. Auf diese Weise wird die Grundlage des Vertrauens erodiert und damit auch die Grundlage des Sozialgefüges gefährdet. 3.13 Die Innenseite des Sozialen ist von zentraler Bedeutung für die Armutsbekämpfung, weil das Scheitern von Armutsbekämpfungsmaßnahmen in vielen Fällen mit dem Ignorieren der intangiblen Infrastruktur zu tun hat  ; Misstrauen wird von Ohnmachtsgefühlen, Ohnmachtserfahrungen und der Erfahrung von Ungleichheit genährt – Menschen, die von Armut betroffen sind, erleben Ungleichheit und Ohnmacht und sind von daher in besonderer Weise gefährdet, Misstrauen gegenüber Institutionen oder Maßnahmen zu entwickeln. Die Entwicklung einer gemeinsamen Innenseite des Sozialen im Sinne eines ernsthaft geteilten Sinns von Gerechtigkeit, was auch den Abbau von Privilegien einschließt, ist unerlässlich für die nachhaltige Bekämpfung von Armut. RD 3.7 Eine nützliche Analyse des Begriffs der intangiblen Infrastruktur wurde vom Research Institute der Credit Suisse vorgelegt. 97 Die Studie identifiziert Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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fünf miteinander verbundene Säulen der intangiblen Infrastruktur  : Bildung, Gesundheit, finanzielle Entwicklung, technologische Investitionen und die Versorgung durch Finanzdienstleistungen. Intangible Infrastruktur wird definiert als »the set of factors that develop human capability and permit the easy and efficient growth of business activity.98 Es ist wenig überraschend, dass es angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung Bemühungen gibt, das Intangible erfassbar und messbar zu machen.99 Die tangible Infrastruktur ist mit der intangiblen Infrastruktur verbunden. Man könnte vielleicht soweit gehen, zu sagen, dass die intangible Infrastruktur das Funktionieren und Koordinieren der tangiblen Strukturen ermöglicht.100 Die intangible Infrastruktur bezieht sich auf Wissen und Werte  ; Wissenskoordination, Wissenskontrolle und Wissenstransfer können ihrerseits zum Aufbau einer tangiblen Infrastruktur führen.101 Am Beispiel der kulturellen Infrastruktur  : »The cultural infrastructure is partly tangible and partly intangible. Architecture is the most visible example of the tangible cultural infrastructure, while all cultural ideas (what we could call the ›recipes‹ of culture) constitute the intangible infrastructure.«102 Ideen sind Teil der intangiblen Infrastruktur, die Manifestation dieser Ideen in Form von Gebäuden oder Kunstwerken schafft tangible Strukturen. ����������������������������������������������������������� »In many instances, the intangible infrastructure is a precondition for the tangible  : think of Modernism and its effect on architecture and industrial design in the nineteenth and twentieth centuries. Intangible ideas, expressed as creativity or innovations, facilitate the transformation of infrastructure.«103 Ideen, ob nun Ideen über Gut und Böse, Ideen über Neu und Alt, Ideen über Vernünftig und Unvernünftig, Ideen über Schön und Hässlich, sind der Motor der intangiblen Infrastruktur. »Ideas are a particularly good example of intellectual infrastructure, because they are non-rival inputs into a wide variety of productive uses.«104 Die intangible Infrastruktur hat einen gewissen Vorteil in Bezug auf die Formbarkeit – Aristoteles definierte Materie bekanntlich als das, was in verschiedener Hinsicht hin formbar ist.105 Die Beziehung von intangibler Infrastruktur zu tangibler Infrastruktur kann verglichen werden mit dem Verhältnis von »materia« und »forma«. Wenn Thomas von Aquin prominenterweise »anima« als »forma corporis« definiert, macht er eine Aussage, die für das Verständnis von intangibler Infrastruktur relevant ist. Der Körper ist tangibel, die Seele intangibel, aber letztere gibt dem Körper doch »forma«, also die besondere Gestalt, die einen Körper bestimmt und einen partikularen Körper als partikularen Körper ausweist. Die intangible Infrastruktur »beseelt«, wenn das Wort gestattet ist, Strukturen und Infrastruktur, gibt einer auch anderweitig formbaren Struktur Gestalt, Bestimmtheit und Partikularität. Anders gesagt  : Die intangible 120

Dritter Teil  : Innenseiten

Infrastruktur ist identitätsstiftend.106 Die intangible Infrastruktur tangiert vor allem auch die Innenseite des Sozialen. Die soziale Infrastruktur oszilliert zwischen dem Tangiblen und dem Intangiblen. Soziale und politische Netzwerke sind (im übrigen ebenso wie Datennetzwerke) Beispiele für diese Bipolarität. Die intangible Infrastruktur kann man auch an der Innenseite von Institutionen ablesen – John Searle hat die Struktur von Institutionen untersucht und dabei die »Innenseite« von Institutionen herausgearbeitet  : Er geht davon aus, »daß Menschen die Fähigkeit haben, Gegenständen und Personen Funktionen zuzuweisen, die derart sind, daß diese Gegenstände und Personen nicht allein aufgrund ihrer physischen Struktur dazu imstande sind, diese Funktionen zu erfüllen.«107 Diese Funktionen verlangen einen kollektiv anerkannten Status, der zugesprochen wird. Die Akzeptierung dieses Status umfasst »die ganze Bandbreite von begeisterter Billigung bis hin zu widerwilliger Anerkennung.«108 »Ausnahmslos alle Status-Funktionen sind Träger sogenannter ›deontischer Kräfte‹, also ›deontischer Macht‹ … sie sind Träger von Rechten, Pflichten, Verpflichtungen, Forderungen, Genehmigungen, Ermächtigungen, Ansprüchen und so weiter.«109 Deontische Macht hat das interessante Merkmal, dass sie uns Handlungsgründe liefert, die von unseren Wünschen und Neigungen unabhängig sind. »Status-Funktionen sind also das Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält.«110 »Eine Institution ist ein System konstitutiver Regeln, und ein solches System schafft automatisch die Möglichkeit institutioneller Tatsachen.«111 »Alle institutionellen Tatsachen – und somit alle Status-Funktionen – werden durch Sprechakte ins Dasein gerufen«, nämlich durch »Deklarativa«.112 Searle vesteht die gesamte institutionelle Realität als Produkt von Sprechakten.113 Das Modell einer Gesprächssituation wird hier als Schlüssel für das Verständnis der Verbindung von tangibler und intangibler Infrastruktur eingebracht. Der Aufbau des Sozialen verlangt den Aufbau von Infrastruktur in einem tangiblen und in einem intangiblen Sinn  : »Investment in infrastructure – both economic infrastructure (roads, railways, ports and airports, telecommunications, water supply, sewerage services, and industrial estates) and social infrastructure (health, education, housing, welfare services, and defense and security) – is central to overall growth and development of the economy.«114 Wissen und Werte sind die Basis für die tangiblen Strukturen  ; das ist aus zwei Gründen für die Armutsforschung relevant  : Erstens, weil die Art der tangiblen Infrastruktur Rückschlüsse auf die »Innenseite der Gerechtigkeit« zulässt  ; zweitens weil die tangible Infrastruktur von allen genutzt wird, auch von denjenigen, die große Vermögen kumulieren, sodass sich die Wertevorstellung des »selfmade man« und der »selfDie Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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made woman« ins Wanken gerät – das sollte auch »die Wunde des Wissens« gezeigt haben. E 3.10 Die Bedeutung intangibler Infrastruktur zeigt sich in der Macht von Ideen und der Kraft, die von der Verbreitung von Ideen ausgeht. Im Jahr 2005 führte eine Gruppe afghanischer Schauspielerinnen und Schauspieler in Kabul unter der Regie der Französin Corinne Jaber Shakespeares Komödie Verlorene Liebesmüh (Love’s Labour’s Lost) auf.115 Es war eine klare Entscheidung für ein Genre  : »Wir haben drei Jahrzehnte lang die Tragödie des Kriegs erlebt. Wir wollen eine Komödie aufführen« (SK 71). Nach mehr als dreißig Jahren standen Frauen und Männer gemeinsam auf der Bühne. Das Einproben des Stückes war Ausdruck und Aufbau einer intangiblen Infrastruktur. »Wenn du nur sechs Monate mit uns arbeitest, dann können wir das ganze Land herausfordern«, sagte ein afghanischer Schauspieler zu Corinne (SK 30). Hier wurde ein weiter Weg zurückgelegt. Zu Beginn der Proben fand sich keine Frau ein. Deswegen sagte Corinne zu den anwesenden Schauspielern  : »›Wenn ihr morgen kommt, bringt bitte ein paar Frauen mit.‹ Corinne war fest entschlossen, den Werten der Taliban keine Überlebenschance zu bieten. Es trat eine große Stille ein. Wir spürten, dass es ein Problem für sie sein würde, Frauen zu finden, aber sie wollten es versuchen« (SK 30). Gegen Ende der Proben lesen wir in der Beschreibung dieses Projekts  : »Die Frauen waren gegenüber den Männern nicht mehr so schüchtern. Alle schauten einander in die Augen, wenn sie miteinander sprachen und die Frauen stellten sich dicht neben die Männer, wenn es die Szene erforderte« (SK 199). So änderte sich bei den Schauspielerinnen und Schauspielern auch das Verständnis von romantischer Liebe, das im Stück eine große Rolle spielt, aber im afghanischen Kulturraum einigermaßen fremd war. Die Regisseurin stellt sich dieser Herausforderung, »Corinne wollte alle Textpassagen, in denen es um romantische Liebe geht, unbedingt erhalten, obwohl es so etwas in Afghanistan nicht gibt« (SK 67). Der Begriff der Liebe, der im Zuge der Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Shakespeare-Passagen intensiv diskutiert wurde (SK 147–153), hat (als Teil der intangiblen Infrastruktur) Auswirkungen auf die tangible Infrastruktur, die die Geschlechterverhältnisse etwa auch mit baulichen Mitteln koordiniert. Das Stück und der Genius Shakespeares wurden von den Mitwirkenden als Aufbau einer neuen Innerlichkeit verstanden  ; die ernsthafte Beschäftigung mit Shakespeare, so der Grundtenor der Mitwirkenden, verändert den Menschen auf tief greifende Weise. An einem denkwürdigen Tag unterhielten sich die Schau122

Dritter Teil  : Innenseiten

spielerinnen und Schauspieler darüber, was Shakespeare für sie bedeutet – eine Übung im »Teilen von Einsichten in die Bedeutung intangibler Infrastruktur«. Nabi Tanha etwa sagte  : »Shakespeare trägt völlige Stille in dein Bewusstsein. Seine Art, mit Sprache umzugehen, lässt die Worte dahinrinnen wie einen kleinen Fluss, der von weit her kommt und Freude und Traurigkeit mit sich bringt, Unruhe, aber auch Ruhe. Seine Worte lassen dich Selbstmitleid empfinden und zugleich auch Mitleid mit anderen. Sie lassen dich bewegungslos zurück und tragen dich in eine tiefe, nachdenkliche Stille« (SK 131). Texte verändern den Menschen  ; das hat auch eine politische Bedeutung, wie Kabir feststellte  : »Menschen mit schlechtem Gewissen leiden, wenn sie Shakespeare hören. Eine körperliche Wunde kann geheilt werden. Aber für ein schlechtes Gewissen gibt es keine Heilung, Shakespeare wusste das … Die körperlichen Wunden, die wir hier alle durch die Kämpfe davongetragen haben, werden in ein paar Jahren vergessen sein. Aber durch die Aufführung dieses Stücks bringen wir den Menschen unsere Leiden zu Gehör, die ein schlechtes Gewissen haben und immer noch im Land sind und uns regieren. Genau deshalb müssen wir diese Warlords einladen. Tatsächlich können wir unsere sichtbaren Wunden in unsichtbare Wunden verwandeln, die von innen heraus schmerzen« (SK 134). Die »unsichtbaren Wunden« sind Teil einer zerstörten intangiblen Infrastruktur  ; sie können aber zur Quelle von Versöhnung und Kraft werden, wenn sie entsprechend gewandelt werden. Mit-Leiden zeigt sich als Teil einer intangiblen Sozialstruktur, einer »Innenseite« des Sozialen. Der redliche Umgang mit inneren Verwundungen und Dynamiken ist Schlüssel für Stabilität des Gemeinwesens. So konnte Sha Mohammed auch mit Blick auf die politische Bedeutung des Theaters sagen  : »Wenn die Zeit reif ist, werden wir eine Tragödie inszenieren und Rache nehmen. Rache ist wie Durst, aber ein Durst, der mit Wasser nicht gestillt werden kann. Der Durst der Rache kann nur gestillt werden, wenn man das Blut der Feinde sieht. Wir werden Blut auf der Bühne zeigen, um den großen Durst der Familien und Opfer zu stillen« (SK 71). Solange diese Wunden Teil der Selbstwahrnehmung und der Orientierung sind, werden sie die intangible Infrastruktur beeinflussen und sich entsprechend auswirken. Auch diese Auswirkungen wurden im Rahmen der Proben sichtbar. In einer Schlüsselszene sollten die männlichen Schauspieler als Russen auftreten, die vier Edelmänner sollten sich als Russen verkleiden  ; es regte sich heftiger Widerstand von Seiten der Schauspieler, Nabi Tanha erläuterte  : »Wir sind so rückständig, als lebten wir tatsächlich noch im 14. Jahrhundert. Aber warum  ? Wegen der Politik. Wer ist schuld an unserer Rückständigkeit  ? England und Russland. Die Wunden, die Russland uns geschlagen hat, sind noch frisch Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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in unseren Herzen und Seelen. Corinne … du streust Salz in unsere frischen Wunden, wenn du verlangst, dass wir uns als Russen verkleiden sollen« (SK 200). Wieder stoßen wir auf Wunden  ; wieder stoßen wir auf eine »Innenseite«, die hier am Werk ist. Wieder hat die Arbeit an einem Theaterstück »Inneres« zutage gebracht und die Wirkmächtigkeit der intangiblen Infrastruktur unterstrichen. Nach Meinung einiger Mitwirkender erinnert Shakespeare an das Gemeinsame des Menschen, unbeschadet der sozialen Hierarchie. Er erinnert an die menschliche Natur. Der eben zitierte Shah Mohammed brachte sich mit folgenden Worten in die Diskussion um die Bedeutung Shakespeares ein  : »Wenn der Wind wie ein Kamm durch ein Kornfeld streicht, dann hinterlässt er hundert schmale Pfade. Shakespeare ist wie ein starker Wind, der direkt durch den Geist und das Bewusstsein des Menschen weht und so Antworten aufwirbelt, nach denen wir lange gesucht haben … Shakespeare beschreibt die Grausamkeit der Welt, indem er eine Figur wie einen Prinzen oder eine Prinzessin schafft und sie als große Ignoranten zeigt. Dann verdeutlicht er, dass es viel wertvoller und vielleicht auch leichter ist, ein normaler, einfacher Mensch zu sein. Er lehrt uns  : Strebe nicht nach Ruhm und Reichtum, denn das kann Unglück bringen … Du kannst die ganze Welt erobern, aber es bedeutet nichts. Wenn du aber dein Herz eroberst, bedeutet das alles. Manche Menschen scheinen vergessen zu haben, was der Sinn des Lebens ist. Das Leben ist grausam. Entscheidest du dich für die eine Seite des Lebens, verlierst du die andere, denn das Leben hat zwei Gesichter, nur das eine lacht und lächelt. Dieses Gesicht sollten wir zeigen« (SK 140f ). Wieder wird die Botschaft gezeigt – das Wesentliche ist im Inneren des Menschen, in Herz und Seele zu finden. Aufrichtigkeit, Redlichkeit, Ehrlichkeit sind Begriffe, mit denen man die ethische Botschaft Shakespeares, wie er in Kabul wahrgenommen wurde, annähern kann  : »Für mich steckt Shakespeare«, kommentierte Parwin, »… voller Ablenkung, Distanz, Grenzen und Hindernisse. Er weiß alles über den Geist des Menschen. Obwohl die meisten seiner Stücke Fabeln über Könige sind, kommt er im Grunde immer zum realen Leben zurück und zieht es dann vor, ganz alltäglich zu sein. Seine Botschaft lautet immer  : ›Ehrlichkeit‹. Es ist eine schlichte Botschaft, aber man braucht viel Zeit, sie zu entschlüsseln. Man muss die tiefere Bedeutung seiner Worte erfassen.« (SK 137). Die tiefere Bedeutung des Textes ist ebenso wie das Faktum der Aufführung politisch brisant. Faisal sieht einen Zusammenhang zwischen der Aufführung des Stücks und der Kritik an den Taliban  : »Verlorene Liebesmüh spricht durch die Blume und macht sich lustig über geschichtliche Verhältnisse wie die unserer jüngsten Vergangenheit, sprich die Taliban, die uns mit unsinnigen und grausa124

Dritter Teil  : Innenseiten

men Regeln drangsalierten. Verlorene Liebesmüh sagt alles über ihre unsinnigen Regeln« (SK 141). Faisal wird nach der Aufführung von einer englischen Zeitung mit den Worten zitiert  : »Die Taliban hätten niemals zugelassen, dass wir ein Theaterstück spielen, dass wir eine Liebesgeschichte erzählen können. Aber jetzt haben wir eine Demokratie und wir können unserem Volk diese Dinge zeigen. Ich bin so stolz« (SK 250f ) – hier verändert sich die intangible Infrastruktur, die entsprechend Druck auf die tangible Infrastruktur, etwa koedukative Schulen, ausübt.116 Gerade für das Thema der Armutsbekämpfung ist eines der wichtigsten Elemente intangibler Infrastruktur, entscheidend. Sabah drückte dies mit dem Begriff der »Gedankenarmut« aus  : »Shakespeare bringt seinem Publikum eine ganze Karawane von Ideen. Er versteht es besser als alle anderen, den Geruch des Lebens einzufangen, ob es nun Duft ist oder Gestank. Seine tiefere Botschaft gilt denen, die keine Fantasie haben, die an Gedankenarmut kranken und doch an der Macht sind … Das Stück zeigt deutlich, dass Einschränkungen der Lebensgestaltung, wie sie uns die Taliban auferlegt haben, dasselbe sind, als würde man mitten auf einer häufig benutzten Straße eine Mauer errichten. Früher oder später werden die Menschen eine solche Mauer einreißen. Die Menschen werden sich durch diese Einschränkungen nicht von ihrem Weg abhalten lassen, und sollte es sie das Leben kosten« (SK 138f ). Solche Mauern können sichtbar, aber auch unsichtbar sein, eine Frage von Klischees, die Menschen trennen.117 Sichtbare Mauern deuten auf unsichtbare Mauern hin, unsichtbare Mauern erzeugen in manchen Fällen sichtbare Absperrungen und Grenzen. Christoph Menke hat auf die Kraft hingewiesen, die mit der Ausübung von Kunst verbunden ist  : »Im Dialog mit dem Redner Ion hat Sokrates die Kunst als Erregung und Übertragung von Kraft beschrieben  : der Kraft der Begeisterung, des Enthusiasmus. Diese Kraft erregt zuerst die Muse in den Künstlern, und diese übertragen sie durch ihre Werke auf die Zuschauer und Kritiker.«118 Sokrates habe aus der Einsicht in die Kraft der Kunst die Konsequenz gezogen, »daß die Kunst aus dem auf Vernunft gründenden Gemeinwesen gebannt werden muß.«119 Die Ausübung der Kunst (als intangible Infrastruktur) ist dabei auf Institutionen (als Ausdruck tangibler Infrastruktur) angewiesen. Das Verhältnis von tangibler zu intangibler Infrastruktur im Rahmen von Kunst ermöglichenden Institutionen ist dabei paradox  : »So wie es das Experiment der Kunst mit dem Leben nur geben kann, wenn es Institutionen gibt, in denen die Kunst eine ›Stätte in der Welt‹ und damit Bestimmtheit gewinnt, so sind diese nur darin Institutionen der Kunst, daß sie zu ermöglichen versuchen, was sie ihrem Wesen Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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nach nicht sein können und wollen  : die Entfaltung des ästhetischen Zustands der Freiheit. Die Institution der Kunst muß eine Institution der Freiheit, eine Institution der Experimente sein. Das heißt  : Die Institutionen der Kunst müssen das Unmögliche wollen – die Realisierung eines Paradoxes.«120 Dieses Paradox mag auch für Institutionen gelten, die sich der Armutsbekämpfung verpflichtet wissen. RD 3.8 Die »Innenseite der Gerechtigkeit« zeigt sich an der Bedeutung von Eckpfeilern der intangiblen Infrastruktur, nämlich Vertrauen, Ehre und Solidarität für Gerechtigkeitstheorien. Die »Societas«-Dimension von Gesellschaft braucht eine »Communio«-Grundlage. Charles Taylor hat drei Bedingungen ausgewiesen, die erfüllt sein müssen, damit ein Gemeinwesen funktioniert  : Einheit, Partizipation, gegenseitiger Respekt. 121 Der amerikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah hat auf das Ehrgefühl als das Fundament von moralischen Revolutionen verwiesen.122 Daniel Dorling hat die Rolle von Überzeugungen in der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit herausgearbeitet.123 Ungleichheit kann nur dann abgebaut werden, wenn diese Überzeugungen systematisch zurückgewiesen werden  : »it is important not just to claim that you do not hold these beliefs, but do positively reject them.«124 Es sind vor allem fünf Überzeugungen, die Ungleichheit am Wirken halten  : elitism is efficient, exclusion is necessary, prejudice is natural, greed is good, despair is inevitable – »each belief also creates a distinct set of victims – the delinquents, the debarred, the discarded, the debtors and the depressed«.125 Diejenigen, die diese Überzeugungen haben, haben Schwierigkeiten, Situationen jenseits dieser Überzeugungen wahrzunehmen, es kommt dadurch zu einer Dynamik von »the hardening of souls«.126 Überzeugungen, also Aspekte menschlicher Innerlichkeit, sind Teile jener intangible Infrastruktur, die gesellschaftliche Entscheidungen und auch die tangible Infrastruktur mitprägen. Gerechtigkeit kann sich nicht ohne geteilte Überzeugungen realisieren lassen. Dabei sind diese Überzeugungen auch mit Formen der Wahrnehmung verbunden, wie wir im Zusammenhang mit dem Phänomen der Menschenblindheit gesehen haben. John Rawls hat die Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft auf einen geteilten Gerechtigkeitssinn, eine gemeinsame Vorstellung von Gerechtigkeit basieren lassen. Eine wohlgeordnete Gesellschaft liegt nach Rawls dann vor, »wenn sie nicht nur auf das Wohl ihrer Mitglieder zugeschnitten ist, sondern auch von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird.«127 Eine wohlgeordnete Gesellschaft beruht auf einem hinreichend großen gemeinsamen Boden, der Institutionen 126

Dritter Teil  : Innenseiten

und Einzelne derart miteinander verbindet, dass er die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen auf Grundsätze der Gerechtigkeit verpflichtet und eine Person X Grundsätze der Gerechtigkeit anerkennen und X darauf vertrauen lässt, dass die anderen diese Grundsätze auch anerkennen. Hier sind »Sinn« und »Vertrauen« Aspekte einer intangiblen Infrastruktur, die auf die Innenseite des Sozialen verweisen. Rawls bezeichnet einen gemeinsamen »Gerechtigkeitssinn« als das Fundament, das eine Gesellschaft in ihrer Wohlordnung konstituiert. Diese Wohlordnung ist gegenüber Feinden dieser Wohlordnung (etwa in Gestalt von gefährlicher Intoleranz) zu verteidigen128  : »Eine Gerechtigkeitsvorstellung ist stabiler als eine andere, wenn der von ihr erzeugte Gerechtigkeitssinn stärker ist und sich eher gegen schädliche Neigungen durchsetzt, und wenn die ihr entsprechenden Institutionen zu schwächeren Antrieben und Versuchungen führen, ungerecht zu handeln.«129 Stabilität zeigt sich darin, dass die Umsetzung einer Gerechtigkeitsvorstellung auch unter sich wandelnden oder gar widrigen Umständen aufrechterhalten werden kann. Die tragende Mehrheit der Gesellschaft muss den Wunsch haben, gemäß den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu handeln. Mit der Rede von »Wünschen« sind wir in jenem Bereich, den Sedláčeks mit Blick auf die Ökonomie analysiert. Rawls weiß um die Notwendigkeit, die »Innenseite des Sozialen« in den Blick zu nehmen und macht sich entsprechend – in Auseinandersetzung mit Theorieansätzen Freuds und Piagets – Gedanken darüber, wie dieser Wunsch nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit zustande kommt und stabil gehalten werden kann. 130 Hier ist die Moralphilosophie auf einen Dialog mit der Moralpsychologie angewiesen. Anders gesagt  : Fragen des ethischen Urteils sind immer auch mit Fragen der ethischen Wahrnehmung, mit einer Form des »Etwas-als-etwas-Sehens« verbunden. Eine wohlgeordnete Gesellschaft beruht auf einer Kultur des Vertrauens. Eine Kultur des Vertrauens wiederum beruht auf Versprechen, wie sie in gängigen Sozialvertragstheorien als Grundlage des Gemeinschaftslebens aufgefasst werden. Das Versprechen ist das entscheidende Instrument, um im Rahmen von Sozialvertragstheorien aus einem vorvertraglichen Zustand in einen Vertragszustand zu wechseln. Thomas Hobbes hält im Leviathan (Kap. 13–15) fest, dass es nicht rational sei, ein Versprechen zu brechen. Der entscheidende Wert der Praxis des Versprechens liege in der sozialen Koordination und der damit verbundenen Kooperationsmöglichkeit. Versprechen begründen Vertrauen, wodurch wiederum die Kosten von sozialen Transaktionen gesenkt werden können, weil Kontrollmechanismen wegfallen können. Hobbes hält die Vertragsfähigkeit für das entscheidende Moment im Übergang von Naturzustand zu kultivierter GeDie Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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sellschaft  ; Versprechen sind Teile eines komplexen Vertragssystems, das Menschen zusammenbringt und zusammenhält. Dieses Vertragssystem wird durch eine Einheit von Wort und Tat aufrechterhalten. Dadurch entstehen Bindungen, die Menschen zusammenrücken lassen. Diese Versprechen fundieren auf der Anerkennung von Gemeinsamem, setzen gemeinsame Vorstellungen voraus. Versprechen geben einem Gemeinwesen Stabilität. Diese Stabilität wird durch ein Regelwerk ermöglicht, wobei das Regelwerk auf Vertrauen aufruht.131 Versprechen beruhen auf Gemeinsamkeit und Vertrauen. Versprechen strukturieren ein soziales Gefüge und vermitteln inmitten der menschlichen Fragilität Zuverlässigkeit und Halt. An der Bedeutung von Versprechen zeigt sich die Innenseite der Gerechtigkeit. Gemeinsame Vorstellungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen spielen auch, um ein abschließendes Beispiel zur Illustration der »Innenseite der Gerechtigkeit« heranzuziehen, eine große Rolle in der Gerechtigkeitstheorie David Millers.132 Miller führt, ähnlich wie Rawls, die Rede vom »Gerechtigkeitssinn« ein  : »Alle moralisch kompetenten Erwachsenen haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der sie befähigt, die praktischen Fragen zu bewältigen, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben.«133 Menschen, die nach Gerechtigkeit streben, müssen sich auf ein das Alltagshandeln anleitendes Ideal geeinigt haben.134 Erst auf dieser gemeinsamen Grundlage kann Gerechtigkeit realisiert, ja diskutiert werden. »Soziale Gerechtigkeit setzt die Idee einer Gesellschaft voraus, die aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen besteht, die eine das Geschick jedes einzelnen Mitglieds beeinflussende institutionelle Struktur hat und in der eine Instanz wie der Staat zu planvollen Reformen im Namen der Fairness imstande ist.«135 Die Idee der Gerechtigkeit und auch den Praktiken von Gerechtigkeit ist eine Idee von Gesellschaft vorgelagert, ein Bündel von Überzeugungen, die die Hintergrundannahmen von gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen bilden.136 Gerechtigkeit verlangt bestimmte Haltungen und Einstellungen  : »Die Menschen brauchen sich in ihrem Handeln zwar nicht bewusst der sozialen Gerechtigkeit zu verschreiben, aber sie müssen einsehen, dass soziale Gerechtigkeit ihr Verhaltensrepertoire einschränkt … Es muss … eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit geben, die nicht nur die wichtigsten Institutionen durchdringt, sondern auch das Verhalten der Menschen außerhalb ihrer Rollen in formalen Institutionen einschränkt.«137 Diese Haltungen müssen also internalisiert worden sein, um als gute Gewohnheiten wirksam werden zu können. Hier befinden wir uns in jenem Bereich, der in der Sprache von Innerlichkeit zu beschreiben ist. Überzeugungen sind die Motoren von Gerechtigkeitspraktiken  : »Wenn wir sagen, dass 128

Dritter Teil  : Innenseiten

alle Menschen gleiche politische Rechte genießen sollten, sagen wir dies nicht, weil es keinen Unterschied zwischen ihnen gibt, die eine ungleiche Zuteilung rechtfertigen würden oder weil wir unserem Unterscheidungsvermögen in der Praxis nicht trauen, sondern weil es für uns ein positiver Wert ist, dass in diesem Bereich Gleichheit herrscht.«138 Die »Anziehungskraft von Gleichheit«139 ist wohl auf der Ebene geteilter Wahrnehmung anzusiedeln, auf der Ebene moralischen Empfindens. An verschiedenen Stellen kommt Miller auf diese Gemeinsamkeiten zu sprechen  : Ein Nationalstaat ist ein Gebilde, das so zugeschnitten ist, »dass seine Bürger ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl empfinden«  ; ein »nationales Zusammengehörigkeitsgefühl« erzeugt »für alle, die es teilen, Solidaritätsbande, die stark genug sind, religiöse, ethnische und andere individuelle Unterschiede zu überspielen«.140 Auch hier sind wir auf der Ebene moralischen Empfindens. Wenn man Bedarfsprinzipien anwenden möchte, muss man verstehen, dass diese »gemeinsame Vorstellungen davon voraus[setzen], was jemand für ein angemessenes menschliches Leben mindestens braucht.«141 Auch das Vertrauen auf faire Verfahren im Rahmen von Überlegungen zur prozeduralen Gerechtigkeit verlangen »Übereinstimmung in substanziellen Fragen«.142 In Millers Konzeption steht fest, dass »alle politischen Konzepte … von Hintergrundannahmen darüber geprägt [sind], was menschliches Leben lebenswert macht.«143 Hier sind also Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster den expliziten und systematischen Diskussionen vorgelagert. Auf diese Weise wird die »Innenseite« der Gerechtigkeit deutlich. E 3.11 Die Bedeutung der »Innenseite« des Sozialen haben Christian und Christine Schneider in ihrem mehrjährigen Aufenthalt in den Slums von Manila gemacht.144 Der Mangel an äußerer Infrastruktur zeigt »die Innenseite«  : »Das Ausmaß an Elend, mit dem wir konfrontiert sind, bringt uns an unsere Grenzen und kehrt bei jedem das Beste und das Schlechteste von innen nach außen« (SHS 35). Sie haben erfahren, wie wichtig es für Slumbewohnerinnen und Slumbewohner ist, »Identität« zu haben, eine Rolle  : Slumbewohner/innen empfinden es als wohltuend, in der Rolle von Lehrenden zu sein, die dem Neuankömmling aus der Schweiz Neues beibringen können – sie sind »die Profis, sie kennen die Sprache, sie wissen, wie man hier das Leben bewältigt« (SH S 28). Die Nachbarn freuen sich, wenn sie einem anderen etwas beibringen können (SHS 174). 145 Schlüsselfaktor wird Vertrauen – die Verletzlichkeit Christian Schneiders mit anfänglichen kulturellen und sprachlichen Defiziten erfährt dieser als Basis für Vertrauensbildung (SH S 28). Immer wieder hat er mit Vertrauensbrüchen zu Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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kämpfen, einmal als eine Frau mit dem Geldbetrag für den Einkauf von Notrationen durchbrennt (SHS 44) einmal als sich ein enger Mitarbeiter, ja Freund als Betrüger erweist.146 Vertrauen ist nicht einfach herstellbar, »Geld kann man immer irgendwie beschaffen, Vertrauen dagegen ist unbezahlbar« (SHS 266). Ein zweiter Faktor neben Vertrauen ist »Ehre« – Christian Schneider denkt über Diego nach  : »Ich wünschte, ich könnte ihm eine Augenprothese beschaffen. Ihm fehlt ein Auge, und an der hässlichen Wunde leidet er ziemlich. Filipinos wissen, dass sie hübsch sind, und legen Wert auf ihre Erscheinung. Viele pflegen sich ausgiebig, auch und gerade hier im Slum« (SH S 63)  ; Äußerlichkeiten spielen eine Rolle.147 Die Müllsammler kämpfen um ihre Existenz, um das Recht, Müll zu sammeln  : »Ich frage Joshua, wieso denn die Müllsammler ihr unwürdiges Leben noch verteidigen. ›Eben wegen ihrer Menschenwürde … Wir wollen nicht, dass man über uns verfügt und uns abspeist. Wir haben Sehnsucht nach einem Stück Land, von dem uns niemand vertreibt« (SHS 184). Ein dritter Faktor der intangiblen Infrastruktur ist »Solidarität«  : Es ist beeindruckend, welche Solidarität gezeigt wird, etwa mit Familien, die durch Brand ihre Hütte verloren haben  : »Die meisten Gottesdienstbesucher leben selbst weit unter dem Existenzminimum, doch die Sammlung ergibt 250 Pesos, also etwa vier Tageslöhne eines einfachen Arbeiters« (SHS 96). Immer wieder kommt Christian Schneider als einen vierten Aspekt der intangiblen Strukturen auf die Bedeutung von »Innerlichkeit« zu sprechen – er beschreibt die Bedeutung von Musik und unterstreicht damit die Bedeutung von Schönheit für ein äußerlich karges Leben (»Hin und wieder flüchte ich mich unter meinen Kopfhörer zu Antonio Vivaldi. Wobei es weniger eine Flucht sein mag als vielmehr die Freude an dem, was schön und gut ist in dieser Welt«  ; SH S 57)  ; ähnlich fühlt sich Christine Schneider gedrängt, dann und wann frische Blumen zu besorgen (SHS 260)  ; Christian erkennt, dass er sich um Innerlichkeit bemühen muss  : »Eines ist sicher  : Ich muss wieder einen Zugang finden zu einer intimen Lebensgemeinschaft mit Jesus von Nazareth – sonst frisst die Arbeit mich auf« (SHS 66). Er erfährt, »dass die Ohnmacht der Armen und die Einsicht, dass ich an dem Leid als Ganzes nichts ändern kann, mich innerlich verletzlich gemacht haben. Eigenartig. Und  : Mein eigenes Unvermögen ist mir bewusst geworden« (SHS 161). Das Ehepaar Schneider hat auch erfahren, wie Aspekte von Innerlichkeit eine armutsfestigende Rolle spielen können. Eifersucht und Neid sind große Probleme in den Slums (SHS 30, SHS 178), die das Miteinander hemmen. Alte Lebensgewohnheiten wie Spielsucht oder Eifersucht zerstören das soziale Gefüge (SHS 73). Die begonnenen Projekte dienen bei allen äußeren Chancen auch dem Aufbau von Innerlichkeit, 130

Dritter Teil  : Innenseiten

dienen der Kultivierung von Grundhaltungen wie Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit (SHS 157). Armutsbekämpfung hat auch mit dem Erschließen von Ressourcen robuster Identität zu tun. Das ist eine Frage des Zugangs zu einer Kultur von Innerlichkeit.

Die Innenseite des Sozialen  : die intangible Infrastruktur

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Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

Der Status der Frage 4.1 Die Frage geht von bestimmten Voraussetzungen aus  : (i) Die Beweislastfrage wird als offen angesehen. Diese Frage tangiert die Verteilung der epistemischen Pflichten – muss A nachweisen, dass Armut ein Übel ist, oder liegt es an B, zu zeigen, dass B ein »bonum« darstellt und positive Funktionen hat oder auch neutral ist, etwa im Sinne einer Interpretation von Joh 12,8 (»Die Armen werden immer unter euch sein«). Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass Armut selbstverständlich als Übel anzusehen ist, dass Armut also zu jenen Ungerechtigkeiten zählt, die von einem für die Theoriebildung bedeutenden Sinn für Ungerechtigkeit erfasst werden. Man könnte sich in Beantwortung der Frage von der Intuition leiten lassen, dass unfreiwillige Armut als Übel erfahren wird. Man könnte davon ausgehen, dass die Phänomenologie von Armut – Stress und Sorge, Krankheit und Verwundbarkeit, soziale Exklusion und Ohnmacht – die Beweislast umkehren lässt  : Armut ist ein Übel, wer Gegenteiliges annehmen will, hat die Beweislast zu tragen. Unfreiwillige Armut wird von Betroffenen als Übel erfahren. Es ist kaum möglich, die Aussage »Ich empfinde meine Lebenssituation, die von Armut bestimmt ist, als leidvoll, als ein Übel« zurückzuweisen. Andererseits gibt es eine reiche spirituelle Tradition, die Armut als »bonum« ausgewiesen hat. Das ist auch der Grund, warum es für die Beantwortung der Frage mit Blick auf die Beweislastvoraussetzung sinnvoll ist, sich die Argumentationsstränge zur Rechtfertigung von Armut als »Gut« anzusehen. (ii) Die Frage geht davon aus, dass sie in der 3. Person-Perspektive beantwortet werden kann. Armut wird hier als »externes Phänomen« gesehen, das einer Analyse zugeführt werden kann. Ich möchte die Frage in einer Weise formulieren, die sie auch in einer zweiten Person Perspektive stellen lässt – und daher qualifizieren  : Unter welchen Bedingungen ist Armut ein Übel  ? Und (unter diesen Bedingungen) – warum  ? Und (unter diesen Bedingungen) – für wen  ? Mit diesen drei Qualifikationen (Bedingungen, Begründungen, Betroffene) soll auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Phänomene in einer stratifizierten sozialen Welt Menschen ungleich betreffen und dass Phänomene kontextsensibel zu werten sind.

Der Status der Frage

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4.2 Die Frage »Ist Armut ein Übel« wirft zudem eine wichtige inhaltliche Fragen auf, die zum Verständnis der Frage geklärt werden muss  : Was ist ein »Übel«  ? Die Frage nach der Klärung von »Übel« stellt sich deswegen, weil die Frage »Ist Armut ein Übel  ?« nach dem normativen Status von Armut fragt. Armut als »Übel« auszuweisen, impliziert die Verpflichtung auf die Sätze  : »Armut soll nicht sein« und  : »Es ist gesollt, dass Armut nicht ist«. Ein Übel ist grundsätzlich etwas, das nicht existieren sollte. X ist ein Übel, wenn wir eine Situation, in der X nicht vorkommt, einer Situation, in der X vorkommt, vorziehen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Aneignung eines Gutes erstrebenswert ist und deswegen zielhaften Charakter hat, kann ein Übel als Zielerreichungshindernis angesehen werden. M ist ein Übel genau dann, wenn Z aufgrund von M nicht erreicht werden kann, wobei unter Z ein begründet anstrebenswertes Ziel verstanden werden soll. Ein Übel soll auf diesem Hintergrund verstanden werden als ein X, das dem, was begründeterweise angestrebt werden kann, entgegen steht und das Innere eines Menschen verändert. 4.3 Armut kann auch als Mittel zum Aufbau moralischer Identität, zur Kultivierung von Integrität angesehen werden. Unbeschadet der negativen Erfahrungen von Armut gibt es in der christlichen Tradition (und nicht nur hier) wirkmächtige Motive, die Armut als ein anstrebenswertes Gut, also als ein »bonum« ausweisen. Für die Frage »Ist Armut ein Übel  ?« ist dieser Diskurs, der Armut als erstrebenswert zeigt, von besonderem Interesse. Diese Argumentationsweise schält sich in der frühchristlichen Literatur in besonderer Schärfe heraus. Es scheinen im Großen und Ganzen vier Argumentationsstränge zu sein, die in dieser Tradition für (freiwillige) Armut als »bonum« vorgebracht werden  : (i) Armut ermöglicht eine theozentrische Lebensführung, die die Beziehung zu Gott durch die Notwendigkeit des Gottvertrauens und die Bedeutung von »Schätzen im Himmel« stärkt  ; (ii) Armut ist eine Lebensform, die die Überwindung der »avaritia«, also der Gier, die Folgeübel nach sich zieht und eine grundlegende Fehlhaltung der Seele darstellt, erleichtert  ; (iii) Armut ermöglicht ein gutes Leben im Sinne der Sorglosigkeit und der Freiheit von Sorge um materielle Güter – anders gesagt  : Armut ist eine Lebensform, die die Überwindung von Abhängigkeiten und Anhänglichkeiten, die die innere Freiheit rauben, fördert  ; (iv) Armut ist Ausdruck einer konsequenten Entscheidung für einen geistlichen Weg und als solche ein Mittel zur »Seelenformung«, zur Kultivierung innerer Integrität. Die vier Argumentationswege zielen auf moralische Identität ab, auf die Verwirklichung von bestimmten Idealen, die »Integrität« als Fokus von Iden134

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

tität erreichen lassen. Anders gesagt  : Armut ist insofern ein »bonum«, als es zum Aufbau von moralischer Identität und Integrität dient. Armut ist in der Hinsicht ein »bonum«, dass Armut Identitätsressourcen erschließt. Armut wird in dieser Tradition als Mangel an materiellen Gütern und als Mangel an immateriellen Gütern wie Status und Ehre verstanden, als ein Zuwenig an dem, was zumeist als wichtig angesehen wird. Armut ist insofern ein bonum, als sie einen privilegierten Weg zu Integrität darstellt. 4.4 Dennoch  : Auch in der christlichen Tradition, die Argumente entwickelt, die Armut in aller Deutlichkeit als bonum ausweisen lassen, zeigen sich Züge von Armut, die Armut als »malum« zeichnen. Es ist ja nicht Armut als solche wertvoll, sondern die Frucht der Armut. Armut ist in der christlichen Tradition – ähnlich wie das Leiden – ein Mittel zum Zweck, ein Vehikel, nicht aber etwas, das in sich wertvoll wäre. Armut ist ein Übel aus denselben Gründen, die dafür vorgebracht wurden, dass Armut ein bonum ist  : Armut ist ein »malum«, wenn sie vom Wesentlichen ablenkt und das konzipierte Ideal von Integrität unterminiert. Im Prinzip sind es also drei Argumente, die Armut als »malum« zeigen  : Armut ist ein Übel, wenn (i) chronische Unzufriedenheit mit Armut einhergeht, (ii) Armut mit einem ständigen Existenzkampf verbunden ist, (iii) Armut vom Wesentlichen ablenkt. In einem Satz  : Armut ist ein Übel, weil sie das konzipierte Ideal von Integrität nicht erreichen lässt oder bedroht. 4.5 Armut ist insofern ein malum, als es am guten Leben hindert, Armut ist insofern ein bonum, als es das Führen eines guten Lebens erleichtert. Armut kann in normativer Absicht in einen Zusammenhang mit dem Aufbau von Identität und Identität im Rahmen von Bindungen gesetzt werden. Das Kriterium, das Armut zu einem bonum bzw. einem malum werden lässt, ist in der Frage nach der Möglichkeit identitätsstiftender Bindungen zu finden. Identitätsstiftende Bindungen einzugehen und zu respektieren ist notwendig für ein gutes (besonderes und bestimmtes, also partikuläres und konturiertes) Leben. Die Möglichkeit, Fähigkeit und Bereitschaft ein Leben auf der Basis von identitätsstiftenden Bindungen zu führen, kann in einer ersten Näherung als »Identität« bezeichnet werden. Integrität betrifft die Möglichkeit, Fähigkeit und Bereitschaft, die normative Kraft von akzeptierten Bindungen zu respektieren. Armut ist insofern ein Übel, als es die Integrität von Menschen gefährdet. Armut unterminiert die Möglichkeit, gemäß begründeten persönlichen moralischen Standards zu handeln. Armut, so könnte man sagen, verletzt das Recht auf moralisches Handeln  ; Armut verletzt Der Status der Frage

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das Recht, nach begründeten und nachvollziehbaren moralischen Standards zu handeln. Dieses Recht ist gewissermaßen das Grundrecht für die Menschenrechte, die dafür gedacht sind, Menschen vor Strukturen und Umständen zu schützen, die in die Unmenschlichkeit führen  ; unmenschliche Strukturen sind solche, die daran hindern, ein »decent life« zu führen, ein Leben also, das nach menschlichem Ermessen davor bewahrt, sich in strukturelle Situationen begeben zu müssen, die moralischen Heroismus oder moralischen Verrat, wie er in »Sophie’s Choice« zum Ausdruck kommt, üben zu müssen. Armut ist für diejenigen, die Armut nicht freiwillig gewählt haben, dann ein malum, wenn Armut den Zugang zu Quellen von Integrität unmöglich macht oder erheblich erschwert. In einem Satz  : Armut unterminiert Integrität. 4.6 Armut wird zum Übel, wenn Quellen von Integrität verschüttet bzw. Aspekte von Integrität unerreichbar werden. Im Übrigen kann man auch dafür argumentieren, dass Armut nicht nur die Integrität der Armutsbetroffenen bedroht, sondern auch die Integrität der wohlhabenden Gesellschaftsmitglieder und einer Gesellschaft überhaupt, als »gemachte und stabilisierte Armut« auf Mängel der im Zusammenhang mit Integrität als Grundaspekt genannten Responsivität der Entscheidungsträger hinweist. Armut ist insofern ein Übel, als Armut Menschen daran hindert, Bindungen einzugehen bzw. Bindungen zu respektieren  ; die Kraft zur Selbstverpflichtung wird deutlich reduziert. Man könnte Armut deswegen auch als Deprivation der Fähigkeit, Versprechen abzugeben, ansehen. Diese Unfähigkeit führt zu einer Ausschlussspirale, da das soziale Leben wesentlich auf der Idee beruht, Versprechen abgeben zu können. Wenn zwischen akzeptierten Bindungen und der Möglichkeit, diese Bindungen zu respektieren, eine signifikante Kluft eintritt, können betroffene Menschen nicht mit guten Gründen ihr Leben affirmieren. Dabei wirkt die Armut als »Kardinalübel«, als ein Übel, von dem weitere Übel – wie Vernachlässigung, Gewalt, Kriminalität, Krankheit etc. – abhängen  ; Armut ist also ein Übel, das weitere Übel wirkt und damit eine »adverse, pervasive conditio«, also eine Lebenslage, die wesentlichen Gütern entgegensteht, sich durch sämtliche Aspekte des Lebens frisst und eine Lebensform darstellt – mit korrosiven Effekten. RD 4.1 Thomas von Aquin schließt sich einer wirkmächtigen Tradition an, wenn er ein »malum« als »ipsa privatio alicuius particularis boni« bezeichnet. 1 An derselben Stelle hält er fest, dass ein »bonum proprie est aliquid in quantum est appetibile«. Etwas ist also insofern ein Gut, als es erstrebenswert ist. In 136

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

einer anderen Formulierung  : »Bonum est quod omnia appetunt«. Der Charakter des Erstrebenswerten ergibt sich daraus, dass hier allgemeine Strukturen des Menschseins zugrunde liegen, die »alle« nach etwas streben lassen. Ein »malum« ist demgegenüber »id quod opponitur appetibili«. Und da auch das Sein ein »bonum« ist, kann nach Thomas festgehalten werden, dass ein malum auch »opponatur etsian ei quod est esse«.2 Und da das malum dem Sein entgegensteht bzw. da alles, was ist, ein »bonum« darstellt, kann das Übel konsequenterweise nur eine »privatio« sein3 und ist auf einen »Träger« angewiesen – »malum non potest esse nisi in bono.«4 Thomas von Aquin kann sich – etwa im Unterschied zu Ioannes Duns Scotus – nicht vorstellen, dass ein Mensch ein malum »als malum« wolle und anstrebe – »nullus facit aliquod malum nisi intendens aliquod bonum.« 5 Der Mensch strebt also irrigerweise etwas an, das er für ein Gut hält. Wenn ein Mensch dem Übel verfällt und selbst Böses tut, verändert sich die Struktur der Seele – »peccatum … facit animam minus aptam vel habilem ad gratiae suceptionem«.6 Die Konfrontation mit einem Übel verändert einen Menschen in seinen grundsätzlichen Handlungsdispositionen. Es wird zu zeigen sein, dass gerade darin, die Maliziosität von Armut besteht. E 4.1 Armut ist ein Übel. »When I started middle school, my baby cousin was attacked by rats. My aunt, uncle, and cousins lived next door. They had just arrived from Mexico, one of the many families who followed my pioneering mother to Oakland, after she had taken the first brave step to settle in this lonely place. One day, as my three-month-old cousin slept in the apartment next door in his crib, the rats came. They crawled into his crib in the middle of the night. As his mother slept, the rats attacked him, chewing on his cheeks, lips and gums. By the time his mother woke up and turned on the light, those rats had nearly chewed his face off. Ricky was in the hospital for three months so that doctors could put his face together. At this point, I told myself, ›I don’t want to live like this  ; I don’t want to be poor  ; I don’t want my family to suffer.‹«7 Muss hier noch tatsächlich der Nachweis erbracht werden, dass Armut ein Übel ist  ? Oder  : »Die Gesellschaft kennt keine Gnade, wenn hübsche Bilder, in denen sich alle selbst widergespiegelt sehen wollen, mir nichts, dir nichts zerstört werden. Da ist plötzlich diese Vorzeigefamilie kaputt … Aber nicht nur ich vereinsamte zusehends, auch die Kinder, allen voran die Mädchen, die Probleme hatten, ihre Freundschaften aufrechtzuerhalten.«8 Bedarf es hier bestimmter Argumente, um Armut als »malum« auszuweisen  ? Oder  : Ich »bin auf der Hartz-IV-Galeere angekettet, von daher weiß ich, wie es sich anfühlt, ein Galeerensträfling zu sein.«9 Ist es Der Status der Frage

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begründungspflichtig, einen Zustand von strukturell organisierter Unfreiheit als Übel anzusehen  ? E 4.2 Eine aufmerksame Lektüre von Carolina Maria de Jesus’ erwähnten Tagebüchern über ihre Erfahrung in einer brasilianischen Favela fördert also fünf Hauptargumente zutage, die Armut (verstanden als Zuwenig an Wichtigem, das anderen zur Verfügung steht) als Übel ausweisen  : (i) Armut ist ein Übel, weil sie das Leben in einen ständigen Kampf verwandelt  ; (ii) Armut ist ein Übel, weil die Lebenssituation von Armutsbetroffenen auch anderes sein könnte, da es sichtbare Ungleichheit in der Gesellschaft gibt und Armut gerade aufgrund dieser Erfahrung von Ungleichheit in die soziale Isolierung führt. (iii) Armut ist ein Übel, weil sie zu einer Deprivation an Erfahrung von Schönheit führt  ; (iv) Armut ist ein Übel, weil sie die Befriedigung von Grundbedürfnissen vor allem des Bedürfnisses nach Nahrung und Ernährungssicherheit gefährdet  ; (v) Armut ist ein Übel, weil sie die Möglichkeiten einschränkt oder gar raubt, den eigenen wohlbegründeten Standards moralischen Handelns gerecht zu werden. Nennen wir diese fünf Argumente, die wir aus einer spezifischen Mikrotheorie generieren  : Unfriedensargument (Stressargument), Kontingenzargument (Ungleichheitsargument), Ästhetikargument, Grundbedürfnisargument, Moralitätsargument. Diese fünf Begründungsstränge können zu Argumenten umgearbeitet werden, warum Armut als Übel ausgewiesen werden kann. Der zitierte letzte Satz des publizierten Tagebuches bringt diese Aspekte in Erinnerung  ; er lautet (Eintrag vom 1. Januar 1960)  : »I got up at 5 and went to get water« (C M J 176). Ähnlich wie der Eingangssatz lässt sich auch aus diesen wenigen Wörtern ein »Fenster in eine Armutssituation« herauslesen – das frühe Aufstehen, der klar vorgegebene Tagesbeginn, die Mühsal auch des Alltäglichsten und Notwendigsten. Wieder sehen wir den Lebenskampf, der jeden Aspekt des Alltags zur Mühsal macht. Die genannten fünf Aspekte scheinen darauf hinauszulaufen, dass einem Leben in Armut die »Lebensruhe« fehlt, eine grundsätzliche Stabilität, die es möglich macht, moralische Identität, also Identität nach begründeten moralischen Maßstäben und gemäß ausweisbaren Standards eines guten Lebens zu kultivieren. Hier steht also der Fokus der Identitätsarbeit auf dem Spiel, der Punkt, an dem die Anstrengungen, ein besonderer und bestimmter Mensch zu sein, zusammenlaufen. Dies zeigt sich vor allem daran, dass Armut dazu führt, dass Strukturen der Sorge im Alltag nicht integriert und moralische Erwartungen, die man mit guten Gründen an sich selbst heranträgt, nicht wahrgenommen werden können. Dieser Fokus auf eine Verantwortungsdimension verweist wie138

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

der auf Integrität als moralisches Gut. Armut ist vor allem deswegen ein Übel, weil Armut das Erreichen von Integrität erschwert oder unmöglich macht. E 4.3 Eine Mutter, die ihre Kinder nicht ernähren kann, sieht sich in ihrem Anspruch, ihren Sorgepflichten nachzukommen, enttäuscht. Eine partizipative Armutsstudie der Weltbank aus dem Jahr 1999 hat gezeigt, dass der Schmerz der Erfahrung von Armut wesentlich damit zusammenhängt, dass Haushalte und soziale Strukturen unter dem Druck zusammenbrechen.10 Geldsorgen und Schulden, der Druck, das Überleben zu sichern belasten auch die intimen Beziehungen, das Familienleben, die Struktur von Freundschaften. Armut wirkt sich auch auf die Fähigkeit aus, Bindungen zu erhalten und Bindungen an Sorgestrukturen aufrechtzuerhalten. Ein Leben als ständiger Kampf führt zu einem Stressniveau, das Handlungen generiert, die mit den eigenen moralischen Ansprüchen unvereinbar sind. Anders gesagt  : Armutssituationen zwingen Menschen dazu, ihre Vorstellung vom guten Handeln aufzugeben. Günter Wallraff hat die Erfahrung gemacht, dass die moralischen Spielräume empfindlich verkleinert sind, wenn man im Niedriglohnsektor tätig sein muss. Wallraff beschreibt in einem Selbstversuch, als er sich in einem Callcenter verdingt, die Dynamik, nicht mehr nach eigenen moralischen Standards handeln zu können, sondern gezwungen zu sein, gegen das eigene Gewissen zu betrügen und Menschen unter Druck zu setzen.11 Er merkt an sich selbst, dass er im Lauf der Wochen durch den Leistungsdruck eine Persönlichkeitsveränderung durchmacht und mit zunehmender Brutalität vorgeht.12 Der Niedriglohnsektor zwingt ihn zu Verhärtung und zur Anpassung seiner moralischen Standards  ; Petra van Laak erlebte nach ihrer insolvenzbedingten Verarmung, dass sie ihren Kindern nicht mehr jene Standards bieten kann, die sie aus guten Gründen hochgehalten hatte  : »Es fiel mir in der Zeit der Geldnot nicht schwer, weniger zu kaufen, aber ich musste mich anfangs immer überwinden, weniger hochwertige Lebensmittel zu kaufen.«13 Ihre Situation – alleinerziehende Mutter mit vier Kindern sucht eine Wohnung – zwingt sie zum Lügen  : »Mama, warum dürfen nur Millie und Friede mitkommen, die Wohnung angucken  ? Der Vermieter kriegt einen Schreck, wenn ich mit euch allen da auftauche. Aber der denkt doch, du willst da mit Millie und Frieda alleine einziehen. Ja, genau. Deswegen gibt er uns vielleicht auch die Wohnung. Ich finde das gar nicht gut, Mama, dass du lügen tust. Mit uns schimpfst du immer, wenn ich sage, ich habe zwei Bonbons genommen, und in Ehrlichkeit waren es vier.«14 Armut zwingt zu Kompromissen mit eigenen wohlbegründeten moralischen Standards. Elke Päsler beschreibt, wie die Armut sie Der Status der Frage

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aus einem bürgerlichen Leben in die illegale Prostitution getrieben hat15 – sie hatte sich nie gedacht, sich in dieser Situation finden zu können, auch nicht nach den beruflichen Misserfolgen des Mannes – sie erinnerte sich daran, dass sie in einem mitteleuropäischen Land lebte, dass die Medien nur Panik verbreiten würden, um die Auflagen zu steigern. »Dabei hatte ich zwei gesunde Kinder und einen fähigen, kräftigen Mann … Mario würde notfalls einen neuen Job finden. Wir waren jung und in der Lage, alles gemeinsam durchzustehen« (E P S 40)  ; doch »unsere wirtschaftliche Existenz brach unaufhaltsam zusammen« (EPS 44), die Schulden stiegen. Ähnlich wie der Vater in Coetzees Der Junge zieht sich Elke Päslers Ehemann mehr und mehr aus dem Familienleben zurück (EP S 55). Der Spielraum auf dem Arbeitsmarkt war angesichts der Wohnsituation und der Versorgungspflichten eng  : »Ich hatte keine Perspektive mehr. ›Dann such dir eben einen Job‹, hätten meine Eltern gesagt, aber das hatte ich mir schon oft genug überlegt. Eine Vollzeitstelle hätte ich wegen der Kinder nicht annehmen können. Die besseren Teilzeitjobs, die für mich infrage kamen, hätten höchstens tausend Euro netto im Monat abgeworfen und ich hätte dafür nach Wien pendeln müssen« (EPS 70). In ihrer Verzweiflung arbeitet sie das erste Mal als Prostituierte und verdient 300 Euro (E P S 80ff )  ; nach der ersten 300-Euro-Erfahrung  : »Ich stellte Hochrechnungen an. Dreihundert Euro für eine Stunde. Wie oft musste ich das tun, um mit den Kindern überleben zu können  ?« (EPS 87). Sie arbeitet unter dem Damoklesschwert, dass ihre Familie nichts von ihrer Arbeit erfahren dürfe (E P S 109), die Ehe zerbricht (E P S 106ff ). Fazit  : Die Situation hatte sich durch die Überschuldung zugespitzt, dass sie keine andere Wahl sah  : »Ich will mich nicht entschuldigen. Nicht dafür, dass ich mich am Höhepunkt meiner Krise für die illegale Prostitution entschieden habe. Es war damals die einzige Möglichkeit. Es war die einzige Option und genaugenommen auch in juristischer Hinsicht die bessere. Denn auf illegale Prostitution steht in Österreich nur eine Verwaltungsstrafe, für nicht bezahlte Schulden droht Gefängnis« (EP S 189). Jacqueline Novogratz hat Ähnliches für einen afrikanischen Kontext beobachtet.16 Armut erzeugt Stress, Druck und Zwang. Dadurch werden die Spielräume, sich nach eigenen Vorstellungen moralisch zu verhalten, eingeschränkt. Paulo Freire schildert eine Begegnung, die viel zu denken gibt  : Freire hielt einen Vortrag über gute Erziehung vor brasilianischen Arbeitern. Nach seinem Vortrag meldete sich ein Arbeiter zu Wort und sagte  : »Now Doctor, look at the difference. You come home tired, sir, I know that. You may even have a headache from the work you do. Thinking, writing, reading, giving these kinds of talks that you’re giving now. That tires a person out too. But, sir … it’s one thing to 140

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

come home, even tired, and find the kids all bathed, dressed up, clean, well fed, not hungry – and another thing to come home and find your kids dirty, hungry, crying, and making noise. And people have to get up at four in the morning the next day and start all over again – hurting, sad, hopeless. If people hit their kids, and even ›go beyond bounds‹, as you say, it’s not because people don’t love their kids. No, it’s because life is so hard they don’t have much choice.«17 »They don’t have much choice« – das ist ein Motiv, das sich immer wieder in Beschreibungen von Armut findet, denn in Armut leben, bedeutet, über einen eingeengten und zwar empfindlich und spürbar eingeengten Handlungsspielraum zu verfügen. Die Alternativen, die bei der Handlungsplanung zur Verfügung stehen, sind wenige und vieles wird von äußerem Druck her erzwungen. Unter dem Handlungsspielraum könnten wir das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten und –alternativen verstehen, die einer Person in einer bestimmten Situation zur Verfügung stehen. Eine Einengung des Handlungsspielraums bedeutet eine Verminderung der guten, d. h. wählbaren Handlungsmöglichkeiten. Im schlimmsten Fall sehen sich Menschen in einer ausweglosen Situation, in einer Situation, in der sie nicht mehr weiterhandeln können, in einer Situation, in der sie keine Alternativen mehr haben und das Handeln von der Not diktiert wird. In der Literatur wird diese Dynamik der armutsbedingten Verengung von Spielräumen immer wieder beschrieben. An einer schlichten Stelle aus Morrisons Roman Menschenkind etwa wird die Verengung auf den Punkt gebracht  : »›Vielleicht mußt du dich schinden.‹ – ›Es geht nicht drum, ob ich mich schinden muß  ; es geht drum, wo.‹«18 Das ist eine Frage des Handlungsspielraums. Armut engt den Handlungsspielraum ein, vermindert die Fähigkeit, Pläne zu machen und Entscheidungen zu treffen. In Machfuz’ Roman Anfang und Ende sagt denn auch eines der verarmten Familienmitglieder  : »›Ich hasse es, mein Verhalten ständig von der Armut diktieren zu lassen. Ich will nicht mit gesenktem Kopf laufen, wenn andere aufrecht gehen.‹«19 Einen ähnlichen Gedanken finden wir bei John Steinbeck  : »Ich hab’s verdammt satt, für mein Essen zu kriechen und nachher doch nichts zu bekommen. Ich habe Frau und Kinder. Wir müssen ja etwas essen. Drei Dollars am Tag – und das jeden Tag.«20 Der Begriff des Handlungsspielraums verweist auch auf den Begriff des Spiels. Menschen, die in Armut leben, machen nicht die Spielregeln. Cormac McCarthy lässt seinen Protagonisten Suttree erzählen  : »In seinem letzten Brief schrieb mein Vater, die Welt wird von denen beherrscht, die bereit sind, dafür die Verantwortung zu übernehmen. Wenn es das Leben ist, was du zu versäumen glaubst, dann kann ich dir sagen, wo du es findest. In den Gerichten, im Handel, in der Regierung. Auf den Straßen läuft Der Status der Frage

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nichts. Nichts als eine Pantomime, aufgeführt von den Hilflosen und Ohnmächtigen.«21 Hier wird die Frage aufgeworfen  : Wer macht die Spielregeln  ? Es gibt Gewinner und Verlierer in diesem Spiel. Armut bedeutet nicht nur eine Einschränkung des Handlungsspielraums, sondern auch eine Ungleichgewichtsdynamik  : Ein verminderter Handlungsspielraum auf der einen Seite ist in einen Zusammenhang zu setzen mit einer Maximierung des Handlungsspielraums auf Seiten derjenigen, die in Wohlstand leben und Menschen ohne Spielraum nutzen und benutzen können. Berührend ist eine Situation, die Ken Saro-Wiwa in seinem Roman Lemonas Geschichte schildert – ein nigerianisches Mädchen wird von seiner alleinerziehenden Mutter als Hausmädchen an Bewohner der Hauptstadt vermittelt  : »Ich habe mich in der Zwischenzeit immer wieder gefragt – und ich tue es noch heute – wieso sie es damals riskierte, mich einfach mit einem fremden Mann fortfahren zu lassen. Oder hat sie dem Schuldirektor so uneingeschränkt vertraut  ? Aber wie auch immer, bevor ich in das Auto kletterte, nahm sie mich in die Arme. Sie weinte. ›Meine Tochter, ich wünsche dir alles Gute  ! Meine schöne Lemma, meine einzige Tochter  ! Sei immer brav, dann wird es dir auch gut ergehen. Der Mann wird dich bald zur Schule schicken.‹ Ich hörte hier zum ersten Mal, daß mein Weggang aus Dukana noch einen anderen Einfluß auf mein Leben haben könnte, als mich von der Langeweile zu erretten. Als ich im Auto saß und wir losfuhren, drehte ich mich um, um meiner Mutter zuzuwinken. Da stand sie, eine schmale Gestalt in sauberen, aber zerschlissenen, fast zerlumpten Kleidern, mit zum Abschied erhobener Hand. Eine Last war von ihr genommen.«22 »Eine Last war von ihr genommen …« Dieser Satz hat eine realistische Grausamkeit, die schmerzt. Armut schränkt auch, wie wir gesehen haben, den Spielraum des moralischen Handelns ein. Menschen, die von Armut betroffen sind, können in vielen Fällen nicht gemäß ihrer eigenen moralischen Vorstellungen leben. Die Frage nach dem »moralischen Spielraum« wird an einer Stelle in Elsa Morantes Roman La Storia verdeutlicht, der das Schicksal von Ida, einer alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern in Rom während des Zweiten Weltkriegs, schildert. Der Kampf um das nackte Überleben schränkt den Luxus vieler Handlungsalternativen ein  : »Es war Mitte Mai. Eines Nachmittags sah Ida, als sie aus der Schule kam und an der Umfassungsmauer der kleinen Villa vorbeiging, durch das Gatter ein schönes, unbeschädigtes Ei  ; es lag im Schatten eines Strauchs, auf einem Lappen auf dem Boden. Offensichtlich hatte es ein junges Huhn bei einem kleinen Ausflug in den Garten erst vor kurzem dort gelegt, und noch hatte es niemand bemerkt. Die Fenster an der Vorderfront des Hauses waren geschlossen, vielleicht waren die Besitzer sogar abwesend. Das ländlich wir142

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

kende Sträßchen lag ruhig und verlassen da. Das Ei lag vor dem alten Hühnerstall, zwischen dem Strauch und dem Mäuerchen, nicht mehr als sechzig Zentimeter vom Tor entfernt. Es wurde Ida ganz heiß. Sie überlegte. Wenn sie mit der linken Hand den Stacheldraht anhob und den anderen Arm zwischen den niederen Querbalken des Gatters durchstreckte, konnte sie das Ei gut erreichen. Diese Überlegung geschah blitzschnell, und eigentlich war es nicht Ida, die sie anstellte, sondern eine zweite, geisterhafte Ida, die sich aus ihrem Körper befreite, eiligst in die Hocke ging und sich ihrer Hand bediente, um zuzupacken. Tatsächlich spielten sich die Überlegung und die Handlung gleichzeitig ab. Und schon rannte Ida, mit dem Ei in ihrem Korb, vom Schauplatz dieses erstmaligen und unbestraften Verbrechens weg. In der Eile hatte sie sich am Stacheldraht des Tors die Hand und das Gelenk tief aufgeritzt.«23 Nach dieser ersten Erfahrung ist die Hemmschwelle gefallen  : »In den letzten zehn Tagen des Mai beging sie im Durchschnitt einen Diebstahl pro Tag. Stets hielt sie, wie eine Taschendiebin, die Augen nach allen Seiten offen, bereit, bei der ersten besten Gelegenheit etwas an sich zu reißen. Sogar auf dem Schwarzmarkt von Tor die Nona, wo die Krämer wie Fleischerhunde aufpaßten, gelang es ihr, dank ihrer unglaublichen Geschicklichkeit, ein Paket Salz zu stehlen, das sie dann zu Hause mit Filomena teilte, von der sie dafür weiße Polenta bekam … Sie hatte mit einemmal jegliche Hemmungen verloren. Wäre sie weniger alt und häßlich gewesen, wäre sie womöglich, wie Santina, auf den Strich gegangen. Oder wenn sie praktischer gewesen wäre, wäre sie dem Beispiel einer Rentnerin namens Reginella gefolgt, einer Kundin Filomenas, die ab und zu in den reichen Vierteln der feinen Leute betteln ging, wo man sie nicht kannte.«24 Armut übt Druck aus, der so weit führen kann, dass Menschen dazu gedrängt werden, sich in einer Weise zu verhalten, die sie nicht mit eigenen moralischen Standards vereinbaren können. Einen anderen, für diesen Zusammenhang interessanten Aspekt hat José Saramago in seinem bereits erwähnten Erstlingsroman angesprochen – den Umstand, dass Armut den Spielraum, moralisch ambivalent zu handeln, verkleinert  ; Saramago berichtet von einem armen Ehemann, der Mann ist Raucher  : »Carmen blickte zu ihrem Mann … Emílios Aschenbecher war voller Kippen, und er rauchte immer weiter. Sie hatte einmal ausgerechnet, wie viel Geld für Zigaretten draufging, und ihm deshalb böse Vorhaltungen gemacht … Verbranntes Geld, zum Fenster hinausgeworfenes Geld, Geld, das ihnen fehlte« – und dann der Schlüsselsatz  : »Laster sind etwas für reiche Leute, und wer Laster pflegen will, soll zuerst reich werden.«25

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E 4.4 In der christlichen Tradition wird freiwillige Armut auch als »bonum« ausgewiesen  ; die Argumentation ist weitgehend kohärent und kann an zwei Beispielen gezeigt werden  : Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, ließ seinen Sekretär Juan Polanco am 6. August 1547 einen Brief an die Mitbrüder in Padua verfassen.26 Diese leiden gerade unter Mangel, den sie am eigenen Leib verspüren. Ignatius zeigt sich erfreut, dass sie die Liebe zur Armut verwirklichen können, eine Liebe, die aus Liebe zu Christus gewählt worden sei. Wer den nackten Christus am Kreuz vor Augen habe, werde nicht zur Geduld ermuntert werden müssen, wenn er die »heilige Armut« erfährt. Christus selbst hat Armut erfahren (vgl. Mt 8,20  ; Lk 9,58), »seine erwähltesten Freunde« seien arm gewesen. Die Armen werden als »selig« gepriesen, das Himmelreich wird ihnen als gegenwärtig zugesagt, nicht erst in der Zukunft liegend. Armut wird hier als Gnade Gottes beschrieben, unter Hinweis auf Sir 11,14. Besonders für die Armen hat Christus seine Botschaft gebracht (vgl. Lk 4,18  ; Mt 11,5). »Die Freundschaft mit den Armen macht zu Freunden des ewigen Königs« (IL B 186). Jesus identifiziert sich mit den Armen und hat ja auch verheißen, dass man ihm getan hat, was man dem geringsten Bruder getan habe (Mt 25.40). Der Nutzen der Armut ist groß  : »Sie tötet jenen Wurm der Reichen, nämlich den Hochmut und schneidet jene höllischen Blutegel der Ausschweifung und Freßsucht … ab« (IL B 187)  ; nimmt Hindernisse zum Vernehmen der Stimme des Heiligen Geistes weg. Die Armut »läßt einen unbehindert auf dem Weg der Tugenden gehen, wie ein Wanderer, der von jedem Gewicht entlastet ist« (IL B 187). Armut wird beschrieben als »Schmelzofen, der den Fortschritt der Tapferkeit und der Tugend bei den Menschen prüft« (I L B 188). Die Erfahrung zeigt vergleichsweise große Zufriedenheit der gewöhnlichen Bettler im Vergleich zu großen Kaufleuten, Amtspersonen und Fürsten (I L B 189). Gegen Ende des Briefes wird ein interessanter Begriff eingeführt, der Begriff des »zarten Armen« (I L B 189), als eines Menschen, der die Armut liebt, aber die Folgen der Armut nicht verspüren möchte (wie schlechtes Essen, schlechte Kleidung, Verachtung). Wenn man die Botschaft des Ignatius in eine andere Sprache übersetzen wollte  : Menschen in Armut erlangen größere Zufriedenheit, können sich leichter auf das Wesentliche konzentrieren und können das aufbauen, was man »robuste Identität« nennen könnte, also eine Form der Identität, die auch unter widrigen Umständen beibehalten werden kann. Ein zweites Beispiel aus der Ordenstradition der Jesuiten  : Pedro Arrupe SJ verfasste als Generaloberer der Jesuiten einen Brief über die Armut (»Carta sobre la pobreza, 8. Januar 1973, geschickt an Vicente D’Souza, Provinzial in Indien). 144

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

In diesem Dokument bedenkt Pater Arrupe das Verhältnis zur Armut mit Blick auf die Gesellschaft Jesu. Folgende Punkte scheinen zentral  : (i) Die evangelische Armut ist ein Mysterium, das nicht durch Vernunft allein gerechtfertigt werden könne (»La razón, por sí sola, es incapaz de explicarla y de justificarla«)  ; (ii) man muss die Armut tatsächlich erfahren, die Sehnsucht, arm zu sein, reicht nicht  ; es bedarf der Erfahrung von jenen Entbehrungen, wie sie arme Menschen erleiden (»sería ridículo decir que somos pobres si no tenemos ninguna experiencia de las privaciones que tienen los pobres«) – eine Lebenssituation der Privation sollte wenigstens eine bestimmte Zeit lang erfahren werden  ; (iii) diejenigen, die die Armut leben, ernten Früchte  : Freude und eine innere Freiheit – Erfahrungen von Armut aus Arrupes eigenem Leben zeigen, wie wenig notwendig ist, um ein glückliches Leben zu haben  ; (iv) arm zu leben bedeutet, nur das zu haben, was für Leben und Armut notwendig ist und auf Überflüssiges zu verzichten– dies zeigt sich auch in Kleinigkeiten und im Alltag  ; (v) die Ansprüche an den Umgang mit Armut können von der Ebene einzelner Menschen auf den institutionellen Kontext einer Jesuitenkommunität übertragen werden – hier gilt es, einen besonderen Blick auf »Vorteile« und »Privilegien« zu werfen. Auch hier – versuchen wir den Brief in eine andere Sprache zu übersetzen  : Armut als »bonum« hat auch den Charakter eines »Mysteriums«, das sich der Logik rationaler Argumente nicht vollständig erschließt und deswegen mit theologischen (und nicht philosophischen oder psychologischen) Mitteln als Gut auszuweisen ist  ; die Erfahrung von Armut vermittelt ein Wissen von Armut, wie es andere Perspektiven und Zugänge nicht erschließen können  ; freiwillige Armut, verstanden als Reduktion auf das äußerlich Notwendige, bringt innere Freiheit mit sich, ein Überwinden von Abhängigkeiten. RD 4.2 Mit Blick auf die christliche Tradition lassen sich im Wesentlichen vier Argumente herausarbeiten, die Armut als »bonum« erkennen lassen. Sie sollen in aller Kürze skizziert werden  : (i) Die Argumentation von der armutsbedingten Theozentrik her finden wir prominent in der »Philokalia Patrum«, einer Sammlung bedeutender Schriften aus der Ostkirche. Theodorus von Edessa formuliert in seiner Schrift »100 Kapitel zum Nutzen der Seele«  : »Besitzlosigkeit und Schweigen sind ein Schatz, welcher im Acker des mönchischen Lebens verborgen ist – Schatz, der nicht genommen werden kann«.27 Ähnlich erinnert Maximos, der Bekenner, in seiner »Zweiten Centurie über die Liebe« daran  : Besitzlos ist der, welcher all seinem Vermögen Der Status der Frage

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entsagt hat und außer dem Leib überhaupt nichts auf Erden besitzt. Zudem hat er die Beziehung zu seinem Leib abgebrochen und Gott und den Frommen seine Versorgung anvertraut  ; Verlust bringt die Verfassung des Leidenschaftslosen und des Leidenschaftlichen ans Licht – manche besitzen so, dass sie nicht betrübt sind nach Verlust.28 Petrus von Damaskus betont in der achten Darlegung des zweiten Buches die Freiheit für den Blick auf Gott, der sich durch die Armut ergibt  : »Wer frei ist von Leidenschaft, richtet durch die Beschauung seine Aufmerksamkeit immerfort auf Gott«. 29 Die »Philokalia« weist einen Weg nach innen durch die Verankerung der hesychistischen Tradition. Hier wird durch innere Ruhe der Blick auf Gott frei, die Stimmen der äußeren Ablenkungen verstummen. Dieses Motiv ist weit verbreitet  : Abbas Hyperechois, ein Wüstenvater, weist in der Sammlung von Lehrsätzen aus der Tradition der Wüstenweisheit, den »Apophthegmata Patrum«, auf die Bedeutung der freiwilligen Armut hin  : Diese ist für den Mönch ein Schatz, da es darum ginge, sich Schätze im Himmel zu erwerben.30 In verschiedenen Lebensbeschreibungen wird die Armut als Weg zu einer theozentrischen Lebensführung gepriesen.31 Der Argumentationsstrang, der Armut als Ermöglichung eines theozentrischen Lebens darstellt, geht von folgenden Überzeugungen aus  : a) Es gibt ein summum bonum, ein höchstes Gut  ; b) das summum bonum ist kompromisslos anzustreben  ; c) dieses höchste Gut hat zwei Eigenschaften  : Es ist nicht als ein »je größeres Gut neben anderen Gütern« zu sehen, sondern ist »exklusiv« und »norma normans«, will heißen  : Es duldet neben sich keine andere Güter, die aus Eigenem ein Gut wären, sondern etwas ist nur insofern ein Gut, als es vom summum bonum abhängt oder im Lichte des summum bonum ein Gut darstellt. Diese Sicht der Dinge wehrt sich gegen eine kompartmentalisierte Sicht menschlichen Lebens, in dem es verschiedene Güter in verschiedenen Lebenssegmenten gibt und ein gutes Leben darin besteht, möglichst viele dieser Güter in größtmöglichem Umfang zu realisieren.32 (ii) Der zweite Argumentationsstrang, der Armut in der christlichen Tradition als ein »bonum« ausweist, ist die Idee, dass freiwillige Armut ein wichtiges Mittel darstellt, die »avaritia« zu überwinden, die uns bereits im Zusammenhang mit Galbraith begegnet ist. Diese ist besonders gefährlich, denn Habsucht ist nach einem biblischen Wort »die Wurzel aller Übel« (1 Tim 6,10). Im Kolosserbrief wird die »avaritia« als besonderes Beispiel einer destruktiven Kraft beschrieben (Kol 3,5). Jesus warnt im Lukasevangelium vor jeder Art von Habgier (Lk 12,5), die Christinnen und Christen werden angehalten, frei von Habgier zu sein (Eph 146

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

5,3  ; Hebr 13,5). Die »avaritia« ist wie gefährliches Gift für die Integrität. Clemens von Alexandrien weist darauf hin, dass sich jemand all seines Besitzes entäußern und dennoch fest im Griff der avaritia bleiben könne.33 Evagrius Ponticus und Johannes Cassian haben die avaritia als fundamentale Fehlhaltung der Seele beschrieben, die eine Dynamik in Gang setzt, dass aus Vielhaben ein Mehrwollen folgt. In der »Philokalia Patrum« finden wir das Argument bei Theodorus von Edessa in seiner Schrift »100 Kapitel zum Nutzen der Seele«. Die Begierde nach Hab und Gut soll nicht in der Seele der Asketen wohnen … Das Laster der Habsucht ist Vater vieler Leidenschaften, wird es doch mit Recht die Wurzel aller Übel genannt.«34 In den »Apophethgmata Patrum« weist Abbas Gelasios auf die Gefahr hin, dass Denken von Besitz gefangen genommen ist.35 Auch Abbas Agathon warnt vor der Habgier und gibt – mit Blick auf Lk 6,30 – die folgende Ermahnung  : »Erwirb dir niemals etwas, das du deinem Bruder, wenn er dich darum bäte, nicht geben würdest«.36 An einer Stelle der »Historia Lausiaca« berichtet Palladius von Sisinnius, der trotz seiner eigenen Armut die Fremden gastlich aufnahm und dadurch die geizigen Reichen beschämte.37 Den Geist der rechten Armut erkennt Palladius von Helenopolis auch in seinem Mitbruder, der nicht aus Leidenschaft getrieben war, weder im Essen noch im Fasten, der Geldgier und Ehrgeiz bezwungen hatte und mit dem, was er hatte, zufrieden war. »Einst hat er mir eidlich versichert  : ›Ich habe Gott gebeten, er solle niemand, vor allem keinen Reichen oder Schlechten, bewegen, mir zu schenken, was ich nötig habe.‹«38 Das Heilmittel der »avaritia« ist die Fähigkeit des Genügens, die Genügsamkeit, die die Aussage »Es ist genug« zu treffen vermag. Was sagt uns das über das »bonum« der Armut  ? Wer die Kunst, sich mit Wenigem zufrieden zu geben, beherrscht, wird nicht von der »avaritia« gepeitscht sein und kann inneren Frieden finden  ; denn die »avaritia« bringt es mit sich, dass ein Mensch, der von dieser Fehlhaltung der Seele betroffen ist, niemals sagen kann »Genug ist genug«. Ein von avaritia betroffener Mensch ist stets getrieben. Das Remedium gegen die avaritia ist die »temperantia«, die auf Maßstäbe des Guten angewiesen ist, um dem prinzipiell unendlichen Begehren des Menschen eine Grenze zu ziehen. Denn die »avaritia« kennt keinen natürlichen Sättigungspunkt. (iii) Das Motiv der Sorglosigkeit findet sich prominenterweise in der Bergpredigt mit dem Hinweis auf die Vögel des Himmels und die Lilien auf dem Feld und dem Aufruf, sich nicht unnötig zu sorgen (Mt 6,27–34). Hier wird eine bestimmte Gesinnung nahe gelegt. Dieses Motiv hat etwa Papst Leo der Große aufgenommen  : Stets ist die christliche Armut reich, weil das, was sie hat, mehr Der Status der Frage

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ausmacht, als das, was ihr abgeht  ;39 die gottesfürchtige Witwe im Evangelium hat die Haltung der vertrauensvollen Sorglosigkeit vorgelebt, ähnlich wie die Witwe von Sarepta. Letztere hat den Primat des Nichtmateriellen (Respekt vor Wunsch des Gottesmannes) vor dem Materiellen (Umgang mit letzten Lebensmitteln) ausgedrückt. Die Frage nach Grundhaltungen und Gesinnung hat Clemens von Alexandrien in seiner wirkmächtigen Auslegung der Perikope der Begegnung von Jesus mit dem reichen Jüngling (Mk 10,17–31) in den Vordergrund gestellt  : Jesus habe nach dieser Deutung nicht den wörtlichen Verkauf des Besitzes aufgetragen, sondern die krankhafte Sorge. 40 Es gehe darum, nicht »Sklave seines Besitzes« zu sein.41 Das ist eine Frage des Inneren, eine Frage der Haltung. Sie zeigt sich mit Blick auf den heutigen Tag, vor allem also in der Frage nach dem Quotidianum im Sinne der vierten Vaterunser Bitte nach dem täglichen Brot. In den »Apophthegmata Patrum« wird Abbas Megethios ob seiner rechten Haltung gerühmt, stets nur auf den einzelnen Tag zu schauen  : »Nie hatte er etwas von den Dingen dieser Welt zu eigen, außer einer Nadel, mit der er die Palmzweige schlitzte. Täglich verfertigte er drei Körbchen zu seinem Unterhalt«.42 Der oben zitierte Theodorus von Edessa unterstreicht die Bedeutung der Sorglosigkeit  : »Ein Mönch nämlich, der viel besitzt, ist ein leckes Schiff, welches vom Sturm der Sorgen hin und her geworfen wird und in die Tiefe der Betrübnis versinkt.«43 Ähnliche Hinweise gibt Petros von Damaskus  : Sorglosigkeit und Furchtlosigkeit entstammen gerade der Besitzlosigkeit  ; wer nichts hat und haben will, hat Ruhe  ; deswegen müsse man auch allen Besitz veräußern, um Christus zu finden44  ; Petros von Damaskus weist auch auf die wahre Enthaltsamkeit hin, die in der Freiheit von Abhängigkeit besteht – diese Freiheit (und wohl auch die Kraft zu dieser Freiheit) ergibt sich aus der Hoffnung, aus der Hoffnung auf ein je anderes Leben  ;45 den Leidenschaften versklavt zu sein, ist demgegenüber nicht nur eine Weise der Unfreiheit, sondern auch eine Form des Stumpfsinns. 46 Die Haltung der Sorglosigkeit lässt im Sinne der Bergpredigt (Mt 6,33) frei werden für das Himmelreich, um das es den Menschen zuerst gehen solle. Diese Haltung zeigt sich in innerer Ruhe, in Seelenfrieden, in einem Freiwerden für das Wesentliche, das Ausdruck und Ergebnis dieser Grundhaltung darstellt. (iv) Armut ist eine Lebenslage, die die Seele auf besondere Weise prägt, und kann, so sie Ausdruck einer Entscheidung ist, eine klare Option für einen geistigen Weg sein – daraus ergibt sich ein klarer Sinn für Prioritäten, ein Sinn für den Primat des Inneren vor dem Äußeren, wie er im Hinweis auf die Verunreinigung des Menschen durch Inneres und von innen her (Mk 7,15  : Nichts, was 148

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein) zum Ausdruck kommt. Clemens von Alexandrien bemüht dieses Motiv insofern, als er daran erinnert, dass Armut insofern ein »bonum« ist, als mit Reichtum und Vermögen die Gefahr von Schmeichelreden, die den Sinn aufblähen, Stolz und Eitelkeit verbunden seien.47 Es sei nicht leicht, sich nicht vom glänzenden Zauber des Reichtums gefangen nehmen zu lassen.48 Demut ist nach einem Gedanken von Papst Leo dem Großen leichter von den Armen als von den Reichen zu erwerben49, wobei jedem Stand die Möglichkeit zum Tugenderwerb offen steht. Auf dem geistlichen Weg können radikale Mittel hilfreich und notwendig sein, wie das an einigen Stellen in den »Apophthegmata Patrum« deutlich wird  : Abbas Antonios berichtet von einem Bruder, der die Welt verlassen und seinen Besitz unter den Armen verteilt, aber doch einiges für sich zurückbehalten hatte – er wurde, weil er den Weg des Geistigen nicht konsequent verfolgte, von Tieren zerfleischt  ;50 Abbas Agathon verbietet einem hungrigen Mönch, eine grüne Schote auf dem Weg aufzuheben.51 Ähnliche Hinweise finden sich auch in der lateinischen Überlieferung der »Apophthegmata«  : Es sei für den geistlichen Weg nicht gut, mehr zu besitzen, als für die Bedürfnisse notwendig seien.52 Es wird von einem Mönch berichtet, der nach seinem Tod aufgrund seiner Sparsamkeit etwas Geld vererbte – was sollte damit geschehen  ? Es wurde der Entschluss gefasst, das Geld mit ihm zu begraben.53 Eine besonders eindrückliche Stelle schließlich berichtet von einem Mönch, der sein Exemplar der Schrift veräußert habe, er habe also das Buch verkauft, das ihm sagt, er solle alles verkaufen.54 Johannes Chrysostomos schildert Armut als »Zuchtmeisterin«, auch gegen den Willen des Menschen.55 – was schadete dem Lazarus seine Krankheit, »da seine Seele sich blühender Gesundheit erfreute  ?«56 – seine Seele sei gerade auch deswegen gesund, weil sie sich in Geduld üben müsse.57 Demgegenüber schweben Menschen, die in Reichtum leben, in großer Gefahr, denn sie werden wie Schafe von Wölfen umringt, die das Schaf »durch Schmeichelreden aufblähen.«58 Reichtum bedroht also die moralische Integrität und erschwert eine klare Option für einen geistlichen Weg und eine Bindung an einen Primat des Geistlichen. Diese Skizzen mögen wie ein Umweg erscheinen, aber sie machen deutlich, dass Armut mit Blick auf die episthetische Situation bewertet wird. Wenn man sich diese vier Argumentationswege ansieht, wird man zum Schluss kommen, dass sie gerade auf jenen inneren Frieden und jene Lebensruhe abzielen, die Carolina Maria de Jesus als armutsbedingt unerreichbar erfahren hat. Paradoxerweise Der Status der Frage

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zeigt sich in dieser Tradition Armut als ein bonum, (i) insofern Armut das Leben in ständige Wachsamkeit wandelt und gewissermaßen »Stachel im Fleisch« ist und sich gegen Selbstgefälligkeit und Bequemlichkeit richtet (Carolinas »Stress­ argument«), (ii) insofern es Ungleichheit in der Gesellschaft gibt und Armut damit den Ausdruck einer Kontrastlebensform ermöglicht (Carolinas »Ungleichheitsargument«), (iii) insofern Armut eine Form der Askese ermöglicht, die auf eine besondere Erfahrung des (göttlich) Schönen hinführt59 (Carolinas »Ästhetikargument«), (iv) insofern ein Leben in Armut die Ernsthaftigkeit des Glaubensweges durch den Verzicht auf Notwendiges ausweist60 (Carolinas »Grundbedürfnisargument«), (v) insofern Armut die Realisierung hoher moralischer Erwartungen, die man an sich selbst heranträgt, und die Übernahme von strengen Selbstverpflichtungen erleichtert (Carolinas »Moralitätsargument«). Dabei ist Armut weder in sich wertvoll noch für alle Menschen ein Weg zur Integrität. RD 4.3 Armut ist nicht in sich wertvoll  ; sie kann auch zum Übel werden  ; auch in der christlichen Tradition wird Armut immer wieder als »malum« ausgewiesen  : Armut ist mit Blick auf die Frucht, nicht aus sich heraus, »bonum« oder »malum«. Markos der Asket erinnert in seiner Schrift »Zweihundert Kapitel über das geistige Gesetz« daran, dass jemand, der zwar auf Hab und Gut verzichtet hat, aber immer noch dem Vergnügen ergeben ist, keinen Nutzen hat.61 Entscheidend ist nach der einflussreichen Lehre des Clemens von Alexandrien die Gesinnung62  – äußere Armut führt keineswegs in selbstverständlicher Weise zu guter Charakterbildung, sondern ist auch mit einer unstatthaften Gesinnung vereinbar.63 In den »Stromateis« hält Clemens von Alexandrien fest, dass man sowohl bei Armut als auch bei Überfluss ein rechtschaffenes Leben führen könne, wobei die Tugend vor allem für diejenigen erlernbar sei, die etwas gelernt haben und geübte Sinne besitzen.64 Tugendbildung ist Teil der Bildung und die Lebensformung, die hartes Leben mit sich bringt, ist nicht ein Garant für diesen Weg des Gebildetwerdens. Gier kann auch angesichts äußerer Armut auftreten  ; deswegen sei die geistliche Armut das Entscheidende. Wahrer Reichtum bestehe im Überfluss an tugendhaften Taten, wahre Armut im Mangel an weltlichen Begierden65  – Armut in ihrer hässlichsten Form hat ebenso wie Reichtum in seiner hässlichsten Form mit »Begehren« und »Gier«, mit »desires« zu tun.66 Allerdings gibt Clemens von Alexandrien einen wichtigen Hinweis  : Unglücklich sind die Armen, die nicht auf geistliche Weise arm sind – sie haben »keinen Anteil an Gott und noch weniger einen Anteil an irdischem Besitz« und sie haben »die Gerechtigkeit Gottes nicht geschmeckt.«67 Diese Stelle ist bedeutsam  : Armut 150

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

kann auch das Gottvertrauen untergraben, also eines der wichtigsten Güter auf dem Weg zu einem christlichen Leben. Eine weitere Gefahr drückender Armut ist die damit verbundene chronische Unzufriedenheit, ein Motiv, das wir bei Carolina Maria de Jesus vorgefunden haben – ähnlich wie Krankheit zur Klage verleitet68, während körperliches Wohlbefinden zur Gleichgültigkeit führen kann. Auch Johannes Chrysostomos betont Unzufriedenheit als Preis unfreiwilliger Armut, die er als »schlechterdings beständiges Übel« bezeichnet.69 Im Abschnitt 12 der Abhandlung über den reichen Jüngling (»Welcher Reiche wird gerettet werden  ?«) hält Clemens von Alexandrien fest, dass es unmöglich sei, dass jemand, dem es am Lebensnotwendigen fehlt, dadurch nicht gebeugt und von Höherem abgehalten werde, weil sein Sinn immer auf das Überleben gerichtet sei.70 Armut verstrickt in einen ständigen Lebenskampf, der am Geistlichen hindert und niederdrückt. Wenn in der christlichen Tradition nicht anerkannt worden wäre, dass Armut ein Übel sein kann, hätten die stark im christlichen Verständnis von Diakonie verankerten Hinweise zur Philanthropie bzw. zur Solidaritätspflicht nicht gegeben werden können  : Jeder Besitz, der nicht auch den Bedürftigen zum allgemeinen Gebrauch zur Verfügung gestellt wird, ist seinem Wesen nach ungerecht, lesen wir bei Clemens von Alexandrien.71 Dieser ist es auch, der zwei Armutsbegriffe unterscheidet  : Armut an Eigenem und Armut an Fremdem72 – Armut am Eigenen besteht in Armut an Geistigem, was nicht genommen werden kann  ; Armut an Fremden besteht in Mangel an Besitz an weltlichen Gütern, die außerhalb des Menschen liegen. Armut im ersten Sinn ist erstrebenswert, Armut im zweiten Sinn kann, vor allem als freiwillige Armut, ein bonum sein, kann aber auch ein malum darstellen. Auf den ersten Blick erinnert der Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut an den in der Literatur häufig diskutierten Unterschied zwischen »Fasten« und »Hungern« – in der Sprache des Fähigkeitenansatzes  : »A person who is starving and a person who is fasting have the same type of functioning where nutrition is concerned, but they do not have the same capability, because the person who fasts is able not to fast, and the starving person has no choice.«73 Freiwillige Armut ist eine Form des Fastens, unfreiwillige Armut ist eine Form des Hungerns – und doch  : (i) Die skizzierten Hinweise aus der christlichen Tradition geben Einblick in Lebensformoptionen, die – einmal getroffen – eine Irreversibilität erreicht haben, was eine Annäherung von freiwilliger Armut an unfreiwillige Armut bedeutet, zumal wir uns auch plausiblerweise vorstellen können, dass es in der Gestaltung der Lebensform von Armut freudigere und weniger freudige Phasen, Erfahrungen größeren Enthusiasmus und Erfahrungen von innerer Wüste und Der Status der Frage

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motivationaler Dürre gibt. (ii) Ein Mensch, der verhungert, ist auch in einer Extremsituation nicht in jedem Fall ohne Wahlmöglichkeiten, was den Umgang mit der Situation angeht – wieder werden wir auf die episthetische Situation in ihrer Gesamtheit verwiesen  : Es ist nicht allein die Freiwilligkeit, die Armut zu einem bonum macht, wie es auch nicht allein die Unfreiwilligkeit ist, die Armut in ein malum verwandelt. Armut ist aus denselben Gründen, die sie zu einem »bonum« machen, als »malum« anzusehen, denn Armut »zwingt die Seele, die Beschäftigung mit dem Notwendigen, der wissenschaftlichen Betrachtung und dem Streben nach der reinen Sündlosigkeit aufzugeben, indem sie den, der sich noch nicht durch die Liebe Gott völlig hingegeben hat, dazu zwingt, sich mit dem Erwerb des Nötigen zu beschäftigen«, während andererseits Gesundheit und reiche Fülle an Lebensnotwendigem dem die Seele, die das Vorhandene richtig zu verwenden weiß, frei und ungehemmt erhält74  – Armut nimmt also die Freiheit, sich mit dem Wesentlichen zu beschäftigen. Auch aus der Armut erwachsen demjenigen, »der sie nicht ertragen kann«, unzählige Sorgen.75 Johannes Chrysostomos wiederum hält in »De sacerdotio« fest, dass Niedergeschlagenheit und fortwährende Sorgen die Kraft der Seele zu brechen vermögen und diese in einen Zustand äußerster Schwachheit versetzen.76 Wieder finden wir den Hinweis, dass Armut den inneren Frieden, die innere Integrität aufs Spiel setzt. Zusammenfassend könnte man sagen, dass sich in der frühen christlichen Tradition im Prinzip drei Argumente bzw. Bedingungen zeigen, die Armut als »malum« darstellen  : Armut ist ein Übel, wenn (i) mit der Lebenslage eine chronische Unzufriedenheit einhergeht, (ii) Armut mit einem ständigen, Frieden raubenden Existenzkampf verbunden ist, (iii) Armut vom Wesentlichen ablenkt. Nun ist es durchaus bemerkenswert, dass die Argumente, dass Armut einen »Stachel im Fleisch« bildet und zum Wesentlichen hinführt als Pro-Argumente ins Spiel gebracht worden sind. Um es in der in diesem Buch verwendeten Sprache auszudrücken  : Das Kriterium zur Bestimmung des normativen Status von Armut ist die episthetische Situation des Menschen, die Frage nach der Verbindung zur Möglichkeit von Integrität. Anders gesagt  : Armut ist ein Übel, wenn sie das konzipierte Ideal von Integrität nicht erreichen lässt oder bedroht. E 4.5 Die Ambivalenz von Armut hat Platon in einer berühmten Stelle des »Symposium« zum Ausdruck gebracht. Sokrates spricht mit anderen Gästen über den Eros, Mittler zwischen dem Sterblichen und dem Unsterblichen.77 Der Gott des Überflusses, Poros, ging bei einem Festmahl anlässlich der Geburt der Aph152

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

rodite, berauscht, in den Garten des Zeus hinaus, um dort zu schlafen  ; Penia, Göttin der Armut, die an der Tür gestanden war, um sich vom Festmahl etwas zu erbetteln, fasste aufgrund ihrer Bedürftigkeit den Entschluss, ein Kind mit ihm zu haben und legte sich zu ihm. Sie empfing den Eros. Aufgrund dieser dreifachen Verflechtung (Geburtstag der Aphrodite, Sohn des Poros und der Penia) ergibt sich die Ambivalenz im Charakter des Eros, der die Schönheit liebt, weil er am Geburtstag der Aphrodite gezeugt wurde  : Aufgrund des Erbes seiner Mutter ist Eros rau, unfein und unansehnlich, hat keine Behausung, ist unbeschuht und stets bedürftig. Das väterliche Erbe lässt Eros tapfer, keck und ränkeschmiedend werden, sich zum Jäger und Zauberer entwickeln. Der Eros ist also gleichzeitig Kind des Mangels und des Überflusses. Was sagt diese Stelle über die Armut aus  ? Penia ist vom Festmahl ausgeschlossen, muss sich auf erfindungsreiche und moralisch diskutable Weise Zugang zu Lebensmöglichkeiten verschaffen, indem sie eine Verbindung mit dem Überfluss eingeht. Penias Sohn ist rau, unfein und unansehnlich, ohne Behausung, unbeschuht und unbedeckt, bedürftig. Mit anderen Worten  : (i) Armut ist mit Exklusion verbunden und zeigt sich im Ausschluss von gemeinschaftsstiftenden und gemeinschaftsvergewissernden Ereignissen  ; (ii) Armut erzwingt Initiative und Erfindungsgeist  ; (iii) Armut führt dazu, in moralisch fragiler Umgebung handeln zu müssen  ; (iv) Armut ist keine Conditio, die es unmöglich machen würde, Verbindungen außerhalb der Armut einzugehen  ; (v) Verbindungen außerhalb der Armut führen zu einer Transformation der Armuts-Conditio  ; (vi) die Conditio von Armut ist durch Rauheit, Schutzlosigkeit und Bedürftigkeit gekennzeichnet. Diese Schutzlosigkeit ist es wohl, die Armut in vielen Kontexten als Deprivation von Integritätsressourcen und damit als »malum« ausweisen lässt.

Die Frage nach dem guten Leben 4.7 Die Frage nach dem normativen Status von Armut kann nicht getrennt werden von der Frage nach dem guten Leben. Die Frage nach dem guten Leben wiederum kann nicht getrennt werden von der Frage nach dem Leben. Leben ist das, was wir verlieren, wenn wir sterben  ; in einem gewissen Sinn wird Leben also besessen und kann wieder verloren werden. Was verlieren wir nun, wenn wir sterben  ? Wichtige Bilder für das Leben sind Blut und Atem. Im Sterben werden wir »blutleer«, wir »hauchen unseren Atem aus«. Das sind Hinweise auf die Eigenart des Lebendigseins. Was verlieren wir, wenn wir sterben  ? Wir verlieren vor allem  : Die Frage nach dem guten Leben

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Präsenz, Veränderungskraft und Widerstand. »Präsenz« bedeutet  : In einer Situation als ernsthafter Kandidat für ein Gegenüber von P2 zu stehen, sich in einer Form darzustellen, die es anderen Subjekten schwer macht, das eigene Dasein nicht als Orientierung für die Handlungskoordination anzusehen  ; präsent zu sein, kann zweierlei bedeuten  : (i) Einer Situation und einem Gegenüber präsent zu sein, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu zeigen und die äußere Situation auf tiefe Weise mit dem Inneren in Verbindung bringen  ; (ii) in einer Situation präsent zu sein und damit als »Gesicht« für P2 infrage zu kommen. »Veränderungskraft« bedeutet, Quelle von Kraft zu sein, die Möglichkeit in Wirklichkeit überführt, Situationen transformiert, neue Sachverhalte herstellt. »Widerstand« bedeutet, Quelle von Ansprüchen zu sein und Resistenz gegen äußere Einwirkungen, die nicht im Einklang mit der eigenen episthetischen Situation stehen, zu zeigen. 4.8 Ein gutes Leben ist ein integres Leben, ein Leben, das unter dem Bemühen um Integrität steht. Integrität kann als episthetische Gerechtigkeit verstanden werden  : (i) Gedächtnisgerechtigkeit im Sinne einer Ethik der Erinnerung, die sich auf wahrhaftige, wahre, um Kohärenz und Nichtleugnung ringende Arbeit an der Präsenz des Vergangenen verpflichtet  ; (ii) Vorstellungsgerechtigkeit, die sich um die Kultivierung eines lebensrelevanten Möglichkeitssinns müht, um eine kohärente Architektur von Vorstellungen entwickeln und um an »verortbaren Utopien« bauen zu können, also Utopien, die an einem Status Quo andocken können  ; (iii) Urteilsgerechtigkeit, die sich um ein Überlegungsgleichgewicht bemüht  ; (iv) Gefühlsgerechtigkeit, die Widersprüchlichkeit zwischen Gefühlen, Handlungen und Überzeugungen zu reduzieren sucht  ; (v) Strebegerechtigkeit, die Entscheidungen mit dem Gesamt der Lebenssituation und den anderen episthetischen Vermögen abstimmt  ; (vi) Haltungsgerechtigkeit, die auf Basis der episthetischen Vermögen jene Gewohnheiten auszubilden bemüht ist, die dem Leben eine der episthetischen Struktur entsprechende »Regula« und »Struktur« verleihen  ; (vii) Überzeugungsgerechtigkeit, die epistemische und moralische Überzeugungen im Rahmen einer P 2,1232 Perspektive entwickelt. Ein gutes Leben ist ein Leben, das sich um diese Gerechtigkeiten (oder auch  : Sphären innerer Gerechtigkeit) bemüht. 4.9 Armut ist gerade deswegen ein Übel, weil sie den Zugang zu diesen Gerechtigkeiten erschwert oder gar unmöglich macht. Armut ist häufig mit bitteren Erinnerungen und Erfahrungen von Unrecht verbunden, mitunter auch mit 154

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

Belastungen von Trauma, was Erinnerungsgerechtigkeit erschwert  ; Armut geht häufig mit einem Mangel an Phantasie und Möglichkeitssinn und einer eingeschränkten Vorstellungskraft einher, was die Vorstellungsgerechtigkeit schwerer zugänglich macht  ; Armut ist häufig auf eine widrige Situation verworfen, die jenen Abstand, der für Reflexion und Überlegungsgleichgewicht notwendig ist, erschwert  ; Armut ist nicht selten mit starken Emotionen wie Scham, Zorn und Trauer verbunden, gerade auch angesichts der eingeengten moralischen Spielräume, was Gefühlsgerechtigkeit erschwert  ; Armut erschwert den Zugang zu Strebegerechtigkeit, weil der Wille häufig zu den unmittelbaren Bedürfnissen hingezwungen wird  ; aufgrund der eingeengten Spielräume, des Umfelds, der widrigen Strukturen und vor allem auch des Mangels an Alltag ist es schwer möglich, sich in einer Armutssituation »gute Gewohnheiten« und »gute Haltungen« anzueignen  ; Überzeugungsgerechtigkeit wird aufgrund der häufig eingeschränkten Vergleichsbasis und des Fehlens von Referenzpunkten aufgrund von Bildungsmängeln erschwert. In einem Satz  : Armut erschwert den Zugang zu jenen Quellen, die Integrität als Integration innerer Gerechtigkeiten nähren. E 4.6 C. S. Lewis, der in einer sprachwissenschaftlichen Studie über den Begriff des Lebens nachgedacht hat78, hat in seinem bewegendem Buch A Grief Observed 79 den Verlust seiner geliebten Frau vor allem als Verlust von Widerstand und Disruption erfahren. Lewis zeigt sich entrüstet über einen Mann, der vor einem Friedhofsbesuch sagt, »Ich gehe schnell, Mutter besuchen«. Ein Grab lässt sich hegen und pflegen, nach eigenem Entscheid bepflanzen und begrünen. Ein Bild eines geliebten Menschen lässt auch alles mit sich machen (L G O 20). Die Betrachtungen von C. S. Lewis zeigen, dass er den Tod seiner Frau so erlebt hat, dass er auch einen Teil seines Lebens verloren hat. Der Verlust eines geliebten Lebens bringt den Verlust eigener Kraft und den Verlust eigener Präsenz mit sich. So hat es C. S. Lewis erfahren, der davon spricht, dass sich durch die Erfahrung des Verlusts ein unsichtbares Leintuch vor die Wirklichkeit geschoben habe, die dadurch an Interesse verloren hat. Wir könnten sagen  : Die Welt hat ihre »Frische« eingebüßt, durch den Verlust eines geliebten Menschen, der der Welt Kontur und Struktur gab. Lewis schreibt über das permanent provisorische Gefühl, mit dem er nun lebt, ein Gefühl, das ihm die Kraft nimmt, irgendetwas anzupacken (L G O 29f ). Die Welt wirkt abgetragen, abgeschmackt (L G O 31). Sie hat die Fähigkeit, herauszufordern, zu überraschen, ihre Frische und Tiefe verloren. Ein geliebter Mensch zeigt Präsenz, öffnet sich der Perspektive der zweiten Person in einer besonderen Weise. Die Liebe zu einem Menschen erfüllt die Die Frage nach dem guten Leben

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Welt mit Struktur, mit Dichte, Tiefe und Frische. Im geliebten Menschen finden wir Anhaltspunkte zur Orientierung, um zwischen »wichtig« und »unwichtig« unterscheiden zu können. Damit einher geht Kraftlosigkeit. Lewis schreibt von der Trägheit, die sich durch die Trauer einstellt. Sein eigenes Leben hatte an Präsenz, Widerstand und Veränderungskraft eingebüßt. Lewis machte die Erfahrung, wie viel von seinem Leben vor Joy mit dem Tod seiner Ehefrau dahingegangen ist (L G O 52)  : »Wusstest du, Geliebte, wie viel du mit dir genommen hast, als du gingst  ? Du hast mich auch meiner Vergangenheit entkleidet, sogar der Dinge, die wir niemals miteinander geteilt haben.« Die Struktur der Welt ist für einen wachen Menschen disruptiv  : »Alle Wirklichkeit ist ikonoklastisch. Die irdische Geliebte, auch in diesem Leben, triumphiert unablässig über unsere bloße Idee von ihr« (L G O 56). Das ist ex negativo die Erfahrung von Zeichen des Lebens, von Präsenz, Widerstand, Veränderungskraft. E 4.7 Eine gute Weise, sich der Frage nach dem guten Leben anzunähern, besteht in folgender Fragesituation  : Was wünschen wir, wenn wir an der Schwelle zum Tod stehen, jemandem, der neu ins Leben getreten ist und der uns etwas bedeutet  ?80 Genau vor dieser Frage standen Jesuitenpater Alfred Delp und der Theologe Dietrich Bonhoeffer, die in Nazideutschland im Gefängnis saßen. Alfred Delp wurde am 2. Februar 1945 hingerichtet, wartete seit Urteilsverkündung am 11. Januar auf die Hinrichtung und schrieb am 23. Januar, eine Woche vor seinem Tod, einen Brief an sein Patenkind, Alfred Sebastian Keßler.81 Delp schickt seinem zehn Tage alten Patenkind »mit meinen gebundenen Händen einen kräftigen Segen« (D G S 139), spricht dann den Umstand an, dass sich der Bub »eine harte Zeit ausgesucht« habe, tröstet dann aber  : »Ein guter Kerl wird mit allem fertig« (D G S 140). Dann erinnert er den kleinen Alfred Sebastian an das Vorbild seiner beiden Vornamensgeber, Alfred, Mann des Gebets, Sebastian, Mann der Tapferkeit. Und dann fügt Alfred Delp seine eigene Einsicht in das Leben hinzu  : »das war der Sinn, den ich meinem Leben setzte, besser, der ihm gesetzt wurde  : die Rühmung und Anbetung Gottes vermehren  ; helfen, daß die Menschen nach Gottes Ordnung und in Gottes Freiheit leben und Menschen sein können« (D G S 140). Hier findet sich also der Hinweis auf Lebensanker und Lebensfokus und die Idee des Dienstes. Wir leben, so fährt er fort, in großer Not, »in der wir das Recht verloren, Menschen zu sein« (D G S 141) – lebensfähig sei nur der Mensch, der in Gottes Ordnung lebt  ; also der Mensch, um es anders zu formulieren, der sich nicht seine eigene Ordnung ad libitum zusammenzimmert, sondern der anerkennt, dass es einen größeren Rahmen gibt, in den sein Leben 156

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

eingebettet ist. Delp erinnert sein Patenkind daran, dass uns die Kraft Gottes zur Verfügung steht, »daran hängt es auch, ob ein Mensch einen endgültigen Wert hat oder nicht« (D G S 141). Der endgültige Wert, die definitive Form seines Lebens wusste Delp erst im Gefängnis geformt  ; bis zuletzt hatte er auf Freispruch gehofft, dann wurde ihm klar, dass die Hinrichtung sein Leben beschließen würde. Die im Gefängnis notwendige Konzentration auf das Eigentliche gab, so empfand es Delp, seinem Leben eine endgültige Form, eine Plastizität. Delp beendet seinen Brief an Alfred Sebastian Keßler mit drei Wünschen  : »helle Augen, gute Lungen und die Fähigkeit, die freie Höhe zu gewinnen und auszuhalten« (D G S 141)  ; der Hintergrund für diese Wünsche ist das Bild eines hohen Berges  : »Ich lebe hier auf einem sehr hohen Berg … Was man so Leben nennt, das ist weit unten, in verschwommener und verworrener Schwärze. Hier oben treffen sich menschliche und göttliche Einsamkeit zu ernster Zwiesprache. Man muß helle Augen haben, sonst hält man das Licht hier nicht aus. Man muss gute Lungen haben, sonst bekommt man keinen Atem mehr« (D G S 141). Das ist ein Bild, das auf die Kultivierung eines in der Innerlichkeit greifbaren Lebensfokus hinweist. Wir könnten die Hinweise auch im Sinne einer Aufforderung zu Integrität verstehen, zu einer inneren Robustheit, der auch die moralisch wie materiell widrigen Umstände einer Notzeit nicht beikommen können. Dietrich Bonhoeffer steht vor einer ähnlichen Aufgabe  : Im Mai 1944, nachdem er bereits mehr als zwei Jahre inhaftiert ist, schickt er seinem Patenkind Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge einige Gedanken.82 Auch Bonhoeffer beginnt nach dem Hinweis darauf, dass mit dem Kind nun »eine neue Generation« beginnt, mit einer Reflexion auf die Vornamen und das Erbe, das damit verbunden ist. Er schildert dann das Elternhaus als festen »Schutzwall gegen alle äußere und inneren Gefahren« (BW E 430), als Hort geistiger Werte und als Quelle geistiger Anregungen. Bonhoeffer zeichnet dann die Vorzüge des Landlebens, vor allem im Hinblick auf Verwurzelung und Genügsamkeit (B W E 431). Seine Lebenserfahrung lässt ihn an die Grenzen der Planbarkeit erinnern  : »Wir sind aufgewachsen in der Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, der Mensch könne und müsse sein Leben selbst planen, aufbauen und gestalten, es gebe ein Lebenswerk, zu dem der Mensch sich zu entschließen… habe … Es ist aber unsere Erfahrung geworden, daß wir nicht einmal für den kommenden Tag zu planen vermögen (BW E 432). Wir erkennen, dass alles in Gottes Händen liegt, vor allem aber auch einen Primat der Innerlichkeit  : »Wenn wir aus dem Zusammenbruch der Lebensgüter unsere lebendige Seele unversehrt davontragen, dann wollen wir uns damit zufriedengeben« (B W E 432). Bonhoeffer verweigert aber einen QuiDie Frage nach dem guten Leben

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etismus und erinnert daran, dass nicht Gedanken der Ursprung des Handelns seien  : »Erst zu spät haben wir gelernt, daß nicht der Gedanke, sondern die Verantwortungsbereitschaft der Ursprung der Tat sei« (BW E 433). Bonhoeffer erinnert daran, dass auf der Grundlage der Verantwortung Denken und Handeln in ein neues Verhältnis treten müssten, hält fest, dass »Vernunft und Recht« versagt haben, dass Schmerz Teil der neuen Lebensrealität geworden sei  ; damit mahnt er sein Patenkind auch, Vernunft und Recht nicht zu überschätzen.83 Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge werde in ein neues Zeitalter hineingehen, »an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert« (BW E 436) – »es wird eine neue Sprache sein«. Damit schließt Bonhoeffer ähnlich wie Delp, mit dem er natürlich die christliche Verankerung teilt, an die Grundidee von Lebensfokus (in Bonhoeffers Worten  : »Nachfolge«84) und Dienst (in Bonhoeffers Sprache  : »Verantwortungsbereitschaft«) an. Auch bei Bonhoeffer geht es um Integrität in einer moralisch defekten Umwelt. Diese beiden Grundbotschaften von Delp und Bonhoeffer sind Aussagen über ein gutes Leben, im Sinne eines ernsthaften und anspruchsvollen Lebens, das bereit ist, einen Preis für das zu zahlen, was Wert hat. E 4.8 Ein »gutes Leben« kann sich in Form von Lebensstandard, in Form von Lebensqualität oder auch in Form von »Lebenstiefe« zeigen. Der Begriff der Lebenstiefe unterstreicht das Anliegen von robuster Identität  ; er unterscheidet sich vom Begriff »Lebensstandard« und auch vom Begriff der Lebensqualität. Lebensstandard wird zugunsten von Lebensqualität immer wieder freiwillig abgesenkt  ; diese Dynamik können wir auch beobachten, wenn wir eine Reduktion von Lebensqualität aufgrund von Lebenstiefe beobachten. Lebenstiefe ergibt sich aus den Bindungen, die ein Mensch eingeht, erfährt und einzugehen bereit ist  ; ein Leben hat Tiefe, wenn es eine Richtung aufweist, sodass viel Kraft und Entschlossenheit, viele Bindungen und Entscheidungen in dieselbe Richtung gehen – gleich einem Graben oder Bohren, das in die Tiefe geht oder gleich der steten Bewegung des Wassers, das einen Stein aushöhlen kann. Ein Leben hat Tiefe, wenn diese Kraft und diese Bindungen mit Intensität in diese eine Richtung gehen. Während sich Lebensstandard aus den äußeren Gütern und Lebensqualität aus dem Wohlbefinden und dem Lebensglück speisen, speist sich die Lebenstiefe aus den Bindungen. Diese Bindungen verleihen Identität. Identitätsstiftende Bindungen sorgen dafür, dass wir wissen, wer wir sind, aber gerade deswegen sind wir auch verwundbar – wir bauen ein Selbst auf, wenn wir in unserem Leben Werte identifizieren, für die wir bereit sind, auch einen Preis 158

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

zu zahlen. Dazu ein Beispiel  : Die englische Theologin Sheila Barton schildert eine Lebenssituation, in der sich die Frage nach dem guten Leben auf eine besondere Weise stellt  ; sie beschreibt als Mutter eines mittlerweile erwachsenen autistischen Sohnes, wie es sei, mit einem autistischen Kind zu leben.85 Allein sprachlich stößt sie auf Grenzen und muss zu Metaphern Zuflucht nehmen  ; sie beschreibt die Situation ihres Sohnes wie den Schrei eines verwundeten Lebewesens (»the desolate cry of a wounded animal«  ; BLJ 1), beschreibt Autismus als Leben in einem fremden Land (»we are in another country here, where the customs are different, the language strange  ; BLJ 1«), bezeichnet sich selbst als »code breaker« und Jonathan als »time bomb« (BL J 6). Auch die Diagnose vergleicht sie mit einer Bombe, »like a bomb  ; once it explodes, it will leave a permanent crater in our lives« (BL J 12). Gerade in diesem Lebenszusammenhang stellen sich die Fragen nach gutem Leben und nach einer guten Gesellschaft – gehen wir davon aus, dass man die ethische Qualität einer Gesellschaft daran erkennt, wie sie Rahmenbedingungen für den Zugang zu integritätsstiftenden Identitätsressourcen ermöglicht. Sheila Barton spricht sowohl über Jonathans Identität als auch ihre eigene Identität. Jonathans Identität bedeutet »constant disruption«, sowohl für die Umwelt, als auch für ihn selbst. Sie macht die Erfahrung, dass Jonathans Identität nur bedingt anerkannt wurde – »they want him to be someone else – beautiful little Jonny without the autism« (BLJ 77)  ; sie ist aber auch stolz, dass Jonathan sich entwickelt hat, um ein Leben als besonderer, bestimmter und auch lebensbesitzender Mensch zu leben.86 Sheila Barton berichtet von den identitätsverändernden Entwicklungen in ihrem eigenen Leben  ; sie musste ihren Platz in der Welt des Autismus finden- »I learn about autism and about my place in it« (BL J 15)  ; der Autismus Jonathans brachte sie aus dem geschützten Ghetto einer Mittelklassefamilie heraus87, warf jeden Monat neue Aspekte auf und hinterließ auch in ihrem Haus Spuren. Dadurch veränderten sich Strukturen der Handlungsmacht, der Zugehörigkeit, vor allem aber der Sorge  : »The life of a carer is difficult to describe to others – the sense of your life dissolving into another person’s, the way you are hardly aware of your own existence« (BLJ 90)  ; ein Preis, den sie für diese starke Sorge zu zahlen hatte, war die Erfahrung von Einsamkeit.88 Gleichzeitig blieb sie Mitglied der sozialen Welt, die in Form von Unterstützungs-, Begleitungs- und Überwachungsmaßnahmen auf sie einströmte. Sie machte die Erfahrung, dass sich die in anderen Familien etablierte Unterscheidung zwischen »privater Bereich der Familie« und »öffentlicher Bereich der Gesellschaft« anders darstellte  : »The doctor recommends a referral to the family Die Frage nach dem guten Leben

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support service. I am very, very resistant. I don’t want my family to be branded a ›problem‹. But I need help« (BLJ 50)  ; sie sah sich »a whole lifetime of interventions from people« (BLJ 15) ausgesetzt  ; und fühlte sich dennoch isoliert – erstens deswegen, weil ihre Situation von Anderen kaum in ihrer »Wie-Tiefe« (wie es ist, ein Kind mit Autismus großzuziehen verstanden werden konnte89), zweitens weil sie die Kontakte zur sozialen Welt aufgrund der Unberechenbarkeit Jonathans (»time bomb«  !) reduzierte. Die größte Unterstützung erfuhr sie von einer jungen Frau, die Jonathan als Jonathan wahrnehmen und mit Wärme wertschätzen konnte  : »The best thing is Julie. She is a light switched on in a darkened room … We meet the first person who regards him as a person rather than a problem … And Jonny is no longer just a case of autism. He is a great little boy, with a fantastic sense of humour, a will of iron, and a love of music« (BLJ 79). Damit wird Jonathan zuerkannt, ein besonderer Mensch zu sein und nicht »Repräsentant einer Kategorie«, ein »epistemisches Objekt«. Einer der berührendsten Aspekte von Bartons Buch ist die Idee, dass ein Leben mit Jonathan es notwendig machte, »lieben zu lernen«, nicht so sehr zu lernen, »dass« man Jonathan lieben solle, sondern zu lernen, »wie« man ihn lieben solle. Sheila Barton spricht von Jonathans beiden Geschwistern »who will have to try to love someone who screams and head-butts if they touch him at the wrong moment« (BLJ 15). Auch Sheila Barton musste lernen, Jonathan in einer Krisensituation bei einem Anfall nicht zu berühren, nicht anzureden, sondern ihm Zeit zu lassen, sich ruhig neben ihn hinzusetzen und leise zu singen beginnen. Sie musste, um es so auszudrücken, eine Sprache der Liebe lernen. Sie musste lernen, zu verstehen »how very frightened he is« (BL J 25), musste langsam lernen, »what he finds frightening, what he needs to block out, how he imposes order on his chaotic world. We start to respect him for who he is and to understand how hard it is for him to cope« (BLJ 178) – hier wird ein Lernprozess angesprochen. Dieses Lernen über die Sprache(n) der Liebe führte Sheila Barton zu einem Verständnis für Vielfalt und die gebotene »Polyglottie«  : »Remember that there are different ways of experiencing the world  ; different ways of thinking and feeling  ; different ways of being frightened  ; different ways of showing love« (BL J 266). Das Buch endet mit einer berührenden Szene, einem Ausflug von Sheila Barton mit ihrem Sohn, den sie von der Betreuungseinrichtung abgeholt hat  ; sie erfährt, selbst in einer persönlich schwierigen Situation, die heilende Kraft der Präsenz ihres Sohnes  : »I realize what a gift my darling son has given me« (BLJ 272).

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Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

Die Frage nach der guten Gesellschaft 4.10 Die Frage nach einer guten Gesellschaft kann über Minimalbedingungen gestellt werden  ; wenn Integrität als Schlüssel zum guten Leben vorgestellt wurde, ergibt sich als eine Minimalbedingung einer guten Gesellschaft die Vermeidung von Sozialpathologien. Unter einer Sozialpathologie könnte man eine systematische und signifikante Störung des Zusammenlebens verstehen, die die Basis einer auf Dauer angelegten Koexistenz und Kovivenz von Menschen beschädigt oder zerstört, die Möglichkeit eines wohlgeordneten Gemeinwesens raubt oder gefährdet und die strukturellen Rahmenbedingungen für den Aufbau von Integrität erodiert. Tiefe Politik, die sich um dilatorische Güter bemüht, ist der klarste Schutz gegen die Entstehung von Sozialpathologien. 4.11 Eine gute Gesellschaft ist ernsthaft an den Ressourcen von Integrität interessiert. Ich möchte eine gute Gesellschaft als ernsthafte Gesellschaft bezeichnen. Eine ernsthafte Gesellschaft zeichnet sich durch vier Merkmale aus  : Sie ist ernst, sie ist agapolyglott, sie ist menschenfreundlich, sie ist ungerechtigkeitsfirm. (i) »Ernst« bedeutet  : Sie anerkennt Heiliges (will heißen  : Sie hat einen Sensus für die Anerkennung von je Anderem und je Größerem) und geht nicht mit »incuria« und »levitas« an die Fragen nach Sinn und Wahrheit heran  ; sie bemüht sich ernsthaft um Benachteiligte und ist bereit zu »mühsamer Teilhabe«  ; sie ist ernsthaft um Kohäsion bemüht und baut das Zusammenleben auf kohäsiven Versprechen auf  ; darunter verstehe ich gemeinschaftsstiftende und gemeinschaftstragende Zusagen, die die Mitglieder der Gemeinschaft aneinander und an die Gemeinschaft binden. (ii) Der Begriff der agapolyglotten Gesellschaft möchte andeuten, dass eine ernsthafte Gesellschaft viele Sprachen der Liebe spricht  ; unter der Sprache der Liebe sind »Ausdrucksformen«, »Regeln« und »persönliche Praxis« gemeint  ; eine ernsthafte Gesellschaft kann Räume für viele verschiedene Sprachen der Liebe schaffen. Dabei verstehe ich unter Liebe die starke Sorge um die Integrität eines Menschen. (iii) Eine ernsthafte Gesellschaft ist menschenfreundlich, will heißen, sie ist menschlich. Menschlichkeit heißt  : nicht indifferent zu sein. Ein Mensch ist ein Wesen, das sich rühren und berühren lässt. Wir könnten diesen Aspekt von Menschlichkeit Tangibilität nennen. Sich in einer bestimmten Situation menschlich zu verhalten, bedeutet, das Besondere an e­ iner Situation zu sehen und den in dieser Situation sich zeigenden Herausforderungen nicht gleichgültig gegenüberzustehen. (iv) Eine ungerechtigkeitsfirme Gesellschaft kann mit den Grenzen der Gerechtigkeit umgehen. Ich nenne vier  : Die Frage nach der guten Gesellschaft

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a) Irreversibler Verlust oder »verlorene Gerechtigkeit«  : Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden, etwa ein Mord oder die Destruktion von Besitz mit persönlicher Geschichte  ; b) »Kälte« oder »kalte Gerechtigkeit«  : Es ist möglich, einen Verteilungsmechanismus zu haben, der nach den meisten Interpretationen als gerecht im Sinne von Prinzipien distributiver Gerechtigkeit gilt, aber dennoch Unmenschlichkeit erzeugt, weil er ohne inneres Engagement abläuft – man kann etwa an ein vollautomatisiertes Pflegeheim denken  ; c) Unausgleichbarkeit oder »zurückgestufte Gerechtigkeit«  : Es gibt Lebenssituationen, etwa das Leben mit einem schwer behinderten Kind, das die Frage nach Gerechtigkeit zugunsten anderer Fragen zurückstuft und auch nicht durch Kompensationen die Benachteiligungen des Status im Vergleich zu anderen ausgleichen kann  ; d) Glück oder »unglückliche Gerechtigkeit« – Gerechtigkeit macht nicht notwendigerweise glücklich, denn notwendigerweise werden einige verlieren, wenn eine gerechte Gesellschaft gebaut wird. 4.12 Eine ernsthafte Gesellschaft ist ernsthaft, menschenfreundlich, agapolyglott und ungerechtigkeitsfirm. Das sind jene Rahmenbedingungen, die Armutsbekämpfung ermöglichen. Armutssituationen sind Beispiele für jene Herausforderungen, die eine Gesellschaft einladen, in Form von »tiefer Praxis« eine Kultur »mühsamer Teilhabe« einzuüben. Unter »Praxis« verstehe ich dabei eine Form regelgeleiteter, sozial verankerter und auf die Transformation von Situationen nach vorgegebenen Maßstäben abzielende menschliche Tätigkeitskultur  ; unter »tiefer Praxis« verstehe ich diese Kultur unter erschwerten Bedingungen. »Mühsame Teilhabe« ist die Anstrengung, Menschen an bedeutsamen gesellschaftlichen Praktiken partizipieren zu lassen, auch wenn diese Partizipation eine Verlang­samung oder Erschwerung der Praxis mit sich bringt oder besondere Ressourcen erfordert. RD 4.4 Hannah Arendt hat in ihrer Studie über die Strukturen totaler Herrschaft nicht nur Konturen von Sozialpathologien gezeigt, sondern auch immer wieder den Konnex zur Dimension der Innerlichkeit aus- und aufgewiesen. Totale Herrschaft funktioniert durch Menschen ohne innere Verwurzelung, Menschen ohne starke Bindungen, Menschen ohne robuste Identität, »Massenmenschen«. Dummheit und Apathie sind gute Voraussetzungen dafür, von totaler Herrschaft vereinnahmt zu werden.90 Hauptmerkmal der Individuen in einer Massengesellschaft sind »Kontaktlosigkeit und Entwurzeltsein«91, also ein Fehlen jener Pfeiler, die robuste Identität ermöglichen. Menschen, die nicht imstande sind, eine Sache »um ihrer selbst willen« anzustreben, die also nicht 162

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

imstande sind, etwas »mit ganzem Herzen« zu tun, sind am besten geeignet, Instrumente totaler Herrschaft zu werden.92 Wenn Menschen ohne innere wie äußere Bindungen sind, ist es möglich »Menschen von innen her zu beherrschen«, was das erklärte Ziel totaler Herrschaft ist.93 Innerlich leere Menschen, denen es vor allem um die persönliche Sicherheit geht, bilden das Rückgrat sozialpathologischer Herrschaft.94 Arendt hatte ja auch die Banalität des Bösen gerade darin gesehen, dass hier Mangel an Reflexionskraft und Selbstreflexion herrschte, also keine kultivierte Innerlichkeit.95 Innerlichkeit ist politisch relevant  ; diese Dimension wurde immer wieder als Faktor im Zerfall und Niedergang von politischen Reichen angeführt  ; man denke an Edward Gibbons berühmte vielbändige Studie »Decline and Fall of the Roman Empire«, veröffentlicht 1776–1788. Darin hatte Gibbon den Zerfall des Römischen Reiches unter anderem mit dem Tugendverlust und dem Ungleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Tugenden in Zusammenhang gebracht. Es waren nach Gibbons Einschätzung definitiv Aspekte innerer Einstellungen am Werk. Die erbeuteten Vermögen verstärkten die Korruption, die moralischen Standards der Soldaten sanken, die Bürokratie wucherte, die Geldgier skrupelloser Anwälte degenerierte das Rechtssystem, das Christentum brachte eine neue Jenseitsorientierung mit sich … wir haben es hier mit Aspekten von Innerlichkeit zu tun. Auch John Darwin hatte in seiner globalgeschichtlichen Studie über Imperien »neue Ideologien oder Religionen« als Zerfallsfaktoren angeführt, die »moralische und politische Glaubwürdigkeit zunichte machen, auf welche die Legitimität gegründet war  : die Vorstellung, dass ihre [imperiale] Struktur Teil der natürlichen Ordnung der Dinge sei.«96 Auch Jared Diamond hat in seinen Studien über den Zerfall von Gesellschaften Faktoren wie Statusstress (Beispiel  : Untergang der Osterinsel) oder Abschottung der Eliten (Beispiel  : Montana), also innerliche Faktoren angeführt.97 Überlegungen zu einer guten Gesellschaft können ohne große Kunstgriffe an Aspekte von Innerlichkeit anschließen. E 4.9 Avishai Margalit schlägt in seinen Überlegungen zur »decent society« als Lackmustext den Umgang mit Schwerstverbrechern vor. Ein Beispiel für diesen Umgang hat Sabine Heinlein untersucht.98 Sie hat den Neuanfang von drei Männern begleitet, die zwischen 21 und 31 Jahren im Gefängnis verbracht hatten  ; Ramos wurde als 18-Jähriger für den Mord an einem 16 Jahre alten Mädchen und zwei versuchte Totschläge in einer Bar verurteilt  ; Adam verbrachte, nach einem Banküberfall, der mit einem Mord endete, 29 Jahre im Gefängnis  ; Bruder erschoss betrunken in einem Geschäft einen Mann, der seine Freundin Die Frage nach der guten Gesellschaft

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belästigt hatte und büßte 21 Jahre im Gefängnis ab. Heinlein stellt die Konsequenzen des langjährigen Gefängnisaufenthalts für ein Leben in Freiheit fest  : die »Atrophie des Öffentlichkeitssinns«, das veränderte Körperbewusstsein (Körperwahrnehmung ohne die Möglichkeit, den eigenen Körper als ganzen im Spiegel zu sehen, Verhältnis zu Sexualität), die Atrophie der Entscheidungsfähigkeit auch bei alltäglichen Entscheidungen wie Einkaufs- und Essensoptionen  ; bestimmte »Gefängniseinstellungen« wie die eingeübte Härte und Durchsetzungskraft (»you put your foot down«), Angst vor der Komplexität der Freiheit. Sie machten die unangenehme Erfahrung, dass sie in der Welt außerhalb des Gefängnisses gezwungen waren, zu lügen, etwa was Lebenslauf oder Grund der Haftstrafe, wenn sich diese schon nicht mehr verleugnen ließ, betraf. Der Neuanfang wurde durch die Übergangslosigkeit erschwert  : »The men were spit out of one system and into another  ; their old selves were shattered. Forced to reassemble themselves, they began marking time yet again« (H A M 17)99  ; der Übergang verwandelte ihr Dasein in »verwaltete Existenz«, sie hatten das Glück, das sich eine Nichtregierungsorganisation ihrer annahm, die freilich klare Regeln formulierte und Disziplin verlangte. Sie waren gezwungen, Identitätsarbeit zu leisten und die eigene Identität neu aufzubauen. Dabei stießen sie auf Grenzen dieser Identitätsarbeit aus dem einfachen Grund, weil ihre Verbrechen eine bedeutsame Identitätsressource darstellten, über die sie aber nicht sprechen konnten (H A M 34, 72f ). Aufgrund dieser Identitätsmarker hatten sie auch Vertrauen in sich selbst in dem Sinne verloren, dass sie sich selbst nicht trauten und Angst davor hatten, in bedrohliche Situationen zu geraten, in denen sie wieder falsch reagieren könnten (H A M 76). Tragischerweise lebten sie in Gegenden, in denen die Wahrscheinlichkeit in eine delikate Situation zu geraten, etwa eine Situation mit Gewaltandrohung, relativ hoch war. Heinlein unterstrich die Bedeutung der Innenseite für die Rehabilitation  : »Finding a job, housing and staying out of prison are certainly important. But what about rehabilitation at heart, an individual’s (lack of ) remorse, his or her insights and moral growth  ? I would argue that true rehabilitation has to do with the willingness and capacity to take responsibility for one’s crime, it is internal. Rehabilitation at heart lies buried beneath statistics, academic principles, and public policy because it is hard to measure and generalize« (H A M 17). Diese Innenseite forderte sie auch auf Seiten der Gesellschaft, bei der sie die Bedeutung der Empathie unterstrich und für eine Verstärkung des Sinns für Empathie plädierte, für eine »augmentation of empathy for people who can’t find empathy from society at large. However naive or impossible it may seem, I wondered what would happen if empathy was our 164

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

first response to people who find themselves at the margins« (H A M 6). Hier findet sich der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Änderung der Einstellungen, Überlegungen, die auch für die Frage der Armutsbekämpfung relevant sind. E 4.10 Angst kann als Indikator für die Dysfunktionalität einer Gesellschaft verwendet werden. Man könnte sich überlegen, eine ernsthafte Gesellschaft als Projekt einer angstfreien Gesellschaft zu verstehen. Zu große soziale Differenzen erzeugen etwa Angst. Diese Angst hat Tom Wolfe in seinem Roman Fegefeuer der Eitelkeiten, der Aufstieg und Fall des reichen Wallstreetmaklers Sherman McCoy schildert, in einer Alltagsbegebenheit in New York skizziert  : »Plötzlich wurde Sherman sich einer Gestalt bewußt, die auf dem Bürgersteig in den nassen schwarzen Schatten der Stadthäuser und Bäume auf ihn zukam. Selbst aus fünfzehn Meter Entfernung und im Dunkeln wurde er sie gewahr. Es war diese tiefe Unruhe, die in der Schädelbasis eines jeden haust, der an der Park Avenue südlich der Sechsundneunzigsten Straße wohnt – ein schwarzer Jugendlicher, hochgewachsen, schlaksig, mit weißen Turnschuhen. Jetzt war er noch zwölf Meter entfernt, zehn. Sherman starrte ihn an. Na, soll er doch kommen  ! Ich rühre mich nicht von der Stelle. Das hier ist mein Territorium. Ich weiche vor keinem kleinen Straßengangster zur Seite.«100 Was ist nun der Preis, der für diese Angst zu zahlen ist  ? Isolation  : »Isolation  ! Das war die Devise. Es war der Ausdruck, den Rawlie Thorpe benutzte  : ›Wenn du in New York leben willst‹, sagte er einmal zu Sherman, ›mußt du dich isolieren, isolieren, isolieren‹, was hieß, sich von Hinz und Kunz isolieren.«101 Diese Isolation ist Teil einer Ungleichheitsdynamik, die sich mehr und mehr verstärkt. RD 4.5 Eine gute Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie viele Sprachen der Liebe zu lernen vermittelt. Das Beispiel Sheila Bartons hat bereits angedeutet, was damit gemeint sein könnte  : Sheila Barton musste für ihren und mit ihrem Sohn Jonathan eine neue Sprache der Liebe lernen. Eine Sprache der Liebe zu lernen bedeutet, sich einen »Wortschatz« anzueignen, ein Regelwerk und einen persönlichen Stil. Liebe kann als »starke Sorge«, als »Fähigkeit und Bereitschaft, sich durchbrechen zu lassen«, als »tätige Sorge um das Wohlergehen eines Anderen«, als »Erweiterung der Grenzen des Selbst« verstanden werden.102 Liebe ist die Konzentration und ein wechselseitig bestimmter Fokus auf eine Person, wobei nahezu jeder personale Aspekt des eigenen Selbst diesem Prozess untergeordnet wird.103 Durch die Liebe entsteht Veränderung, wie sie Sheila Barton erfahren hat – Amélie Rorty erinnert daran, dass Liebe »dynamically perDie Frage nach der guten Gesellschaft

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meable« ist, dynamisch durchlässig, dahingehend, dass die Liebenden einander ständig verändern durch das Lieben und diese Transformationen neigen dazu, auf den ganzen Charakter einer Person überzugreifen.104 Liebe hat damit eine Historizität, eine charakteristische narrative Geschichte  ; der Andere wird »teuer« (»carus«), wir sind bereit, einen hohen Preis für die Liebe zu zahlen. Sheila Barton hat den hohen Preis einer tiefen Lebensveränderung gezahlt. Dies war auch notwendig, um »mühsame Teilhabe« zu ermöglichen, eine Form der Teilhabe, die mit Anstrengungen und zusätzlichen Ressourcen verbunden ist und den Praxisfluss auch bremst oder auch teilweise unterbricht oder durchbricht. Liebe ist die Kraft, die mühsame Teilhabe will und Besonderes als Besonderes gelten lässt. Ein beeindruckendes Beispiel für »viele Sprachen der Liebe« und das Phänomen, dass Sprachen der Liebe gelernt werden können und müssen, hat Andrew Solomon vorgelegt – er hat dreihundert Familien mit besonderen Kindern (Zwergwuchs, Down-Syndrom, Autismus, Schizophrenie, Taubheit, Behinderung, Transgender …) interviewt.105 Die Eltern sahen sich herausgefordert, mit ihren außergewöhnlichen Kindern eine neue Sprache der Liebe zu lernen. Sie machten die Erfahrung, dass man Schritte zurücklegen kann  : »You can gradually fall in love with your child.«106 Wir werden das in der zweiten Mikrotheorie am Beispiel Ian Browns noch genauer verfolgen. Andrew Solomon zeigt sich beeindruckt von der Liebesfähigkeit der Eltern  : »To look deep into your child’s eyes and see in him both yourself and something utterly strange, and then to develop a zealous attachment to every aspect of him, is to achieve parenthood’s self regarding, yet unselfish, abandon. It is astonishing how often such mutuality has been realised – how frequently parents who had supposed that they couldn’t care for an exceptional child discover that they can.«107 Sie eigneten sich langsam und mitunter sehr mühsam eine Sprache der Liebe an, lernten, das Kind zu lieben, lernten auch, wie diese Liebe ausgedrückt werden konnte. Sie veränderten sich dabei, wurden transformiert und änderten auch ihren Blick auf das Leben  : »Many of the people I interviewed said that they would never exchange their experiences for any other life – sound thinking, given the exchange is unavailable. Cleaving to our own lives, with all their challenges and limitations and particularities, is vital.«108 Viele Eltern berichteten, wie sie über sich selbst erstaunt waren. Sie lernten in »tiefer Praxis« einen Menschen zu lieben, unter erschwerten Umständen. »Life is enriched by difficulty«  ; bemerkt Solomon nach den Interviews, »love is made more acute when it requires exertion.«109 Solomon erkannte in den Interviews auch eine neue Verbindung zwischen Liebe und Leiden, erkannte einen Zusammenhang zwischen Liebe und der Erfahrung von Leiden. 166

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

»Love implies suffering, and what changes with these children and their extraordinary situations is the shape of suffering – and in consequence, the shape of love, forced into a more difficult form.«110 Die Eltern der Kinder haben ihrem Leben eine neue Form gegeben, durch die Sprache der Liebe, die sie sich angeeignet haben. »These parents have, by and large, chosen to love their children, and many of them have chosen to value their own lives, even though they carry what much of the world considers an intolerable burden.«111 Nun kann man sich fragen, was das mit dem Thema der Armutsbekämpfung zu tun hat. Zwei Antwortversuche  : Erstens ist Armutsbekämpfung auf die Rahmenbedingungen einer guten Gesellschaft angewiesen, die sich in einer Polyglottie, was Sprachen der Liebe angeht, zeigt – ein Kind mit Autismus zu lieben verlangt eine andere Sprache der Liebe als ein Kind mit Down-Syndrom zu lieben, hier bedarf es eines anderen Wortschatzes, anderer Regelwerke  ; zweitens ist die Bekämpfung von Armut, wie wir noch sehen werden, auf ernsthafte und sorgenvolle Begleitung angewiesen, die in »tiefer Praxis« »mühsame Teilhabe« einüben lässt. Menschen, die vom Hauptstrom der Gesellschaft entfernt sind (entfernt wurden, sich entfernt haben), müssen, wenn sie das wollen, derart in eine Praxis eingeladen werden, dass sie diese Praxis transformieren. Wenn man beispielsweise Helga Rohras Forderungen nach Teilhaberechten von demenzkranken Menschen ernst nimmt112, wird das zu neuen Formen von Achtsamkeit und Behutsamkeit führen müssen. Dabei ist »mühsame Teilhabe« durchaus so zu denken, dass es um eine Güterabwägung geht. Inwiefern  ? Eine häufig gegebene Antwort auf »Exklusion« ist »Integration« oder »Inklusion«. Ein Bild für »Integration«, das implizit in vielen Darstellungen mittransportiert wird, ist die Vorstellung eines fröhlichen, funktionierenden Geschehens. Denken wir etwa an einen Tischtennistisch an einem Sommertag im Freien  ; wir haben genügend Schläger zur Verfügung und spielen jene Variante von Tischtennis, bei der eine ganze Gruppe – rund um den Tisch laufend – involviert ist. Es kommen ein paar Zaungäste, die auch mitspielen wollen  ; das ist auch kein Problem, sie bekommen einen Schläger, vielleicht eine Instruktion, wenn das Spiel neu für sie ist, vielleicht einen Tipp, wenn sie nicht geübt sind, vielleicht hebt man ein Kind auf Höhe der Tischplatte, damit es seinen Schlag machen kann. Kurz, hier ist es keine Schwierigkeit, Menschen, die zum Zeitpunkt n nicht mitspielen, zum Zeitpunkt n+1 zu integrieren. Dieses Bild ist optimistisch – und vielleicht trügerisch. Denn zwei Rückfragen drängen sich auf  : a) Haben wir es immer mit einem fröhlichen und funktionierenden Geschehen zu tun – und entsprechend Menschen, die sehnsüchtig darauf warten, »integriert« werden  ? Reden wir von funktionierenden Kontexten, in die Menschen aufgeDie Frage nach der guten Gesellschaft

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nommen werden  ? Die Hinweise auf Sozialpathologien aller Art mahnen zur Vorsicht in der Unterstellung eines fröhlichen, funktionierenden Geschehens. Hier kann »Integration« auch der Einschluss in eine Räuberbande oder ein Ticket auf ein sinkendes Schiff sein. b) Geht es tatsächlich stets ausschließlich um »Integration« von Menschen oder nicht auch um den Schutz von Kontexten, die eine gewisse Funktion zu erfüllen haben  ? Anders gesagt  : Gibt es nicht Kontexte, deren Funktionieren so wichtig ist, dass wir Zugangsbeschränkungen erlassen müssen, und trägt dies nicht auch zum Schutz vor Überforderung und Frustration bei  ? Geht es denn, so könnte man fragen, nicht auch um Protektion  ? Geht es nicht auch um den Schutz von Räumen vor drohender Dysfunktionalität durch Aufweichen der Zugangsbeschränkungen, um den Schutz von Menschen vor Erfahrungen von Frustration und Überforderung  ? Alisdair MacIntyre hatte an einer bekannten Stelle eine menschliche Praxis als kohärente und komplexe Form koordinierter Tätigkeit verstanden, die darauf abzielt, bestimmte Güter, die dieser Tätigkeit eigen sind, nach Standards der Exzellenz hervorzubringen. 113 Hier ist die Frage zu stellen, welches »Gut« ich hervorbringen will. Wenn ich eine bestimmte Form von »Gut« herstellen will, an die eine bestimmte Form von »Praxis« gebunden ist, muss ich diese Praxis schützen. Man könnte sich dem Aspekt von »mühsamer Teilhabe« und »tiefer Praxis« deswegen mit den Begriffen »Transformation« und »Protektion« annähern. Diese Begriffe sind auch für die Frage der Armutsbekämpfung von großer Wichtigkeit  : Inwiefern müssen gesellschaftliche Praktiken mit Blick auf Menschen, die von Armutssituationen betroffen sind, transformiert werden  ? Inwiefern sind bestimmte gesellschaftliche Praktiken mit ihren Exklusionsmechanismen (etwa  : Zulassungsbedingungen für die Ausübung des Arztberufs) zu schützen  ? Gerade das Beispiel der exklusiven Zugangsbedingungen zum Arztberuf ist für die Armutsbekämpfung relevant, sind doch viele Menschen, die in extremer Armut leben, Kurpfuschern ausgeliefert, die sie ausbeuten, aber keine Hilfe bieten. RD 4.6 Eine gute Gesellschaft zeichnet sich durch ernsthaftes Bemühen um Benachteiligte aus – Jonathan Wolff und Avner De-Shalit haben eine wichtige Studie zum Thema der Benachteiligung vorgelegt114 – und dabei herausgearbeitet, dass Benachteiligungen in der Regel in Form von »plural disadvantages« auftreten, und eine Dynamik aufweisen, die sie als »corrosive disadvantages« erkennen lässt, also als Benachteiligungen, die weitere Benachteiligungen mit sich bringen. Sie arbeiten sich vor allem am »indexing problem« ab, an der Frage also, wie man die am meisten Benachteiligten identifizieren kann. Dazu arbei168

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

ten sie mit Martha Nussbaums Liste von »basic capabilities«, die sie allerdings um vier weitere Einträge ergänzen  : independence  ; doing good to others  ; living in a law-abiding fashion  ; understanding the law. Darüber hinaus wurde in den etwa hundert Interviews, die die Autoren geführt haben, auch mehrmals das Basisgut »mastering the local language and being verbally independent«, »access to culture« oder »peace« genannt. Am Beispiel dieser beeindruckenden Studie zeigt sich, dass man um die Frage nach Basisgütern in der Einschätzung von Benachteiligung nicht herumkommt. Robert und Edward Skidelsky haben in ihrem Entwurf etwa folgende Basisgüter genannt  : Gesundheit, Sicherheit (die berechtigte Erwartung eines Menschen, dass sein Leben weiterhin mehr oder weniger seinen gewohnten Gang gehen wird ohne Störung durch Krieg, Verbrechen, Revolution oder größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche)  ; Respekt (jemandem Respekt zu erweisen, bedeutet, durch eine förmliche Geste oder auf andere Weise zu zeigen, dass man seine Ansichten und Interessen für beachtenswert hält, für etwas, das man nicht ignorieren oder mit Füßen treten darf )  ; Persönlichkeit, Harmonie mit der Natur  ; Freundschaft.115 Menschen sind benachteiligt, wenn sie keinen oder nur erschwerten Zugang zu diesen Gütern haben. Eine in einem ethischen Sinn gute Gesellschaft wird sich um den Abbau dieser Zugangserschwernisse ernsthaft bemühen. RD 4.7 Armut stellt in vielerlei Hinsichten ein Ärgernis dar  ; dabei unterscheiden sich die Wege, das Ärgernis der Armut darzustellen, bei verschiedenen Formen von Armut. Nehmen wir als Beispiel das Ärgernis von »Working Poor«. Die Situation eines Menschen, der durch seine Erwerbstätigkeit keinen angemessenen Lebensstandard erwirtschaften kann, ist ein Ärgernis. Dieses Ärgernis kann in zwei Sätzen ausgedrückt werden  : »Poor work erzeugt working poor. Working Poor machen poor work.« Dabei ist unter »poor work« »armselige Arbeit« zu verstehen, die den Anforderungen von »decent work« einerseits und den Anforderungen von Arbeit im Rahmen eines »decent life« andererseits nicht gerecht wird. Wir haben es hier mit einer Schnittmenge der beiden Mengen »Menge der Erwerbstätigen« und »Menge der Armutsbetroffenen« zu tun. In der Regel ist »poor work« eine Form von Arbeit, bei der das Verhältnis von Aufwand zu Ertrag nicht der Idee der Tauschgerechtigkeit entspricht. Faktoren wie unterbrochene Erwerbskarrieren, unregelmäßige Beschäftigungen, Beschäftigung im Niedriglohnsektor, eine zu große Zahl von zu versorgenden Personen, zu große finanzielle Lasten, prekarisierte Arbeitsplätze (Teilzeit, nicht dauerhafte Arbeitsstellen, flexible Arbeitszeiten) tragen zu diesem Missverhältnis zwischen Die Frage nach der guten Gesellschaft

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Arbeitsaufwand und Arbeitsertrag bei. Dieses Missverhältnis drückt in vielen Fällen einen Mangel an Anerkennung für erbrachte Arbeit aus. Es ist vor allem der Niedriglohnsektor, in dem wir mit diesen Formen mehr oder weniger subtiler Erniedrigung immer wieder konfrontiert sind. Da Anerkennung auch in monetärer Weise ausgedrückt wird, wirft der Niedriglohnsektor a priori Probleme der Anerkennung auf und birgt die Risiken der verweigerten Anerkennung, die auch als »Erniedrigung« verstanden werden kann, in sich. Kathrin Hartmann macht darauf aufmerksam, dass dieses Phänomen durchaus in die Mitte des Arbeitslebens der Industriegesellschaft Einzug genommen hat.116 Sie konstatiert eine Verrohung des Bürgertums, das sich gegenüber Menschen, die in Billigjobs gefangen sind, mit demütigender Überheblichkeit verhalten. Gentrifizierte Stadtkultur und das Klischee des Unterschichtsfernsehens sind nur Symptome eines Phänomens, das uns erkennen lässt, dass die Armut mit ihren Eintrittsstellen in der Mitte der Gesellschaft, in der Mittelschicht angekommen ist. Der Fliesenleger, der nach einem Bandscheibenvorfall nicht mehr arbeiten kann, der Paketausfahrer, der sich als selbstständig Erwerbstätiger über Wasser zu halten versucht, die Alleinerzieherin, die rein logistisch an Grenzen kommt – »poor work« lauert vielerorts, wenn Sicherungsnetze wegfallen. Die Armseligkeit der Arbeitsbedingungen, die rasch entstehen, führt auch zu einer Einschränkung der Ausdrucksformen eigener Selbstachtung  : Was ist nun das Armselige an »poor work«  ? Man könnte sich überlegen, was es bedeutet, wenig Spielraum zu haben, wenig Quellen von Anerkennung, kaum Mitsprachemöglichkeiten, geringe Integrations- und Karrieremöglichkeiten. All dies sind Elemente von »poor work«. Dabei sind die Anforderungen an einen schlecht bezahlten Job nicht unbedingt niedriger – im Gegenteil  : Alena Schröder hat die täglichen Herausforderungen und auch menschlichen Dramen beschrieben, die sich im Arbeitsalltag einer Verkäuferin, einer Callcenteragentin, einer Altenpflegerin, einer Reinigungskraft oder einer Fließbandarbeiterin abspielen.117 Die angesprochene Menschenblindheit, die Erfahrung, als Objekt behandelt oder überhaupt übersehen zu werden, findet sich immer wieder in diesen Porträts. Aller Erwerbstätigkeit im Niedriglohnsektor ist der enge Spielraum gemeinsam. Man könnte auch sagen  : Poor work erschwert den Zugang zu expliziten und zu impliziten Privilegien. Privilegien schlagen sich in der Remuneration, in Aufstiegsmöglichkeiten, in Mitbestimmung und in »fringe benefits«nieder. Sie sind nach dem Matthäusprinzip von denjenigen leichter zu erwerben, die bereits über Privilegien verfügen. Anders gesagt  : Es ist leichter, Privilegien auszubauen als erstzuerwerben. Aus diesem Grund wird 170

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

die Schere zwischen »poor work« und »decent work« auch entsprechend größer. »Decent work« als Gegenfolie zum Begriff »poor work« ist ein von der Internationalen Arbeitsorganisation I L O eingeführter Begriff118, der Erwerbsarbeit nach den Kriterien der angemessenen Remuneration, der garantierten Rechte, der Sicherheit und des sozialen Dialogs kennzeichnet. Poor work kann entsprechend als eine Form der Erwerbsarbeit verstanden werden, die unangemessen bezahlt wird, rechtlich schwach abgesichert ist, wenig Sicherheit bietet und kaum Spielraum für sozialen Dialog einräumt. Nennen wir die Hauptbedingungen von decent work die Remunerationsbedingung, die Sicherheitsbedingung und die Freiheitsbedingung. »Poor work« ist eine Form der Erwerbsarbeit, die gegen diese drei Bedingungen verstößt. In einem Satz  : Poor work ist eine Form der Erwerbsarbeit, bei der die Bedingungen von Remuneration, Sicherheit und Freiheit nur unzulänglich abgedeckt sind. Es handelt sich um Arbeitsplätze mit erhöhter Verwundbarkeit. Auf die Bedeutung von Versprechen für ein Gemeinwesen wurde bereits hingewiesen. Man könnte mit guten Gründen davon sprechen, dass die wohlfahrtsstaatliche Nachkriegsordnung auf vier Versprechen aufgebaut worden war, die allesamt kohäsive Versprechen waren und deren Bindungskraft sich aus der Glaubwürdigkeit von kontraktuellen und fiduziellen Momenten ergeben hat  : (i) einem Bildungsversprechen, (ii) einem Arbeits- und Leistungsversprechen, (iii) einem Vorsorgeversprechen und (iv) einem Sicherungsversprechen. Das Bildungsversprechen besagt  : »Eine gute Ausbildung garantiert einen guten Job« (»lernst du was, so wirst du was«). Dieses Versprechen setzt eine Korrelation zwischen Bildungsaufwand und Arbeitsmarktzugang fest. Es ist offensichtlich, dass dieses Versprechen einerseits durch gut dotierte Positionen ohne bildungsbezogenes Qualifikationsprofil, andererseits durch hochqualifizierte Menschen mit Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt unterminiert wird  ; das Arbeits- und Leistungsversprechen besagt  : »Wenn du fleißig arbeitest und etwas leistest, wirst du dir ein gutes Leben aufbauen können«. Es ist kaum zu bestreiten, dass dieses Versprechen einerseits durch hoch remunerierte Tätigkeiten ohne erkennbare Leistung (die in Österreich sprichwörtlich gewordene Frage  : »Was war meine Leistung  ?« mag hier als trauriges Beispiel dienen) und andererseits durch das Phänomen der working poor untergraben wird. Das Vorsorgeversprechen besagt, dass der Staat für ein gutes Leben im Ruhestand sorgen werde und die Menschen ihr Leben auf diese Zusicherung hin planen könnten – Diskussionen um die längst notwendige Veränderung des Pensionssystems, schrittweise Veränderungen und auch die im Generationenvertrag schwer zu leugnenden UngeDie Frage nach der guten Gesellschaft

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rechtigkeiten machen dieses Versprechen weniger und weniger glaubwürdig. Das Sicherungsversprechen schließlich besagt, dass der Sozialstaat ein Sicherungsnetz spannen wird, das im Sinne einer Solidargemeinschaft im Bedarfsfall zur Verfügung steht. Der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und die Sanktionierungselemente in Mindestsicherungsregelungen lassen dieses Versprechen verblassen. Kurz, das Bildungsversprechen legt sich auf eine Korrelation von Qualifikation und Arbeitsmarkterfolg fest, das Arbeitsversprechen stellt einen Zusammenhang von Fleiß und Ertrag, von harter Arbeit und reicher Ernte in Aussicht. Das Vorsorgeversprechen vermittelt die Erwerbsfruchtsicherheit, dass nach Ende der Erwerbslaufbahn ein gesicherter Ruhestand garantiert wird  ; das Sicherungsversprechen sagt wohlfahrtsstaatliche Sicherungsnetze zu, die ein »decent life« ermöglichen, auch unabhängig vom Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt. »Poor work« und »working poor« sind Phänomene, die das Bildungsversprechen und das Arbeitsversprechen mehr und mehr erodieren. Damit sind zwei entscheidende kohäsive Versprechen angegriffen, die für Selbstverständnis und Zusammenhalt des Gemeinwesens entscheidend waren. Die Bindungskraft kohäsiver Versprechen ist insofern ein signifikantes moralisches Gut, als eine wohlgeordnete Gemeinschaft die Rahmenbedingungen für ein menschenwürdiges Leben zur Verfügung stellt. Eine wesentliche Grundlage für diese Rahmenordnung ist die Bindungskraft von kohäsiven Versprechen. Wenn diese erodiert werden, sinkt das Vertrauen (der Menschen zueinander und der Menschen in die Institutionen) und damit wird eine der wichtigsten sozialen Ressourcen, nämlich Vertrauen, knapp. Vertrauen ist die Grundlage auch des Verhältnisses von Menschen zu Staat, was nicht zuletzt in der Idee eines psychologischen Vertrags zwischen Staat und Steuerzahlenden deutlich wird.119 Poor Work und Working Poor erodieren die Bindungskraft kohäsiver Versprechen, die an Glaubwürdigkeit und damit auch an der Kraft, eine Gemeinschaft zusammenzuhalten, einbüßen. Es sind weder die »vorbereitenden Bedingungen« noch die »Ernsthaftigkeitsbedingungen« für Bildungsversprechen und Arbeitsversprechen gegeben. Sie gehen zusehends ins Leere. Die Kosten dafür sind hoch und können noch höher werden. Man kann sich nur überlegen, was die Erosion dieser Versprechen für Bildungsmarkt und Arbeitsmarkt bedeuten. Amartya Sen hat in einem bereits zitierten Beitrag auf die Kosten von Arbeitslosigkeit hingewiesen.120 Analog sind Kosten von »Poor work« und »working poor« zu bedenken, gerade auch, was die potentiell enormen sozialen, politischen und kulturellen Folgekosten der Erosion von kohäsiven Versprechen angeht. 172

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

Armut trotz Erwerbsarbeit ist auch deswegen ein Ärgernis, weil sie eine gewisse Absurdität zum Ausdruck bringt. Armut trotz Erwerbsarbeit ist absurd, weil Menschen arbeiten, um eben nicht in Armut leben zu müssen. Die Unmöglichkeit, sich trotz harter Arbeit über die Armutsschwelle bringen zu können, erinnert an den Mythos von Sisyphos, der mühsam den Stein den Berg hinaufrollte, nur um dann zusehen zu müssen, wie der Stein kurz vor dem Gipfel hinunterrollte und die Mühe von vorne begann. Albert Camus hat diese Conditio bekanntlich als Bild für das Absurde verwendet  ; es ist Ausdruck eines Missverhältnisses (im Falle Camus’  : des Missverhältnisses zwischen Schreien des Menschen und Schweigen der Welt), im Falle der working poor eines Missverhältnisses zwischen Aufwand und Ertrag. Dieses Missverhältnis erzeugt eine Conditio der Absurdität, die – weil widersprüchlich – nicht auf Dauer aufrechterhalten werden kann. Dieses Missverhältnis wird in seiner Absurdität noch verstärkt, wenn man sich überlegt, dass auch unverzichtbare Tätigkeiten (wie etwa Reinigungstätigkeiten) im Niedriglohnsektor angesiedelt sind. Camus hat als Antwort auf das Absurde bekanntlich die Revolte vorgeschlagen, jedenfalls einen Ausdruck steter Unzufriedenheit, die Verweigerung von Akzeptanz. Armut trotz Erwerbsarbeit ist auch ein Ärgernis aus gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen  : Johannes Philiponus hat im sechsten Jahrhundert eine bemerkenswerte Arbeitstheorie entwickelt, die auch 1500 Jahre später für die Diskussion um Working Poor wichtige Anstöße enthält. In seinem Kommentar zur Physik des Aristoteles entwickelte er eine Impetustheorie. Ein Pfeil fliegt weiter, nachdem er den gespannten Bogen verlassen hat, aufgrund der Kraft, die ihm eingeprägt wurde. Ein Stein fliegt aus der Hand des Werfenden, weil er »energeia« in den Stein gelegt hat, eine Kraft, die den Stein vorantreibt, bis sie erschöpft ist und der Stein zum Liegen kommt.121 Diesen Gedanken einer in die Dinge durch einen Bewegenden hingelegte Kraft findet sich auch in seinem Hauptwerk über die Erschaffung der Welt (»De opificio mundi«). Die Sterne bewegen sich, so seine Theorie, aufgrund der in sie durch Gott zum Zeitpunkt der Schöpfung hineingelegten Kraft.122 Gott überträgt im schöpferischen Tun Kraft  ; das tun in der weiteren Folge auch die Menschen. Dadurch fließt Kraft in einen Gegenstand, diesem Gegenstand kommt so etwas wie »Mehrwert« zu. So »soll die Tätigkeit des Produzenten als Entäußerung seiner eigenen Kraft anerkannt werden, und dies geschieht, indem andernteils der Austausch seines Produkts als Austausch eines Werts anerkannt wird, der durch Übertragung der eigenen Kraft dem Produkt mitgeteilt worden ist.«123 Arbeit ist damit nicht nur als Leistung in einem objektiven Sinn, sondern auch als Mühe in einem subjektiven Sinn zu verstehen. Auf dieser Grundlage Die Frage nach der guten Gesellschaft

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trat Johannes Philoponus auch für die Sklaven ein – diese lassen ihre Kraft in ein Produkt fließen. Was beim Kauf eines Produkts bezahlt wird, ist u. a. das Quantum an Kraft, das der Produzent durch die Produktion auf das Produkt überträgt. Ein gerechter Preis verlangt die Berücksichtigung dieses Kraftaufwandes. Aus dieser Impetustheorie kann man unschwer Anhaltspunkte zur Kritik von Working Poor als Ungerechtigkeit finden, handelt es sich bei Arbeiten im Niedriglohnsektor doch häufig um harte, wenig prestigereiche, mitunter gefährliche Arbeiten. Man kann auch nicht ohne weiteres behaupten, dass wir es mit gering positionierten Tätigkeiten zu tun hätten. Auch das Verkaufen von Wurstwaren in einem Supermarkt sieht sich einem wachsenden Fähigkeitenportfolio ausgesetzt – die Fähigkeit, englische Bestellungen entgegenzunehmen, die Fähigkeit, Kund/inn/en zu beraten, die Fähigkeit, mit arroganten oder präpotenten Kund/ inn/en umzugehen … Die Ungerechtigkeit verschärft sich weiters, wenn man sich anhand der bekannten Whitehall Studies überlegt, dass auch im Kontext der Erwerbsarbeit das Matthäusprinzip gilt  : Wer hat, dem wird gegeben. Die Whitehall Studien haben u. a. gezeigt, dass höheres Einkommen und höhere Arbeitsautonomie auch zu erhöhter Gesundheit führen. 124 Hier verschärfen sich Scheren und Spannungen. Adam Smith hat im achten Kapitel des ersten Buches seines zweiten Hauptwerkes »The Wealth of Nations« auf die Notwendigkeit gerechter Entlohnung hingewiesen. Er weist deutlich darauf hin, dass keine Gesellschaft blühen kann, wenn viele ihrer Mitglieder Armut leiden. Armut ist ungünstig für das Aufziehen von Kindern, sodass sich das Problem fortsetzt. Entsprechend hohe Löhne dagegen motivieren  : »A plentiful subsistence increases the bodily strength of the labourer, and the comfortable hope of bettering his condition, and of ending his days perhaps in ease and plenty, animates him to exert that strength to the utmost.«125 Es sei explizit irrig, anzunehmen, dass niedrige Löhne Fleiß fördern würden. Damit hat Smith die Bedeutung von Integrität und Selbstachtung, von Handlungsmotivation und auch von Versprechen (die Rolle der Hoffnung  !) angesprochen. Eine Gemeinschaft, die sich working poor leistet, schwächt sich selbst.

Liebe ohne Zögern  : Ian Brown MT 2  : Der kanadische Journalist Ian Brown hat in seinem reflexionsstarken Bericht über das Leben seines geistig behinderten Sohnes Walker einen Text vorgelegt, der Grundfragen einer guten Gesellschaft nicht nur thematisiert, sondern 174

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

mit dichten Beschreibungen von Situationen und Lebensformen auch zuspitzt.126 Hier zeigen sich Aspekte von »Sprachen der Liebe«  ; »mühsamer Teilhabe«, »tiefer Praxis«, ernsthaftes Bemühen um Benachteiligte. Es stellt sich etwa die Frage, ob der Umgang einer Gesellschaft mit »Ausnahmen« und »Aporien« ein Kriterium für die ethische Qualität dieser Gesellschaft ist. »Ausnahmen« sind Menschen, die den mehrheitsbezogenen Standards von Normalität nicht entsprechen (können).127 »Aporien« sind Menschen, die offene Fragen aufgeben (»was geht in X vor  ?«, »fühlt X Schmerz  ?«) und deren Offenheit nicht aufgelöst werden kann, also permanent ist. Ian Brown erfährt seinen Sohn Walker als »anders«  : »Manchmal, wenn ich Walker beobachte, ist es so, als würde ich den Mond anschauen  : Man sieht den Mann im Mond, obwohl man doch genau weiß, dass es ihn nicht gibt« (BJ M 11)  ; Walker weint manchmal stundenlang ohne erkennbaren Grund (BJ M 16), »Walker aufzuziehen ist, als würde man ein Fragezeichen aufziehen« (BJ M 19), er hat einen seltsamen Rhythmus, ist ein rätselhafter Junge (BJ M 66). Walker »hat sein eigenes Leben, seine eigene geheime Welt, immer schon. Das verleiht ihm etwas Ernstes, Erwachsenes, selbst schon als Junge (BJ M 25). Walker besetzt eine »seltene und exotische Nische der Existenz« (BJ M 19). Diese Fremdheit schlägt sich auch in der Sprache nieder, in der etwa der medizinische Diskurs über Walker spricht (BJ M 185). Nach dem Auszug Walkers in eine betreute Wohngemeinschaft hält Ian Brown fest  : »Seine Fremdartigkeit vermisse ich am meisten« (BJ M 124). Ian Brown regt an, der dunklen Wahrheit ins Auge zu sehen, »dass jede Behinderung etwas Persönliches, Einzigartiges und womöglich Unlösbares war« (BJ M 176) – hier wird der aporetische Charakter der Conditio unterstrichen. Eine Behinderung ist kein »Problem, das gelöst werden muss oder kann«, sondern eher ein »Mysterium« in Bezug auf die Frage nach den Lebensfragen und Sinn-Antworten, die sich aus dem Leben mit Menschen mit Behinderungen ergeben. Walker hat einen extrem seltenen genetischen Defekt, wurde mit CF C diagnostiziert. Er ist damit »Ausnahme« und »Aporie«. Wie geht eine Gesellschaft mit einer solchen Situation um  ? Was sagt dieser Umgang über diese Gesellschaft aus  ? Da sind zunächst die Grenzen von verwaltetem Menschsein, die Grenzen bürokratisch organisierter Unterstützung, die in einer solchen Situation deutlich werden. Ian Brown erfährt den Kontakt mit der Bürokratie als »Kampf«, den man nur mithilfe eines Agenten durchstehen kann, also mithilfe einer kundigen Person, die die eigenen Interessen wahrnimmt (BJ M 100ff ). Zermürbend ist der Weg bis zu einer einigermaßen dauerhafteren Regelung, die sich von ad hoc Dienstleistungen unterscheidet (BJ M 103). Er beschreibt »ein uneinheitliches, Liebe ohne Zögern  : Ian Brown

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geheimnisvolles, unvorhersehbares Spiel, das die Eltern eines behinderten Kindes in Angst versetzte und zugleich Gier erzeugte, schließlich aber auch auf eine peinliche Art dankbar werden ließ für alles, was sie im Endeffekt bekamen« (BJ M 101). Hier finden sich weniger Spuren eines Kooperationskontrakts als Aspekte eines kompetitiven Ringens, sogar Misstrauen und permanenter Missbrauchsverdacht (BJ M 104). Der Umgang mit Behörden verlangt Formulare und Anträge (BJ M 103)  ; die größte Herausforderung aus behördlicher Sicht ist die Tatsache, dass Walker die vorgesehenen Schemen sprengt – Walker kann gehen und ist doch vollständig von Hilfe abhängig und passt damit in keine der etablierten Kategorien (BJ M 108). Bürokratien, wie sie Ian Brown erlebt, sind von Standardisierungen und großen Einheitslösungen abhängig (BJM 176), auch wenn sie im Einzelfall Unsinn erzeugen wie etwa die Regelung, dass in einer Schule eine bestimmte Anzahl von Schüler/inne/n pro Quadratmeter zu unterrichten sei (was in einem Kontext mit erhöhtem Raumbedarf absurd ist). Eine »große Lösung« wird unterschiedslos angewendet (BJ M 177). Die Bürokratie zeigt einen Hang zu Standardisierung und Vereinheitlichung.128 Ein zusätzlicher Stressfaktor ist der Behördenjargon – wie wohltuend es sein kann, auf einen Repräsentanten der Behörden zu treffen, der keinen »Pflegejargon« spricht (BJ M 109). Damit deutet Ian Brown auch die Grenzen der Professionalisierung an. Diese muss auch mit der Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten zurecht kommen. »Das wahre Problem ist strukturell. Bis vor Kurzem wollte niemand … in den entsprechenden staatlichen Institutionen … zugeben, dass ein Kind geliebt werden und doch zu schwierig sein konnte, als dass seine oder ihre Eltern es versorgen könnten« (BJ M 114)  ; auch diese Konstellation sprengt Muster und durchbricht Erwartungen  ; immer wieder erfährt Ian Brown die disruptive Kraft von Walker und Walkers Conditio. Neben der administrativen Begleitung zeigte sich die professionelle Hilfe als zweite Form der Unterstützung  : Die professionalisierte Unterstützung bedeutet, dass sich mehr und mehr Spezialisten in das Leben der Familie drängten (BJ M 94), dadurch wurde Walker, der scheinbar wenig zur Gemeinschaft beiträgt, zu einer öffentlichen Person.129 Diese öffentliche Person wurde professionell betreut. Die wohl größte Herausforderung der professionellen Unterstützung betraf die Transformation von »Haus« in »Heim« oder von »Heim« in »Zuhause« oder von »Heim« in »Daheim«  : »Wie macht man aus einer professionellen Einrichtung zugleich auch ein Zuhause – einen Ort voller Mitgefühl, wo den Menschen unaufhörlich verziehen wird, um Mutter Teresas Definition zu gebrauchen  ? Walker hatte ein Zuhause, wo man für ihn sorgte, aber war es auch eine Familie  ? Würde 176

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sich der Ort, wo man für ihn sorgte, nachdem wir tot waren, auch wie sein Zuhause anfühlen, bewohnt von einer Gruppe von Freunden und geprägt durch das kollektive Innenleben, das seine Bewohner erschufen  ?« (BJ M 216) – wie kann die Idee, einander immer wieder zu verzeihen, mit professioneller Betreuung verbunden werden  ? Hier kann man wieder an die Aspekte von »Freundschaftsdienst« und »Begleitung« denken, die in Kontexten der Armutsbekämpfung eine entscheidende Rolle spielen. Gerettet hat Familie Brown eine Filipina namens Olga, ohne spezielle Ausbildung, aber mit Geduld, Fantasie, einem exzentrischen Sinn für Humor, eherner Zuverlässigkeit und einem großen Herz, »das keinen Unterschied machte zwischen den Bedürfnissen der einen Person und der nächsten« (BJ M 24). Sie liebte Walker, notierte alles, was mit ihm zusammenhing, in ein Notizbuch, machte sich die Mühe, genau hinzuschauen.130 Nichts brachte sie aus der Fassung – und deutete mit ihrem Wesen und ihrer Wirkkraft auch Grenzen der Professionalisierung an. Entscheidend war die treue Begleitung, die Olga der Familie geben konnte. Daneben erfuhr die Familie auch wechselnde Begleitungen  ; immer wieder kamen Frauen in Walkers Leben, um ihn zu fördern  ; Ian gab es einen Stich, weil ihm wieder klar wurde, »dass ich einen Sohn hatte, der ihre Hilfe brauchte, und zugleich eine Woge der Hoffnung und Dankbarkeit – weil vielleicht gerade diese Sitzung den Durchbruch bringen würde, der ihn auf den Weg zu einem normaleren Leben brachte. Ich verspüre immer noch beides, wenn ich ihn mit einem neuen, unverbrauchten, noch nicht resignierenden Lehrer erblicke« (BJ M 30) – diese Begleiterinnen freilich kamen und gingen. Teil der professionellen Unterstützung war auch die medizinische Unterstützung  ; sie zeigte sich zunächst in der Frage nach der Diagnose, die lange Zeit in Anspruch nahm, und den Eltern einiges abforderte, da sie hofften, »dass irgendjemand sich einmal festlegen würde« (BJ M 43). Die Diagnose brachte – wenigstens eine Zeit lang – die Hoffnung auf Behandlung.131 Die Mutter eines anderen behinderten Kindes sagte, dass ihr die Diagnose »Seelenfrieden« gebracht hatte (BJ M 145). Andere Eltern erzählten von der Diagnose als Suche nach Klarheit und Zugehörigkeit (»Wir wollten unbedingt Klarheit und irgendwo dazugehören«  ; BJ M 180). Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Familien, die Ähnliches erfahren, zeigte sich als dritte Form der Unterstützung. Familie Brown lernt mehr und mehr Familien mit behinderten Kindern kennen, »es war eine andere Welt, und plötzlich war ich ein Teil davon« (BJ M 61  ; vgl. BJ M 163)  ; das war gleichzeitig »entnervend wie beruhigend« (BJ M 184). Die Unterstützung war notwendig, denn Walker hatte das Leben durchbrochen  ; Walker hat die Menschen, die mit ihm zu tun hatten, verändert  ; er hat eine Liebe ohne Zögern  : Ian Brown

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transformative Kraft. Das Leben hat sich nach der Geburt Walkers schlagartig und unwiderruflich verändert, alles ist kompliziert geworden (BJ M 10), »nichts war normal« (BJ M 59), nach Walkers Geburt hatte sich das Leben in einer »Dauerbeunruhigung« verwandelt (BJ M 43), begleitet von »anhaltender, unterschwelliger Panik«, die Sorge um »das Schlingern seines Lebens« (BJ M 36). Der Stress ließ fast nie nach (BJ M 106), auch Geldsorgen waren Teil des Sorgenpakets (BJ M 256f ). Das Leben wurde durch die Strukturen der Sorge schwerer, auch gewichtiger.132 Das Leben wurde auch dunkler – dunkler aufgrund der offenen Fragen und Aporien, dunkler aufgrund der dauerhaften Belastung, die kein Licht am Ende eines Tunnels ankündigte. Ian Brown hatte mit Suizidgedanken zu kämpfen (BJ M 257) und auch mit kriminellen Gedanken über unterlassene Hilfe und das Aussetzen außergewöhnlicher Anstrengungen (BJ M 37). Die Zukunft stellte sich anders dar, hatte an Planbarkeit, aber auch an aufregender Kontingenz verloren. 133 Eine erdrückende tägliche Routine ließe die Zukunft »düster und dürftig« erscheinen (BJ M 106). Nach einem Arztbesuch, bei dem man Fragen stellen konnte, kam man nach Hause, es war, »als würde man einen langen Flur betreten, in dem die Lichter nicht angingen. Meine Frau sagte, sie habe das Gefühl, als wäre ein ›schalldichter Vorhang über uns gefallen‹« (BJ M 57).134 Die Dunkelheit des Lebens hatte auch mit der Isolation zu tun, die nach Browns Erfahrung Eltern von entwicklungsverzögerten Kindern erfuhren, »sie hungerten nach Kontakt und sehnten sich danach, die Wahrheit sagen zu können« (B J M 61). Das hatte offensichtlich etwas damit zu tun, dass die von außen an funktionierende Familien herangetragenen Rollenerwartungen nicht weiter erfüllt werden konnten. Eine Mutter eines behinderten Kindes äußerte in einem Forum, dass es das Schwierigste war, »den Traum von einer typischen Familie aufzugeben« (BJ M 159)  ; man wird aus der Unscheinbarkeit in die Öffentlichkeit gedrängt und privat ständig von der Sorge gefangen. Damit gesellt sich zur Isolation paradoxerweise die Erfahrung des Verlusts der Privatsphäre, einerseits weil Walker durch Behörden und Spezialist/inn/en öffentlich verwaltet wurde, andererseits weil Walker Rückzugsorte in der Familie zerstört.135 Der Vater einer behinderten Tochter formulierte es im Gespräch mit Ian folgendermaßen  : »Wenn man ein behindertes Kind hat … kann man nicht einfach zusehen, wie das Leben weitergeht, so wie man es eben tun kann, wenn man ein normales Kind hat. Man kämpft um Dinge, bringt sich in diese schwierige Position, man verliert eine Menge. Wir haben das Recht verloren, bloß eine Familie zu sein und in Ruhe gelassen zu werden« (BJ M 177). In der Situation der Verantwortung für ein behindertes Kind werden die Grenzen zwischen »privat« und »öffentlich« neu ausgehandelt. 178

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

Eine gewagte Frage, die Ian Brown immer wieder stellt, ist die Frage nach dem Wert von Walkers Leben. Ich möchte dies eine »gewagte Frage« nennen, weil sie aus einer Unsicherheit heraus gestellt wurde  ; sie ist zweitens eine gewagte Frage, weil nicht klar ist, wie eine Antwort auf diese Frage aussehen kann  ; sie ist drittens eine gewagte Frage, weil sie Sinnentwürfe erschüttern kann. Die Frage lautet  : »Worin besteht der Wert eines solchen Lebens – eines Lebens im Zwielicht und oftmals in Schmerzen  ? Was für Lasten bürdet sein Leben denjenigen um ihn herum auf  ?« (B J M 11). Wäre es ein Glück, wenn Walker ein mittleres Alter erreicht – oder nicht  ? (BJ M 19). »Ich habe immer nach einem Zusammenhang gesucht, in dem Walker einen Sinn bekam, in dem sein desorganisiertes Leben (und meine unvermeidliche Fürsorge dafür) vielleicht eine größere Bedeutung innewohnte, ein höherer Zweck« (BJ M 183). Grundsätzlich ist »Walker … eine Tatsache. Er wird sein ganzes Leben so bleiben, wie er ist. Er bedeutet Vieles für mich, nicht zuletzt ist er ein Mahnmal meiner eigenen Fragilität und Angst« (BJ M 176f )  ; aufgrund dessen stellen sich Fragen nach dem Leben insgesamt und nach einem Blick auf das Leben als Ganzes.136 Bereits in den ersten Lebenstagen Walkers wird Ian Brown mit der Frage »›Wir wollen doch, dass dieses Kind lebt, oder  ?‹ (BJ M 37) konfrontiert und darauf aufmerksam gemacht, dass es außergewöhnlicher Anstrengungen bedürfe, um das Überleben des Kindes zu ermöglichen. Die nächste Frage  : »›Wollen Sie diese Anstrengungen auf sich nehmen und die Konsequenzen ertragen  ?‹ Selbst wenn er diese Frage direkt gestellt hätte, kann ich mir nicht vorstellen, dass meine Antwort anders als ›ja‹ gelautet hätte. All die theoretischen Debatten über Ethik können die Forderungen des Augenblicks nicht ändern  : das schreiende Baby auf dem Untersuchungstisch, sein aufgeblähter Bauch, der offenkundig besorgte Arzt, sein Vater, der dämlich daneben steht. Der Schrei des körperlichen Kindes und seiner Not« (BJ M 37). Walker als »Tatsache« zeigt Grenzen der abstrahierenden Distanzierung auf. »Seine Aura, die Tatsache, dass er existierte, konnte überall auftauchen« (BM J 51). »Von der ersten Nacht an, in der ich ihn im Bett in den Arm nahm, um ihn zu füttern, konnte ich dieses Band zwischen uns fühlen, das Band, das besagte, dass wir miteinander verknüpft waren, dass ich ihm etwas schuldete« (BM J 39). Hier finden eine »Vertatsächlichung«, wenn der Ausdruck gestattet ist, und »eine »Entanonymisierung« statt  ; dieses Moment zeigt sich auch in einer tiefen Diskussion zwischen Ian und seiner Ehefrau Johanna, in dem Johanna sagt  : »›Wenn es, als ich schwanger war, einen Test gegeben hätte, der klar gemacht hätte, wie Walkers Leben aussehen würde, hätte ich eine Abtreibung vorgenommen‹ … ›Aber dann würdest du Walker nicht haben‹, Liebe ohne Zögern  : Ian Brown

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sagte ich … Schließlich erwiderte sie  : ›Du kannst doch nicht sagen, nachdem ich nun Walker kenne, hätte ich etwas getan, um ihn loszuwerden  ? Es ist eine Sache, einen anonymen Fötus abzutreiben. Es ist etwas anderes, Walker umzubringen. Ein Fötus wäre doch nicht Walker.‹« (BJ M 210f ) – heißt das, dass die entscheidende Kategorie, wie das von Levinas betont wurde, die Kategorie des »Gesichts« (des »Antlitzes«) ist  ? Worin besteht der »Wert« Walkers für die Gesellschaft  ? In jedem Fall zeigt Walker ein Gesicht des Menschseins und eine Lebensform und stellt gerade dadurch Selbstverständlichkeiten infrage  : »Und doch war dieses ständige Infragestellen, angeregt durch Walker – meint er, was er tut, tatsächlich oder nicht  ? – auch ein Modell, ein Rahmen für eine ganze Menschenwelt, eine Art zu leben« (BJ M 52). Das »Modell« könnte mit der angesprochenen »Vertatsächlichung« zusammenhängen  ; ein Spezialist versuchte Ian Brown zu erläutern  : »Die Buddhisten sagen, der Weg zur Erleuchtung, zum reinen Dasein, liegt darin, die Gedanken wegschieben zu können. Ich will nicht abgedroschen klingen, aber Walker weiß bereits, wie er das tun muss. Er ist reines Dasein. Er ist vielleicht entwicklungsverzögert oder mittelgradig geistig behindert, aber in gewisser Weise ist er uns schon meilenweit voraus« (BJ M 84). Hier ist die Kategorie »Dasein« zur bestimmenden Kategorie geworden  : »Präsenz«. Anders ausgedrückt, in einer schönen Formulierung  : »Walker ist ein Experiment des menschlichen Lebens, das in der einzigartigen Atmosphäre dauerhafter Gegenwart verläuft« (BJ M 96)  ; die dauerhafte Gegenwart Walkers ist auch »fordernde Gegenwart« (BJ M 119), Walker ist präsent, ist Widerstand, ist Quelle von Forderungen. Eine Schamanin (die Johanna als große Erleichterung erlebt, weil sie Walker nicht »heilen« wollte) macht ihnen ein anderes Angebot, den »Sinn« von Walkers Leben zu verstehen – sie erzählt die Geschichte von der Wanderung zu einem Brunnen – »Walkers Suche, der Zweck seines Lebens, war zu prüfen, ob er sein Spiegelbild im Wasser am Fuße des Brunnens sehen konnte« (BJ M 132). Vielleicht, so überlegt sich Ian an anderer Stelle, könne man Walkers Leben als Kunstwerk sehen  : »Wer sich also fragt, welchen potenziellen Wert ein schwerbehindertes Kind und welche mögliche Bedeutung ein Leben im Halbschatten haben mögen, das sich hauptsächlich unter Schmerzen vollzieht, dann ist das eine Möglichkeit. Was wäre, wenn Walkers Leben eine Art Kunstwerk im Werden ist – möglicherweise sogar ein kollektives Kunstwerk  ?« (BJ M 279). Ian geht der Frage nach dem »Wert« von Walkers Leben auch mit Blick auf die eigene Erfahrung nach  : Auf die Frage, wie er denn immer noch lachen könne, wenn er einen schwer behinderten Sohn habe, erwiderte er  : »Die Antwort war einfach  : Es ist 180

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

schwerer, als irgendjemand sich das vorstellen kann, aber auch befriedigender und lohnender« (BJ M 93). Walker hat seinem Leben »eine Form« gegeben (BJ M 123, BJ M 160)  ; die Lebensumstände von Menschen schwerbehinderter Kinder besitzen eine »Klarheit« (BJ M 167)  ; hier wird dem Leben eine definitive Form gegeben  ; entsprechend empfindet es Ian so, als würde diese Form nach Walkers Auszug aus dem Haus »wegschmelzen« (ebd). Die Frage nach dem »Wert« des Lebens kann zugespitzt werden zur Frage  : Was würdest du verändern, wenn du die Möglichkeit hättest  ?137 Gegen diese Frage ist die Aussage zu halten  : »Jedes Mal, wenn er glücklich ist, ist er so glücklich, wie er nur sein kann« (BJ M 82). Ian Brown machte die Erfahrung, dass es unterschiedliche »Lesarten« des Lebens seines Sohnes gab  ; aus Sicht der Genetik war Walker »ein schädlicher Effekt der Natur« (BJ M 195)  ; die Natur allein hätte ihm nicht gestattet, zu überleben. Die durch einen Gentest gebotene Erklärung verärgerte Ian  : »Was mich ärgerte, war die Vorstellung, dass das Leben meines Sohnes auf einen Schreibfehler in einer drei Milliarden langen Kette von Lettern reduziert wurde, auf einen winzigen Nukleotid. Der Absolutismus der Genetik stieß mich ab« (BJ M 311)  ; hier haben wir es mit einer Dynamik von »Entzauberung« oder »Entmythologisierung« zu tun. Der wissenschaftliche Blick auf Walker war ein neuer Weg, Walker zu verstehen, »eine aufregende, aber auch erschreckende Vorstellung« (BJ M 186), da sich in das höchst persönliche Verhältnis zu Walker »eine unpersönliche, wissenschaftliche Ursache« gedrängt hatte. Gleichzeitig ermöglichte ihm diese »wissenschaftliche Betrachtungsweise« auch einen Zugang zur Sinnfrage  : Vielleicht war Walkers Zweck in einem evolutionären Projekt »ein (ganz kleiner) Schritt zur Evolution eines breiteren und widerstandsfähigeren ethischen Bewusstseins … Der Zweck von geistig behinderten Menschen wie Walker könnte dann sein, uns von der tumben Leere des ›Survival of the Fittest‹ zu befreien« (BJ M 269). Hat Walkers Leben Lebensqualität, bringt es Lebensqualität hervor  ? Das Leben mit Walker bringt jedenfalls immer wieder besondere Momente hervor, die Ian Brown schildert  : Der Moment des Einschlafens, »in dem er, seinen verrückten, formlosen Körper an mich geschmiegt, einschläft. Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich wie der Vater eines ganz normalen kleinen Jungen. Manchmal denke ich, das ist sein Geschenk an mich – in kleinen Portionen, um mir zu zeigen, wie wertvoll und kostbar er ist. Walker, mein Lehrer, mein lieber, lieber, verlorener und verwundeter Junge« (BJ M 16)  ; ein Moment des Glücks, wenn Walker glücklich ist (B J M 25), »Augenblicke unbezwingbarer Freude« (B J M 82), besondere Augenblicke – »eine einzige Reaktion war bemerkenswert, ein Liebe ohne Zögern  : Ian Brown

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Lächeln oder eine seiner fröhlichen Touren verzauberten mir den Nachmittag« (BJ M 61)  ; Momente des Badens (»ihn zu baden, führt mich wieder zu mir selbst zurück«  ; BJ M 20), ein Moment, der auf einem Foto festgehalten wurde  : »Eines meiner Lieblingsfotos von Walker aus jenen Tagen zeigt ihn, wie er auf meinem Schoß in einem Liegestuhl auf der Veranda des Häuschens eines Freundes nördlich von Toronto sitzt, neben einem stillen See. Ich lese die Zeitung, halte sie geöffnet und runzele die Stirn. Walker lehnt sich zurück an meine Brust und lacht wie verrückt. Damals waren wir beide glücklich« (BJ M 65), ein inniger Moment mit seiner Schwester.138 Diese Momente generieren eine Landschaft der Erinnerung. Diese Momente nähren die Liebe, etwa wenn sich Ian an Autofahrten erinnert, bei denen Olga mit Walker auf dem Rücksitz saß  : »Er war wie ein Kugelblitz wirbelnder Begeisterung … Himmel, es tut richtig weh, wenn ich daran denke, wie sehr ich ihn auf diesen komischen Touren liebte« (BJ M 199). Ein wesentlicher Aspekt von Walkers Leben ist die transformative Kraft, die er ausübt. Er zwingt dazu, im Hier und Jetzt zu leben (BJ M 301). Er lässt keine andere Wahl. Die Liebe zu Walker hat vielfach mit diesem Verlust an Wahlmöglichkeiten zu tun. Er transformiert, merklich und unmerklich das Familiengefüge, den Alltag, die Bezugspersonen. Johanna lehnt dies dezidiert als instrumentalisierende Sinngebung ab139, aber es ist eine Tatsache, dass Walker Menschen und Menschenleben transformiert. Freilich ist es nicht präzise auf den Begriff zu bringen, worin diese Transformation besteht  : »Er brachte mich dazu, mich zu ihm vorzuwagen, und aus unerklärlichen Gründen bin ich ihm dankbar dafür und werde es immer sein. Wo wäre ich jetzt, ohne ihn  ?« (BJ M 67). Walker lehrte Menschen, die Welt neu zu sehen  : »Das eigene Leben gehorcht auf einmal anderen Dringlichkeiten« (BJ M 50), die Meinungen anderer Leute werden weniger wichtig. Walkers Leben lässt die Handlungsoptionen seiner Eltern drastisch schrumpfen  ; es stellt sich eine neue Eindeutigkeit in der Lebensaufgabe und in der Lebensform dar  : »So sehr ich auch versuchte, über Alternativen nachzudenken, ich konnte mir nicht vorstellen, mich nicht jeden Tag um ihn zu kümmern« (BJ M 84f ). Walker transformierte Ian, der sich darum bemühte, eine Sprache der Liebe zu lernen.140 »Schon früh erkannte ich, dass mein Sohn meine Laune bessern konnte, dass ich auf seine ungewöhnliche, emotionale Ausstrahlung reagierte« (BJ M 20). Durch Walker entwickelte Ian »eine geradezu geologische Geduld« (BJ M 79).141 Die Transformation war tief, auch schmerzhaft, nicht nur eine Verklärung  : »Walker hat meinem Leben eine Form gegeben, vielleicht einen Sinn. Aber Walker hat unser Leben auch zur Hölle gemacht« (BJ M 160). 182

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

Nach Walkers Auszug leben seine Eltern mit einer Wunde – »es war eine Leere, ein Loch in unserem Leben, das immer da sein würde … Macht es uns zu besseren Menschen, dass wir jeden Tag diese Wunde betrachteten  ?« (BJ M 213)  ; eine Wunde hat transformative Kraft, sie wirkt. Behinderte Menschen können, wie Ségolène von »L’Arche« in der Begegnung mit Isabelle erfuhr, aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit eine überraschende Zärtlichkeit hervorrufen (BJ M 224f ), uns lehren, »wir selbst zu sein, weil Isabelle nur sie selbst ist« (BJ M 225). Ähnlich hat es Ian erfahren  : Walker und die anderen Behinderten haben Ian daran erinnert, »wie man die einfachsten Dinge tut. Sie erinnerten mich daran, sich nicht dafür zu schämen« (BJ M 252)  ; er kauft als Fremder mit eingerostetem Französisch Kaffee in einem Geschäft in einem französischen Dorf. Die Auseinandersetzung mit Walkers Leben bringt Ian auch dazu, sich Gedanken über eine andere, eine gute Gesellschaft zu machen. Immer wieder kommt er auf die Grenzen von »Integration« zu sprechen, im Sinne des angesprochenen Protektionsgedankens. In seinem neuen Haus mit anderen schwer behinderten Jugendlichen ist Walker »fähig wie jeder andere« (B J M 130). Er lernt ein neunjähriges schwer behindertes Mädchen kennen, das eine mit Walker vergleichbare Situation hat. »Sollten die Menschen jemals freundlich gesinntes und kooperationsbereites Leben auf anderen Planeten entdecken, dann wäre ich nicht überrascht, wenn sie sich genauso fühlen würden wie ich an jenem windigen Nachmittag in Kalifornien, nachdem ich Walkers genetische Kusine kennen gelernt hatte« (BJ M 137) – das Mädchen erzählt von der Möglichkeit eines nicht auf Konkurrenz beruhenden Lebens. Diese Idee von einer anderen Gesellschaft entwickelt Ian Brown vor allem auch in der Begegnung mit Jean Vanier und in der Erfahrung von »L’Arche«. Er lernt, dass behinderte Menschen mitunter die entscheidenden Fragen stellen  ; er lernt den auch mit C F C diagnostizierten Daniel kennen  ; der sich oft Fremden auf der Straße nähert. »›Hallo‹, sagte er. ›Magst du mich  ?‹ Das ist die eigentliche Frage« (BJ M 150). Jean Vanier verstand das  : »Jedes Mal, wenn wir jemanden kennen lernen, der ernsthaft behindert ist, stellt er uns, glaubt Jean Vanier, zwei Fragen  : Betrachtest du mich als Mensch  ? Liebst du mich  ?« (BJ M 325). Im erwähnten Gespräch mit Johanna über einen pränatalen Test und eine etwaige Abtreibung stellt Ian Brown auch die Frage  : Ian fragt weiter  : »Was glaubst du, wie die Welt ohne Menschen wie Walker wäre – ohne Kinder wie ihn, meine ich, Kinder, die wirklich Rückschläge erleiden  ? … das ist keineswegs eine so unwahrscheinliche Möglichkeit, wenn man die Reichweite pränataler Tests bedenkt« (BJ M 211). Was würde sich ändern  ? Was würde sich ändern, wenn »Rückschlag« und »Angewiesenheit« ausradiert Liebe ohne Zögern  : Ian Brown

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würden  ? Für Jean Vanier ist das Entscheidende die Fähigkeit, das Starke und das Schwache zu integrieren. Eine gute Gesellschaft ist nach Jean Vanier eine solche, die von Konkurrenz zu Kooperation übergeht (BJ M 241).142 In Jean Vaniers Welt war Walker ein starkes Bindeglied (BJ M 244). Ian Brown machte die Erfahrung in »L’Arche«, dass man tatsächlich eine Lebensform schaffen könne, in der die gesunden Menschen von den behinderten Menschen lernen könnten. Entsprechend entwickelte er selbst eine Vorstellung einer guten Gesellschaft, in der Raum für diese Umkehrung des Lernens war.143 Der Cantus firmus, der sich durch den gesamten Bericht zieht, ist eine Reflexion auf die Liebe und die Kraft der Liebe. Walker spricht auch eine Sprache der Liebe – beim Zusammensein mit Freunden zieht Walker seine Runden, klettert bei jedem herauf, spielt mit Schmuck, geht dann weiter  : »Ich stelle mir vor – das ist der einzige Ausdruck, den ich dafür verwenden kann –, dass er uns wissen lassen wollte, dass er uns liebte« (BJ M 68). Walker »reagiert auf Liebe«, stellt Johanna Brown fest, »wir wollen, dass er irgendwo hinkommt, wo man ihn ganz liebt und nicht nur Teile von ihm« (BJ M 109). Walker ist ein Mensch, der Liebe und Lieblosigkeit spürt und Liebe zeigen kann – auf seine Weise, in seiner Sprache. Das Leben mit Walker stellt die Liebe der Eheleute auf eine Probe – »in unserem Fall hatte sich ein permanenter Groll wie eine feine Staubschicht über alles gelegt. Aber die Vorstellung, einander zu verlassen, war undenkbar  : Es war völlig unmöglich, für Walker zu sorgen, wenn wir es nicht gemeinsam taten« (BJ M 116)  ; »meistens verzeihen wir einander. Walker hat uns beigebracht, das zu tun« (BJ M 121)  ; in diesem Sinne wurde das Band gestärkt, aber die Liebe musste um eine Sprache ringen  : »Ich liebte sie, aber es war schwer, die zusätzlichen Aufmerksamkeiten aufzubringen, die gelegentlichen kleinen Liebesdienste und Gefälligkeiten, die eine Ehe zusammenhalten, die halten soll« (BJ M 117). Dieser schlichte Satz enthält tiefe Einsichten in die Struktur der Liebe  : Die Liebe braucht einen großen Wortschatz, viele Worte, viele kleine Gesten, nicht nur Regeln, aber auch diese, einen Rhythmus, Verlässlichkeit. Einen Menschen zu lieben bedeutet, Wichtiges wichtig zu nehmen  : »Alles, was er mag, ist mir wirklich sehr wichtig« (BJ M 276)  ; einen Menschen zu lieben bedeutet, sich schwer von ihm zu trennen – immer wieder erzählt Ian Brown davon, dass die Abschiede von Walker nach einem Besuch in dessen betreuter Wohngemeinschaft »wie kleine Tode« sind, dass der Abschied von Walker aus dem eigenen Haus nach zehn Jahren (und nach sieben Jahren Suche) das Schmerzhafteste war, was er erleben musste  : »Mir war nicht klar, dass das sieben Jahre dauern würde, dass es das Schmerzhafteste sein würde, das ich jemals getan 184

Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

habe, und dass der Schmerz nie mehr weggehen würde« (BJ M 96). Einen Menschen zu lieben, bedeutet, ihm Erfüllung in der Liebe zu wünschen. 144 Einen Menschen zu lieben bedeutet, ihn in seiner Verwundbarkeit zu schützen  : »Ich würde nicht zulassen, dass ihn irgendjemand verletzte, er war schon genügend verletzt, und so würde ich seine Arglosigkeit in meine Dauerpräsenz hüllen, um ihn vor allem zu schützen, auch vor Zurückweisung« (BJ M 88). Ian Brown gebraucht zweimal den Begriff einer »Liebe ohne Zögern«  ; am Ende des Buches dankt er seinem Bruder Timothy und dessen Partner Frank – sie »freundeten sich mit Walker buchstäblich vom Augenblick seiner Geburt an, ohne einen Augenblick des Zögerns oder jegliche Bedenken« (BJ M 332)  ; der letzte Satz ist sein Dank an seine Frau Johanna und die gemeinsame Tochter Hayley  : »Walkers liebste Gefährtinnen. Aus gutem Grund  : Ihre Liebe kannte kein Zögern, keinen Anfang und kein Ende« (BJ M 333). Was ist sie, die »Liebe ohne Zögern«  ? Es ist wohl eine Form der Liebe, die keine Vorbereitung, keine Reflexion, keine Entscheidung braucht  ; eine Liebe, die nicht den Eindruck erweckt, vor eine Wahl gestellt zu sein, »Optionen« zu haben, aus einer Freiheit möglicher Ablehnung heraus »Ja« zu sagen  ; diese Liebe hat etwas Selbstverständliches und Selbstvergessenes. Diese Selbstvergessenheit ist eigentümlich.145 An anderer Stelle sagt Ian über seine Frau, dass sie »zu tiefer und anhaltender Güte fähig« ist (BJ M 119). Ian Brown dankt den Freunden für die Liebe durch die Dunkelheit, er dankt, »weil sie es versucht haben – sie haben versucht, in unsere Dunkelheit hinabzureichen und uns zu stützen. Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie tief sich dieser Brunnen anfühlt, wie tief hinunter sie greifen mussten« (BJ M 86). »Liebe ohne Zögern« ist Zeichen eines guten, eines ernsthaften, eines anspruchsvollen Lebens, eines Lebens mit Tiefe. Eine Gesellschaft, die Rahmenbedingungen für »Liebe ohne Zögern« schafft, deren Tiefe gerade im Verlust der Wahlmöglichkeit besteht, ist eine gute Gesellschaft, die sich auf »tiefe Praxis der Liebe« einlässt.

Liebe ohne Zögern  : Ian Brown

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Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Soziale Veränderung 5.1 Armutsbekämpfung ist eine Veränderung der sozialen Situation. Veränderungen sind an Fähigkeiten gebunden. Eine Fähigkeit ist ein Vermögen, einen Sachverhalt kausal zu beeinflussen. In diesem Sinne hat eine Fähigkeit mit »Transformation von Wirklichkeit«, »Herstellung von Situationen«, »Veränderung von Welt« zu tun. Oder  : Eine Fähigkeit ist das Vermögen, einen bestimmten Weltzustand herzustellen. In diesem Sinne ist eine Fähigkeit verbunden mit Aspekten wie »Konstruktion von Wirklichkeit«, Intentionalität und Planbarkeit. Oder  : Fähigkeiten sind Möglichkeitsvermögen – eine Fähigkeit ist das Vermögen, Möglichkeiten zu erschließen, Möglichkeiten zu transformieren und Möglichkeiten zu realisieren. In diesem Sinne kann eine Fähigkeit als eine Kraft, Möglichkeiten zu koordinieren, verstanden werden. Oder  : Eine Fähigkeit ist das Vermögen, eine Möglichkeit in eine Wirklichkeit zu überführen. In diesem Sinne hat Fähigkeit mit der Eröffnung eines Handlungsraumes zu tun  ; mit der Eröffnung eines Spielraums, innerhalb dessen Handlungsmacht ausgeübt werden kann. Eine Fähigkeit besteht darin, eine Quelle für Veränderung zu haben bzw. Quelle für Veränderung zu sein  ; mit Bezug auf den besonderen Status der Veränderung kann man denn auch eine Fähigkeit als das Vermögen charakterisieren, eine Bewegung in Gang zu bringen oder zu beenden. Wir könnten daraus schließen, dass Fähigkeiten den Bewegungsraum – den Handlungsspielraum eines Menschen – vergrößern oder auch, dass ein Sinn für »agency«, für Handlungsmacht, Handlungsfreiheit und Handlungsfähigkeit wesentlich für die Kultivierung von Fähigkeiten ist. Fähigkeiten bewegen Möglichkeiten. Damit ist der Begriff der Fähigkeit an den Begriff der Möglichkeit gebunden. 5.2 Möglichkeiten zu erkennen ist eine Frage des Möglichkeitssinns und der Vorstellungskraft. Fähigkeiten haben an der Schnittstelle von »Potentialität« (Anlagen zur Veränderung im Handlungssubjekt  ; subjektbezogene Potenzen) und »Possibilität« (Anlagen zur Veränderung im Sachverhalt  ; situationsbezogene Möglichkeiten) eine subjektive und eine objektive Komponente  ; der Primat kommt dabei aber wohl dem subjektiven Aspekt zu  : Im eigentlichen Sinne ist eine Fähigkeit etwas Subjektives, d. h., das Vermögen eines empfindenden, Soziale Veränderung

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denkenden und handelnden Subjektes. Fähigkeiten sind mithin von objektiven Gegebenheiten zu unterscheiden, also von Möglichkeiten, die in der äußeren Wirklichkeit bestehen. Hier kann man Brücken zur Armutsforschung erkennen  : Fähigkeiten auf der subjektiven Ebene sind auf Bedingungen, die über das Subjekt hinausgehen, angewiesen. Die Fähigkeit, ausgezeichnet Tischtennis zu spielen, ist in ihrer Realisierung auf Tisch, Schläger, Ball – und in der Regel einen Gegenspieler – angewiesen. Umgekehrt liegen Possibilitäten brach, wenn sie nicht durch subjektgebundene Potenzen genutzt werden können. Nach einer aristotelischen Analyse kann eine Fähigkeit als das Vermögen, theoretische Möglichkeiten in reale Gegebenheiten zu verwandeln, beschrieben werden  ; also als das Vermögen, etwas Mögliches in etwas Wirkliches zu überführen. Um eine Möglichkeit zu realisieren, müssen gewisse Sachverhalte – als Vorliegen und dezidiertes Nichtvorliegen von Tatsachen – realisiert sein. Wenn ich etwa die Fähigkeit, meinem Neffen bei der Lateinhausaufgabe zu helfen, realisieren möchte, darf die Tatsache, dass ich an Migräne leide, nicht gegeben sein  ; mein Neffe muss willens sein, sich von mir helfen zu lassen, die Lernsituation verlangt eine gewisse Ruhe, usw. Fähigkeiten sind also in ihrer Realisierung auf Ressourcen angewiesen. Damit werden Fragen nach dem Zugang zu Fähigkeiten auch Fragen sozialer Gerechtigkeit  : Zugang zu Fähigkeiten zu ermöglichen, verlangt einen Zugang zu subjektiven Aspekten (Möglichkeitssinn, Wirklichkeitssinn, Entscheidungsfähigkeit und damit Fähigkeiten zweiter Ordnung) und einen Zugang zu objektiven Aspekten (Bestehen von Sachverhalten als Kombination aus bestehenden und nicht bestehenden Tatsachen) – ein Zugang zu Möglichkeiten ist stets mit einem Zugang zu Ressourcen verbunden, aber auch mit einer willentlichen Entscheidung. Armutsbekämpfung erschließt Möglichkeiten, allerdings zweckdienlich nur, wenn es sich um »echte Gelegenheiten« handelt. »Echte Gelegenheiten« können von »vagen Möglichkeiten« dadurch unterschieden werden, dass eine besondere Person über einen besonderen Handlungsraum mit entsprechenden Ressourcen verfügt. Erst durch diese Personalisierung, Handlungsfreiheit und Ressourcenunterstützung ist der Begriff der »Gelegenheit« gerechtfertigt. Armutsbekämpfung generiert Gelegenheiten. 5.3 Armutsbekämpfung setzt an den Fähigkeiten des Menschen an. Fähigkeiten sind untrennbar mit Menschen verbunden, die diese Fähigkeiten – in einer je persönlichen Weise – ausüben. Ein Buch ist für einen Menschen, der die Fähigkeit besitzt, zu lesen, in einem anderen Möglichkeitsraum angesiedelt, als ein Buch für einen Menschen, der die Lesefähigkeit nicht ausprägen konnte. Dabei 188

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

geht der Begriff der Fähigkeit über das »Entziffern können« weit hinaus. »Buchkompetenz« als die Zugehörigkeit zum Club der Lesekundigen hat auch etwas mit erschlossener Sinnhaftigkeit des Lesens, mit Freude am Buch, mit gefallenen Hemmschwellen, ein Buch in die Hand zu nehmen, und damit mit Selbstvertrauen zu tun. Ich möchte zur Verdeutlichung den Begriff der Lebensontologie einführen – den Begriff der persönlichen, implizit durch das Leben gegebenen und sich im Leben erweisenden Theorie der Wirklichkeit eines Menschen. Der Raum der Möglichkeiten, der mit einem Buch erschlossen werden kann, hängt von der Rolle ab, die das Buch in der Lebensontologie eines Menschen zu spielen vermag. Die »Lebensontologie« ist die Theorie der Wirklichkeit, die sich ein Mensch zurechtlegt, das persönliche Orientierungssystem, das die Erfahrungen und Sachverhalte strukturiert. Die Lebensontologie ist nicht eine Beschreibung der Welt aus einer Sicht von Nirgendwo, sondern liefert eine Landkarte dessen, womit Menschen handelnd umgehen, unter Einschluss von Bewertungen und Präferenzen. Die Lebensontologie bestimmt, was es »für uns gibt« und mit welcher Bedeutung. Während eine allgemeine Ontologie die Frage nach der Wirklichkeit unter Einbeziehung eines über- oder unpersönlichen Standpunkts verfolgt, verfolgt die Lebensontologie ein persönliches und subjektgebundenes Projekt – es geht nicht um die Frage, »was es gibt« oder »was etwas ist«, sondern »was es für mich gibt« und »was etwas für mich ist«. Bildlich gesprochen  : Die Lebensontologie enthält einen Blick auf die Welt mit einer einzigartigen Reliefstruktur, die Berge und Täler unterscheiden lässt. Je nach Bedeutung eines Gegenstands oder Sachverhalts für einen bestimmten Menschen rücken Entitäten in den Vordergrund oder Hintergrund. Je wichtiger eine Entität im Leben eines Menschen, umso konturierter und differenzierter tritt diese Entität in der Lebensontologie auf. Die Bindung eines Menschen an einen Gegenstand oder auch Sachverhalt bestimmt den ontologischen Status dieses Gegenstands im Rahmen einer persönlichen Lebensontologie. Identitätsstiftende Zugehörigkeiten haben auch einen Einfluss auf das »Sehen«, auf das Weltbild – und damit auch auf die Möglichkeiten, die mit einer bestimmten Situation verbunden werden. Die Lebensontologie entscheidet über die Handlungs- und Deutungsoptionen, die sich angesichts einer bestimmten Situation oder eines bestimmten Gutes stellen. Bleiben wir beim Beispiel eines Buches, um diesen Punkt zu verdeutlichen  : Ein bestimmtes Buch kann Kindheitserinnerungen wecken, kann aufgrund des bereits vertrauten Autors mit einer Erwartungshaltung verknüpft sein, kann mit besonderem Wohlwollen aufgrund der ausgesprochenen Empfehlung gelesen oder mit besonderer Ehrfurcht behandelt werden, etc. Durch solche EinordSoziale Veränderung

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nungsdynamiken wird das Buch in die Lebensontologie eines Menschen eingefügt. Auch hier zeigt sich eine Brücke zur episthetischen Situation eines Menschen. Es geht also nicht nur um einen veränderten Zugang zu Gegenständen, sondern auch um eine veränderte Lebensontologie, um eine Transformation der episthetischen Situation, so soll Armut bekämpft werden. RD 5.1 Aristoteles verbindet den Begriff der Fähigkeit mit dem Begriff der Möglichkeit. Eine »dynamis« (Möglichkeit, Kraft) ist nach Aristoteles ein Prinzip dafür, dass eine Veränderung stattfinden kann. Fähigkeiten bewegen Situationen. Eine Bewegung wiederum ist eine Form eines Übergangs, die in einem räumlichen Rahmen als Bezugssystem stattfindet.1 Auch die Bewegung ist auf eine Entsprechung von Bewegtem und Bewegendem angewiesen – die Bewegung von Bewegendem und Bewegtem erfolgt gleichzeitig.2 Damit ist gesagt, dass zur Ausübung einer Fähigkeit ein Wirklichkeitssinn, ein Verständnis für die Eigenschaften der vorliegenden Sachverhalte, erforderlich ist. Die Bewegung braucht einen Träger, also eine Substanz – und eine zugrunde liegende Materie (ein Substrat), an der sich die Bewegung vollzieht. Der Begriff der Veränderung bezieht sich nicht nur auf »Veränderung an etwas anderem«, sondern auch auf »Veränderung von und an sich selbst«. Eine Fähigkeit kann als Vermögen verstanden werden, a) Möglichkeiten herzustellen, b) Möglichkeiten in Wirklichkeit überzuführen, c) einen vorliegenden Zustand in einen anderen Zustand zu transformieren. Fähigkeit ist also die Kraft zur Veränderung. Eine Veränderung ist die Verwirklichung einer Möglichkeit an einem Gegenstand (Phys III 1–2). Fähigkeit wie Möglichkeit sind Vermögen. Eine Möglichkeit (»dynamis«) ist ein Prinzip dafür, dass in etwas anderem eine Veränderung stattfindet (Met V 12 1020 a 1  ; vgl. Met IX 1 1046 a11). Eine Veränderung wird in der Regel durch ein aktives Vermögen herbeigeführt.3 Das Vermögen, Veränderungen herbeizuführen, ist die »energeia«, das Handeln, der Akt. Energeia setzt realisierte Möglichkeit voraus, sie ist das Bestehen einer Sache (aber nicht im Sinne des Bestehens dem Vermögen nach  : Met IX 6, 1048a30–32). Ein aktives Vermögen, das an die Vernunft gebunden ist, kann erst dann bestätigt werden, wenn a) der Träger mit dem Träger eines entsprechenden passiven Vermögens in Berührung kommt  ; b) wenn der Träger es betätigen will. (vgl. Met IX 5 1048 a 7–15). Eine Veränderung bedarf also des Zusammentreffens eines gestaltenden und eines erleidenden Vermögens  : Jedem aktiven Vermögen, eine bestimmte Veränderung zu bewirken, entspricht auf Seiten der Dinge, in denen diese Veränderung stattfinden kann, ein passives Vermögen sie zu erleiden (Met IX 1046 a 11–31). Das 190

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Ausüben einer Fähigkeit schließt also realisierte Möglichkeit, vorliegende Möglichkeit und Bewegung ein, denn Veränderung vollzieht sich durch Bewegung. Eine Bewegung ist die Verwirklichung des seiner Möglichkeit nach einem auf eine Wirklichkeit hin sich erstreckenden Seienden (Phys III, 1, 201a 29ff ). Dazu bedarf es, grob gesprochen, des »Kontakts mit der Wirklichkeit«. Nur Dinge, die in Kontakt miteinander stehen, können sich beeinflussen und eine Veränderung bewirken (Gen corr II 5 332b 27f ). Das Ausüben von Fähigkeiten setzt also nach Aristoteles voraus  : (i) Die Wahrnehmung einer Situation in ihrer Wirklichkeit  ; (ii) die Wahrnehmung der Möglichkeiten, die mit dieser Situation verbunden sind  ; (iii) die Identifikation des relevanten aktiven Vermögens  ; (iv) die Abrufbarkeit der Fähigkeit  ; (v) der Kontakt mit der Wirklichkeit in Form des Aufeinandertreffens von aktivem und passivem Vermögen  ; (vi) das Wollen  ; (vii) die Bewegung. Diese sieben Aspekte sind bei Prozessen sozialer Veränderung zu berücksichtigen. E 5.1 Jacqueline Novogratz ist in ihren Recherchen zu gescheiterten Entwicklungsprojekten immer wieder auf das Phänomen gestoßen, dass Veränderungen von oben angestoßen wurden, ohne die reale Situation zu kennen. Veränderungen, die »von oben« gesteuert werden, können schief gehen. Bekämpfungsmaßnahmen »von oben«, die die Lebenserfahrung, das lokale Wissen und die Lebensvorstellungen der Betroffenen nicht einbeziehen, gehen am Ziel der Armutsbekämpfung vorbei, die dann nur eine Form der »pazifizierenden Linderung«, aber keine ernsthafte Bekämpfung darstellt. Rebecca Nthogho Lekoko und Marietje van der Merwe haben diese Dynamik am Beispiel eines einschlägig benannten Programms »atlhama-o-je« (»öffne deinen Mund und iss«) in Botswana gezeigt.4 Edward Carr hat an einigen Beispielen gezeigt, dass Armutsbekämpfungsprogramme vielfach von einem einheitlichen und einigermaßen abstrakten Armutsbegriff ausgehen und deswegen auch oft scheitern, weil sie lokale Realitäten nicht hinreichend berücksichtigen – deswegen spricht er sich für eine Sichtweise von »poverties« aus.5 Die indische Anthropologin Shalini Panjabi hat die Dynamik von verordneten sozialen Veränderungen am Beispiel der Erdbebenhilfe im indischen Kachch gezeigt6 – am 26. Januar 2001 starben durch ein Erdbeben 14 000 Menschen, die Infrastruktur wurde weitgehend zerstört. Daraufhin begannen Hilfe und Rekonstruktionsmaßnahmen von außen einzuströmen, mit einer gewaltigen Dynamik, die als »zweites Erdbeben« bezeichnet wurde. Die Bewohner/innen von Kachch wurden kaum einbezogen  ; ohne Berücksichtigung lokaler Verhältnisse (etwa Kastensystem und FamiliSoziale Veränderung

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enverhältnisse) und Gewohnheiten wurden Einheitsunterkünfte errichtet, die Straßen wurden verbreitert, die Bevölkerung damit auseinandergerissen. Große und energieverbrauchende Industriebetriebe wurden in Kachch angesiedelt, also in einer Region, in der Wasser knapp ist. Zehn Jahre nach dem Erdbeben, im Januar 2011, wurden Berichte über den großen Erfolg der Wiederaufbaumaßnahmen veröffentlicht. Shalini Panjabi stellte die einfache Frage – haben die einstigen Erdbebenopfer auch gewonnen  ? Tatsache ist, dass die Industrie kaum qualifizierte Arbeitsplätze geschaffen hat, dass die Grundstückspreise in Kachch dramatisch gestiegen sind, dass die Lebensgrundlage von Bauern und Fischern, Ackerland und Weideland, vielfach genommen wurde. Hier geschah tatsächlich soziale Veränderung – »von außen« und »von oben«. Nun kann man nicht generell behaupten, dass dies schlecht wäre, aber es gibt doch eine Reihe von Beispielen, die zeigen, dass externe Hilfe bei Katastrophen Schaden anrichten kann und dass es vor allem darum gehen müsse, die Selbsthilfeinstrumente der betroffenen Menschen nicht zu zerstören.7 E 5.2 Der Amerikaner Greg Mortensen beschreibt in seinem modernen Klassiker Three Cups of Tea seine Anstrengungen, in dem pakistanischen Dorf Korphe eine Schule zu errichten.8 Der Weg zu dieser sozialen Veränderung war von zwei Gründen motiviert  : Dankbarkeit und Schock. Greg Mortensen war den Bewohner/inne/n von Korphe dankbar, weil sie ihn nach einer missglückten K2-Expedition, von der er schwer verletzt zurückgekommen war, gesund gepflegt hatten  ; er stand in ihrer Schuld. Gleichzeitig stand er unter dem Schock der Erfahrung, dass Korphe keine Schule hatte, kein Schulgebäude – die Kinder wurden von einem Lehrer, der auch nur drei Tage in der Woche anwesend war, weil er aus finanziellen Gründen auch in einem anderen Dorf unterrichte, im Freien unterrichtet. Mortensen »couldn’t imagine ever discharging the debt he felt to his hosts in Korphe. But he was determined to try« (M T C 30). »He was appalled to see eighty-two children, seventy-eight boys, and the four girls who had the pluck to join them, kneeling on the frosty ground, in the open« (T MC 31)  ; »most scratched in the dirt with sticks they’d brought for that purpose« (M T C 32) – »there was a fierceness in their desire to learn« (MT C 32). Selbst in der Abwesenheit des Lehrers kamen die Kinder zusammen, um gemeinsam zu lernen. Mortensen war sehr beeindruckt. Sein persönliches Engagement, seine »innere Involviertheit« waren nicht nur durch die am eigenen Leib erfahrene Hilfsbereitschaft gewachsen, sondern auch durch den Umstand, dass seine geliebte behinderte Schwester Christa wenige Monate vor seiner K2-Expedition gestorben war. Christa hatte 192

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eine besondere Gabe gehabt, Menschen zu rühren, und Greg fühlte sich in einer besonderen Weise für sie verantwortlich. »Often during his time in Korphe, Mortensen felt the presence of his little sister Christa, especially when he was with Korphe’s children. Everything about their life was a struggle,‹ Mortensen says. ›They reminded me of the way Christa had to fight for the simplest things.‹« (M T C 31). Auf diesem Hintergrund gab Mortensen das feierliche Versprechen ab  : »›I will build a school,‹ Mortensen said, ›I promise‹« (M T C 33). Zurück in den US A machte er zwei Erfahrungen  : Er erkannte die Notwendigkeit der Unterstützung und die Notwendigkeit, den eigenen Alltag im Griff zu haben. Mortensen schrieb 580 Briefe an berühmte Persönlichkeiten mit der Bitte, sein Schulprojekt zu unterstützen  ; er erhielt nur eine einzige (abschlägige) Antwort, er war schlichtweg in Fragen des Fundraising überfordert, »he didn’t know whether to come right out and mention money, or just ask for help. And if he asked for money, should he request a specific amount  ?« (M T C 47). Die andere Schwierigkeit war das Alltagsmanagement. Um Geld für Pakistan zu sparen, mietete er keine Wohnung, sondern schlief in seinem Auto. Er lebte »with monkish frugality since his return from Pakistan« (M T C 51). Er verliebte sich in eine Ärztin, die sich freilich weigerte, seinen Lebensstil anzunehmen und ihr ganzes Leben in den Dienst an einem vagen Schulprojekt zu stellen  ; die Idee zu einem romantischen Wochenende scheiterte an den Prioritäten (»A single weekend … would cost the rough equivalent of all the money he’d raised for the school so far. And after Mortensen bluntly refused, their weekend in the damp car simmered with unspoken tension«  ; M T C 53). Die Beziehung überlebte eine Reise, die Mortensen nach Pakistan machen musste, um das Projekt am Laufen zu halten, nicht. Treibender Faktor in diesem Projekt war die Erfahrung von Unterstützung  ; Greg war schon dabei, aufzugeben, als ihn seine Mutter, die als Lehrerin arbeitete, an ihre Schule einlud, um von seinem Schulprojekt zu erzählen. Er war erfreut und erstaunt, als er sah, wie rasch die Kinder sein Anliegen und auch dessen Dringlichkeit verstanden. Einen Monat nach seinem Vortrag »Mortensen got a letter from his mother. She explained that her students had spontaneously launched a ›Pennies for Pakistan‹ drive. Filling two forty-gallon trash cans, they colleced 62,435 pennies. When he desposited the check his mother sent along for $ 623,45 Mortensen felt like his luck was finally changing« (M T C 52). Die Kinder hatten ihm Geld anvertraut, das sie unter großem persönlichen Einsatz erarbeitet hatten. Dadurch entstand eine Erwartungshaltung. Einer glücklichen Fügung geschuldet, las ein aus der Schweiz stammender Unternehmer, Jean Hoerni, von seinem Projekt – Hoerni kannte Pakistan aufgrund einiger Trekking Touren, Soziale Veränderung

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hatte das Land lieben gelernt, und schickte Mortensen einen Scheck über 12 000 US Dollar, »and a brief note scrawled on a piece of folded graph paper  : ›Don’t screw up. Regards, J.H.‹« (T MC 55). Das war entscheidend für den Durchbruch, schließlich hatte Mortensen in besagtem Artikel die Kosten für die Schule auf 12000 Dollar geschätzt. Soweit sind es die Faktoren »persönliches commitment«, »Unterstützung«, »Vertrauen«, die die Motoren für die von Mortensen eingeleitete soziale Veränderung ausmachen. Der Faktor »Vertrauen« wurde in seiner Bedeutung noch verstärkt, als Mortensen nach Pakistan zurückkehrte. Er erkannte, dass er einem Freund vertrauen musste, der einem Geschäftsmann vertraute, der einem Mittelsmann vertraute … Mortensen begann viele Geschäftssitzungen mit vielen Tassen Tee (M T C 60, M T C 66). Er lernte, nicht ganz freiwillig, die Bedeutung von Geduld, da jeder einzelne Geschäftsabschluss, um das Material zu erwerben und den Transport sicher zu stellen, eine eigene Dynamik hatte. Dazu kamen Hindernisse wie Bestechungserwartungen und die bürokratischen Hürden für Bewilligungen. Er lernte die Bedeutung von Wertschätzung der lokalen Kultur, er versuchte »as local as people« zu werden, er kaufte einen Shalwar, er bat darum, im rechten Beten unterrichtet zu werden (»Will you show me how to pray  ?«  ; M T C 62). Die größte Lektion bei diesem Schulprojekt war freilich eine Lektion in Flexibilität  : Als er endlich mit dem Baumaterial, wie versprochen, nach Korphe zurückkehrte, waren die Dorfbewohner/innen erfreut, ihn zu sehen, eröffneten ihm aber, dass sie zuerst eine Brücke benötigten, ehe sie die Schule bauen konnten. »Despite his disappointment, he couln’t feel angry at the people of Korphe. Of course, they needed a bridge. How was he planning to build his school  ? … he felt angry at himself for not planning better. He decided to stay in Korphe until he understood everything else he had to do to bring the school to life« (M T C 103). Auch diese Hürde wurde genommen, vor allem deswegen, weil Mortensen sich das Vertrauen des Dorfes erworben hatte, da er – im Unterschied zu vielen anderen – ein Versprechen gehalten hatte und zurückgekommen war, offensichtlich viel investiert hatte und das Dorf sichtlich ernst nahm. So konnte das Schulprojekt zu einem gemeinsamen Projekt werden, die Dorfbewohner halfen ihm, Geld zu sparen, indem sie selbst Steine für das Schulgebäude schlugen, eine anstrengende und zeitraubende (aber Geld sparende) Arbeit. Sie hatten sich das Projekt zu eigen gemacht (M T C 139). Es war also nicht Greg Mortensen, der eine Schule für das Dorf baute, sondern das Dorf baute sich selbst eine Schule, gemeinsam mit Greg Mortensen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in dieser Geschichte einer auf Armutsbekämpfung ausgelegten sozialen Veränderung waren Erfolgserlebnisse, »Meilensteine«. Ein solcher 194

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Meilenstein war erreicht, als alles notwendige Baumaterial gekauft und geliefert worden war  : »It was thrilling, after so much time spent in the abstraction of raising money and gathering support, to see the actual components of his school sitting arrayed all around him« (M T C 64)  ; ein weiterer Meilenstein war der Bau der Brücke, auch das eine Gelegenheit zum Feiern. Wir stoßen also in diesem Beispiel auf folgende Faktoren für Veränderung  : »Persönliches commitment«, »Unterstützung«, »Vertrauen«, »Geduld«, »Flexibilität«, »geteilte Verantwortung« (»ownership«), »Meilensteine«. Dazu kommt die Einsicht, dass das Leben in eine Richtung geht und dass Veränderung zu weiteren Veränderungen führt  – I couldn’t help worrying about what the outside world, coming in over the bridge, would do to Korphe« (M T C 112), dachte sich Mortensen. Eine soziale Veränderung ist in gewisser Weise stets unumkehrbar, schafft neue Bezugspunkte, eine neue Geschichte. Eine wichtige Einsicht freilich lautet  : Soziale Veränderung ist möglich.9 Sie setzt freilich die Veränderung von »Gewohnheiten« voraus  : Extreme Armut ist auch aus Sicht der Betroffenen nicht nur von äußeren Faktoren wie Fragen der Landverteilung, vererbte Armut, Verlust eines Einkommensgewinners oder Gesundheitsprobleme abhängig, sondern auch von einem Faktor wie »bad habits«.10 Eine Veränderung der politischen Kultur, die wiederum zu einer Veränderung armutsrelevanter Rahmenbedingungen führt, verlangt eine Veränderung der Werte und Gewohnheiten  ; es ist also auch die Innenseite von Veränderungen zu betrachten.11 RD 5.2 Wenn man von »Armutsbekämpfung« spricht, sollte man sich nicht scheuen, Ideen der Kriegsführung zu berücksichtigen. Sunzis Werk Die Kunst des Krieges, um ca. 500 v. Chr. entstanden, enthält einschlägige Überlegungen eines chinesischen Generals und Philosophen über Fragen der Taktik und Strategie, der Kriegsführung und der Kriegsvermeidung. 12 Eine Grundpointe, wenn nicht sogar die wichtigste Lehre aus diesem Buch, besteht in der Mahnung, Kriege zu vermeiden. Die höchste Kriegskunst besteht darin, gar keinen Krieg führen zu müssen. Die höchste Kunst besteht also darin, Armutssituationen zu vermeiden. Und wenn es schon zum Krieg kommt, besteht die größte Leistung darin, den Widerstand eines Feindes ohne Kampf zu brechen (SK K 31). Menschen, die Verantwortung in einer Kampfsituation haben, wie sie die Armutsbekämpfung einschließt, brauchen gewisse Eigenschaften – Sunzi spricht mit Blick auf eine Führungspersönlichkeit im Krieg folgende Eigenschaften an  : Weisheit, Aufrichtigkeit, Wohlwollen gegenüber den ihm anvertrauten Menschen, Mut und Strenge (SK K 19). Ein Befehlshaber, der zu nachgiebig Soziale Veränderung

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ist, macht seine Soldaten für jeden praktischen Zweck nutzlos (SK K 105). Er muss aber auch um die Gesundheit der ihm anvertrauten Menschen besorgt sein (SK K 86). Eine Grundidee der Führungsethik nach Sunzi besteht in der Einsicht, dass der kluge General seine Armee genauso führt, als führte er einen einzelnen Menschen an seiner Hand (SK K 123). Dieser Gedanke kann uns bei der Institutionenethik noch beschäftigen. Man kann keine Führungsrolle in einem Kampfgeschehen übernehmen, wenn man es an Beherrschung oder Selbstbeherrschung missen lässt.13 Die innere Ruhe ist entscheidend – Sunzi mahnt, dass kein General aus Verärgerung eine Schlacht beginnen solle (SK K 146). Ebenso wenig sollte er Truppen aus einer Laune heraus ins Feld schicken. Damit hängt die Idee zusammen, keine Angst vor dem Konflikt zu haben und auf den Konflikt auch vorbereitet zu sein – »die Kunst des Krieges lehrt uns, nicht darauf zu hoffen, dass der Feind nicht kommt, sondern darauf zu bauen, dass wir bereit sind, ihn zu empfangen« (SK K 78). Armutsbekämpfung wird nicht nur in den Kampf mit Situationen ziehen, sondern auch in konfliktreiche Konstellationen geraten, da Armutsbekämpfung nicht vom Anliegen des Privilegienabbaus getrennt werden kann. Strategietechnisch erinnert Sunzi an die Bedeutung der Flexibilität, an die Fähigkeit und Bereitschaft, sich geschmeidig auf wechselnde Umstände einzustellen (SK K 125). So wie das Wasser keine unveränderliche Form kennt, gibt es auch im Krieg keine unveränderlichen Bedingungen (SK K 58). Man muss den Blick auf ein »Telos« und auf das Ganze richten. Das große Ziel in einem Kampf ist der Sieg (SK K 28). Freilich ist nicht nur der Blick auf das Ganze, sondern auch der Vollzug der einzelnen Schritte entscheidend  : Die Grundlage für den Sieg wird dadurch gelegt, dass man keine Fehler macht, lehrt Sunzi (SK K 40). Der einzelne, wie auch immer kleine Schritt ist relevant. Strategisch bedeutsam ist auch die Mahnung, den Gegner überraschen zu können. Sunzi mahnt  : Lege deinem Feind etwas Seltsames und Unerklärliches in den Weg (SK K 55). Hier ist die Bedeutung eines Überraschungseffekts, die Bedeutung einer »road less traveled« angesprochen, wohl auch der Mut zum Experiment. Und ein weiterer Gedanke  : Lagere an hohen, sonnigen Orten (SK K 83). Das könnte in Bezug auf die Armutsbekämpfung heißen, »Inseln der Integrität« zu schaffen, Ruheorte, an denen man bleiben kann. Sunzi gibt Hinweise im Umgang mit dem Gegner – zwinge deinen Feind dazu, sich Blößen zu geben (SK K 57)  ; das schließt auch die Kunst des Wartens ein. Du musst tief in das Feindesland eindringen (SK K 126)  ; die schlechteste Strategie besteht nach Sunzi darin, eine befestigte Stadt anzugreifen (SK K 31). Entscheidend ist allemal nach Sunzi der Umgang mit dem 196

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Terrain  : Halte dich nicht zu lange in gefährlichen und isolierten Positionen auf (SK K 75), marschiere in schwierigem Gelände weiter (SK K 114), bleibe in Bewegung, halte dich nicht auf. Sorge – gerade in gefährlichem Terrain – dafür, dass der Nachschub nicht abreißt (SK K 127). Voraussetzungen für die Kriegskunst sind Kenntnis und Harmonie. Selbstkenntnis wie die Kenntnis des Gegners sind fundamental. »Wenn du den Feind und dich selbst kennst, besteht kein Zweifel an deinem Sieg  ; wenn du Himmel und Erde kennst, dann wird dein Sieg vollständig sein« (SK K 107). Erkenntnis ist auch ein Mittel gegen die Angst  : Wer sich selbst und den Feind kennt, braucht keine Angst vor der Schlacht zu haben (SK K 35). Wenn du freilich weder dich selbst, so fährt Sunzi fort, noch den Feind kennst, so wirst du in jeder Schlacht unterlegen. Wir sind, ermahnt uns Sunzi, nicht fähig, eine Armee auf einem Marsch zu führen, solange wir das Gelände nicht kennen (SK K 130). Ebenso fundamental wie die Kenntnis ist Ordnung. Ohne Harmonie im Staat kann kein Feldzug unternommen werden, lehrt der Meister der Kriegskunst (SK K 63). Eingedenk der angesprochenen Flexibilität ist es verständlich, dass es vorteilhaft ist, eine Armee zu bewegen, was freilich mit einem undisziplinierten Haufen schwierig und gefährlich ist (SK K 65). Ordnung und Disziplin (oder auch  : »Harmonie«) werden von Sunzi immer wieder angesprochen. Wenn jene, die zum Wasserholen geschickt werden, zuerst selbst trinken, leidet die Armee an Durst (SK K 92). RD 5.3 Armutsbekämpfung, die die episthetische Situation berücksichtigt, wird davon ausgehen, dass Strukturreform nur unter der Voraussetzung innerer Reform Erfolg haben kann. Eine Tradition, in der dieser Gedanke konsequent berücksichtigt wird, ist die Katholische Soziallehre. Die einflussreiche Enzyklika Populorum progressio erarbeitet ein Verständnis von »Entwicklung«, das auch die Frage nach der Richtung und Begründung von Entwicklung stellt. (i) Wahre Entwicklung muss umfassend sein (PP 14), der Begriff ist mehrdimensional und anspruchsvoll. Entwicklung ist nicht bloß ein technischer oder wirtschaftlicher Begriff, es gibt auch so etwas wie »moralische Unterentwicklung« (PP 19). Wahre Entwicklung muss jeden Menschen und sie muss den ganzen Menschen im Blick haben. Hier gilt also ein Prinzip der Universalität und ein Prinzip der Totalität  : Allseitige Entwicklung des Einzelmenschen muss Hand in Hand gehen mit der Entwicklung der gesamten Menschheit (PP 43). Zu erlangten bürgerlichen Freiheiten muss die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hinzukommen (PP 6). Wirtschaftliche Entwicklung wiederum muss von Soziale Veränderung

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moralischer Entwicklung begleitet sein, ökonomisches Wachstum und sozialer Fortschritt hängen zusammen (PP 35). Ein umfassender Entwicklungsbegriff verlangt nach einem Humanismus im Vollsinn, der die Entwicklung des ganzen Menschen vor Augen hat (PP 42) – hier bedarf es auch einer Offenheit hin auf das Transzendente. (ii) Die Entwicklung, um die es der Kirche geht, hat eine Richtung  : Es geht um einen »Weg zu einer größeren Menschlichkeit« (PP 79). Diese zeigt sich in der vieldimensionalen Ausdrucksform von Entwicklung  : Das Ringen um die Entwicklung eines Volkes zeigt sich in den Anstrengungen, Hunger, Elend, Krankheiten und Unwissenheit zu entrinnen (PP 1). Die Frage nach dem Beitrag zur Entwicklung kann als Kriterium für die Rechtfertigung von Programmen angesehen werden – es gilt, Ungleichheiten abzutragen, Diskriminierungen zu überwinden, den Menschen aus Versklavungen zu befreien (PP 34). Es geht durchaus um Fortschritt – Industrialisierung ist für wirtschaftliches Wachstum und menschlichen Fortschritt unentbehrlich (PP 25). Aber dieser Fortschritt hat eine Richtung  : Ein rechtes Entwicklungsverständnis ordnet die Prioritäten neu und unterscheidet zwischen intrinsischen und instrumentellen Werten und schafft eine klare Güterordnung  : Entwicklung in einem umfassenden Sinn ist im Grunde nicht vereinbar mit der Vorstellung, dass der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts ist (PP 26) – vielmehr hat die Wirtschaft dem Menschen zu dienen. (iii) Entwicklung ist eine Berufung und damit einerseits Befähigung und Ermächtigung, andererseits Auftrag und Aufgabe – jeder Mensch ist von Gott berufen, sich zu entwickeln (PP 15), um die von Gott gestellte Lebensaufgabe erfüllen zu können. Der Begriff der Entwicklung, verstanden auch als »persönliches Wachstum«, ist auch von individualethischem Interesse. Entscheidende Aspekte personaler Entwicklung liegen in der Hand eines Menschen, der durch die Kräfte seines Geistes und seines Willens wachsen kann (PP 15). Diese Entwicklung im Sinne von persönlichem Wachstum erfolgt nach einer bestimmten Ordnung (PP 16). Fundament jeglicher Entwicklung ist die persönliche Entwicklung eines jeden einzelnen Menschen – der primäre Ort zur Ermöglichung dieser Entwicklung ist die Familie  ; sie ist das Fundament der Entwicklung (PP 36) – und gleichzeitig auch Ort der Entwicklung. (iv) Der Entwicklungsauftrag ist mit Pflichten verbunden, die verschiedene Menschen und Völker unterschiedlich bzw. je spezifisch tangieren. Besondere Pflichten, zur Entwicklung beizutragen, treffen die Begüterten (PP 44)  ; eine Pflicht zur Solidarität tragen auch die Völker (PP 48). Diese Pflichten können nur mit geeigneten Institutionen und institutionellen Rahmenbedingungen eingelöst werden. Einzelinitiative und freies Spiel des Wettbewerbs 198

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etwa können den Erfolg des Entwicklungswerkes nicht sichern (PP 33)  ; (v) Die Brücke zwischen persönlichem Wachstum und sozialer Entwicklung schlagen Weisheit (vgl. PP 20) und Tugendhaftigkeit (Hochherzigkeit, ja Kühnheit – PP 32). Dazu kommen Erfindungsgeist und im Kern  : der Geist der Liebe  : Unerlässliches fachliches Können genügt nicht, es braucht Erweise selbstloser Liebe (PP 72). Der wahre Liebende ist erfinderisch im Entdecken der Ursachen des Elends (PP 75). So steht in der Mitte der Rede von Entwicklung der Begriff der Liebe. Die Zentralität der Liebe erkennt man auch daran, dass in PP mikroethische Kategorien aus zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Beziehungen zwischen Völkern übertragen werden  : PP spricht von der Möglichkeit der Entwicklung der gesamten Welt durch einen Geist, der Beziehungen charakterisiert durch gegenseitige Achtung, Freundschaft, gegenseitige Zusammenarbeit (PP 65). Entwicklung wird in dieser Verbindung mit einem Geist der Liebe als Garant für Frieden angesehen (PP 76). (vi) Auf dem Hintergrund eines umfassenden Verständnisses von Entwicklung lassen sich besondere Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung identifizieren – etwa Nationalismus und Rassenwahn (PP 62). Wir könnten einen Schritt weitergehen und mit Blick auf den eben genannten Punkt sämtliche Formen von Lieblosigkeit als Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung ansehen. An anderer Stelle werden »Geltungssucht und Machtstreben« (PP 50) oder »Furcht und Stolz« (PP 53) als Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung genannt. Hier sind wir bei »inneren Hindernissen«, bei Aspekten der inneren Situation, die geändert werden muss.

Privilegienabbau 5.4 Ein Hindernis auf dem Weg zu ernsthafter Armutsbekämpfung sind Privilegien. Armutsforschung ist nicht zu trennen von Reichtumsforschung. Eine gute Gesellschaft wird von der gemeinsamen Anerkennung geteilter Verwundbarkeit getragen und von kohäsiven Versprechen, also gemeinschaftsbildenden Versprechen, zusammengehalten. Ein solches Versprechen betrifft die Ernsthaftigkeit mit der Benachteiligte und Bevorzugte behandelt werden – die einen werden in die Unterstützungspflicht, die anderen in die Begründungs- und Solidarpflicht genommen. Privilegienträger haben bei der Erarbeitung und Zuerkennung ihrer Vorteile auf Strukturen tangibler wie intangibler Art zurückgegriffen, die von allen errichtet und von allen aufrechterhalten werden. Das erhöht den Begründungsdruck auf Privilegien. Privilegienabbau

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5.5 Unter einem Privileg kann grundsätzlich eine zuerkannte Sonderstellung verstanden werden, die einen Vorteil gegenüber anderen mit sich bringt. Ein Privileg ist also eine soziale Position, die dem Begünstigten im Vergleich zu relevanten Anderen einen vorteilhaften Status verschafft. Durch ein Privileg wird eine Person oder eine Personengruppe herausgehoben aus der Gemeinschaft der ansonsten Gleichgestellten. Ein Privileg ist eine für alle anderen in ihren Konsequenzen gültige Regelung, die aber nur eine kleine Gruppe oder eine einzelne Person betrifft. Der Begriff des Privilegs macht darauf aufmerksam, dass Gleichheit nicht nur durch negative Diskriminierung, sondern auch durch positive Diskriminierung bedroht werden kann. Privilegien haben in der Regel einen »Meritorisierungseffekt« in dem Sinne, dass die Nutznießer auf Rechtfertigungsrhetoriken zurückgreifen und die Privilegien als »verdient« ansehen und damit tendenziell als Einlösung eines erworbenen Anspruchs rekonstruieren, zweitens einen »Habitualisierungseffekt«, der darin besteht, dass sich Privilegiennutznießer (und in vielen Fällen auch die soziale Umgebung) an das Privileg gewöhnt haben, es als selbstverständlich ansehen, es in die anderen Ansprüche eingliedern, sodass ein Privileg den Charakter eines Sonderrechts verliert und von dieser Position aus weitere Forderungen gestellt werden. Drittens haben Privilegien einen »Expansionseffekt« in dem Sinne, dass sich der Aktionsradius durch Privilegien vergrößert. Daraus folgt dann auch, dass sich der Abstand zwischen einer privilegierten und einer nicht privilegierten Gruppe tendenziell im Laufe der Zeit vergrößert und dass die Abschaffung eines Privilegs mit großem sozialem Aufwand verbunden ist, weswegen eine Klugheitsregel nahe legen würde, bei der Einführung eines Privilegs Vorsicht walten zu lassen. Habitualisierungs- und Expansionseffekt von Privilegien weisen auf eine wichtige grundsätzliche Unterscheidung in Bezug auf Privilegien hin, die Unterscheidung zwischen »sichtbaren« und »unsichtbaren« Privilegien – es kann durchaus beobachtet werden, dass die Nutznießer eines Privilegs das Privileg nicht als solches wahrnehmen, sondern von da aus »Normalität« definieren, was einen sozialen Raum als solchen betreffen kann, sodass auch diejenigen, die nicht in den Genuss des Privilegs gekommen sind, entsprechende Privilegien als »normal« ansehen. Privilegienträgern (und in vielen Fällen allen Beteiligten eines sozialen Raums) fällt gar nicht auf, dass bestimmte Menschen über Privilegien verfügen. 5.6 Privilegien sind begründungspflichtig. Ein Privileg verschiebt die soziale Position des Privilegienträgers, damit aber auch die soziale Position aller übrigen Beteiligten. Diese Verschiebung ist jedenfalls begründungspflichtig. Die Idee ei200

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

nes Privilegs beruht schließlich auf potentiell kohäsionsschwächenden Exklusionsmechanismen – um X eine vorteilhafte Stellung zu verschaffen, werden Y und Z vom Zugang zu dieser Situation ausgeschlossen. Privilegien schaffen Barrieren. Barrieren wiederum sind Zugangserschwernisse. Es handelt sich um Grenzen, die Zugänge zu (relevanten) Kontexten erschweren oder unmöglich machen, also zu Kontexten, die von Interesse für die Menschen sind, die ein Zugangserschwernis als Barriere erleben. B ist eine Barriere für A im Kontext K genau dann, wenn A aufgrund von B begründete Ziele, etwas zu tun und etwas zu sein, nicht erreichen kann. Ein Privileg ist dabei für den Privilegienträger eine Zugangserleichterung  : P ist ein Privileg für A im Kontext K genau dann, wenn A aufgrund von P wünschenswerte Interessen, etwas zu tun und etwas zu sein, absichern kann. Privilegien konstituieren einen Sonderstatus, der der besonderen Situation von Menschen Rechnung trägt bzw. diesen Menschen einen besonderen Status verschafft, der es ihnen leichter macht, Ziele zu erreichen. Im Sinne einer Begründung von Privilegien sind hier zwei Unterscheidungen einzuführen  : Privilegien können damit begründet werden, dass die genannten Barrieren gerechtfertigt werden (etwa  : Zugangsbeschränkungen zum Weihesakrament sind nach Lehre der Katholischen Kirche mit Blick auf die Berufungspraxis Jesu begründbar, weswegen das Privileg, dass nur Männer die Eucharistie feiern können, berechtigt sei) – diese Begründung kann vor allem in der »Natur der Praxis« liegen, von der bestimmte Menschen durch Barrieren ausgeschlossen sind. Zweitens kann ein Privileg durch Begründung der Sonderstellung begründet werden (etwa  : das Recht auf besondere Förderung im Unterricht haben Schülerinnen und Schüler, die einen nachweisbaren pädagogischen Sonderbedarf aufweisen). Eine zweite Unterscheidung, die im Falle der Beurteilung von Privilegien herangezogen werden kann, sind zwei Varianten einer »valuing theory«, die in diesem Falle besagt, dass Privilegien mit Bezug auf »Werte« begründet werden können  ; dies in zwei Formen  : (i) Ein Privileg trägt einem entsprechenden »Wert« Rechnung, der also mit dem Privileg ausgedrückt wird  ; (ii) ein Privileg schafft einen »Wert«, der also mit dem Privileg geschaffen wird. Im ersten Fall besteht der Wert vor dem Privileg, damit verschiebt sich die Begründungsfrage auf die Frage nach dem festgestellten Wert, im zweiten Fall konstituiert das Privileg den Wert und die Begründung bleibt offen. Das Privileg, einen akademischen Grad zu führen, drückt einen »Wert« aus, wenn der Titel nicht auf unredliche Weise erworben wurde  ; Ehrendoktorate können dieser Dynamik auch folgen, es kann aber auch vorkommen, dass Ehren dieser Art ohne entsprechende Grundlage erfolgen und erst dadurch ein Wert geschaffen wird. Privilegienabbau

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5.7 Als ein Merkmal einer ernsthaften Gesellschaft wurde das ernsthafte Bemühen um die Benachteiligten genannt – dies impliziert auch das ernsthafte Bemühen um Privilegierte, näherhin um toxische Privilegien. Privilegien sind toxisch, wenn sie nicht begründet werden können und die Integrität der Betroffenen gefährden. Nun kann man durchaus dafür argumentieren, dass ungerechtfertigte Privilegien, d. h. Privilegien, die nicht Begründungen folgen, die Menschen in ihrer Verwundbarkeit anerkennen und die Außenstehende nachvollziehen können, die Integrität der Privilegienträger untergraben  : Träger ungerechtfertigter Privilegien können nicht aufrichtig leben, weil sie sich einer Meritorisierungsillusion hingeben müssen  ; sie sind zudem einer Lebensform ausgesetzt, die ihnen den Zugang zum Verständnis der eigenen Verwundbarkeit erschwert. Ungerechtfertigte Privilegien sind toxisch, weil sie die angesprochene Innenseite der Gerechtigkeit erodieren und dadurch den sozialen Zusammenhalt gefährden. Armutsbekämpfung kann nicht ohne Privilegienabbau erfolgen, wenn Mitglieder einer Gesellschaft aus den gesellschaftlichen Ressourcen heraus besser gestellt werden sollen. E 5.3 Privilegien sind soziale Zuerkennungen  : Welche Rolle spielen Rahmenbedingungen  ? Ich möchte diesen Aspekt des Stachels der Ungleichheit an einem Beispiel illustrieren, das tief mit der europäischen Geschichte verbunden ist  : Der ökonomische und soziale Aufstieg des Mayer Amschel Rothschild (1744–1812), des Mannes, der am Anfang des Aufstiegs des Hauses Rothschild stand.14 Es soll ein kurzer Blick auf die Geschäftsgeschichten dieses Mannes, der unter der Diskriminierung der Juden litt und in einem Klima wachsenden Bewusstseins vom Wert der Gleichheit seinen Weg ging, geworfen werden  : Mayer Amschel Rothschild wuchs um die Mitte des 18. Jahrhunderts in der Frankfurter Judengasse auf. Er stammte aus einer Familie kleiner Händler, die vor allem mit Stoffen Geschäfte machten. Generationen vor ihm hatte die Dynamik sozial überlegten Heiratens begonnen, was einen langsamen sozialen Aufstieg ermöglichte. Mayer Amschel lernte die Grundlagen des Geschäftslebens bei Wolf Jakob Oppenheim in Hannover und begann als Händler von (seltenen) Münzen. Um in diesen Geschäftszweig einzusteigen, waren zunächst zwei Dinge erforderlich  : gute Kontakte zu Münzsammlern (also zur Aristokratie) und solide Kenntnisse der Numismatik. 1764 kehrte er nach seiner Lehrzeit nach Frankfurt zurück und konnte ein Jahr später ein erstes signifikantes Geschäft mit Erbprinz Wilhelm abschließen. Dieser Zugang zu einem königlichen Hof war entscheidend – 1769 konnte Mayer Amschel den Status eines Hofagenten beantragen, was ihm 1770 202

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

gewährt wurde. Das war auch das Jahr der sozial-strategischen Verehelichung mit Gutle Schapper, Tochter eines Hofagenten, die in Form einer Mitgift wichtiges Kapital in seine Geschäftsgebarung einbrachte. Zugang zum Hof, Zugang zu anderen Kontakten und Zugang zu Kapital zeigen sich in diesem Lebensstadium als Schlüssel zum wachsenden Erfolg. Ein vierter Faktor war die Erweiterung des Handelsportfolios, da Mayer Amschel neben dem Handel mit Münzen und Medaillen nun auch das Geschäft mit Antiquitäten in sein Programm aufnahm. Ein entscheidender Erfolgsfaktor waren penibel ausgearbeitete Kataloge, die er an seinen sich weitenden Kreis von aristokratischen Kunden versenden ließ. Geschäftstüchtigkeit zeigte Mayer Amschel auch in einer gewissen Preisflexibilität, die ihn Nachlässe gewähren ließ. Langsam wuchsen sein Vermögen und sein Geschäftsradius. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die genannten Faktoren (soziales Kapital, mitgiftbedingtes finanzielles Kapital, Kommunikationsfähigkeit in Form von Katalog und Preisgestaltung) sowie die Genauigkeit der Buchführung, die Mayer Amschel eigen war, zu stetem wirtschaftlichem Aufstieg beigetragen, allerdings nicht zu Reichtum. Der Durchbruch zu namhafter Vermögensbildung erfolgte durch den Transfer in einen lukrativen Geschäftszweig, das Bankgeschäft. Dieser Überstieg (bzw. diese Erweiterung der Geschäftsinteressen) wäre ohne die durch Münz- und Antiquitätenhandel lukrierten Mittel nicht möglich gewesen. In den frühen 1790er-Jahren vollzog sich dieser Wandel. Niall Ferguson beschreibt den Übergang zum Banking nicht als strategischen, sondern als gewissermaßen »natürlichen« Weg  : »In some ways, the transition was a natural one. An antique-dealer with a growing circle of suppliers and customers naturally would extend credit to some of these«.15 Im Jahr 1797 war Mayer Amschel Rothschild bereits einer der reichsten Juden Frankfurts, wesentlich bedingt durch Bankgeschäfte. Im Übrigen scheint es so, dass Mayer Amschel die nötige Sorgfalt im Umgang mit wachsendem Vermögen und dem Geschäft mit Geld erst lernen musste, wurde er doch, weil in seinem Büro viel Bargeld herumlag, auch Opfer einer Unterschlagung durch einen Bediensteten. Ab 1796 kam ihm der Krieg zu Hilfe – hier entstanden neue Geschäftsgelegenheiten. Er konnte mit zwei Partnern einen Vertrag lukrieren, die österreichische Armee während der Operationen in der Rhein-Main Region mit Getreide und Geld zu versorgen. Mayer Amschel nutzte auch die britische industrielle Revolution aus, indem er seinen Sohn Nathan um 1798 nach England schickte, um Textilgeschäfte anzubahnen. Dort musste Nathan aus strategischen Gründen verbergen, dass er für eine Frankfurter Firma arbeitete. Nathan bereitete seinem Vater durch Schlamperei und Unerfahrenheit einige Sorgen, etablierte sich dann aber langsam, erst Privilegienabbau

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als Händler und dann auch als Textilhersteller. Die Aufbruchstimmung der damaligen Zeit kam Nathans ungestümem Temperament, das er nach und nach besser zu kontrollieren verstand, entgegen  : »It took a combination of burning aggression and cool calculation to survive and thrive.«16 Durch eine strategische Heirat mit der Tochter eines bedeutenden Londoner Händlers gewann Nathan, durch das neue Sozialkapital, den neuen Status und die Mitgift an Geschäftsmöglichkeiten. Durch das Kriegsgeschehen und die von Napoleon verhängte Handelsblockade wurde Nathan etwa ab 1807 in die Illegalität gedrängt, um seine Geschäfte fortsetzen zu können und wurde als Schmuggler tätig. »In October 1807 he was sending a consignment of coffee to Sweden via Amsterdam, using an American registered ship and fake Dutch documents.« 17 Auch nach Aufhebung des Handelsembargos wurde der Schmuggel zur Vermeidung der Importzölle aufrechterhalten.18 Gleichzeitig kam Mayer Amschel das Klima wachsenden Gleichheitsbewusstseins zugute, das den Antisemitismus im Zuge der Französischen Revolution deutlich weniger salonfähig machte. Ein zweifellos wichtiger Schritt zum finanziellen Aufstieg der Rothschilds war die Beziehung zu Wilhelm IX., dem vermögenden Kurfürsten zu Hesse-Kassel.19 Mayer Amschel bemühte sich um die Möglichkeit, in den Radius dieses Geschäftslebens einzutreten, eine strategische Freundschaft mit Karl Friedrich Buderus kam ihm dabei zu Hilfe. Dieser verschaffte ihm Insider-Wissen und Mayer Amschel schaffte es auf diese Weise, den Fuß in die Tür zu bekommen und seine Geschäftsbeziehungen stetig auszubauen. Nachdem Wilhelm ins Exil gezwungen war, verwalteter Rothschild dessen Geschäftsangelegenheiten, vertrauenswürdig und zuverlässig, durchaus unter persönlichen Risiken gegenüber der französischen Aufsicht. Einmal einem Verhör unterzogen, entschuldigte sich Mayer Amschel mit seinem schlechten Gedächtnis, ähnlich unschuldig und unwissend stellte sich die befragte Ehefrau Gutle dar.20 Mit diplomatischem Geschick präsentierte er sich gegenüber seinen Mitbewerbern als harmlos und verfolgte dabei mit kühlem Kalkül die Strategie, zu möglichst vielen Fürstenhäusern Geschäftsbeziehungen aufzubauen. 1800 wurde er Hofagent des österreichischen Monarchen, ab 1804 hatte er nahezu das Monopol im dänischen Königshof errungen. Die Familie verzweigte sich durch die Geschäftstätigkeit, die Mayer Amschels Söhne aufnahmen. Mit größter Diskretion – unter Zuhilfenahme hebräischer Schrift etwa – wurden hier mit großer Geschwindigkeit Informationen ausgetauscht, etwa den Wechselkurs betreffend, ein Faktor, der wesentlich zur Vermögensbildung beitrug. Vermögensbewahrend und -vermehrung war wohl auch der Umstand, dass Mayer Amschel Töchter und Schwiegersöhne vom Geschäft kategorisch ausschloss.21 204

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Versuchen wir eine kurze moralphilosophische Analyse dieser biografischen Dynamik  : Natürlich spielte Geschäftstüchtigkeit eine große Rolle, etwa die Bereitschaft, eigenen Profit zu reduzieren, um langfristige Geschäftsverbindungen aufzubauen  ; Weitsichtigkeit und die Fähigkeit zu »delayed gratification« waren sicherlich bedeutend  ; ebenso wichtig wohl auch die Einheit der Familie und der innere Zusammenhalt. Der Mythos freilich »Moralische Tugenden werden mit Reichtum belohnt«, der im Zusammenhang mit der Geschichte des Hauses Rothschild des Öfteren bemüht wird und den man auch in Kontexten finden kann, die einer bestimmten Auslegung der jüdisch-christlichen Tradition verpflichtet sind, ist bei näherer (moralphilosophischer) Betrachtung mit Blick auf Details schwer haltbar. Niall Ferguson nennt drei Faktoren, die einem Investor Wettbewerbsvorteile über die Konkurrenz verschaffen  : Zugang zu Information und damit die Nähe zu den politischen Machtzentren, Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung und die Fähigkeit, die Nachrichtenübermittlung an die Konkurrenz zu manipulieren.22 Das Haus Rothschild hat diese Aspekte erkannt und genutzt. Ein hilfreicher Umstand im Zusammenhang mit Informationsverwaltung war die Sprache des »Judendeutschen«, Deutsch in hebräischen Buchstaben. In dieser Sprache und Schrift kommunizierten Mitglieder des Hauses Rothschild miteinander und konnten dies mit einer gewisse Unverblümtheit tun, da sie mit der Unzugänglichkeit der Kommunikationsform rechnen konnten. Entscheidend zur Vermehrung des ökonomischen Kapitals war aber allemal der Zugang zu sozialem Kapital  : Der Zugang zu bestimmten sozialen Schichten erhöhte das Sozialkapital und damit die Möglichkeit, finanzielles Kapital zu vermehren. »Mixing with members of the aristocracy was essential if it was they who governed, and almost as much political information came from informal socialising as from formal meetings with ministers«.23 Das bedeutet auch einen bestimmten Umgang mit »Zeit« (informelle Treffen …) und »Beziehungen« (strategische Kommunikation und Instrumentalisierung von Gesprächspartnern und damit auch eine Dynamik, Menschen auf epistemische Objekte zu reduzieren). Die Rolle der Gemeinschaft bei diesen Aufstiegen ist nicht nur die der Komparsen  : Niall Ferguson identifiziert »political confidence« als einen entscheidenden Punkt in der Geschichte des ökonomischen Aufstiegs der Rothschilds.24 Dieses Vertrauen besteht darin, dass Investoren das Vertrauen in die Staaten haben, mit denen sie Handel treiben, die eingegangenen Verpflichtungen zu erfüllen. Nun kann man sich fragen, woher denn ein Staat, wenn nicht aus den vielen kleinen Beiträgen durch »die Vielen«, die Mittel haben sollte, diesen Verpflichtungen nachzukommen, sind doch Massensteuern der Löwenanteil am SteueraufkomPrivilegienabbau

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men. Mayer Amschel Rothschild konnte soziale Ungleichheiten (Fürstenhöfe, Aristokratie) geschickt nutzen, um sich selbst von anderen abzusetzen. Gleichzeitig erfolgte das in einem Klima, das den Gleichheitsgedanken höher stellte, was für die Herausbildung von Opportunitäten sicherlich nicht nachteilig war. Das soziale und politische Umfeld war der entscheidende Faktor, gepaart mit der Geschäftstüchtigkeit, die Mayer Amschel Rothschild mitbrachte. Diese Befunde decken sich mit den normativen Überlegungen, die Thomas Nagel und Liam Murphy in ihrem Buch über Ethik der Besteuerung angestellt haben. 25 Murphys und Nagels These lautet  : Es ist derselbe Staat mit denselben Gesetzen, der Eigentum überhaupt erst ermöglicht und dann auch Steuern einhebt  ; Bürger/ innen verdanken es diesen staatlichen Kontexten, dass sie überhaupt Eigentum haben können  ; es sei ein Mythos, zu glauben, dass es Privateigentum jenseits des Staates gäbe, von dem dann der Staat erst Steuern raube  : »If there is a dominant theme that runs through our discussion it is this  : Private property is a legal convention, defined in part by the tax system  ; therefore the tax system cannot be evaluated by looking at its impact on private property, conceived as something that has independent existence and validity. Taxes must be evaluated as part of the overall system of property rights that they help to create.«26 In anderen Worten  : »Individual citizens don’t own anything except through laws that are enacted and enforced by the state. Therefore, the issues of taxation are not about how the state should appropriate and distribute what the citizens already own, but about how it should allow ownership to be determined.«27 Diese Argumentation läuft darauf hinaus, die Abhängigkeit von eigenen sozialen Netzwerken von der Gesamtstruktur aufzuzeigen. Der Aufbau von Sozialkapital ist auf eine Infrastruktur angewiesen – Netzwerke entstehen nicht von selbst, sondern müssen gepflegt werden und sind auf eine entsprechende Infrastruktur angewiesen. Kommunikationsstrukturen und öffentliche Räume für Interaktionen sind hier ebenso notwendig wie gesetzliche Rahmenbedingungen, um sichere vertragliche Beziehungen einzugehen. Tangible wie auch intangible Infrastruktur waren notwendig, um die Privilegienkumulierung von Mayer Amschell Rothschild zu ermöglichen. E 5.4 Greifen wir zur Exploration der Bedeutung der Rahmenbedingungen noch einmal auf die Geschichte von Alan Sugar zurück, der sich selbst als »self made man« sieht. Alan Sugar, 1947 in Hackney geboren, Gründer von »Amstrad«, seit 2009 Lord Sugar of Clapton, arbeitete sich aus ärmlichen Verhältnissen zu einem Multimillionär und politischen Berater mit enormer öffentlicher Präsenz (TV personality  : »The Apprentice«) und aristokratischem Status hoch. Er beschrieb 206

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

sein Leben, vor allem auch mit Blick auf die Geschäftstätigkeit, in einer Autobiografie What You See Is What You Get.28 Er legte großen Wert darauf, sich als »self made man« zu beschreiben  : »No one actually started me off« (S W S 84). Er hatte aus persönlichen Gründen seit Kindesbeinen an Energie in Vermögensgeneration investiert  : Geldknappheit war ständiges Thema in seiner Familie – »My parents did their best, but not being able to have what I wanted made me determined to do something for myself – to be selfsufficient« (S W S 11). Bereits als kleiner Bub war er aktiv, um Geld zu verdienen. Als Elfjähriger brachte er Stoffreste aus einer kleinen Textilfabrik, die er in seiner Tätigkeit als Autowäscher des Chefs entdeckt hatte, zu einem Händler, wurde zwar offensichtlich über den Tisch gezogen, machte aber eine wichtige Erfahrung  : »Basically, I’d spotted some stuff in one place and seen another place to sell it. And what’s more, I really enjoyed doing it« (SW S 13). Beobachtungs- und Kombinationsgabe spielten ebenso eine wichtige Rolle wie die Fähigkeit, den Wert von etwas zu erkennen, das anderen wertlos schien. Im Zuge einer Straßenerneuerung entdeckte er Holzbretter unter der ersten Schicht, die abgetragen wurde. Das Holz wurde für den neuen Straßenbelag nicht mehr benötigt. Die Arbeiter zeigten ihm, dass dieses nicht mehr brauchbare Holz exzellent brannte. »Bingo  ! It ocurred to me that these discarded wooden blocks could be made into fire-lightning sticks« (S W S 15). Daraus wurde ein Geschäft  ; die anderen Kinder halfen Alan bei der Zerkleinerung, weil sie es für einen Spaß hielten, ohne zu wissen, warum er das Holz zerkleinern wollte. Er bot das Produkt einem Händler an, der ihm die Ware abnahm. Aus logistischen Gründen (die anderen Händler waren zu weit entfernt, der Transport war zu schwierig) konnte Sugar seinen Geschäftsradius nicht erweitern, verdiente aber Geld. Eine weitere Fähigkeit Alan Sugars war die Verkaufstechnik – er arbeitete als Verkäufer bei einem Pharmazeuten, der wenig Geschäftssinn hatte  : »I introduced one of my marketing ideas … When asked by the customer for a bottle of, say, Milk of Magnesia, if you were to reply, ›Small or large  ?‹ most punters would say, ›Small.‹ Much better to ask, ›Do you want the small 1s 6d one or the extra-value 2s 6d one  ?‹ I applied this to lots of things in the shop … and it worked nine times out of ten« (S W S 29). Diese Verkaufsfähigkeit hatte er schon gezeigt, als es darum ging, eine Schulzeitung zu verkaufen – er besuchte persönlich die Eltern der Kinder, die in seinem Wohnblock wohnten, weil sie naturgemäß ein Interesse an der Zeitung der Schule ihrer Kinder haben mussten und verkaufte eine beachtliche Menge. Ähnlich geschäftstüchtig zeigte er sich, als er als Schulbub ins Fotogeschäft einstieg, sich eine Kamera anschaffte und Fotos selbst entwickelte. Er überzeugte durch den Preis, aber auch durch Privilegienabbau

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die Möglichkeit einer damals einzigartigen »Ausarbeitung über Nacht«.29 Das Fähigkeitenportfolio, das bereits den Schulbuben auszeichnete, umfasste also Beobachtungs-, Kombinationsgabe und damit einen »Sinn für Gelegenheiten«, Verkaufstechnik und Flexibilität. Ein Geschäftsmodell, das dieses Portfolio deutlich machte, war Sugars Engagement im Shampoo-Geschäft. Mr. Allen, der erwähnte Pharmazeut, bei dem Alan Sugar auch nach seiner ersten Anstellung bei einem Ministerium nach Schulabschluss weiter beschäftigt blieb, klärte ihn über die Preisunterschiede einzelner Produkte auf – eine Frage der Marke und des Marketings. Der wissbegierige Alan Sugar brachte die Zutaten für Haarpflegeprodukte in Erfahrung und wandte sich an zwei Freunde, Steve Pomeroy und Geoff Salt, um ihnen diese Geschäftsgelegenheit nahezubringen. »Steve’s family business was lemonade, so they knew where to buy bottles and labels. I could source the ingredients to make the hair lacquer and the shampoo – a soap detergent with a little bit of perfume in it« (S W S 51). Alan Sugar überwand einige technische Probleme und konnte auch in Mr. Allens Geschäft einiges verkaufen. Sie versuchten ihr Verkaufsglück dann auch auf einem Markt in Südlondon an Sonntagen, aber seine beiden Freunde waren es bald leid, am Sonntag um 6 Uhr aufzustehen. Letztendlich musste dieser Geschäftszweig aufgrund des mangelnden Commitments der Freunde aufgelassen werden. Bald kündigte Alan Sugar zum Entsetzen seines sicherheitsliebenden und ängstlichen Vaters die sichere, aber schlecht bezahlte Stelle im Ministerium und ließ sich als Vertreter bei einem Elektrogroßhändler anstellen. Seine Verkaufsfähigkeiten sorgten für Erfolg. Eines Tages sah er bei einem Händler Fernsehgeräte, die dieser loswerden wollte, weil sie nicht funktionierten. »I thought of my mate Malcolm, who was a TV Engineer. He could fix the sets and I could flog them. I said, ›I’ll take them.‹« (S W S 74). Malcolm erwies sich als fähig, aber, »he lacked the killer instinct, the passion to want to make money« (S W S 74) und ließ sich von Alan Sugar nicht zu schnellen Reparaturleistungen motivieren. Sugar verkaufte aufgrund von Malcolms technischem Geschick einige Geräte (von zuhause aus, sehr zum Leidwesen der Mutter, die ständig Besuchern, die TV Geräte ansehen wollten, die Tür öffnen musste). Dieser Geschäftszweig kam zu einem Ende, »due to Malcolm’s lack of ambition« (S W S 75). Die Geschäftsidee als solche freilich war bestechend einfach und sollte sich wiederholen  : Wertloses Produkt P an Ort A wird über einen Veredelungs- bzw. Reparaturprozess zu einem wertvollen Produkt P’ verwandelt und an einem Ort B verkauft. Dasselbe Modell wiederholte Sugar mit Schallplattenspielern (S W S 95) – er sah bei Sam Korobuck, einem Händler, für den er einmal gearbeitet hatte, Stöße von un208

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

brauchbaren Schallplattenspielern und kaufte sie ihm um einen Spottpreis ab.30 Schnell wurde die Ware abtransportiert, ehe Korobuck es sich anders überlegte. Alan Sugar reinigte die Geräte, Malcolm reparierte sie, die Marge beim Verkauf betrug 125 %. Im Jahr 1966 beschloss Alan Sugar, sich selbstständig zu machen. Sugar kündigte bei dem Elektrogroßhändler, der ihm zum Abschied sagte  : »Let me tell you, you haven’t got very good contacts« (S W S 83). Dieser Aspekt des Sozialkapitals sollte sich immer wieder als Schlüssel herausstellen. Sugar gründete ein Ein-Mann-Unternehmen, begann mit 100 Pfund Kapital, erstand einen Lieferwagen und kaufte Autoantennen zum Weiterverkauf. Er hatte von seinem letzten Chef gehört, dass Autoantennen leicht zu verkaufen seien. Ronnie Marks war sein erster Zulieferer. Sein erstes Geschäft als selbstständiger Unternehmer  : Er ging zu Peter Thaxton, einem Kunden, den er von seiner früheren Vertreterzeit kannte, und bot ihm Autoantennen an, die Thaxton in der Vergangenheit schon verkauft hatte. In der ersten Woche der Selbstständigkeit verdiente Alan Sugar um ein gutes Drittel mehr als in seiner letzten, durchaus gut bezahlten, Angestelltentätigkeit. Sein Lieferwagen diente ihm als Verkaufsraum, Auslage und Speicher. Entscheidend war das Sozialkapital, die gute Beziehung zu Zulieferern (S W S 86) und dann auch Kunden. Nun folgte ein weiterer bedeutungsvoller Schritt in die Selbstständigkeit  : »I decided that I would use my own brand name on some products, even though I bought them from an importer« (S W S 87) – er verwendete den Markennamen »A M S Trading« und das erste Produkt unter diesem Namen war ein Zigarettenanzünder. Sugar kaufte also 1000 Stück von einem Importeur und beklebte sie mit seinem Markennamen. Dies war der Beginn von A MS Trading. Mithilfe von Familienmitgliedern, die als Bürgen fungierten, konnte Sugar einen Kredit aufnehmen, um einen besseren Wagen anzuschaffen. Alan Sugar war auf der Suche nach dem Durchbruch – er kaufte um 5 Pfund, verkaufte um 6 Pfund und machte nur kleine Gewinne. Das sollte sich ändern. Stereoanlagen kamen langsam in Mode. Er stellte selbst die Abdeckplatten her und konnte damit Anlagen entsprechend billig verkaufen  ; viel Geld floss wiederum durch Reparaturarbeit (kaputte Radios, repariert von einem Mechaniker namens George Chenchen) in seine Taschen. Ein andermal ließ sich Sugar von Chenchen zeigen, wie man Miniaturradios reparierte und setzte mithilfe seiner Frau 3000 Stück instand. Der Durchbruch gelang ihm mit der im dritten Teil beschriebenen Idee einer besonderen Stereoanlage. Ein weiteres Produkt waren Verstärker – er hatte sich zum Ziel gesetzt, Lautsprecher zu einem niedrigeren Preis herzustellen und ersuchte Chenchen um eine technische Lösung, während Privilegienabbau

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Sugar das Design entwarf (S W S 116f ). Alan Sugar beschäftigte bald 20 Angestellte in der Verstärkerproduktion  ; nach einigen trial-and-error-Dynamiken produzierte er ein akzeptables Produkt, das sich aufgrund des günstigen Preises schnell in Mengen verkaufte. Allerdings musste Sugar bald zugeben, dass die Qualität des Produkts sehr begrenzt war. Er hatte sich wohl zu wenig Zeit mit der Produktentwicklung gelassen. Das nächste Ziel bestand nun darin, Comet als Kunden zu gewinnen, ein Versandunternehmen, das Listen von Produkten und Preisen in großen Anzeigen veröffentlichte. Sugar gelang es, mit dem Einkaufschef zu sprechen und ihn zu überzeugen, den Amstrad Verstärker in die Liste aufzunehmen – um dann mit einer kleinen List, Geschäfte zu machen.31 In der Folge wuchs Amstrad, wobei Sugar einen Konflikt mit George Chenchen ausstehen musste, der sich selbst als Partner und unersetzbaren Techniker betrachtete und die Firma gewissermaßen in Geiselhaft nahm. Sugar baute einen Ersatz auf und entließ Chenchen. Eine wichtige Lektion für Alan Sugar  : »No one is indispensable« (S W S 127). Die nächsten Meilensteine waren der direkte Kontakt nach Japan (S W S 135ff ) und die Einstellung des ersten technischen Zeichners (S W S 130). Eine echte Herausforderung stellte der Bergarbeiterstreik dar, der die Stromversorgung empfindlich reduzierte  ; Alan Sugar ließ sich aus den Niederlanden einen Generator liefern, der nach einigen Startschwierigkeiten dann auch funktionierte (S W S 139). Jahr für Jahr und Schritt für Schritt arbeitet sich Alan Sugar zum Multimillionär hoch. Was sagt dieses Beispiel über das Verhältnis von Individuum, »dichtem sozialen Netz persönlicher Beziehungen« und »dünnen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen« aus  ? Zunächst ist auf der Ebene des Individuums festzuhalten, dass persönliche Motivation und Fähigkeiten von Alan Sugar eine zentrale Rolle spielten  : Flexibilität und Hartnäckigkeit, Erfindungsreichtum, Beobachtungsgabe, Lernfähigkeit, Kontaktfähigkeit, Verkaufsfähigkeiten. Diese Fähigkeiten allein reichten freilich bei weitem nicht aus, um den geschäftlichen Erfolg zu garantieren  : Ganz offensichtlich war Alan Sugar auf das dichte soziale Netz seiner Beziehungen angewiesen – die Wohnung seiner Eltern als Speicher und Geschäftsort, die Bürgschaften durch Familienmitglieder, ein Kredit, den ihm seine Eltern zur Anschaffung eines Lieferwagens gewährten, Freundschaften, die ihm Geschäftstätigkeiten (wie zum Beispiel im Falle der Shampoo-Produktion) oder auch Zugang zu Wissen (beispielsweise im Falle des Pharmazeuten Allen) ermöglichten. Ohne dieses soziale Netz hätte Alan Sugar seinen Aufstieg nicht machen können. Gleichzeitig lässt sich nachverfolgen, welche Bedeutung die »dünnen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen« spielten  : Alan Sugar bezog 210

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den öffentlichen Raum (Straßenbelag, Markt in Südlondon) in seine Geschäftstätigkeiten ein und war offensichtlich auf eine Infrastruktur in einem tangiblen (Straßennetz, Kommunikationsmöglichkeiten) und einem intangiblen Sinn (geregelte Kreditmöglichkeiten, Bildung, etwa auch seiner Reparaturexperten) angewiesen – diese Abhängigkeit zeigte sich gerade im Falle der reduzierten Stromversorgung  ; drittens operierte er in einem gesetzlich geregelten Raum, der offensichtlich (im Falle des Verstärkers) geringe Qualitätskontrollen auferlegte, es möglich machte, einen anderswo hergestellten Zigarettenanzünder unter eigener Marke laufen zu lassen, eine nicht definierte Handelsspanne aufzuschlagen, Kündigungen einzureichen oder auszusprechen, eine Firma mit minimalem Eigenkapital zu gründen. Die Idee eines »self made man« ist angesichts dieses Netzes von Abhängigkeiten und Ermöglichungsbedingungen schwerlich aufrechtzuerhalten. Dabei dient das Beispiel Alan Sugars als exemplarisches »Fenster«, das die Bedeutung von Sozialkapital, Infrastruktur und gesetzlichen Rahmenwerken für die persönliche Vermögensbildung verdeutlicht. Man könnte auf dem Hintergrund der Fallstudie Alan Sugars folgende Thesen vorschlagen  : 1. Vermögen wird auf der Basis von Sozialkapital (verstanden als Zugang zu und Mobilisierungskraft von verlässlichen Netzwerken) erzeugt  ; 2. Sozialkapital ist integraler Bestandteil der intangiblen Infrastruktur  ; 3. die intangible Infrastruktur ist zum Aufbau auf ein Massenniveau angewiesen, damit Sozialkapital schnell wachsen kann (etwa weit verbreitete kulturelle Praktiken wie Lesefähigkeit)  ; 4. die intangible Infrastruktur kann nicht ohne tangible Infrastruktur bestehen  ; 5. dünne gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind notwendig, um tangible Infrastruktur aufzubauen und zu erhalten und auch um Zugang zu intangibler Infrastruktur auf einer Massenebene (Beispiel allgemeine Schulpflicht) zu ermöglichen  ; 6. dichte soziale Netze sind notwendig, um »dichte Räume« für die intangible Infrastruktur – Räume zur Einübung von Vertrauen – zu erschließen  ; 7. dünne politische Rahmenbedingungen und dichte soziale Netze stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Die dünnen Rahmenbedingungen schaffen jenen Kontext, der den Aktionsradius und vor allem die Handlungssicherheit und Planbarkeit von Individuen und sozialen Netzen gewährleistet. Soziale Netze schaffen die identitätsstiftende Grundlage (die »Innenseite der Gerechtigkeit«), von der aus dünne gesellschaftliche Rahmenbedingungen aufgebaut werden können. RD 5.4 Michael Sandel hat in einem viel beachteten Buch darauf hingewiesen, dass die Grenzen dessen, was man mit Geld kaufen kann, mehr und mehr ausgePrivilegienabbau

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weitet werden.32 Das kann man etwa im Bereich der »Gesundheit« an Aspekten wie »commodification of the body« erkennen, die andeuten, dass einzelne Körperteile zu »commodities« geworden sind, die gegen Entgelt ausgetauscht oder verbessert (»enhancement«) werden können. Gesundheit wird dann in Begriffen von Erwerbbarkeit und Käuflichkeit Gegenstand eines Tauschgeschäfts. 33 Als Konsumgut kann Gesundheit einen Markt erschließen, der Transaktionen ermöglicht und unter den Voraussetzungen von Käuflichkeit und Knappheit operiert. »Gesundheit« ist dann weniger eine Frage des Lebensstils als eine Frage der verfügbaren Ressourcen. Für die Frage der sozialen Ungleichheit bedeutet diese Entwicklung, dass mit wachsenden Möglichkeiten der käuflichen Körpergestaltung neue Eintrittstellen für soziale Ungleichheit entstehen. 34 Geld erschließt mehr und mehr Räume  ; Michael Sandel beobachtet, dass fast alles gekauft werden könne. Die Märkte expandieren und die Gesetze des Marktes werden in mehr und mehr Sphären des menschlichen Lebens übertragen. »Consider the proliferation of for-profit schools, hospitals, and prisons, and the outsourcing of war to private military contractors.«35 Geld erkauft mehr und mehr Bereiche des Lebens, was die soziale Ungleichheit insofern vergrößert, als sich diejenigen, die weniger Geld haben, auch immer weniger leisten können. Selbst Toiletten im Bahnhofsbereich, um ein Beispiel herauszugreifen, sind mehr und mehr gebührenpflichtig. Ein entscheidender Punkt ist freilich die Veränderung des Gutes durch die Monetarisierung. Ein Gut verändert seinen Charakter, wenn es zu einer käuflichen »commodity« wird. In der kleinen Stadt, in der ich wohne, gibt es im Sommer einen kostenlosen Bummelzug, der vom Ortszentrum zum See fährt. Würde man für die Benutzung des Zuges Gebühren einheben, veränderte sich das Gut der Zugfahrt  ; es würden diejenigen ausgeschlossen, die die entsprechende Gebühr nicht entrichten können oder wollen. Es würde ein zusätzliches Kriterium zur sozialen Unterscheidung eingeführt. In dem Moment, wo Gebühren eingehoben werden, entstehen Ansprüche und eine Erwartungshaltung, die an der entrichteten Gebühr gemessen wird. Dadurch veränderte sich die Beziehung der Mitreisenden zueinander, die Beziehung von zahlenden und nichtzahlenden Interessent/inn/en, die Beziehung des einzelnen zum Gut der Bummelzugfahrt und die Beziehung der Mitreisenden zum Betreuungspersonal. Etwas geht dabei verloren, wenn man ein Gut monetarisiert. Denken wir an die Kultur des Wartens  : Mehr und mehr Wartesituationen werden über Gebühren strukturiert – »First Class« Passagiere können immer während des BoardingVorgangs einsteigen, Menschen, die bei bestimmten Fluglinien eine Gebühr entrichtet haben, werden bevorzugt und können so das Warten abkürzen. Auch hier 212

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

kann man sich fragen, was die finanziell strukturierte Gestaltung des sozialen Verhaltens des Wartens mit Beziehungen von Menschen zueinander oder auch mit der Charakterbildung einzelner Menschen macht, die sich auf den Standpunkt stellen, dass ihre Zeit mehr wert sei als die Zeit anderer, die sich weniger leisten können oder wollen. Bestimmte Dinge werden durch eine Monetarisierung in ihrem Charakter nicht nur verändert, sondern korrumpiert. Man denke an das Beispiel einer Freundschaft. Angenommen, es stellt sich heraus, dass ein Freund, der Zeit mit mir verbracht hat und mit mir etwa regelmäßig Tennis gespielt hat, von meinem Bruder bezahlt wurde, um mir Gesellschaft zu leisten. Mit dieser Erkenntnis würde sich die Qualität der Freundschaft wesentlich verändern. Wenn man sich über finanzielle Mittel Beziehungen kaufen kann, verändert dies das Gut der Beziehung – Sandel spricht vom korrosiven Effekt von Märkten – »putting a price on the good things in life can corrupt them. That’s because markets don’t only allocate goods  ; they also express and promote certain attitudes toward the goods being exchanged.«36 Diese korrosiven Effekte sind besonders offensichtlich, wenn es um Menschen geht. Der Handel mit Flüchtlingskontingenten scheint moralisch anstößig, weil Menschen keine »commodities« sind, mit denen gehandelt werden kann. Wenn man ein Gut in ein käufliches Gut verwandelt, setzt das ein, was Fred Hirsch den »commercialization effect« nennt, die Wirkung auf ein Gut, wenn es auf kommerzielle Weise dargeboten wird.37 Debra Satz hat auf die Grenzen von Märkten hingewiesen.38 Bestimmte Dinge sollen nicht auf Märkten gehandelt werden, etwa Organe oder toxischer Abfall. Iana Matei, eine rumänische Psychologin, die sich gegen Menschenhandel engagiert, beschreibt an einer Stelle ihre Reaktion, als sie auf drei Mädchen trifft, die gekauft und verkauft wurden  : »Ich war vollkommen entsetzt. Diese Mädchen erzählten mir allen Ernstes, dass sie verkauft worden waren. Verkauft  ! Wie Vieh  ! Ich konnt es nicht fassen.«39 Gerade das Beispiel Menschenhandel zeigt, dass hier die Kommerzialisierung eines Bereiches stattfindet, der in vielen Traditionen als kommerziell tabu gilt. Menschen sind keine »commodities. Durch die wachsende Monetarisierung werden nicht nur neue Formen von Ungleichheit – etwa bei Warteschlangen in öffentlichen Räumen, wo es immer wieder die gebührenpflichtige »priority«-Möglichkeit gibt – geschaffen, sondern auch Ungleichheiten beschleunigt. Stewart Lansley beschreibt die Herausbildung einer »two track economy«, die »fast track« (Finanzwirtschaft) und »slow track« (produktive Wirtschaft) unterscheiden lässt. Die »fast track economy« nährt die Idee, dass man sehr schnell sehr reich werden könne. Dies geschieht Privilegienabbau

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durch eine Form von »business activity«, die vor allem darin besteht, »mergers« zu organisieren oder die Bilanzen neu anzuordnen, ohne dass dabei echtes neues Vermögen geschaffen würde. Diese Praktiken werden durch finanzielle Deregulierung ermöglicht und führen ihrerseits zu finanzieller Instabilität und einer Vergrößerung der Ungleichheit (Stichwort »pay explosion in the city«).40 Auch Joseph Stiglitz weist auf das Ärgernis der Ungleichheit hin, das Demokratie und Rechtsstaat aushöhlt. Es ist vor allem die Praxis des »rent-seeking«, die zur Beschleunigung ungerechtfertigter Ungleichheit beiträgt (Vermögensbildung nicht durch Zuwachs, sondern durch Privilegien wie Zugangsbeschränkungen oder Regulierungen). Die unsichtbare Hand, der Markt, hat versagt  ; falsche Anreize für Banken haben zu Instabilität, extremer Ungleichheit und einer Bedrohung der finanzgetriebenen Demokratie geführt. Es lässt sich ein Vermögenszuwachs der Reichen auf Kosten der Armen nachweisen. Entscheidend bei dieser Form der Vermögensbildung ist die Intransparenz der Märkte, an denen »Insider-Wissen« gehandelt werden kann.41 Es ist wichtig zu sehen, dass Geld wesentlicher Teil der intangiblen Infrastruktur ist und vor allem auf einem Schlüsselfaktor beruht  : Vertrauen. Bereits Thomas von Aquin hat »moneta« mit Vertrauen verbunden  ; in seiner Schrift »De regimine principium ad regem Cypri« (II,13) hält er fest, dass das Geld uns daran ermahnt, nicht zu betrügen, da es das Wertmaß unter Menschen sei. Es ist also Ausdruck und Ergebnis einer Vertrauensgrundlage. Auch Felix Martin hat Geld als »social technology« charakterisiert42, die sich über Vertrauen erhält. Vertrauen wiederum ist die Grundlage von Kooperation  ; sie ist eine relationale Einstellung, die auf eine kooperative Orientierung und das Wissen um eigene Verletzlichkeit angewiesen ist.43 Damit Vertrauen funktioniert, muss die Anerkennung von Gleichheit gewährleistet sein. Hier scheinen wir auf ein Paradox zu stoßen  : Geld ist gleichzeitig Ungleichheitsbeschleuniger und setzt doch Gleichheit voraus. Die Expansion der Monetarisierung hat Effekte auf die Gesellschaft, wohl aber auch auf die Integrität der handelnden Personen. Michael Sandel beschreibt die käuflich erwerbbare Verkürzung der Wartezeiten. Es ist nicht uninteressant, dass Aaron James in einer philosophischen Studie, die den Begriff »Assholes« analysiert hat, dabei das Beispiel der Warteschlange bemüht – »the asshole ist he person who habitually cuts in line.«44 James charakterisiert ein »asshole« über drei Bedingungen  : »The asshole (1) allows himself to enjoy special advantages and does so systematically  ; (2) does this out of an entrenched sense of entitlement  ; and (3) is immunized by his sense of entitlement against the complaints of other people«.45 Solche Menschen bedrohen die Vertrauensgrundlage des sozi214

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

alen Gefüges. Man kann sich fragen, inwieweit der käufliche Zugang zu Privilegien, der Menschen von anderen Menschen abhebt, eine einschlägige Formung des Charakters begünstigt. Der entscheidende Punkt in James’ Analyse besteht ja darin, dass der Gedanke der moralischen Gleichheit durch solche Menschen unterminiert wird. Als Gegenteil von »assholes« beschreibt James kooperationswillige und kooperationsfähige Menschen  : »Fully cooperative people … see themselves as equals, having grounds for special treatment only in special circumstances that others will equally enjoy at the appropriate times.«46 Hier wird also Gleichheit als Voraussetzung für Kooperation beschrieben. Man kann sich fragen, inwieweit die wachsende Monetarisierung nicht zu charakterlichen Erosionen führt, die die Integrität gerade auch der Privilegierten gefährdet. Die im ersten Teil angesprochene Zerbrechlichkeitsfrage sollte die Grenzen der Kostenund Zahlfrage47, mit der monetär Privilegierte operieren können, aufzeigen.

Armutsbekämpfung 5.8 Armutsbekämpfung muss interioritätssensibel vorgehen, also Maßnahmen entwickeln, die die episthetische Situation der Beteiligten berücksichtigen und transformieren. Leitwert ist der je größere Zugang zu Identitätsressourcen und zu Ressourcen zum Aufbau zweiter Integrität. Das verlangt inneres Engagement der Beteiligten und die Bereitschaft zur »Arbeit am Selbst«. Diese Maßnahmen müssen eingebettet sein in eine Reflexion auf das gute Leben und den ernsthaften Umbau der Gesellschaft, weswegen isolierte Maßnahmen zur Armuts­ bekämpfung, die nicht die gesamte gesellschaftliche Situation oder die menschliche Gesamtsituation in den Blick nehmen, in ihrer Wirkung schmerzhaft beschränkt sind. 5.9 Ein wichtiger Aspekt von Armutsbekämpfung sind integre Institutionen, die von tiefer Politik geführt werden. Institutionen und Organisationen in der Armutsbekämpfung sind den üblichen Dynamiken einer Institutionalisierung ausgesetzt – (i) Tendenz zur Standardisierung  ; (ii) Tendenz zur Expansion  ; (iii) Tendenz zur Erweiterung des Zuständigkeitsportfolios. Gleichzeitig kann beobachtet werden, dass die Professionalisierung in mehr und mehr Lebensbereiche hinein vorangetrieben wird. Hier muss man sich die Frage stellen, ob Professionalisierung mit ihren Konsequenzen der geregelten Zugangsbeschränkungen, der steigenden Begründungs- und Rechenschaftspflichtigkeitsniveaus, der StanArmutsbekämpfung

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dardisierung und der Entlastung von Nichtprofessionellen nicht auch korrosive Effekte mit sich bringt, gerade was die Frage nach Anerkennung von Gleichheit, Respekt vor lokalem Wissen, symmetrische Gesprächssituation mit den Beteiligten, inneres Engagement und starke Sorge der Professionellen angeht. Anders gefragt  : Gibt es etwas, »what professionalism cannot achieve«  ? 5.10 Interioritätssensible Armutsbekämpfung wird die Erinnerungen, Hoffnungen, Vorstellungen, Wünsche, Gefühle, Haltungen und Überzeugungen der Beteiligten ernst nehmen. Sie wird sich nicht nur um eine Veränderung der äußeren Situation, sondern auch um eine Transformation der inneren Situation bemühen. Königsweg zur Armutsbekämpfung ist Bildung als Erschließung eines Zugangs von Ressourcen zur Kultivierung von Innerlichkeit und als Zugang zu Fundamentalfähigkeiten als Fähigkeitsfähigkeiten bzw. Fähigkeiten zweiter Ordnung, wesentlich die Fähigkeiten zur Selbstreflexion, die Freundschaftsfähigkeit und die Fähigkeit, Probleme als solche zu erkennen und zu lösen. Diese Fundamentalfähigkeiten lassen sich in der Fähigkeit, eine Gesprächssituation herzustellen und ein Gespräch zu führen, zusammenfassen. Armutsbekämpfung wird an einer Gesellschaft bauen, die Zugang zu diesen Fundamentalfähigkeiten ermöglicht, auf der Basis eines Gesprächs errichtet ist und Menschen Zugang zu einem anspruchsvollen und ernsthaften Leben ermöglicht, ein Leben, das von Strukturen starker Sorge geprägt ist und Lebenstiefe hat. RD 5.5 Armutsbekämpfung ist auf die Berücksichtigung der episthetischen Situation der Beteiligten und der intangiblen Infrastruktur angewiesen. Der Blick auf die tangible Infrastruktur wird nicht reichen – einige Beispiele  : Mit der epis­ thetischen Situation sind wir konfrontiert, wenn es um die Reputation von »Sugar Daddys« in verschiedenen Ländern geht, (ältere) Männer, von denen junge Mädchen glauben, dass sie seriöser als Gleichaltrige wären und sich deswegen ungleich schneller mit H I V infizieren.48 Ein anderes Beispiel für die Grenzen bloß äußerer Interventionen ist das Problem der Abwesenheit von Krankenschwestern in Gesundheitsstationen.49 Krankenschwestern sind nicht anwesend, weil die Gesundheitsstation nicht genutzt wird  ; diese wird nicht genutzt, weil die Krankenschwestern abwesend sind … Das ist ein Punkt, an dem intangible Infrastruktur wie Prestige und Vertrauenswürdigkeit und tangible Infrastruktur wie physische Ausstattung der Gesundheitszentren ineinander greifen. »Für eine junge Frau, die lange Studien absolviert hat und einen gewissen gesellschaftlichen Status genießt, ist es sehr demotivierend, den ganzen Tag in einem men216

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

schenleeren Zentrum zuzubringen, das weder über Wasser noch über Strom verfügt.«50 Die Krankenschwestern sind abwesend, weil sie anderes zu tun haben oder zu wenig Wertschätzung erfahren. Dieses Problem ist auch mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Krankenschwestern, die als Repräsentantinnen umstrittener Impfpolitiken gesehen werden, verbunden.51 So stellt sich die Frage, wie man die Krankenschwestern dazu bringen kann, regelmäßiger anwesend zu sein – das hat wohl auch mit Verantwortungsgefühl zu tun.52 Entscheidend dürfte die Mobilisierung der Nutzer sein  : »Ohne dass es eine Forderung der Nutzer nach Schaffung einer von ihnen ausgehenden Kontrollinstanz gibt, hat ein von oben verordnetes System zweifellos wenig Chancen, von einer Bürokratie, die ein Interesse daran hat, nichts zu verändern, korrekt umgesetzt zu werden.«53 Armutsbekämpfung kann nicht, so die These des Buches, die Innenseite des Sozialen (Fragen von Ehre und Vertrauen) oder auch die episthetische Situation der Beteiligten ignorieren. Äußere Reformen sind in vielen Fällen wohl notwendig, greifen aber zu kurz, wenn sie nicht von entsprechenden inneren Entwicklungen begleitet werden. Ein Phänomen, das auf die Grenzen äußerer Maßnahmen hinweist, ist der Absentismus von Lehrerinnen und Lehrern.54 Selbst wenn man weitere Maßnahmen setzt, etwa verpflichtende Tests, kann es sein, dass die Lehrer/innen die Testergebnisse manipulieren, indem sie etwa in der Selektion der am Test teilnehmenden Kinder gestaltend eingreifen.55 Es ist jedenfalls mit dem »äußeren Aspekt der Schulpflicht« nicht getan  ; sie gibt keine Garantie für Anwesenheit, einen Fokus auf die Schule  ; zudem reicht es nicht, wenn die Kinder einem Lehrer gegenüber sitzen.56 Vielfach überschätzen die Eltern, was die Kinder in der Schule lernen. Die Strategie, »Mehr vom Gleichen« zu unternehmen (neue Lehrer einzustellen, mehr Schulbücher zu verteilen, mehr Schuljahre zur Pflicht zu machen), erweist sich als Sackgasse, wenn man nicht innere Reformen anschließt.57 Hier geht es auch um die Frage der motivierenden Ziele – geht es darum, »die Besten« zu fördern oder alle Schüler/innen mitzunehmen  ? Esther Duflo spricht sich deswegen auch für eine Kultur des Gesprächs aus, bei der auch armutsbetroffene Menschen beteiligt werden. Es wird darum gehen müssen, den Lehrer/innen und auch den Eltern mehr Verantwortung zu geben, sie so einzubinden, dass Rahmenbedingungen für inneres Engagement geschaffen sind. Armutsbetroffene Menschen, so wie das Beispiel Mortensens gezeigt hat, sollen selbst entscheiden können, welche öffentlichen Güter ihr Dorf braucht und auch auf die gute Qualität der Dienste achten  ; man kann hier, so scheint es, Fehler in zwei Richtungen machen, die die intendierte Gesprächssituation zerstören  : Man kann einerseits armutsbetroffene Menschen ignorieren oder man kann daArmutsbekämpfung

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durch verantwortungslos handeln, dass man den Armutsbetroffenen unter dem Deckmantel der Autonomie sämtliche Verantwortung zuschiebt.58 Eine echte Gesprächssituation als jenes Modell, das die episthetische Situation der Betroffenen am tiefsten formt, nimmt die Innenseite der relevanten Dinge, Ereignisse und Strukturen ernst. Es reicht nicht, Armutsbetroffene alleine zu lassen, schlicht »den Unternehmergeist« zu wecken,59 sie sind auf eine Kultur des Gesprächs angewiesen. Armutsbekämpfung wird sich damit nicht um große Einheitslösungen, sondern um kleine Schritte in lokalen Prozessen bemühen. Das entspricht etwa dem Zugang Amartya Sens zu Überlegungen der Gerechtigkeit.60 Im Sinne der geforderten Einbettung von Armutsbekämpfungsmaßnahmen in die Makrostruktur einer Gesellschaft wird man dabei aber auch nicht einem »localism« verfallen.61 Nur auf der Basis einer tiefen Reflexionskultur kann die Komplexität von Armut und Armutsbekämpfung ernst genommen werden. Die im 21. Jahrhundert bedeutsam gewordenen Diskurse um Mikrokredite zeigen überzeugend die Komplexität von Armutsbekämpfungsmaßnahmen  ; Untersuchungen vermitteln ein ambivalentes Profil der Mikrokreditindustrie  ; sie sind in vielen Fällen hilfreich, vermögen es aber meist nicht, Menschen permanent aus der Armut zu bringen.62 Ambivalenz zeigt sich auch im Ländervergleich zwischen Kambodscha und Osttimor, wo Mikrofinanzinitiativen im einen Fall durchaus erfolgreich waren, im anderen überwiegend gescheitert sind.63 Es braucht angesichts der Komplexität und Verschiedenheit der Situationen multiple Strategien.64 Die Komplexität der Armutssituationen zeigt sich in den nun präsentierten Mikrotheorien, die als wichtigstes Instrument für diesen Abschnitt eingesetzt werden sollen. Armutsbekämpfung braucht Geduld und den Willen zum Wissen. »Zahlreiche Initiativen zeigen, dass Interventionen, die wenig kosten (Lesekurse, Wurmkuren, Verteilung von Linsen zur Förderung der Impfung, Verbreitung klarer Informationen über die Infektionsraten mit H I V), bei der Bekämpfung des Analphabetismus und des Auftretens bestimmter Krankheiten spektakuläre Wirkungen erzielen können.«65 E 5.5 Armutsbekämpfung ist auf die Integrität der Beteiligten angewiesen  ; auf die starke Sorge derjenigen, die sich in der Armutsbekämpfung engagieren. Immer wieder stoßen wir auf die Erfahrung, dass einzelne Menschen einen großen Unterschied machen können. Wolfgang Pucher, der mit wohnungslosen Menschen arbeitet, und die Flüchtlingshelferin Ute Bock haben als Individuen niederschwellige Einrichtungen aufgebaut und das Leben vieler Menschen nach218

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

haltig verändert.66 Sie haben dabei in einer Weise gearbeitet, die auf Grenzen der Professionalisierung hinweist, weil sie professionelle behördliche Einrichtungen zu »Nischendiensten« bringen.67 Beide haben mit Überzeugungen und Vorurteilen von Seiten der Menschen zu kämpfen.68 Beide arbeiten mit festen Überzeugungen und innerem Engagement und verändern dadurch die soziale Situation. Einzelne Menschen können einen großen Unterschied machen, vor allem, wenn sie mit starker Sorge und ernsthafter Bindung arbeiten. Wolfgang Pucher weiß sich für die Menschen, mit denen er arbeitet, verantwortlich, er fühlt sich gebunden.69 Einzelne Menschen machen den entscheidenden Unterschied. Nicky Cruz etwa war Mitglied und Anführer einer gewalttätigen Gang im New York der 1950er-Jahre. Er handelte mit »Angst« als der Währung, die der New Yorker Untergrund respektierte. Der Wendepunkt in seinem Leben war die Begegnung mit einem christlichen Missionar, David Wilkerson, der ihn dazu brachte, sein Leben zu verändern und selbst eine Ausbildung zum Predigtdienst zu absolvieren.70 Victor Rios wurde als Kind einer traumatisierten mexikanischen Mutter geboren, ohne je seinen Vater kennen gelernt zu haben. Er flüchtete in die US A und erbrachte schlechte Schulleistungen. »What my teacher did not know was that I could not see the word on the board. I needed glasses. We were so poor that my mother never had the time, or the money, to have my eyes checked.«71 Er wurde als Kind Mitglied einer Straßengang, »I felt that what was left of my childhood was slowly being robbed from me« (R SL 43). In der Gang fühlte er sich erstmals wichtig.72 Durch seine Gewaltbereitschaft und seine Kühnheit erwarb er sich ein weiteres intangibles Gut, Respekt und Reputation (R SL 47) – und auch »the thrill of proving my manhood and earning my stripes« (51). Das Gang-Leben nahm eine eigene Dynamik, ließ ihn seine moralischen Standards vergessen und auch »my sense of reality« (R SL 52)  ; er bewegte sich in einem Mikrokosmos, »I found a group of young people who had created a world where we could all feel powerful« (R SL 53). Er wurde ins Gefängnis gesteckt, was seine Reputation noch wachsen ließ (R SL 63). Der Wendepunkt in seinem Leben war (i) ein traumatisches Ereignis und (ii) eine Begegnung mit einem sorgenden Menschen. Sein Freund starb durch Gang-Gewalt, »Smiley’s death forced me to reflect on my life«  ; und damit wandte er sich an eine Vertrauensperson  : »I decided to go to the one person who had told me that she would be there for me when I wanted to turn my life around. I went to my teacher« (R SL 71). Victor Rios wandte sich an Miss Russ. Sie hatte in einer schwierigen Situation zu ihm gesagt  : »Victor, I know you are not O.K. Listen to me, I am here for you« (R SL 75). Diese Worte bedeuteten einen Dammbruch, »I was embarrassed. Ms. Russ Armutsbekämpfung

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opened her arms, gave me a hug and told me that if I was ready to turn my life around, she would be there to support me, but that I had to do the work« (R SL 75). Miss Russ bewahrte ihn davor, von der Schule verwiesen zu werden, und ermöglichte ihm »a second chance«  : »Ms. Russ believed in me so much that she tricked me into believing in myself« (R SL 77). Sie arbeitete mit ihm. »My teacher, Ms. Russ, saved my life« (R SL 80). Er entwickelte einen Lebensplan, kämpfte sich gegen die Anfeindungen aus seinem Gang-Wertesystem hindurch 73 und unterrichtet heute Soziologie an der University of California in Santa Barbara. Miss Russ hatte das gezeigt, was man »menschliche Größe« nennen kann. Ich will diesen Begriff in die Diskussion um Armutsbekämpfung einbringen. Zunächst ein Beispiel  : Ignatius von Loyola wurde im Jahr 1538 vom spanischen Kleriker Mudarra verfolgt, der mit hinterlistigen Methoden den Ruf von Ignatius beschädigte und dessen Arbeitsmöglichkeiten auf Spiel setzte. Ignatius wurde nach einer offiziellen Untersuchung rehabilitiert. Mudarra geriet später mit der Inquisition in Konflikt, musste aus Rom fliehen und wandte sich an Ignatius, um durch dessen Intervention eine Milderung der gegen ihn verhängten Sanktionen zu erreichen. Ignatius kam dieser Bitte nach – großzügig, ohne an die Vergangenheit zu denken. Das ist menschliche Größe. Nelson Mandela wurde nach 26 Jahren 1990 aus dem Gefängnis entlassen und rief sofort zu einer Politik der Versöhnung auf, die sich nicht an Retributionsmechanismen orientieren dürfe. Das ist menschliche Größe. Menschliche Größe kann, so scheint es, durch wenigstens drei Aspekte gekennzeichnet werden  : Erstens wird ein Spielraum nicht ausgenützt, der nach den Regeln von Recht und dem, was üblicherweise von Menschen zu erwarten ist, als legitimer zur Verfügung steht – nennen wir dies das Merkmal des Gestaltungsverzichts  ; zweitens zeigt menschliche Größe im Sinne einer beispielgebenden, fundamentalen Praxis in einer erhellenden und überraschenden Weise auf, was der Mensch sein kann  ; nennen wir dies das Merkmal der Form fundamentaler Praxis  ; drittens hat menschliche Größe eine Struktur, die die Erwartungen an die Idee von Vorteilsmaximierung konsequent durchbricht – nennen wir dies das Merkmal der kenotischen Selbstgestaltung. Der Gestaltungsverzicht bedeutet, dass es menschliche Größe ist, um eines höheren Gutes willen auf die Ausnützung eines Spielraums zu verzichten, der legitimiert ist und dessen Ausnutzung bestimmte Vorteile bringen würde. Vergeben – von Hannah Arendt wie erwähnt als Grundakt des Menschen angeführt – ist ein Akt menschlicher Größe, weil wir es hier mit einem Verzicht auf die Einsetzung der Mechanismen des Rechts zu tun haben, der eine Form von »Ausgleich« bringen würde. Menschliche 220

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Größe zeigt sich also in einem Verzicht auf eine bestimmte, legitimierte, verständliche und auch erwartbare Form der Gestaltung der sozialen Welt. Zweitens zeigt sich menschliche Größe in einer Form fundamentaler Praxis. Unter fundamentaler Praxis kann man eine Form der Gestaltung der Sphäre des Praktischen verstehen, die beispielhaft ist für das, was ein Mensch sein soll. Im Unterschied zu allgemeinen ethischen Prinzipien liefert eine fundamentale Praxis in einem dichten Sinn ein Verständnis für gelingendes menschliches Leben.74 Durch die fundamentale Praxis eines Martin Luther King oder eines Mahatma Gandhi wurden Möglichkeitsräume für das Menschsein eröffnet, oder auch  : ein neuer »Möglichkeitssinn« für das Menschliche erschlossen. Menschliche Größe scheint in Situationen auf, in denen in einer »dichten« und »frischen« Weise durch das Tun gezeigt wird, was die Menschheit »at its best« sein kann. Hier wird etwas Bedeutendes über den allgemeinen Begriff des Menschen und des Menschlichen ausgesagt. Drittens kann menschliche Größe durch eine Form »kenotischer Selbstgestaltung« charakterisiert werden. Menschliche Größe zeigt sich im Verzicht auf die Maximierung des eigenen Vorteils, lässt auf verfügbare Privilegien verzichten. Menschliche Größe deutet das Vorhandensein von moralischen Ressourcen an, die über den Rahmen der gewöhnlich vorhandenen und also vernünftigerweise erwartbaren Ressourcen hinausgehen. Moralische Ressourcen sind jene Quellen, die Identitätsbildung und -erhaltung auch unter erschwerten Umständen ermöglichen. Ohne diese von innen motivierte menschliche Größe, wie sie Martin Kämpchen als Freundschaftsdienst in der Armutsbekämpfung beschreibt, werden Strukturen starker Sorge und Privilegienabbau und die für die Armutsbekämpfung notwendige Erweiterung der Vorstellungskraft dessen, was menschlich ist, nicht geleistet werden können. Menschliche Größe zeigt »tiefe Praxis« von Menschlichkeit. RD 5.6 Ein Königsweg zur Armutsbekämpfung ist Bildung – als Zugang zu Ressourcen zur Kultivierung von Innerlichkeit und als Zugang zu Fundamentalfähigkeiten. Robert Lucas betont den Ansteckungseffekt, den gebildete Personen erzielen  : Eine gebildete Person will nicht nur das eigene Leben gestalten und vorwärts kommen, sondern auch die Umwelt gestalten und andere motivieren, etwas zu verändern und Ressourcen besser nutzen.75 Zwei Beispiele für Männer, die sich in einer Armutssituation befunden haben, durch den Zugang zu Bildungsgütern den Weg aus der Armut gefunden haben und nun einen sozialen Wirkkreis entwickeln  : Mohamud Ege berichtet, dass der Zugriff auf Bücher den Wendepunkt in seinem Leben darstellte, das ihn aus einem traditionellen NoArmutsbekämpfung

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madenleben zu Arzt im Vereinigten Königreich werden ließ  : Die Schulbibliothek war wie eine Offenbarung für ihn. »I found the books in the school library fascinating and derived enormous pleasure from exploring them … There were books about education and learning and the world around us. Some of the books were about biology, including human anatomy. I found those books very interesting, and for the first time they gave me the idea that I would like to be a doctor one day.«76 Ege las George Orwell, Daniel Defoe, Agatha Christie  : »I used to very much enjoy reading those books. They painted a picture of a world which was very strange to me, in which people lived in comfort in big houses … I was beginning to realise that there was a world outside Somalia which was different from the one I knew.«77 Weldon Long beschreibt sein Leben als »How one Man broke the cycle of prison, poverty, and addiction«  : Er nennt als Wendepunkt in seinem Leben im Gefängnis eine spirituelle Erfahrung  : Der Tod seines Vaters zwang ihn dazu, einen Blick auf sein Leben zu werfen. Sein Vater hatte im letzten Gespräch, das sie geführt hatten, gesagt  : »At least you aren’t dead, son«. Diese Worte nagten an Longs Gewissen  : »I knew nothing would ever change the fact that my father’s last earthly memory of me was that I was in jail again  ; he would never know me as anything but a loser and a crook. I had always figured that one day my life would change, and I would have the opportunity to make things right with the people I had so badly disappointed, including my father. But now I was aware of my own mortality. I realized that eventually I would run out of opportunities to get my shit together … I also realized that I had a three-year old son who barely knew me. I realized that one day I would be gone … I didn’t want to be a person my son would pity as my father had.«78 Hier zeigt sich durch den Tod des Vaters eine neue existentielle Situation.79 »Through my grief I gradually began to see my true self. I was a liar, a thief, a manipulator, and a drunk … I began to ponder every sleazy thing I had ever done« (LU F 104). Eine Gebetserfahrung und der Zugriff auf Bücher über das innere Leben (Napoleon Hill, Wayne Dyer, Stephen Covey) bewegten ihn zu einer Lebenswende. »I read a quote from Ralph Waldo Emerson, ›We become what we think about all day long‹« (L U F 106). Damit begab er sich in den Prozess eines »geprüften Lebens«. 80 »For the first time I was actually thinking about my life – what it meant, if anything, and what I was doing with it. Socrates said, ›The unexamined life is not worth living.‹ It was time to make my life worth living« (L U F 107). Die fundamentale Entscheidung, die Weldon Long vornahm, war die Entscheidung für Aufrichtigkeit. Seine Einsichten in persönliche Ethik  : »Values are knowing what to do, character is having the strength to do it, and integrity is doing it when nobody else is wat222

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

ching« (L U F 110). Er erkannte die Bedeutung der Kategorie »Verantwortung«, die Anerkennung »thath I had a choice on how I responded to the challenges I faced« (LU F 110).81 Weldon Long beschäftigte sich auch mit der Frage, was die Menschen über ihn sagen würden, »if I died right then« (LU F 109). In Kontexten der Armutsbekämpfung wird Bildung häufig mit Ausbildung gleichgesetzt – Armutsbekämpfungsprogramme laufen Gefahr, Lernen nach utilitaristischen Gesichtspunkten aufzufassen und zu individualisieren  ; es fehlt vielfach die für lebenslanges Lernen notwendige Herausbildung eines kritischen Bewusstseins.82 Ein gutes Beispiel für eine sinnvolle Armutsbekämpfungsinitiative stellen die öffentlichen Lernzentren in Bangladesh (Ganokendra) dar, die gerade auch Frauen in ländlichen Gebieten Zugang zu Bildungsgütern ermöglichen.83 Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass auch spezifische Programme wie etwa Landwirtschaftsprojekte, mit Bildungsprojekten zu koppeln sind und bestimmte Maßnahmen nicht isoliert werden dürfen.84 Bildung heißt vor allem zweierlei  : Erstens Zugang zu Innerlichkeit und zweitens Zugang zu Fundamentalfähigkeiten. (1) Bildung als Zugang zu Innerlichkeit  : In einem Brief vom 23. Januar 1944 an Renate und Eberhard Bethge notiert Dietrich Bonhoeffer, der seit dem 5. April 1943 in Haft saß, einen wichtigen Satz  : »Klar ist mir … nur, daß eine ›Bildung‹, die in der Gefahr versagt, keine ist. Bildung muß der Gefahr und dem Tod gegenübertreten können.«85 Hier bewährt sich Bildung als Zugang zu einer inneren Welt, als Möglichkeit der Kultivierung innerer Festigkeit. Bildung kann charakterisiert werden über den Zugang zu Selbsterkenntnis, wie dies etwa auch der Philosoph Peter Bieri unternimmt.86 Bieri nennt die Fähigkeit zum Ausdruck, die Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, als Schlüssel für Selbsterkenntnis.87 Bildung feilt an der Ausdruckskraft, sensibilisiert die Wahrnehmung und bietet Referenzpunkte, die eine Einordnung von Erfahrungen ermöglichen. Dadurch entsteht innere Festigkeit. Bildung in diesem Sinne gibt Halt. Bildung baut eine »Innenwelt« auf, in der man Gesprächspartner mit sich trägt, Zugang zur Welt der Ideen hat, damit urteilsfähig ist, weil man aufgrund der erworbenen Referenzpunkte Allgemeines und Besonderes miteinander verbinden kann, was ja der Kern der Urteilskraft ist. Bonhoeffer erinnert uns daran, dass diese Urteils- und Einordnungsfähigkeit gerade in schwierigen Situationen lebensentscheidend wird. »In solchen Zeiten erweist es sich eigentlich erst, was es bedeutet, eine Vergangenheit und ein inneres Erbe zu besitzen, das von dem Wandel der Zeiten und Zufälle unabhängig ist. Das Bewußtsein, von einer geistigen Überlieferung, die durch Jahrhunderte reicht, getragen zu sein, gibt einem allen vorübergehenden Bedrängnissen gegenüber Armutsbekämpfung

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das sichere Gefühl der Geborgenheit.«88 Bildung kann durch die Kultivierung einer von äußeren Umständen unabhängigen Innenwelt Kraft vermitteln. Diese Form von innerer Festigkeit, wie sie Bildung vermitteln kann, ist auch eine Frage der Disziplin, der Einübung in einen gewissen Habitus. Dietrich Bonhoeffer, von dem in dieser Frage sehr viel zu lernen ist, reflektiert im August 1944 in einem Brief an Eberhard Bethge über den Wert von Hindernissen für den Bildungsprozess. Er beschreibt, wie hilfreich es rückblickend war, dass man in seiner Familie viele Hindernisse (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit) überwinden musste, »bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten.«89 Diesen Hindernissen nicht auszuweichen, sondern sie zu überwinden, hat mit einem Fundament zu tun, das, einmal gelegt, halten wird. »Das ist für andere und auch für einen selbst vielleicht manchmal unbequem, aber das sind dann eben die Unbequemlichkeiten der Bildung.«90 Diese Unbequemlichkeit von Bildung erlaubt die Herausbildung eines bestimmten Habitus, wie ihn Simone Weil in ihren Überlegungen über das Studium der Mathematik und der Liebe zu Gott beschrieben hat – insofern die Mathematik Demut und Ausdauer, Geduld und Unterwerfung fordert, damit Tugenden einübt, die für die Liebe zu Gott tragend sind.91 In diesem Sinne formt Bildung auch einen Habitus. Bildung formt aber auch eine Weise der Wahrnehmung. Wesentliches Merkmal von Bildung ist nach Bonhoeffer die Wahrnehmung einer »Polyphonie des Lebens«, zu der stets Schmerz und Freude gehören, so dass es möglich wird, das Leben in allen seinen Seiten zu erleben.92 Ein gebildeter Mensch gibt die Überzeugung von der Polyphonie des Lebens nicht auf und kann deswegen »tiefer« sehen, sieht den symbolischen Wert von Dingen. Bildung vermittelt wesentlich einen Möglichkeitssinn, einen Sinn für Alternativen. Das kann man sich etwa auch am Beispiel des jungen Nordkoreaners Shin Dong-hyuk klar machen, der 1982 in einem nordkoreanischen Gulag (Lager 14) als Sohn von zwei Häftlingen geboren wurde und dem im Alter von 23 Jahren die Flucht gelang.93 Der Weg hin zur Flucht hat mit Kernelementen von Bildung zu tun. Shin hatte seit seiner Geburt nie etwas anderes als das Lagerleben gekannt  ; es war ihm auch unmöglich, ein Bild der Welt außerhalb des Lagers zu erarbeiten, er hatte keine Möglichkeit, die eigene Situation einzuordnen  ; die Schüler in der Lagerschule wurden nicht über die geografische Lage des Landes oder der Nachbarstaaten informiert.94 So fehlten Shin die Bezugspunkte, um sich ein Weltbild machen zu können. Ein Schlüsselmoment wird die Begegnung mit dem gebildeten Häftling Park  ; erstmals wurde Shin die Idee eines Lebens außerhalb des Lagers vermittelt  : »So begann ein monatelanges Seminar zwischen Lehrer und Schüler, das Shins Leben 224

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

für immer veränderte.«95 Shin hatte endlich Zugang zu einer echten Bildungserfahrung, die ihm ein Koordinatensystem zur Einordnung auch der eigenen Lebenssituation vermittelte  ; er lernte von Fernsehgeräten, Computern, der Gestalt der Erde, Südkorea und China. Park hatte es möglich gemacht, dass in Shin der Möglichkeitssinn erwachte, dass Shin ernsthaft über eine Flucht nachzudenken begann, weil er nun erstmals die Möglichkeit einer Flucht in einen Begriff fassen konnte. Bildung weckt einen »Möglichkeitssinn«. Bildung verändert die episthetische Situation und lädt zu einer Kultur der Arbeit am Selbst ein. (2) Bildung als Zugang zu Fundamentalfähigkeiten  : Fähigkeiten sind identitätsbildend und werden in einer je persönlichen Weise in einem bestimmten Rahmen angeeignet, verwaltet und ausgeübt. Es sind nicht isolierbare Individuen, sondern beziehungsverankerte Personen, die Fähigkeiten kultivieren oder verlieren. Fähigkeiten liegen nicht auf derselben Ebene. Sie sind gemäß sozialen Wertungen hierarchisch geordnet. Dies legt die Frage nahe  : Lassen sich fundamentale Fähigkeiten identifizieren, die in besonderer Weise zu fördern sind und entsprechend in der Armutsbekämpfung eine privilegierte Rolle spielen  ? Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten, die Grundlage für den guten Umgang mit Fähigkeiten sind, »Kardinalfähigkeiten« sozusagen, aus denen weitere Fähigkeiten folgen. Kardinaltugenden sind bekanntlich Tugenden, die Grundlage für tugendhaftes Leben überhaupt sind und den Nährboden für tugendgemäßes Handeln in sämtlichen Lebensbereichen darstellen und anderen Tugenden den Weg bereiten. Fundamentalfähigkeiten sind dementsprechend Fähigkeiten, die den guten Umgang mit Fähigkeiten sicher stellen, ein »fähigkeitsorientiertes Leben« ermöglichen und Zugang zu weiteren Fähigkeiten ermöglichen. Unter einem »fähigkeitsorientierten Leben« verstehe ich eine Lebensform, die auf einer Grundentscheidung zum persönlichen Wachstum beruht, das Leben gestaltend wahrnimmt. Diese Art von Leben könnte man »anspruchsvolles Leben« nennen, ein Leben, das unter dem Anspruch von Wachstum und Entwicklung steht. Bildungsprozesse können als Einladungen zu einem anspruchsvollen Leben verstanden werden. Welche Fähigkeiten bieten sich nun als Fundamentalfähigkeiten an  ? Man könnte Aristoteles so verstehen, dass er die Lernfähigkeit, die Fähigkeit zum Streben nach Hohem und die Freundschaftsfähigkeit als Schlüsselfähigkeiten positioniert hat.96 Melanie Walker schlägt als entscheidende Fundamentalfähigkeit im pädagogischen Prozess vor, dass Schülerinnen und Schüler zu »strong evaluators« werden, die die Fähigkeit haben, reflektierte und informierte Entscheidungen darüber zu treffen, worin ein gutes Leben für sie besteht.97 Dem würde sich auch Martha Nussbaum anschließen.98 Hannah ­Arendt hat, wie erArmutsbekämpfung

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wähnt, für den sozialen Raum »Vergeben« und »Versprechen« als Fundamentalfähigkeiten genannt.99 Peter Morgan, der von einem entwicklungspolitischen Interesse geleitet ist, unterscheidet fünf »core capabilities«. 100 Diese Fähigkeiten sind auf einer institutionellen Ebene angesiedelt. Es sind dies a) die Fähigkeit zu handeln (und damit die Fähigkeit, Entscheidungen zu implementieren, Handlungsorientierung auszubilden, einen Sinn für Handlungsautonomie aufzubauen)  ; b) die Fähigkeit, Entwicklungsresultate zu erzielen (und damit die Fähigkeit, substantielle »outcomes« zu generieren, die Nachhaltigkeit von Ergebnissen zu verbessern)  ; c) die Fähigkeit, sich in Beziehung zu setzen und Beziehungen einzugehen (und damit die Fähigkeit, Kerninteressen zu beschützen bzw. die Fähigkeit, in Aushandlungsprozesse einzutreten)  ; d) die Fähigkeit zur Adaptation und zur Selbsterneuerung (und damit die Fähigkeit, zu lernen und Vertrauen in Veränderungsprozesse zu entwickeln sowie die Fähigkeit, Stabilität und Veränderung auszubalancieren)  ; e) die Fähigkeit, Kohärenz zu erzielen (und damit die Fähigkeit, Strukturen zu etablieren und eine Vision zu entwickeln). Diese fünf Fähigkeiten führen gemeinsam zur Sicherstellung erfolgreichen »capacity-building«, wie es im Kontext von Entwicklungszusammenarbeitsprozessen im Gespräch ist. Wertvolle Hinweise für die Diskussion von Fundamentalfähigkeiten liefert Paul Ricœur.101 Ricœur arbeitet mit vier grundlegenden Fähigkeiten  : a) der Fähigkeit zu sprechen, b) der Fähigkeit zu handeln, c) der Fähigkeit zu erzählen, d) der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme. Letztere impliziert »imputation«, also die Fähigkeit, sich selbst als Autor/in der eigenen Handlungen zu erkennen und sich entsprechend als verantwortlich zu sehen. Diese Fähigkeit schließt auch die Fähigkeit ein, ein reflexives Verhältnis zu sich selbst einzugehen und entsprechend an der eigenen Identität und dem eigenen Selbstverständnis zu arbeiten. Auch die Fähigkeit zu sprechen (a) hat nach Ricœur mit Identität und Selbstreflexivität zu tun, weil mit Aussagen der ersten Person Singular selbstreferenzielle Aussagen getroffen werden.102 Durch die Rede binde ich mich an das, was ich gesagt habe – eine Überlegung, die bereits Robert Brandom mit seinem Konzept der diskursiven Verpflichtungen angestellt hat.103 Der Akt des Sprechens hat mit Selbstpositionierung im sozialen Raum zu tun, er nimmt eine Perspektive ein und kann nicht »neutral« vollzogen werden. In diesem Sinne ist nach Ricœurs Verständnis die Fähigkeit zur Artikulation eine Fundamentalfähigkeit. Die Fähigkeit zu handeln (b) ist insofern identitätsrelevant, als Menschen sich durch diese Fähigkeit als Subjekte, als »agents« erfahren, die die Umwelt verändern und gestalten. Sie verstehen sich als »Besitzer/innen« (»possessors«) ihrer Handlun226

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

gen.104 Und sie verstehen sich vor allem als Personen, die etwas beginnen können  : »This ability to do comes down to the ability to begin.«105 Damit verstehen sich Menschen als diejenigen, die einen Neuanfang setzen können  : Menschen können aus eigener Initiative tätig werden. »In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen dasselbe  ; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere, und sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen άρχειν. Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. Menschen, die sich als »agents« erfahren, erfahren sich als Subjekte, die Transformationen einleiten können, um einen Raum zu strukturieren, innerhalb dessen die Kultivierung von Fähigkeiten erst möglich wird. Die Fähigkeit zu erzählen (c) ist ein Schlüssel zur identitätsstiftenden Selbstreflexion. Das eigene Leben als Lebensgeschichte erzählen zu können, ist eine Schlüsselfähigkeit, die Erfahrungen in ein Gesamt einweben lässt. Damit wird eine reflektierende Haltung zu sich selbst und zur eigenen Rolle im Weltgeschehen eingenommen und gleichzeitig zur Artikulation gebracht – mit der Absicht, sich verständlich zu machen. Die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme (d) ist die Fähigkeit, sich selbst als »Autor« der eigenen Handlungen zu sehen und demgemäß auch die Verantwortung für die Konsequenzen des eigenen Tuns zu übernehmen. Verantwortungsübernahme ist eine identitätsstiftende Schlüsselfähigkeit, die die Verortung des Selbst als Handlungssubjekt ermöglicht und damit auch den Sinn von Verantwortung für das eigene Leben und die eigenen Fähigkeiten erlaubt. Diese Überlegungen können für einen pädagogischen Kontext fruchtbar gemacht werden.106 Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten zweiter Ordnung. Fähigkeiten zweiter Ordnung sind Fähigkeitsfähigkeiten  ; sind Fähigkeiten, die sich auf Fähigkeiten beziehen. Fähigkeiten erster Ordnung beziehen sich auf das Vermögen, Situationen zu transformieren, während Fähigkeiten zweiter Ordnung die Eigenschaft haben, Fähigkeiten verändern zu können. Menschliche Gesundheit kann beispielsweise als Fähigkeit zweiter Ordnung angesehen werden, als die Fähigkeit, mit den eigenen Fähigkeiten und der eigenen Ausstattung bestmöglich umzugehen.107 Es ist durchaus auffallend, dass die angeführten Fundamentalfähigkeiten als Fähigkeiten zweiter Ordnung angesehen werden könnten. Fähigkeiten sind Identitätsressourcen. Fundamentalfähigkeiten sind Fähigkeiten, die die Arbeit an Identität ermöglichen. Ich möchte für diese Zwecke drei Fundamentalfähigkeiten nennen, die auf eine Schlüsselfähigkeit hinauslaufen  : Die Armutsbekämpfung

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Fähigkeit zur Selbstreflexion mit Frage- und Urteilsfähigkeit, die Fähigkeit zur Freundschaft und die Fähigkeit, Probleme zu erkennen und zu lösen. Damit sind drei Aspekte eines Gesprächs (Gespräch mit sich selbst, Gespräch mit einem Gegenüber, Gespräch mit der Welt) angedeutet – sodass sich als Kernstück dieser Fundamentalfähigkeiten die Fähigkeit herauskristallisiert, eine Gesprächssituation aufzubauen und ein Gespräch zu führen. Armut wird durch Gesprächskultur bekämpft. Anders gesagt  : Armutsbekämpfung ist Gespräch.

Hospitalität und Innerlichkeit  : Georg Sporschill MT 3  : Ein wesentlicher Aspekt von Strukturen, die der Armutsbekämpfung dienen, ist die Idee der Hospitalität. Viele Strukturen, die im Rahmen von Bemühungen zu Armutsbekämpfung oder Armutslinderung aufgebaut werden, nehmen zeitweilig Menschen auf, etwa Einrichtungen für Straßenkinder, Opfern häuslicher Gewalt oder Übergangsangebote für wohnungslose Menschen. »Gastfreundschaft« bezieht sich auf Sitten und Regeln für die zeitweilige Aufnahme von Fremden in eine bestimmte Gruppe oder in ein bestimmtes Haus. Gastfreundschaft ist eingebunden in ein Netz von Verantwortlichkeiten und geprägt von verschiedenen Formen und Stufen der Ritualisierung. Hier sind Regelwerke im Einsatz – Gastfreundschaft impliziert aber auch ein emotionales Moment. Für Aristoteles ist die Gastfreundschaft als Teil der äußeren Freundschaft zu verstehen und verbunden mit einer Art Übereinkommen – Gastgeber und Gast brauchen eine Vertrauensbasis und müssen einander verlässliche Gegenüber sein. Entscheidend ist neben dem Vertrauen die Anerkennung einer gemeinsamen Conditio. Maßnahmen zur Armutsbekämpfung riskieren Scheitern, wenn die Ungleichheit der Beteiligten zu groß wird. Schon Jean-Jacques Rousseau hat sich überlegt, dass die Reichen sich über das Leid, dass sie den Armen antun, mit dem Gedanken trösten, dass sie sowieso zu abgestumpft sind, um etwas zu fühlen.«108 Die Betonung der Unähnlichkeit zwischen mir und den anderen erschwert die Kultivierung von Mitgefühl. Martha Nussbaum hat darauf hingewiesen, dass amerikanische Geschworene Schwierigkeiten haben, sich in eine/n Beklagte/n einzufühlen, wenn die Unterschiede durch Einkommen, Bildung, Status, Rasse, Alter zu groß sind.109 Rousseau hat diesen Punkt mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt, zum Ausdruck gebracht  : »Warum haben Könige kein Mitleid mit ihren Untertanen  ? Weil sie nie damit rechnen, jemals nur Mensch zu sein. Warum sind die Reichen so hart gegen die 228

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Armen  ? Weil sie keine Angst haben, jemals arm zu werden. Warum verachtet der Adel so sehr das Volk  ? Weil ein Adeliger niemals ein Gemeiner werden kann.«110 Entsprechend der Betonung von Gleichheit kann man das Gespräch als Grundmodell von Hospitalität ansehen. Ein entscheidender Faktor im Umgang mit Gästen ist entsprechend die Höflichkeit, worauf Harald Weinrich hingewiesen hat  : Es bleibt, »meines Erachtens zu erwägen, in die Mitte eines neuen Codes der Zivilität gerade die Figur des Fremden zu stellen, diese menschenfreundliche Verhaltensnorm als vorrangig daran zu messen, wie viel Ehre dem Fremden erwiesen wird, man könnte auch sagen, wie viel positive Höflichkeit gerade seiner Andersheit zuteil wird.«111 Und an anderem Ort  : »Etwa an der Stelle, wo in früheren Zeiten die Gastfreundschaft ihren Ort hatte und dafür sorgte, dass der Fremdling für eine gewisse Zeit Gegenstand ausgezeichneter Fürsorge war, ungefähr dort ist auch der Platz für besondere Höflichkeit Fremden gegenüber, und zwar nicht nur als negativ–schonende Höflichkeit, weil die Fremden mehr als die Einheimischen orientierungsbedürftig sind, sondern darüber hinaus auch als positiv–entgegenkommende Höflichkeit, die für diese Fremden, da sie Träger einer unbekannten Vorzüglichkeit sein können, besonderes Interesse, ja Neugierde aufbringen.«112 Mir scheinen diese Bemerkungen auch für die Ethik der Armutsbekämpfung von Gewicht zu sein. Gastfreundschaft wird gerade durch den prekären Status des Gastes notwendig, befindet sich doch der Gast außerhalb des eigenen sozialen Raums gewissermaßen im Exil. Diese Idee findet sich in der Arbeit von Georg Sporschill, der Hospitalität und Armutsbekämpfung verbindet. Der Jesuitenpater Georg Sporschill, der in Rumänien und Moldawien Initiativen zur Armutsbekämpfung aufgebaut und vor allem mit Straßenkindern gearbeitet hat, steht mit seinem Lebenswerk für wenigstens drei Einsichten  : (i) Die Bedeutung von verfügbarer Infrastruktur, (ii) die ernsthafte Berücksichtigung einer inneren Dimension des Menschen  ; (iii) die Ermöglichung von »Mitverantwortung«. (i) Armutsbekämpfung braucht »Orte« und Strukturen, die dazu geeignet sind, Menschen einzuladen  ; Sporschill hat seine Werke zur Bekämpfung von Armut und zur Ermöglichung von Lebenschancen mit dem Aufbau eines Ortes begonnen, an dem sich Menschen einfinden konnten, gemäß dem Wort aus dem Johannesevangelium, in dem Jesus auf die Frage »Wo wohnst du  ?« antwortet  : »Kommt und seht« ( Joh 1,39). Um jemanden zum Kommen und Sehen einladen zu können, bedarf es einer stabilen, aufnahmefähigen und sichtbaren Struktur  ; eine solche Struktur eröffnet die Möglichkeit zur Einladung, erzwingt aber auch Hospitalität und Innerlichkeit  : Georg Sporschill

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Arbeiten und Aufträge, einen Rhythmus  : »Wir haben miteinander gebetet, geschrubbt, gearbeitet, und alles andere ergab sich irgendwie von selbst« (SM Z 15)  ; am Anfang stand also ein Haus  ; dieses Haus entfaltete eine Strahlkraft. Das Haus, symbolisch gesprochen, war zunächst eine Unterkunft, wurde dann als Bauernhof, als Handwerksbetrieb (Bäckerei) betrieben. Im Juni 1992 wurde ein Bauernhof angekauft  : »Unsere Farm sollte eine Schule der Sinne werden« (SM Z 21), was sich auch in der Begeisterung der Kinder im Umgang mit Tieren zeigt. Eine Struktur mit Arbeitsaufträgen bietet handfeste »Gelegenheiten«, in denen sich Menschen beweisen können, in denen Fähigkeiten eingeübt und umgesetzt werden können. Hindernisse auf dem Weg zu menschlichen Institutionen sind entsprechend unmenschliche Bürokratien. »Mühsam war der tägliche Papierkrieg mit Ministerien und Ämtern« (SM Z 19). (ii) Ein Fundament des Einsatzes von Georg Sporschill ist die Anerkennung einer »inneren Dimension« der Sozialarbeit. Letztere zeigt sich in Haltungen und einem Sinn für Prioritäten  : »Warten und Erwarten, nicht Ergebnis und Erfolg beschreiben das Innere der Sozialarbeit« (SZ M 11). Sporschill weist auf die Gefahr hin, dass es an Menschlichkeit und Zuwendung fehlen könnte, »dann verkümmert etwas in der Seele« (SM Z 126). Das Gebet hat seinen Platz in der Sozialarbeit, denn es gibt den langen Atem und es bindet Menschen in einer tiefen Weise in das Feiern ein (SM Z 126). »Vielleicht wird es wieder modern, dass man als Sozialarbeiter auch mit Glauben, Mystik, Gebet, Kirche etwas zu tun haben darf« (SM Z 127). Hier spricht Sporschill eine Dimension der Armutsbekämpfung an, die mit der menschlichen Innerlichkeit zu tun hat. Die Innenseite der Sozialarbeit kann auch mit dem Begriff »Spiritualität« angenähert werden. Sporschills Arbeit erinnert uns daran, die spirituelle und religiöse Dimension der Armutsbekämpfung nicht zu unterschätzen – einerseits für die sozialarbeiterisch Tätigen, andererseits für die von Armut betroffenen Menschen. Exerzitien und Bibelschulen sind hier nicht »Luxus«, sondern Teil des Fundaments der Arbeit. »Es gibt keinen Sozialfall, der den Horizont der Bibel überfordert« (S M Z 96). Eine religiöse Dimension im Leben fördert Resilienz. Die Innenseite der Sozialarbeit zeigt sich in der Versuchung der Selbstzufriedenheit  ; aus guten Gründen verwendet Sporschill das Bild des »Stachels im Fleisch« und berichtet von einem besonders schwierigen Kind  : »Gerade die Schwierigen, wie Moise einer ist, lassen mich nicht los. Sie lehren mich Beharrlichkeit und wecken meine Unzufriedenheit, solange das Ziel nicht erreicht ist … er ist ein Stachel in unserem Fleisch, damit wir die Verbindung mit der Straße nicht verlieren und uns nicht 230

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

mit unserem Erfolg begnügen« (SZ M11f ). Das zweite Bild, das diese Innenseite charakterisiert, ist das Bild der zweiten Meile, das sich auf das Recht des römischen Soldaten zur Zeit Jesu bezieht, einen Judäer zu zwingen, sein Gepäck eine Meile lang zu tragen – die zweite Meile, zu der Jesus aufruft (»Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm«  ; Mt 5,41), ist freiwillig. Aus dieser Freiwilligkeit entsteht eine besondere Kraft. »Die zweite Meile setzt Energie frei. Es ist das scheinbar Aussichtslose, es sind die Schwierigen, die uns antreiben, die in uns aber auch jenes Licht aufleuchten lassen, das unseren Weg erhellt« (SZ M 12). Das dritte Bild, das Sporschill verwendet, ist das biblische Bild des verworfenen Steins (Mt 21,42  : »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden«)  ; dieses Bild gibt eine Tiefendimension für die Arbeit mit Straßenkindern, denen Zukunft ermöglicht werden soll und die damit an der Zukunft des Landes mitarbeiten werden. Ein viertes Bild, das Sporschill verwendet, ist das Bild eines tiefen Brunnens  : »Hinuntersteigen wie in einen tiefen Brunnen, so würde ich Streetwork beschreiben. Dafür braucht es Menschen, die im Dunklen sehen können und Mut haben« (SM Z 46). Wieder stoßen wir auf die Innenseite der Sozialarbeit. Die Bedeutung dessen, was man die »Innenseite der Sozialarbeit« nennen kann, zeigt sich auch in der Bedeutung von inneren Einstellungen und Vorurteilen, mit denen auch Sporschill zu kämpfen hat  ; immer wieder stößt er auf Klischees  : »Vorurteile sind gerade in der Sozialarbeit ein Thema« (SM Z 150)  ; verfestigte Einstellungen, Überzeugungen, die das Handeln anleiten, spielen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Armut. (iii) Neben der Infrastruktur und der Anerkennung einer »Innenseite« der Sozialarbeit ist ein entscheidender dritter Baustein des Kampfes um Lebenschancen, wie ihn Georg Sporschill führt, die Einübung in Strukturen der Verantwortung. Sporschill eröffnet dadurch Gelegenheiten, dass er »Mitverantwortung« schafft. Er macht Jugendliche auf der Straße zu seinen Assistenten und stellt ihnen konkrete Aufgaben. »Was war nach den Jahren der Verwahrlosung auf der Straße der Schlüssel zu ihrer Rettung  ? Sie kümmerten sich um die Kleinen, übernahmen Verantwortung für Schwächere und wurden dadurch selbst stark« (SM Z 13). So wurde auch die Transformation von Carmen Brutaru möglich, die als selbstzerstörerische Kriminelle zu Sporschill kam und nun als Sozialarbeiterin tätig ist, weil sie Verantwortung übernommen hat (S M Z 47–50). Streetwork geschieht immer auch im Beisein eines ehemaligen Straßenkindes – »immer ist ein Jugendlicher dabei, der selbst einmal Straßenkind war. Er ist die größte Stütze Hospitalität und Innerlichkeit  : Georg Sporschill

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und die Brücke zum Milieu auf der Straße« (SM Z 122). »Es gibt nur einen Weg heraus aus der Armut. Hilf trotz deiner eigenen Not, dann geschieht eine Art Brotvermehrung« (SM Z 201). Dies ist der Wert der Solidarität, den Sporschill als Fundament für eine neue Gesellschaft erkannt hat. Infrastruktur, Innendimension und Mitverantwortung kommen in einem Schlüsselbegriff zusammen, dem Begriff, der den Namen für das Hilfswerk Sporschills gegeben hat  : Concordia.113 Armutsbekämpfung verlangt »Konkordanz«, ein Miteinander der Herzen. Der Begriff »Concordia«, Zusammenkommen, Zusammenklang und Zusammenführen der Herzen, steht symbolisch für diesen erfolgreichen Weg der Armutsbekämpfung, der gerade auch von dem gespeist wird, was Martin Kämpchen, »Freundschaftsdienst« genannt hat. Selbst wenn Sporschill den Jugendlichen keine Infrastruktur anbieten kann, freuen sie sich. »Was brauchen und schätzen sie  ? Freundschaft« (S M Z 123). Dabei ist ihm klar, dass das Zusammenbringen von Kulturen – Straßenkinder treffen auf Volontäre aus Westeuropa, die vergleichsweise weniger stark und gewitzt sind (SM Z 140) – von Risiken durchdrungen ist. »Kinder der Straße« treffen auf »Kinder des Salson« (SM Z 162). Teil dieses Freundschaftsdienstes ist das Ringen um einzelne Menschen – das verlangt »sehr viel Mühe, Fantasie und eine Aufmerksamkeit rund um die Uhr« (S M Z 196)  ; es entstehen Bindungen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können (SM Z 198) und den Menschen in seiner Einmaligkeit erleben lassen. Durch die Konkordanz im Einsatz gegen Armut entsteht die Möglichkeit, die Infrastruktur zu einem »Zuhause« werden zu lassen, »die kleine Gemeinschaft ist entscheidend, weil sie die Wärme der fehlenden Familie ersetzen soll. Große Kinderhäuser und ›Kasernen‹, wie sie früher üblich waren, können das tiefe Bedürfnis der Straßenkinder nach Geborgenheit nicht erfüllen« (SM Z 27) – eine Gemeinschaft lebt von einer Person (SM Z 28)  ; eine Gemeinschaft lebt aber auch davon, dass sich Machtverhältnisse verändern. »Eine Gemeinde wächst, wenn sie lernt, in den Schwachen die Starken zu sehen« (SM Z 106)  ; es ist auch für die Sozialarbeit wichtig, das Gefühl zu haben, beschenkt zu werden (SM Z 29) – Straßenkinder waren es, »die mein Leben reich machten, sie gaben Sinn und eine Geborgenheit, die mir niemand mehr nehmen kann« (SM Z 29). Es ist entscheidend, die Fragen zu stellen  : Wer braucht mich  ? Was brauchen jene, zu denen ich gesandt bin  ? (SM Z 123). Hier zeigt sich, dass Sporschill den Einsatz gegen Armut nicht als Ringen von »Gebenden« und »Empfangenden« sieht, sondern als gemeinsamen Einsatz gegen eine unmenschliche Conditio. 232

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Konkordanz baut einen familiären Raum, denn Straßenkindern fehlen Nestwärme und familiärer Raum am meisten (SM Z 16)  ; hier stehen eine Struktur und eine Gemeinschaft vor der großen Herausforderung, eine Lebenskultur aufzubauen, die familiären Raum ohne Eltern möglich macht – dazu bedarf es eines Rhythmus und fester Strukturen wie etwa fixer Essenszeiten oder Gebetszeiten (SM Z 62). Die große Herausforderung ist der Alltag – »wie in einer Familie war der Alltag oft mühsam« (SM Z 41). Einen Alltag aufzubauen, ist Teil einer Halt gebenden Struktur. Alltag ist das, was dem Leben Halt und Struktur gibt  ; Alltag ist die Gesamtheit der sich täglich wiederholenden Abläufe, und der Inbegriff dessen, was wir als »gewöhnlich« ansehen. Alltag hat mit Normalität, Erwartbarkeit, Vorhersagbarkeit, verlässlicher Wiederholung zu tun. Alltag gibt Verlässlichkeit, schafft aber auch die entscheidenden Herausforderungen. Agnes Heller hat sich in ihren Untersuchungen zum Alltag von der Überzeugung leiten lassen, dass die großen Leistungen einer Kultur aus Herausforderungen, Problemen, Konflikten und Bedürfnissen des täglichen Lebens herrühren. Das könnte sich auch in der Armutsbekämpfung ähnlich verhalten, wie das Beispiel Georg Sporschills zeigt, der in die Alltagsstrukturen investiert, um Stabilität zu schaffen. Alltag und die Bewältigung des Alltags strukturieren das Leben. Der Aufbau stabiler Strukturen ist stets auch Aufbau von Strukturen von Regelmäßigkeit, Aufbau einer vertrauten Umgebung. Hier ist ein System der kleinen Regeln sorgfältig zu pflegen, wenngleich das Entstehen eines Ritualismus vermieden werden muss (SM Z 63). Gleichzeitig darf der Hinweis nicht fehlen, dass zu einer »Ethik des Alltags« auch die hilfreiche Unterbrechung des Alltags gehört, das gemeinsame Feiern, das Teil der Lebenskultur ist, die Georg Sporschill in seinen Strukturen aufgebaut hat. Menschliches Leben findet dort statt, wo auch Alltag unterbrochen und gefeiert werden kann. Aristoteles hat an einer bekannten Stelle auf die Bedeutung dieser Freiheit hingewiesen  : »Überall den Nutzen zu suchen, passt nicht für den Hochgemuten und für den Freien«. Man erfährt viel über eine Gemeinschaft, wenn man den Blick darauf richtet, wie sie den Alltag gestaltet, aber auch durchbricht. Gemeinschaft lebt von gemeinsamem Feiern  : »Zu Ostern gab es Kuttelsuppe. Sie war nicht nach meinem Geschmack  : in Streifen geschnittene Gedärme und viel Fett … Lange Zeit hatte ich mich überwinden müssen, sie zu essen, aber für die Straßenkinder ist sie eine Delikatesse« (SM Z 60). Für Sporschill ist es entscheidend, den Kindern jene Begleitung zu ermöglichen, die ihrer fragilen Situation Rechnung trägt. »Für die Kinder ist die Rückkehr von der Straße in ein Haus schwierig. Sie brauchen Tag und Nacht Betreuung und sehr viel Verständnis. Schon kleine Konflikte können die neu geHospitalität und Innerlichkeit  : Georg Sporschill

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wonnene Geborgenheit zerbrechen lassen« (S M Z 110). Die Straße hat eigene Gesetze, auch eigene Überlebensmechanismen.114 Die Kinder sind durchaus nicht hilflose Opfer, die wimmernd in einer Ecke sitzen und darauf warten, gefunden zu werden. Die Straße hat durchaus ihre Freiheiten. So ist es wichtig, nach klaren Regeln und schrittweise Kinder zurückzuführen. Ein wichtiger Weg, Kindern eine Perspektive zu ermöglichen besteht darin, Kinder wieder in die Schule zu integrieren, sie durch Bildungsangebote an Bildungsprozesse heranzuführen. Auf die Frage nach einem Leitbild antwortet Georg Sporschill mit einem provokanten Satz  : »Ich möchte dankbare Kinder« (SM Z 133).115 Dankbarkeit ist die Tugend des Sich-Beschenkt-Wissens. Das ist eine durchaus kontrakulturelle Aussage  : »Dankbar sein heißt  : Ich sehe, was ich bekommen habe, und nehme das nicht als selbstverständlich. Wer dafür dankbar ist, der wird selbstständig, der wird stark, der wird sogar glücklich. Wer aber nur einen Anspruch nach dem anderen hat, der wird immer unglücklicher und abhängiger« (S M Z 133). Dieser Satz drückt eine Überzeugung aus, die einen »justice, not charity«Zugang provozieren könnte. Sporschill weist damit auch auf eine Grenze der Professionalisierung hin. Dazu kann auch der möglicherweise unprofessionelle Moment gehören, in dem einer Sozialarbeiterin Tränen in die Augen steigen, was beim verstockten Gegenüber eine merkliche Verwandlung ausgelöst hat, wie Volontärin Angela Kein berichtet (SM Z 67). »Der Sozialstaat, den niemand missen möchte und der seine unschätzbaren Verdienste hat, bringt manchmal die Gefahr mit sich, dass die Menschen glauben, es gebe ohnehin für alles eine Institution« (SM Z 125f ). Gegen die Unterstützungs- und Begleitungslücke hat Sporschill seine Hilfswerke gegründet – mit dem Schmerz, nicht allen helfen zu können (SM Z 104f ).

Schönheit gegen Armut  : Stacey Edgar MT 4  : Die gelernte Sozialarbeiterin Stacey Edgar hat eine Initiative zur Armutsbekämpfung ergriffen, die auf »die Innenseite der Dinge« Rücksicht nimmt und die Kategorie der Schönheit als relevante Dimension der Armutsbekämpfung anerkennt.116 Sie vermittelt schöne handwerkliche Produkte, die von armutsbetroffenen Frauen in so genannten Entwicklungsländern hergestellt werden, an den amerikanischen Markt. Armutsbekämpfung wird hier über ein Geschäftsmodell betrieben, »Schönheit« als ökonomische Kategorie erkannt. 234

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Diese Kategorie soll über die Geschäftstätigkeit auch verändert werden. In Indien findet Stacey Edgar beispielsweise schöne Handtaschen, die aus Plastikmüll gemacht waren  : Anita Ahuja, Gründerin von »Conserve India«, sagt dazu  : »I want people to look at fashion differently, but especially to look at poverty differently … I hate that when you say something is a recycled product, people think it should be worth less, not more. The same is true of these poor women  ; they are worth more than how society treats them« (EE G 87). Hier zeigt sich »Schönheit« auch als eine politische Kategorie. Am Anfang standen eine Steuerrückzahlung der Regierung und der Wille, damit etwas Sinnvolles zu tun. »What I did have was a dream to help women out of poverty« (E E G 1). Wieder zeigt sich die Innenseite der Armutsbekämpfung in einer Selbstverpflichtung, die von Überzeugungen, Träumen, Wünschen genährt wird. Edgar hatte Erfahrungen mit »Party hosting« und bemühte sich, diese Erfahrung auf ein neues Terrain zu übertragen  : »What if I could rally my Body Shop believers into shopping women out of poverty  ?« (E E G 40). Am 16. Mai 2003 organisierte sie eine große Party in ihrem Haus, präsentierte hundert Gästen Produkte von sieben Frauengruppen (E E G 46). Sie bat ihre Freundinnen, ihr beim »grassroots marketing« zu helfen, um »living rooms, hot pavements, and church basements« zu bearbeiten (EE G 49). Frauennetzwerke erzeugten den gewünschten Schneeballeffekt  : »The women I met in the homes of girlfriends around Colorado introduced me to amazing women abroad« (E E G 53). Sie lernt auch Frauengruppen über solche Kontakte kennen.117 Sie besucht Veranstaltungen, je mehr »events« sie besucht, desto mehr Produkte braucht sie auch (EE G 58). Stacey Edgar geht bei der Gründung ihrer Nichtregierungsorganisation »Global Girlfriends« von drei Grundüberzeugungen aus  : (i) Frauen sind die eigentlichen Motoren von Veränderung  : »As a social worker and a mom, I believed – and still believe – that economic opportunity for women holds the promise for real change in the world« (E G G 2)  ; »Dr. Yunus had been right in his assumption that poor women were both credit-worthy and capable  ; they only needed to have the opportunity and they could provide their own success« (E E G 190)  ; »women are the caretakers and first educators of every new generation« (E E G 3)  ; Stacey Edgar baute ihr Unternehmen auf Frauensolidarität auf (E E G 12)118, als einen Schritt »toward a new ›she-conomy‹« (E E G 51)119  ; nach ihrer ersten Indienreise ist sie schwer beeindruckt von den Frauen, die sie dort getroffen hat.120 (ii) langfristige Zusammenarbeit kann nicht auf good will beruhen, sondern muss echte Bedürfnisse auf beiden Seiten befriedigen. Diese Rede Schönheit gegen Armut  : Stacey Edgar

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von »desires« spricht eine Dimension an, die Tomáš Sedláček als Grundmotor der Wirtschaft identifiziert hat.121 Diese »desires« ernst zu nehmen bedeutet, die Idee eines zweiten Arbeitsmarktes in der wirtschaftlichen Kooperation zu vermeiden.122 Immer wieder musste Edgar heikle Entscheidungen treffen, welche Produkte sie nun auswählt und welche sie als ungeeignet zurückweist  : »This was always a line I had to straddle  : the divide between applying good business practices and choosing products that were sellable, and my moral obligation and desire to support the women who need the most help« (E G G 5). Sie musste lernen, sorgsam zu kalkulieren und nicht zu viel zu versprechen. 123 Sie musste die Produkte sorgsam auswählen, sodass sie gerade jene Frauen ansprachen, die sich weniger für den humanitären Aspekt interessierten und ihre Kaufentscheidung von einem Aspekt wie »Schönheit« abhängig machten.124 (iii) Der globale Markt bietet ungeahnte Möglichkeiten für Initiativen zur Armutsbekämpfung – »the Internet became my connection to women across the world whom I had never met« (E E G 43)  ; sie trifft eine Frauengruppe in Haiti und kommentiert  : »I wanted them to have a sense of being a part of something larger outside of their rural community, part of a sisterhood with women worldwide« (EE G 204)  ; sowohl die Basis der Produzentinnen als auch die Basis der Käufer/innen wurde schrittweise erweitert  : »In the beginning, Global Girlfriend customers were my girlfriends, my neighbours, and the moms at my kids’ schools. As my company grew from home parties to an e-commerce Web site, then added a mail-order catalog and a wholesale business, our customer base expanded to twenty thousand women around the country who eagerly used their purchasing power to help their girlfriends around the world gain economic security« (E G G 13). Der globale und auch der virtuelle Markt werden hier als Chancen wahrgenommen  : »Our artisans were a global network of girlfriends whose work helped the others in times of need.« (EE G 246) Stacey Edgar war es darum zu tun, ein Geschäftsmodell nach einfachen und klaren ethischen Grundsätzen aufzubauen – die Produkte sollten »women-made, fair trade, and eco-friendly« sein (E E G 2). Wenn sie sich Produkte ansieht, ist die erste Frage stets »Are they made by women  ?« (E E G 155). An einem Tag gerät sie in eine schwierige Situation, weil sie auf Produkte trifft, die sie schon versprochen hat abzunehmen, als sich herausstellt, dass sie zwar von einer Frau entworfen, aber von Männern hergestellt werden (EE G 165). »I felt strongly that my decision to avoid the ›man-made‹ products was not sexist, but based on our commitment to a larger cause of helping women in poverty« (E E G 167). Das Geschäftsmodell versteht sich als »fair trade«, das auf Grundsätzen beruht  : »Our 236

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

fair-trade model is based on three simple principles. First, transparency. Global Girlfriend openly shares the stories of every group making our products and believes that the only way buying habits change is when people see the things they buy as not just ›things‹ but as the people behind those items. This gives women the chance to connect, to learn about women’s lives abroad and see their hard work and talents flowing out through the beautiful products they made, and to know that each purchase directly affects the life of the woman who made that product. Second, and most important, is how Global Girlfriend pays our women partners. At the time Global Girlfriend places each order, we wire transfer a 50 percent deposit of the order total to the women’s bank account. Paying up front for our orders ensures that women do not have to put out their own money and resources for the materials … needed to make the products. We don’t want women to choose between feeding their families and buying materials … Third is what we pay. The goal is never to get the cheapest price for an item, but to arrive at a fair price for both parties« (E E G 51f ). Dieses Geschäftsmodell muss sich in schwierigen Situationen bewähren – in einem Fall konnte eine größere Bestellung, die bei Craft Link Kenia deponiert wurde, nicht geliefert werden, weil die Frauen von der Lebensmittelknappheit im Land betroffen waren  : »I reassured Susan that the women’s well-being was my deepest concern and that they needed to take care of themselves and their families first and foremost« (E E G 246)  ; Stacey Edgar kommentiert dieses Herangehen mit der Bemerkung, dass traditionelle Geschäftsmodelle wohl die Bestellung storniert hätten. Dabei ging es ihr um den Aufbau von unternehmerischen Aktivitäten, die eine Marktnische finden (E E G 3) und den Frauen »business mentoring« ermöglichen, »patient and caring business mentors to help them unlock their potential« (E E G 8). Stacey Edgar ist immer wieder beeindruckt von der Kreativität und den Fertigkeiten, die sie findet und den entsprechenden Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. »I took lots and lots of photos of the samples to get ideas for products we might be able to order or at least design from. I loved looking at what skills the women had and what patterns they already knew how to make and then thinking about how to change or combine elements into new designs« (EE G 80). Ermutigende Worte waren nicht genug. Es bedurfte der Schaffung echter und handfester »opportunities« (E E G 38). Die Grundfrage waren die Produkte. Hier formulierte Edgar, im Einklang mit der genannten zweiten Grundüberzeugung eine beherzenswerte Einsicht  : ������������������������������������������� »I call the problem the Carved Giraffe Theory. I don’t know anyone with a carved giraffe at the top of her birthday wish list, and carved giraffes are rarely the ›go-to‹ gift for Mother’s Day or any other holiSchönheit gegen Armut  : Stacey Edgar

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day. Even I, with a keen interest in all things African, have never felt a longing for a carved giraffe. My beef is not with wooden giraffes specifically. My problem is with not teaching artisans in the developing world what mainstream consumers are buying so that the artisans can increase their business and therefore reduce poverty in their lives and communities. Because fund-raising is a nonprofit’s real income, non-profit fair-trade organizations did not require their artisans to grow and change with the market. And so artisans made more giraffes, which sat in church basements across the nation until next year’s sale« (E E G 42).125 Die Produkte mussten also den Test eines nicht durch humanitäre Anliegen verzerrten Marktes bestehen, so testete sie die Produkte an ihren Freundinnen aus (E G G 45). Aus Gründen des Absatzmarkes möchte sie in Kleidung investieren, da amerikanische Frauen jede Saison Kleidung kaufen (EE G 107). Stacey Edgar reflektiert in ihrem Erfahrungsbericht immer wieder auf Dynamik und Begriff der Veränderung  ; sie schlägt dabei fünf Schritte vor (E E G 280–284  : learn, stop learning and just do it, start local, go global, be you), um damit den Hinweis zu geben, dass jeder Mensch seine je eigene Weise finden müsse, die Welt zu verändern  ; neben Vielfalt ist auch Bescheidenheit angeraten  : Stacey Edgar hatte gelernt, »that the smallest seemingly insignificant act can change someone’s life« (E E G 7).Wenn man etwa das Einkommen einer Frau, die weniger als 2 Dollar pro Tag verdient, verdoppelt, mag das nicht nach viel aussehen, bedeutet aber ganz neue Lebensmöglichkeiten und Gestaltungsräume (EE G 50). Veränderung beginnt in kleinen Schritten, was sie als Sozialarbeiterin in Chicago praktiziert hatte.126 Ähnlich wie Georg Sporschill erkennt auch Stacey Edgar die Bedeutung des Alltags für die Armutsbekämpfung. Visionen und Wünsche müssen den Lackmustest der Alltagstauglichkeit bestehen. »Like the spark of so many brilliant ideas, the flame of our vision for women in poverty was doused by everyday life« (E E G 30).127 Motoren der Veränderung sind Menschen  ; immer wieder trifft Stacey Edgar im Zuge ihrer Arbeit für »Global Girlfriends« auf bemerkenswerte Frauen, etwa Gertrude Protis Kita von Tanzania, die als Alleinerzieherin mit Alleinerzieherinnen arbeitet  : »She was spunky and competitive with an entrepreneurial spirit I was convinced would make her successful. In business it is not enough to be willing to work hard  ; it is not enough to be a skilled craftswoman  ; it’s not even enough to be a talented saleswoman. For women in developing countries who want to find a wider market, it’s important to be all three, plus a little lucky« (EE G 55f ). Beeindruckt ist sie auch von Soriya aus Indien, die sich auf Geheiß ihres Mannes zur Tilgung seiner Wettschulden prostituieren soll, dies verweigert, aus dem Haus flieht und sich Stickereifertigkeiten aneignet 238

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

(E E G 62f ). Ein Schlüssel zur Veränderung, wie sie Stacey Edgar betreibt, liegt wohl auch in der Fähigkeit, sich von Armut erschüttern zu lassen. Sie fährt nach Indien  : »I thought I was prepared for the poverty I would see I India. I was not. Watching people eke out an existence in the streets of this megacity brought me to tears. It made my efforts feel so tiny, as though they were futile in the face of so much desperation« (EE G 70) – diese Erfahrung und auch die Fähigkeit, eine persönliche Perspektive anzueignen128, geben ihr Motivation für die weitere Arbeit. Hindernisse in der Arbeit zeigen sich in Importschwierigkeiten (unvollständige oder beschädigte Lieferungen), Kommunikation (Bestellungen) und sogar im Umgang mit der Polizei, die sie des Menschenhandelns verdächtigt (»So what do you really do at Global Girlfriend, anyway  ?«  ; E E G 126f ). Ein Hindernis für Veränderung, wenn man so will, sind auch die klaren Grenzen – sie liegen unter anderem in höherer Gewalt und Umständen, die sich der eigenen Kontrolle entziehen. Das katastrophale Erdbeben in Haiti hat eine solche Grenze aufgezeigt (E E G 275). Gute Geschäfte können viel verändern, gerade auf der Mikroebene, sie kommen aber an Grenzen, wenn es um Makrokontexte geht  : »Working with women on economic development does not solve all of their problems. It doesn’t change their local resources, the violence of war, natural disasters, poor public transportation, local food security, corrupt government rulers, or unfair water rights – but it does give them money … Money is a tool for a better life« (E G G 8). Die Geschichte von Stacey Edgars Initiative ist auch eine Geschichte des Wachstums – sie erhält den Aveeno Woman With Organic Style Award vom Organic Style Magazine im Lincoln Center in New York, worauf »Whole Foods« auf sie aufmerksam wird (E E G 120ff ). Weitere Sichtbarkeit beschert ihr ein Artikel im Oprah Winfrey Magazine  : »As soon as the O issue hit newsstands in mid-April, I could barely keep up« (E E G 130). Dadurch wird Tim Kunin vom GreaterGoodNetwork auf sie aufmerksam und bietet ihr an, ihr Unternehmen zu kaufen  : »I just want to put the working capital into Global Girlfriend so it can reach its full potential for the women you champion« (EE G 133). Kunin und Edgar teilten die Überzeugung, dass »business« »the best vehicle for marketing products and building sustainable incomes for the poor« sei (EE G 135). Ein weiterer Schritt war die Direktinvestition in eine Frauengruppe, deren Infrastruktur unterstützt wurde (EE G 239), der Kauf einer kleineren Fair Trade Company, Gecko Traders (E E G 273) und die Übernahme von »World of Good« gemeinsam mit Tim Kunin (EE G 272f ). Stacey Edgars Hinweis, dass Veränderung ein je persönlicher Weg ist, bringt uns wieder auf die Innenseite der Armutsbekämpfung zurück. In Kenia fragte Schönheit gegen Armut  : Stacey Edgar

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sie einen Kollegen einmal, was denn das größte Problem in Kenia sei  : »›Human beings‹, Edward replied. ›Human beings are the most dangerous animals on the planet. They devour everything in their path … Second in Kenya is corruption … Although I guess that’s human beings too‹« (EE G 250).

Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen MT 5  : Martin Kämpchen lebt seit mehr als vier Jahrzehnten in Indien, seit 1980 in Santiniketan, 150 km nördlich von Kalkutta  ; er beschreibt seine Versuche, in den beiden Dörfern Ghosaldanga und Bishnubati Menschen aus der Armut zu begleiten.129 Er tut dies im Rahmen eines persönlichen Berichts, der auch allgemeine Einsichten zu vermitteln sucht  : »Dieses Buch ist ein Erfahrungsbericht. Allerdings will ich das Allgemeingültige und Typische meiner Erfahrungen herausschälen und das Persönliche nicht betonen« (MK H 8). Dabei betont Kämpchen die Innenseite von Armut wie auch von Armutsbekämpfung. Grundsätzlich hält Kämpchen Armut für ein »malum«. Er spricht sich entschieden dagegen aus, Armut naiv zu romantisieren, was durch die beunruhigende Fotogenität der Armen begünstigt wird (M K H 54). Diskurse, die über den »Reichtum der Armen« sprechen, spielen nach Kämpchens Urteil ein gefährliches Spiel (MK H 54)  ; »Armut ist nichts Erstrebenswertes« (MK H 132f ), »es kann kein Ideal sein, die mentale Begrenzung und Befangenheit in starren Traditionen, den Mangel an hygienischem Bewusstsein, die falsche Ernährung aus Mangel und Unkenntnis wider besseres Wissen nachzuahmen« (MK H 133). Menschen, die von Armut betroffen sind, sind auch nicht moralisch privilegiert. »Die Armen sind keine idealen Menschen, und ihre Armut hat nichts Ideales an sich, vor allem, weil sie kein selbst gewählter, freiwilliger Zustand ist und normalerweise auch keine Tugenden hervorbringt« (MK H 133).130 Arme Menschen sind durchaus in der Lage, »Menschen auszunutzen und seelisch zu erpressen« (MK H 140) oder auch »emotionale Schikanen« anzuwenden. Martin Kämpchen hat immer wieder die Erfahrung gemacht, instrumentalisiert worden zu sein 131  ; die »Begleitung«, die er als Königsweg der Armutsbekämpfung vorstellt, hat auch eine moralische Komponente. Die Erfahrungen Kämpchens können in folgenden Sätzen zusammengefasst werden  : Armut hat eine Innenseite  ; Armut bedeutet Instabilität  ; die intangible Infrastruktur der Gemeinschaft ist untrennbar verbunden mit der tangiblen Infrastruktur  ; Armutsbekämpfung ist Begleitung  ; Armutsbekämpfung hat eine Innenseite. 240

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Armut hat eine Innenseite. Armut hat mit geistiger Enge, mentaler Gefangenschaft zu tun, »Armut bedeutet wesentlich einen mentalen Zustand« (MK H 52)  ; »es ist eine Eigenschaft der Armut, dass sie [die Armen] keine Maßstäbe besitzen, in diesen Situationen des praktischen Lebens eine informierte Unterscheidung zu treffen« (MK H 39)  ; sie handeln nach Augenschein, oftmals getrieben von Emotionen. Sie handeln aufgrund falscher Überzeugungen, etwa auf der Basis der Überzeugung, dass Wasser per se reinigt, unbeschadet der Wasserqualität (MK H 43). Analphabetismus führt zu einer »Gefangenschaft in der sinnenhaften Welt« (MK H 63), »wer lesen und schreiben kann, dem öffnet sich eine Welt jenseits der sinnlichen Wahrnehmungen« (MK H 62), »die armen, analphabetischen Menschen in den Dörfern leben wie in einem mentalen Käfig. Mögen sie auch intelligent sein, sie können ihre Intelligenz nur minimal nutzen. Mögen sie praktisch begabt sein, sie können ihre Begabungen nicht optimal freisetzen« (MK H 63).132 Menschen, die nicht lesen und schreiben können, haben keine Kontrolle darüber, was sie mit ihrem Fingerabdruck »unterschreiben«. Manche Veränderungen wären einfach, doch stellt sich die mentale Enge der Tradition dagegen  ; es wäre beispielsweise kein Aufwand, am Hof Gemüse anzupflanzen, »doch das tun sie nicht, weil es ihre Eltern und die anderen Dorfbewohner auch nie getan haben« (MK H 43). Es geht um die Kultivierung einer inneren Kraft, wie Martin Kämpchen das nennt  : »Viele Arme könnten sich mit geringen materiellen Mitteln ein erträgliches Leben mit einem recht gesicherten Einkommen erringen, hätten sie die innere Kraft, einen einmal festgelegten Plan hartnäckig zu verfolgen« (MK H 86). Hier sind Vorstellungskraft und Selbstdisziplin gefragt. »Arme haben keine Fantasie, mit deren Hilfe sie sich Wege aus der Not zurechtlegen und dann diese Wege beschreiten können. Dieser Mangel an Fantasie, an geistiger Beweglichkeit, ist Teil ihrer Armut« (MK H 36). Damit werden Vorstellungskraft und eine Kultivierung von Vorstellungskraft zu einem Schlüssel der Armutsbekämpfung. Es mangelt an Vorstellungen über die Zukunft (MK H 86) und an einem Sinn für Wahlmöglichkeiten. Die mentale Enge zeigt sich auch im kleinen geografischen Horizont, durch den viele Arme eingeengt sind. Im Dorf seines Bengali-Lehrers trifft er auf dessen Frau, die ihn kein einziges Mal ansieht  : »Das Verhalten der Frau war typisch für das konservative Klima in einem Hindu-Dorf. Diese Frau hatte in ihrem Leben nur ihr eigenes Dorf, das einige Kilometer entfernt lag, und Bautijol gesehen« (MK H 19). Aufgrund dieser Enge fehlen Referenzpunkte, die Möglichkeit zum Vergleich und zur Einordnung, die Möglichkeit, die Kontingenz der Welt zu erkennen, also einzusehen, dass die Dinge anders sein könnten als sie sind. Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen

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Armut bedeutet Instabilität  : Das Leben von Menschen, die von Armut betroffen sind, »ist den Wechselfällen des Lebens total ausgesetzt« (MK H 46)  ; der Alltag ist mühsam, »nichts geht leicht von der Hand, nichts gelingt ohne zeitraubende und oft entnervende Komplikationen« (MK H 57)133  ; das Leben befindet sich »in einem instabilen Gleichgewicht, das von heute auf morgen umschlagen kann. Das kann, gerade wenn die Menschen jung und gesund sind und nicht für eigene Familien zu sorgen haben, auch gut gehen. Dann kann das Leben auch im Gleichgewicht gehalten werden  ; kippt aber eines dieser Elemente, stellt sich eine Notsituation ein, gerät das Leben aus den Fugen (MK H 35). Es beginnt ein Teufelskreis der Armut, wenn sie, von Krankheit geschwächt, in den Arbeitsprozess eintreten. Das Gleichgewicht erweist sich als trügerisch, die gesamte Lebenssituation ist fragil. Eine Großfamilie »strauchelt von Krankheit zu Krankheit und kann sich von dem erstickenden Gefühl der Hinfälligkeit kaum jemals erholen« (MK H 37). Krankheiten stellen eine außerordentliche Belastung dar, weil das Verhältnis zu Ärzten, die oftmals zu viel Medikamente verschreiben (»overdrugging«  ; MK H 40), ein Misstrauensverhältnis ist, vor allem aber auch – und dies betrifft die »Innenseite des Lebens« –, weil die armen Dorfbewohner »kein vernünftiges Verhältnis zu den Bedürfnissen ihres Körpers« haben (MK H 38)  ; es fehlen ihnen die für die Gesundheit entscheidenden Fähigkeiten zweiter Ordnung, die Fähigkeiten, mit eigenen Fähigkeiten und Grenzen umzugehen. Dazu kommt ein Fatalismus, was Krankheiten betrifft.134 Die Substanz der Armut besteht darin, dass die Armen dieses empfindliche Gleichgewicht nicht bleibend stabilisieren können. Tritt eine Notsituation ein, sind sie unfähig, sie aufzufangen und zu absorbieren« (MK H 54f )  ; damit hängt auch Kämpchens Beobachtung zusammen, dass »das Milieu der Armen« »weitgehend unstrukturiert ist. Es kennt keine eindeutige und gefestigte Ordnung, geformt etwa durch Gesetze, die jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft binden und eine gewisse Sicherheit geben« (MK H 47)  ; »in der unstrukturierten Grauzone eines armen Lebens kann sich jederzeit Unerwartbares ereignen« (MK H 145). Hier stoßen wir auf größere Verwundbarkeit, auf das, was William Vollman »accident proneness«135 genannt hat. Die Gemeinschaft kann Risiken zwar abfedern, aber auch keine Sicherheit bieten, auch die Gemeinschaft kann auf Dauer Notlagen nicht abfangen. »In der engen Familien- und Dorfgemeinschaft wird ein Mensch, der so in Not gerät, nur eine Zeit lang ein soziales Netz finden, das ihn auffängt« (MK H 36). Aufgrund der ständigen Bedrohung suchen Menschen, die von Armut betroffen sind, Sicherheit. Diese Sicherheit wird einerseits in der Gruppe136, andererseits in einem wie auch immer gearteten Job gesucht – »sie wollen nur irgendwie 242

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

irgendeinen Job ergattern« (MK H 83).137 Die Instabilität des Lebens zeigt sich auch im Umgang mit Behörden und Autoritäten, die kein Vertrauen vermitteln.138 »Das Milieu der Armut ist vom fehlenden Vertrauensverhältnis zwischen Armen und ihren Arbeitgebern verseucht« (MK H 59)  ; die undurchsichtige indische Bürokratie trägt auch nicht dazu bei, dass Vertrauen wächst (MK H 66) – die Armen sind kaum in der Lage, sich in den administrativen Labyrinthen zu behaupten. Die intangible Infrastruktur der Gemeinschaft ist untrennbar verbunden mit der tangiblen Infrastruktur. Das Leben in einem Dorf ist ein volles Leben, mit »Liebe und Distanz, Anstrengung und Freude, Trauer und Feiern« (MK H 33). Hier verbindet sich tangible Infrastruktur mit intangibler Infrastruktur. Es sind vor allem vier Kategorien, die im Kontext der intangiblen Infrastruktur eine herausragende Rolle spielen  : Familie, Ehre, Feste, Religion. Die Familie ist einerseits Ort des Schutzes, andererseits Ort des Drucks  ; sie ist »das natürliche Feld der Interaktion von Geben und Empfangen« (MK H 112), von Unterstützung und Begleitung, sie ist aber auch Hemmschuh und Bremse. Immer wieder hat Kämpchen erlebt, dass ein Vater einen Sohn aufs Feld zwingen wollte, anstatt Bildungswege zu unterstützen (MK H 29). Kämpchen berichtet von zwei einschlägigen Beispielen  : Jaykrishna erreicht einen Collegeabschluss und erhält eine Regierungsstelle, heiratet dann aber auf Drängen des Vaters und um des Familienfriedens willen die ungebildete Schwester seines Freundes, wird fortan mit Geldforderungen überhäuft, wagt es nicht, die Familientradition infrage zu stellen und kann sich keinen Wohlstand aufbauen (MK H 73–77)  : »Der Beamte, mittlerweile fünfzig Jahre alt, weiß, dass die dörflichen Traditionen nicht aus der Armut herausführen. Aber er kann nicht anders handeln, weil er sich tief an die Hierarchie der Familie gebunden fühlt« (MK H 76)  ; Jaiprakash entwickelt einen Finanzplan für sein Leben, schiebt deswegen die Heirat hinaus, hat einen guten Job bei einem Business College, wird aber von seinem Vater zur Heirat gezwungen  : »Der Vater schaute einäugig nur aufs ›Familienprestige‹, das er gefährdet sah, weil ein fast dreißigjähriger Mann unverheiratet blieb« (MK H 80)  ; wieder ist es eine Kategorie der intangiblen Infrastruktur, die Kategorie »Familienehre«, die den Ausschlag gibt  : »Der analphabetische, unbeweglich an den Traditionen festhaltende Vater hatte über den modern erzogenen und liberal empfindenden Sohn gesiegt, ihn systematisch in die Knie gezwungen« (MK H 82). Die Familienzugehörigkeit mit ihren Verpflichtungen erweist sich als Gewicht, das nach unten zieht. Diese Erfahrung ist nicht auf das ländliche Indien beschränkt.139 Die größte Bedrohung des Fortschritts der Kinder kommt nach dem Urteil Kämpchens von ihren Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen

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Eltern, die ihre Kinder nach einem oder zwei Jahren von der Schule nehmen, damit sie die Familie unterstützen (MK H 68). Hier erzeugt mentale Enge weitere mentale Enge, erweist sich als »Kardinalübel«, das weitere Übel erzeugt. Es gilt zudem, den Erwartungen der Dorfgemeinschaft zu genügen  ; dabei ist es anstrengend, sich im Netz der Gruppenbeziehungen zu halten, es bringt immer auch Demütigungen mit sich (MK H 57). »Ehre« ist eine eminent wichtige Kategorie für Menschen, die von Armut betroffen sind. Die Familiensituation wird »durch das strenge, oft hartherzige Ehrgefühl der Armen« (MK H 48) erschwert140, ein Fehltritt, selbst wenn er nur auf Gerüchten beruht, kann zur Stigmatisierung führen. Gerüchte spielen eine große Rolle im Dorfleben, sind Teil der Dynamik des Dorflebens.141 Der rigide Ehrbegriff ist mit der Lebenssituation verbunden  : »Eben weil sie wenig besitzen, möchten sie zumindest ihre Unbescholtenheit als einen unanfechtbaren Besitz bewahren und verteidigen ihn deshalb mit selbstgerechter Strenge« (MK H 48). Das Verständnis von »Ehre« und »Prestige« spielt auch bei denjenigen eine Rolle, die sich aus der Dorfstruktur entfernt haben, gebildete Menschen empfinden es mitunter unvereinbar mit »ihrem Gefühl für soziales Prestige«, in einer Lehmhütte zu wohnen (MK H 72). Eine dritte Kategorie ist das Fest. »Arme fühlen sich getrieben, Feste in einer Weise zu feiern, die ihre wirtschaftlichen Verhältnisse weit übersteigen. Sie investieren an diesen Höhepunkten ihres Lebens einen Überschuss an Selbstliebe, um die Demütigungen ihres sonst so ereignislosen Lebens zu kompensieren« (MK H 82). Das wirkt sich auch auf die Prioritätensetzung aus – Menschen operieren hier nicht nach einem rationalen, auf Langfristigkeit und einen Primat von sogenannten »Grundbedürfnissen« angelegten Schema  : »Die Feste und die religiösen Riten, die oft viel Zeit und bedenklich viel Geld kosten, lassen sich die Armen nicht nehmen. Auf sie verzichten sie erst, wenn sie Hunger und Not dazu treiben. Eher sparen sie an ausreichender Nahrung, bevor sie ihre Riten und Feste vernachlässigen« (MK H 34). Eine vierte Kategorie ist Religion – »Bezug zur Transzendenz, sei es durch Ritus, Gebet, Verehrung oder Symbole« (MK H 32) sind Signaturen des Dorflebens, wie es Martin Kämpchen erlebt hat. Armutsbekämpfung ist Begleitung. Ein Paradigma für Begleitung ist das Gespräch (MK H 189).142 Es handelt sich um einen gemeinsamen Prozess, der keine Einbahnstraße ist, sondern auch »Helfende und Geber verändern« muss (MK H 9). Damit ist ein Machtverzicht verbunden, der sehr schwer fallen kann (MK H 138). Dieser Machtverzicht bedeutet auch  : »Selbstlosigkeit«.143 Schulbildung ist oftmals ein nicht zielführender Weg, weil die Schule den Kindern, die mit ihren bildungsfernen Eltern über diese Probleme nicht sprechen können, Angst 244

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

macht (M K H 28). »Der Unterricht ist keine organische Fortsetzung und Ausweitung ihrer dörflichen Welt, er ist fremd und kalt und unfreundlich« (MK H 70), der Stoff wird oftmals autoritär eingetrichtert, »sie verschlingen den Stoff wie unverdauliche Essensbrocken« (MK H 69). Ähnlich angsteinflößend können Ärzte wirken  : Sie »sitzen proper gekleidet, mit sauberen Fingernägeln und exakt gekämmten, eingeölten Haaren in ihren oft klimatisierten Sprechzimmern. Wie kann in einer solchen Umgebung ein Dorfbewohner Vertrauen finden und sich öffnen, um über seine Krankheit zu sprechen  ?« (MK H 41)  ; in diesem Kontext geht alles so rasch, es gibt kaum Voraussetzungen dafür, Vertrauen zu fassen. Kämpchen findet sich immer wieder in der Rolle des Mentors  ; er nennt die am besten geeignete Form der Armutsbekämpfung »Freundschaftsdienst« (M K H 122ff ). Die Langzeitbegleitung verlangt den Begleitenden einiges ab  : »Die beste Voraussetzung dafür ist eine Langzeitbegleitung der armen Menschen durch Personen, die in einem täglichen oder doch regelmäßigen Austausch mit ihnen stehen. Diese ›Begleiter‹ sollen selbst schon so gefestigt und reif sein, dass sie die schwierige Position der Bezugsperson, eines Ratgebers und Inspirators, ausfüllen können« (MK H 122)  ; noch deutlicher  : »Ideal ist, wenn diese Bezugspersonen sogar Freunde der Armen sein können. Das ist nur möglich, wenn sie sich in wesentlichen Bereichen der Lebensweise der Armen anpassen« (MK H 122). So zeigt sich die Kategorie der »Freundschaft« als entscheidende Kategorie in der Bekämpfung von Armut.144 Freundschaftsdienst erkennt die zentrale Bedeutung des Vertrauens (MK H 130f ). Vertrauen ist ein knappes Gut, weil arme Dorfbewohner in der Regel in einer Atmosphäre aufgewachsen sind, »in der vertrauensvolle Beziehungen mit Menschen außerhalb der Gemeinschaft kaum denkbar sind« (MK H 130). Vertrauen ist auf die Vertrauenswürdigkeit der Begleitenden angewiesen, was wiederum eine Frage des Lebensstils ist  : »Die Begleiter müssen zunächst selbst bedürfnislos und einfach werden – ›arm‹ ähnlich wie die Armen, nur eben freiwillig und überlegt, um sich in ihrem schlichten, ernsthaften Menschsein den Armen verständlich zu machen. Nur so kann allmählich Vertrauen wachsen« (MK H 131). Kämpchen erwähnt explizit den Zusammenhang zwischen einfacher Lebensweise und einem »Blick nach innen« (MK H 185). Innerlichkeit erweist sich in dieser Lesart als Schlüssel zu gelingender Armutsbegleitung, die auch geistige Disziplin verlangt und ein stabiles Wertegerüst. In besonderer Weise sind Menschen, die »aus der Armut heraus ihr Leben gestaltet haben und nun bereit sind, jüngere Menschen resolut auf demselben Weg planvoll Schritt für Schritt zu begleiten« für die Begleitungsarbeit geeignet (MK H 90). Kämpchen unterstreicht die Bedeutung von »Youth Leaders«, die als treibende Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen

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Kraft im Dorf auftreten können, mit guter Ausbildung und Reflexionskraft und der Begabung, Nöte zu spüren und Leute überzeugen zu können (MK H 127). Ein wichtiger Aspekt von Begleitung ist die Frage nach dem »Telos«  : Kämpchen stellt eine Frage, die selten oder nur oberflächlich gestellt wird – wenn Armutsbekämpfung ein Weg ist, der aus der Armut herausführen soll, welches Ziel soll denn angestrebt werden  ? Es geht darum, Menschen aus der Armut herauszubegleiten, sodass sie auch als Personen reifen können (MK H 121). Es geht auch um moralische Entwicklung. Es kann kaum das Ziel von Entwicklungsbemühungen sein, Menschen in eine Lebenssituation zu bringen, in der sie sich ihrer dörflichen Herkunft schämen und die dörflichen Bande durchtrennen. Kämpchen berichtet von Lina, die als Kindergärtnerin in einem Dorf arbeitete, erste Gesundheitshelferin im Dorf wurde, sich dann aber um eine niedrige Regierungsstelle in einem Büro bewarb (MK H 84–86)  ; Lina gab später zu, in ihrer Arbeit in den Dörfern nicht genug Anerkennung erfahren zu haben (MK H 86). Auch hier kann man sich fragen  : Wurde das Ziel der Begleitungsbemühungen erreicht  ? Lina gab ein Leben auf, das die Lebensqualität vieler Menschen verbesserte, »ein Leben, das sie hätte tief befriedigen können« (M K H 85). Es ist offensichtlich, dass sich hier Fragen nach der Zielrichtung stellen. Das Ziel der Begleitung, wie sie Kämpchen beschreibt, muss auch darin bestehen, »epistemische Resilienz« aufzubauen, Widerstandskraft von innen gegen moralisch dubiose Entwicklungen  : »Es ist äußerst anstrengend für die Armen, dem Sog dieser materialistischen Verrohung Widerstand zu leisten. In der gesellschaftlichen Atmosphäre, wie ich sie beschreibe, ein Leben nach festen Werten zu führen, verlangt eine geradezu heldenhafte Mühe« (MK H 60). Es gilt das geistliche Gesetz, dass Besitz auch den Wunsch nach mehr Besitz weckt  ; »dies sind subtile psychische Vorgänge, die die Armen, ungeübt wie sie sind, selten erkennen und darum nicht steuern können. Oft geraten sie in den Sog des Immer-Mehr, der bald mit Entwicklung nichts mehr zu tun hat« (M K H 121). Hier sind moralische Standards erforderlich, um nicht der »avaritia« zu verfallen. Wenn sich Menschen aus der Armut in die Mittelklasse hochgearbeitet haben, scheint das Ziel erreicht – doch viele fühlen sich im neuen Milieu fremd, »sie leiden unter einem Mangel an Selbstbewusstsein und Sicherheit, als besäßen sie nur eine Gastrolle in der gebildeten Mittelstandsgesellschaft, in die sie nun aufgestiegen sind« (M K H 71). Das ist eine Erfahrung, die auch Carolina Maria de Jesus machen musste. Kämpchen hat eine klare Zielvorstellung  : Es geht darum, Arme in eine mittlere Position zu bringen  : »Die mittlere Position ist erreicht, wenn die Armen in bescheidenem und gesichertem Wohlstand leben, aber nicht in jene Klasse von 246

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Menschen aufstreben, die für die Nicht-Privilegierten keinen Blick übrig hat« (MK H 148). Kämpchen führt als Beispiel Satya Narayan an, der es als Sanitäter und Ernährungsberater mit Bescheidenheit, Geduld, einer liebenswürdigen Art und gutem Auftreten zu kleinem Wohlstand gebracht hat und klar sagt  : »Satya Narayan bleibt Satya Narayan« (MK H 156), also die Aussage macht, dass er sich vom Wohlstand nicht korrumpieren lassen werde. Das ist eine Frage der moralischen Ressourcen. Wenn der Begleitungscharakter der Armutsbekämpfung ignoriert wird, wenn die Gesamtsituation von Menschen nicht gesehen wird, scheitern Projekte oder richten gar Schaden an. Kämpchen berichtet von einem Toilettenprojekt. Eine Nichtregierungsorganisation stellte in der Nähe von Santiniketan billige Toiletten für die Dorfbevölkerung her, indem sie das Baumaterial lieferte und Geld für eine einfache Sickergrube bereitstellte. Toilettenhäuschen und Rohre sollten als Eigenleistung der Dorfbewohner/innen erbracht werden (MK H 118f )  ; nun vergaßen manche die Pumpe und mussten Wasser von weit her tragen, was ihnen zu lästig wurde, andere bauten die Toilette in der Nähe der Wasserpumpe und achteten nicht darauf, dass die Sickergrube tiefer als Pumpe liegen muss, worauf das Grundwasser verseucht wurde und Menschen erkrankten  ; andere benutzen Toilette, doch säuberten sie sie sich nicht mit Pulver und Bürste, sodass sie bald in unhygienischeren Verhältnissen lebten als zuvor – Fazit  : »Niemand hatte die Bauern in die wesentlichen Vorteile einer Toilette eingewiesen, den Bau und eine Zeit lang ihre Benutzung beaufsichtigt. Das Geld war verschwendet, und die Menschen lebten gefährdeter als vorher« (MK H 119). Das ist eine Frage der Begleitung, die auch die Geduld aufbringt, nicht nur »Strukturen«, sondern auch »Gewohnheiten« zu verändern.145 Es geht um eine neue Lebensweise (MK H 170). Armutsbekämpfung hat eine Innenseite  : Armutsbekämpfung hat mit der Veränderung der mentalen Landschaft zu tun (MK H 24), das ist auch eine Frage der Kultivierung von Vorstellungskraft  ; daher scheint es Kämpchen zu idealistisch zu sein, »die Armen zu fragen«, was sie denn wollten.146 Es braucht »eine innere Bereitschaft, das eigene Leben zu verändern« (MK H 112)147, es bedarf einer »Phase der offenen Möglichkeiten«, in denen armutsbetroffene Menschen beginnen, über ihr Leben nachzudenken (MK H 139). Das Neue verändert schließlich nicht nur den Kontext, sondern auch die Person (vgl. MK H 24)  ; die Überwindung von Armut verlangt einen anderen Zeithorizont, eine Überwindung der Gefangenschaft im wahrnehmbaren »Hier« und »Heute«.148 Der Schlüssel zu dieser Veränderung ist Bildung, sie gibt »unserem Wissen von den Menschen Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen

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einen reichen Kontext, den in den Dörfern niemand besitzen kann« (MK H 27)  ; durch Bildung bricht ein Möglichkeitssinn auf, der Martin Kämpchen selbstverständlich eigen ist  : »Bei jedem Besuch in Gopals erbärmlicher Hütte hatte ich mir vorgestellt, mit welch geringen finanziellen Mitteln ich dieser Familie, die mich stets aufmerksam als Gast aufgenommen hatte, ein wesentlich wertvolleres Leben geben könnte. Gopal hatte nie von einer Verbesserung gesprochen oder sie gar gefordert. Er lebte das Leben, wie er es kannte, ohne den Drang nach einer wesentlichen Verbesserung. Ich träumte aber davon, das Leben einer armen Familie zu verwandeln. Deutlich war es der Wunsch eines Europäers, dem es wichtig war, selbst in Würde, umgeben von den einfachen, wesentlichen Notwendigkeiten, zu leben und der dieses Ziel ebenso für seine Freunde, etwa für Gopal und dessen Familie anstrebte« (MK H 24)  ; Kämpchen teilte diese Vision mit Gopal, dessen Zeitempfinden sich neu strukturierte  : »Bisher gab es für ihn nur ein Heute und Morgen, und alle Tage sahen ähnlich aus. Jetzt füllten sich sein Morgen und Übermorgen mit Möglichkeiten, mit Verheißungen, aber auch Verbindlichkeiten« (MK H 24)  ; die Furcht vor dem Neuen vermischte sich mit Neugierde, mit einer bestimmten Gier nach dem Neuen. Die für die Armutsbekämpfung notwendige Veränderung der mentalen Landschaft bezieht sich auch auf Selbstvertrauen und das Vertrauen in Tun-ErgehenZusammenhänge. Kämpchen macht die Erfahrung, dass die Menschen vielfach »nicht gelernt [haben], sich selbst etwas zuzutrauen und zuzumuten –, zum Beispiel sich als kleine Geschäftsleute etwas aufzubauen –, sie haben von ihrer Umgebung nicht gelernt, dass Dynamik und harte, ehrliche Arbeit zu greifbaren Ergebnissen führt« (MK H 84)  ; hier ist die Anreizstruktur verzerrt. »Es ist ein Teil der Armutssituation, dass in ihr meist weniger die harte Arbeit, die ernsthafte Bemühung, die Ehrlichkeit in Geldsachen belohnt werden als Beziehungen, also Privilegien« (MK H 59). Das Milieu, der Makrokontext, der von Korruption gekennzeichnet ist, erschweren die Herausbildung jener mentalen aber auch moralischen Haltung, die den Kampf gegen die Armut aufnehmen lassen. Es geht nicht zuletzt um die Überwindung von Lethargie und die Idee, den Weg des geringsten Widerstands gehen zu können.149 Es geht vor allem auch um das Gut der Selbstachtung, das damit gestärkt werden kann, dass Armutsbetroffene ihren Beitrag an der Hilfe leisten können (MK H 143). Selbstachtung ist der Schlüssel zum guten Gebrauch von Strukturen  : »Was ist gewonnen, wenn eine Familie zwar ihr leckes Strohdach reparieren kann, aber in ihrer Selbstachtung gesunken ist und dadurch für eigene Anstrengungen, die Armut zu überwinden, gelähmt wird« (MK H 142). 248

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Die Innenseite der Armutsbekämpfung zeigt sich auch in den dafür notwendigen Tugenden, vor allem »Geduld« und »Demut« mit Blick auf die Komplexität. Armutsbekämpfung, wie sie von Martin Kämpchen vermittelt wird, erfolgt in langsamen Schritten  ; wir haben es hier mit fragilen Menschen zu tun und deren ebenso zerbrechlichen Beziehungsgefügen und nicht mit Maschinen, die gewartet werden müssen. »Die Begleiter einer Entwicklung brauchen vor allem eines, damit ein solcher Prozess glücken kann  : Zeit und Geduld« (M K H 121). Denn Entwicklung ist ein Prozess mit vielen Enttäuschungen, der gerade deswegen komplex ist, weil er mit dem reichen Innenleben von Menschen zu tun hat. 150 »Der Weg zum bescheidenen Wohlstand ist mit zahllosen kleinen Misserfolgen und Niederlagen gepflastert« (M K H 144). Erst die Geduld ermöglicht es, der Komplexität gerecht zu werden. »Armut ist »ein komplexer Zustand …, den man nur auf eine komplexe und langwierige Weise beheben kann« (MK H 52). Die Berücksichtigung der Komplexität ist mit Mühen verbunden, die oft gescheut werden  ; wir machen es uns da auch oft zu bequem  : »um uns von der emotionalen und geistigen Anstrengung zu befreien, die Armut in ihrer Ganzheit zu erfassen, geben wir Geld und Kleider« (MK H 52). Man muss die gesamte Lebenssituation in den Blick nehmen. Kämpchen berichtet von Nilu, der Schmuckstücke herstellt, ermuntert wird, einen Laden aufzumachen, »doch die Regelmäßigkeit, mit der er abends und morgens in seinem Laden ausharren und auf Kunden warten musste, behagte ihm nicht. Kein Besuch bei den Schwiegereltern, kein Kino in Bolpur, kein ausführliches Schwätzchen mit Verwandten im Nachbardorf … das Leben hatte keinen Geschmack mehr  !« (MK H 144). Der »Geschmack für das Leben« tangierte eine Innenseite der Existenz, berührt Werte und lebensformprägende Gewohnheiten. Geduldige Begleitung verlangt »mühevolle Teilhabe« durch die Begleitenden, um die Erarbeitung lokalen Wissens  : »Die Begleiter müssen sich zunächst mit Haut und Haaren in die überaus komplexe Situation der Armut hineinversetzen, alle Spannungen, Konflikte, all die kleinlichen Grabenkämpfe aushalten und überstehen. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen aus den Städten beginnen ihre Arbeit mit Statistiken, Projektplanungen und Durchführbarkeitsstudien unterschiedlicher Art und hoffen, damit das Problem der Armut zu lösen. Deren Ansatz verbessert allenfalls die Infrastruktur, in der die Armen leben, er verändert nicht die Armen selbst. Eine solche Veränderung kann einzig vom Menschen aus geschehen« (MK H 132). Die Innenseite der Armutsbekämpfung ist vor allem die Interiorität der beteiligten Menschen. Der Mensch mit allem muss beteiligt sein, Kämpchen spricht vom »partizipatorischen Prinzip«.151 Aus Unsicherheit heraus wird Geld eingesetzt (M K H 131). Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst  : Martin Kämpchen

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Dabei gilt der Grundsatz  : Geld allein hilft nie (MK H 137)  ; das hat auch mit dem schwierigen Verhältnis zum Geld zu tun, das entweder sofort ausgegeben oder aus Angst vor Neid versteckt wird.

Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz MT 6  : Jacqueline Novogratz verließ eine Karriere als Bankerin in der Chase Manhattan Bank in der New Yorker Wall Street, um sich in Entwicklungsprojekten, vor allem in Afrika, zu engagieren  ; nach einer Station bei der Rockefeller Foundation gründete sie einen Fonds zur Finanzierung von marktorientierten unternehmerischen Initiativen zur Armutsbekämpfung.152 Dabei lässt sie sich von der Überzeugung leiten, dass der Markt ein wichtiger »listening device« ist, der Dynamiken offenbart und armutsbetroffene Menschen als »consumers, not victims« wahrnimmt (N B S xii). Diesem Gedanken kann man noch mehr Plausibilität abgewinnen, wenn man Wirtschaft als Gespräch vesteht – Armuts­ bekämpfung wird dann nach einem Gesprächsmodell konzipiert. »So much can be learned by listening to the market« (N B S 263). Der Markt kann sowohl die Geldgeber als auch die Ausführenden korrigieren, dient als »feedback loop for both women and donors« (NBS 105). Novogratz hat eine Lernkurve in Armutsbekämpfung zurückgelegt, vor allem mit Blick auf gescheiterte Projekte und Fehler. Aus diesem Grund ist eine ihrer wichtigsten Einsichten die Bedeutung von Fehlern und die Bedeutung einer offenen Gesprächskultur über Fehler (N BS 218).153 Fehler sind eine eigenartige Angelegenheit – sie sind Lernmöglichkeiten. Es sei an dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu Fehlern gestattet  : Fehler implizieren zumindest zwei Momente, wenn sie als solche erkannt werden  : Zum einen ein Moment der Durchbrechung, ein Moment der Disruption. Wenn ich erkenne, dass ich einen Fehler gemacht habe, kann ich den eingeschlagenen und bisher verfolgten Handlungsweg nicht einfach fortsetzen. Ich werde in meinem Handlungsfluss durchbrochen und muss mich neu orientieren. Zum anderen finden wir bei Fehlern eine Erfahrung von Widerspruch, von Widerspruch zwischen »Sein« und »Sollen«. Gerade aus diesem Grund sind im Falle von Fehlern nicht selten Emotionen wie Scham oder Frustration anzutreffen. Es mag sinnvoll sein, die Kategorien »Fehler« und »Irrtümer« einzuführen und voneinander zu unterscheiden. »Fehler« und »Irrtümer« könnten insofern voneinander unterschieden werden, als Letztere mit einem mentalen Zustand, erstere mit einer Praxis bzw. einer Handlung zu tun haben. Es kommt 250

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

nicht von ungefähr, dass für »Fehlermachen« das Bild des Irrweges verwendet wird (»fehlgehen«). Fehler entstehen, um in diesem Bild zu bleiben, dadurch, dass man einen Weg verfolgt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, aber entweder der Weg sich als Irrweg herausstellt oder man von diesem Weg abweicht  ; in beiden Fällen ist das Resultat das Unvermögen, das beabsichtigte Ziel zu erreichen. Freilich setzt dieses Bild voraus, dass es »einen Weg zum Ziel« gibt, der vielleicht auch noch – wie dies eine Landkarte ermöglicht – angezeichnet und ausgewiesen werden kann. Das muss aber nicht der Fall sein  : »In vielen Situationen versuchen wir etwas zum allerersten Mal, weshalb die Wahrscheinlichkeit, etwas falsch zu machen, sehr hoch ist. In solchen Fällen sind ›Fehler‹ also nahezu unvermeidbar …«154 Armutsbekämpfung, die sich auf neue Wege begibt, wird Fehler sinnvollerweise als unvermeidbar einstufen und eine entsprechende Kultur entwickeln. Hier muss Spielraum für ehrliche Fehler, »honest mistakes« sein. Grundsätzlich ist es hilfreich, zwischen »Fehlern in der Planung« (war bereits die Planung fehlerhaft  ?) und »Fehlern in der Ausführung« (die Planung war korrekt, aber die Ausführung mangelhaft) zu unterscheiden.155 War ein Projekt bereits in der Planung mangelhaft oder war der Plan an sich gut, die Ausführung ist aber – etwa aufgrund von Korruption, einem pervasiven Phänomen156 – gescheitert  ? In der philosophischen Literatur findet man zwei große Modelle über Fehler und Irrtümer  : (i) Das Modell des Mangels und (ii) das Modell der Regelverletzung. (i) Das Modell des Mangels rekonstruiert einen Fehler als einen Mangel an relevantem Wissen oder an einschlägigem Können, wobei es gesollt ist, dass die Person, die den Fehler gemacht hat, über dieses Wissen oder dieses Können verfügt. In einer Kurzform ausgedrückt  : Fehler sind Mangel an gesolltem relevanten Wissen oder Können. Esther Duflo arbeitet mit einer Methode, die klinischen Studien angeglichen ist  ; sie untersucht ökonomische Realitäten und den tatsächlichen Umgang mit wirtschaftlichen Ressourcen durch die Ärmsten der Armen.157 Damit werden Wissenslücken gefüllt. Mangel an Wissen ist durchaus Thema in der Armutsbekämpfung vor, da es sich auf ungesichertes Material stützt. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verstehen etwa unter »economic literacy« etwas anderes als die Expert/inn/en, die die Makroprogramme schreiben.158 Hier können Wissensdefizite zu Fehlern führen. Dieses Modell hat prominenterweise Descartes vertreten – zu finden in der vierten seiner »Meditationes de prima philosophia«. Ein Fehler wird als »privatio scientiae«, als Mangel an Wissen, das man hätte haben sollen, rekonstruiert. In diesem normativen Moment (Wissen, über das man eigentlich hätte verfügen müssen) liegt ein Moment von Schuld und Verantwortung – und damit die Idee der Vermeidbarkeit des Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz

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Fehlers. An diese Beobachtung kann man sofort die Literatur über »Hindernisse auf dem Weg zum Wissen« anschließen, die auch für die Armutsforschung von Interesse sind – nach Roger Bacon etwa sind es vier große Hindernisse auf dem Weg zum Wissen, die wir bedenken müssen  : Die Meinung der vielen, die langandauernde Gewohnheit, die brüchige Autorität, die Eitelkeit.159 Nach Bacon hat es durchaus etwas mit vermeidbarem Versagen zu tun, wenn der Weg zum Wissen von diesen Hindernissen belastet ist. Ähnlich haben sich neben Descartes selbst auch Francis Bacon oder John Locke Gedanken über vermeidbare Hindernisse auf dem Weg zum Wissen gemacht, die durch die Wahrnehmung der eigenen epistemischen Verantwortung überwunden werden können. Für unsere Diskussion können wir die Frage stellen, welche Hindernisse auf dem Weg zum armutsrelevanten Wissen anzunehmen sind (etwa jene Hindernisse, auf die urbane Expert/inn/en in ländlichen Kontexten stoßen) und wie diese vermieden werden können. Dieses Modell vom Fehler als Wissensmangel kann mit entsprechenden Unterscheidungen vertieft werden – an welcher Art von Wissen mangelt es  ? Diese Frage ist gerade auch für die Armutsbekämpfung von Interesse – mangelt es an technischem Wissen, an Wissen um kulturelle Zusammenhänge, an Wissen um politische Hintergründe, an naturwissenschaftlichem Wissen  ? Was muss ich wissen, um die Hygienegewohnheiten in einem Dorf zu verändern  ? Reicht es, Seminare abzuhalten und Toiletten einzurichten  ? (ii) Das Modell der Regelverletzung beschreibt einen Fehler als »malpractice«, als nicht den Standards entsprechende Praxis, als die Verletzung von entscheidendem Regelwerk, das die Durchführung einer bestimmten Handlungspraxis anleitet.160 Auch kann ein Moment von Schuld und Verantwortung vorliegen, wenn wir es mit fahrlässiger oder gar vorsätzlicher Nichtbeachtung von Standards, die eingehalten werden sollten, zu tun haben. Ohne die Idee der Regel keine Fehler und ohne die Idee von Fehlern auch keine Idee von menschlicher Praxis. Nach diesem Modell scheinen Fehler unvermeidlich, solange keine verbindlichen Standards eingeführt worden sind.161 Dieses Modell legt die Idee nahe, dass ein dichtes und explizites Regelwerk die Einführung einer vernünftigen Fehlerkultur erleichtert – ein Motiv, das wir aus der Literatur über Korruptionsbekämpfung kennen. Ein Regelwerk – so ein entscheidender Schritt in der Korruptionsbekämpfung – kann explizit gemacht und Verhalten auf das Einhalten von Standards hin geprüft werden. Typische Dynamiken im Umgang mit Fehlern inkludieren »shifting of blame«, in institutionellen Kontexten ist das Umschichten von Verantwortung (»vom System auf das Individuum« – »menschliches Versagen auf Mikroebene«  ; oder 252

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

»vom Individuum auf das System« – »Mangel an klaren Vorschriften oder Vorsichtsmaßnahmen«  ; oder innerhalb einer Hierarchie von unten nach oben und von oben nach unten) eine häufig anzutreffende Praxis. Ein weiteres hilfreiches begriffliches Instrument in der semantischen Landschaft dürfte das Begriffspaar »patterns and perpetuation« sein. In Institutionen bilden sich Handlungsmuster heraus, die sich zugunsten der Fehlerbildung verfestigen können. Man könnte in bestimmten Zusammenhängen auch von einer »perpetuation of error«162 sprechen. Es scheint in diesem Zusammenhang hilfreich zu sein, gemeinsam mit Sverre Wide zwischen »einfachen« Fehlern und »systematischen« Fehlern zu unterscheiden.163 Jacqueline Novogratz hat eine Reihe solcher systematischer Fehler im Kontext von Armutsbekämpfungen vorgefunden, vor allem auch den Fehler einer »Kultur des Schweigens«, die Fehler nicht zur Sprache bringt und als Lernanlassfälle einordnet. Das ist insofern ein ernsthaftes Problem, als Fehler nicht nur wiederholt werden, sondern sich auch vergrößern  : Fehler bringen Folgefehler mit sich, Fehler bilden Kaskaden. Wieder sind wir bei der Herausforderung einer ernsthaften und aufrechten Gesprächskultur. Jacqueline Novogratz hatte festgestellt, wie schwer es war, Menschen dazu zu bringen, offen über ihre Situation zu sprechen.164 Die betroffenen Frauen hatten ihre eigenen Interessen, mussten vor allem zu Geld kommen und sahen sich gezwungen, strategische Antworten zu geben, die Geldgeber hatten ihre eigenen Interessen und waren deswegen auch nicht bereit, zuzuhören.165 »The real problem with the money from such donors was that it usually came with strings attached – they wanted us to carry out their projects and typically wanted the money spent within a year« (N BS 59). Es verwundert nicht, dass Novogratz das Modell des Gesprächs und die Tugend des Zuhörens als Schlüssel positioniert (»listening is not just having the patience to wait, it is also learning how to ask the questions themselves«  ; NBS 86  ; vgl. NBS 141f ).166 Anlassfälle für Fehler gibt es zur Genüge in der Bemühung um Armutsbekämpfung. Beispiele für Fehler durchziehen ihren Bericht  : Ein teurer italienischer Designer wird von UN angestellt, um eine Plakatserie für eine Impfkampagne zu entwerfen  ; es entstehen wunderschöne Fotos mit entsprechenden Texten, die aber dem Umstand, dass die meisten Mitglieder der Zielgruppe Analphabet/ inn/en sind, nicht Rechnung tragen (NBS 50)  ; sie berichtet von einem Projekt in Kenia, bei dem Frauengruppen 500 Dollar zur Realisierung einer Geschäftsidee erhalten  : »Initially, the program looked like a great success. Grassroots projects sprang up among women’s groups across Kenya. The donors would visit, say, a group of a dozen women who had built a chicken coop for a couple hundred Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz

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chicks. The women would proudly present eggs that had recently been laid and talk about how they planned to sell them to the community. They would serve the donors Fantas and, often cookies, and sometimes sing and dance, as well. The donors would leave feeling satisfied, happy that they were making such a difference … In reality, most donors were doing little to change lives, and in some cares, they were making things worse for the women’s groups – at least that was my growing impression. Too often, 6 months after receiving their grant, a project’s chickens might all die from a flu for which the women lacked proper medicines. Sometimes neglect by individual group members would leave a project in decline. There seemed neither rhyme nor reason to the ways different groups took on their projects, and no one seemed to pay attention to the actual finances« (N B S 95). Hier zeigt sich der Mangel an Rechenschafts- und Verantwortungsstrukturen, das geringe Interesse an Aufrichtigkeit und die Dynamik einer Fassade, die die Geldgeber zufriedenstellen mochte.167 Ein anderes (an sich) gescheites wie auch (in der Praxis) gescheitertes Projekt war die Idee, Frauengruppen in Slums einen »Wasserkiosk« (Wasserpumpe in einer kleinen Hütte zum Verkauf von Wasser) zu ermöglichen. Das Problem bestand oftmals darin, dass die Pumpen nicht funktionierten oder defekt wurden und nicht repariert werden konnten, dass die Frauen, die am Kiosk arbeiten sollten, nicht erschienen, weil sie es sich nicht leisten konnten  : One group of four candidly told us it was easier earning income the way they’d always done it, whether by selling tomatoes or charcoal on the street. Besides, their water tap had broken one day, and they didn’t have the money to repair it« (N B S 98). Novogratz sah hunderte Maismühlen, die zur Arbeitserleichterung gedacht waren, aber mangels entsprechender fachkundiger Wartung oder aufgrund von mangelnden technischen Kenntnissen im Reparaturbedarfsfall oder aufgrund von Treibstoffmangel zu Entwicklungsruinen wurden (N B S 130). Immer wieder zeigte sich »kurzes Denken«, um es einmal so zu nennen, das an einem bestimmten Punkt (etwa in der Frage der langfristigen Alltagstauglichkeit) Tiefe und Weite vermissen ließ und entsprechend inkonsequent war. »Good-hearted people would build schools without thinking about the costs of hiring and supporting a teacher – not for months but for years – and the school would stand empty. Women would be encouraged to make crafts though there was no market for them, and so we’d visit homes piled to the ceilings with unsold sisal baskets« (N B S 98). In einem Fall sieht sie im Rahmen e­ ines Vertrags mit der Weltbank in Gambia, dass Männer (Weltbankexperten) mit Männern (Repräsentanten der Regierung) ein Bewässerungsprojekt aushandeln, wobei übersehen wird, dass für den Reisanbau vor allem Frauen zuständig sind  ; das 254

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Projekt wird von Männern betrieben, die weder mit Reis noch mit Bewässerung Erfahrung haben, sodass die geerntete Reismenge nicht nur nicht steigt, sondern sogar sinkt (N BS 129f ). Ein Fehler, den Novogratz selbst erlebt hat, ist der Verlust des Fokus – man hat eine Mikrokreditinitiative für Frauen und bekommt von einer NG O 100 000 Dollar angeboten, um Ernährungsworkshops in Dörfern durchzuführen (NBS 59f )  ; es entwickelte sich ein echter Konflikt mit einer Kollegin, die kein Problem damit hatte, den Fokus etwas aufzuweichen  ; »Agnes was always inclined to say yes to the money when it came our way« (N B S 60)  ; ein andermal offerierte eine Agentur Geld, sodass Frauen aus afrikanischen Dörfern an e­ iner Konferenz in Indien teilnehmen konnten, um über Unternehmertum lernen zu können  ; Novogratz hielt dies für eine ausgesprochen dumme Idee, weil die Frauen weder Englisch noch Französisch beherrschten, die Reise wurde dann auch zu einem Desaster (N B S 68), weil das Reisen überforderte. Die Projekte folgten freilich den Bedingungen der Geldgeber, die jeweils ihre eigenen Anliegen hatten. Diese Fehler ließen Novogratz auf die Bedeutung der Perspektive und des »Insider«-Wissens reflektieren. Projekte werden häufig auf der Basis von oberflächlichem Außenseiterwissen geplant. Hier liegt ein »Mangel an Wissen« vor, aber auch die Herausforderung überheblicher Einstellungen. »I found myself frustrated … by development ›experts‹ who looked in from the outside and suggested clever solutions that created a lot of noise, distorted markets, resulted in systemic corruption, and accomplished little« (N B S 94), denn »few of the experts tried putting themselves in the shoes of the women« (N BS 94). Novogratz selbst sah sich in dieser Rolle, als sie begann, in einem afrikanischen Kontext zu arbeiten  : »I was a typical American  : Give me a few facts about a country and I felt perfectly comfortable commenting on the place« (N BS 13)  ; sie macht sich ihre Gedanken über die expatriats in Ruanda, »realizing that none of us … understood much at all about Rwanda or Rwandans, though we were the ones called ›experts‹« (NBS 41). Sie macht es sich zum Ziel, die Menschen, für die sie arbeiten will, kennenzulernen  : »As I walked to the African Development Bank, I waved at the popcorn vendor and the shoeshine man whom I passed daily, and they both greeted me with big smiles. When I’d first arrived, I’d thought I’d have more time with people like them. I’d wanted to know who low-income people were so I could be of greater service, but I had spent most of my time in big institutions with people who chattered and hobnobbed at conferences and did very little listening.« (N BS 27).168 Besonders erschreckend empfand Novogratz in der Begegnung mit den »expats« den Zynismus und den fehlenden Glauben Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz

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an die Menschen, mit denen sie arbeiteten (NBS 41). In diesem Zusammenhang formulierte Novogratz eine interessante Einsicht  : »A creeping cynicism seemed inevitable in anyone who is always a visitor rather than someone with no choice but to live with the consequences of what he or she does« (NBS 42). Das Modell des Besuchers ist offensichtlich grundsätzlich verschieden vom Modell des Begleiters, das Martin Kämpchen bemüht hat. Fehler geschehen schließlich auch, wenn man den Auftrag zur Begleitung nicht ernst nimmt. Novogratz erzählt von Frauen, die »outsized dreams« hatten, etwa das Beispiel einer Frau, die ein Buchgeschäft eröffnen will, obwohl sie Analphabetin ist  ; als Motivation für das Projekt gibt sie an, dass sie lesen lernen möchte und wünscht, dass ihre Kinder Bücher haben (NBS 58). Die wichtigsten Einsichten von Jacqueline Novogratz betreffen Komplexität und Selbstreflexion  : Nach Jahren konnte sie sich die Komplexität der Herausforderungen eingestehen. Es gibt in der Armutsbekämpfung keine einfachen Lösungen oder eine einheitliche Ideologie (N BS xiii f ). Anerkennung der Komplexität einer Kultur ist bereits ein erster Schritt, um Borniertheit zu vermeiden (N B S 204). Sie muss lernen, die Tiefenschichten einer Kultur, die »Innenseite« einer Kultur zu verstehen – etwa die Bedeutung eines Büros als Ausdruck von Status und Macht in Afrika (NBS 21), wobei Macht fast noch wichtiger als Geld in einem afrikanischen Kontext ist (N BS 25). Sie muss lernen, mit subtilen Dynamiken von Veränderungsresistenz und Machtverhältnissen umzugehen  ; in Kenia, im ernsthaften Bemühen, etwas Sinnvolles zu machen, handelt sie mit ihrer Vorgesetzten aus, eine »baseline study of where the organization stood« (NBS 31) zu erarbeiten  ; sie investiert viel Zeit und Mühe, identifiziert Fehler und Potentiale, macht Vorschläge, nichts davon wird jedoch implementiert  : »Your very good report has been lost. We can’t find it anywhere. I’m so sorry after all the work you did« (NBS 33)  ; ihr dämmert es  : »Maybe they didn’t really want to change« (NBS 33).169 Ähnlich wie in der Schilderung Martin Kämpchens stoßen wir auch hier auf die Bedeutung des Veränderungswillens, der inneren Einstellung. Sie muss erkennen, wie kompliziert das Gemeinschaftsgefüge das Leben machen kann, sie erkennt in Ruanda  : »Life was neither as easy nor as free as I had imagined« (NBS 64). Sie versucht, mit einer Frauengruppe in einer Bäckerei rasche Umstellungen herbeizuführen, wird aber auf den Boden der Realität zurückgeholt, als die Frauen – das Beispiel ist uns bereits begegnet – ihr erklären, dass sie sich nicht ausschließlich auf das Geschäft konzentrieren können, da ihr Leben eingewoben ist in viele Verpflichtungen, Geburten, Hochzeiten, Begräbnisse (N BS 90). Die Anerkennung der Komplexität der Situation führt zur Notwendigkeit von Ge256

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

duld  ; es kann auch vorkommen, dass ein Jahr oder gar zwei Jahre verloren gehen (NBS 241). So verwundert es nicht, dass Novogratz mit der erlernten Bedeutung von »Geduld« den Zugang über »patient capital« entwickelt. Eine zweite Einsicht war die Notwendigkeit, die eigene Rolle und den eigenen Status zu bedenken – die Umstellung von einer Wall Street Bankerin fiel Novogratz schwer  : »I remember mornings when, leather briefcase in hand, I felt a heady rush just walking into Chase Manhattan Bank’s massive marble lobby of the bank. And a big part of me missed the 22nd floor at the bank where I had a specific role and a desk in a skyscraper on Wall Street that was filled with colleagues who understood me and I, them« (N B S 56)  ; sie musste ihren Platz mühsam finden, die erste naïve Hilfsbereitschaft überwinden.170 Sie musste sich, um im Rahmen von Initiativen zur Armutsbekämpfung nützlich sein zu können, auf die Fähigkeit der Selbstreflexion besinnen  : »I finally understood  : In order to contribute to Africa, I would have to know myself better and be clearer about my goals. I would have to be ready to take Africa on its own terms, not mine, and to learn my limits and present myself not as a do-gooder with a big heart, but as someone with something to give and gain by being there. Compassion wasn’t enough« (N B S 28). Hier stoßen wir wieder auf einen Aspekt von Innerlichkeit in der Armutsbekämpfung. Das ist kein behaglicher Denkprozess, der zu einer definitiven Lösung führt, sondern »Stachel im Fleisch« und ständiges Ringen.171 Sie muss lernen, das zu tun, was sie »navigating privilege« nennt (N BS 158). Darunter ist wohl die Fähigkeit zu verstehen, den eigenen privilegierten Status als solchen zu erkennen, wo notwendig, Privilegien abzubauen und die bestehenden Privilegien im Sinne des Anliegens der Armutsbekämpfung zu nutzen. Eine entscheidende Lernerfahrung machte Novogratz in Ruanda mit der »blue bakery«  : »I wanted to know what it would take to build a business that actually created jobs for poor people« (NBS 72). Sie identifiziert eine Frauengruppe, die eine Bäckerei betreibt. Sie besucht den Ort. In der so genannten Bäckerei tut sich nicht viel, die Frauen sitzen herum, warten auf Besucher, sind es gewohnt, lange haben sie auch auf Jacqueline gewartet  : »I hated the dynamic  : powerless women just sitting, waiting all day if a donor was expected to visit, hoping someone might come in the door with help but feeling powerless to do anything for themselves« (N B S 74). Es stellte sich nach einigem Bohren heraus, dass die Bäckerei große Verluste macht, die zwei charities abdecken (NBS 76)  ; die Frauen verdienten dabei 50 Francs pro Tag. Novogratz erkannte ein gutes Beispiel für ein fehlgeleitetes Projekt  : »Six hundred and fifty dollars a month in charity to keep 20 women earning 50 cents a day. You could triple their incomes if you just Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz

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gave them the money. It was a perfect illustration of why traditional charity too often fails  : In this case, well-intentioned people gave poor women something ›nice‹ to do, such as making cookies or crafts, and subsidized the project until there was no more money left, then moved on to a new idea. This is a no-fail way to keep already poor people mired in poverty« (N B S 76). Sie bietet an, mit den Frauen an einer echten unternehmerischen Führung der Bäckerei zu arbeiten. Das Projekt wird für Novogratz zu einem Pilotprojekt  : »The world had written off this little group, yet they had a chance to do something important for themselves, and in doing so, maybe they could change perceptions of what the poorest women are capable of accomplishing« (N BS 77)  ; sie erweitert den Kundenkreis erheblich, indem sie ihre eigenen Kontakte nützt und Botschaften und N G O s dazu bringt, Kunden der Bäckerei zu werden. Das viel diskutierte »Sozialkapital« wird ein Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Ein weiterer Schritt war die Schaffung eines ansehnlichen Verkaufsraums, sodass direkt verkauft werden konnte  ; wichtig auch der Einsatz für das intangible Gut des Prestiges, »the signs were written in French for prestige, though most people in Nyamirambo could understand only Kinyarwanda, and many people couldn’t read. Status counted for a lot« (NBS 84). Ein wichtiger Schritt war auch die Erweiterung der Produktpalette, etwa durch die Produktion von Bananenchips, die auch in den Geschäften Kigalis verkauft wurden – »Sometimes, a few of the women and I would walk through little shops in town just to point proudly to our products on the shelves. Together we had created a new product that hadn’t existed before – and people liked it  ! Nothing could be more satisfying« (NBS 87). Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg waren einmal mehr Fragen von Vertrauen, Rechenschaft und Verantwortung.172 Wieder ging es um die Frage der Ernsthaftigkeit  : »I realized that some women didn’t take the system seriously because they didn’t see us taking it seriously« (N BS 80)  ; ein neues Buchhaltungssystem wurde eingeführt und eine klare Anreizstruktur geschaffen (Grundlohn, Bonus für Verkäufe)  ; ein zweites Hindernis waren Kommunikationsschwierigkeiten (exemplifiziert an der simplen Frage, welche Farbe das Bäckereigebäude denn bekommen solle, was aus den Frauen nicht herauszubringen war – erst als Novogratz die Farbe »Blau« durchgesetzt und aufgetragen hatte, erfuhr sie, dass »Grün« die traditionelle Farbe der Frauengruppe war)  ; ein drittes Hindernis waren Grenzen des Marketings, Frauen in einem ruandesischen Kontext können aus kulturellen Gründen kein Direktmarketing betreiben, bei dem es darum geht, fremde Menschen anzusprechen  ; ein viertes Hindernis war die Qualitätskontrolle – die Frauen hatten verdorbenes Öl verwendet, weil sie das Öl nie austauschten, sondern immer nur 258

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

etwas frisches Öl hinzufügten. Novogratz musste »Emergency Management« betreiben, alle Kunden anrufen und sich entschuldigen, um dann Standards der Qualitätskontrolle einzuführen (N B S 86). Ein fünftes Hindernis war wiederum der Kultur geschuldet  : Sie scheiterten im Versuch, nahrhaftes Brot auf den Markt zu bringen  ; »poor urban Rwandans preferred the white bread, not because it tasted better but because it was a symbol of luxury, of something imported. It didn’t matter that it was more expensive – in fact, the higher price made the imported bread even more desirable« (N BS 88). Ein sechstes Hindernis war die erwähnte Herausforderung, dass sich die Frauen aufgrund ihrer vielen Verpflichtungen nicht ausschließlich auf das Geschäft konzentrieren konnten. Alles in allem war die Bäckerei aber ein großer Erfolg. Die Frauen verdienten nun nicht mehr 50 Cents, sondern 3 Dollar am Tag und hatten neue Entscheidungsmöglichkeiten  : »Money is freedom and confidence and choice. And choice is dignity. The solidarity of the bakery also gave them a sense of belonging that made them even stronger« (N BS 87). Fazit  : »The story of the bakery was one of the human transformation that comes with being seen, being held accountable« (NBS 88). Was waren die Schritte für diese Transformationserfahrung  ? Aufrichtigkeit und Exaktheit in der Analyse der Situation, Beharrlichkeit und Selbstverpflichtung, Einsatz von Sozialkapital, Kreativität, Etablierung von Strukturen von Rechenschaft und Verantwortung, also von Ernsthaftigkeit. Auf dem Hintergrund dieser Lernerfahrungen entwickelte Novogratz einen eigenen Zugang, der auf bestimmten Erkenntnissen beruhte  : (i) Rechenschaftsstrukturen müssen fest verankert und klar sein  ; die Frage »Who was accountable anywhere in the system  ?« (N B S 105) ist entscheidend  ; »I’ve learned that solutions to poverty must be driven by discipline, accountability, and market strength, not easy sentimentality« (N B S 272)173  ; eine Erfahrung in Ruanda bestärkte sie in der starken Betonung von Rechenschaft und Verantwortung – eine Frau bezahlte einen Kredit nicht zurück, mit der Erklärung, man habe ihr Reis gestohlen. Der Reis fand sich in der Hütte der Frau  ; eine Kollegin erkannte  : »She isn’t paying because she thinks we don’t really care whether she repays or not. And others are watching what we do about this. We have to show them that we care« (N BS 61). Die Phrase »We have to show them that we care« wurde für Novogratz zu einem Wegweiser.174 (ii) der Markt bestimmt die Qualität der Arbeit, wird zum Seismografen für Erfolg und auch Nichterfolg  ; diese Überzeugung hat etwas mit einer Erfahrung zu tun, die Novogratz in Ruanda machte  : Auf dem Markt trifft sie zwei Frauen, die je einen Korb zu einem hohen Fixpreis von 1000 Francs verkaufen wollen und nicht mit sich handeln lassen  ; sie weigern sich Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz

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auch, miteinander in Konkurrenz zu treten  : »You see … I will not take a sale away from my sister. We will not change prices so that one of us gets the sale. And I cannot change the price because this basket is all I have to sell. I need to take the bus home and pay school fees for my children. I cannot bring home a basket but must be able to cover the costs. So I will sell the basket for the price I need« (N BS 66). Novogratz erkannte darin eine »neue Logik«, »one based on scarcity and hope, however unjustified« (N B S 66)  ; eine Logik, die auf einem verzerrten Markt beruhte (»Markets are about finding willing sellers and buyers. But we often don’t know the incentives and constraints within which people are operating«  ; N BS 66).175 Die Betonung des Marktes ergibt sich auch daraus, dass Bauern beispielsweise dem Markt zu folgen hatten und deswegen Lösungen verdienten, die marktgerecht waren (NBS 133)  ; (iii) Zugang zu elementaren Dienstleistungen für Frauen ist der Schlüssel zur Armutsbekämpfung, gerade auch Zugang zu Finanzdienstleistungen, weil sie erkannt hat, »what it meant to put into practice the idea of extending basic services as simple as bank accounts that the middle class took for granted to people who are often invisible to those in power« (N BS 17).176 Frauen sind zudem der beste Weg, um zu Familien und Kindern zu gelangen (N BS 39)177  ; (iv) klare Erwartungen sind schwerer umzusetzen als leichte Großzügigkeit, aber auch hilfreicher im Bemühen, Armut zu bekämpfen  : »I’ve learned that generosity is far easier than justice and that, in the highly distorted markets of the poor, it is all too easy to veer only toward the charitable, to have low – or no –expectations for low-income people. This does nothing but reaffirm prejudices on all sides« (N B S 273)  ; »by lending women money instead of giving handouts, we would signal our high expectations for them and give them the chance to do something for their own lives« (N B S 42)  ; aufgrund klarer und auch anspruchsvoller Erwartungen können Menschen unter Beweis stellen, wozu sie fähig sind (NBS 45)178  ; (v) die Perspektive der Betroffenen ist in den Mittelpunkt zu rücken, kleine Schritte sind großen Theorien vorzuziehen, was eine besondere moralische Position verlangt  : »What is needed most of all is moral leadership willing to build solutions from the perspectives of poor people themselves rather than imposing grand theories and plans upon them« (N B S 273)  ; dabei teilen Menschen, die von Armut betroffen sind, die Träume aller Menschen  : Die Frauen, denen Novogratz begegnete, »though incredibly disadvantaged, shared the dreams of everyone else« (NBS 75)  ; »it didn’t matter if the people lived in Bangladesh or Bangor, Maine. Everyone wanted the same things. And low-income people the world over were challenged by many similar constraints« (N B S 139)  ; (vi) Schlüssel zur guten Kooperation ist das 260

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Vertrauen – mehrmals musste Novogratz die Erfahrung von Vertrauensbrüchen machen (z. B. N BS 70f ). Maha Ghosananda, ein buddhistischer Mönch, bringt ihr bei, dass »Verstand« und »Mitgefühl« die beiden Beine sind, auf denen sie sich bewegen solle (N BS 144), sie sind das, was Vertrauen vermittelt  ; (vii) Eine wichtige Dimension der Arbeit sind »Anreize« und »Anreizstrukturen«  : Novogratz hat sich die Überzeugung erarbeitet, »that providing incentives for people to do the right thing matters a great deal. Institutions are key in reminding us who we are meant to be and how we are expected to behave as community members and citizens« (NBS 198). Armutsbekämpfung ist auch auf inspirierende Persönlichkeiten angewiesen. Eine der wichtigsten Personen im Leben von Jacqueline Novogratz war John Gardner, der ihr die Überzeugung vermittelte, dass »humans thrive in relationship to each other and that communities in which each individual feels a sense of belonging and of accountability are key to our individual and societal successes« (N B S 138). »Zugehörigkeit« und »Rechenschaft« entpuppen sich als Schlüsselkategorien.179 Gardner brachte ihr auch drei Kerneinsichten bei – die wichtigste Fähigkeit ist das Zuhören  ; Philanthropische Programme sollten das unterstützen, was es bereits gibt anstatt eigene Programme zu entwickeln  ; Philanthropie soll Projekte unterstützen, die Energien der Menschen freisetzen (NBS 141f ). Der von Novogratz entwickelte Zugang selbst kann mit dem Begriff »patient capital« bezeichnet werden und hat folgendes Profil, das sich aus den Lernerfahrungen von Jacqueline Novogratz herausgebildet hat  : »Our investment style was focused on what we termed patient capital – not traditional charity, not traditional business investment, but something in-between. Patient capital is money invested over a longer period of time with the acknowledgement that returns might be below market, but with a wide range of management support services to nurture the company to liftoff and beyond« (N BS 229). Sie entwickelt diesen Zugang aus der Frustration mit etablierter Philanthropie heraus, denen es vielfach um das eigene Wohlgefühl und nicht die soziale Transformation ging (NBS 213). Sie will einen Fonds gründen, der sich von bestehenden Einrichtungen dadurch unterscheidet, »that we wouldn’t simply make grants, but we would invest in entrepreneurs who have vision and the ability to solve local problems with market-driven ideas and approaches. We would hire creative people with the ability to read financial statements and balance sheets, not just budgets. We wouldn’t focus on specific ›projects‹, but instead direct our efforts toward building strong organizations that we would gradually help bring to financial sustainability« (NBS 214). »We would raise charitable funds, then invest equity, loans, and grants – Geduldiges Kapital  : Jacqueline Novogratz

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whatever was needed – in organizations led by visionary entrepreneurs who were delivering to low-income communities services such as safe water, health care, housing, and alternative energy sources. In addition, we would provide them with wide-ranging support on everything from basic business planning, to hiring managers, to helping them connect to markets« (N B S 216). Social Impact ist das Werkzeug, um Erfolg zu messen. Konkret bedeutet dies  : (i) Novogratz versucht, Unternehmer zu identifizieren, die Initiativen zur Bekämpfung von Armut ergreifen. Der Schlüssel besteht darin, »to find local leaders who own the dream and will make it happen« (N BS 34). Dabei geht es um echte Geschäfte und unternehmerisches Tun, das sich auf dem Markt behaupten kann. »I wanted a better understanding of management and how to build businesses. This was missing when it came to the poor« (N BS 116)  ; (ii) Novogratz versucht, mit Institutionen zu arbeiten. »Our focus became learning how to navigate political institutions and work with the best individuals inside of them, the churches included« (NBS 68). Institutionen sollen gezielt gefördert werden (NBS 218), weil sie Strukturen der Rechenschaftspflichtigkeit etablieren können und eine bestimmte Nachhaltigkeit ermöglichen  ; (iii) Die drei Kriterien, nach denen Projekte ausgesucht werden, sind leadership, sustainability, scale (N B S 221). Die Projekte müssen also klare Verantwortungsstrukturen aufweisen, sie müssen langfristig angelegt sein und auf finanzielle Stabilität ausgerichtet sein, sie müssen das Potential haben, ausgeweitet zu werden. Die größte Herausforderung bestand anfangs darin, geeignete Unternehmer zu finden  ; der Acumen Funds, wie sich der neue Fonds nennt, beginnt im Gesundheitssektor in Indien. Sie unterstützen Govindappa Venkataswamy, der das Aravind Eye Hospital in Madurai gegründet hat in der Produktion von Kontaktlinsen und in ersten Versuchen mit Telemedizin. Im Lauf der Zeit wird es immer leichter, inspirierende Menschen zu treffen, etwa Satyan Mishra mit einem Unternehmen von Telekiosks im ländlichen Indien, die Internetservices anbieten. Die wichtigste Eigenschaft bei Unternehmerinnen und Unternehmen ist »Sorge« – »they care«. Kampf gegen Armut ist auch ein Kampf gegen die Lethargie. Auf den schulterzuckenden Kommentar »People get by« kann Jacqueline nur antworten  : »That’s not enough« (N BS 76). Es ist auch nicht genug, sich mit der »apathy and corruption of those with power« (N B S 98) abzufinden. »Sorge« tangiert die Innenseite der Armutsbekämpfung, die wohl vor einer Hauptherausforderung steht  : Menschen zu finden, die sich tatsächlich in einem starken Sinn sorgen.

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Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

Selbstdisziplin und Vertrauen  : Dave und Liane Phillips MT 7  : Dave und Liane Phillips haben in Cincinnatti ein viel beachtetes »welfare to work« Programm gestartet, das auf die nonchalant gestellte Frage, die armutsbetroffenen Arbeitslosen entgegen geschleudert wird, ›Why don’t they just get a job  ?‹, reagiert.180 Diese Frage, die Ignoranz und Respekt verweigernde Einstellungen andeutet, zieht sich wie ein roter Faden durch das Projekt  : »Over and over again during the course of the past 15 years, we have been asked a question that grates on our nerves  : ›Why don’t they just get a job  ?‹« (L PJ 7). Sie bereiteten sich auf diese selbst gestellte Aufgabe akribisch vor, schauten sich erfolgreiche Projekte im Land an (L PJ 5)  ; ließen eine Machbarkeitsstudie erstellen, die ihnen Mut machte  : »The research showed that 200 businesses had an immediate need for more than 1200 unskilled, entry-level employees« (L PJ 6). Sie erstellten einen Business Plan und trieben auf der Basis dieses Betriebsmodells Kapital auf, das das Projekt für wenigstens drei Jahre finanzierte, weil sie auch die Erfahrung gemacht hatten, dass viele Non-Profit-Initiativen »underfunded« waren (L PJ 24). Sie verstanden sich als lernende Organisation, adaptierten das Seminar, das sie Arbeitssuchenden anboten und ergänzten im Laufe der Zeit ihr Team um Spezialist/inn/en wie juristische oder therapeutische Expertisen. Ein Beratungsgremium wurde eingerichtet, mit dessen Hilfe vier Ziele festgesetzt (LP 24) und ein Leitbild erstellt wurde  : Es gehe darum, Menschen darin zu unterstützen, qualifizierte Kandidat/inn/en auf dem Arbeitsmarkt zu werden, der Schwerpunkt werde auf armutsbetroffene Menschen gelegt, ein Anliegen wäre es, Menschen zu helfen, einen Job zu bekommen und zu halten, die Jobs sollten ausreichen, um ökonomische Selbstständigkeit zu erreichen (L P J 23). Dann machten sie zwei bittere Lernerfahrungen  : Zum ersten lernten sie, dass es – wohl aufgrund des Misstrauens, das durch viele Arbeitsmarktzugangsverwalter vermittelt wurde – eine der größten Schwierigkeiten war, geeignete Kandidat/inn/en zu finden (L PJ 36), sodass sie sich gezwungen sahen, auf Mundpropaganda zu setzen und auf der Straße zu werben  ; zum anderen lernten sie nach einiger Zeit, dass die Bemühungen von Cincinnati Works den Anteil der Working Poor vergrößerte (L PJ 120). Die Armutssituationen, mit denen sie es zu tun hatten, waren häufig Geschichten vererbter Armut, »generational poverty«. Sie machten die Erfahrung, dass viele armutsbetroffene Menschen in einem ständigen Kampf verwickelt waren und den Alltag kaum meistern konnten. »Most of the poor people we met were far from lazy. Every day was a struggle and required constant problem solving. Tasks that seemed automatic and simple for us required a lot of energy Selbstdisziplin und Vertrauen  : Dave und Liane Phillips

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for them  : getting to and from work without a car, finding groceries and paying for them without a paycheck, cashing a paycheck – if you had one – with a bank account« (L P J 31). Auf diese Weise lernten sie etwas, über die »Untergrundökonomie« kennen, die informelle Ökonomie, in der jeder Tag mit wirtschaftlichen ad-hoc Initiativen gefüllt war. Sie erkannten den Stress einer Armutssituation, in der sich Krisen gegenseitig bedingen und verfestigen und Probleme eskalieren lassen. »Many of our members get caught in the undertow of some crisis or another. Before long the problem has snowballed and become an avalanche of trouble that takes them down« (L P J 97). Sie lernten eine für sie fremde Welt kennen, in der viele von Armut betroffene Menschen in »non-traditional families with unusual situations« lebten (L P J 51). Sie erkannten bald, dass innere Faktoren wie Selbstvertrauen oder auch innere Bilder (»role models«) entscheidender Faktor in vielen Armutssituationen war. Zwei Beispiele  : »Chuck is a man who, at age 39, decided he wanted to turn his life around. To his dismay he found that his criminal record and history as a drug addict made that almost impossible. By the time he made contact with us at a job fair, his spirits were sagging« (L PJ 49)  ; Selbstvertrauen und Motivation waren in diesem Fall schon weitgehend erodiert, die Wahrnehmung der Möglichkeit, nach eigenen Standards moralisch zu handeln (»to turn his life around«), Shirley war eine Woche vor ihrem HighschoolAbschluss mit ihrem Freund durchgebrannt, wurde dann zur alleinerziehenden Mutter, die Alimente blieben aus. Sie fühlte sich – ein Phänomen, das immer wieder in Berichten von verwalteter Armut auftritt181 – von den staatlichen Unterstützungsprogrammen gedemütigt (»she felt humiliated standing in the grocery store when she handed the cashier the food stamps«  ; L P J 42) und hatte zunehmend Angst, ihre Wohnung zu verlassen oder sich zu motivieren, in den Tag hineinzugehen. »Many days Shirley struggled to think of a single reason to get out of bed. ›My apartment felt safe … I didn’t want to face the world. Caseworkers treated me as less than human. I felt like just another cog in the machine‹« (L P J 42). Als Shirley auf Cincinnati Works traf, zeigte sie die Spuren von bürokratiegeschuldeter Erniedrigung und Erschöpfung  : »Behind Shirley’s glasses her dark eyes revealed a wariness and weariness from too many years caught in the dehumanizing cycle of dependency culture – years spent filling out endless forms in airless rooms to get each little bit of help« (L PJ 41). Cincinnati Works profitierte von Ruby Paynes Thesen über Armut 182, dass man das Wertesystem armutsbetroffener Menschen verstehen muss, um helfen zu können  ; sonst sind Missverständnisse unvermeidbar – »our efforts to help break the cycle of poverty will be hampered by misunderstandings and frustra264

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

tion« (L P J 129). Innere Einstellungen führen zu einem Armutszirkel, der von Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühlen und dem Gefühl geprägt ist, ständig in einer Notsituation zu sein und nie zur Ruhe zu kommen. Der Alltag hat sich aufgelöst. Es fehlen Rollenmodelle und greifbare Hoffnungen. Anders gesagt  : »When you’ve been in poverty a long time, your memory bank is full of deposits, but they aren’t the kind of deposits that you can draw on to move ahead« (L P J 131). Hier ist also »innere Arbeit« oder »Arbeit am Inneren« zu leisten, um Menschen eine reale Chance auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Auf diesem Hintergrund entstand ein Modell zur Armutsbekämpfung, das in besonderer Weise innere Faktoren berücksichtigt. Der spezifische, vom Ehepaar Phillips mit seinem Team erarbeitete Zugang zur Armutsbekämpfung kann in fünf Punkten skizziert werden  : (i) Identifikation von Barrieren und Hindernissen auf dem Weg zum Arbeitsmarkt.  ; (ii) Fokus auf Einstellungen und »inneren Faktoren«  ; (iii) Blick auf Details  ; (iv) Akzentuierung von Regelwerk und Disziplin  ; (v) Schwerpunkt auf Arbeitsplatzerhaltung. (i) Die Barrieren dem Arbeitsmarkt gegenüber waren erstens im bürokratischen System, zweitens in der Gemeinschaft und drittens in den Betroffenen selbst zu suchen. Sie unternahmen 18 Monate lang systematische Forschung und erkannten, dass die Hindernisse multipel und miteinander verwoben waren (L P J 39). Eine erste Quelle von Hindernissen  : »Das System«. Immer wieder stößt die Initiative auf Hindernisse, die das System verwalteter Armut aufwirft  ; es ist ein System, in dem es Interessen gibt, die nicht unbedingt der Priorität der Armutsbekämpfung verpflichtet sind – »we learned that serving the people is not always the first priority of poverty programs« (L P J 19)  ; die unterschiedlichen Einrichtungen betrachteten einander als Konkurrenten, was weiteres Gewicht vom Fokus auf Armutsbekämpfung raubte (»Practically all of the other welfare-to-work programs in town viewed us as competition, pure and simple«  ; L P J 46)  ; auch Cincinnati Works machte Erfahrungen mit verzerrtem Fokus, mit Mitarbeiter/ inne/n, die persönliche Probleme hatten und »more concerned with advancing themselves than advancing the job seekers« (L P J 60) waren  ; die mangelnde Flexibilität der Systeme mit einem starren Fokus etwa auf alleinerziehenden Frauen verminderte die Chancen all derjenigen, die nicht diesem Fokus entsprechen.183 Das starre Regelsystem macht es Armutsbetroffenen nicht leichter, die Unterstützung wird etwa gekürzt, sobald ein wie auch immer geringes Einkommen vorhanden ist, verbunden mit großem Formularaufwand  : That’s just another way the system appeared to be almost stacked against the poor. As soon as they Selbstdisziplin und Vertrauen  : Dave und Liane Phillips

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began to make progress in their struggle to get out of poverty, the few support systems and safety nets they relied upon were removed« (L P J 45). Dazu kommen Fragen der Infrastruktur wie etwa Kinderversorgungsplätze, was von einigen Klient/inn/en als größtes Hindernis auf dem Weg zum Arbeitsmarkt genannt wurde (L P J 53), zumal Alleinerzieherinnen das größte Armutsrisiko trugen (L P J 50). In einigen Fällen machten sie die Erfahrung, dass die Polizeiakten inkorrekt waren, was es einer Person mitunter unmöglich machte, auf dem Arbeitsmarkt anzukommen (L P J 49). Rechtliche Barrieren machten es notwendig, Jurist/inn/en einzustellen, zumal Armutsbetroffene immer wieder grobe Fehler im Umgang mit dem Rechtssystem machten, weil sie sich »unscrupulous, self-designated ›street‹ lawyers« anvertrauten (L PJ 46f ). Eine zweite Quelle von Hindernissen  : Die Gemeinschaft. Liane und Dave Phillips erkannten, dass Armut eine Frage der Gemeinschaft ist – »Poverty is a community problem. Eliminating it takes a community solution« (L P J 12). Hier sind auch Fragen der Kultur zu berücksichtigen. Die größte Dropout-Quote aus dem von Cincinnati Works angebotenen Programm waren, wie schon erwähnt, appalachische Frauen, die von Einstellungen ihrer Männer bzw. Freunden zurückgehalten wurden, die sie bedrohten und zwangen, das Programm abzubrechen  : Some Appalachian men in poverty considered having their spouses or girlfriends working outside the home to be an affront to their manhood and viewed outsiders like us with great suspicion« (L P J 152). Hier sind Werthaltungen in einer bestimmten kulturellen Gemeinschaft am Werke, die Armutssituationen verfestigen  ; diese Konstellationen können nicht allein auf Individualebene verändert werden  ; ein anderer Aspekt von Gemeinschaftsdimension waren Einstellungen derjenigen, die die erwähnte Frage »Why don’t they just get a job  ?« stellen – »a vital part of our mission became educating our community and ourselves about the many obstacles the poor face in their journey to self-sufficiency« (L P J 8). Hier sind Vorurteile und Ignoranz am Werk, die zur Verfestigung von Armutssituationen beitragen. »Unfortunately, when the middle class encounters a person in poverty suffering from depression or anxiety, they tend to label that person as lazy« (L P J 96). Eine dritte Quelle von Hindernissen waren innere Faktoren und Einstellungen der Armutsbetroffenen selbst. »Many of the toughest barriers job seekers have to overcome are not obvious« (L PJ 54) – es geht um Fragen von Selbstvertrauen, psychischer Gesundheit, Erfahrungen von Stigmatisierung und Erniedrigung. Mit einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung sind oftmals andauernde Stigmatisierungen verbunden (L PJ 68f ). »Low self-esteem« (L P J 30), Angst, Ohnmachtsgefühle, Selbstsabotage, mangelndes Arbeitsethos, 266

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

unangemessene Einstellungen wurden als Faktoren identifiziert (L PJ 54f ). Dazu kommen Alkoholismus (L P J 153), Angst vor Zurückweisung, mangelnde Ausbildung, eine wenig einladende Arbeitsgeschichte und Transportprobleme (L P J 86). Manche Arbeitssuchende hatten »inflated views of their skills« (L P J 55) oder kein Verständnis von Erwartungen eines Arbeitgebers (L PJ 31)  ; ein immer wieder auftauchendes Problem waren Fragen von Konfliktmanagement und Aggressionskultur (L P J 56). Menschen, die in Armut leben, machen die Erfahrungen, »herumgeschubst« zu werden (»People who are poor are pushed around«  ; L P J 94) – eine Erfahrung, die eine wichtige Quelle von Anerkennung aushöhlt. Armutssituationen, mit denen sie es zu tun hatten, zeigten häufig ein völliges Fehlen eines Begriffes von »beruflicher Laufbahn« und langfristiger Planung – aus einer momentanen Frustration heraus zu kündigen, ohne eine Alternative an der Hand zu haben, ist keine Seltenheit. (ii) Eine Besonderheit von Cincinnati Works ist der Fokus auf inneren Faktoren  : »The poor don’t have role models  ; they don’t have confidence. They don’t believe in themselves« (L P J 93)  ; hier stellen sich also Fragen von Rollenvorbildern und die Frage nach der Stärkung von Selbstvertrauen. Als Schlüssel für gute Kooperation wurde das Vertrauen genannt, »trust building« (L P J 95) wurde zu einem Schwerpunkt in der Arbeit mit Menschen, die schon mit vielen Einrichtungen und Initiativen gearbeitet hatten und in vielen Fällen durch die Erfahrungen mit dem System zu systematischem Misstrauen und einer tief verankerten Hermeneutik des Verdachts gedrängt wurden. Das Misstrauen gegen das System wird durch immer wieder auftretende Erniedrigungen genährt – nicht wenige der Klient/inn/en machten die Erfahrung, einfach von der Polizei gestoppt zu werden, wenn sie auf der Straße gingen, was ein entsprechend schlechtes Verhältnis zu Polizei und Behörden mit sich brachte (L P J 30). Das Seminar diente auch dem Zweck, die Klient/inn/en besser kennen zu lernen, die Persönlichkeiten mit ihren Profilen besser einschätzen und damit auch besser unterstützen zu können (L P J 104). Inhaltlich konzentrierte sich das im Laufe der Zeit von drei Wochen auf eine Woche gekürzte Seminar184 auf jene Indikatoren, die beruflichen Erfolg grundlegen  : »a strong motivation to change, a willingness to commit to the process, and demonstrating the ability to delay gratification« (L PJ 128) – hier haben wir es mit inneren Faktoren zu tun. Weiters wurde die Frage gestellt  : »What is your greatest accomplishment  ?« (L P J 111), um eine neue Perspektive auf das eigene Leben und die eigene Person zu ermöglichen. Auch die Gründe für Nichtbeendung des Seminars waren vor allem innere, es kristallisierten sich drei Selbstdisziplin und Vertrauen  : Dave und Liane Phillips

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Hauptgründe heraus  : unrealistische Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und des »Marktwerts« auf dem Arbeitsmarkt  ; Unfähigkeit, ein Commitment einzugehen  ; Mangel an Problemlösungsfähigkeiten (L PJ 117). An diesen Punkten war entsprechend anzusetzen. (iii) Der Blick auf Details  : Die erwähnte Shirley absolvierte das vorgeschriebene Seminar und wurde dann eingekleidet  : »After Shirley successfully completed our two-week job readiness workshop, we sent her to our partner, Dress for Success, where she picked out clothes and accessories for her interviews« (L P J 44)  ; das ist ein Blick auf Details, der sich in vielen Fällen bezahlt machte. Eine Botschaft lautete entsprechend auch  : Verändere dein Verhalten, um dadurch andere Veränderungen einzuleiten  – »practice being different« (L P J 109). Der Blick auf »life skills« wurde bedeutsam, »you’ve got to really listen to people’s individual and unique stories« (L P J 43) – Shirley hatte etwa erzählt, »that she had written a book about Mozart and had become an expert on the Beatles’ music and history during the time she spent at home« (L P J 43). An diesen Details konnte man anknüpfen. Cincinnati Works versuchte auch den Blick auf die »versteckten Regeln« des Arbeitsmarktes und der Arbeitgeber zu richten  ; hier sind auch Aspekte eines psychologischen Vertrags185 am Werk, der Erwartungen generiert, die berücksichtigt werden müssen (L P J 31  ; L P J 47). Entsprechend »holistisch« war auch die Herangehensweise der Organisation, die neben Beratung in »mental health« und Rechtsberatung auch »spiritual guidance« inkludierte (L P J 127)  ; auch hier zeigt sich die Anerkennung des Inneren für Wege aus der Armut. (iv) Disziplin und klare Regeln erwiesen sich als Schlüssel für die Arbeit – gerade das Seminar wurde zu einem Lernort für arbeitsplatzgerechtes Verhalten mit klaren Erwartungen und auch klaren Konsequenzen. »Poor excuses« für Abwesenheiten wurden nicht akzeptiert, es wurde sogar eine »no exceptions policy« eingeführt (L P J 106)  ; neben Anwesenheit wurden Pünktlichkeit (L P J 103) und entsprechende Umgangsformen verlangt. »Everything about the workshop was designed to reflect workplace policies« (L PJ 107)  ; »We took every opportunity to correct behaviour that would not be accepted in the workplace« (L PJ 116). (v) Im Unterschied zu anderen Arbeitsvermittlungsagenturen legte die vom Ehepaar Phillips gegründete Organisation großen Wert auf Verantwortung über die bloße Vermittlung hinaus  : »The real work started when the job seeker landed a 268

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

job« (L P J 117).186 Dahinter stand die Einsicht, dass sich die These, dass Menschen, die einen Arbeitsplatz gefunden haben, sich dann gewissermaßen organisch weiterentwickeln und eine Leiter zum Emporklettern finden, nicht halten lässt.187 Dazu bedurfte es einer Vorstellung von »Laufbahn«, von »Vorwärtskommen«, eines klaren Begriffs von »advancement« (L P J 121), die Idee eines Karriereplans (L P J 128). Konkret bedeutete dies die Einrichtung einer monatlichen »alumni support group« (L PJ 44). Die Begleitung von Menschen hatte auch mit »Innerem« zu tun – die im kulturellen Kontext von Cincinnati Works identifizierten Hauptgründe, warum Arbeitnehmende gekündigt werden, umfassen neben »poor attendance« und »poor performance« auch Unehrlichkeit und »bad attitude« (L PJ 112). Das von Liane und Dave Phillips entwickelte und über die Jahre verfeinerte Programm hat Erfahrungswissen erarbeitet, das diskutable Annahmen für Fragen der Armutsbekämpfung enthält  ; um einige der in Cincinnati gelernten Lektionen zu nennen  : Erstens  : Ein Programm ist nicht »für alle«, sondern unterscheidet zwischen »geeigneten« und »nicht geeigneten« Personen  ; ein Screeningprozess stellt die Eignung fest  ; es ist im Sinne des Programms, diese Unterscheidung einzuführen und entsprechend zu verwalten  ; das bedeutet, dass Programme eingebaute Exklusionsmechanismen aufweisen – im Falle von Cincinnati Works hatte man ein mehrstufiges Screening-Verfahren eingeführt  ; auf der ersten, formalen Ebene verweigerte man einer Kandidatin oder einem Kandidaten die Teilnahme am Programm, »if a person had an open arrest warrant or a violent felony on his or her record« (L P J 47)  ; auf einer zweiten ScreeningEbene wurde die Seminarbereitschaft geprüft.188 Zweitens  : Arbeit ist als solche Quelle von Anerkennung und auch Selbstachtung  : »The act of working itself helped people begin to feel better about themselves« (L PJ 96)  ; Klient/inn/en von Cincinnati Works machten auch die Erfahrung, dass man mit mehr Respekt behandelt wird, wenn man einen Job hat. Drittens  : Vertrauen ist der Schlüssel und die Basis für Vertrauen ist die Erfahrung starker Sorge – ein Klient formulierte es so  : »We need people like the folks at Cincinnati Works who genuinely care about us and our children« (L PJ 100)  ; das verlangt eine Einrichtung, die tatsächlich den Fokus auf Armutsbekämpfung hat, das verlangt Personal, das tatsächlich an den Klient/inn/en und deren Fortkommen interessiert ist. Das verlangt, wie erwähnt, die Fähigkeit, individuellen Menschen mit ihren einzigartigen Geschichten zuzuhören (L PJ 43).

Selbstdisziplin und Vertrauen  : Dave und Liane Phillips

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Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle MT 8  : Armutsbekämpfung hat nicht nur mit professioneller Kooperation zu tun, sondern auch mit Aspekten von Nachbarschaftshilfe und Hilfsbereitschaft. Hier geht es auch um Aspekte des Gebens. Der englische Philosoph wendet sich in einem Beitrag dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu. In diesem Gleichnis geht es um die Frage »Wer ist mein Nächster  ?«. Jesus erzählt eine Geschichte und gibt keine Definition des »Nächsten«. Er enttäuscht damit nach Winch die Erwartung des Schriftgelehrten, der eine Auflistung allgemeiner Kennzeichen erwartet, durch welche die Kategorie »Mitmensch« zu charakterisieren sei  : »Die Frage, die sich stellt, ist nicht das unpersönliche ›Was ist ein Mitmensch  ?‹, sondern in etwa  : ›Wie erkenne ich einen anderen als meinen Mitmenschen  ?‹ Dies entspricht dem Umstand, daß das Gesetz, das zur Frage Anlaß gibt – ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ –, in der zweiten Person Singular formuliert ist, das heißt, es wendet sich an die jeweilige Einzelperson, die das Gesetz hört.«189 Jesus beantwortet in seinem Gleichnis die Frage, wer dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden ist. Winch hält explizit fest, dass damit nicht das Thema gewechselt wurde. »In gewisser Weise läßt sich also jemand anders als Mitmenschen anerkennen nicht davon trennen, daß man sich zu ihm wie zu einem Mitmenschen verhält.«190 Weiters ist auffallend, dass Jesus seine Rede mit einer Frage beendet. Das ist kein rhetorischer Kunstgriff, ebenso wenig wie das Fragen des Sokrates eine bloß rhetorische Frage ist. Die Frage drückt aus, dass wir über die Mittel zur Beantwortung dieser Frage verfügen und dass »niemand die Antwort wirklich kennt, der nicht selbständig zu ihr gelangt ist.«191 Winch weist auch darauf hin, dass der Samariter von einer Notwendigkeit der Situation gedrängt wird, zu tun, was er tut. Es scheint ihm unmöglich, am Verletzten vorbeizugehen. Der Samariter reagiert, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. »Er fragt nicht, ob der verwundete Reisende ein geeigneter Gegenstand seiner Barmherzigkeit ist, und ebendas ist wesentlich für die Reinheit der Barmherzigkeit, von der das Gleichnis ein Bild gibt.« 192 Man könnte sich an Ian Browns Motiv einer »Liebe ohne Zögern« erinnert fühlen. Die von Winch beschriebene Dynamik hat mit der Geschichte von Doraja Eberles Initiative zu tun  : Doraja Eberle gründete im Jahr 1992 den Verein »Bauern helfen Bauern«, um gegen die kriegsbedingte Not und Armut in Bosnien aktiv zu werden.193 Aus Nothilfe wurde Wiederaufbauhilfe, dann Armutsbekämpfung. Die ersten sechs Jahre waren der Sicherung des Überlebens gewidmet  ; »die zweiten sechs Jahre 270

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

haben wir Menschen auf Grund und Boden zurückgebracht und haben versucht, ihnen dort die Möglichkeit zu geben, autark zu leben. Das geschah mit Hilfe von landwirtschaftlichen Geräten, mit Kühen und Saatgut, kleinen Ambulanzstationen, durch Schulbusse, durch einen Schulbau« (BH B 181f ). Die nächste Phase war die Begleitung von Menschen im Sinne des Freundschaftsdienstes, wie ihn Martin Kämpchen beschrieben hat. Der Verein »Bauern helfen Bauern« kann Einsichten in Armutsbekämpfung, gerade auch im Unterschied zu großen Organisationen vermitteln. Der Tross der großen Organisationen ist weitergezogen, die geduldige und verlässliche und auch fokussierte Begleitung von »Bauern helfen Bauern« ist geblieben. »Die anderen Organisationen, die nach, sieben Monaten ständig ihr Personal auswechseln, die können dieses Feuer gar nicht haben. Es ist die Treue, die man zu den Menschen hält. Wir haben Mütter schwanger kennen gelernt, deren Kinder jetzt die Schule beenden, wir waren immer da. Du kannst dieses Feuer erst entwickeln, wenn du einen Menschen mit seinem Vorund Nachnamen kennst und damit seine Geschichte. Nur dann kannst du dich einsetzen, ob für Haarfarbe oder Zähne oder Gummistiefel oder ein neues Dach. Es hat mit Nähe zu tun« (BHB 41). »Nähe« ist ein Stichwort, das diesen Zugang zur Armutsbekämpfung auszeichnet – Doraja Eberles Einsicht, dass »Nähe verpflichtet«, stand am Beginn der Aktion (BHB 35)  ; aus dieser geografischen Nähe wurde menschliche Nähe. Vier Aspekte scheinen bemerkenswert  : (i) Identifikation von Prioritäten – eine Organisation läuft stets Gefahr, sich für zu vieles zuständig zu fühlen oder angesichts der Größe der Not zu resignieren  ; hier gilt es, Prioritäten zu setzen  : »Ich habe gefragt, was sie am meisten brauchen. Sie sagten, sie wollten keine Flüchtlinge sein, sie wollten bleiben und ein Dach über dem Kopf haben. Durch ›Bauern helfen Bauern‹ ist mir erst bewusst geworden, was ein eigenes Dach über dem Kopf bedeutet. Ein Dach über dem Kopf ist nichts anderes als ein Zuhause, etwas, das mir gehört und wozu ich einen Schlüssel habe. Das heißt, ich kann aufsperren, um jemanden hereinzulassen, und ich kann zusperren, um jemanden draußen zu lassen« (BHB 37). Wir haben in der Arbeit Sporschills gesehen, wie wichtig es ist, über eine Struktur und eine tangible Infrastruktur zu verfügen. Eine Familie hält fest  : »Als wir … 2004 ein BhB-Haus auf eigenem Grund und Boden erhielten, bekam unser Leben eine neue Dimension« (BHB 59). Ein Haus ist mehr als ein Haus  ; wieder treffen wir auf die »Innenseite«, ein Haus ist »Heim« und »Heim« bedeutet »Lebensplatz«. Diese Prioritäten bedeuten auch »Fokus«. Viele Organisationen expandieren, beginnen mit einer Zuständigkeit und weiten die Zuständigkeiten systematisch aus. Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle

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»Bauern helfen Bauern« widersteht Expansionsversuchungen und bleibt in Bosnien. »Wir sind kein Tropfen. Wir bauen heuer das 1000ste Haus. Und in jedem Haus leben vier, fünf Menschen. Für mich ist das kein Tropfen. ›One by one‹ war ein berühmtes Motto der Mutter Teresa … Man kann eine Leiter nicht hinaufspringen, es geht Sprosse für Sprosse. Das klingt leicht, ist aber schwer, weil man Scheuklappen tragen muss. Wenn man sich auf einen Menschen konzentriert, dann sollte man nicht rechts und links schauen. Erst wenn man den einen auf die Beine gestellt hat, kann man sich dem nächsten zuwenden. Und sollte er noch wackeln, haben wir noch eine Hand frei, ihn ein bisschen zu stützen, damit er nicht umfällt. Auch das hat Mutter Teresa trefflich ausgedrückt  : Du kannst nur das wirklich halten, was du mit deinen eigenen zwei Händen umarmen kannst. Alles andere würde runterfallen« (BH B 39). »Man ist besser, wenn man einen nach dem anderen heilt, auch weil die eigenen Kräfte begrenzt sind« (BHB 39). Daher ist es notwendig, Prioritäten zu setzen – das heißt konkret  : »Nicht das Personal ununterbrochen wechseln, Treue zu den Betroffenen halten, Projekte abschließen, mit anderen Worten nicht sofort zur nächsten größeren Katastrophe rennen. Das Spirituelle – also kniend geben, aufrecht stehend empfangen – ist wichtig, ohne das geht es nicht. Für mich hat das viel mit Kultur zu tun. Man muss sich auf die jeweils andere Kultur einstellen. Wenn eine muslimische Frau nicht mit den anderen am Tisch isst, dann bewerten wir das sofort, weil wir nicht wissen, dass muslimische Frauen nicht mit den anderen essen. Wenn ich im Ramadan unten in Bosnien bin, dann esse ich nicht öffentlich am Tag, den Vertretern anderer Organisationen ist das egal. Für die ist es ein weiterer Arbeitstag. Wir haben erst erkundet, ob Holzhäuser dort typisch sind, wir haben sogar das Dach von einem Architekten neu entwerfen lassen, damit es gegendtypischer wurde. Man muss sich auf die Kultur der Länder einlassen. Das machen die Großorganisationen nicht. Bei ihnen geht es leider zu viel um Spendenumsätze und das Schreiben von Berichten« (BHB 185) (ii) Hinwendung zum einzelnen Menschen mit einem Blick für Details. Die gesamtmenschliche Situation ist in den Blick zu nehmen. Das Beispiel wurde schon erwähnt, darf aber noch einmal zitiert werden  : »Viele Frauen hatten kohlpechrabenschwarze Haare und so ein, zwei, manchmal auch drei Zentimeter weiße Haaransätze. Du hast sofort gedacht, oh, die haben sich immer die Haare gefärbt, aber im Krieg gibt es keine Haarfarbe. Wenn ich einen weißen Haaransatz hätte und mein Mann gar nicht weiß, dass ich färbe, dann nichts wie Haarfarbe kaufen. Sofort. So haben wir es immer gehalten. Ein anderes Beispiel waren 272

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

die vielen jungen Leute mit schlechten oder kaum noch Zähnen. Sie haben sich beim Sprechen oder Lachen immer die Hand vor den Mund gehalten. Doch auch sie wollten lachen können, schön sein für ihre Männer, ihre Frauen, für sich selbst. Also haben wir ein Zahnprojekt aufgelegt« (BHB 40) Dieser Blick auf Details deutet an, dass ein menschliches Leben auch unter kargen Voraussetzungen »polyphon« ist, viele Farben und Schichten hat und nicht Bedürfnispyramiden abarbeitet. Dieser Sinn für Details ist auf das angewiesen, was Bertrand Russell »knowledge by acqaintance« genannt hat.194 Woran es bei den Großen mangelt  ? »Nicht am Geld, sondern am Umgang mit den Menschen. Und an der Erfahrung. Wenn ich nicht mindestens eine Winternacht in einem Zelt geschlafen habe, weiß ich nicht, was Kälte bedeutet. Wenn ich nicht eine Sommernacht in einem Container verbracht habe, der bis zu 50 Grad heiß werden kann, weiß ich auch nicht, wie sinnlos Container für Wohnungslose sind« (BHB 184). (iii) Kernstück der Arbeit Eberles ist das, was man »eine Spiritualität des Gebens« nennen könnte – ich möchte persönlich eine Einsicht in eine »Spiritualität des Gebens« mit dem Satz formulieren  : »Mach es den Menschen, denen du gibst, einfach, dir dafür zu verzeihen, dass du ihnen etwas gegeben hast«. Geben ist auch ein gewissermaßen gewalttätiger, weil verändernder und gestaltender Akt, der eingreift und bewegt. Geben ist Ausdruck einer Asymmetrie. Analog zur berühmten Kübeltheorie des Wissens, die darin besteht, dass man Wissen dadurch vermittelt, dass man es in einen Kopf hineinschüttet, sind wir manchmal versucht, eine Kübeltheorie des Helfens bzw. der Armutsbekämpfung zu verfolgen  : Armut ist ein Mangelzustand, der dadurch behoben wird, dass das, was fehlt, in die Situation »hineingeschüttet« wird. Dieses Modell verführt wie jede Milchmädchenrechnung durch seine Einfachheit  : Man stelle den Mangel fest, schaffe die als fehlend ausgewiesenen Güter an den betreffenden Ort und schütte sie dort aus. Wenigstens zwei Annahmen muss diese Kübeltheorie des Helfens machen, die kaum zu halten sind  : Erstens muss dieses Modell davon ausgehen, dass Armut nicht ein komplexes Ineinander von Faktoren ist, was gerade eine »dichte Beschreibung« zutage fördert, und dass das Fehlen von etwas nicht bloß die Spitze des Eisbergs ist. Zweitens muss dieses Modell jene Vereinfachung vornehmen, wie wir sie aus primitiven Kommunikationsmodellen »Sender-Botschaft-Empfänger« kennen  : Es gibt einen Sender von Hilfe, es gibt einen Inhalt, mit dem geholfen wird, und es gibt einen Empfänger, der passiv die Botschaft entgegennimmt. Der Hilfsempfänger wird hier gleichsam zu einem Gefäß, in das die Hilfe hineingeschüttet werden kann, zu einem passiven Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle

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Rezipienten. So einfach kann es nur in einer dünnen Beschreibung sein. Pier Paolo Pasolini hat in seiner Schilderung von armen Lebensverhältnissen im Rom der frühen Nachkriegszeit dieses Kübelmodell aufs Korn genommen  : »Unten gab es was zu sehen, eine Dame, die zur Kirche wollte, mit einem Auto, das so groß wie ein Haus war und voll von Sachen, die an die Armen verteilt werden sollten. Die Jungen umringten den Wagen und stimmten ein Bettelkonzert an, um etwas zu ergattern  : ›Mir bitte auch, Signora, mir  !‹ Der Fahrer gab ihnen ein paar Päckchen Trockenmilch. Sie rissen die Pappe auf und stäubten sich das Pulver ins Gesicht und stopften es sich in den Mund, bis sie fast erstickten. Dann liefen sie zum Brunnen, um zu trinken und das Pulver in der Kehle aufzulösen  ; aber im Grunde hatten sie’s schon über, und darum fingen sie an, sich das weiße Pulver ins Gesicht zu blasen und in den Hemdkragen zu schütten.«195 Geben kann auch demütigen  : Ein Mensch wird durch Hilfe gedemütigt, wenn die Hilfe ihm einen rationalen Grund gibt, sich in seiner Selbstachtung verletzt zu sehen. Su Tong schildert eine Begegnung zwischen Wulong, einem Obdachlosen, der bei einem Reisverkäufer als Laufbursche unterkommt, und der Tochter des Geschäftseigentümers  : »›Ich nehme dich mit ins Warenhaus … Wir werden dir Schuhe und Strümpfe kaufen.‹ ›Warum wollen Sie mir Schuhe kaufen  ?‹ – ›Weil es mich schüttelt, wenn ich dich an einem kalten Tag mit diesen alten Plastikschluffen herumlaufen sehe.‹ Wulong hob erst den einen Fuß, dann den anderen. Gelbe Zehen sahen vorne aus den abgetragenen schwarzen Sandalen heraus, die Besitzer Feng unter dem Bett hervorgezogen und Wulong gegeben hatte. ›Ich bin daran gewöhnt‹, sagte er und starrte auf seine Füße. ›Bei der Arbeit spüre ich die Kälte nicht.‹ – ›Frierst du gern  ?‹ Sie sah ihn aus dem Augenwinkel an. ›Wenn es so ist, vergiß es. Bitten werde ich dich nicht.‹ – ›Bitte, sagen Sie nicht so etwas.‹ Er faltete rasch die Hände. ›Ich weiß, daß Sie das aus der Güte Ihres Herzens tun. Ich bin arm, aber ich bestehe aus Fleisch und Blut wie jeder andere auch. Wie sollte ich gerne frieren  ?`«196 In dieser Begegnung fallen wenigstens vier Dinge auf  : (i) die Selbstverständlichkeit, mit der über Wulong verfügt und mit der vorausgesetzt wird, dass er die Hilfe annimmt  ; (ii) der Stolz der Hilfeleistenden, die die Hilfeleistung als ein »Werk der Übergebühr« ansieht, also als ein Werk, auf das kein Rechtsanspruch besteht  ; (iii) der Stolz von Wulong, der sich einen Entscheidungsspielraum trotz seiner Mangellage erhalten möchte  ; (iv) die Aussage, dass unbeschadet der sozialen Differenzen Arme und Reiche Menschen »aus Fleisch und Blut« sind. »Von dem kroatischen Schriftsteller Zoran Filipovic, dem Autor des ›Tagebuchs des Todes‹, stammt der bereits zitierte Satz  : ›Geben sollt ihr auf Knien, 274

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empfangen aufrecht stehend.‹« (BH B 42)  ; damit sind Konturen einer »Spiritualität des Gebens« angedeutet. Das hat auch mit Zeit zu tun  ; »Bauern helfen Bauern« liefern oftmals Pakete ab, auf denen der Name des Empfängers steht. »Große Organisationen können das nicht, sie haben nicht die Zeit, nicht die Beziehungen zu den Menschen, da muss der Lastwagen schnell geleert werden« (BH B 42). Das Hilfswerk steht auch für die Einsicht, dass Geben eine »Innenseite« hat, gelernt werden will  : »Zu geben will gelernt sein und es hat niemand von uns ärmer gemacht. Schon an unseren Paketen konnte man sehen, ob derjenige, der es gepackt hat, je in seinem Leben Not erlebt hat. Wer selber Krieg oder Flucht kannte, der packte das perfekte Paket, keine Kerze ohne Streichhölzer, keine Büchse ohne Öffner« (BH B 42). Eine Spiritualität des Gebens bedeutet auch, Freiwillige zu motivieren und auf eine Kultur der Hilfsbereitschaft hinzuarbeiten- Freiwillige finden sich immer, wenn die Lokomotive dampft (BHB 42). Eine Spiritualität des Gebens hat mit Kreativität zu tun, so wurden etwa Kühe und Saatgut nach Bosnien geschafft, auf Basis einer Saatgutsammlung an Südtiroler Schulen, da die Kinder in Südtirol auch die Chance bekommen sollten zu helfen (BHB 138)  : »Auf die Idee hat mich meine Schwester Sophie gebracht. Es ging da um ein landwirtschaftliches Paket, das helfen sollte, die Leute autark zu machen. Ich habe damals gemerkt, wenn die bäuerliche Bevölkerung gesundet, wenn sie Produkte ernten kann und damit vielleicht auf einen Markt gehen kann, dann kommt das Land wieder auf die Beine« (BH B 44). Die Initiative mit den Kühen hatte auch einen Friedenszweck  : Es wurden trächtige Kühe aus Salzburg nach Bosnien gebracht unter der Auflage, dass das hoffentlich gesunde Kalb an eine andere Ethnie verschenkt werden musste – »das klingt vielleicht einfach, aber der Empfänger aus der anderen Gruppe kann derjenige sein, der mein Kind umgebracht hat. Über die schlichte Kuh … haben die Menschen wieder eine Verbindung zueinander bekommen« (BH B 46). Hier wird eine Spiritualität des Gebens weiter gegeben. (iv) »Einfache Hilfe«  : Einfache Hilfe bedeutet, dass der bürokratische Aufwand auf ein Minimum reduziert wird. Wir haben an den Erfahrungen von Liane Phillips oder auch in den Berichten von Jacqueline Novogratz gesehen, dass große Organisationen und Systeme bürokratische Hürden aufbauen können. Doraja Eberle bemüht sich um einen direkten Zugang. Bereits der Beginn des Projekts war einfach – Doraja Eberle sieht im Fernsehen Katastrophenbilder aus Bosnien und will etwas tun  ; sie fährt auf gut Glück hinunter, trifft vor Zagreb an einer Tankstelle einen Priester, der sich um sie kümmert (BHB 36)  ; möglich war Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle

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dieser einfache Aufbruch durch das familiäre Umfeld und den Umstand, dass Doraja Eberle auf festem Boden stand.197 Doraja Eberle bemerkt mit Blick auf große Organisationen  : »Es herrscht Schwerfälligkeit und Bürokratie. In einem entlegenen Bergdorf in Bosnien etwa, wo es schon immer Giftschlangen gab, brauchten die Rückkehrer für das Serum einen Kühlschrank. Die Großorganisationen waren nicht in der Lage, das zu besorgen  : ›We have no mandate for this‹, war die ernüchternde Begründung. Wenn da oben einer von der Schlange gebissen wird, ist er ohne Gegengift tot. Wir haben eine Eisbox und ein Aggregat gekauft und es raufgeschafft. Wir haben noch nie nach unserem Mandat gefragt« (BHB 184). Das soll nicht heißen, dass große Organisationen in der Landschaft der Armutsbekämpfung nicht ihren Platz haben, aber doch auf eine Herausforderung aufmerksam machen. In einer kleinen Organisation ist mehr Raum für Kreativität und ungewöhnliche Projekte  : »Wir haben das Projekt ›Das tägliche Brot‹ erfunden. Ein serbischer Bäcker zahlt seinen Kredit für die Bäckerei an uns zurück, indem er täglich 200 Brote für bedürftige Muslime bäckt und ausfährt« (BH B 46)  ; ein anderes Beispiel für eine ungewöhnliche Initiative ist das Zirkusprojekt von Michael Kowarsch (BHB 174ff ), der unvoreingenommene Kinder aus verschiedenen Ethnien in der Manege zu einem Auftritt vereinte (BHB 175), ähnlich wie das Projekt »Shakespeare in Kabul« gezeigt hat. Ein Aspekt der Einfachheit von Projekten ist die überschaubare Dauer  : »Wir haben immer versucht, Projekte nach anderthalb bis zwei Jahren abzuschließen« (BHB 181). Ich möchte diesen Abschnitt mit einem Exkurs zur »Spiritualität des Gebens« beschließen, mit Hinweisen aus einer Tradition, der sich Doraja Eberle verpflichtet weiß. Auf der Suche nach Bausteinen für eine Ethik der Philanthropie wähle ich zwei Texte und werde versuchen, Kerngedanken in eine Sprache des 21. Jahrhunderts mit Blick auf die intangible Infrastruktur zu übersetzen – Cyprian von Karthago beschäftigte sich in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts in seinem Traktat »Über gute Werke und Almosen« (De opere et eleemosynis) mit der Frage des guten Gebens. Mein anderer Gesprächspartner wird Leo der Große sein, der sich im fünften Jahrhundert in einer Predigtreihe von sechs Sermones mit der Frage nach dem Almosengeben auseinander gesetzt hatte.198 (1) Cyprian von Karthago hebt in Anspielung auf die Evangelienstelle Lk 16,11ff den sorgsamen Umgang mit Geld hervor (D OE 7). Er hält fest, dass sichtbare Vermögen dem Erlangen unsichtbarer Vermögen dienen (D OE 14). Diesen Punkt können wir auch für das 21. Jahrhundert aufgreifen und etwa so übersetzen  : Die sichtbaren Vermögen sollen dazu dienen, die intangible Infrastruktur und die inneren Ressourcen von Menschen aufzubauen. Die intangible Infrastruktur einer Ge276

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meinschaft bestimmt Basis und »Telos«. Im Sinne der Nachhaltigkeit einerseits (Bildung bildet über den Radius der Gebildeten hinaus, Motivation bewegt jenseits des Kreises der Motivierten) und im Sinne der Widerstandsfähigkeit andererseits (in Zeiten von Druck und Reduktionszwang ermöglichen Bindungen an Wertesysteme die gedeihliche Entwicklung) ist diesem Prinzip »Setze Sichtbares ein, um Unsichtbares zu schaffen« Rechnung zu tragen. Dies entspricht auch in einer gewissen Hinsicht, der auch im Text zu findenden Aufforderung (nach der Evangelienstelle Mt 6,19ff ), sich dort Schätze anzulegen, wo sie nicht zu Schaden kommen können – die Investition in Menschen, die ihrerseits die Welt prägen, kann nicht so ohne weiteres verloren gehen, wenn Menschen Zugang zu Fähigkeiten erhalten haben. Hier können wir wieder an den Zusammenhang von intangibler Infrastruktur und Humankapital denken. Als normative Größe für die Investitionen, die das Gesicht der Welt verändern, gibt Cyprian die Idee einer annähernd gleichen Verteilung an, nach dem Vorbild der Verteilung von gottgegebenen Gütern  : »So leuchtet der Tag, so strahlt die Sonne, so strömt der Regen, so weht der Wind für alle ohne Unterschied, die Schlafenden haben einen und denselben Schlummer, und der Glanz der Sterne und des Mondes leuchtet allen gemeinsam« (D OE 25). Das ist als Bekenntnis zur Stärkung sozialer Gleichheit zu lesen. Cyprian spricht sich dafür aus, Vermögen so einzusetzen, dass die soziale Ungleichheit durch den Einsatz des Vermögens nicht größer wird. Diese Idee steht durchaus im Einklang mit einer jüngst in der Sozialwissenschaft angestoßenen Diskussion um die allgemeinen Vorteile sozialer Ausgewogenheit.199 Neben diesen Hinweisen auf intangible Infrastruktur und den normativen Wert sozialer Ausgewogenheit hebt Cyprian den Zusammenhang von »innen« und »außen« hervor, Aspekte also einer »Spiritualität des Gebens«  : Die Kunst des Gebens ist Teil der Selbsttransformation (in Cyprians Worten  : wir waschen unseren Schmutz durch Almosen ab  ; D OE 1), die Selbsttransformation wird durch das Geben voran getrieben (in Cyprians Sprache  : Unsere Gebete und unser Fasten vermögen weniger, wenn sie nicht durch Almosen unterstützt werden«  ; D OE 5). Dieses Motiv könnten wir so verstehen  : Der Einsatz von Vermögen soll ebenso zur Transformation der Gesellschaft wie zur Selbsttransformation der Vermögenden führen. Ein letzter Punkt, den ich hervorheben möchte  : Cyprian vergleicht das Almosengeben einerseits mit der Taufe (D OE 2), andererseits mit dem Martyrium (D OE 26). So wie die Taufe Sünden abwäscht, so waschen Almosen Sünden ab, die nach der Taufe geschehen  ; so wie die rote Siegeskrone für das Martyrium winkt, so ist die weiße Krone der Lohn der Almosen gebenden Menschen. In einer anderen Sprache ausgedrückt  : Teilen und Geben wird mit Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle

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diesem Vergleich als Eintrittsbedingung in den Kreis einer identitätsstiftenden Gruppe aufgefasst  ; durch Geben und Teilen wird das Gut der Mitgliedschaft in hoch angesehenen Gemeinschaften lukriert. Investition schafft Profil und Identität. Philanthropisches Engagement trägt nicht nur zum Gemeinwohl bei, sondern schafft auch selbst Gemeinschaft. Hier ist der Konnex zwischen Engagement und Identität angesprochen – Fragen der Investition sind nach Cyprian letztlich Identitätsfragen  : Seine Mahnung, dass Vermögende weniger auf ihr Vermögen als auf ihr Seelenheil bedacht sein sollen (D OE 10), kann durchaus so gelesen werden, dass operative Fragen nicht von Fragen der Identität getrennt werden können und dass die Identität (die intangible Struktur) den Primat vor der beobachtbaren Struktur beanspruchen kann. (2) Leo der Große gibt in seinen sechs Sermones über das Almosengeben Mahnungen bezüglich der Anerkennung der Gleichheit der menschlichen Natur (L G S 9,2  ; L G S 11,1). Diese fundamentale Gleichheit ist tiefer und relevanter als die Unterschiede, die sich etwa in der Vermögensverteilung ablesen lassen. Dieser zur intangiblen Infrastruktur zu zählende Gedanke der Gleichheit drückt aus, dass die Gemeinwohlorientierung durch eine Anerkennung des Primats des sozial Gemeinsamen vor dem sozial Trennenden vorangetrieben werden kann. Leo weist auch nachdrücklich darauf hin, dass es ein Privileg ist, sich in einer Position zu wissen, wo man andere Menschen unterstützen kann (L G S 6,1). Das ist ein interessanter Punkt – man könnte nun etwa überlegen, dass ein Privileg den ethischen Effekt mit sich bringt, die Linie zwischen »Pflicht« und »Werk der Űbergebühr« in Richtung des letztgenannten Aspekts zu verschieben – will heißen  : Menschen in einer privilegierten Position haben dort Pflichten, wo für andere Menschen nur die Möglichkeit von supererogatorischen Handlungen besteht. Anders gesagt  : Es ist nur gerecht, wenn sich Vermögende in besonderer Weise engagieren. Gerechtigkeit ist auch der Kontext, in dem nach Leo Mildtätigkeit stattfindet – mildtätiges Engagement ist im Kontext einer Entscheidung für Gerechtigkeit anzusiedeln (L G S 8.1). Damit ist ein Orientierungspunkt auf der Landkarte, auf der »caritas« und »iustitia« einander zugeordnet werden, eingegeben. Mildtätige Operationen sind an die Gerechtigkeitsorientierung der intangiblen Infrastruktur rückzubinden. Leo weist auch darauf hin, dass nicht die Größe der Gabe, sondern die Gesinnung ausschlaggebend für den Wert der Mildtätigkeit seien (L G S 8,1). Damit soll wohl auch eine Konkurrenzierung von Werken der Barmherzigkeit vorgebeugt werden. Auch ein kleines Samenkorn kann reiche Frucht tragen (L G S 8,1). Wiederum finden wir die Mahnung, klug im Umgang mit den eigenen Vermögen umzugehen – es bedarf eines wohl erwogenen Urteils, um einschätzen zu 278

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

können, welche Handlungsmöglichkeiten aufgrund des eigenen Vermögens zur Verfügung stehen (L G S 8,1  ; vgl. L G S 10,1). Hier gilt gewissermaßen ein Proportionalitätsprinzip. Das kluge Urteil soll sicher stellen, dass sich Gabe und Möglichkeiten des Gebers in Proportion zueinander verhalten, sodass es dem Geber möglich ist, »ein fröhlicher Geber« zu sein (L G S 11,2). Dieser Hinweis ergibt sich natürlich aus dem biblischen Rekurs auf 2 Kor 9,7. Leo verurteilt das Protzen mit Vermögen, was die im Kontext von Stiftungsgebarungen nicht unbeliebte Tugend der Diskretion fördern lässt (L G S 10,2). Das Thema Diskretion beschäftigt Leo auch mit Blick auf die Armen. Er bittet um die besondere und behutsame Berücksichtigung der verschämten Armen  : »Um aber des Armen und Dürftigen zu gedenken, müssen wir voll gütiger Teilnahme darauf bedacht sein, den ausfindig machen zu können, den Bescheidenheit verbirgt und Scham zurückhält. Gibt es doch solche, die darüber erröten, wenn sie vor aller Augen verlangen müßten, was ihnen nottut, die lieber still die drückende Last bitterer Entbehrung tragen als sich der Beschämung einer öffentlich vorgebrachten Bitte aussetzen wollen« (L G S 9,3). In einem Satz  : Mach es den Menschen, denen du gibst, einfach, dir dafür zu verzeihen, dass du ihnen etwas gegeben hast.

Eine Spiritualität des Gebens  : Doraja Eberle

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Zusammenfassende Thesen

1. Armut ist ein disruptives Phänomen, das Denkgewohnheiten durchbricht. 2. Armutsforschung muss »reduktionssensibel« sein, sensibel auf das Risiko sein, Menschen auf Teilaspekte bzw. epistemische Objekte zu reduzieren. 3. Es lassen sich verschiedene Perspektiven auf Armut unterscheiden, zumindest eine Perspektive in der ersten Person, eine Perspektive in der zweiten Person und eine Perspektive in der dritten Person, die über die Unterscheidungen »reflektiert«/»unreflektiert«, »engagiert«/»degagiert«, »flüchtig«/tief«, »monochrom«/pluriform weiter differenziert werden können. 4. Die für ernsthafte Armutsbekämpfung zu bevorzugende Perspektive ist die Perspektive P 2,132, die Grundlage für eine irritationsoffene und personenbezogene Haltung ist, welche zu Selbsttransformation führt. 5. Als Basis für diese Motivation, die auch Grundlage für die Möglichkeit einer tiefen Begegnung, die zu Selbsttransformation führt, sei die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit mit den vier Dimensionen Verletzbarkeit, Fragilität der Existenz, Kontingenz der Welt, Fehlbarkeit vorgeschlagen. 6. Die Anerkennung der Verwundbarkeit kann tief werden, wenn sie entsprechend verankert ist, was die Zerbrechlichkeitsfrage (»Wie würde ich mein Leben jetzt und hier und künftig leben, wenn ich jetzt und hier weiß, dass mein Leben dereinst von Angewiesensein, Verwirrung und Verfall gekennzeichnet sein wird  ?«) leisten kann. Durch diese aus der engagierten Perspektive der ersten Person Singular gestellten, auf eine wohldurchdachte persönliche Lebensform abzielende und »vom Ende her« konzipierte Frage entsteht eine »Wunde des Wissens«, schmerzhaftes Wissen, das an die eigene Verwundbarkeit und damit Abhängigkeit erinnern lässt. 7. Armutsdynamiken können tiefer verstanden werden, wenn man die Innenseite von Armut einbezieht. Stärker formuliert  : Ohne Berücksichtigung der Innenseite von Armut wird man Armut nur unzureichend verstehen und nicht wirkungsvoll bekämpfen können. Armutsbekämpfung ist auf epistemische und moralische Ressourcen, auf Wissen und auf moralische Einstellungen angewiesen. 8. Hintergrund des Zugangs ist ein bestimmtes Menschenbild, das davon ausgeht, dass Menschen Wesen mit Tiefe und Innerlichkeit sind, mit reichem Innenleben. Die »Innenseite der Armut« betrifft die Innerlichkeit des MenZusammenfassende Thesen

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schen, die menschliche Interiorität. Darunter verstehe ich insbesondere die epistemische und moralische Situation der Betroffenen. Diese Situation möchte ich, auch wenn es etwas schwerfällig klingt, als »episthetische Situation« bezeichnen. Die episthetische Situation ist die Gesamtheit der im erkennenden Subjekt verankerten Orientierungsbedingungen  ; Orientierungsbedingungen sind die Strukturen, die einen Menschen sein Verhältnis zu sich selbst und damit sein Verhältnis zur Welt bestimmen lassen  ; die episthetische Situation ist also jene »innere Situiertheit« des Menschen, die mit emotionaler, erkenntnisbezogener und moralischer Orientierung zu tun hat. 9. Aspekte der episthetischen Situation schließen ein  : Erinnerungskraft und Erinnerungen (memoria), Vorstellungskraft und Vorstellungen (Phantasie/ Hoffnung), Urteilsvermögen und Überzeugungen (Reflexion), Feinfühligkeit und Gefühle (Emotionalität), Strebekraft und Strebebewegungen (Wille), Haltungen und Einstellungen (Tugenden), moralisches Empfinden (Gewissen). Diese sieben Dimensionen ergeben »Fragerichtungen«, die man zur Erhellung der episthetischen Situation verwenden kann. Die episthetische Situation für die Zwecke der Armutsforschung oder Armutsbekämpfung nutzbar zu machen, bedeutet, den Blick auf diese Aspekte zu richten. 10. Armut tritt in Armutssituationen auf. Eine Armutssituation ist eine Lebenslage, die durch spezifische Mängel gekennzeichnet ist  ; diese Mängel können sich beziehen auf »materielle Güter«, »Gelegenheiten«, »Zugang zu Fähigkeiten«, »Zugang zu fundamentalen gesellschaftlichen Kontexten wie Arbeit, Bildung, Gesundheit, Recht«, »Zugang zu Land«. 11. Armut ist eine Deprivation von Identitätsressourcen – und damit eine Deprivation von Ressourcen zum Aufbau von Integrität als des Fokus von Identität. Identität ist auf Identitätsressourcen angewiesen. Identitätsressourcen sind vor allem  : Anerkennung, Handlungsmacht, Zugehörigkeit, Rahmung, sorgende Bindung. »Identität zu haben« bedeutet, ein besonderer, bestimmter, »lebensbesitzender« und versprechensfähiger Mensch zu sein. 12. Armut ist eine Deprivation von Ressourcen zum Aufbau von Integrität. Das moralische Schlüsselgut der Integrität ist das Gut der wohlgeordneten epistemischen und moralischen Ressourcen bzw. das Gut der geglückten Identität. Integrität kann durch fünf Dimensionen charakterisiert werden  : Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Integration, Responsivität und Unversehrtheit. Durch die Wunde des Wissens wird Integrität in zweite Integrität transformiert. Sie bildet das innere Fundament von Armutsbekämpfung. 13. Dinge haben eine Innenseite, sie haben einen symbolischen Wert  ; sie sind 282

Zusammenfassende Thesen

Identitätsressourcen und machen Aussagen über den Besitzer oder die Besitzerin. Die der Innenseite von Dingen ist für die Auseinandersetzung mit Armut aus verschiedenen Gründen bedeutsam  : (i)In einer materiell kleinen Welt können einzelne Gegenstände einen besonderen Wert erhalten, ist es auch einfacher, eine besondere Beziehung zu besonderen Gegenständen aufzubauen. Hier ist Achtsamkeit im Umgang mit dem einzelnen Gegenstand geboten  ; (ii) Armut wird in der Regel auch mit einer Knappheit bzw. einem Mangel an materiellen Gütern in Verbindung gebracht. Es sind nicht nur innere Ressourcen erschwert zugänglich oder auch knapp, sondern auch materielle Dinge, die nicht vorschnell »spiritualisiert« werden sollen  ; (iii) Armutsbekämpfung kann in der Bereitstellung materieller Güter nicht auf die Berücksichtigung der Innenseite dieser Dinge verzichten  ; eine Situation, in der Hunger beherrscht, beispielsweise, kann nicht hinwegsehen über die zumeist dichten Regelwerke, die Nahrungsmittel umgeben  ; Ähnliches gilt für die Einschätzung der Bedeutung von vermeintlichen Luxusgegenständen (wie einem Musikinstrument) in einer kargen Lebenssituation – hier kann ein Gegenstand zu einer Quelle von Lebenskraft werden. 14. Ereignisse haben eine Innenseite, die in der Frage »Was sagen uns Ereignisse über die moralische Struktur, über die episthetische Situation der involvierten Handelnden  ?« herausgearbeitet werden kann. 15. Die Innenseite des Politischen betrifft Ressourcen zweiter Ordnung. Sie zeigen sich in zwei Dimensionen  : Zum einen in der politischen Bedeutung »des Inneren« von Politikschaffenden, von Machthabenden und Machtgestaltenden  ; zum anderen in den Auswirkungen von Politik auf das Innere von Menschen, auf die episthetische Situation von Bürgerinnen und Bürgern. Wir könnten erstere »politisches Ethos« und zweitere »Innerlichkeitspolitik« (oder »episthetische Politik«) nennen. 16. Ich möchte Politik, die das Innere von Menschen berücksichtigt und sich um Integrität und die Möglichkeit von Integrität als politische Ziele bemüht, »tiefe Politik« nennen. Tiefe Politik ist eine Form der Politik, die Wahrheit und Sinn berücksichtigt. Tiefe Politik ist für ernsthafte Armutsbekämpfung auf einer Makroebene unerlässlich. Tiefe Politik kultiviert Innerlichkeit in dreierlei Hinsicht  : Erstens auf Seiten der politischen Verantwortungsträger, die aus einer Innenwelt von tiefen Überzeugungen und Fragen Politik gestalten und eine Kultur der Selbstreflexion pflegen, die das Gespräch fördert  ; zweitens als politisches Thema, das sich mit »intangibler Infrastruktur« beschäftigt, also mit den Wissens- und Wertegrundlagen Zusammenfassende Thesen

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eines Gemeinwesens  ; und drittens im Sinne eines politisch unterstützten Zugangs zu Innerlichkeit, der es den Mitgliedern des Gemeinwesens ermöglichen soll, innere Identitätsressourcen zu erschließen. Tiefe Politik ist entscheidend, will man Armut als Deprivation von Identitätsressourcen bekämpfen. 17. Eine Innenseite kann auch für die Wirtschaft lokalisiert werden. Im wirtschaftlichen Geschehen werden Güter hergestellt und getauscht. Güter machen Aussagen über die Identität von Menschen und sind »responsiv«, d. h., sie »antworten« auf Fragen der Lebensbewältigung. Auf diesem Hintergrund kann man Ökonomie als identitätsstiftendes Gespräch verstehen. Armutsbekämpfung ist Ausdruck dieses Gesprächs. 18. Die Innenseite des Sozialen verweist auf die intangible Infrastruktur, die als Quelle von Wissen und Werten den Umgang mit der materiellen Infrastruktur prägt. Grundkategorien der Innenseite des Sozialen sind die Kategorien »Ehre« (»Reputation«, »Prestige«, »Anerkennung«, »Status«), »Vertrauen« und »Solidarität«. Die Innenseite des Sozialen ist von zentraler Bedeutung für die Armutsbekämpfung, weil das Scheitern von Armutsbekämpfungsmaßnahmen in vielen Fällen mit dem Ignorieren der intangiblen Infrastruktur zu tun hat  ; Misstrauen wird von Ohnmachtsgefühlen, Ohnmachtserfahrungen und der Erfahrung von Ungleichheit genährt – Menschen, die von Armut betroffen sind, erleben Ungleichheit und Ohnmacht und sind von daher in besonderer Weise gefährdet, Misstrauen gegenüber Institutionen oder Maßnahmen zu entwickeln. 19. Die Innenseite des Sozialen wird auch an der »Innenseite von Gerechtigkeit«, d. h. dem geteilten »Gerechtigkeitssinn«, dem »Willen zum Zusammenhalt«, der Gerechtigkeitsvorstellungen vorgelagert ist und in jede Gerechtigkeitstheorie einfließen muss, deutlich. Die Entwicklung einer gemeinsamen Innenseite des Sozialen im Sinne eines ernsthaft geteilten Sinns von Gerechtigkeit, was auch den Abbau von Privilegien einschließt, ist unerlässlich für die nachhaltige Bekämpfung von Armut. 20. Armut kann auch als Mittel zum Aufbau moralischer Identität, zur Kultivierung von Integrität angesehen werden. Unbeschadet der negativen Erfahrungen von Armut gibt es in der christlichen Tradition (und nicht nur hier) wirkmächtige Motive, die Armut als ein anstrebenswertes Gut, also als ein »bonum« ausweisen. Armut wird in dieser Tradition insofern als ein »bonum« ausgewiesen, als Armut zum Aufbau von moralischer Identität und Integrität dient und Identitätsressourcen erschließt. Armut wird in dieser Tradition 284

Zusammenfassende Thesen

aber auch als »malum« angesehen, und zwar genau aus denselben Gründen, die Armut als »Gut« erkennen lassen  : Armut ist ein »malum«, weil sie vom Wesentlichen ablenkt und das konzipierte Ideal von Integrität unterminiert. 21. Armut ist insofern ein Übel, als es die Integrität von Menschen gefährdet und die Möglichkeit, gemäß begründeter persönlicher moralischer Standards zu handeln, unterminiert. Armut verletzt das Recht auf moralisches Handeln, ein Recht, das gewissermaßen die Grundlage für die Idee der Menschenrechte bildet, die dafür gedacht sind, Menschen vor Strukturen und Umständen zu schützen, die in die Unmenschlichkeit führen  ; unmenschliche Strukturen sind solche, die daran hindern, ein »decent life« zu führen, ein Leben also, das sie nach menschlichem Ermessen davor bewahrt, sich in strukturelle Situationen begeben zu müssen, die zu moralischem Heroismus oder moralischem Verrat üben zu müssen. 22. Armut wird zum Übel, wenn Quellen von Integrität verschüttet bzw. Aspekte von Integrität unerreichbar werden. Dabei wird nicht nur die Integrität der Armutsbetroffenen bedroht, sondern auch die Integrität der wohlhabenden Gesellschaftsmitglieder und einer Gesellschaft überhaupt, da »gemachte und stabilisierte Armut« auf Mängel der im Zusammenhang mit Integrität als Grundaspekt genannten Responsivität der Entscheidungsträger hinweist. Armut ist insofern ein Übel, als Armut Menschen daran hindert, Bindungen einzugehen bzw. Bindungen zu respektieren  ; die Kraft zur Selbstverpflichtung wird deutlich reduziert. Man könnte Armut deswegen auch als Deprivation der Fähigkeit, Versprechen abzugeben, ansehen. 23. Die Frage nach dem normativen Status von Armut kann nicht getrennt werden von der Frage nach dem guten Leben. Ein gutes Leben ist ein integres Leben, ein Leben, das unter dem Bemühen um Integrität steht. Integrität kann als episthetische Gerechtigkeit verstanden werden. Armut ist gerade deswegen ein Übel, weil sie den Zugang zu diesen Gerechtigkeiten erschwert oder gar unmöglich macht. 24. Die Frage nach dem normativen Status von Armut kann nicht getrennt werden von der Frage nach einer guten Gesellschaft. Die Frage nach einer guten Gesellschaft kann über Minimalbedingungen gestellt werden  ; wenn Integrität als Schlüssel zum guten Leben vorgestellt wurde, ergibt sich als eine Minimalbedingung einer guten Gesellschaft die Vermeidung von Sozialpathologien. Unter einer Sozialpathologie könnte man eine systematische und signifikante Störung des Zusammenlebens verstehen, die die Basis einer auf Dauer angelegten Koexistenz und Kovivenz von Menschen beschädigt oder Zusammenfassende Thesen

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zerstört, die Möglichkeit eines wohlgeordneten Gemeinwesens raubt oder gefährdet und die strukturellen Rahmenbedingungen für den Aufbau von Integrität erodiert. Tiefe Politik, die sich um dilatorische Güter bemüht, ist der klarste Schutz gegen die Entstehung von Sozialpathologien. Eine gute Gesellschaft ist ernsthaft an den Ressourcen von Integrität interessiert. Ich möchte eine gute Gesellschaft als ernsthafte Gesellschaft bezeichnen. Eine ernsthafte Gesellschaft zeichnet sich durch vier Merkmale aus  : Sie ist ernst, sie ist agapolyglott, sie ist menschenfreundlich, sie ist ungerechtigkeitsfirm. Das sind jene Rahmenbedingungen, die Armutsbekämpfung ermöglichen – weil Rahmenbedingungen für »tiefe Praxis« und »mühsame Teilhabe« geschaffen werden. 25. Armutsbekämpfung ist eine Veränderung der sozialen Situation und damit an Fähigkeiten und einen Möglichkeitssinn gebunden. Fähigkeiten sind untrennbar mit Menschen verbunden, die diese Fähigkeiten im Rahmen einer Lebensontologie ausüben. 26. Ein Hindernis auf dem Weg zu ernsthafter Armutsbekämpfung sind Privilegien. Privilegienträger haben bei der Erarbeitung und Zuerkennung ihrer Vorteile auf Strukturen tangibler wie intangibler Art zurückgegriffen, die von allen errichtet und von allen aufrechterhalten werden. Das erhöht den Begründungsdruck auf Privilegien.Ein Privileg ist dabei für den Privilegienträger eine Zugangserleichterung  : P ist ein Privileg für A im Kontext K genau dann, wenn A aufgrund von P wünschenswerte Interessen, etwas zu tun und etwas zu sein, absichern kann. Privilegien sind toxisch, wenn sie nicht begründet werden können und die Integrität der Betroffenen gefährden. 27. Armutsbekämpfung muss interioritätssensibel vorgehen, also Maßnahmen entwickeln, die die episthetische Situation der Beteiligten berücksichtigen und transformieren. Leitwert ist der je größere Zugang zu Identitätsressourcen und zu Ressourcen zum Aufbau zweiter Integrität. Das verlangt inneres Engagement der Beteiligten und die Bereitschaft zur »Arbeit am Selbst«. 28. Ein wichtiger Aspekt von Armutsbekämpfung sind integre Institutionen, die von tiefer Politik geführt werden. Institutionen und Organisationen in der Armutsbekämpfung sind den üblichen Dynamiken einer Institutionalisierung ausgesetzt – (i) Tendenz zur Standardisierung  ; (ii) Tendenz zur Expansion  ; (iii) Tendenz zur Erweiterung des Zuständigkeitsportfolios. 29. Interioritätssensible Armutsbekämpfung wird die Erinnerungen, Hoffnungen, Vorstellungen, Wünsche, Gefühle, Haltungen und Überzeugungen der Beteiligten ernst nehmen. Königsweg zur Armutsbekämpfung ist Bildung 286

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als Erschließung eines Zugangs von Ressourcen zur Kultivierung von Innerlichkeit und als Zugang zu Fundamentalfähigkeiten als Fähigkeitsfähigkeiten bzw. Fähigkeiten zweiter Ordnung, wesentlich die Fähigkeiten zur Selbstreflexion, die Freundschaftsfähigkeit und die Fähigkeit, Probleme als solche zu erkennen und zu lösen. Diese Fundamentalfähigkeiten lassen sich in der Fähigkeit, eine Gesprächssituation herzustellen und ein Gespräch zu führen, zusammenfassen 30. Armutsbekämpfung bedarf einer verfügbaren Infrastruktur, die eine Kultur von Hospitalität ermöglicht. 31. Armutsbekämpfung, die auf Transformation von Menschen »von innen« her ausgerichtet ist, ist wohlberaten, Mitverantwortung zu ermöglichen. 32. Spiritualität möge in der Armutsbekämpfung kein Tabuthema sein – sie hat mit der expliziten Kultivierung von Identitätsquellen zu tun und ist auf die Gestaltung innerer Ressourcen des Menschen ausgerichtet. 33. Armutsbekämpfung möge insofern »alltagsorientiert« sein, als es im Sinne der Etablierung »guter Gewohnheiten« darum gehen muss, Alltag zu etablieren – das bezieht sich einerseits auf die Frage nach der Alltagstauglichkeit von Maßnahmen, andererseits auf die Notwendigkeit, in einer Armutssituation stabile Strukturen zu etablieren, die die Entstehung von »Alltag« ermöglichen. 34. Armutsbekämpfungsmaßnahmen, die Produkte herstellen und vermarkten, mögen auf die responsive Struktur der Ökonomie Rücksicht nehmen, die ein »Gut« in Bezug auf Wünsche und Bedürfnisse von Menschen erkennen lässt. 35. Armutsbekämpfung muss die Vorstellungskraft von Menschen, die in verfestigter Armut leben, erweitern und den Möglichkeitssinn der Menschen stärken. Das kann auch den Aspekt einschließen, die Enge einer Tradition aufzubrechen. Verfestigte Armut hat in einigen Fällen mit verfestigten Traditionen zu tun. 36. Armut ist nicht nur eine Deprivation von Ressourcen, sondern auch ein mentaler Zustand – Armutsbekämpfung, will sie nachhaltig sein, muss eine Transformation der episthetischen Situation motivieren. 37. Ein wesentliches Element der Armutsbekämpfung stellt die intangible Infrastruktur dar, vor allem die Aspekte Ehre, Vertrauen und Wissen. 38. Armutsbekämpfung ist auf geduldige, zu kleinen und langsamen Schritten fähige, verlässliche Begleitung angewiesen, die von Menschen als Dienst geleistet wird, denen die armutsbetroffenen Menschen im Sinne von starker Sorge wichtig geworden sind. Zusammenfassende Thesen

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39. Armutsbekämpfung muss im Sinne tiefer Politik die Frage nach dem »Telos« stellen – wohin soll bekämpfte Armut die Menschen führen  ? 40. Armutsbekämpfung ist auf eine Fehlerkultur angewiesen. 41. Armutsbekämpfung muss lokales Wissen berücksichtigen  ; das hat auch mit Machtverzicht auf Seiten der Expert/inn/en zu tun. Für Expert/inn/en impliziert dies auch die Notwendigkeit, den eigenen Status zu reflektieren und eine Kultur der Selbstreflexion zu etablieren. 42. Spezifische Maßnahmen zur Armutsbekämpfung richten sich an bestimmte Zielgruppen und sind damit auch exklusionsbildend. Eine Frage, die bei Anstrengungen zur Armutsbekämpfung mitzudenken ist, lautet denn auch  : Wie ist mit den durch Armutsbekämpfung erzeugten Exklusionsmechanismen umzugehen  ? 43. Organisationen laufen aufgrund der Eigeninteressen Gefahr, weniger an Armutsbekämpfung als an Organisationsstärkung und Institutionslogik interessiert zu sein. 44. Armutsbekämpfung hat auch mit »Geben« zu tun  ; Geben kann als gewalttätiger Akt geschehen, der Demütigung erzeugt und deswegen den Hinweis motivieren kann  : Mach es den Menschen, denen du gibst, einfach, dir dafür zu verzeihen, dass du ihnen etwas gegeben hast. 45. Armut wird durch Gesprächskultur bekämpft. Anders gesagt  : Armutsbekämpfung ist Gespräch.

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Zusammenfassende Thesen

Epilog

Robert Katende startete in Katwe, einem Slum am Rande der ugandischen Hauptstadt Kampala, ein Schachprojekt für Kinder aus der Nachbarschaft. Das Schachspiel, wie Tim Crothers in »The Queen of Katwe« beschreibt, ist ein Fenster in eine Lebensform, denn Schach verlangt Disziplin und Voraussicht, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung, Wachsamkeit und Sorgfalt. Damit werden gute Gewohnheiten eingeübt, die eine Veränderung der Lebensform ermög­lichen. Phiona Mutesi gelang auf diese Weise der Weg aus der Armut zur Schachmeisterin. Damit wird nicht nur ein einzelner Mensch, sondern ein ganzes soziales System verändert. Armut betrifft Menschen, wird in vielen (den meisten  ?) Fällen von Menschen erzeugt und ist von engagierten Menschen, denen Menschen, die von Armut betroffen sind, nicht gleichgültig sind, bekämpft werden. »Wege aus der Armut« sind stets auch »Brücken zwischen Menschen«. In den »Erzählungen der Chassidim« berichtet Martin Buber von Rabbi Jizchak Eisik, der die Losung des Lebens als »Gib und nimm« beschrieben hatte: »Jeder Mensch soll ein Spender und ein Empfänger sein. Wer nicht beides in einem ist, der ist ein unfruchtbarer Baum.« Armutsbekämpfung, wie sie in diesem Buch beschrieben wurde, verlangt die doppelte Erkenntnis, dass alle spenden und auch alle empfangen. Das Entdecken des Spendens mag, wie das Beispiel Walker Browns gezeigt hat, mitunter einen zweiten und dritten Blick verlangen, ähnlich wie die Einsicht in das Empfangen derjenigen, die sich als des eigenen Glückes Schmiede verstehen; aber durch tiefes Hinschauen wird diese Dynamik des Gebens und Nehmens bei jedem Menschen erkannt; so kann die Wunde des Wissens um die eigene Verwundbarkeit in das Vertrauen in die Fruchtbarkeit münden – eine Fruchtbarkeit, die wächst und tiefer wird, wenn sie gemeinsame und geteilte Fruchtbarkeit ist.

Epilog

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Anmerkungen

Erster Teil  : Über Armut nachdenken   1 E. Duflo, Kampf gegen die Armut. Berlin 2013, 106.   2 A. Krishna, Poverty Knowledge and Poverty Action in India. In  : D. Narayan and P. Petesch, eds., Unleashing the Economic and Social Mobility of the Poor. Basingstoke 2007  ; zur Problematik von Wissenslücken in der Politikgestaltung nachhaltiger Entwicklung vgl. S. Bass, B. Dalal-Clayton, Bridging the Knowledge Gap in SD Strategies. Opinion. London  : Institute for Environment and Development 2002.   3 R. Williams, Keywords. London 1976.   4 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Oxford 1967, 65.   5 Ebd., 71.   6 Ebd., 208.   7 Vgl. L. Wittgenstein, Zettel. Oxford 1967, 373.   8 M. Kroß, Philosophieren in Beispielen. Wittgensteins Umdenken des Allgemeinen. In  : H.J. Schneider, M. Kroß (Hgg.), Mit Sprache spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein. Berlin 1999, 169–187, hier 172.   9 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.54. 10 J. Conant, C. Diamond, On Reading the Tractatus Resolutely. In  : M. Kölbel, B. Weiss, eds., The Lasting Significance of Wittgenstein’s Philosophy. London 2004, 46- 99  ; J. Conant, The Method of the Tractatus. In E. Reck (ed.) From Frege to Wittgenstein  : Perspectives in Early Analytic Philosophy, Oxford 2002, 374–462. D. Cora, ›Ethics, Imagination and the Method of the Tractatus‹, in A. Crary and R. Read (eds) The New Wittgenstein, London 2000  ; C. Diamond, Throwing Away the Ladder. Philosophy 63, 243 (1988) 5–27. 11 J. Conant, The Method of the Tractatus, 422. 12 H.J. Schneider, »Zwischen den Zeilen«  : Wittgenstein und Gendlin über die nichtregelhafte Seite der Sprachkompetenz. In  : J. Padilla-Gálvez, R. Drudis Baldrich (Hgg.), Wittgenstein y el Circulo de Viena. Cuenca 1998, 165–182. Schneider sieht Sprache als eine Einrichtung zur Verhaltenskoordination, die zwischen den Polen von »Regelwerk« und »Freiraum« angesiedelt ist – vgl. H.J. Schneider, Phantasie und Kalkül. Über die Polarität von Handlung und Struktur in der Sprache. Frankfurt/Main 1992. 13 R. Chambers, Rural Development. London 1983, 66f. 14 D. Hulme, Thinking ›Small‹ and the Understanding of Poverty  : Maymana and Mofizul’s Story. CPRC Working Paper 22. Manchester 2003, 4  ; vgl. auch ein »update«  : D. Hulme/K. Moore, Thinking Small, and Thinking Big about Poverty  : Maymana and Mofizul’s Story Updated. The Bangladesh Development Studies 33,3 (2010) 69–96. 15 Aristoteles, Poetik 1448a2, 1454a17. 16 Aristoteles, Poetik 1452a6–10. 17 Aristoteles, Poetik 1453b11  ; vgl. Aristoteles, Politik 1342a6ff  ; siehe auch J. Ackrill, Aristotle and the Best Kind of Tragedy. Classical Quarterly N.S. 16 (1966) 78–102. 18 Aristoteles, Rhetorik 1357b19. 19 G. Ryle, The Thinking of Thoughts. Collected Papers II. London 1971, 480–496. 20 C. Geertz, The Interpretation of Cultures. New York 1993, 6ff. Anmerkungen

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21 Ebd., 10. 22 Ebd. 23 Ebd., 21. 24 Mit anderen Worten  : »A repertoire of very general, made-in-the-academy concepts and systems of concepts – ›integration,‹ ›rationalization,‹ ›symbol,‹ ideology,‹ ›ethos,‹ ›revolution,‹ ›identity,‹ ›metaphor,‹ ›structure,‹ ›ritual,‹ ›world view,‹ ›actor,‹ ›function,‹ ›sacred,‹ and, of course ›culture‹ itself – is woven into the body of thick-description ethnography in the hope of rendering mere occurrences scientifically eloquent … The aim is to draw large conclusions from small, but very densely textured facts  ; to support broad assertions about the role of culture in the construction of collective life by engaging them exactly with complex specifics« (ebd., 28). 25 Man mag hier auch an die Dynamik denken, die zur Konstruktion von »Idealtypen« in der Soziologie führen kann, wie das Max Weber beschrieben hat  : Der Idealtypus »ist nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen … Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht« (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1988, 190). Auch ein Idealtypus hängt von seiner empirischen Basis und also von den Beispielen, die ihm zugrunde liegen und von denen er »genährt« wird, ab und veranschaulicht damit diesen Zusammenhang zwischen Kenntnis von einzelnen Fällen und Abstraktionsvorgängen (Verallgemeinerungen). 26 Ch. Achebe, The Truth of Fiction. In  : Ders. Hopes and Impediments  : Selected Essays 1965–1987. London 1988, 95–105, hier 95f. 27 M. Nussbaum, Upheavals of Thought. Cambridge 2001, 243f. 28 T. Rosenberg, Children of Cain. Violence and the Violent in Latin America. New York 1991, 12. 29 J. Link/H. Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990) 88–99. 30 Saint-John Perse, Preislieder. Ausgewählte Dichtungen. München 1987, 148 bzw. 151. 31 In einer provozierenden Formulierung George Steiners  : »Die Naturwissenschaften werden unsere Umwelt neu formen und auch den Zusammenhang von Muße und Arbeit, woraus eine Kultur ihre Lebensfähigkeit bezieht. Doch bei all ihrer unerschöpflichen Faszinierungskraft und ihrer häufigen Schönheit sind die Natur- und die mathematischen Wissenschaften in letzter Instanz nur selten interessant. Damit meine ich, daß sie wenig zur Kenntnis und Bestimmung der menschlichen Möglichkeiten beigetragen haben, und daß bei Homer, Shakespeare oder Dostojewski für die Sache der Menschheit erwiesenermaßen mehr Einsichten zu finden sind als im gesamten Bereich der Neurologie und Statistik. Keine Neuentdeckung der Genetik kann jemals beeinträchtigen und übertreffen, was Proust über Magie und Bürde einer Geschlechterfolge bewußt war. Jedesmal, wenn wir durch Othello an den Hauch von frischem Tau erinnert werden, erfahren wir von jener sinnlich flüchtigen Wirklichkeit, durch die unser Leben hindurch muß, mehr als es Aufgabe oder Bestreben der Physik sein kann uns je mitzuteilen. Keine Soziologie für politische Beweggründe und Taktiken kann es mit Stendhal aufnehmen« (G. Steiner, Sprache und Schweigen. Frankfurt/Main 1969, 37). 32 Die Sozialanthropologin Kirsten Hastrup hat dies lapidar ausgedrückt  : »One of the hardest facts of life is that living itself is so painful to large numbers of people« (K. Hastrup, Hunger and the Hardness of Facts. Man 28,4 [1993] 727–739, 727).

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Anmerkungen

33 W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 41994, 176. 34 H.G. Gadamer, Gesammelte Werke (10 Bände  : Tübingen 1985–1995), Band 2, 205  ; ders., Gesammelte Werke 8, 279ff. 35 H.G. Gadamer, Gesammelte Werke 8, 283f. 36 St. Fish, Is There a Text in This Class  ? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge, Mass 1980. 37 G. Steiner, Nach Babel. Frankfurt/Main 1994, 21. 38 G. Steiner, Der Garten des Archimedes. München 1997, 16. 39 Ebd., 20. 40 G. Steiner, Sprache und Schweigen, 42. 41 G. Steiner, Der Garten des Archimedes, 44. Auf der Grundlage dieses Qualifikationsprofils können qualifizierte Urteile gefällt werden. Die qualifizierte Leserin sieht die Tiefenschichten eines Textes  ; wohl auch  : den Konnex zum eigenen Leben. 42 J. Thompson, Jetzt und auf Erden. Übersetzt von P. Torberg. »Now and on Earth«. München 2011 (1942). Abkürzung  : »TNE«. 43 »Der Lärm ist unbeschreiblich. Und es gibt keinen Rhythmus, an den man sich gewöhnen könnte. Bei jedem einzelnen der abertausend Hammerschläge durchzuckt es einen« (TNE 88)  ; eines Tages muss er Schachteln kleben, ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen – »gegen Mittag hätte man glauben können, ich würde gelbe Handschuhe tragen. Wie schon gesagt, das Zeug ging einfach nicht mehr ab. Ich musste mein Sandwich aus der hohlen Hand essen, und die Zigaretten konnte ich nur mit den Lippen aus der Schachtel ziehen« (TNE 58). 44 Er beschreibt eine Szene aus der Kindheit, einen prägenden Moment  : Seine Mutter (der Vater ist auf Arbeitseinsatz in Texas) kann eine Woche nach der Geburt von Tochter Frankie das Baby nicht stillen  ; sie schickt den Ich-Erzähler und dessen ältere Schwester Margaret in ein Geschäft, um Milchpulver zu kaufen, »doch auf dem Rückweg verfolgte uns eine Bande von Rüpeln aus der Nachbarschaft, und Margaret ließ das Glas fallen. Es war ganz in festes braunes Papier gewickelt  ; dass es zerbrochen war, haben wir erst gemerkt, als Mom es auspackte … Nein, sie hat uns nicht beschimpft oder geschlagen – soweit ich mich erinnern kann, sind wir nie wirklich verhauen worden – sie saß einfach da in ihren Kissen, und dann passierte etwas Schlimmes mit ihrem Gesicht. Dann legte sie sich eine ausgezehrte Hand vor die Augen, ihre Schultern zitterten, und sie weinte … Jahre später sah ich ein Ölbild von Mom. Das Bild einer Frau in einem zerschlissenen Kleid, mit wirren, schwarzen Haaren und einer dürren Hand vor dem Gesicht, aber nicht, um es zu verbergen – Himmel, nein, sondern um auf etwas hinzuweisen – nicht in Worte zu fassendes Elend und Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Das Bild hieß Verzweiflung.« (TNE 14f ). 45 »Mom schüttelte mich an der Schulter, und die Uhr auf dem Kaminsims zeigte halb sechs. Die Whiskeyflasche war leer. Die Weinflasche auch. »Jimmie«, sagte Mom. »Jimmie. Ich weiß um alles in der Welt nicht, was aus dir werden soll« (TNE 37). 46 »Und, fragte ich mich, warst du jemals glücklich  ? Hast du jemals deinen Frieden gehabt  ? Natürlich nicht, um Himmels willen. Du warst immer in der Hölle … Weißt du nicht mehr, wie es mit deinem Vater abwärtsging  ? Genau wie bei dir. Ganz genau wie bei dir. Zornig. Sprunghaft. Trübsinnig. Und dann – na, du weißt es ja … Du weißt es doch, verdammt« (TNE 36). Oder – nach der ersten Arbeitswoche in der Fabrik warten alle auf den Lohn, den er aber erst in der zweiten Woche erhalten wird  : »An jenem Nachmittag ging ich nur ungern nach Hause. Noch weniger gern als sonst, meine ich. Ich wusste, dass niemand von ihnen mir die Schuld geben würde, wie sollten sie auch. Aber es würde die Hölle werden« (TNE 61). 47 J. Ziegler, Wie kommt der Hunger in die Welt  ? Ein Gespräch mit meinem Sohn. München 2000, 36. Erster Teil  : Über Armut nachdenken

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48 A. de Swaan, Elite perceptions of the poor  : In  : E.P. Reis, M. Moore, eds., Elite Perceptions of Poverty and Inequality. London 2005, 182–194, hier 184. 49 M. Nussbaum Cultivating Humanity. Cambridge, Mass 2003. 50 Vgl. K. Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Frankfurt/Main  : Suhrkamp 2002  ; K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Frankfurt/Main 22002  ; K. Amann, Menschen, Mäuse und Fliegen. Eine wissenschaftssoziologische Analyse der Transformation von Organismen in epistemische Objekte. Zeitschrift für Soziologie 23,1 (1994) 22–40  ; vgl. auch B. Latour & St.Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Princeton/NJ 21986  ; M. Lynch  : Art and Artefact in Laboratory Science. London 1985. 51 J. Halpern, H.M. Weinstein, Rehumanizing the Other  : Empathy and Reconciliation. Human Rights Quarterly 26,3 (2004) 561–583. 52 Ebd., 565. 53 Ebd., 567. 54 S. Grosz, The Examined Life. How we Lose and Find Ourselves. London 2013, 2. 55 K. Bales, Disposable People. New York 1999. 56 J.M. Coetzee, Leben und Zeit des Michael K. Frankfurt/Main. 52003, 185. 57 L. Genova, Mein Leben ohne Gestern. Bergisch Gladbach 2009, 274–278. 58 Ein Beispiel für diesen Machbarkeitszugang stellt Jeffrey Sachs‹ einschlägig betiteltes Buch »The End of Poverty« dar – J. Sachs, The End of Poverty. New York 2005. 59 Vgl. Augustinus, De Trinitate 12,14, 22 und 13,1,1 sowie 14,1,3. 60 W. Ockham, Scriptum in librum Sententiarum, Prol., q. 12 (ed. cit. 325). 61 Bonaventura, In Sent I, Prooem., q 3, resp. (ed. cit. 13). 62 Die Erkenntnis, dass Christus für uns gestorben ist, und ähnliche Aussagen der Theologie sollen den Menschen zum Glauben bewegen. Die Erkenntnis demgegenüber, dass die Diagonale eines Quadrats oder Rechtecks nicht mit der Seitenlänge übereinstimmen kann, erfordert keine solchen Konsequenzen und kann auch keine solche haben  : »Nam haec cognitio, quod Christus pro nobis mortuus est, et consimiles, nisi sit homo peccator et durus, movet at amorem  ; non sic ista  : quod diameter est asymeter costae« (ibd.). 63 »Ideo potest dici quod theologia … sit lex et omnis lex practica est, quod theologia est scientia practica quia omnis lex aliquod opus praecipit, et quia doctrina libri Sententiarum convenit cum sacra sciptura in fine sicut expositoria ipsius, ideo est doctrina sive scientia practica sicut illa quam exponit« (W de la Mare, Scriptum in Primum Librum Sententiarum, Prol q 2, ed. cit., 15). 64 Loc cit, q 4, resp. (ed. cit. 29). 65 Loc cit., q 6, a 1, resp. (ed. cit. 34). 66 Loc cit, q 7, resp. (ed. cit. 42). 67 »In hoc enim quod docet contemplari non ponit finem scire contemplari sed magis ipsam contemplationem sive actum contemplandi (loc cit, q 2, ad ultimum, ed. cit. 16). 68 H. Kraml, Einleitung zu Guillelmus de la Mare, Scriptum in Primum Librum Sententiarum, Hg. H. Kraml. München 1989, *13–*85, p 46*. 69 ���������������������������������������������������������������������������������������������� »Praeterea … secundum praxim vel speculationem, pertinent principia et conclusiones  ; conclusiones enim practicae resolvuntur in principa practica, non speculativa  ; ergo cum cognitio finis sit directiva in actibus circa ea quae sunt ad finem et cognitio eorum quae sunt ad finem sit quasi conclusio conclusa in cognitione finis quasi principii, si cognitio eorum quae sunt ad finem sit cognitio conclusionum practicarum, cognitio finis erit cognitio practica, quia de principio practico« (Ioannes Duns Scotus, Ord. 1, Prol., par 5, q 1–2, ad primum quaestionem, opinio aliorum, ed. cit. 187). 70 Prol., q 3., solutio – zitiert nach der kritisch bearbeiteten Version von V. Richter, Duns Scotus’

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Anmerkungen

Text zur Theologie als praktischer Wissenschaft. Collectanea Fransciscana 60 (1990) 459–474, hier 466. 71 »Fides non est habitus speculativus nec credere est actus speculativus nec visio sequens credere est visio speculativa, sed practica. Nata est enim ista visio esse conformis fruitioni et prius naturaliter haberi in intellectu creato ut in fruitio recta illi conformiter eliciatur« (Prol., q, 3, ad arg princ, Ausgabe zitiert nach der Version, Richter, Duns Scotus’ Text zur Theologie als praktischer Wissenschaft, 479). 72 Vgl. A. Assmann, Was ist Weisheit  ? In  : Dies., Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III. München 1991, 15–44. 73 Vgl. E. Duflo, Kampf gegen Armut. Berlin 2013, 182. 74 B. Bolzano, Lehrbuch der Religionswissenschaft. Teil I. Stuttgart 1994. 75 Ebd., 49f. 76 E. Morscher, Bolzanos Logik der Religion. In  : W. Löffler (Hg.), Bernard Bolzanos Religionsphilosophie und Theologie. St. Augustin 2002, 35–90, hier 50f. 77 Vgl. zu solchen Fragen als anschauliches Beispiel eine Studie aus der Schweiz  : C. Maeder, E. Nadai, Zwischen Armutsverwaltung und Sozialarbeit. Formen der Organisation von Sozialhilfe in der Schweiz. In  : Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 30,1 (2004) 59–76. 78 V. Akula, A Fistful of Rice. Boston, Mass 2011, 38. 79 Vgl. K. Brock et al, Poverty Knowledge and Policy Processes. IDS Research Report 53. Brighton 2002, 14f  ; vgl. auch K. Brock et al., Power, knowledge and political spaces in the framing of poverty policy. IDS Working Paper 143. Brighton 2001. 80 T. Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse. München 2012, 403  ; der Verweis auf Weintraub bezieht sich auf  : R. Weintraub, How Economics Became a Mathematical Science. Durham, NC 2002, 6. 81 A. O’Connor, Poverty Knowledge. Social Science, Social Policy, and the Poor in Twentieth-Century U.S. History. Princeton 2001, v.a. Kap. 9 und 11. 82 Armutsforschung findet in einem institutionalisierten Kontext statt und folgt »vested interest« – vgl. L. Yapa, How the Discipline of Geography Exacerbates Poverty in the World. Futures 34,1 (2002) 33–46. Der Verdacht, dass Armutsforschung auch zur Armutsproduktion beiträgt, wurde auch in Bezug auf Hunger geäußert – M. Tiles, Science and the Politics of Hunger. Philosophy of Science 64 (1997) 161–174. 83 A. Bebbington, A. Barrientes, Knowledge generation for poverty reduction. Global Poverty Research Group. Working Paper 23. Manchester 2005, 9. 84 Vgl. N. Gorjestani, Indigenous Knowledge for Development. UNCTAD Conference Paper. Genf 2000  ; siehe auch R. Chambers, Whose Reality Counts  ? London 1997. 85 D. Narayan et al., Voices of the poor. Can anyone hear us  ? Oxford 2000, 26. 86 P. Bourdieu, Das Elend der Welt. Konstanz 1997. 87 Ebd., 17. 88 Zitiert nach  : I. Brown, Der Junge im Mond. München 2012, 55. Dieses Zitat steht im Zusammenhang mit der Erfahrung eines Vaters, der seinen schwerbehinderten Sohn beschreibt, und die Versuchung benennt, ein abstraktes Bild seines Sohnes, »unabhängig vom Leben und meiner Verbindung mit der Natur«, zu entwickeln. 89 Vgl. D. Miller, Die Grundsätze der Gerechtigkeit, Kap 3  ; J. Wolf, A. de-Shalit, Disadvantage. Oxford 2009 – Wolf und de Shalit gründen ihre Untersuchungen in die Struktur von Benachteiligungen in 100 Interviews. 90 Truth and Reconciliation Commission, Report, Vol 1. Johannesburg 1998, §§ 39–42. 91 Vgl. K. Brock, »It’s not only wealth that matters – it’s peace of mind too«  : a review of participatory work on poverty and illbeing. IDS Study Report. Brighton 1999. Erster Teil  : Über Armut nachdenken

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  92 Fourth World University Research Group, ed., The Merging of Knowledge. People in Poverty and Academics Think Together. Lanham, MD 2007.   93 St. Darwall, The Second Person Standpoint  : Morality, Respect and Accountability. Cambridge, Mass 2006. Darwall entfaltet die Grundlinien der 2. Person-Perspektive in den ersten beiden Kapiteln dieses Buches.   94 F. C . Jackson, Epiphenomenal Qualia. In  : Philosophical Quarterly 32 (1982) 127–136  ; ders., What Mary Didn’t Know. In  : Journal of Philosophy 83 (1986) 291–295. Jackson hatte sich die Frage gestellt, was eine mit allen Informationen über Farben ausgestattete, aber noch nie mit einer farbigen Welt in Berührung gekommene Frau namens Mary »Neues« lernen würde, wenn sie erstmals Farbeindrücke hätte.   95 E. Stump, Second-Person Accounts and the Problem of Evil. In  : E. Yandell. ed., Faith and Narrative. New York 2001, dies., The Problem of Evil  : Analytic Philosophy and Narrative. In  : O. Crisp., M. C. Rea, eds., Analytic Theology  : New Essays in the Philosophy of Theology. New York 2009  ; dies., Wandering in Darkness   : Narrative and the Problem of Suffering. Oxford 2010.   96 Stump, Second Person Accounts, 88.   97 G. Cohen, Rescuing Justice and Equality. Cambridge, Mass 2008, 42.   98 Fourth World University Research Group, ed., The Merging of Knowledge. People in Poverty and Acdemics Think Together, 44ff.   99 M. Krumer-Nevo, Critical Poverty Knowledge  : Contesting Othering and Social Distancing. Current Sociology 58,5 (2010) 693–714. Krumer-Nevo betont die Bedeutung von »counter narratives«, wie wir sie etwa aus den Arbeiten Spivaks kennen  ; vgl. D. Landry, G. MacLean, eds., The Spivak Reader. Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak. London 1996. 100 D.F. Wallace, Das hier ist Wasser. Köln 2012, 17f. 101 Th Mahler, In der Schlange. München 2011, 37. 102 Martin Buber, Das dialogische Prinzip. München 122012. Abkürzung »BDP« 103 Diese Widerständigkeit, die sich einer definitiven kategorialen Einordnung entzieht, ist grundsätzlich  : »Nur Es kann geordnet werden. Erst indem die Dinge aus unsrem Du zu unsrem Es werden, werden sie koordinierbar. Das Du kennt kein Koordinatensystem« (BDP 34)  ; dieser Satz erinnert an das Anliegen, einzelne Menschen als einzelne Menschen mit ihren Geschichten zu sehen und damit auch Fragen der Armutsbekämpfung nicht vom »Caveat« der je persönlichen Lebensgestaltungen und Lebensschicksale zu trennen. 104 Buber ist sogar noch deutlicher geworden  : »Besessenheit vom Ablauf« , von uneingeschränkter Ursächlichkeit. »Das Dogma des allmählichen Ablaufs ist die Abdikation des Menschen vor der wuchernden Eswelt« (BDP 59). Eine Obsession mit Mechanismen und Strategien, um es so auszudrücken, führt zur Reifizierung von Menschen, was Armutsbekämpfung zu einer Frage der »Es-Welt« und nicht zu einer Frage der »Du-Welt« macht  ; an einem Beispiel ausgedrückt  : Es wird einschlägig diskutiert, ob Hunger im Rahmen von Welthungerbekämpfung als »soziales« oder als »naturwissenschaftliches« Problem diskutiert werden solle. 105 »Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke« (BDP 19). 106 J. Novogratz, The Blue Sweater. New York 2009, 7. 107 Vgl. R. Schreiter, Constructing Local Theologies. Maryknoll, NY 1983. 108 Hier schien Buber eine Erläuterung notwendig  :»Daß Gefühle kein persönliches Leben ergeben, haben erst wenige verstanden  ; hier scheint ja das Allerpersönlichste zu hausen  ; und wenn man erst wie der moderne Mensch gelernt hat, sich ausgiebig mit den eignen Gefühlen zu befassen, wird einem auch die Verzweiflung an ihrer Unwirklichkeit nicht leicht eines Besseren belehren, da ja auch sie ein Gefühl und interessant ist … die wahre Gemeinde entsteht nicht dadurch, daß Leute Gefühle füreinander haben (wiewohl freilich auch nicht ohne das), sondern durch diese

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Anmerkungen

zwei Dinge  : daß sie alle zu einer lebendigen Mitte in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen und daß sie untereinander in lebendig gegenseitiger Beziehung stehen« (BDP 47). 109 C. Wilson, The Outsider. London 2001 (1956). Abkürzung »CWO«. 110 »When you look at these City-men on the train  ; for you realize that for them, the business of escaping is complicated by the fact that they think they are the prison. An astounding situation  ! Imagine a large castle on an island, with almost inescapable dungeons. The jailor has installed every device to prevent the prisoners escaping, and he has taken one final precaution  : that of hypnotizing the prisoners, and then suggesting to them that they and the prison are one. When one of the prisoners awakes to the fact that he would like to be free, and suggests this to his fellow prisoners, they look at him with surprise and say  : ›Free from what  ? We are the castle.‹ What a situation  !« (CWO 155). Der Außenseiter ist dieser Lebenslüge nicht erlegen. 111 »The Outsider’s case against society is very clear. All men and women have these dangerous, unnameable impulses, yet they keep up a pretence, to themselves, to others  ; their respectability, their philosophy, their religion, are all attempts to gloss over, to make look civilized and rational something that is savage, unorganized, irrational. He is an Outsider because he stands for Truth« (CWO 13). 112 Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil. München 2011. Abkürzung »AGK«. 113 H.-M- Füssel, Vulnerability  : A generally applicable conceptual framework for climate change research. Global Environmental Change 17 (2007) 155–167, hier 155. 114 Dieser Zugang wird klar dargestellt in F. Delor. M. Hubert, Revisiting the concept of »vulnerability«. Social Science and Medicine 50 (2000) 1557–1570. 115 R. Chambers, Rural Development. London 1983, 1. 116 H. Böll, Das Brot der frühen Jahre. Frankfurt/Main 1968, 19. 117 T. Morrison, Menschenkind. Reinbek bei Hamburg 1993, 325. 118 T. Wolfe, Fegefeuer der Eitelkeiten. München 1990, 24. 119 Johannes XXIII, Geistliches Tagebuch. Freiburg/Br 1965, 37 bzw. 294 – damit ist auch der Gedanke an das Urteil über das Leben als Ganzes verbunden – »ich zittere bei dem Gedanken an das Urteil, das der Herr über mich sprechen wird, wenn er mich bis in mein Innerstes hinein erforscht« (ebd., 238). 120 Vgl. Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. Übersetzung P. Knauer. Würzburg 2008, Abschnitte 38, 340f. 121 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit. Abschnitt II, Kapitel 1. 122 Christine Korsgaard hat diese Herausforderung so ausgedrückt  : »We construct ourselves from our choices, from our actions, from the reasons that we legislate. But if all reasons, once we legislate them, are public, then it seems as if none of them are mine. Everybody’s reasons seem to belong equally to everyone, that is, they have normative force for everyone, and so apparently I have just as much reason to carry out your project as my own« (C. Korsgaard, Self-Constitution. Agency, Identity and Integrity. Oxford 2009, 207). 123 Beispielsweise  : M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge 82008. Sandel nennt einen ähnlichen Punkt wie Korsgaard  : The Rawlsian self is … an antecedently individuated subject, standing always at a certain distance from the interests it has.« (62). 124 B. Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen (Pensées). Hg. J.-R. Armogathe. Stuttgart 2004. Der hier verwendeten Übersetzung liegt Louis Lafumas Textfassung zugrunde. Die Angaben zu den Stellen geben zuerst Lafumas Zählung an, dann jene durch Brunschvicg, die bis in die 1960er-Jahre üblich war. Als Abkürzung verwende ich »BPP«. 125 Ähnlichen Takt hat man zu beweisen, wenn man ein Werk nach seiner Vollendung beurteilt – hiezu bedarf es des nötigen Abstandes, der nicht zu groß und nicht zu klein sein darf (P 21/381  ; Erster Teil  : Über Armut nachdenken

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P 558/114). Taktgefühl ist auch bei der Kunst des Lesens gefragt  : Sowohl zu schnelles als auch zu langsames Lesen geht auf Kosten des Verstehens (P 41/69). 126 Es kann geradezu als Kriterium für die Qualität der Selbstreflexion angesehen werden, inwieweit man die eigene Schwäche erkennt, ähnlich wie es Ausdruck philosophischer Reflexionsqualität ist, wenn man Anlassfälle für Neugierde und Staunen herausarbeiten kann  : Menschen, die sich nicht voller Hochmut, Ehrgeiz, Begierde, Schwäche, Elend und Ungerechtigkeit erkennen, sind nach Pascal sehr blind (P 595/450). 127 Vgl. P 257/684 (eine angemessene Beschreibung des Charakters eines Menschen kann nur geliefert werden, wenn man die Widersprüchlichkeit des Menschen berücksichtigt)  ; P 621/412 (die Vernunft ist stets im Kampf mit den Leidenschaften, aufgrund dessen ist der Mensch zerrissen und mit sich im Widerspruch). Zweiter Teil  : Die Kernthese   1 T. Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse. München 2012.   2 V. A. Zelizer, Economic Lives. How Culture shapes Economy. Princeton 2011.   3 T. Sedláček, D. Orrell, Bescheidenheit. Für eine neue Ökonomie. München 2013, 38.   4 T. Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, 405.   5 J. Steinbeck, Früchte des Zorns. München 1983, 180.   6 J.M.Coetzee, Der Junge. Eine afrikanische Kindheit, Frankfurt/Main 52003, 186f.   7 Ebd., 188.   8 Ebd., 192.   9 Th. Mahler, In der Schlange. Mein Jahr auf Hartz IV. München 2011. Abkürzung »TMH«. 10 »Könnte es über neunzig Prozent Arbeitslosigkeit geben, ohne dass die öffentliche und privatwirtschaftliche Infrastruktur völlig zusammenbräche, dann müsste der einzelne Arbeitslose nicht mehr einsam an seiner privaten Tragödie kauen, sondern würde sich einfach als Teil einer gemeinschaftlichen Entwicklung verstehen, die wahrscheinlich dann sogar auf die Arbeitenden herabsähe« (TMH 22). Umgekehrt gilt  : »Je chancengleicher eine Gesellschaft, desto deprimierender der Anblick der Menschen im Arbeitsamt. Denn dort sammeln sich dann ausschließlich die Trägen, Lustlosen und Depressiven« (TMH 63). 11 »Vielleicht, überlege ich, gibt es in ferner Zukunft ja mal eine Gesellschaft, in der die Frage Und was machst du so  ? keine Rolle mehr spielt« (TMH 148). 12 Die Arbeit an der Semantik ist auch Teil des sozialpolitischen Diskurses, die sich linguistischer, ja sprachphilosophischer Mittel bedient  : »Das Amt heißt Agentur, die Verdienstunterschiede nennen wir Einkommensvielfalt, und die Sachbearbeiter sind jetzt die Arbeitsvermittler, als liege hinter ihnen wie ein großer Bonbonberg eine unerschöpfliche Masse an Jobs, die sie nur noch in die richtigen Verteilungsbahnen lenken müssen« (TMH 75). 13 Was war von seinem Studium übrig geblieben  ? »Außer der Fähigkeit, an allem und jedem zu zweifeln  ? Denn das, fiel mir ein, hatte ich hier ja gelernt  : Argumentationen zerlegen. Gedankengebäude einreißen. Die Überzeugungen der meisten Menschen in Frage stellen. Inklusive der eigenen. Aber was sollte ich mit dieser Fähigkeit anfangen  ?« (TMH 38). 14 Ein Beispiel  : »Wir Arbeitslosen, folgere ich, sind ein Produkt, das momentan niemand kaufen will. Wir sind die Ladenhüter« (TMH 127)  ; »Welch unmenschliche Kraft also ein Personalchef aufbringen muss, sich trotzdem für den Arbeitslosen zu entscheiden, für denjenigen, den sonst niemand einstellen wollte« (TMH 127). 15 Vgl. A. Sen, Inequality, Unemployment and Contemporary Europe. International Labour Review 136,2 (1997) 155–171  ; siehe auch beispielsweise  : A.Ellis & M.Taylor, Role of SelfEsteem within

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Anmerkungen

the Job Search Process. In  : Journal of Applied Psychology, Bd. 68 (1983) 632–640  ; R. Liem & J.Liem, Psychological Effects of Unemployment on Workers and Their Families. In  : Journal of Social Issues 44,4 (1988) 87–105  ; A.Winefield et al., A Longitudinal Study of the Psychological Effects of Unemployment and Quality of Reemployment. In  : Journal of Vocational Behavior 46 (1995) 40–54  ; M. Feldstein, The Private and Social Cost of Unemployment. In  : The American Economic Review 68 (1978) 55–58. 16 K. Boo, Behind the Beautiful Forevers. Life, Death and Hope in a Mumbai Slum. London 2013. 17 »Abdul had never given his future much thought, beyond vague fantasies« (110). 18 Ebd., xviii. 19 Ebd., 36. 20 Ebd., 28. 21 Vgl. K. Flasch, Wert der Innerlichkeit. In  : H. Joas, K. Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/Main 2005, 219–236. 22 Vgl. J. Seigel, The Idea of the Self. Cambridge 2005, 7. 23 Ch. Taylor, Quellen des Selbst. Frankfurt/Mai 1996, 207. 24 Vgl. Taylor, Quellen des Selbst, 71. 25 W.A. Davis, Inwardness and Existence. Milwaukee, MI 1989, 105. 26 Aufgrund seiner Tiefe und Komplexität kann »das Selbst« auch nicht wissenschaftlich restlos analysiert werden, denn ein wissenschaftlicher Gegenstand kann objektiv durch explizite Beschreibung aufgefasst werden, unabhängig von einer subjektiven Interpretation, ohne Bezugnahme auf die Umgebung des Gegenstandes (Taylor, Quellen des Selbst, 66ff ). All dies trifft auf das Selbst nicht zu, das sich damit in gewissem Sinne auch der erschöpfenden Selbstanalyse entzieht (vgl. ebd., 64). 27 Vgl. Ph. Carey, Augustine’s Invention of the Inner Self. Oxford 2000, part II. Carey hat das platonische Erbe Augustinus rekonstruiert, um dann die Originalität von Augustinus herausarbeiten zu können. Er zeichnet die Bilder der Seele nach (Platos Höhle, Plotins »sphere revolving around the inner source of intelligibility, die räumlichen Metaphern des Augustinus, vor allem das Bild des inneren Palasts) und beschreibt Augustinus als Brücke zwischen Platon und Descartes  ; vgl. die Rezension von Michael Tkacz im Journal of the History of Philosophy 39,4 (2001) 584–585. 28 »Quis locus est in me, quoveniat in me deus meus  ? quo deus veniat in me, deus, qui fecit caelum et terram  ?« (C I,2). 29 Cf. R. Sorabji, Self. Ancient and Modern Insights about Individuality, Life and Death. Oxford 2005, 99–100  ; N. Fischer ›Einleitung‹. In  : Aurelius Augustinus, Suche nach dem wahren Leben. Hamburg 2006, xiii-xci. 30 »ibi mihi et ipse occurro, meque recolo, quid, quando et ubi egerim quoque modo, cum agerem, affectus fuerim« (C X,8). 31 Vgl. Ch.T. Mathewes, Augustinian Anthropology  : Interior intimo meo. The Journal of Religious Ethics 27,2 (1999) 195–221. Mathewes zeigt auf, dass Augustinus’ vermeintlich inkohärente Anthropologie ein neues Licht auf das Verständnis von »agency« und Autonomie wirft, verstanden von der Grundlage der Interiorität. 32 - auch wenn das Selbst in augustinischer Lesart letztlich nicht nur unausschöpfbar, sondern auch unverfügbar ist (erst durch die Gnade Gottes, der die Seele eines Menschen besser kennt als der Mensch selbst, kann ein Mensch zu Wahrheit und Heil geführt werden). 33 Vgl. C. Sedmak, Innerlichkeit und Kraft. Freiburg/Br 2013, 148–163. 34 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Gütersloh 2011. Abkürzung »BWE«. 35 Dabei sondert Bonhoeffer menschliche Innerlichkeit nicht ab, er sieht es dezidiert als Fehler an, zu meinen, »das Wesen des Menschen bestehe in seinen innersten, intimsten Hintergründen und das nennt man dann seine ›Innerlichkeit‹« (BWE 510). Bonhoeffer bekennt sich zu einer Einheit Zweiter Teil  : Die Kernthese

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zwischen »Innerem« und »Äußerem«, das er sich weigert, in manichäischer Weise trennen zu wollen. »Die Bibel kennt unsere Unterscheidung von Äußerem und Innerem nicht« (BWE 511). Das »Herz« in einem biblischen Sinn bezeichnet das Ganze des Menschen. 36 C. Krebs, Wolfgang Pucher. Rebell der Nächstenliebe. Wien 22012, v.a. 38, 42, 47, 217. 37 St. Selke, Schamland. Berlin 2013. 38 Ebd., 12. Diese Beschämung hat viele Gesichter, wie sie auch Markus Breitscheidel in seiner Studie über den Niedriglohnsektor ausgewiesen hat (M. Breitscheidel, Arm durch Arbeit. Berlin 2010) – er betätigt sich als Pfandflaschensammler, die er aus öffentlichen Mülleimern fischt, was ihm nach anfänglicher Überwindung auch gelingt (»Mit jeder einzelnen Flasche rückt das Gefühl der Scham mehr und mehr in den Hintergrund«  ; ebd., 37)  ; auch die Beschämung eines Besuches durch den Gerichtsvollzieher, dem er sich vollständig mit seinem Hab und Gut zu offenbaren hat, bleibt ihm nicht erspart (ebd., 48). Nach einem Gespräch mit einem Hartz IV-Empfänger fasst er das Gespräch mit den Worten zusammen  : »Die Hartz-IV-Realität … hält für diesen vielseitig begabten Menschen nur Enttäuschungen, stetige Unzufriedenheit, Scham und den kompletten Verlust des Selbstwertgefühls bereit« (ebd., 35). 39 Selke, Schamland, 22. 40 Ebd., 39. Eine fünfzigjährige Frau, die trotz zahlreicher Bewerbungen keine fixe Anstellung findet, sagt Selke im Gespräch  : »Das sind Schamgefühle und Schuldgefühle. Das macht es nicht gerade einfacher, durchs Leben zu gehen« (ebd., 34). Scham isoliert, trägt zur Vereinsamung bei. Scham führt nach Selkes Analyse auch dazu, dass Menschen sich ruhigstellen und disziplinieren lassen, in die Vereinzelung drängen. »Durch systematische Beschämung entsteht individuelle Scham, die Menschen gefügig macht« (ebd., 44). Die von Selke untersuchten Armutsökonomien der Tafeln führen zu einer Beschämungsdynamik, die nach innen und nach außen wirkt, nämlich zu »einem äußeren Gesichtsverlust durch öffentliches Schlangestehen und einer inneren Migration in eine schambesetzte und selbstausgrenzende Gefühlswelt« (ebd., 46). 41 Su Tong, Reis. Reinbek bei Hamburg 1992, 17. 42 Ebd., 25. 43 Vgl. St. Marks, Scham – die tabuisierte Emotion. Düsseldorf 2007  ; S. Neckel. Soziologie der Scham. In  : A. Schäfer, C. Thompson (Hgg.), Scham. Paderborn 2009, 103–118. 44 Vgl. E. Goffman, Stigma. Frankfurt/Main 1988  ; in unserer Kultur führt der Druck auf Image und Reputation zu »Statusangst«, was nachweislich einer der wohlbefindensmindernden Stressfaktoren einer Wohlstandsgesellschaft darstellt (R. Laylard, Die glückliche Gesellschaft. Frankfurt/ Main 22009, 167ff ). 45 Vgl. J. Becker, J. Gulyas, Armut und Scham – über die emotionale Verarbeitung sozialer Ungleichheit. Zeitschrift für Sozialreform 58,1 (2012) 83–99  ; auch in helfenden Beziehungen sind Eintrittsstellen für Beschämung strukturell mitzudenken – E. Bolay, Scham und Beschämung in helfenden Beziehungen. In  : H. Metzler, E. Wacker (Hgg.), Soziale Dienstleistungen. Tübingen 1998, 29–52. 46 J.P. Sarte, Das Sein und das Nichts. Reinbek 1993, 490  ; zur Analyse des »Blicks«  : ebd., 457ff. 47 Den Zusammenhang zwischen fremdem Blick und Scham hat Leon Wurmser prägnant ausgedrückt  : »Alle Augen scheinen auf den Beschämten zu starren und wie mit Messerstichen zu durchbohren« (L. Wurmser, Maske der Scham. Berlin 1990, 78)  ; siehe auch G. Seidler, Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham. Stuttgart 1985  ; Rudolf Bernet hat das Schamgefühl ebenfalls als ein durch den Blick des Anderen vermitteltes leibliches Selbstgefühl charakterisiert, das gerade auch aufgrund seiner leiblichen Verfasstheit auf Grenzen hinweist  ; vgl. R. Bernet, Das Schamgefühl als Grenzgefühl. In  : R. Kühn et al. (Hgg.), Scham – ein menschliches Gefühl. Opladen 1997. 48 Abhijit Banerjee, Esther Duflo, Poor economics. New York 2011, 23. 49 Ebd., 36.

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Anmerkungen

50 A. Sam, Die Leiden einer jungen Kassiererin. München 2009. 51 F. Aubenas, Le quai de Ouistreham. Paris 2010, 45. Abkürzung »FA«. 52 Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Konstanz 2000  ; ders., Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg 2003. 53 »Ici, tout le monde accepte tout« (FA 19) – die Angestellte empfindet diese Einstellung, dass sie »alles« machen würde, ganz normal (FA 29). 54 »La voiture, c’est le premier critère des employers, meme pour des activités qui ne l’exigent pas« (FA 29). 55 Erving Goffman, The Presentation of Self in Everday Life. New York 1956  ; diese Erfahrung der versteckten Unterseite der Gesellschaft hat auch eine polnische Reinigungskraft beschrieben – Justyna Polanska, Unter deutschen Betten. München 2011  ; dies., Nicht ganz sauber. Eine polnische Putzfrau räumt auf. München 2012. 56 I. Brown, Der Junge im Mond. München 2012, 63  ; vgl. ebd, 74 (Ian Brown berichtet von einem Ort an einem See, an dem er sich vorstellen konnte, »dass Walker ein Innenleben hatte, ein Leben, das von dem Rest von uns getrennt stattfand«). 57 Ebd., 65. 58 A. Margalit, The Decent Society. Cambridge, Mass 1996, 96–103. 59 Ebd., 102. 60 Cf. M. Krygier, Civil Passions. Selected Writings. Melbourne 2005, 206–7. 61 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, pp. 193–208  ; vgl. C. Dunlop, Wittgenstein on Sensation and ›Seeing-as‹. Synthese 60 (1984) 349–367. 62 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, p. 196. 63 Ebd., 197. 64 Ebd., 199. 65 L. Wittgenstein, Bemerkungen über Farben. Oxford 1977, I,1  ; vgl. M. McGinn, Wittgenstein’s ›Remarks on Colour‹. Philosophy 66 (1991) 435–453. 66 Wittgenstein, Bemerkungen über Farben, III, 302. 67 Ebd., I,32  ; III,19. 68 H. Arendt, Vita activa. München 91997, Kap. 26. 69 B. Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Berlin 2013, 136. 70 Ebd., 138. 71 Vgl. N. Pappas, Plato’s Republic. New York 2013. 72 Jacques Philippe hat mit gutem Grund »la paix du cœur« als höchstes Gut vorgestellt, weil von diesem Gut jede Handlung und jede Erfahrung abhängt – J. Philippe, Recherche la Paix et poursuis-la. Paris 252011. 73 Rawls schlägt am Ende seiner ersten Theorie vor, einen »Blickwinkel der Ewigkeit« einzunehmen, als bestimmte Form des Denkens und Empfindens, wie sie sich vernunftgeleitete Menschen in der Welt zu eigen machen können. »Und wenn sie das tun, dann können sie … alle individuellen Betrachtungsweisen in ein System bringen und gemeinsam zu maßgebenden Grundsätzen kommen, die jeder bejahen kann, indem er ihnen gemäß lebt, jeder von seinem Standpunkt aus. Reinheit des Herzens, wenn sie jemand erreichen könnte, hieße  : von diesem Standpunkt aus klar sehen und mit Anmut und Souveränität handeln« ( J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/ Main 1975, 638). Das ist Integrität. 74 H. Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen. Frankfurt/Main 2007, 16. 75 Ronald Dworkin hat die Verpflichtung, »aus unserem Leben etwas zu machen«, als einen zentralen Punkt in seiner Gerechtigkeitstheorie etabliert – R. Dworkin, Justice for Hedgehogs. Cambridge, Mass 2011. »We must find the value in living – the meaning of life – in living well« (ebd., 13). »We can Zweiter Teil  : Die Kernthese

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think of of living well as giving meaning – ethical meaning, if we want a name – to a life. That is the only kind of meaning of life that can stand up to the fact and fear of death« (ebd., 198). Dworkin hält es für einen Ausdruck der mit der Würde des Menschen verbundenen Selbstachtung, aus dem eigenen Leben etwas zu machen (ebd., 205–211)  ; dieser Druck hat durchaus etwas mit der Bedeutung der Endlichkeit des Lebens zu tun, wie sie in den Überlegungen zur »Wunde des Wissens« deutlich wurde. 76 R. Skidelsky, E. Skidelsky, Wie viel ist genug  ? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. München 2013, 206f. 77 Ebd., 216f. 78 Vgl. M. Halfon, Integrity  : A Philosophical Inquiry, Philadelphia 1989, 7f. 79 B. Williams, Moral Luck. Cambridge 1981, 49. 80 Vgl. C. Calhoun, Standing for Something. Journal of Philosophy 92 (1995) 235–260  ; siehe auch E. Ashford, Utilitarianism, Integrity and Partiality. Journal of Philosophy 97 (2000) 421–439. 81 M. Halfon, Integrity, 37 – eine integre Persönlichkeit ist bereit, die Konsequenzen des eigenen Handelns auf sich zu nehmen, selbst wenn dies unbequem sein sollte (L. McFall, Integrity. Ethics 98 [1987] 5–20, 9f ). 82 E. Erikson, The Life Cycle Completed. Extended Version with new Chapters on the ninth stage of development by Joan Ericson. New York 1997. 83 H. Frankfurt, The Importance of What We Care About. Cambridge 1998, Kap. 12 (159–176). 84 H. Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen, 35. 85 Vgl. C. Sedmak, Innerlichkeit und Kraft, 82f. 86 Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen, 36. 87 H. Frankfurt, The Reasons of Love. Princeton 2004, 10–17. 88 Ebd., 23. 89 Robuste Identität kann als eine Form des Selbstseins verstanden werden, die wenigstens drei Eigenschaften aufweist  : Klarheit (Profil)  ; Festigkeit (Unerschütterlichkeit)  ; Verankerung (Zentrum). Ein Mensch hat robuste Identität, wenn er ein klares Profil hat und über innere Festigkeit verfügt, die sich einem Zentrum (einem Lebensfokus) verdankt. Das sind Aspekte, die zutiefst mit einer Kultur von Innerlichkeit verbunden sind. 90 Carolina Maria de Jesus, Child of the Dark. Quarto de Despejo (1960). London 2003. Diese bei Penguin Books publizierte Ausgabe verwendet die für die 1962 erschienene Edition angefertigte Übersetzung von David St. Clair und wurde für die 2003 »Signet Classics« Ausgabe mit einem Nachwort von Robert Levine versehen. Abkürzung  : CMJ. 91 Diese Form der Sklaverei höhlt den Sinn für das Schöne aus – »There are so many beautiful things in the world that are impossible to describe. Only one thing saddens us  : the prices when we go shopping. They overshadow all the beauty that exists« (CMJ 36). Die Kosten führen in die Verzweiflung  : »I heard women complaining with tears in their eyes that they couldn’t bear the rising cost of living any more« (CMJ 86). 92 D. St. Clair, Translator’s Preface. In  : Carolina Maria de Jesus, Child of the Dark. Quarto de Despejo (1960). London 2003 (1962), ix. 93 »She was, as feminist scholars say, ›constructing a self‹« (R. Levine, Afterword. In  : Carolina Maria de Jesus, Child of the Dark. Quarto de Despejo (1960). London 2003 (1962), 178. 94 Diese Bemerkung war der Beginn der Erfolgsgeschichte ihres Tagebuchs  : »In April of 1958, Audalio Dantas, a young reporter, was covering the inauguration of a playground near Canindé for his newspaper. When the politicians had made their speeches and gone away, the grown men of the favela began fighting with the children for a place on the teeter-totters and swings. Carolina, standing in the crowd, shouted furiously  : ›If you continue mistreating these children, I’m going to put all your names in my book  !‹« (St. Clair, Translator’s Preface, CMJ xi).

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Anmerkungen

  95 »Her neighbors knew of her writings and made fun of them. Most of them couldn’t even read, but thought she should be doing other things with her spare time than writing … They called her ›Dona‹ (Madame) Carolina« (ebd., x).   96 Levine, Afterword, CMJ 184.«Her descriptions of favela life do not romanticize its poverty, but hack away at it with a machete« (ebd., 186).   97 »By the time she was liberated from the favela by a stroke of fate, it was too late. She was exhausted, too beaten down to learn middle-class manners, to censor her thoughts, to remove the layers of suffering from her psyche« (Levine, Afterword, CMJ 182). Mit anderen Worten  : Es war nicht nur äußere Diskriminierung, es war auch eine innere Gefangenschaft, die sie daran hinderte, die Favela zu verlassen.   98 C.M. de Jesus, I’m Going to Have a Little House. The Second Diary of Carolina Maria de Jesus. Transl. M.S. Arrington Jr. u. R. Levine. University of Nebraska Press 1997.   99 Levine, Afterword, CMJ 181. 100 R. Levine, The Cautionary Tale of Carolina Maria de Jesus. Working Paper 178. Kellogg Institute for International Studies. Notre Dame 1992. 101 »Are those who act and struggle mute, as opposed to those who act and speak  ?« (G. Ch. Spivak, »Can the Subaltern Speak  ?« In Chrisman, Laura  ; Williams, Patrick [Hg.]. Colonial Discourse and Postcolonial Theory  : A Reader. New York u. a.  : Harvester Wheatsheaf 1994 66–111, hier 70). 102 Ein bekanntes Beispiel für die Vermittlung autobiografischen Wissens von Armut ist auch Jakov Linds »Selbstporträt« – J. Lind, Selbstporträt. Wien 1997. 103 Vgl. Aristoteles, Politik IV,13, 1297b20. 104 Ein anderes Bild für Politiker und Politikerinnen  : »When a rainbow appeared I went running in its direction. But the rainbow was always a long way off. Just as the politicians are a long way off from the people« (CMJ 47). 105 »A woman’s tongue is a candlewick. Always burning« (CMJ 136). 106 »When I am in the city I have the impression that I am in a living room with crystal chandeliers, rugs of velvet, and satin cushions. And when I’m in the favela I have the impression that I’m a useless object, destined to be forever in a garbage dump« (CMJ 29). 107 Die Ungewissheit, ob das Geld reichen wird, ist eine Quelle von Stress  : »In the morning I’m always nervous. I’m afraid of not getting money to buy food to eat« (CMJ 42). An einer anderen Stelle  : »There are days when I envy the life of the birds. I’m so nervous that I’m afraid I’m going crazy« (107). 108 Kampf bedeutet auch Stress, Angst und Sorge. Armut erzeugt ständige Angst und Sorge. Das wird anschaulich in einem Werk des ägyptischen Literaturnobelpreisträgers Nagib Mahfuz, der in seinem Roman Anfang und Ende die Verarmung einer Mittelstandsfamilie schildert, die Not, die hervorgerufen wurde durch den unerwarteten Tod des Vaters, der bislang ein stabiles Beamteneinkommen nach Hause gebracht hatte. Nun wird das Leben von Angst und Sorge diktiert, das Handeln gehorcht der Not  : »Es kam nichts aus dem Haus, nichts wurde weggeworfen, außer Brotkrümel vielleicht. Bei der gnadenlosen Härte, mit der ihnen das Leben zusetzte, war und blieb das Sparen eine Art Glaubensbekenntnis. Also fasste er den Beschluss, trotzt aller Schwierigkeiten von Anfang an zu sparen. Er kannte die Angst, die mit Armut verbunden war  ; bewusst oder unbewusst hatte die Familie immer darunter gelitten. Es war die Furcht, sich plötzlich zu Mehrausgaben gezwungen zu sehen. Was, wenn jemand krank wurde  ? Oder die Schule etwas forderte  ? Oder wenn Nafisa eine Zeit lang keine Aufträge bekam  ? Es gab unzählig viele Gründe, Angst zu haben, und selbst jetzt, da er doch weit weg von der Familie war, überfiel ihn allein schon beim Gedanken daran große Sorge. Die Erinnerung ließ sich nicht Zweiter Teil  : Die Kernthese

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abschütteln, und am meisten schmerzte es ihn, wenn er sich das ausgemergelte Gesicht der Mutter vorstellte. Es war so abgezehrt, dass es schon an Hässlichkeit grenzte, trotzdem fand er es schön – es war die Verkörperung geduldig ertragenen Leids.« (N. Mahfuz, Anfang und Ende. Zürich 2000, 203). 109 »The evening in a favela is bitter. All the children know what the men are doing … with the women« (CMJ 126). Immer wieder schreibt sie vom mangelnden Schamgefühl (z.B. CMJ 128). 110 »I’ve lost the habit of smiling« (CMJ 23). 111 »Who must be a leader is he who has the ability. He who has pity and friendship for the people. Those who govern our country are those who have money, who don’t know what hunger is, or pain or poverty« (CMJ 31). 112 Einmal muss sie sich an die Sozialhilfe wenden. »It was there that I saw the tears slipping from the eyes of the poor. How painful it is to see the dramas that are played out there. The coldness in which they treat the poor. The only things they want to know about them is their name and address« (CMJ 34). So verwundert es nicht, dass sie stolz darauf ist, es zumeist allein, ohne Hilfe geschafft zu haben (CMJ 124). 113 Das Thema »Rassismus« und »Rasse« wird immer wieder in ihrem Tagebuch zur Sprache gebracht, etwa  : »I adore my black skin and my kinky hair« (CMJ 57). 114 Hier wird ein wichtiger Aspekt klar, warum Armut ein »Übel« darstellt – Armut bedroht nicht nur die Integrität der Armutsbetroffenen, sondern auch die Integrität der Wohlhabenden. Carolina zitiert eine besser situierte Dame, die sich zum Satz hinreißen lässt  : »Somebody should send a flood to wipe away the favela and kill those nuisances. There are times when I’m furious with God for putting poor people on earth« (CMJ 49). 115 Es ist dann ein Kompliment vonseiten der Tochter, wenn sie – nachdem ihr Carolina Schuhe gegeben hat – »smiled and said to me  : that she was happy with me and wasn’t going to buy a white mother« (CMJ 60). 116 Diese Situation macht auch vor Geburtstagen nicht Halt  : Am zehnten Geburstag ihres Sohnes José Caros kann sie ihm nur ihre Glückwünsche geben, »because I don’t even know if we are even going to eat today« (CMJ 97). 117 Sie teilt mit, dass sie diese Grundeinstellung von ihrer Mutter gelernt hat, die ihren Charakter formte (CMJ 42). Im Gegensatz dazu hält sie fest, dass die Favela den Charakter nicht formt (CMJ 98). Hierzeigt sich eine Dimension von Innerlichkeit  ; dieser Blick von innen her zeigt sich auch im folgenden Satz  : »I know very wellt hat there are contemptible people here, persons with perverted souls« (CMJ 42). In Bezug auf einen gewissen Tiburcio spricht sie von »deformed body and a soul to match« (CMJ 98). Sie sagt von den Träumen  : »God sens me these dreams for my aching soul« (CMJ 111). »A dream is the most beautiful thing in the world« (CMJ 125). 118 »I’ve been thinking of the problems I’ve had these days. I can take the ups and downs of life. If I can’t store up courage to live, I’ve resolved to store up patience« (CMJ 10). 119 Sie widersteht aufgrund der Kinder dem Alkohol, selbst wenn ihr das in der Favela Ablehnung einbringt  : »There are people in the favela who say that I’m trying to be a bigshot because I don’t drink pinga. I am alone. I have three children. If I got the alcohol habit, my sons will not respect me« (CMJ 66). Ihre Situation als Alleinerzieherin ist ein weiterer Motor  : »I’ve got to be tolerant with my children. They don’t have anyone in the world but me. How sad is the condition of a woman alone without a man at home« (CMJ 15).

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Anmerkungen

Dritter Teil  : Innenseiten   1 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Frankfurt/Main 101998, siehe vor allem das eindrückliche Überblicksschema 212f.  2 Kai Erikson hat die Auswirkungen des Verlusts eines selbst errichteten Hauses untersucht, nachdem eine Siedlung verschüttet wurde, da eine Stauanlage für Kohleschlamm und Förderabwässer geborsten war und 500 Millionen Liter freigesetzt hatte – K. Erikson, Everything in Its Path  : Destruction of Community in the Buffalo Creek Flood. New York 1976. Hier wurde der Unterschied zwischen »Dach über dem Kopf« (Ersatzhäuser wurden schließlich bereitgestellt) und »Heim« deutlich.   3 St. Landrigan, Q. Akbar Omar, Shakespeare in Kabul. Ein Aufbruch in drei Akten. Zürich 2013, 26.   4 G. Simmel, Exkurs über den Schmuck. In  : Ders., Soziologie. Frankfurt/Main 1992, 414–421.   5 J. Saramago, Claraboia. Hamburg 2013, 176.   6 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Gütersloh 2011, 101f.   7 Vgl. H. Putnam, Realism with a Human Face. Cambridge/Mass 1990, 135–178.   8 K. Marx, Das Kapital. Bd 1. Marx/Engels Werke 23. Berlin 1959, 193.   9 E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. K.C. Köhnke et al. Band 3. Hamburg 2002, 249  ; vgl. O. Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen. Berlin 1997, H. Schmidinger/C. Sedmak (Hg,), Der Mensch – ein »animal symbolicum«  ? Darmstadt 2007 sowie klassisch  : N. Goodman, Weisen der Welterzeugung. Frankfurt/Main 1990  ; S.K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt/Main 1984. 10 »Most of the luxuries, and many of the so called comforts of life, are not only indispensable, but positive hindrances to the elevation of mankind« (H.D. Thoreau, Walden. Ed. J.L. Shanley. Princeton 2004, 14)  ; oder  : »A man who has at length found something to do will not need to get a new suit to do it in  ; for him the old will do, that has lain dusty in the garret for an indeterminate period« (ebd., 23). Thoreau lädt zu einem neuen Blick auf Alltagsdinge ein  : »Most men appear never to have considered what a house is, and are actually though needlessly poor all their lives because they think that they must have such a one as their neighbors have« (ebd., 35). Einen ähnlichen frischen Blick auf die Welt der Dinge hat Franz von Assisi eingeführt, was nach seinem Tod zum Armutsstreit führte, in dem es auch um das Verhältnis von »Dingen«, geistiger Lebensform« und »Besitz« ging – vgl. M.D. Lambert M.D., Franciscan Poverty  : The Doctrine of the Absolute Poverty of Christ and the Apostles in the Franciscan Order 1210–1323. London 1961. Umberto Ecos Roman Der Name der Rose thematisiert den Armutsstreit als ein Hintergrundmotiv. 11 J. Hill, The Secret Life of Stuff. London 2011, 3. 12 K. Hibbert, Free. Adventures on the margins of a wasteful society. Chatham 2010. 13 P.v. Laak, 1 Frau, 4 Kinder, 0 Euro (fast), 36. 14 Ebd., 145. 15 D. Eberle, Spuren der Nächstenliebe. 20 Jahre Bauern helfen Bauern. Wien 2012, 40. 16 E. Benveniste, Etre et avoir dans leurs fonctions linguistiques. In  : Problèmes de linguistique générale. Paris 1966. Band I, 187–207. 17 Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten. München 2012, 53. 18 Ebd., 77. 19 Ebd., 80  : Haben-Sätze »können, auch wenn die Situation aus irgendeinem Grunde unter Spannung steht, ihr Subjekt nicht loswerden. Das HABEN lässt sich daher niemals vollständig ›objektivieren‹. Eben dies ist der Grund dafür, dass beim Gebrauch des Verbs HABEN die Vermeidungsstrategien der Höflichkeit häufiger und nachhaltiger zur Wirkung kommen als bei anderen transitiven Verben. Die Formen und Formeln der Höflichkeit sollen nämlich vor allem verhindern, Dritter Teil  : Innenseiten

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dass eine Zugehörigkeit zur Unzeit ins Spiel gebracht und dann als Zumutung für das Subjekt empfunden wird  : als Impertinenz statt als Pertinenz.« Diese Hartnäckigkeit hat auch affektive Konsequenzen. 20 M. Breitscheidel, Arm durch Arbeit, 38–40. 21 D. Miller, Der Trost der Dinge. Berlin 2010, 219. 22 Schäfer, Wir sind, was wir haben, 129  ; vgl. die Studien von Sam Gosling, der die materiellen Spuren untersucht, die Menschen hinterlassen  ; S. Gosling, Snoop. What Your Stuff Says About You. New York 2008  ; ders., A Room With a Cue  : Personality Judgments Based on Offices and Bedrooms. Journal of Personality and Social Psychology 82,3 (2002) 379–398. 23 Altersheimbewohner/innen, die viele Besitztümer weggeben mussten, hatten eine schwerere Zeit im Heim, wie eine Studie ergeben hat – A. McCracken, Emotional Impact of Possession Loss. Journal of Gerontological Nursing 13,2 (1987) 14–19. Ältere Menschen haben aufgrund des eingeschränkten Radius und der erinnerungs- und geschichtsgegründeten Lebensweise eine besondere Beziehung zu Dingen – L. Kamptner, Personal Possessions and Their Meanings in Old Age. In  : S. Spacapan, S. Oskamp (Hgg.), Social Psychology of Aging. Newbury Park 1989, 165–196  ; D. Shenk et al., Older women’s attachments to their home and possessions. Journal of Aging Studies 18 (2004) 157–169. 24 Miller, Der Trost der Dinge, 38–40. Tätowierungen sind ebenfalls starke Aussagen über Identität (ebd., 116ff ). In vielen Fällen sind Dinge »externalisierte Erinnerungen«  ; das wird etwa an der Bedeutung von Trophäen deutlich (ebd., 160). An einer Stelle spricht Miller vom »Gewicht der Dinge« und beschreibt einen Mann in einer Lebenskrise, der nach Millers Urteil sein Leben dem Umstand verdanke, »daß es Dinge in Daves Leben gab, die unbedeutend erscheinen mögen  : alte Photoalben und alte CDs mit obskurer Musik« (ebd., 161) – »ich bin … davon überzeugt, daß es die Dinge waren, die Dave retteten« (ebd., 162). Das deutet auch auf den sinnstiftenden und resilienzstärkenden Charakter materieller Dinge hin. 25 Dabei ist auch innerhalb einer Wohnung zu differenzieren  : »Die Abnutzungsspuren an den Polstern und die Anordnung der Kissen verraten einem den Lieblingssessel und die bevorzugte Haltung dessen, der auf ihm sitzt. Oft spürt man in diesen alten Arbeiterklasse-Häusern auch, daß es dem Wohnzimmer, obwohl man zunächst dorthin gebeten wird und es offensichtlich viele wertvolle Dinge enthält, nie gelungen ist, sich zum Mittelpunkt des häuslichen Lebens zu entwickeln. Trotz aller Anstrengungen ist es eher eine Fassade geblieben, die man den Gästen präsentiert. Erst beim Betreten der Küche wird man herzlich aufgefordert, Platz zu nehmen. Erst hier wird der Besucher wirklich empfangen« (ebd., 51). 26 M. Wallendorf, E. Arnould, My Favorite Things  : A Cross-Cultural Inquiry into Object Attachment, Possessiveness, and Social Linkage. Journal of Consumer Research 14 (1988) 531–547. 27 Vgl. H. Dittmar, Meaning of Material Possessions  : Gender and Social-Material Position in Society. Journal of Social Behavior and Personality 6,6 (1991) 165–186  ; dies., The Social Psychology of Material Possessions. New York 1992  ; T. Habermas, Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Frankfurt/Main 1999. 28 A. Schäfer, Wir sind, was wir haben. München 2012, 16f. Im Falle eines Einbruchs ist die traumatisierende Wirkung gerade das Eindringen in die eigene Identitätssphäre, in den eigenen Schutzraum – vgl. P. Korosec-Serfaty, D. Bolitt, Dwelling and the Experience of Burglary. Journal of Environmental Psychology 6 (1986) 329–344  ; M. Maguire, The Impact of Burglary upon Victims. British Journal of Criminology 20 (1980) 261–275. 29 R. Belk, Possessions and the Extended Self. The Journal of Consumer Research 15,2 (1988) 139–168  ; vgl. E. Prelinger, Extension and the structure of self. Journal of Psychology 47 (1959) 13–23 30 S. Spencer-Wendel, Until I say Good-Bye. Croydon 2013, 123ff. »Like so many women, I had

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Anmerkungen

spent scads of money finding the just-so combo for my face … Even as my hands weakened, I applied makeup … Me without makeup was NOT an option« (124) – und dann der klare Hinweis auf den Zusammenhang mit der eigenen Identität  : »Caring about how you look is not shallow. Pride is the engine of self-respect. Nothing important ever was accomplished by letting the little things slip« (ebd). Spencer-Wendel berichtet auch von der Bedeutung eines Fotoalbums, das ihre Adoptivmutter für ihre biologische Mutter zusammengestellt hatte  : »Mom had made Ellen a small photo album, with a picture of me from every year of my childhood, from newborn to college graduate … A precious gift for Ellen, and more so for me … It was stunning in its thoughtfulness and care« (ebd., 85) – wieder steht ein Ding für sehr viel mehr als einen Gegenstand. 31 Vikas Swarup beschreibt beispielsweise in seinem Roman The Accidental Apprentice die Bedeutung eines Laptops für die Schwester der Protagonistin, die ihre arme Familie ernährt – London 1997, 21. Er beschreibt die Beharrlichkeit und Intensität dieser Sehnsucht, die sich auf einen Gegenstand richtet, der eine Form der Zugehörigkeit ermöglicht und den Alltag aufhellt. 32 R. Belk, Metaphoric Relationships with Pets. Society and Animals 4,2 (1996) 121–145. 33 M. Csikszentmihalyi, E. Rochberg-Halton, The Meaning of Things. Cambridge 1981. 34 G. Marcel, L’Esquisse d’une phénoménologie de l’avoir. In  : Etre et avoir. Paris 1935, 223–255. 35 J. Bircher, Towards a Dynamic Definition of Health and Disease. Medicine, Health Care and Philosophy (2005) 8  : 335–341, 336. 36 »Aus zwei Gründen sind selbst leichte Krankheiten bei den Armen schwerwiegend  : Erstens, sie haben kein Geld für teure Medikamente  ; zweitens, sie haben kein vernünftiges Verhältnis zu den Bedürfnissen ihres Körpers« (M. Kämpchen, Leben ohne Armut. Freiburg/Br 2011, 38). 37 Schönheit  : Beim Segen des Juda durch seinen Vater ( Juda ist Stammvater Jesu  !) heißt es  : »Seine Zähne sind weißer als Milch« (Gen 49,12). Hier ist innere Schönheit angesprochen  ; im Hohelied finden wir die Stelle  : »Deine Zähne sind wir eine Herde frisch geschorener Schafe, die aus der Schwemme steigen« (Hld 4,2). Hier ist äußere Schönheit gemeint. Macht  : Das Ungeheuer hatte »starke Zähne aus Eisen« – Dan 7,7  ; die Zähne der Löwen sind »Spieße und Pfeile« – Ps 57,5  ; die Zähne der Sünde sind Löwenzähne  ; Sir 21,2. Oder auch in der erleichterten Feststellung  : »All meinen Feinden hast du den Kiefer zerschmettert, hast den Frevlern die Zähne zerbrochen« – Ps 3,8. Zahnlosigkeit ist Machtlosigkeit. 38 Vgl. J.B. Burnette et al., Leadership in Extreme Contexts  : A Groupthink Analysis of the May 1996 Mount Everest Disaster. Journal of Leadership Studies 4,4 (2011) 29–40  ; M.A. Roberto, Lessons from Everest. California Management Review 45,1 (2002) 136–158  ; D. C. Kayes, The 1996 Mount Everest Climbing Disaster  : The breakdown of learning in teams. Human Relations 57,10 (2004) 1263–1284. 39 J. Glover, Humanity. A moral history of the Twentieth Century. London 2001, 58–63. 40 G. Myrdal, Asian Drama. An Inquiry into the Poverty of Nations. New York 1968. 41 G. Myrdal, (with the Assistance of R. Sterner and A. Rose), An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy. New York 1962 – Abkürzung »AAD«. Myrdal hatte damals die Situation der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner untersucht und war angesichts der nicht von der Hand zu weisenden systematischen Benachteiligung zum Schluss gekommen, dass die USA auf der einen Seite Werte wie Gleichheit und Freiheit vertreten, auf der anderen Seite diese jedoch einem signifikanten Teil der Bevölkerung (systembildend und –erhaltend) vorenthalten – dadurch ergebe sich »ein amerikanisches Dilemma«. 42 Das Argument erinnert an einen Aspekt von Herbert Gans’ Abhandlung über die Funktionen der Armut – H. Gans, The Uses of Poverty. The Poor Pay All. Social Policy July/August 1971, 20–24  ; ähnliche Überlegungen über die kulturellen Funktionen von Armut auch als Modebringer wurden von John Bird eingebracht, der von einem »cultural need for poverty« spricht – J. Bird, The Dritter Teil  : Innenseiten

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Necessity of Poverty. London 2012. Bird zeigt auch, dass Armut wichtige Industriezweige wie Zigaretten und Alkohol mittreibt (7)  ; die Armut derjenigen, die in Billigproduktionen tätig sind, ermöglicht es uns, uns Dinge zu leisten, die wir uns sonst nicht leisten könnten (20). 43 »The rationalizations amount to this  : since Negroes are poor and always have been poor, they are inferior and should be kept inferior. Then they are no trouble but rather a convenience. It is seldom expressed so bluntly. Expression like ›standard of living‹ and ›cost of living‹ are employed because they have a flavor scientific objectivity. They avoid hard thinking. They enable one to stand for the status quo in economic discrimination without flagrantly exposing oneself even to oneself. For their purpose they represent nearly perfect popular theories of the rationalization type. (AAD 218). 44 H. Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. München 21987. 45 Die Krise betraf das Vertrauen der US-Bürger/innen in die Politik ebenso wie das Vertrauen der Armee in die politische Führung  ; verloren ging vor allem der Konsens über die Grundlage der Zuerkennung von Ehre – vgl. L. Berman, No Honor  : Nixon, Kissinger, and Betrayal in Vietnam. New York 2001  ; M. Ryan, The Other Side of Grief  : The Home Front and the Aftermath in American Narratives of the Vietnam, The University of Massachusetts Press, 2008. 46 A. Zamoyski, 1812. Napoleons Feldzug in Russland. München 2012, 25–27. 47 A. Muhlstein, Der Brand von Moskau. Frankfurt/Main 2009, 86. 48 E. Kleßmann, Die Verlorenen. Die Soldaten in Napoleons Rußlandfeldzug. Berlin 2012, 60. 49 Muhlstein, Der Brand von Moskau, 36f. 50 Yang Jisheng, Grabstein. Frankfurt/Main 2012  ; F. Dikötter, Mao’s Great Famine. London 2010. 51 »Mao repeatedly lost his temper as he badgered the planners, accusing them of pouring cold water on the enthusiasm of the people and holding back the country« (Dikötter, Mao’s Great Famine, 17). 52 Dikötter, Mao’s Great Famine, 165. 53 »Wirtschaft, das Gehäuse des Nutzwillens, und Staat, das Gehäuse des Machtwillens, haben so lange teil am Leben, als sie am Geist teilhaben« (Buber, Das dialogische Prinzip 51). 54 V. Havel, Am Anfang war das Wort. Reinbek 1990 , 113. 55 V. Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek 1990, 73  ; vgl. V. Havel, Briefe an Olga. Reinbek 1990, 205. 56 V. Havel, Briefe an Olga, 92. 57 Ebd., 94. 58 V. Havel, Am Anfang war das Wort, 105. 59 V. Havel, Sommermeditationen. Reinbek 1992, 102ff. Dieses Kapitel (»Wovon ich träume«) ist ein bemerkenswertes Zeugnis eines Politikers, der sich Gedanken über die Richtung macht, in die die Entwicklung des Gemeinwesens mittel- und langfristig gehen sollte. 60 V. Havel. Angst vor der Freiheit. Reinbek 1991, 58ff. Hier bricht eine Erweiterung des Horizonts in das tagespolitische Geschehen ein  : Havel erwähnt das Buch »Träumen von Europa«, das Dienstbier als Heizer geschrieben hatte  : »Das Träumen des Heizers wandelte sich zur alltäglichen Arbeit des Außenministers« (60). 61 Havel, Sommermeditationen, 27. 62 D. Hammarskjöld, Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs. Überarbeitete Neuausgabe mit einem Vorwort von Manuel Fröhlich. München 2005. Im Folgenden beziehe ich mich auf diese Ausgabe mit »DHZ«, gefolgt von der Seitenzahl. 63 Am 31. Dezember 1956 finden wir einen Eintrag, der Selbstvergessenheit und Selbstbefreiung miteinander verbindet  : »Jedes Werk immer weniger an deinen Namen gebunden, jeder Schritt immer leichter« (DHZ 149). Es geht nicht darum, sich einen Namen zu machen, sondern ein Werk zu vollbringen  ; und wenn es nicht mehr um den Namen und die Last des eigenen Rufes

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Anmerkungen

geht, wird jeder Schritt leichter, weil auch das Risiko wegfällt, zu scheitern, da ja nicht persönlicher Sieg oder Niederlage auf dem Spiel steht. 64 http  ://images2.americanprogress.org/campus/email/RobertFKennedyUniversityofKansas.pdf (accessed April 5, 2013), p. 4. 65 R.A. Easterlin, Does Economic Growth Improve the Human Lot  ? Some Empirical Evidence, in  : P. A. David & M. W. Reder (Hrsg.), Nations and Households in Economic Growth  : Essays in Honor of Moses Abramowitz. New York 1974, 88–125. 66 H.F. Illy, Bhutan auf der Suche nach dem »Bruttosozialglück«. Licht- und Schattenseiten einer Politik der unbedingten kulturellen Eigenständigkeit, in  : Th. Hanf et al. (Hrsg.), Entwicklung als Beruf  : Festschrift für Peter Molt. Baden-Baden 2009, 282–292  ; B. Larmer, Bhutan’s Enlightened Experiment, National Geographic 213,3 (2008) 124–149. 67 T. Pfaff, Das »Bruttonationalglück« als Leitlinie der Politik in Bhutan – eine ordnungspolitische Analyse. Discussion Paper. Centrum für interdisziplinäre Wirtschaftsforschung. Universität Münster. September 2011, 6. 68 K. Ura, Tradition and Development, in  : Chr. Schicklgruber und F. Pommaret (Hrsg.), Bhutan – Mountain Fortress of the Gods. London 1997, 239–251  ; A. J. Obrecht (Hrsg.), Sanfte Transformation im Königreich Bhutan, Wien 2010  ; M. Rutland, Michael, Bhutan  : From the Mediaeval to the Millennium, Asian Affairs 30,3 (1999) 284–294. 69 S. Priesner, Gross National Happiness – Bhutan’s Vision of Development and its Challenges. In  : Sonam Kinga, Karma Galay, Phuntsho Rapten und Adam Pain (Hrsg.), Gross National Happiness – A Set of Discussion Papers, Thimphu 1999, 24–52, 27. 70 D. Zurick, Gross National Happiness and Environmental Status in Bhutan, Geographical Review 96,4 (2006) 657–681 71 Karma Ura et al., An Extensive Analysis of GNH Index. Centre for Bhutan Studies. Thimphu 2012. 72 A. Sugar, What You See Is What You Get. London 2011 (2010). 73 Ibd., 107. 74 Ibd., 109. 75 »It was the buying public I was concerned about. I would bring perceived value to the average guy who could not afford the expensive kit, but wanted something that looked the part. And, let’s face it, half of the people who bought the expensive stuff, did so out of snobbery, simply because they were told it was the best« (ibd., 133). Alan Sugar traf diese Entscheidung (mass volume/low price) für den Massenmarkt bewusst, in klarem Gegensatz etwa zu Bang & Olufson. 76 E. Inauen, B. S. Frey, Benediktinerabteien aus ökonomischer Sicht. Über die ausserordentliche Stabilität einer besonderen Institution. Working Paper No. 388. Institute for Empirical Research in Economics. University of Zurich. Zürich 2008. 77 Ich verwende folgende Ausgabe  : Regula Benedicti. Die Benediktsregel. Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz. Beuron 2011. Ich verwende die Abkürzung »RB« – Kapitel und Abschnitt. 78 Ausgabe  : Des heiligen Kirchenlehrers Gregorius des Großen ausgewählte Briefe. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Th. Kranzfelder. (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 27), Kempten 1874. Die drei Briefe, um die es geht, finden sich an folgenden Stellen  : Buch I, Brief XX  ; Buch I, Brief XXIII  ; Buch II, Brief IV. 79 Siehe den Beitrag von Abt J. Eckert, in   : E Kapferer et al, Marktwirtschaft für Menschen. Münster 2011. 80 J. M. Keynes, Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder. In  : N. Reuter, Wachstums­ euphorie und Verteilungsrealität. Marburg 22007, 135–147. Abkürzung »KWM«. Dritter Teil  : Innenseiten

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81 »Wir sollten imstande sein, uns von vielen der pseudomoralischen Grundsätze zu befreien, die uns seit zweihundert Jahren peinigen und durch die wir einige der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften zu höchsten Tugenden gesteigert haben. Wir sollten wagen, den Geldtrieb nach seinem wahren Wert einzuschätzen. Die Liebe zum Geld als ein Wert in sich − was zu unterscheiden ist von der Liebe zum Geld als einem Mittel für die Freuden und die wirklichen Dinge des Lebens − wird als das erkannt werden, was sie ist, ein ziemlich widerliches, krankhaftes Leiden, eine jener halb-kriminellen, halb-pathologischen Neigungen, die man mit Schaudern den Spezialisten für Geisteskrankheiten überlässt.« (KWM 143). 82 L. Garai, Determining Economic Activity in a Post-capitalist System. Journal of Economic Psychology 8 (1987) 77–90. 83 G. Akerlof, R. Kranton, Economics and Identity. The Quarterly Journal of Economics CXV,3 (2000) 715–753. 84 G. Becker, The Economics of Discrimination. Chicago 1957  ; E. Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life. Garden City, NJ 1959. 85 G.A. Akerlof, R.E. Kranton, Identity Economics. How Our Identities Shape Our Work, Wages, and Well-Being. Princeton 2010, 28. 86 Ebd., 11. 87 Ebd., 33. 88 Ebd., 121. 89 Vgl. D. Austen-Smith, R. Fryer Jr., The Economic Analysis of ›Acting White‹. The Quarterly Journal of Economics (May 2005) 551–583  ; Chr. Ruebeck et al., Acting White or Acting Black. National Bureau of Economic Research Working Paper 13973. Cambridge, Ma 2008  ; D. Benjamin et al., Social Identity and Preferences. American Economic Review 100 (2010) 1913–1928. 90 Akerlof/Kranton, Identity Economics, 41–43. 91 C.A. Hill, The Law and Economics of Identity. Queen’s Law Journal 32 (2007) 389–445. 92 L. Phillips, E. M. Garrett, Why Don’t They Just Get a Job  ? Highlands, TX 2010, 152. 93 J.K. Galbraith, The Great Crash 1929. London. Reprint 1992. Abkürzung »GGC« – Jan Plamper hat am Beispiel des Börsenkrachs von 1929 die wirtschaftliche Bedeutung von Emotionen exemplifiziert – J. Plamper, Geschichte und Gefühl. München 2012, 332f. 94 Auf die Gefahren der Habsucht hatte schon im vierten Jahrhundert Ambrosius, Bischof von Mailand, in seiner Schrift Über die Pflichten der Kirchendiener (»De officiis ministrorum«  : DOM) hingewiesen  : Habsucht ist die Wurzel aller Übel (DOM II,17,89), sie lässt uns den Sinn für gemeinnütziges Tun verlieren (DOM I,28,137). Ein Mensch, der durch Geld erkauft wird, ist nicht zuverlässig (DOM II,23,117f ). Es ist hässlich, wenn ein Mensch im Herzen von Habsucht entbrannt ist (DOM III,9,57). Die Überwindung der Habsucht ist Zeichen eines reifen Menschen, der »wie von einer ragenden Burg aus auf die menschliche Habgier herabblickt« (DOM II,14,66). Ambrosius warnt explizit vor der Bewunderung des Reichtums (DOM II,26,130), die sich auch darin zeigt, dass vermögenden Menschen mit besonderer Achtung begegnet wird. 95 Thomas von Aquin, Summa II-II, 118, a. 3, resp. 96 Paul VI. hatte in Populorum Progressio eine Verschränkung von innerer und äußerer Entwicklung gefordert  : Wahre Entwicklung muss umfassend sein (PP 14), Entwicklung wird nicht bloß als technischer oder wirtschaftlicher Begriff verstanden, es gibt auch so etwas wie »moralische Unterentwicklung« (PP 19). Wahre Entwicklung muss jeden Menschen und sie muss den ganzen Menschen im Blick haben. Allseitige Entwicklung des Einzelmenschen muss Hand in Hand gehen mit der Entwicklung der gesamten Menschheit (PP 43). Wirtschaftliche Entwicklung wiederum muss von moralischer Entwicklung begleitet sein, ökonomisches Wachstum und sozialer Fortschritt hängen zusammen (PP 35).

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Anmerkungen

  97 St. Natella et al., Intangible Infrastructure  : Building on the foundation. Credit Suisse Research Institute 2008.   98 Ebd., 7.   99 Vgl. B. Vallejo-Alonso et al, (eds), Identifying, measuring and valuing knowledge-based intangible assets  : new pespectives. Hershey, PA  : Business Science Reference 2011. 100 Intangible infrastruktur wird von Katie Warfield, Erin Schultz und Kelsey Johnson als »soft infrastructure that facilitates the functioning and management of tangible infrastructure« gesehen (K. Warfied et al., Framing Infrastructure in a Cultural Context. Creative City Network of Canada. Working Paper 3. Simon Fraser University 2007, 2). Man kann sich dieses »facilitating« vielleicht so vorstellen  : Die tangible Infrastruktur einer Straße erfüllt ihren Zweck nur dann, wenn die Verkehrsteilnehmenden sich an entsprechende Kooperationsverpflichtungen halten und die an sie herangetragenen Verhaltenserwartungen zumindest weitgehend erfüllen. Dazu kommt, dass eine Straße nur dann entsteht, wenn menschliche Interessen hinter dem Projekt stehen, das Mittel für einen Zweck darstellt. 101 H. Harris et al, International Human Resource Management. London  : CIPD 2003, 175. 102 A. E. Andersson, D.E. Andersson, The Economics of Experiences, the Arts and Entertainment. Cheltenham  : Edward Elgar 2006, 5. 103 M. Keane, The Capital Complex. In  : L. Kong. J. O’Connor, eds., Creative Economies, Creative Cities. Heidelberg  : Springer 2009, 77–98, hier 79. 104 B. Frischmann, Infrastructure. The Social Value of Shared Resources. Oxford  : OUP 2012, 285. 105 Aristoteles, Met. VIII 5, 1044b27–29. 106 Das kann man sich etwa mit Blick auf eine Organisation in den Worten Giovanni Schiumas klar machen  : »Some important components of an organisation’s intangible infrastructure are  : brand, culture, routines and procedures, leadership and management philosophy, identity and image, organisational climate and, more generally, the ›spirit‹ of the organisation, i.e. the specific atmosphere, energy and feeling that characterise an organisation« (G. Schiuma, The Value of Arts for Business. Cambridge  : CUP 2011, 62f )  ; vgl. ders., Intellectual Capital and Company’s Performance Improvements. Measuring Business Excellence 12,2 (2008) 3–9. 107 J. Searle, Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation. Berlin 2012, 18. 108 Ebd., 19. 109 Ebd., 20. 110 Ebd., 21. 111 Ebd., 24. 112 Ebd., 24. 113 Ebd., 27. 114 V. Kanapathy, Malaysa. In  : A. Kohsaka, ed., Infrastructure Development in the Pacific Region. Abingdon  : Routledge 2007, 156–176, hier 169. 115 St. Landrigan, Q. Akbar Omar, Shakespeare in Kabul. Ein Aufbruch in drei Akten. Zürich 2013. Abkürzung »SK«  ; vgl. die Rezension von Patricia Lennox in Shakespeare Bulletin 31,1 (2013) 153–157. 116 Zur Frage der Nachhaltigkeit – I.R  : Makaryk, ›Brief candle‹  ? Shakespeare in Afghanistan. Multicultural Shakespeare  : Translation, Appropriation, Performance 6 (21)/7 (22) (2010)  : 81–113  ; A. Bossman, Shakespeare and globalization. In  : M. de Grazia, S. Wells (eds.), The New Cambridge Companion to Shakespeare Cambridge 2010, Ch 19 (285–301). 117 Vgl. R. Brockmann, G.C. Dade, Katutura, 70. 118 C. Menke, Die Kraft der Kunst. Berlin 2013, 11  ; vgl. Platon, Ion 533d–534b. Dritter Teil  : Innenseiten

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119 Ebd., 12. 120 Ebd., 105. 121 Ch. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie  ? Frankfurt/Main 2002, 21–26. 122 Vgl. K.A. Appiah, Eine Frage der Ehre. München 2011. 123 D. Dorling, Injustice. Why social inequality persists. Bristol 2011. 124 Ebd., 2. 125 Ebd. 126 Ebd., 204–207. 127 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/Main 1975, 21. 128 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 249. Dies ist geradezu der Lackmustest für die Stabilität einer Gesellschaft – »wenn ungerechte Tendenzen aufkommen, so werden Kräfte wachgerufen, die die Gerechtigkeit des ganzen zu bewahren trachten« (ebd.). 129 Ebd., 494. 130 Ebd., 498–503. 131 Die Basis eines Vertrags ist das Vertrauen, wie Onora O’Neill in ihren Reith Lectures im Jahr 2002 argumentiert hat – O. O’Neill, A Question of Trust. Cambridge 2002. 132 D. Miller, Grundsätze der Gerechtigkeit. Frankfurt/Main 2007. 133 Ebd., 62. 134 Ebd., 61. 135 Ebd., 45f. 136 Zu Hintergrundannahmen vgl. Ludwig Wittgensteins Überlegungen zur Rolle von »Weltbildern« – L. Wittgenstein, Über Gewissheit. Oxford 1969, 93–97  ; siehe auch W. Lütterfelds, Wittgensteins Weltbild-Glaube. Ein vorrationales Fundament unserer Lebensform  ? J. PadillaGálvez, R. Drudis Baldrich (Hgg.), Wittgenstein y el Circulo de Viena. Cuenca 1998, 115–152. 137 Miller, Grundsätze der Gerechtigkeit, 54. 138 Ebd., 292. 139 Ebd., 283. 140 Ebd., 60. 141 Ebd. Und ähnlich  : »Jede Gemeinschaft hat, implizit oder explizit, ein Gefühl für die Standards eines angemessenen menschlichen Lebens, und genau auf diesen Maßstab bezieht sich die heiß umstrittene Unterscheidung zwischen Bedürfnissen als Gerechtigkeitsfrage und schlichten Wünschen« (ebd., 68). Auch das Verdienstprinzip verlangt gemeinsame Überzeugungen – eine für das Verdienstprinzip relevante Leistung »muss etwas sein, das von der jeweiligen Gesellschaft geschätzt oder für wertvoll gehalten wird« (ebd., 182). 142 Ebd., 65. 143 Ebd., 264. 144 C. u. C. Schneider, Himmel und Straßenstaub. Gießen 2011. Abkürzung »SHS«. 145 Die Erfahrung, einem anderen uneigennützig helfen zu können, stiftet Identität  : Christian Schneider hat in einem Slum eine Motorradpanne, zwei Menschen, von Lepra entstellt, bieten ihre Hilfe an. »Sie heben das Rad aus dem Rahmen, entfernen Brems- und Kupplungsgestänge und probieren mit viel Mühe, den harten Mantel aus den Felgen zu lösen. Sie rutschen immer wieder ab und verletzen sich an scharfen Metallkanten, man kann es nicht mit ansehen  ! Beide beginnen, an ihren Fingerstummeln zu bluten. Ich würde am liebsten im Erdboden versinken. Die zwei verrenken sich bei der Arbeit, setzen Ellbogen und Füße ein, aber sie weigern sich, dass ich mithelfe … Es ist kaum zu glauben, aber die Männer kriegen mein Motorrad wieder flott. Sie stehen auf und strahlen mich an, glücklich und stolz auf ihren Sieg über die Maschine, über die Situation, vielleicht auch über die Spuren ihrer Krankheit. Sie, die armen Kranken am Wegrand,

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Anmerkungen

und ich, der gesunde Weiße – mit einem Motorrad, das in ihren Augen ein Vermögen wert sein muss … Natürlich verweigern sie mir jetzt auch noch, ihnen zu danken« (SHS 135f ). 146 »Das erschlägt mich beinahe. Ich kenne den Mann seit Jahren. Er hat als einer der Einzigen in meinem Umfeld einen Hochschulabschluss, er ist vielseitig begabt und vertrauenswürdig … Im Gespräch wird mir aber auf einen Schlag klar, dass ich nicht nur meinen Freund vor mir habe, sondern auch einen Betrüger. Und mir wird klar, dass ich ihn durch mein Vertrauen wohl überhaupt erst in Versuchung gebracht habe, zu betrügen … Er als Slumbewohner ist wohl auch Opfer seiner Träume von einem besseren Leben geworden« (SHS 222). Auch hier hat ein innerer Antrieb, der Traum von einem besseren Leben, den Ausschlag gegeben. 147 Doraja Eberles Hilfswerk »Bauern helfen Bauern« legt auf solche Aspekte auch großen Wert  : »Viele Frauen hatten kohlpechrabenschwarze Haare und so ein, zwei, manchmal auch drei Zentimeter weiße Haaransätze. Du hast sofort gedacht, oh, die haben sich immer die Haare gefärbt, aber im Krieg gibt es keine Haarfarbe. Wenn ich einen weißen Haaransatz hätte und mein Mann gar nicht weiß, dass ich färbe, dann nichts wie Haarfarbe kaufen. Sofort. So haben wir es immer gehalten. Ein anderes Beispiel waren die vielen jungen Leute mit schlechten oder kaum noch Zähnen. Sie haben sich beim Sprechen oder Lachen immer die Hand vor den Mund gehalten. Doch auch sie wollten lachen können, schön sein für ihre Männer, ihre Frauen, für sich selbst. Also haben wir ein Zahnprojekt aufgelegt« (D. Eberle, Spuren der Nächstenliebe. Wien 2012, 40). »Ehre«, »Schönheit«, Status« sind miteinander verbunden und wichtige Aspekte der intangiblen Infrastruktur. Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?   1 Thomas von Aquin, De Malo, q. 1, a. 1, resp.  2 Ebd.   3 De Malo, q. 1, a. 2, ad 3.   4 De Malo, q. 1, a. 2, resp.   5 De Malo, q. 1, a.3, resp.   6 De Malo, q. 2., a. 11, resp.   7 V. Rios, Street Life. Poverty, Gangs, and a PhD. Five Rivers Press 2011, 28.   8 P. v. Laak, 1 Frau, 4 Kinder, 0 Euro (fast). München 2012, 92f.   9 S. Selke, Schamland. Berlin 2013, 50. 10 D. Narayan et al., Voices of the Poor. Oxford 2000. 11 G. Wallraff, Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere. Köln 2009, 108, 116f. 12 Ebd., 123. 13 P. van Laak, 1 Frau, 4 Kinder, = Euro (fast). Wie ich es trotzdem geschafft habe. München 2012, 35. 14 Ebd., 85. 15 E. Päsler, Sally. Die wahre Geschichte einer Mutter. Wien 2011. Abkürzung »EPS«. 16 »The poorest women in Africa often raise children while their husbands work in other places – if they even have husbands – and their poverty sometimes causes them to sleep with a landlord when they can’t afford the rent. It is an act driven not by commerce but by the need for survival in a cruel market« (Novogratz, The Blue Sweater, 75). Stacey Edgar berichtet von einer indischen Frau, Soriya, die sich nach einer arrangierten Ehe mit einem spielsüchtigen Mann auf Vorschlag der Schwiegermutter zur Deckung der Schulden prostituieren sollte  ; sie wusste, dass ihr Ruf, ihre Würde und ihr sozialer Status auf dem Spiel standen –»I refused to sacrifice my dignity, pride, Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

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and body for the sake of some extra money. In the middle of the night, I fled to the home of my parents.I trekked about thirty kilometers through the darkness of the night« (ebd., 63) – hier hat eine oppressive Situation den moralischen Spielraum so sehr verkleinert, dass er Heroismus oder »moral sainthood« abverlangt hat. 17 P. Freire, Pedagogy of Hope. New York 1995, 25f. 18 T. Morrison, Menschenkind. Reinbek bei Hamburg 1993, 64. An einer anderen Stelle in diesem Roman wird der Entzug von Handlungsmöglichkeiten durch Sklaverei deutlich »In Babys ganzem Leben, und auch in Sethes, wurden Männer und Frauen herumgeschoben wie Damensteine. Alle Menschen, die Baby Suggs kannte oder gar liebte und die nicht weggelaufen oder aufgehängt worden waren, wurden vermietet, verliehen, aufgekauft, zurückgebracht, eingepfercht, verpfändet, gewonnen, gestohlen oder festgenommen. Drum hatten Babys acht Kinder sechs Väter. Die Widerwärtigkeit des Lebens, wie sie es nannte, war die schockartige Erkenntnis, daß keiner aufhörte, Dame zu spielen, nur weil ihre Kinder zu den Steinen gehörten.« (ebd., 39) 19 N. Mahfuz, Anfang und Ende. Zürich 2000, 235. 20 J. Steinbeck, Früchte des Zorns, 46. 21 C. McCarthy, Verlorene. Reinbek 1994, 20f. 22 K. Saro-Wiwa, Lemonas Geschichte. München 1999, 25. 23 E. Morante, La Storia. Zürich 31976, 321f. 24 Ebd., 323. 25 Saramago, Claraboia, 150. 26 Ignatius von Loyola, Briefe. Hg. P. Knauer. Werkausgabe 1. Würzburg 1993, 184–189. Abkürzung »ILB«. 27 Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit. Herausgegeben vom Verlag »Der Christliche Osten« (Schriftleitung G. Hohmann). Fünf Bände. Würzburg 22007, Band II, 15 (Nummer 39). 28 Philokalie II, 95 (Nummern 88f ). 29 Philokalie Band III, 279. 30 Apophthegmata Patrum. Weisungen der Väter. Übers. B. Miller. Trier 82009, 923 (Abkürzung »Apo«, zitiert nach Nummern). 31 Theodoret von Cyrus erzählt beispielsweise in seiner Mönchsgeschichte von Zeno (Historia Religiosa 12), der große Reichtümer zurückließ und nun für sich lebte, beschäftigt mit der Reinigung der Seele und der Läuterung ihrer Sehschärfe. Gerontius verfasst um 440 eine »Vita Melaniae«, in der er sie als einen Menschen preist, der von inniger Liebe zur Armut erfüllt war und auf alles Vermögen verzichtet hatte (Vita Melaniae 30). Dadurch wurde sie für Gott frei und konnte auch andere bewegen, ihrem Beispiel zu folgen. 32 Diese Perspektive ist anschaulich in einem Gleichnis im Matthäusevangelium zusammengefasst  : »Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker. Auch ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er eine besonders wertvolle Perle fand, verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte sie« (Mt 13,44–46). 33 Clemens von Alexandrien, Welcher Reiche wird gerettet werden. Hg. O. Stählin (Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 8). München 1934, 12,4 (Abkürzung CAR). 34 Philokalie II, 14f (Nummer 38). 35 Apo 180. 36 Apo 960. 37 Palladius, Historia Lausiaca 49. 38 Ebd., 71.

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Anmerkungen

39 Leo der Große, Sämtliche Sermonen, Sermo 42  : 4. Predigt auf die vierzigtägige Fastenzeit, Abschnitt 2. 40 CAR 11,2. 41 CAR 16,3. 42 Apo 535. 43 Philokalie II, 14f (Nummer 38). 44 Philokalie III, 146–148. 45 Ebd., 275. 46 Es geht um die Überwindung von Anhänglichkeit und Abhängigkeit – ebd., 275–283, 383. 47 Clemens von Alexandrien, Welcher Reiche wird gerettet werden  ? In  : Ders., Der Erzieher II-III  ; Welcher Reiche wird gerettet werden. Herausgegeben von O. Stählin. Bibliothek der Kirchenväter II, Band 8. München 1934. Abkürzung  : CAR. Hier CAR 1,2. 48 CAR 20,2. 49 Leo der Große, Sämtliche Sermonen, Sermo 95, Homilie über die Seligkeiten der Bergpredigt, Abschn 2. 50 Apo 20  ; eine ähnliche Bemerkung wird von Abbas Kassian in den »Apophthegmata Patrum« berichtet  : Ein wohlhabender Senator dankte ab und gab sein Vermögen den Armen, behielt aber etwas für sich zurück  ; der Abbas kommentierte  : »Wenn du auch den Senator verlassen hast, ein Mönch bist du nicht geworden« (Apo 433)  ; die mönchische Lebensweise verlangt eine konsequente Anerkennung des Primats des Geistigen, was die Demütigung eines vollständigen Verzichts und die kompromisslose Unterordnung unter die koinobitische Lebensordnung verlangt. 51 Apo 93, ähnlich Apo 94, siehe auch Apo 126 unter Abbas Achilas. 52 Apo 949. 53 Apo 952. 54 Apo 950. 55 Johannes Chrysostomos, Predigt 4 über Lazarus, Ausgewählte Predigten. Kempten 1879, Absch 3, p 271. 56 Ebd. Abschnitt 5, p 276. 57 Ebd., Abschnitt 5, p 277. 58 Ebd., Abschnitt 4, p 275. 59 Die Erfahrung Gottes und die Erfahrung des Schönen sind miteinander verbunden. 60 Es wird als asketische Übung angesehen, auf Notwendiges zu verzichten. 61 Philokalie III, 168 (Nr 96). 62 Clemens von Alexandrien, Stromateis, Buch 4, Kapitel 6, 35,1. 63 Auch Origines weist auf die Versuchungen hin, die mit der Armut gegeben sind (vgl. »De oratione«, Abschnitt 6). Er hält fest, dass Armut und Reichtum eine Frage von Gesinnung und Charakter seien (Contra Celsum VI, 16). 64 Stromateis, Buch I, Kap VI, Abschn 35. 65 Ebd., VI, 12, 99, 5. 66 Das Kriterium, ob Armut oder jedwede andere Lebenslage »bonum« oder »malum« darstellt, ist im Inneren des Menschen zu suchen. Clemens von Alexandrien weist an einigen Stellen darauf hin, dass der Verzicht auf Reichtum allein noch nicht verdienstvoll sei, da dies auch aus Gründen wie Ruhmsucht oder Eitelkeit erfolgen könne (CAR 11,4). Umgekehrt kann Reichtum auch ein sinnvolles Werkzeug sein, das geschickt eingesetzt werden könne (CAR 14,1–2), zumal Reichtum auch von Gott ermöglicht werde (CAR 26,5). Die entscheidende Frage lautet also, wenn es um den normativen Status einer Lebenslage geht  : Inwieweit trägt die Lebenslage zum Aufbau oder Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

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zur Gefährdung innerer Integrität bei  ? Die schlimmsten »Verfolgungen« spielten sich im Inneren des Menschen ab (CAR 25,4). 67 CAR 17,1. 68 Leo der Große, Sämtliche Sermonen, Sermo 49, 11. Predigt auf die vierzigtägige Fastenzeit, Abschnitt 1. 69 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 3, 16. 70 CAR 12,5. 71 CAR 31,6. 72 CAR 19,2. 73 M. Nussbaum, Creating Capabilities. Cambridge, Mass 2011, 25. 74 Clemens von Alexandrien, Stromateis, Buch IV, Kap 5, 21,1. 75 Ebd. IV, Kap 6, 31,5. 76 Johannes Chrysostomos, De sacerdotio 5,4. 77 Platon, Symposium 203a–204b. 78 C.S. Lewis, Studies in Words. Cambridge 1967, Kap. 10 (269–305). Diese Ausführungen sind für eine Reflexion auf die Frage nach dem guten Leben relevant, vor allem  : »Life is something my body has, but my life is also the period during which my body had it« (272)  ; die Lebensperiode, in der jemand gelebt hat, kann in verschiedener Hinsicht qualitativ beurteilt werden – ethisch, mit Blick auf Schicksal und Glück, Lebensform oder Routine (273f ). 79 C.S. Lewis, A Grief Observed. London 1966 (1961). Abkürzung »LGO«. 80 Dieser Frage ist in gewisser Weise die australische Krankenschwester Bronnie Ware nachgegangen  : B. Ware, The Top Five Regrets of the Dying. London 2012. 81 A. Delp, Gesammelte Schriften 4. Hg. R. Bleistein. Frankfurt/Main 21985, 139–141. Abkürzung »DGS«. 82 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 428–436. Abkürzung »BWE«. 83 »Ihr, die Ihr in einem Weltkrieg aufwachst, den 90 Prozent aller Menschen nicht wollen und für den sie doch Gut und Leben lassen, erfahrt von Kind auf, daß Mächte die Welt bestimmen, gegen die die Vernunft nichts ausrichtet« (BWE 434). 84 »Was Leben in Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles ist so schwer und so fern, daß wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen« (BWE 435). 85 S. Barton, Living With Jonathan. London 2012. Abkürzung »BLJ«. 86 »He’s made his own life, lives on his own terms, copes with the autism really well« (BLJ 117). 87 Though liberal in our middle-class ghetto, we knew that disturbed children lived somewhere else« (BLJ 18). 88 I felt isolated, very, very alone … No one else understands your situation or your conflicted feelings« (BLJ 141). 89 Vgl. A. Solomon, Far from the Tree. London 2012, Kap. 5. 90 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 112006, 668. 91 Ebd., 682. 92 Ebd., 695. 93 Ebd., 701. 94 Ebd., 723. 95 H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 22007  ; vgl. auch die Rundfunksendung vom 9. November 1964 mit Hannah Arendt und Joachim Fest  ; nachzulesen in H. Arendt, J. Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. München 2011. 96 J. Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000. Köln 2010, 464.

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Anmerkungen

  97 J. Diamond, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt/Main 2006.   98 S. Heinlein, Among Murderers. Life after Prison. Berkeley 2013. Abkürzung »HAM«.   99 »And just like that, that was that. No sense of being at all«, notierte Angel am Tag seiner Entlassung in sein Tagebuch (HAM 21). 100 T. Wolfe, Fegefeuer der Eitelkeiten, 27. 101 Ebd., 74. 102 Vgl. C. Sedmak, Innerlichkeit und Kraft, 345–350. 103 R. Solomon, About Love. New York 1988, 197. Es ist ein wichtiger Punkt, »daß nämlich ›Liebe‹ eine immer schon gefügte Zuordnung von Liebendem und Geliebtem einschließt und auf ihr beruht  ; daß, anders ausgedrückt, niemand irgend etwas oder irgendwen lieben könne, wenn nicht die Welt … Eine Wirklichkeit wäre und auch als etwas fundamental Einheitliches erfahren werden könnte« ( J. Pieper, Über die Liebe. München 82000, 33). Die Fähigkeit zur Liebe hängt damit demnach mit der Fähigkeit zusammen, gemeinsamen Boden zu schaffen, den eigenen Horizont mit dem Horizont des Anderen verschmelzen zu lassen. 104 A.O. Rorty, The Historicity of Psychological Attitudes  : Love Is Not Love Which Alters Not When It Alteration Finds«. In N.K  : Badhwar, Friendship  : A Philosophical Reader. Ithaca, NY 1993, 73–88, hier 77. 105 Vgl. A. Solomon, Far from the Tree. A Dozen Kinds of Love. London 2012. 106 Ebd., 45. 107 Ebd., 6. 108 Ebd., 41. 109 Ebd., 43. 110 Ebd., 42. 111 Ebd., 46. 112 H. Rohra, Aus dem Schatten treten. Frankfurt/Main 2011. 113 A. MacIntyre, After Virtue. Notre Dame, IN 1981, 187. 114 J. Wolf, A. de-Shalit, Disadvantage. Oxford 2007. 115 R. u. E. Skidelsky, Wie viel ist genug  ?, 208–225. 116 Kathrin Hartmann, Wir müssen leider draußen bleiben. Die neue Armut in der Konsumgesellschaft. München 2012. 117 A. Schröder, Wir sind bedient. 26 Frauen über harte Jobs und irre Kunden. München 2010. 118 Vgl. D. Ghai, Decent work  : Concepts, models, and Indicators. International Institute for Labour Studies Discussion Paper 139. Geneva 2002. 119 L. Feld, B. Frey, Tax Compliance as the Result of a Psychological Tax Contract  : The Role of Incentives and Responsive Regulation. Law & Policy 29,1 (2007) 102–120). Die Autoren argumentieren, dass Kontroll- und Sanktionsmechanismen teuer kommen und oftmals nicht den gewünschten Effekt im Sinne von »tax morale« und »tax compliance« erzielen und dass der Fiskus in Fragen der Tax Compliance wesentlich auf Vertrauen und Vertrauensbildung angewiesen ist  ; vgl. auch E. Kirchler, The Economic Psychology of Tax Behavour. Cambridge 2007. 120 A. Sen, Inequality, Unemployment and Contemporary Europe. International Labour Review 136,2 (1997) 155–171, hier 160ff. 121 Johannes Philoponus, In Phys 639–642. 122 Johannes Philoponus, De opificio mundi I, 12. 123 M. Wolff, Geschichte der Impetustheorie. Frankfurt/Main 1978, 133. 124 Vgl. M. Marmot et al. Health inequalities among British civil servants  ; the Whitehall II study. Lancet 337 (1991) 1387–1393  ; M. Marmot, Social determinants of health inequalities. Lancet 365 (2005) 1099–1104. Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

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125 Adam Smith, The Wealth of Nations. Ed. Edward Cannan. New York 2000, 93. 126 I. Brown, Der Junge im Mond. Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen. München 2012. Abkürzung »BJM«. 127 Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass William Vollman den Begriff der Armut (»lacking and desirous of what I have  ; unhappy in his or her own normality«) über den Begriff der Normalität (»The local context from which relative poverty, individual well being and other such abstractions ought to be considered«) annähert – W. Vollmann, Poor People. New York 2007, xxi. 128 Nach Luhmanns Analyse ist das übergeordnete Ziel von Behörden die effiziente Verarbeitung von Informationen, um im Sinne der Entlastung der Entscheidungsträger rasche Entscheidungen treffen zu können – je größer ein System ist, umso häufiger erweisen sich die einzelnen Aufgabengebiete von einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als spezialisiert und routiniert, was zu einer »Standardisierung von Einzelschicksalen« führt (N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Darmstadt 31978, 114). 129 Ian Brown macht eine interessante Beobachtung  : »Walker wäre wohl als ›Idiot‹ bezeichnet worden  : Er ist ein ›öffentlicher‹ Junge, der beinahe von einem ganzen Komitee aufgezogen wurde, aber zugleich auch versteckt und schwer zu erkennen ist, also ›privat‹« (BJM 302). Walker, auf sich bezogen, nicht entschieden und bewusst zum Gemeinwohl beitragend, wäre in der griechischen Terminologie als unpolitischer Mensch, als »Privatperson«, als »idiotes«, der seine Bürgerpflichten nicht wahrnehmen kann, eingeordnet worden  ; gleichzeitig stiftet seine Conditio eine neue Brücke zwischen dem privaten Bereich der Familie und dem öffentlichen Bereich der Institutionen. 130 Das genaue Hinschauen hatte Janusz Korczak als Ausdruck der Liebe zum Kind gedeutet – »ein guter Erzieher weiß, daß es sich lohnt, auch über winzige Episoden nachzudenken  ; es sind Probleme in ihnen verborgen« ( J. Korczak, Wie man ein Kind lieben soll. Hg. E. Heimpel, H. Roos. Göttingen 51974, 182  ; siehe auch ebd., 278, wo Korczak über die Beobachtungsgabe des Insektenforschers Fabre schreibt)  ; Olgas Blick auf Alltag und Details ist bemerkenswert- »sie machte die Wäsche, so wie Pilger religiöse Rituale durchführen, präzise und mindestens zwei Mal am Tag« (BJM 23). Olga, so könnte man sagen, beherrscht eine wichtige Sprache der Liebe. 131 »›Jetzt, wo wir wissen, was ihm fehlt, werden wir auch wissen, was wir für ihn tun können‹, sagte Johanna rührend … Sie glaubte an die Medizin« (BJM 45)  ; bald stellte sich bei Ian Ernüchterung ein  : »Ich entwickelte ein gewisses Maß an Skeptizismus gegenüber dem ärztlichen Beruf, das sich zu erkennen gab, nachdem mir der vierte Arzt in Folge Dinge erklärt hatte, die ich bereits wusste« (BJM 78). 132 »Wie kompliziert das Leben war, wie düster, und gleichzeitig auch, wie reich« (BJM 169). Ein bemerkenswerter Textteil findet sich in der Schilderung der ersten Zeit nach Walkers Geburt  : »Ich konnte schon die schweren, tragischen Jahre, die auf mich zukamen, im Voraus fühlen, so sicher wie schlechtes Wetter, es gab Nächte, in denen ich sie sogar begrüßte. Endlich ein Schicksal, das ich nicht selbst erwählen musste, ein Geschick, das ich nicht vermeiden konnte. In diesen Gedanken lag ein winziger Schimmer von Licht, die Erleichterung, mit der man sich dem Unausweichlichen unterwarf. Im Übrigen waren es die schlimmsten Nächte meines Lebens. Ich kann mir nicht erklären, warum ich das nicht anders hätte haben wollen« (BJM 38)  ; hier ist von der »Freiheit der Wahllosigkeit« die Rede, die uns im Zusammenhang mit dem Begriff der Liebe noch begegnen wird. 133 »Vor Walker hatte die Zukunft ausgesehen wie eine Folge von kleinen Herausforderungen, die man alle bewältigen konnte, was schließlich zu einem (möglicherweise schalen) Ruhm führte. Nachdem Walker geboren worden war, wirkte die Zukunft monolithisch, traurig, voller Ver-

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Anmerkungen

pflichtungen bis zu unserem Tod – was nur die düstere Frage aufwarf, was dann wohl aus ihm werden würde« (BJM 57f ). 134 An anderer Stelle verwendet Ian Brown, als er über seine gesunde Tochter Hayley spricht, das Bild eines »Mantels der Schuld«  : »Hayley sollte ihr eigenes Leben haben, zumindest dieses Geschenk wollten wir ihr machen. Ich weigerte mich, sie mit dem dicken, feuchten Mantel der Schuld zuzudecken, unter dem viele Familien mit behinderten Kindern agieren – ein Sumpf der Irrationalität, der das gesellschaftliche Denken über Behinderung seit Ewigkeiten beherrscht« (BJM 215). Auch dieses Bild ist viel sagend, deutet Isolation, ein Abdecken, Zudecken, Verdecken an. 135 In der Praxis nimmt uns Walker jegliche Privatsphäre, die wir einmal hatten – und wir sind eigenbrötlerische Menschen, introvertiert, Leser und Denker, die vor sich hin grübeln und brüten. Statt uns zusammenzubringen, treibt Walker uns auseinander, sodass wir weniger Privatheit haben und gleichzeitig noch viel mehr auf uns selber zurückgeworfen sind, voll verzweifelter Sehnsucht nach einem Rückzugsort, an dem es keine Unterbrechungen und keine bösen Überraschungen gibt« (BJM 118). 136 Walker, so könnte man sagen, erzwingt einen Blick auf das Ganze, der Tatsachen zur Kenntnis nimmt. Wittgenstein hat die Gefahr, sich in Teilfragen zu verlieren, folgendermaßen ausgedrückt  : »Die Menschen, die immerfort ›warum‹ fragen, sind wie die Touristen, die, im Baedeker lesend, vor einem Gebäude stehen und durch das Lesen der Entstehungsgeschichte etc. etc. daran gehindert werden, das Gebäude zu sehen« (L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8. Frankfurt/Main 1975, 506). 137 »›Ich würde mein Kind nicht anders haben wollen‹, sagte Johanna eines Nachts, als wir im Bett lagen und miteinander redeten … Aber ich würde es. Ich würde Walker eintauschen, wenn ich auf einen Knopf drücken könnte, für das allernormalste Kind, das bloß Dreien in der Schule kriegt. Ich würde ihn sofort eintauschen. Ich würde ihn nicht um meinetwillen, um unseretwillen eintauschen. Aber ich würde ihn um seiner selbst willen eintauschen. Ich glaube, Walker hat ein sehr, sehr hartes Leben« (BJM 97). 138 »Hayley, eine zarte und geschickte Ballettänzerin, dreht sich mit Walker zur Musik von der HifiAnlage, und Walker ist außer sich vor Freude. Minuten aus seinem Leben. Für ein normales Kind alltägliche Ereignisse. Aber ich kenne ihren wahren Wert« (BJM 82f ). 139 »Ich weiß nicht, worin Walkers Wert für die Welt besteht. Ich bin nicht sicher, ob ich zustimmen würde, dass sein dauerhafter Wert darin besteht, Menschen berührt zu haben. Dass sein ganzes Leben so ein Scheiß Gandhi-Zeug sein muss, dass sich die Leute dann mit sich selber besser fühlen. Ich glaube, dass sein Leben nicht dadurch einen Wert haben sollte, dass er andere Leute dazu bringt, zufriedener mit ihrem eigenen Leben zu sein. Ich finde, sein Leben sollte seinen eigenen Wert in sich selbst haben« (BJM 212). 140 Als junger Mann, so erinnerte sich Ian, hatte er sich ein behindertes Kind als »Last« vorgestellt, »ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen« (BJM 39). Ähnlich wie in Solomons Beschreibungen macht Ian Brown eine Transformation durch. 141 Eine Mutter eines behinderten Mädchens erzählt Ian, dass sie durch ihre Tochter Geduld und Empathie gelernt habe (BJM 165). Eine andere Mutter schildert  : »Er hat uns so viel gegeben … Er hat uns beigebracht, das Leben so zu nehmen, wie es ist, sich mit dem auseinanderzusetzen, was gerade anliegt« (BJM 182). 142 Jean Vanier ist von der Bedeutung, von der »Mission« jedes einzelnen Menschen überzeugt  : »There is a meaning to every life, even if we cannot see it. I believe that each person, in her unique beauty and worth, lives out a sacred story« ( J. Vanier, Our Journey Home  : Rediscovering a Common Humanity Beyond Our Differences. Maryknoll/NY 1997, 147). Er sieht jeden Menschen Vierter Teil  : Die normative Frage  : Ist Armut ein Übel  ?

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als Wesen mit einem Mysterium. Die tiefste Identität, die wir erreichen können, ist ein Sinn für unseren eigenen Wert  ; dieser Sinn ergibt sich aus einem tiefen Wissen um die eigene Verwundbarkeit ( J. Vanier, Drawn into the Mystery of Jesus through the Gospel of John. New York 2004, 157f ). Die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit führt zur Anerkennung jener gemeinsamen menschlichen Grundlage, die Zusammenleben, das nicht auf Konkurrenz beruht, möglich macht. Der Lackmustest, die »tiefe Praxis«, ist der Umgang mit den verletzlichsten Mitgliedern der Gesellschaft  : »People with disabilities who have been rejected or abandoned rise up with new energy and creativity when they feel loved and respected …The presence of someone who loves them reveals to them their value and importance« (ebd., 128). 143 Er malte sich eine an einem wunderschönen Ort aus  : »In meiner Vorstellung gehört dieses Dorf den Behinderten und wird von ihnen bewohnt, nach ihren Vorgaben, in ihrem Tempo, nach ihren Maßstäben für Erfolg – nicht Geld oder Resultate, sondern Freundschaft, Zusammengehörigkeit und Kameradschaft. In meiner Vorstellung ist es der Rest von uns, sind es die Normalen, die in ihre Gesellschaft ›integriert‹ werden, die sich ihrem Tempo und ihrem Ort anpassen müssen. Ich kann wieder weg, kann wieder zurückkehren in mein fordernderes, anstrengenderes und auch interessanteres Leben, aber ich kann dann auch wieder mit Walker leben, so wie Walker lebt – langsam und ohne allzu viele Pläne, außer schlicht und einfach er selbst zu sein« (BJM 310)  ; viele Menschen wollen Walkers Gemeinschaft, so Ians Vision, besuchen, eine Weile dort leben. »Komponisten, Schriftsteller, Künstler, Studenten, MBA-Typen, die ihre Doktorarbeit über Unternehmensführung schreiben, Forscher, Vorstandsmitglieder, die sich eine Auszeit nehmen …« (BHJM 310). Die einzige Verpflichtung der Besucher/innen besteht darin, sich in die Welt der Behinderten zu integrieren. Realistisch und doch mit dieser Utopie verbunden sind Walkers Ziele  : »Meine eigenen Ziele sind bescheiden  : von Zeit zu Zeit Walkers Welt betreten, ein paar geistig behinderte Menschen kennen zu lernen (statt ihnen einfach nur zu erlauben, in meiner Umgebung zu leben), mich meiner Angst vor den zerbrochenen Menschen zu stellen, die Das Andere sind – sie nicht endgültig ›heilen‹ oder zu retten, sondern einfach mit ihnen zusammen zu sein, bis ich nicht mehr weglaufen will« (BJM 327). 144 Ian Brown erzählt davon, dass er geträumt hatte, dass Walker eine Freundin gefunden hatte  : Das freute mich  : Ich wusste, dass er endlich jemanden gefunden hatte, den er lieben konnte und der ihn liebte, nicht bloß in der allgemeinen Art, in der alle Walker lieben, aber auf eine Weise, die nur er verstand – seine eigene, private Liebe, endlich, ein Geben und Nehmen« (BJM 283). Hier wird die je persönliche Liebe von einer allgemein menschlichen Liebe unterschieden. 145 Sie ist in gewisser Weise auch ein Ablöschen des Möglichkeitssinns  : »Es hat keinen Sinn, sich zu beklagen. Wie die Mutter eines anderen CFC-Kindes einmal zu mir sagte  : ›Man tut, was man zu tun hat.‹« (BJM 11). Eine Mutter von zwei behinderten Mädchen, die Ian Brown kennengelernt hatte, wurde gefragt, »Wie schaffen Sie das  ?«, was die Antwort erbrachte  : »Manchmal denke ich, ich habe halt keine andere Wahl« (BJM 168) – diese »wahlfreie Liebe« ist ein Aspekt, der zeigt, dass Identität hier Form bekommen hat, dass Integrität über Bindungen an klarer Position gewonnen hat. Die Idee einer Maximierung von Handlungsoptionen ist mit diesem Verständnis von bindungsbedingter Einschränkung der Wahlmöglichkeiten nicht vereinbar. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen 1 Aristoteles zeigt diese Bewegung am Beispiel des Verfertigens eines Bronzestandbildes – Aristoteles, Physik III 1, 210a29ff. 2 Aristoteles, Physik VIII 1, 242a57ff.

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Anmerkungen

  3 Christop Menke versteht unter einem »Vermögen« Folgenes  : »Vermögen zu haben heißt, ein Subjekt zu sein  ; ein Subjekt zu sein heißt, etwas zu können. Das Können des Subjekts besteht darin, etwas gelingen zu lassen, etwas auszuführen. Vermögen zu haben oder ein Subjekt zu sein bedeutet, durch Üben und Lernen imstande zu sein, eine Handlung gelingen lassen zu können. Eine Handlung gelingen lassen zu können wiederum heißt, in einer neuen, je besonderen Situation eine allgemeine Form wiederholen zu können. Jedes Vermögen ist das Vermögen der Wiederholung eines Allgemeinen« (C. Menke, Die Kraft der Kunst, 13). Eine Fähigkeit als ein Vermögen hat also mit Wiederholbarkeit, damit auch mit »Form« bzw. »Regel« zu tun.   4 R.N. Lekoko, M.v.d. Merve, Beyond the Rhetoric of Empowerment  : Speak the Language, Live the Experience of the Rural Poor. Review of Education 52 (2006) 323–332.   5 E. Carr, Rethinking Poverty Alleviation  : a ›poverties‹ approach. Development in Practice 18,6 (2008) 726–734.   6 Sh. Panjibi, Reconstruct, Not Build Anew  : Alternate Visions of an Arid Landscape. In  : E. Kapferer et al, The Logic of Change. Cambridge 2012, 78–94.   7 F. Cuny, Disasters and Development. New York 1983.   8 G. Mortensen (mit D.O. Relin), Three Cups of Tea. London 2007. Abkürzung »MTC«.   9 Man denke allein an das Beispiel der schottischen Schülerin Martha Payne, die durch die Veröffentlichung der Fotos ihrer Schulausspeisung nicht nur Aufsehen erregte, sondern auch einen Wandel einleitete M. u. D. Payne, Never Seconds. Glasgow 2012. 10 »One interesting finding was the bad habits of their male household heads such as gambling, additiction to alcohol or drugs and laziness. This was reported as a cause of extreme poverty in as many as 13 per cent of the cases« (S.R. Halder, P. Mosley, Working with the Ultra-Poor. Journal of International Development 16 (2004) 387–406, 392). Der Kontext ist Bangladesh. 11 Vgl. C. Harber, Education, Democracy and Poverty in Reduction in Africa. Comparative Education 38,3 (2002) 267–276. 12 Sunzi, Die Kunst des Krieges. München 2001. Ich verwende im Folgenden die Abkürzung »SKK« für diese Ausgabe des Werkes. 13 Sunzi mahnt bei einem Befehlshaber entsprechend die innere Festigkeit ein. Die Erfahrung konsequenter Regeln ist auch eine »good practice« der Armutsbekämpfung, wie sie etwa Georg Sporschill praktiziert oder auch das Ehepaar Schneider, die in Manila ein sechs Monate dauerndes Camp für Jugendliche als »Lebensschule« mit klaren Regeln organisierten, einem klar strukturierten Tagesablauf mit klaren Regeln  : »Niemand darf sich alleine vom Haus entfernen. Immer ist ein Mitarbeiter oder ein anderer Teilnehmer dabei. So unterstützen sich die Jungs gegenseitig, um nicht wieder zu kippen, denn Drogen, Alkohol und Mädchen sind im Slum leicht zu haben. Unterstützung und Transparenz sind wichtig« (Schneider, Himmel und Straßenstaub, 219) – »ohne knallhartes Durchsetzen der Regeln hätten wir Leiter keine Chance gehabt« (ebd., 215). Sunzi mahnt zur maßvollen Konsequenz  : »Die Kunst, Befehle zu geben, besteht darin, bei kleinen Verstößen nicht zu hart zu strafen und bei kleinen Zweifeln nicht zu schwanken« (SKK 96). 14 Zum Folgenden die klassisch gewordene Studie von Niall Ferguson – N. Ferguson, The House of Rothschild. Money’s Prophets 1798–1848. London 1999. 15 Ferguson, a.a.O., 45. 16 Ebd., 54. 17 Ebd,. 58. 18 F. Morton, The Rothschilds. New York 1961, 45–48. 19 Vgl. F. Backhaus, Mayer Amschel Rothschild. Ein biografisches Porträt. Freiburg/Br 2012, 80–96  ; A. Elon, Founder  : A Portrait of the first Rothschild and his Time. London 1996, Kap. 3  ; D. Wilson, Rothschild. The Wealth and Power of a Dynasty. New York 1988, 38–44. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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20 Ferguson, a.a.O., 68. 21 Ebd., 74. 22 Ebd., 5. 23 Ebd., 8. 24 Ebd., 5. 25 L. Murphy, Th. Nagel, The Myth of Ownership. New York 2002. 26 Ebd., 8. 27 Ebd., 176  ; vgl. L. Murphy, Taxes, Property, Justice. NYU Journal of Law & Liberty 1,3 (2005) 983–986 – für eine differenzierte Diskussion der Argumente in Bezug auf die »pre-tax world« siehe F. Maultzsch, Morals and Markets  : The Significance of Pre-Tax Ownership. The Modern Law Review 67,3 (2004) 508–523  ; L. Zelenak, The Myth of Pretax Income. Michigan Law Review 101,6 (2003) 2261–2274. 28 A. Sugar, What You See Is What You Get. London 2011 (2010). Im Folgenden verwende ich die Abkürzung »SWS«, gefolgt von der Seitenzahl. 29 Das Fotogeschäft verlangt gewisse Fähigkeiten, die ohne entsprechende Schulung nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden können  : Alan Sugar erklärte sich auch bereit, im Rahmen einer Bar Mitzvah’d Feier zu fotografieren und erkannte erst im Nachhinein, dass er hier in seinem Geschäftseifer (um nicht das Wort »Geldgier« zu verwenden) ein Risiko übernommen hatte  : »These people are expecting memorable photographs, pictures they’ll frame and treasure for the rest of their lives … Thankfully, it came off quite well« (SWS 35). 30 »Sam was desperate for money and the business was really suffering. I offered him a ridiculous price for the record-players because not only did they need repairing, but also the exterior cabinets needed cleaning up and the whole lot needed repacking. To my surprise, he accepted my offer« (SWS 95). 31 »I pulled a bit of a stunt which, from a moral point of view, is not something one should be proud of, but business is business and it didn’t harm Comet in the end. I got Chenchen, Johnnie and a few others to send orders with cheques to Comet for Amstrad 8000 amplifiers. Consider, Comet had none of these in stock. When they received orders so quickly after the first advert, I banked on it sparking off a large order from them« (SWS 120). Eine Assistentin des Einkaufschefs bestellte sechs Verstärker – Alan Sugar nahm ein Risiko auf sich und legte 100 Stück als Mindestmenge fest. »Half an hour later, she did get back to me. ›Right‹, she said, ›we’ll take a hundred pieces.‹ This was another milestone in the Amstrad story – once we had got into Comet, things really started to happen« (SWS 121). Ein Meilenstein  : »So, there I was, twenty-four years old, running my own factory, employing about thirty people. I’d built a company selling a product bearing the brand name Amstrad« (SWS 127). 32 M. Sandel, What Money Can’t Buy. London 2012. 33 Tendenzen zu einer Kommodifizierung des Körpers und auch der medizinischen Forschung wurden beispielsweise von Donna Dickenson Lesley Sharp, Khiara Bridges und Jennifer Fishman analysiert – vgl. L. Sharp. The Commodification of the Body and Its Parts. Annual Review of Anthropology 29 (2000) 287–328  ; K. Bridges, On the Commodification of the Black Female Body  : The Critical Implications of the Alienability of Fetal Tissue. Columbia Law Review 102,1 (2002) 123–167  ; J. Fishman, Manufacturing Desire  : The Commodification od Female Sexual Dysfunction. Social Studies of Science 34,2 (2004) 187–218. 34 Man denke an den Begriff »non-disease«, der auf aktuelle Tendenzen in der Gesundheitsindustrie hinweist und medizinisch unproblematische Phänomene (Haarausfall bei Männern, herabhängende Tränensäcke) bezeichnet, die aus sozialen und kulturellen Gründen als »Krankheit« dargestellt werden und die einem wachsenden Behandlungsdruck ausgesetzt sind – R. Smith, In search of »non-disease«. British Medical Journal 324 (2002) 883–885.

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Anmerkungen

35 Sandel, What Money Can’t Buy, 7. 36 Ebd., 9. 37 Ebd., 120f. 38 De. Satz, Why some Things Should not be for Sale. The Moral Limits of Markets. Oxford 2010. 39 I. Matai, Zu verkaufen  : Mariana, 15 Jahre. Köln 2011, 97. 40 St. Lansley, The Cost of Inequality. Why economic equality is essential for recovery. London 2012, v.a. 13ff und 55ff. 41 J. Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht. München 2012, v.a. Kapitel 2 und 3. 42 F. Martin, Money. The Unauthorised Biography. London 2013, 29. 43 Vgl. M. Hartmann, Die Praxis des Vertrauens. Berlin 2011, 56. 44 A. James, Assholes. London 2012, 5. 45 Ebd. 46 Ebd., 13. 47 Niklas Luhmann hatte seinerzeit mit gutem Grund das Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und Universalsymbol positioniert, das Umtausch und Verrechnung von Gütern aller Art ermögliche (N. Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in  : ders., Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, 31–75). Geld ermögliche Übersetzbarkeit von einer Sprache in eine andere, von einem Kontext in einen anderen. In diesem Zusammenhang haben sich zwei Grundfragen herauskristallisiert – eine Kostenfrage(»Wie viel kostet das  ?«) und eine Zahlfrage (»Wer bezahlt das  ?«). Die Kostenfrage und die Zahlfrage wurden als Schlüssel für die Gestaltung von Kontingenz etabliert, kommen aber im Falle der Zerbrechlichkeitsfrage oder auch im Falle der Umweltzerstörung an klare Grenzen. Der Aspekt der ökologischen Ressourcen ist übrigens ein Faktor, der deutlich macht, warum Privilegien abgebaut werden müssen  : Die Ressourcen sind begrenzt, auch Armutsbekämpfungsmaßnahmen können nicht naiv davon ausgehen, dass ökologische Ressourcen grenzenlos zur Verfügung stehen – vgl. W. Rees, An Ecological Economics Perspective on Sustainability and Prospects for Ending Poverty. In  : Population and Environment 24,1 (2002) 15–46  ; siehe auch R. Hahn, The Ethical Rationale of Business for the Poor – Integrating the Concepts Bottom of the Pyramid, Sustainable Development, and Corporate Citizenship. Journal of Business Ethics 84 (2009) 313–324. 48 Vgl. Am Beispiel Kenias  : Pascaline Dupas, Do Teenagers respond to HIV Risk Information  ? Evidence from a Field Experiment in Kenya. NBER Working Paper 14707- Mai 2009. 49 N. Chauhury, J.S. Hammer, Ghost Doctors  : Absentism in Bangladeshi Health Facilities. World Bank Policy Research Working Paper 3065, May 2003. 50 E  : Duflo, Kampf gegen Armut, 67. 51 Vgl. M. Nichter, Vaccinations in the Third World  : A Consideration of Community Demand. Social Science and Medicine 41,5 (1995) 617–632. 52 Vgl. A. Banerjee, E. Duflo, R. Glennerster, Putting a Band-Aid on a Corpse  : Incentives for Nurses in the Indian Public Health Care System. Journal of the European Economic Association 6,2–3 (2008) 487–500. 53 E. Duflo, Kampf gegen Armut, 71  ; vgl. M. Björkman, J. Svensson, Power to the People  : Evidence from a Randomized Field Experiment on Community-Based Monitoring in Uganda. Quarterly Journal of Economics 124,2 (2009) 735–769. 54 Vgl. N. Chaudhury et al., Missing in Action  : Teacher and Health Worker Absence in Developing Countries. Journal of Economic Perspectives 20,1 (2006) 91–116. 55 Vgl. B. Jacob, St. Levitt, Rotten Apples  : An Investigation of the Prevalence and Predictors of Teacher Cheating. Quarterly Journal of Economics 118,3 (2003) 843–877. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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56 Duflo, Kampf gegen Armut, 27. 57 Vgl. Duflo, Kampf gegen Armut, 39ff. 58 Vgl. E. Duflo, Kampf gegen Armut, 99. 59 Vgl. A. Banerjee, E. Duflo, Mandated Empowerment  : Handing Anti-Poverty Policy Back to the Poor  ? In  : Reducing the Impact of Poverty on Health and Human Development 2008, Annals of New York Academic Sciences Bd 1136, pp 333–341. 60 A. Sen, The Idea of Justice. London 2009. 61 In manchen Fällen haben »community economic development« Programme, die angetreten waren, um den Zugang von armen communities zu Märkten zu vergrößern, auf koordinierte Makropolitik verzichtet und dadurch »localism« vor strukturelle Reformen gesetzt – vgl. S.L. Cummings, Community Development as Progressive Politics  : Toward a Grassroots Movement for Economic Justice. Stanford Law Review 54,3 (2001) 399–493. Stacey Edgar hat in ihren Bemühungen versucht, den lokalen Kontext mit dem globalen Markt zu verbinden. 62 Vgl. S. Shetty, Microcredit, Poverty and Empowerment  : Exploring the Connections. PGDT 9 (2010) 356–391  ; vgl. auch mit ähnlichen Resultaten  : N. Kabeer, Is Microfinance a ›Magic Bullet‹ for Women’s Empowerment  ? Economic and Political Weekly October 29. 2005, pp 4709–4718. Die Ambivalenz ergibt sich auch daraus, dass Mikrokredite aufgrund von unvorsehbaren Ereignissen nicht immer für das eingesetzt werden können, wofür sie gedacht waren  ; das ergibt sich aus der Verwundbarkeitssituation von armen Bauern  ; vgl. K. Segers et al., The Role of Farmers and Informal Institutiona in Microcredit Programs in Tigray, Northern Ethiopia. PGDT 9 (2010) 520–544. 63 S, Alldén, Microfinance and Post-conflict Development in Cambodia and Timor-Leste. Sojourn  : Journal of Social Issues in Southeast Asia 24,2 (2009) 269–284. 64 R. Thomas, J.W. Sinha, A Critical Look at Microfinance and NGOs in Regard to Poverty Reduction for Women. Social Development Issues 31,2 (2009) 30–42. 65 Duflo, Kampf gegen Armut, 93. 66 Vgl. C. Krebs, Wolfgang Pucher. Rebell der Nächstenliebe. Wien 22012  ; C. Krebs, Ute Bock. Die Geschichte einer Flüchtlingshelferin. Wien 2010. 67 »Wenn ich nicht in jedem Amt, jeder Behörde, jeder Organisation Leute kennen würde und diese nicht willig wären, immer wieder Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun dürfen, würde gar nichts funktionieren … Wenn es nicht möglich wäre, dass etwa Menschen immer wieder heimlich in ein freies Spitalsbett schlüpfen, wäre die Situation noch viel schlimmer« (Krebs, Ute Bock, 137). 68 Krebs, Ute Bock, 30  : Ute Bock erzählt vom 50-jährigen Maturatreffen, bei dem sie ob der Borniertheit der Anwesenden, die über Flüchtlinge herziehen, zornig wurde. »Kopfschütteln habe ich geerntet und mir die Frage gefallen lassen müssen, warum sich ein Flüchtling wundert, dass er nicht medizinisch versorgt wird, wenn er doch nicht versichert ist  ? Warum er sich denn nicht vorher darum gekümmert hat  ? Und warum er überhaupt glaubt, unser Gesundheitssystem gratis nutzen zu können  ? Ich war fassungslos ob dieser Bösartigkeiten und erzählte ihnen von einer georgischen Mutter, deren 30-jähriger Sohn vergangene Woche abgeschoben wurde und die sich letztens bei mir ausgeheult hat. Der Sohn hat eine schwere schizophrene Störung und ist nicht in der Lage, allein klar zu kommen«. Wolfgang Pucher  : »Die Vorurteile gegen die Obdachlosen waren haarsträubend« (Krebs, Wolfgang Pucher, 157). 69 Krebs, Wolfgang Pucher, 27. Auch Ute Bock arbeitet aus tiefer Bindung, ursprünglich in die Arbeit mit Flüchtlingen gebracht, weil sich niemand kümmern wollte  : »Irgendwann kamen die ersten Ausländer, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie kamen nirgendwo sonst unter, weil etwa der damalige erzieherische Leiter des Lehrlingsheims Augarten der Ansicht war, dass Menschen, deren Sprache man nicht spricht, pädagogisch nicht zu beeinflussen wären. Mit dieser Begründung nahmen auch die anderen Heime keine Jugendlichen aus anderen Ländern auf« (Krebs, Ute Bock, 43).

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Anmerkungen

  70 N. Cruz mit J. Buckingham, Run Baby Run. Plainfield, NJ 1969.   71 V. Rios, Street Life. Five Rivers Press, CA 2011, 31. Abkürzung »RSL«.   72 »I left that night with the power of the gang in my hands. I felt important … I began to wonder, ›Why is it that it takes a gang to make kids like me feel important  ?« (RSL 45).   73 Jugendliche in der Schule, die ihm nicht wohlgesonnen waren, nannten ihn »coward« oder »sissy«, Bezeichnungen, die ihn tief verletzten (RSL 78). Er sah sich in seiner Ehre angegriffen und musste alle Selbstbeherrschung kultivieren, um auf dem neuen Lebenskurs zu bleiben.   74 Vgl. C. Sedmak, Theologie in nachtheologischer Zeit. Mainz 2003, 173–175.   75 R. Lucas, Lectures on Economic Growth. Cambridge, Ma 2002.   76 M. Ege, The Boy who Learned to Read. Cirencester, UK 2012, 33.   77 Ebd.   78 W. Long, The Upside of Fear. Austin ,TX 2009, 103. Abkürung »LUF«.   79 Vgl. R. Nozick, An Examined Life. New York 1989, Kap. 2.   80 Vgl. M. Nussbaum, Not for Profit. Princeton 2010.   81 »Knowing that I was responsible gave me unlimited hope fort he future« (LUF 111).   82 J. Walls, Combating Poverty  : The Third World Within the First World. Review of Education 52 (2006) 247–259.   83 K.R. Alam, Ganokendra  : An Innovative Model for Poverty Alleviation in Bangladesh. Review of Education 52 (2006) 343–359.   84 M.K. Walingo, The Role of Education in Agricultural Projects for Food Security and Poverty Reduction in Kenya. Review of Education 52 (2006) 287–304.   85 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 292.   86 P. Bieri, Wie wollen wir leben  ? Salzburg 2011.   87 Ebd., 46ff. bzw. 62ff.   88 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 240.   89 Ebd., 568.   90 Ebd.   91 S. Weil, Réflexions sur le bon usage des études scolaires en vue de l’amour de Dieu. In  : S. Weil, Attente de Dieu. Paris 1966, 67–75.   92 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 444.   93 Das Leben des Shin Dong-hyuk wurde von Blaine Harden beschrieben  ; B. Harden, Flucht aus Lager 14. Die Geschichte des Shin Dong-hyuk. München 2012.   94 Ebd., 47.   95 Ebd., 130.   96 Vgl. C. Sedmak, Fähigkeiten und Fundamentalfähigkeiten. In  : B. Babic et al. (Hgg.), Der Capability-Approach in sozialwissenschaftlichen Kontexten. Wiesbaden 2011, 29–52   97 M. Walker, Widening participation  ; widening capability. London Review of Education 6,3 (2008) 267–279.   98 M. Nussbaum, Cultivating Humanity. Cambridge, Mass 2003.   99 H. Arendt, Vita activa, 222ff. 100 P. Morgan, The Concept of Capacity. Maastricht  : European Center for Development Policy Management 2006, 8–16. 101 Vgl. P. Ricœur, The course of recognition. Cambridge, Mass  : Harvard UP 2005  ; ders., Capabilities and rights. In  : S. Deneulin et al. (eds.), Transforming unjust structures. The capability approach. Doordrecht  : Springer 2006. 102 Ricœur, The course of recognition, 94  ; ders., Capabilities and rights, 18. 103 Vgl. R. Brandom, Making It Explicit. Cambridge, Mass 1994. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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104 Ricœur, The course of recognition, 98. 105 Ricœur, The course of recognition, 99. 106 Vgl. M. Honerød Hoveid, H. Hoveid, Educational Practice and Development of Human Capabilities. Studies in the Philosophy of Education 28 (2009) 461–472. 107 Vgl. N. Nordenfelt, On the Nature of Health. Dordrecht 1995 – Nordenfelts Bestimmung des Gesundheitsbegriffs lautet  : »A is healthy if, and only if, A has the second-order ability, given standard circumstances, to realize all his vital goals [i.e. the set of goals which are necessary and together sufficient for his minimal happiness]« (p. 148). 108 J.J. Rousseau, Emil. Paderborn 41978, 226f. 109 M. Nussbaum, Upheavals of Thought. Cambridge 2001, 316f. 110 Rousseau, Emil, 225. 111 H. Weinrich, Ehrensache Höflichkeit. Augsburg 1995, 19. 112 H. Weinrich, Lügt man im Deutschen, wenn man höflich ist  ? Mannheim 1986, 29. 113 Für die Bedeutung von »concordia« kann Thomas von Aquin wertvolle Lektionen vermitteln  : Eintracht rührt von der »caritas« her, die viele Herzen zusammenführen kann um eine Mitte, die das Göttliche ist oder auch das Wohl des Nächsten (STh II-II, 29, 1, 3). Es geht also um einen gemeinsamen Boden, um die Bindung an ein gemeinsames Gut. Zwietracht verrät eine bestimmte Uneinigkeit von Willen, in dem Sinne, dass der Wille eines Menschen an einer Sache festhält, während der Wille eines anderen Menschen an einer anderen Sache hängt (II-II, 37, 2, resp). Wenn ein Mensch an seinem Willen in ungeordneter Weise festhält, weil er das Eigene dem Fremden vorzieht, so spielen hier Stolz und Eitelkeit eine Rolle. Thomas von Aquin ist in Bezug auf den Erhalt der Einheit kein sentimentaler Leugner von der Möglichkeit oder auch Notwendigkeit von Konflikten  : Uneinigkeit ist nicht an sich verwerflich. Sie kann auch unter heiligen Männern gefunden werden (II-II, 37, 1, ad 3), wenn man etwa den Dissens zwischen Paulus und Barnabas (Apg 15, 39) bedenkt. 114 Mit Liebe zum Detail hat Henning Mankell in seinem Roman Der Chronist der Winde über mosambikanische Straßenkinder Strategien des Überlebens beschrieben  : »Das Leben der Straßenkinder war hart. Waren sie erst auf der Straße gelandet, gab es meist kein Zurück. Sie lebten im Schmutz, schliefen in ihren Pappkartons und den verrosteten Autos, holten sich zu essen, wo sie etwas fanden, tranken Wasser aus den geborstenen Fontänen … Wenn es regnete, kickten sie oft Schlamm auf die Autos, die vor den Banken parkten, und übernahmen anschließend unschuldsvoll das Waschen, wenn die Besitzer herauskamen, um ihren Nachmittagskaffee im Scala oder Continental zu trinken. Sie klauten, wo sich eine Möglichkeit bot, sie schleppten Mehlsäcke für Dona Esmeralda und bekamen dafür altbackenes Brot, und sie wußten, leichter würde das Leben nie werden.« (H. Mankell, Der Chronist der Winde. München 32002, 38f ). Nelio, die Hauptfigur des Romans, wird aufgrund der Wirrnisse des Bürgerkriegs zu einem Straßenkind, zieht in die Stadt und »folgte dem Strom von Menschen, überfüllten Lastwagen, rostigen Bussen, Karren und Autos ins Innere der Stadt … So lernte er die Stadt kennen. Er fischte Essensreste aus Mülltonnen, lernte zu überleben, indem er es den anderen Kindern nachtat, die genau wie er auf der Straße lebten« (ebd., 100). »Nelio verbrachte viel Zeit damit, Gleichaltrige zu beobachten, die auf der Straße lebten. Aus der Entfernung verfolgte er ihre Bemühungen, Autos zu waschen, zu betteln, zu verkaufen und zu stehlen, wo sich die Gelegenheit bot. Er lernte, wie die älteren Jungen über die jüngeren bestimmten« (ebd., 116). Ein Gauner versucht ihn, für seine eigenen Strategien des Überlebens einzusetzen  : »Betteln, fuhr Senhor Castigo fort. Durch seinen Schmutz und sein Elend und seinen Hunger Mitleid erregen. Seinen Mitmenschen zur Freigebigkeit verhelfen. Jetzt gehst du hinaus auf die Straße. Wenn weiße Menschen vorbeikommen, streckst du die Hand aus, weinst und bittest um Geld. Für Essen, für deine Geschwister, für die du Verantwor-

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Anmerkungen

tung trägst. Dein Vater ist tot, deine Mutter ist tot, du bist ganz allein auf der Welt. Kapierst du  ?« – »Ich kann nicht ohne Grund weinen, sagte Nelio. Senhor Castigo zog die Zwiebel aus der Tasche, riß sie mit den Zähnen auf und packte Nelio hart im Nacken. Er rieb ihm die Augen mit der Zwiebel, bis sie brannten und schmerzten und sein Blick in Tränen schwamm. Dann stieß er Nelio hinaus auf die Straße.« (ebd., 104f ). Diese Stelle ist auch ein Hinweis auf den moralischen Fehlschluss, der darin besteht, aus den Lebensumständen von Menschen bestimmte moralische Qualitäten abzuleiten (entweder in Form der Überhöhung  : arme Menschen sind moralisch höher stehend als nicht-arme Menschen oder in Form einer Brechtschen Herabsetzung  : der arme Mensch kann sich den Luxus moralischen Lebens nicht leisten). 115 Dankbarkeit gibt Kraft, wie die gegenwärtige Dankbarkeitsforschung bestätigt  ; vgl. die Arbeiten von Robert Emmons und Michael McCullough  : R.A. Emmons, Greatest of the virtues  ? Gratitude and the grateful personality. In D. Narvaez and D. Lapsley (eds.), Personality, identity, and character  : Explorations in moral psychology. New York 2009, 256–270  ; R.A. Emmons, Gratitude. In S.J. Lopez & A. Beauchamp (eds.), Encyclopedia of Positive Psychology. New York 2009, 442–447  ; R.A. Emmons & M.E. McCullough, Counting blessings versus burdens  : Experimental studies of gratitude and subjective well-being in daily life. Journal of Personality and Social Psychology 84 (2003) 377–389  ; E. Polak, & M.E. McCullough, Is gratitude an alternative to materialism  ? Journal of Happiness Studies 7 (2006) 343–360  ; M.E  : McCullough, R.A. Emmons, J. Tsang, The grateful disposition  : A conceptual and empirical topography. Journal of Personality and Social Psychology 82 (2002) 112–127. 116 St. Edgar, Global Girlfriends. New York 2011. Abkürzung »EGG«. 117 Eine vietnamesische Kooperative beispielsweise lernte sie über eine ihr bekannte Ordensschwester kennen  : »I was introduced to the cooperative by a Catholic nun in Denver who was from Vietnam originally and travelled to her home country to work with women artisans and provide pastoral care to a group of handicapped women« (EEG 54). 118 »This is what I love about women. There is an unspoken sisterhood that’s unstoppable« (EEG 46)  ; »Women were not only willing, but hungry to get involved« (EEG 48). 119 »Business may be about competing and gaining market share, but fair trade is about making people’s lives better« (EEG 129). 120 »They had learned to be tremendous problem solvers just to survive. What they wanted from me was to tell others about them. To show others what they could do and to help open the door to new connections that would bring them more work. They wanted nothing but a hand up« (EEG 91). 121 T. Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse. München 2011, 269ff und 402ff. 122 Thomas Mahler hat in einem Glossar, das er der Schilderung seiner Arbeitslosigkeit angefügt hat, den Begriff »zweiter Arbeitsmarkt« in einer Weise beschrieben, die Stacey Edgars Ansinnen trefflich charakterisiert  : »Untergeordneter Arbeitsmarkt, der sich durch die Abwesenheit von Marktbedingungen definiert. Die Anerkennung auf diesem Arbeitsmarkt lässt sich vergleichen mit dem Gefühl eines Zehnjährigen, der den ganzen Tag vor selbstgebastelten, auf einer Decke drapierten Papierelefanten gesessen und immer wieder Papiiierelefanten, schöne bunte Papiiierelefanten gerufen und keinen einzigen Papierelefanten verkauft hat, dann aber zwanzig Euro von seiner Mutter geschenkt bekommt« (Th. Mahler, In der Schlange. München 2011, 253). Eben das will Stacey Edgar vermeiden  ; auch Jacqueline Novogratz hat diese Erfahrung in einem afrikanischen Kontext gemacht. Sie lernt eine Bäckerei in Ruanda kennen, die regelmäßig Verluste macht, welche von zwei »Charities« abgedeckt werden  : »Six hundred and fifty dollars a month in charity to keep 20 women earning 50 cents a day. You could triple their incomes if you just gave them the money. It was a perfect illustration of why traditional charity too often fails  : In this Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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case, well-intentioned people gave poor women something ›nice‹ to do, such as making cookies or crafts, and subsidized the project until there was no more money left, then moved on to a new idea. This is a no-fail way to keep already poor people mired in poverty« ( J. Novogratz, The Blue Sweater. New York 2009, 76). Dieses Kooperationsmodell beruht auf goodwill und ist entsprechend fragil. 123 »One of the most treacherous pitfalls in running a fair-trade business is the temptation to put your heart before your pocketbook« (EEG 58) – Stacey Edgar musste sich Selbstdisziplin aneignen und bittere Lektionen über »overpromising« lernen (EEG 61). 124 »I had to choose products wisely in order to stay in business and be able to help women at all. While my heart wanted to support every woman artisan who contacted me, my head knew that the products Global Girlfriend carried needed to appeal to U.S. consumers, or we would not stay in business … Most of all, they had to appeal to women who might not care about the cause. I wanted products that could be sold on their own merit« (EGG 4). 125 Auch diese Erfahrung deckt sich mit einer Beobachtung, die Jacqueline Novogratz in Afrika gemacht hatte  : »Good-hearted people would build schools without thinking about the costs of hiring and supporting a teacher – not for months but for years – and the school would stand empty. Women would be encouraged to make crafts though there was no market for them, and so we’d visit homes piled to the ceilings with unsold sisal baskets« (Novogratz, The Blue Sweater, 98). 126 Stacey Edgar fasst ihre Erfahrung als Sozialarbeiterin zusammen  : »I learned to tackle the small stuff first. I worked with the kids to find simple, doable solutions to the problems they could not control. They couldn’t change their families, they couldn’t change discriminatory attitudes toward young black men, but they could make new positive choices every day … They could study for a spelling test, do their daily chores without debate, offer to help a friend, and take pride in their small accomplishments. They could choose how they behaved in school, they could choose how they treated one other« (EEG 23). 127 Wenn der eigene Alltag nicht bewältigt werden kann, erweisen sich Anstrengungen zur Veränderung als unmachbar  ; ich darf an Greg Mortensen erinnern, der es nach seiner Rückkehr aus Pakistan in die USA kaum schaffte, einen Alltag aufzubauen. 128 »Watching tiny girls with dirty clothes and faces begging for rupees, I tried to imagine them as my own daughters« (EEG 71) – hinter dieser Einstellung muss sich keine lähmende Sentimentalität verbergen, sondern die Anerkennung einer fundamentalen Gleichheit  : »They wanted for their lives and for their children’s lives what Brad and I dreamed for our lives and for our children – peace, prosperity, and the bond of a close-knit family« (EEG 240). Es ist ein wichtiger Schritt im Armutsdiskurs, Menschen, die von Armut betroffen sind, nicht als »fundamental anders« zu sehen, sondern gerade über die Zuerkennung von Gleichheit in der biologischen Verfasstheit und von geteilter Innerlichkeit mit Wünschen und Hoffnungen und Ängsten Gemeinsamkeit anzuerkennen. 129 M. Kämpchen, Leben ohne Armut. Wie Hilfe wirklich helfen kann – meine Erfahrungen in Indien. Freiburg/Br 2011. Abkürzung »MKH«. 130 »Freiwillige Armut«, die in bestimmten religiösen Traditionen als Tugend schaffend angesehen wird, nennt Kämpchen »Bedürfnislosigkeit« oder »Einfachheit« (MKH 134). 131 »Mir ist früh schmerzlich bewusst geworden, dass auch die Armen ihre Vorteile und Nachteile deutlich abwägen. Arme Menschen, die keine Hilfe von mir erwarteten, unterhalten nur dann eine regelmäßige Beziehung zu mir, wenn sie sich stark von mir und meiner Arbeit angezogen fühlen« (MKH 15). Hinter diesem Abwägen liegt eine durchaus nachvollziehbare Rationalität, ein Kalkül  : vgl. MKH 142.

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Anmerkungen

132 Entsprechend eingeschränkt ist die Wahrnehmung von Wünschen oder auch Bedürfnissen  : »In der Armut sind die Bedürfnisse – wie auch die Zufriedenheit des Lebens – auf ›Essen‹, den gefüllten Bauch, beschränkt« (MKH 27)  ; die Armen entwickeln oftmals nur bei der Befriedigung ihrer unmittelbaren Bedürfnisse einen starken Willen (MKH 70). Das ist kein Zeichen reifer Bedürfnislosigkeit und Einfachheit, sondern uninformierte »Armut des Begehrens« und Mangel an Vorstellungskraft und Selbstreflexion. Oder auch Mangel an Planungsfähigkeit, die die Armen nach Kämpchens Worten »nach den kleinen Brocken« suchen lässt, »die sie heute auffangen können« (MKH 86). 133 Kämpchen berichtet von seinem Besuch im Dorf seines Bengali-Lehrers  : »Neben dem Herdloch lag verstreut der Brennstoff – Zweige, trockene Blätter, Schalen von Früchten, die Gopals Frau jeden Tag in aller Frühe in der Umgebung des Dorfes zusammenkehrte und, in Säcke gefüllt, auf dem Kopf nach Hause schaffte. Es dauerte Stunden, bis das Brennmaterial gesammelt war, das Kochfeuer in Gang gesetzt wurde, der Reis zu kochen begann und die Mahlzeit bereitstand. Jeden Tag derselbe elementare Vorgang  !« (MKH 18). Wieder zeigt sich, dass der Alltag Kriterium für die Mühen der Armut ist. Dass Frauen dabei jeden Tag den Qualm des Holzfeuers einatmen, ist ein Hinweis darauf, dass die Gestaltung des Alltags nicht nur mühsam, sondern auch schädlich ist. 134 Auch das ist eine Frage der Einstellungen  : »Die Armen meinen instinktiv, dass sich Krankheiten nicht verhindern lassen. Wer krank ist, muss sein Schicksal ertragen, Aufbegehren ist zwecklos. Ein solch unbequemer Fatalismus ist die übliche Haltung. Hinzu kommen Einfallslosigkeit, wie man sich helfen könnte« (MKH 44). 135 W. Vollman, Poor People. New York 2007, 135–140. 136 »Anstatt sich um eine strukturelle Änderung ihres Lebens zu bemühen, suchen sie eher Sicherheit in der Gruppe« (MKH 55). 137 »Diese Gier nach einem Regierungsjob ist die Reaktion der Armen auf ihre tiefe Lebensangst und Unsicherheit« (MKH 84). 138 »Die Armen bekommen täglich und brutal zu spüren, dass sie in den Hackordnungen der Macht ganz unten stehen und nichts, überhaupt nichts dagegen unternehmen können« (MKH 59). 139 Jacqueline Novogratz hat im Rahmen ihres Geschäftsexperiments mit einer Bäckerei Ähnliches erfahren – sie will sich auf den Ausbau des Unternehmens konzentrieren, muss aber von den Frauen erfahren  : »What makes it harder to keep up with you … is that our lives have many obligations attached to them. We have funerals and weddings and births and so many commitments« (Novogratz, The Blue Sweater. New York 2009, 90)  ; noch dramatischer ist das Beispiel von George Mpango, eines Chemikers aus Uganda, dessen Geschichte John Stackhouse in einigem Detail beschreibt ( J. Stackhouse, Out Of Poverty. Toronto 2001, 80–98). George Mpango konnte sich aus dem dörflichen Milieu befreien, erreichte einen PhD in Chemie in Kanada, erhielt einen gut bezahlten Universitätsposten in Nigeria  ; nach dem Tod seines Vaters erbte er sowohl das Land als auch die Familienverantwortung und kehrte 38jährig nach Uganda zurück. Er nahm einen schlecht bezahlten Posten als Chemiker an der Universität und musste aufgrund der Familiensituation (fünfzehn Brüder, vierzehn Schwestern) um die fünfzig Familienangehörige versorgen. Diese ließen sich aushalten, hatten Alkohol- oder Drogenprobleme, verkauften hinter seinem Rücken Land. Stackhouses Kommentar  : »George stayed because he was caught in a complex web spun by his own father and by tradition« (ebd., 87). Ein wesentlicher Aspekt – auch hier zeigt sich intangible Infrastruktur – war die Bedeutung von »Land«  ; George versuchte es zu erklären  : »You may not be able to understand this, but our land is more important than anything else. By custom, a man’s honour lies in his land. This is something that is passed from generation to generation. It is not something you can claim as your own« (ebd., 92). Wieder zeigt sich die Bedeutung einer intangiblen Kategorie, »Ehre«. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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140 Die moralischen Überzeugungen sind in rigiden moralischen Systemen in der Regel wenige, die dafür mehr Kraft bekommen  ; José Saramago hat dies in »Claraboia« ausgedrückt, als er einen armutsgefährdeten Mann beschreibt  : »Viele Überzeugungen hatte er nicht, aber die er hatte, waren felsenfest« (Claraboia, 89). 141 Das Dorfleben ist von diesen Dynamiken gezeichnet – »es ist ein Feld, besetzt von kleinlichem Hickhack, übler Nachrede, unbegründeten Meinungen, von rasch emotional umschlagenden Szenarien, in der alte Eifersüchte ausgepackt, alte Schulden beglichen werden, in der sich Missgunst und Neid, Missverständnisse und Opportunismus brutal und unmittelbar auswirken« (MKH 50). 142 Wieder stoßen wir auf das Modell des Gesprächs, das für Gadamer, wie skizziert, die Basis des Verstehens bildet  ; Kämpchen erzählt von Monothosh, der verstanden hat, wie er mit Kämpchen in einen guten Prozess eintreten kann  : Er hat verstanden, dass er selbst zum Aufbau beitragen musste  ; und  : »Der Aufbau muss allmählich vorangehen. Daher darf er mich nicht überfordern, sondern er muss meine Hilfsangebote ohne Habgier und Hast annehmen, so dass auch ich mich bei meiner Begleitung wohlfühlen kann« (MKH 152). 143 »Echtes Wirken unter den Armen ist nur durch einen Akt der Selbstlosigkeit möglich« (MKH 138)  ; »Jene, die mit armen Menschen zusammenarbeiten, müssen sich ständig beobachten, damit sie nicht aus Machtwillen handeln« (MKH 139). Damit ist auch klar, dass Armutsbekämpfung nicht ohne moralische Festigkeit und Privilegienabbau erfolgen kann. Kämpchen äußert sich kritisch gegenüber Expert/inn/en, »für die Armutsbekämpfung nur ein bezahlter Job und kein inneres Anliegen« ist (MKH 145). 144 Aristoteles weist in seinen bekannten Überlegungen zur Freundschaft in der Nikomachischen Ethik darauf hin, dass Freundschaft »schön« ist (EN VIII 1, 1155a29f ) und daher auch ein Ende in sich selbst darstellt  ; dass Menschen ohne Freunde nicht glücklich sein können  ; dass auch gerechte Menschen der Freundschaft bedürfen (EN VIII 1, 1155a23–31). Freunde teilen gute Eigenschaften und Überzeugungen über das Gute – gute und gleichgesinnte Menschen teilen die höchste Form der Freundschaft (EN VII 5, 1156b33f ). Eine Freundschaft lässt gewissermaßen die Grenzen des »Selbst« erweitern – der Freund wird zum anderen Selbst (EN IX 4, 1166a32), es entsteht ein »Wir«, das gerade deswegen »Egoismus in der Freundschaft« eindämmt und ein kenotisches Moment, ein Moment der Selbstentleerung in die Freundschaft bringt. Die Freundschaften, die jemand unterhält, werfen schließlich ein Licht auf den Lebensentwurf – die Art der Freundschaften, die jemand eingeht, zeigt, worauf es ihm im Leben ankommt (EN IX 4, 1166a20f ). Wenn wir diese Gedanken auf die Frage der Armutsbekämpfung übertragen wollten so bedeutet dies wohl, dass Gleichgesinntheit – »Konkordanz«, um den Begriff Sporschills zu verwenden – der Schlüssel zur gelingenden Begleitung ist. 145 Zur Rolle von Gewohnheiten vgl. Ch. Duhigg, Die Macht der Gewohnheit. Berlin 2012. 146 »Es ist Teil ihrer mentalen Armut, sich einen Weg aus ihrer Situation nicht vorstellen zu können. Auf sich gestellt, würden die Armen wahrscheinlich unsinnige Wünsche hervorbringen. Sie wollen ein Transistorradio oder ein Fernsehgerät oder ein Motorrad oder zwei knallbunte Hemden kaufen oder zehnmal das Kino besuchen – obwohl zum Beispiel die Mutter krank zu Hause liegt und eine Behandlung brauchte, obwohl sie sich nicht den Nachhilfeunterricht für die Kinder leisten oder das Benzin für ein Motorrad bezahlen können« (MKH 120). 147 Thomas von Aquin, De Magistro (Hamburg 2006) und die Grenze dessen, was ein Lehrer ausrichten kann  : Ein Lehrer kann zwar an der geeigneten Umgebung arbeiten, in der Wissensvermittlung möglich ist, eine Lehrerin kann sich auch bemühen, die Inhalte auf den aufnehmenden Intellekt der Schülerin oder des Schülers abzustimmen, aber es ist dem Lehrer und der Lehrerin nicht gegeben, den tätigen Intellekt der Schüler/innen in Bewegung zu setzen  ; hier ist eine klare Grenze in den Möglichkeiten der Lehrerin gesetzt.

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Anmerkungen

148 Man denke etwa an die Notwendigkeit, eine Toilette einzurichten  : In den Dörfern gibt es kaum Toiletten  – »warum für viel Geld eine Toilette bauen, wenn es Büsche gab, hinter denen man die Notdurft verrichten kann  ?« (MKH 22). Hier ist eine Form des Denkens, die Abstraktionsfähigkeit zeigt, notwendig. 149 Kämpchen fragt sich mit Blick auf seinen Bengali-Lehrer, dem er ein kleines Stück Land gekauft hat, auf dem dieser eine Hütte errichtete  : »Besitz bringt Mühen, Pflichten, Ansprüche mit sich, die er vorher nicht gekannt hatte. Seine geistige Lethargie, die von außen wie Ausgeglichenheit und innere Ruhe aussehen mochte, würde gestört werden. War er dazu bereit  ?« (MKH 25). 150 »Entwicklung ist ein Prozess, bei dem die Armen wie auch die Helfenden ständig dazulernen. Es gibt viele Enttäuschungen, deren Ursachen zunächst unklar sind. Sie herauszufinden, ist ein Abenteuer, das tief in die Psyche der Menschen hineinführt« (MKH 113). 151 »Die wichtigste Voraussetzung für Entwicklung ist das partizipatorische Prinzip. So viele Menschen wie möglich sollten aktiv an den Programmen beteiligt werden. Sie sollten das Gefühl bekommen, dass sie durch ihr Engagement an der Entwicklung nicht nur teilnahmen, sondern die Entwicklung selbst vorantrieben« (MKH 127). 152 J. Novogratz, The Blue Sweater. Bridging the Gap between Rich and Poor in an interconnected world. New York 2009. Abkürzung »NBS«. 153 Novogratz schildert ein aufschlussreiches Gespräch, das sich auf die Suche nach »accountability« und »Fehlerkultur« begab  : »How do we define success  ? … We want to lift women out of poverty … but how do you know when you’ve been successful  ? … You can see it with your own eyes … But how do you know what you are seeing without real measures of accountability  ? And how do you know when you’ve failed  ? … We have no failures. Even if things don’t work out, we learn from everything we do … I agree … we should learn from failures, but we have to name them first, talk about them, learn from them« (NBS 96). 154 O. Neumaier, Wer oder was fehlt bei einem Fehler  ? In  : Ders. (Hg.), Was aus Fehlern zu lernen ist in Alltag, Wissenschaft und Kunst. Münster  : LIT 2010, 9–30, hier 14. 155 Vgl. J. T. Reading, Human Error. Cambridge 1990  ; diese Unterscheidung zwischen »error of planning« und »error of execution« ist auch in der medizinischen Ethik von Relevanz – vgl. C. Meyers, Analysis and Prevention of Medical Errors. Northeast Florida Medicine 60,3 (2009) 29– 31, hier 29  : »An error in planning is defined as using the wrong plan to achieve an aim. This can be caused by misdiagnosis or lack of familiarity with treatment options, thus the plan is incorrect. An error in execution occurs when there is a failure of a planned action to be completed as intended. For example, it may be routine for patients in a practice to receive a referral to gastroenterology for a colonoscopy at age 50  ; however, the referral was not given to the patient. There was a slip or lapse in the process.« 156 Benjamin Olken hat die Tiefe des Problems der Korruption mit Methoden teilnehmender Beobachtung in einer Provinz in Indonesien untersucht und hat den pervasiven Charakter von Korruption – bei 304 Fahrten konnten 6000 illegalen Zahlungen festgestellt werden – konstatieren müssen  ; P. Barron, B. Olken, The Simple Economics of Extortion  : Evidence from Trucking in Aceh. Journal of Political Economy 117,3 (2009) 417–452  ; B. Olken, Monitoring Corruption  : Evidence from a Field Experiment in Indonesia. Journal of Political Economy 115,2 (2007) 200–249. 157 A. Banerjee, E Duflo, The Economic Lives of the Poor. Journal of Economic Perspectives 21,1 (2007) 141–167  ; A. Banerjee, E. Duflo, Poor economics. New York 2011. 158 Ersteres – zeigen auch gute Kenntnis ihrer Klient/inn/en – L. Engelbrecht, Economic literacy and the war on poverty  : a social work challenge  ? International Journal of Social Welfare 17 (2008) 166–173. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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159 Vgl. F. Uhl, Hindernisse auf dem Weg zum Wissen. Roger Bacons Kritik der Autoritäten, in  : F. Uhl (Hg.), Roger Bacon in der Diskussion. Frankfurt/Main  : Peter Lang 2001, 219–235. 160 Eine Definition für den medizinischen Kontext  : »Malpractice … requires three elements  : the recognized standard of care was not met, harm was done to the patient, and that harm resulted from the failure to meet the standard of care« – D. M. Zientek, Medical Error, Malpractice and Complications  : A Moral Geography. HEC Forum 22 (2010) 145–157, 147. 161 O. Neumaier, Wer oder was fehlt bei einem Fehler, 14f. 162 D.M. Zientek, Medical Error, Malpractice and Complications, 150. 163 S. Wide, On the Art of Being Wrong  : An Essay on the Dialectic of Errors. Journal of Philosophy of Education 43,4 (2009) 573–588, v.a. 579f. 164 Das hatte vor allem mit der Vertrauensbasis zu tun, die Novogratz als entscheidenden Faktor erkannte (NBS 107  ; NBS 273)  ; sie beklagte sich, dass es so schwer sei, wahrhaftige Antworten von den Frauen zu bekommen, und erhielt von ihrer Begleiterin die Belehrung  : »They’ve seen too many people like you come into their lives … so why should they be honest with you  ? There might be some chance that you give them money if they answer your questions in the way you want to hear them« (NBS 99). Das Spiel mit gewünschten Antworten durchzieht die Bemühungen um Armutsbekämpfung in einem Entwicklungszusammenarbeitskontext, wie ihn Novogratz schildert. 165 Die asymmetrische Gesprächssituation führt zu entsprechenden Verzerrungen  : »Everywhere we found women’s groups who spoke proudly of what they did, and it was only when we pressed them for details that their stories began to unravel« (NBS 97)  ; Novogratz hatte schon früh im Rahmen ihrer Untersuchungen zu Mikrokreditstrukturen entdeckt »how little was actually happening on the ground« (NBS 11). Hier wird wie in der Welt des Marketings eine Scheinwelt aufgebaut. 166 Die Gesprächsfähigkeit musste sie sich mühsam erarbeiten, auch durch das Erlernen von Sprachen. Zu Beginn ihrer Arbeit in Afrika stellt sie fest  : »I still had no language for sharing my concerns or my aspirations, or any idea how to start a conversation about what they needed and wanted« (NBS 21). 167 Im Zuge ihrer philanthropischen Tätigkeit erkennt Novogratz die Schwierigkeit des Gebens  : »Philanthropy can appeal to people who want to be loved more than they want to make a difference« (NBS 139). Die Perspektive ist nicht »people-focused«, sondern »donor-focused«. 168 Diese Einstellung provozierte Widerstand – Novogratzs Kolleginnen »were bemused when I said I wanted to meet tomato sellers, business owners, and priests as well as their list of government ministers, NGO directors, and U.N. aid workers. These were the women we would ultimately be serving« (NBS 43). 169 Veränderungsresistenz trifft sie in Ruanda auch in religiösen Institutionen – »You are trying to change our women« (NBS 68) wirft man ihr vor. Die Lektion daraus ist wohl, dass man sorgsam abwägen muss, welche »players« welche Interessen haben. 170 Jacqueline Novogratz beschreibt eine frühe Begegnung mit einer afrikanischen Kollegin  : »As I look back, I can only imagine what had been going through her head when I first approached her, shivering with excitement to ›help‹ her country through my privileged job, when all I seemed to offer was unbridled, naïve enthusiasm« (NBS 21). Bei einem ersten Treffen mit afrikanischen Kolleginnen macht man ihr klar, dass man sie als Amerikanerin nicht haben will (NBS 14f ). 171 Eines Tages beschließt Novogratz in Ruanda, mit einem anderen Amerikaner zu feiern  ; sie gehen einkaufen und erstehen zwei Flaschen Champagner zu je 60 Dollar (eine Summe, die das Jahresgehalt vieler Ruandesen übersteigt)  ; Novogratz fühlt sich unsicher, will den Champagner zurückgeben, wird aber von ihrem Begleiter belehrt  : »I know it doesn’t make a lot of sense on

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Anmerkungen

one level. We’re working with the really poor, and you and I couldn’t be more privileged in relative terms. But don’t pretend to be someone you aren’t. If you were at home, you’d celebrate with champagne. If you want to remain happy and alive in this work, you need to reconcile this part of who you are and understand the inconsistencies with the work you do and how it all fits into your whole way of being« (NBS 115). Hier sieht sich »Integrität« herausgefordert, die Idee der zweiten Integrität deutet sich an. Selbstreflexion tangiert den Umgang mit der eigenen inneren Situation  : »Die Realität, die uns zwingt, bei Fragen der praktischen Normativität stets die Augen nach möglichen Korrekturen unserer Ansichten offenzuhalten, ist eine Realität, die in uns selbst liegt« (H. Frankfurt, Sich selbst ernst nehmen, 51). 172 »When the women returned their buckets and gave us the cash they’d earned, Prisca and I couldn’t account for more than a third of the goods produced. My heart sank with the knowledge that the women were stealing. We were putting so much goodwill and trust into this – into them. Didn’t they owe us some level of appreciation or accountability  ?« (NBS 79) – »I tried not to take it personally, though I knew the women were testing my mettle. We couldn’t count on their being honest out of appreciation alone – they’d seen too many like me come and go. The bigger question was how to fix the immediate problem and then create the right incentives for the business to sustain itself long after I’d left« (NBS 80). 173 Die Frage der Rechenschaft beschäftigt sie schon bald, gerade auch im Non-Profit-Sektor  : »I also began to reflect on how to build accountability into non-profit organizations. Donors could convince themselves to give to non-performing organizations based on hearing a few good stories. The world needed something better than that« (NBS 34). 174 »Indeed, several women initially saw no reason to repay. They knew the money was coming not from a neighbour but, in their eyes, from a big, obtuse agency filled with nameless rich people from across the planet who didn’t think much of the poor anyway. Why should that institution really expect poor women to repay  ? And how much would it notice if they didn’t  ?« (NBS 61) – Kommentar  : »Those early women borrowers were testing us, and their approach was rational« (NBS 61). Es geht um eine Kultur, »sich selbst und andere ernst zu nehmen«, »Konsequenz« als wichtigen Aspekt von Glaubwürdigkeit (neben Kohärenz und Korrespondenz von innen und außen) zu zeigen. 175 Die Begebenheit endete übrigens so, dass Jacqueline Novogratz den beiden Frauen beide Körbe zu je 1000 Francs abkauft  ; im Auto sagt ihr der afrikanische Kollege, der sie begleitet, dass man sie über den Tisch gezogen hat  ; ihre Antwort  : »I can afford the loss of 400 francs – and … the loss of ego in front of you« (NBS 67)  ; dann aber bittet sie ihn um Diskretion  : »You better just promise me not to tell a soul, or I will lose my reputation for toughness« (NBS 67)  ; dabei ist »Here, reputation is everything … In Rwanda, it is more important to be respected than liked« (NBS 111). Das intangible Gut »Reputation« (in dem Fall auch Ruf von »toughness«) wird von Novogratz als »asset« im Kampf gegen Armut gesehen, gerade weil sie großen Wert auf Strukturen von konsequenter Rechenschaft und Verantwortung legt. 176 Noch als Wall Street Bankerin hatte sie in Brasilien erkannt  : »The bank doors were closed to the poor and working class. Because the commercial banks were writing off millions in bad debts to the richest sectors of society, they were in no mood to try lending to the poorest« (NBS 8). 177 »If you support a woman, you support a family« (NBS 42)  ; »help a woman and you help a family« (NBS 94). Immer wieder hat Novogratz auch erfahren, dass über Frauen abfällig gesprochen wird  : Man hat low income-Frauen auch als »prostitutes« bezeichnet. »I thought of the word prostitute and the distancing power of language. Women with no money and few options are too easily categorized as throwaways« (NBS 75) – das Bemühen um Frauen als Teil der formalen Ökonomie ist auch ein Kampf gegen diese Kategorisierungen. Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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178 Ein frühes Experiment in Kigali  : »Against local conventional wisdom, our founders’ group bet on the strength of the women and the belief that ultimately they belonged in the formal economy. We decided to charge interest at near-commercial bank rates« (NBS 45). Auf dem Markt in Kigali hatte sie erfahren, dass Frauen 10% Zinsen zahlen müssen, damit das Geschäft überhaupt irgendwie weitergehen könne (NBS 44). 179 Tatsächlich ist der Aufbau integrer Institutionen, die über Strukturen der Rechenschaftspflichtigkeit gesteuert werden, eine Schlüsselstrategie in der Armutsbekämpfung  : Korrupte Institutionen zerstören die Möglichkeiten von Armutsbekämpfung – Accountability als Schlüssel auch für Armutseffekte – E. Tebaldi, R. Mohan, Institutions and Poverty. Journal of Development Studies 46,6 (2010) 1047–1066. Daron Acemoglu und James A. Robinson haben Institutionen die entscheidende Bedeutung in der Frage der Armutsbekämpfung zugewiesen – auf Basis einer Unterscheidung zwischen (»inklusiven«, demokratischen) wohlstandsfördernden und armutsversuchenden Institutionen, die als »extraktive Institutionen« Werkzeuge der Bereicherung sind, haben sie eine Theorie für die Armutsbekämpfung vorgelegt, die die Rolle von Institutionen in den Vordergrund rückt (D. Acemoglu, J.A. Robinson, Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut. Frankfurt/Main 2013). 180 L. Phillips, E. M. Garrett, Why Don’t They Just Get a Job  ? Highlands, TX 2010. Abkürzung  : »LPJ«. 181 Vgl. C. Maeder, E. Nadai, Organisierte Armut. Sozialhilfe aus wissenssoziologischer Sicht. Konstanz 2004  ; Ämter entwickeln eine Eigendynamik, die asymmetrische Beziehungen erzeugt und eigentümliche Gesprächssituationen schaffen – A. Porila, J. den Thije, Ämter und Behörden. In  : J. Straub et al. (Hgg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart 2007, 687–699. 182 R. Payne, Ph. DeVol, T. D. Smith, Bridges Out of Poverty. Strategies for Professionals and Communities. Highlands, TX 2001. 183 »We also believed that welfare was the single most significant contributing factor in the collapse of the family. It drove the men out of the home. If you were married, you couldn’t get support. The more children you had, the more support you got« (LPJ 20). Ein weiterer Schwerpunkt wurde von staatlicher Seite auf Menschen mit mental health issues gesetzt – »Dave and I also noticed that an inordinate amount of available resources were concentrated on the poor who suffered from addiction and/or serious mental illness. That concentration of the funding left only a small sliver of the pie for the people we believed had a stronger, more realistic chance of making the transition to work if they were given proper ongoing support« (LPJ 22). 184 Hintergrund für die Kürzung war die Erkenntnis  : »the quicker people got to work, the sooner they were able to practice the new behaviors acquired during the workshop« (LPJ 106). 185 Vgl. U. Wilkens, Management von Arbeitskraftunternehmern. Psychologische Vertragsbeziehungen und Perspektiven für die Arbeitskräftepolitik in wissensintensiven Organisationen. Wiesbaden 2004. 186 »Rather than simply focusing on helping the unemployed get a job like traditional job services do, we focus on job retention and advancement … we provide every job seeker who successfully completes our free, mandatory, one-week job readiness workshop with a lifetime of free, ongoing staff support during job searches and to help that member retain his or her job« (LPJ 8). 187 »We thought that once we helped the chronically unemployed find and retain employment with an employer who promoted from within, our work was finished. We assumed that our members would automatically position themselves for advancement that would lead to self-sufficiency« (LPJ 119). 188 »Some potential job seekers told our recruiter in desperate tones, ›I need a job, not a class.‹ We

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Anmerkungen

gently suggested that they get a day labor job and return when they were able to dedicate the time needed. Sadly, many had been without a job for weeks or months, and yet they couldn’t see the value of investing a week of their time in a workshop that would likey lead to job security and advancement« (LPJ 105). Auch diese Einstellung ist eine Frage der Fähigkeit, längerfristige Ziele in den Blick zu nehmen und das eigene Leben nicht bloß als »Stückwerk«, sondern im Sinne eines Weges, einer Laufbahn zu sehen, sodass sich langfristige Investitionen lohnen. 189 P. Winch, Versuchen zu verstehen. Frankfurt/Main 1992, 214. 190 Ebd., 216. 191 Ebd. 192 Ebd., 220. 193 D. Eberle, Spuren der Nächstenliebe. 20 Jahre Bauern helfen Bauern. Wien 2012. Abkürzung »BHB«. 194 Wolfgang Pucher hat diese Einsicht folgendermaßen formuliert  : »Man kann das nicht nachvollziehen, wenn man nicht selbst in dieser Not lebt. Die ganzen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Armut sind sicher richtig und wichtig. Aber in der Praxis sieht alles noch viel schlimmer aus. Als normal lebender Mensch kann man sich gewisse Zustände schlichtweg nicht vorstellen« (Krebs, Wolfgang Pucher, 26). 195 P.P. Pasolini, Vita Violenta. München 41985, 41. 196 Su Tong, Reis, 39. 197 Man denke an einen Mythos aus der jüdischen Tradition, der diese Einsicht in einer Szene – ein junger Mann ist am Ertrinken, der Reisebegleiter steht auf festem Grund und kann helfen – ausdrückt  : Tobit 6,1–4. 198 Ich verwende die in der »Bibliothek der Kirchenväter« erschienen Ausgaben und zitiere nach Abschnittzahl  ; dabei verwende ich die Abkürzung »DOE« für den Traktat des Cyprian und »LGS« für die Predigten des Leo über das Almosengeben, wobei sich die relevanten sechs Predigten als Sermones VI-XI in der Sammlung seiner Predigten finden. 199 R. Wilkinson, K. Pickett, The Spirit Level. London 2009 – die Debatte, gerade was die Qualität der Daten und deren Auswertung betrifft, ist dabei durchaus hitzig.

Fünfter Teil  : Armut bekämpfen

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Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis

Appendix

Liste der Beispiele Begründungen für Armutspublikationen »Now and on Earth« – Roman über die Armutserfahrung von Jim Thompson Jean Ziegler über Nähe zum Verhungern Lisa Genova über Reduktion von Menschen zu epistemischen Objekten am Beispiel Alzheimer Nichtwissen von Armut  : Verwaltung und ExpertInnen Colin Wilson über das Wissen des Außenseiters Arno Geiger über die Demenzerkrankung seines Vaters Topos »Verwundbarkeit« in der Literatur 2.1 John Steinbeck und J.M. Coetzee über die Innenseite der Armut 2.2 Thomas Mahler über Armutserfahrung und Innerlichkeit 2.3 Katherine Boo über Mumbai Flughafenslum 2.4 Duflo/Aberjee über die Sehnsucht nach »gutem Leben« auch in extremer Armut 2.5 Zweite Integrität nach dem jüdischen Mythos  : Jakob ringt mit Gott 3.1 Die besondere Bedeutung von Dingen 3.2 Die Tiefensicht von Ereignissen  : Teneriffa, Mount Everest, My Lai 3.3. Gunnar Myrdal über die Innenseite des Politischen (Rassismus in den USA) 3.4 Napoleons Russlandfeldzug 1812 3.5 Hungerkatastrophe in China 1958–1962 3.6 Bhutan und die Idee des Bruttonationalglücks 3.7 Die responsive Struktur der Ökonomie  : Alan Sugar 3.8 John M Keynes  : Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder 3.9 Gier nach Galbraith und »Populorum progressio« 3.10 Intangible Infrastruktur  : Shakespeare in Kabul 3.11 Die Innenseite des Sozialen  : Christian und Christine Schneider in Manila 4.1 Armut ist ein Übel  : Armutserfahrungen 4.2 Carolina Maria de Jesus  : 5 Aspekte von Armut als Übel 4.3 Der Verlust des moralischen Spielraums 4.4 Armut als »bonum« in der christlichen Tradition  : Ignatius von Loyola und Pedro Arrupe 4.5 Platons Symposium  : Mythos über die Ambivalenz von Armut 4.6 Die Erfahrung von Disruption  : C.S. Lewis 4.7 Nachdenken über das gute Leben  : Alfred Delp und Dietrich Bonhoeffer 4.8 Sheila Barton  : Living with Jonathan 4.9 Sabine Heinlein über die Re-Integration von Mördern 4.10 Angst und dysfunktionale Gesellschaften 5.1 Veränderung »von oben« 5.2 Greg Mortensens Initiative 5.3 Mayer Amschel Rothschild Appendix

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5.4 Alan Sugar, »selfmade man« 5.5 Besondere Menschen Liste des Referenzdenkens 1.1 »Zeigen« von Beispielen und Mikrotheorien 1.2 Der Akt des Lesens beim Erstellen einer Mikrotheorie 1.3 Armutsbetroffene als Menschen, nicht epistemische Objekte 1.4 Welches Wissen erzeugt die Armutsforschung  ? Anleihen aus dem 13. Jahrhundert 1.5 Wichtige Sätze nach Bernard Bolzano 1.6 Drei Perspektiven im Detail 1.7 Die Du-Perspektive nach Martin Buber 1.8 Die Perspektive vom Ende her, nicht Schleier des Nichtwissens 2.1 Tomas Sedláček über das Innere der Ökonomie 2.2 Die Idee der Innerlichkeit und Augustinus 2.3 Scham und Armut 2.4 Menschenblindheit 2.5 Armut als Einschränkung der Fähigkeit, Versprechen abzugeben 2.6 Integrität  : Sich selbst ernst nehmen 3.1 Materielle Güter 3.2 Das Haben 3.3 Symbolwert der Dinge und Körperlichkeit 3.4 Tiefe Politik  : Havel und Hammarskjöld 3.5 Wirtschaften von innen her  : Benediktinische Tradition 3.6 Identity Economics 3.7 Der Begriff der intangiblen Infrastruktur 3.8 Die Innenseite der Gerechtigkeit 4.1 Thomas von Aquin über »Malum« 4.2 Armut als »bonum« in der christlichen Tradition 4.3 Armut als »malum« in der christlichen Tradition 4.4 Hannah Arendt über Sozialpathologien und Innerlichkeit 4.5 Sprachen der Liebe lernen 4.6 Dynamiken der Benachteiligung 4.7 Das Ärgernis von »Working Poor« 5.1 Aristoteles über Vermögen 5.2 Sunzi, Die Kunst des Krieges 5.3 »Entwicklung« nach Populorum progressio 5.4 Michael Sandel und die Dynamik der Monetarisierung 5.5 Armutsbekämpfung mit Blick auf die innere Situation 5.6 Königsweg Bildung

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Appendix

Zum Autor

Clemens Sedmak, geb. 1971, hat seit 2005 den F.D. Maurice Lehrstuhl für Sozialethik am King’s College London inne. Er ist zudem Leiter des von ihm gegründeten Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Gastprofessuren führten ihn nach Nairobi, Dublin, Manila, Sevilla, Mexico City, an die University of Notre Dame/Indiana und an die Universität Jena. Sedmaks Forschungsschwerpunkt ist die Sozialethik mit einem Fokus auf Fragen der Armutsforschung und Armutsbekämpfung  ; von 2002 bis 2006 leitete er ein größeres, interdisziplinäres Projekt über die Option für die Armen.

Zum Autor

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Personenregister

Abbas Achilas 315 Abbas Agathon 149 Abbas Antonios 149 Abbas Gelasios 147 Abbas Hyperechois 146 Abbas Kassian 315 Abbas Megethios 148 Abramowitz, M. 309 Acemoglu, D. 334 Achebe, C. 17, 292 Ackrill, J. 291 Adam, A. 99 Ahuja, A. 235 Akbar Omar, Q. 305, 311 Akerlof, G. A. 116, 310 Akula, V. 34, 295 Alam, K. R. 325 Alldén, S. 324 Amann, K. 294 Ambrosius 310 Andersson, A. E. 311 Andersson, D. E. 311 Appiah, K. A. 126, 312 Arendt, H. 69, 70, 162, 163, 220, 225, 301, 308, 316, 325 Aristoteles 14, 15, 120, 173, 190, 191, 225, 291, 303, 311, 320, 330 Armogathe, J.-R. 297 Arnould 93, 306 Arrington Jr., M. S. 303 Arrupe, P. 144, 145 Ashford, E. 302 Assmann, A. 295 Aubenas, F. 65, 66, 301 Augustinus 27, 58, 59, 294, 299 Austen-Smith, D. 310 Backhaus, F. 321 Bacon, F. 252 Bacons, R. 252, 332 Badhwar, N. K. 317 Bales, K. 294 Personenregister

Banerjee, A. 64, 300, 323, 324, 331 Barrientos, A. 34 Barron, P. 331 Barton, S. 159, 160, 165, 166, 316 Bass, S. 291 Beauchamp, A. 327 Bebbington, A. 34, 295 Becker, G. 116, 310 Becker, J. 300 Belk, R. 93, 306, 307 Benjamin, D. 310 Benveniste, E. 91, 305 Berman, L. 308 Bernet, R. 300 Bethge, D. W. R. 157, 158 Bethge, E. 223, 224 Bethge, R. 223 Bieri, P. 223, 325 Bircher, J. 307 Bird, J. 307, 308 Björkman, M. 323 Bleistein, R. 316 Bock, U. 218, 324 Bolay, E. 300 Bolitt, D. 306 Böll, H. 45, 297 Bolzano, B. 30, 31, 295 Bonaventura, I. 28 Bonhoeffer, D. 59, 60, 156–158, 223, 224, 299, 305, 316, 325 Boo, K. 56, 299 Booth, C. 38 Bourdieu, P. 35, 87, 295, 305 Brandom, R. 226, 325 Breitscheidel, M. 92, 306 Bridges, K. 322 Brock, K. 295 Brockmann, R. 311 Brown, I. 166, 174–185, 270, 295, 301, 318– 320 Brown, W. 221–237, 289, 318–320 Brutaru, C. 231

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Buber, M. 38, 39, 40, 289, 296, 308 Buderus, K. F. 204 Burnette, J. B. 307 Calhoun, C. 302 Camus, A. 173 Cannan, E. 318 Carey, P. 299 Carr, E. 191, 321 Cassian, J. 59, 147 Cassirer, E. 305 Castel, R. 301 Chambers, R. 291, 295, 297 Chauhury, N. 323 Chenchen, G. 209, 210 Chrisman, L. 303 Christie, A. 222 Clemens von Alexandrien 147–151, 314–316 Coetzee, J. M. 25, 53, 63, 140, 294, 298 Cohen, G. 16, 37, 296 Conant, J. 12, 291 Cora, D. 291 Covey, S. 222 Crary, A. 291 Crisp, O. 296 Crothers, T. 289 Cruz, N. 219, 325 Csikszentmihalyi, M. 94, 307 Cummings, S. L. 324 Cuny, F. 321 Cyprian von Karthago 276, 277, 278 Dade, G. C. 311 Dalal-Clayton, B. 291 Dantas, A. 77 Darwall, S. 37, 296 Darwin, J. 163, 316 David, P. A. 309 Davis, W. A. 58, 299 de Grazia, M. 311 de Jesus, C. M. 76, 77, 79–83, 90, 138, 149–151, 246, 302, 303 de Maupassant, G. 88 de Swaan, A. 294 Defoe, D. 222 Delor, F. 297 Delp, A. 156, 157, 316

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den Thije, J. 334 Deneulin, S. 325 Descartes 252 de-Shalit, A. 36, 168, 295, 317 DeVol, P. 334 Diamond, C. 12, 291 Diamond, J. 163, 317 Dickenson, D. 322 Dikötter, F. 99, 308 Dittmar, H. 306 Dong-hyuk, S. 224, 325 Dorling, D. 126, 312 Dostojewski 292 Dr. Yunus 235 Drudis Baldrich, R. 291 Drudis Baldrich, R. 312 Duflo, E. 11, 29, 64, 251, 291, 295, 300, 323, 324, 331 Duhigg, C. 330 Dunlop, C. 301 Dupas, P. 323 Dworkin, R. 301 Dyer, W. 222 Easterlin, R. 105, 309 Eberle, D. 90, 270, 271, 273, 275–277, 279, 305, 313, 335 Eckert, J. 114, 309 Eco, U. 305 Edgar, S. 234–239, 313, 324, 327, 328 Ege, M. 221, 325 Eisik, J. 289 Ellis, A. 298 Elon, A. 321 Emerson, R. W. 222 Emmons, R. A. 327 Engelbrecht, L. 331 Erikson, E. 74, 302 Erikson, J. 302 Erikson, K. 305 Feld, L. 317 Ferguson, N. 205, 321, 322 Fest, J. 316 Filipovic, Z. 274 Fish, S. 293 Fishman, J. 322 Personenregister

Flasch, A. 299 Floyd, J. 12 Frankfurt, H. 74, 301, 302, 318, 333 Freire, P. 140, 314 Freud, S. 127 Frey, B. 110, 309, 317 Frischmann, B. 311 Fröhlich, M. 308 Fryer Jr., R. 310 Füssel, H.-M. 297 Gadamer, H. G. 18, 36, 293 Galay, K. 309 Galbraith, J. K. 117, 310 Gandhi, M. 221 Gans, H. 307 Garai, L. 115, 310 Gardner, J. 261 Garrett, E. M. 310, 334 Geertz, C. 15, 16, 291 Geiger, A. 44, 45, 297 Gendlin 291 Genova, L. 26, 294 Gerontius 314 Ghai, D. 317 Ghandi, M. 318 Ghent, H. v. 28 Ghosananda, M. 261 Gibbon, E. 163 Glavinics, T. 88 Glover J. 97, 307 Goffman, E. 116, 300, 301, 310 Goodman, N. 305 Gorjestani, N. 295 Gosling, S. 306 Gregor der Große 112, 309 Grosz, S. 25, 294 Guillelmus de la Mare, 294 Gulyas, J. 300 Habermas, T. 306 Hahn, R. 323 Halder, S. R. 321 Halfon, M. 302 Halpern, J. 24, 294 Hammarskjöld, D. 102–104, 308 Hammer, J. S. 323 Personenregister

Hanf, T. 309 Harber, C. 321 Harden, B. 325 Harris, H. 311 Hartmann, K. 170, 317 Hartmann, M. 323 Hassan II. 18 Hastrup, K. 292 Havel, V. 101, 102, 308 Heidegger, M. 297 Heimpel, E. 318 Heinlein, S. 163, 164, 317 Heller, A. 233 Hibbert, K. 90, 305 Hill, C. A. 117, 310 Hill, J. 90, 305 Hill, N. 222 Hirsch, F. 213 Hobbes, T. 127 Hoerni, J. 193 Hohmann, G. 314 Homer 292 Hoveid, H. 326 Hubert, M. 297 Hulme, D. 14, 291 Ignatius von Loyola 46, 144, 220, 297, 314, 315 Illy, H. F. 309 Inauen, E. 110, 309 Ioannes Duns Scotus 28, 294, 295 Iser, W. 293 Jaber, C. 122, 124 Jackson, F. C. 36, 296 Jacob, B. 323 James, A. 214, 215, 323 Jelloun, T. B. 18 Jesus 130, 144, 146, 148, 229, 231, 270, 320 Jisheng, Y. 99, 308 Joas, H. 299 Johannes Chrysostomos 149, 150–152, 315, 316 Johannes Philiponus 173, 174, 317 Johannes XXIII. 46, 297 Johnson, K. 311 Kabeer, N. 324

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Kafka, F. 45 Kämpchen, M. 94, 221, 240–249, 256, 271, 307, 328, 329, 330, 331 Kamptner, L. 306 Kanapathy, V. 311 Kapferer, E. 309 Katende, R. 289 Kayes, D. C. 307 Keane, M. 311 Kein, A. 234 Kennedy, R. 104 Keßler, A. S. 156, 157 Keynes, J. M. 114, 115, 309 King, M. L. 221 King, S. 22 Kinga, S. 309 Kirchler, E. 317 Kissinger 308 Kleßmann, E. 308 Knauer, P. 297, 314 Knorr-Cetina, K. 294 Köhnke, K. C. 305 Kohsaka, A. 311 Kölbel, M. 291 Kong, L. 311 Kopf, M. 303 Korczak, J. 318 Korobuck, S. 208, 209 Korosec-Serfaty, P. 306 Korsgaard, C. 297 Kowarsch, M. 276 Kraml, H. 294 Kranton, R. 116, 310 Kranzfelder, T. 309 Krebs, C. 300, 324 Kremer, M. 12 Krishna, A. 11, 291 Kroß, M. 291 Krumer-Nevo, M. 296 Krygier, C. M. 301 Kühn, R. 300 Kunin, T. 239 Lafumas, L. 297 Lambert, M. D. 305 Landrigan, S. 305, 311 Landry, D. 296

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Lang, P. 332 Langer, S. K. 305 Lansley, S. 213, 323 Lapsley, D. 327 Larmer, B. 309 Latour, B. 294 Laylard, R. 300 Lekoko, R. N. 321 Lennox, P. 311 Leo der Große 147, 276, 278, 279, 315, 316 Levinas, E. 180 Levine, R. 302, 303 Levitt, S. 323 Lewis, C. S. 155, 316 Liem, J. 299 Liem, R. 299 Lind, J. 303 Link, J. 17, 292 Link-Heer, U. 17, 292 Locke, J. 252 Löffler, W. 295 Long, W. 222, 325 Lopez S. J. 327 Lucas, R. 221, 325 Luhmann, N. 318, 323 Lütterfelds, W. 312 Lynch, M. 294 MacIntyre, A. 168, 317 MacLean, G. 296 Maeder, C. 295, 334 Maguire, M. 306 Mahfuz, N. 141, 303, 304, 314 Mahler, T. 38, 55, 56, 296, 298, 327 Makaryk, I. R. 311 Mandela, N. 220 Mankell, H. 326 Mao 99, 100, 101, 308 Marcel, G. 94, 307 Margalit, A. 66, 67, 163, 301 Marks, R. 209, 300 Marks, S. 300 Marmot, M. 317 Martin, F. 323 Marx, K. 89, 305 Matei, I. 213, 323 Mathewes, C. T. 299 Personenregister

Maultzsch, F. 322 Maximos 145 McCarthy, C. 141, 314 McCoy, S. 165 McCracken, A. 306 McCullough, M. E. 327 McFall, L. 302 McGinn, M. 301 Medina, E. 97 Menke, C. 125, 311, 321 Merve, M. v. d. 321 Metzler, H. 300 Meyers, C. 331 Miller, D. 36, 92, 128, 129, 295, 306, 312 Milton 53 Mishra, S. 262 Mohammed, S. 123, 124 Mohan, R. 334 Molt, P. 309 Montaigne 73 Moore, K. 291 Moore, M. 294 Morante, E. 142, 314 Morgan, P. 226, 325 Morrison, T. 46, 141, 297, 314 Morscher, E. 30, 295 Mortensen, G. 193, 194, 321 Morton, F. 321 Mosley, P. 321 Mpango, G. 329 Muhlstein, A. 308 Murphy, L. 206, 322 Mutesi, P. 289 Mutter Teresa 176, 272, Myrdal, G. 97, 98, 307 Nadai, E. 295, 334 Nagel, T. 206 Napoleon, B. 99, 204, 308 Narayan, S. 247, 291, 295 Narvaez, D. 327 Natella, S. 311 Neckel, S. 300 Neumaier, O. 331, 332 Nichter, M. 323 Nixon 308 Nordenfelt, N. 326 Personenregister

Novogratz, J. 40, 140, 191, 250, 251, 253, 255– 262, 275, 296, 313, 327–329, 331–333 Nozick, 325 Nthogho Lekoko, R. 191 Nussbaum, M. 17, 24, 169, 225, 228, 292, 294, 316, 325, 326 O’Connor, A. 34, 295 O’Connor, J. 311 O’Neill, O. 312 Obrecht, A. J. 309 Olken, B. 331 Oppenheim, W. J. 202 Orwell, G. 222 Oskamp, S. 306 Padilla-Gálvez, J. 291, 312 Pain, A. 309 Palladius von Helenopolis 147 Palladius von Sisinnius 147 Panjabi, S. 191, 192, 321 Pappas, N. 301 Pascal, B. 47, 297, 298 Päsler, E. 139, 140, 313 Pasolini, P. P. 274, 335 Paul VI. 310 Paulus 326 Payne, D. 321 Payne, M. 321 Payne, R. 264, 334 Perec, G. 87 Perse S.-J. 17, 292 Petesch, P. 291 Petrus von Damaskus 146, 148 Pfaff, T. 309 Philippe, J. 301 Phillips, D. 263, 265, 267–269 Phillips, L. 117, 263, 265, 267–269, 275, 310, 334 Piaget, 127 Pickett, K. 335 Pieper, J. 317 Plamper, J. 310 Platon 72, 152, 311, 316 Polak, E. 327 Polanco, J. 144 Polanska, J. 301

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Polanyis, M. 91 Pomeroy, S. 208 Pommaret, F. 309 Ponticus, E. 147 Porila, A. 334 Prelinger, E. 306 Priesner, S. 105 Priesner, S. 309 Protis Kita, G. 238 Pucher, W. 60, 219, 300, 324, 335 Putnam, H. 305 Rapten, P. 309 Rawls, J. 46, 72, 126, 128, 301, 312 Rea, M. C. 296 Read, R. 291 Reading, J. T. 331 Reck, E. 291 Reder, M. W. 309 Rees, W. 323 Reis, E. P. 294 Relin, D. O. 321 Reuter, N. 309 Richter, V. 294, 295 Ricoeur, P. 226, 325, 326 Rios, V. 219, 313, 325 Roberto, M. A. 307 Robinson, J. A. 334 Rochberg-Halton, E. 94, 307 Rohra, H. 317 Roos, H. 318 Rorty, A. O. 165, 317 Rosenberg, T. 17, 292 Rothschild, M. A. 202–204, 206, 321 Rousseau, J.-J. 228, 326 Ruebeck, C. 310 Russell, B. 273 Rutland, M. 309 Ryan, M. 308 Ryle, G. 15, 291 Sabah 125 Sachs, J. 294 Salt, G. 208 Sam, A. 65, 301 Sandel, M. 211, 212, 214, 297, 322, 323 Saramago, J. 88, 143, 305, 314, 330

Saro-Wiwa, K. 142, 314 Sartre, J. P. 300 Satz, D. 213 Satz, D. 323 Schäfer, A. 93, 300, 306 Schapper, G. 203 Schicklgruber, C. 309 Schiumas, G. 311 Schmidinger, H. 305 Schneider, C. u. C. 129, 130, 312 Schneider, H. J. 291 Schreiter, R. 296 Schröder, A. 170, 317 Schwemmer, O. 305 Searle, J. 121, 311 Sedláček, T. 52, 53, 104, 118, 127, 236, 295, 298, 327 Sedmak, C. 299, 302, 305, 317, 325 Segers, K. 324 Seidler, G. 300 Seigel, J. 299 Selke, S. 63, 300, 313 Sen, A. 172, 218, 298, 317, 324 Senaratne, S. P. F. 13, 17 Shakespeare, W. 122–125, 292, 311 Shanley, J. L. 305 Sharp, L. 322 Shenk, D. 306 Shetty, S. 324 Simmel, G. 88, 305 Sinha, J. W. 324 Skidelsky, E. 73, 169, 302, 317 Skidelsky, R. 73, 169, 302, 317 Smith, A. 174, 318 Smith, R. 322 Smith, T. D. 334 Sokrates 152, 222, 270 Solomon, A. 166, 317, 319 Solomon, R. 317 Sorabji, R. 299 Spacapan, S. 306 Spencer-Wendel, S. 93, 95, 306, 307 Spivak, G. C. 77, 296, 303 Sporschill, G. 228–234, 238, 271, 330 Stackhouse, J. 329 Stählin, O. 314, 315 Steinbeck, J. 53, 141, 298, 314

Steiner, G. 19, 292, 293 Stiglitz, J. 214, 323 Straub J. 334 Stump, E. 36, 37, 296 Sugar, A. 109, 206–211, 309, 322 Sunzi 195, 196, 197, 321 Svensson, J. 323 Swaan, A. d. 24 Swarup, V. 307 Tanha, N. 123 Taylor, C. 57, 58, 126, 299, 312 Taylor, M. 298 Tebaldi, E. 334 Teresa von Avila 58 Thaxton, P. 209 Theodoret von Cyrus 314 Theodorus von Edessa 145, 147 Thomas von Aquin 27, 68, 69, 120, 136, 137, 214, 310, 313, 326, 330 Thomas, R. 324 Thompson, C. 300 Thompson, J. 20, 22, 293 Thoreau, H. D. 305 Tong, S. 63, 274, 300, 335 Torberg, P. 293 Tsang, J. 327 Uhl, F. 332 Ura, K. 309 Vallejo-Alonso, B. 311 van der Merwe, M. 191 van Laak, P. 90, 139, 305, 313 van Zanten, J. 96 Vanier, J. 183, 184, 319, 320 Venkataswamy, G. 262 Vollman, W. 242, 318, 329 von Ockham, W. 27, 294 Wacker, E. 300 Walingo, M. K. 325 Walker, M. 225, 325 Wallace, D. F. 38, 296 Wallendorf 93, 306

Personenregister

Wallraff, G. 139, 313 Walls, J. 325 Ware, B. 316 Warfield, K. 311 Weber, M. 292 Weil, S. 224, 325 Weinrich, H. 305, 326 Weinstein, H. M. 24, 294 Weintraub, R. 34, 295 Weiss, B. 291 Wells, S. 311 Wide, S. 253, 332 Wiegandt, K. 299 Wiezorek, R. 93 Wilhelm de la Mare, 28 Wilhelm IX. 202, 204 Wilkens, U. 334 Wilkerson, D. 219 Wilkinson, R. 335 Williams, B. 73, 301, 302 Williams, P. 303 Williams, R. 11, 291 Wilson, C. 41, 297 Wilson, D. 321 Winch 270, 335 Winefield, A. 299 Winfrey, O. 239 Wittgenstein, L. 11, 12, 47, 67, 291, 301, 312, 319 Wolf, J. 36, 295, 317 Wolfe, T. 165, 297, 317 Wolff, J. 168 Wolff, M. 317olgar, S. 294 Wurmser, L. 300 Yandell, E. 296 Yapa, L. 295 Zamoyski, A. 308 Zelenak, L. 322 Zelizer, V. 52, 298 Ziegler, J. 23, 293 Zientek, D. M. 332 Zurick, D. 309

361

Sachregister

Abhängigkeit 35, 44f, 134, 145, 148, 206, 211, 281, 315 Achtsamkeit 86, 114, 154, 167, 283 Achtung 39, 54, 199, 310 Afrika 25, 36, 53, 140, 238, 250, 255ff, 298, 313, 321, 327f, 333f, 339, 341 Agency 187, 297, 299, 333, 337, 343 Alkoholismus 21, 54, 267, 304, 308, 321, 329 Alltag 20, 45, 51, 65, 67, 69, 79, 84, 90, 104, 109f, 124, 128, 138, 145, 155, 164f, 170, 182, 193, 233, 238, 242, 254, 263, 265, 187, 305, 307f, 318f, 328f, 331, 345 Alternativen 21f, 108, 141f, 182, 224 Anerkennung 24f, 35, 37ff, 42ff, 54, 61, 66, 72, 108, 119, 121, 128, 161, 170, 199, 214, 216, 223, 228, 230f 246, 256f, 268f, 278, 281f, 284, 315, 320, 327f Angst 20, 22, 26, 56, 63, 79, 81f, 101, 114, 164f, 176, 179, 196f, 208, 219, 229, 244f, 250, 264, 266f, 300, 303, 308, 320, 328f, 342, 351 Apathie 55, 83, 162 Arbeit 20, 23, 66, 124, 130, 227, 231, 268, 298, 324 Arbeitslosigkeit 55, 56, 98, 106, 172, 298, 327 Arbeitsmarkt 14, 65, 140, 171f, 236, 263, 265f, 268, 327 Argumente 27, 51, 135, 137f, 145, 152, 322 Armutsforschung 7, 10f, 14f, 20, 23ff, 27, 29, 34ff, 40, 42, 50, 53, 86, 91, 95, 121, 188, 199, 252, 281, 282, 295, 352f Armutssituationen 10, 22, 32f, 37, 39, 44f, 50f, 53, 60f, 64, 69f, 84, 95, 138f, 155, 162, 168, 195, 218, 221, 248, 263f, 266f, 282, 287 Aufmerksamkeit 103, 110, 146, 154, 232 Aufrichtigkeit 71ff, 124, 195, 222, 254, 259, 282 Ausbildung 66, 111, 171, 177, 219, 223, 246, 267 Authentizität 54, 71, 73 Autonomie 73, 174, 218, 226, 299 Autoritäten 37, 61, 243, 252, 332, 349 avaritia 101, 112, 118, 134, 146f, 246

Sachregister

Bedürfnisse 53, 61, 87, 106ff, 114f, 138, 149f, 155, 177, 232f, 235, 242, 244f, 273, 287, 307, 312, 328f Beispiele (E = Examples), 7, 9ff, 16f, 34, 36, 67, 121, 144, 162, 191f, 216, 221, 243, 253, 264, 291f, 343, 351f Begegnung 32f, 36, 39f, 42, 44, 64f, 79, 140, 148, 183, 219, 224, 255, 274, 281, 332 Begeisterung 125, 182, 230 Begierde 52, 59, 147, 150, 198 Begleitung 45, 159, 167, 176f, 233f, 240, 243247, 249, 256, 269, 271, 287, 330 Benachteiligte 161f, 168f, 175, 199, 202, 295, 307, 352 Beschämung 55, 81, 100, 179, 300, 338 Bescheidenheit 52, 238, 247, 279, 289, 298 Besitzlosigkeit 28f, 52, 63, 85, 88, 91ff, 113, 142, 146ff, 162, 188, 223, 244, 246, 248, 274, 283, 305f, 326, 331 Bewegung 39, 42, 50, 59, 103, 158, 187, 190f, 197, 227, 282, 320, 330 Beziehungen 26, 37, 52, 67, 69f, 86, 90, 92ff, 120, 134, 139, 146, 193, 199, 204ff, 209f, 212f, 225f, 244f, 248f, 275, 283, 296f, 300, 306, 328, 334, 338, 350 Bildung 24, 34, 50, 60, 66, 76, 111, 118, 120, 150, 155, 171f, 177, 211, 213, 216, 219, 221, 223ff, 228, 234, 243f, 246ff, 267, 277, 282, 286, 306, 317, 341, 347, 352 Bindungen 4, 48, 51, 61ff, 69ff, 73f, 97, 105, 108, 128, 135f, 139, 149, 158, 162f, 166, 171f, 189, 219, 232, 277, 282, 285, 320, 324, 326 bonum 68, 90, 102, 107, 112, 133ff, 144ff, 149ff, 284, 315, 351f Bruttonationalglück 104ff, 309, 346, 351 Chance 18, 42, 64, 97, 112, 122, 130, 217, 220, 229, 231, 236f, 258, 260, 265, 275, 298, 321, 331, 334 Charakter 15, 17, 21, 23, 27f, 37, 40, 51, 53, 68, 74, 88f, 95, 97, 134, 137, 145, 150, 153, 166, 175, 200, 212f, 215, 298, 304, 306, 315, 331

363

Dankbarkeit 7, 177, 192, 234, 327 decent work 171, 317, 341 Dehumanisierung 24f Demütigungen 62, 170, 244, 264, 274, 288, 315 Demut 45, 149, 224, 249 Denkgewohnheiten 23, 281 Deprivation (von Ressourcen) 14, 60, 62, 70, 76, 96, 136, 138, 153, 282, 284f, 287 Dialog 7, 31, 36f, 58, 110, 125, 127, 171, 296, 308, 339 Dienst 104, 113, 156, 158, 193, 217, 287 Dinge 32, 39, 42, 45f, 53, 58, 65, 67, 74, 81, 85ff, 104, 108, 114f, 117, 125, 146, 148, 156, 163, 173, 178, 183, 190f, 202, 213, 218, 224, 234, 241, 274, 282f, 296f, 305f, 308, 310, 318, 324, 345, 347, 351 Diskriminierung 198, 200, 202f Disruption 23f, 33, 155, 159, 250, 351 Disziplin (siehe auch Selbstdisziplin) 27ff, 68, 164, 197, 224, 245, 265, 268, 289 Dorf 13, 34, 94, 97, 101, 183, 192, 194, 217, 240ff, 252, 255, 276, 320, 329ff Dringlichkeit 10, 25, 34, 43f, 47, 182, 193 Druck 54, 62, 69, 82f, 95, 100f, 125, 139ff, 143, 243, 277, 300, 302 E = Examples, (siehe Beispiele) Ehre 104, 115, 119, 126, 130, 135, 201, 217, 229, 243f, 284, 287, 308, 312f, 325f, 329, 337, 349 Ehrgeiz 99f, 103, 147, 298 Ehrlichkeit 68, 71, 73, 124, 131, 139, 248, 269, Eifersucht 130, 330 Einfachheit 224, 273, 276, 328f Einheit 53, 67, 126, 128, 176, 191f, 205, 218, 256, 292, 299, 317, 326 Einsamkeit 62, 157, 159 Einschränkungen 102, 105, 125 Einstellung 7, 21, 31, 39, 49ff, 56, 65f, 79, 86, 95, 98, 128, 163ff, 217, 231, 255f, 263, 265ff, 281f, 301, 304, 328f, 332, 335 Einzigartigkeit 24f, 33, 62 Eitelkeit 149, 165, 252, 297, 315, 317, 326, 350 Elend 35, 45, 47, 99, 129, 198f, 293, 295, 298, 326, 338 Emotionen (siehe auch Gefühle) 11, 15, 49f, 52, 56, 64, 98, 155, 182, 228, 240f, 249f, 282, 300, 306, 310, 330, 338, 344, 346

364

Empathie 25, 97, 164, 319 Engagement 39, 43, 47, 73, 103, 162, 192, 208, 215ff, 219, 278, 286, 331 Entscheidungen 33, 46f, 52, 66f, 74, 89, 93, 98f, 103, 115f, 122, 126, 134, 136, 141, 148, 154, 158, 164, 185, 188, 222, 225f, 236, 259, 274, 278, 285, 309, 318 Enttäuschungen 249, 300, 331 Entwicklung 50, 53, 72, 74, 105, 107, 118ff, 159, 191, 197ff, 210, 212, 217, 225f, 234, 246, 249f, 254, 277, 284, 291, 298, 308ff, 331f, 342, 352 epistemische Resilienz 246, 348 epistemisches Objekt 25, 160 episthetische Situation 49f, 53, 55, 60f, 70, 96ff, 101, 149, 152, 197, 215, 217f, 225, 282f, 286 Erfahrungen 7, 10, 13, 17, 36, 65, 67, 77f, 117, 119, 134, 145, 151, 154, 168, 189, 193, 223, 227, 235, 240, 259, 261, 263, 265ff, 275, 284, 328, 342 Erfolg 77, 99, 111f, 140, 172, 192, 194, 197, 199, 203, 208, 210, 230f, 249, 258f, 262f, 267, 302, 320 Erinnerungen 23, 26, 46, 50, 52, 138, 154f, 182, 189, 216, 282, 286, 303, 306 Erniedrigung 35, 63, 65f, 170, 264, 266f Ernsthaftigkeit 71ff, 150, 172, 199, 258f, 282 Erosionen 53, 55f, 97, 99, 172, 215 Erschöpfung 21, 82, 264 Ethik 7, 22f, 25, 27, 29, 37, 109, 154, 179, 196, 206, 222, 229, 233, 276, 330f, 347, 353 Exklusion 62ff, 70, 95, 133, 153, 167f, 201, 269, 288, 347 Fähigkeiten 56, 64, 104, 118, 151, 174, 187f, 190f, 208, 210, 216, 221, 223, 225ff, 230, 242, 268, 277, 286f, 322, 325, 347 Fähigkeitsfähigkeiten 216, 277, 287 fair-trade 236ff, 327f Familie 14, 20, 25, 50, 54f, 63, 76, 80, 87, 92, 100, 123, 130, 137, 139ff, 159, 166, 176ff, 182, 198, 202, 204f, 207, 209f, 224, 232f, 237, 242ff, 248, 260, 264, 271, 299, 303, 307, 318f, 328f, 343 Fehlbarkeit 42, 72, 281 Fehler 14, 42, 47, 72, 181, 196, 217, 250ff, 255f, 266, 288, 299, 331f, 345 Feiern 195, 201, 230, 233, 243f, 332 Sachregister

Feind/Anfeindungen 21, 123, 127, 195ff, 220, 307 Fleiß 131, 171f, 174 Flexibilität 194ff, 203, 208, 210, 265 Fragilität 42, 72, 128, 179, 281 Freiheit 23, 38, 41, 73, 83, 97, 103, 115, 126, 134, 138, 145f, 148, 152, 156, 164, 171, 185, 187f, 197, 233f, 307f, 318, 342 Freude 26, 53, 59f, 123, 130, 145, 181, 189, 224, 243, 310, 314, 319 Freundschaft 5, 7, 69, 118, 137, 139, 144, 169, 177, 199, 204, 210, 213, 216, 221, 225, 228, 232, 240f, 243, 245, 247, 249, 271, 287, 320, 330 Frieden 21, 52, 72, 79f, 105, 147ff, 152, 177, 199, 243, 275, 293 Frustrationen 56, 168, 250, 261, 267 Fundamentalfähigkeiten 216, 221, 223, 225ff, 287, 325, 347 Furcht 55, 59, 99, 148, 189, 199, 248, 303 Gastfreundschaft 228f Gebet 111, 118, 156, 222, 230, 233, 244, 277 Geborgenheit 44, 86, 93, 119, 224, 232, 234 Gedächtnis 50, 58f, 154, 204 Gedanken 7, 19, 36, 38, 45, 50, 55ff, 64, 72, 82, 86, 102, 125, 127, 141, 157f, 173, 178, 180, 183, 206, 228, 250, 252, 255, 276, 292, 297f, 303, 308, 318, 330, 345 Geduld 6, 144, 149, 177, 182, 194f, 218, 224, 247, 249ff, 253, 255, 257, 259, 287, 304, 319 Gefängnis 18, 41, 54, 59, 86, 88, 102, 140, 156f, 163f, 219f, 222 Gefühle 17, 41, 50f, 57119, 154, 216, 265f, 282, 284, 286, 296, 300, 346 Gegenstände (siehe auch Güter) 65, 68, 70, 86ff, 90, 92ff, 121, 190, 283 Geheimnis 18, 39, 49, 53f, 176 Geist/geistig 20, 39, 44, 52, 79, 88f, 94, 101, 121, 124f, 144, 147ff, 153, 157, 174, 180ff, 198f, 218, 223, 230, 241, 245, 249, 305, 308, 315, 320, 331, 344 Geistlich(es), geistlich 28, 46, 111f, 114, 134, 149ff, 246, 297, 342 Geld 11, 20ff, 52, 55f, 77, 79, 81, 107, 113, 115, 130, 139, 143, 147, 149, 163, 178, 193f, 203, 207, 209, 211f, 214, 243f, 247ff, 253ff, 273, 276, 303, 307, 310, 320, 322f, 326, 331 Sachregister

Gelegenheiten 21, 26, 60, 143, 188, 195, 203, 208, 230f, 282, 326 Gemeinschaft 19, 57, 92, 100, 102, 105, 110f, 127, 130, 161, 172, 174-177, 184, 200, 205, 232f, 240, 242-245, 256, 265f, 278, 298, 312, 320, 349 Gemeinwesen 9, 69f, 96, 102, 123, 125f, 128, 161, 171f, 284, 286, 308 Gerechtigkeit 36, 98, 107, 118f, 121, 126-129, 150, 154f, 161f, 169, 173, 188, 202, 211, 218, 278, 284f, 295, 301, 312, 345, 352 Gerüchte 79, 244 gute Gesellschaft 5, 7, 29, 30f, 159, 161, 163, 165, 167fff, 174, 183ff, 199, 285f, Gesinnung 101, 147f, 150, 278, 315 Gespräch 35f, 49, 56f, 92, 96, 108f, 117, 125, 178, 183, 205, 216ff, 222, 226, 228f, 244, 250, 253, 283f, 287f, 293, 300, 313, 316, 330f, 313, 316, 330ff, 334, 337, 350 Gesundheit 14, 20f, 34, 52, 60, 86, 94f, 99, 118, 120, 149, 152, 169, 174, 195f, 212, 216, 227, 242, 246, 262, 266, 282, 322, 324, 326 Gewalt 20, 68, 77, 80, 112, 136, 164, 219, 228, 239, 273, 288 Gewinn 52, 63, 112, 142, 195, 209 Gewissen 17, 50f, 102, 123, 139, 222, 282 Gewohnheiten 23, 51, 91, 128, 130, 154f, 192, 195, 247, 249, 252, 281, 287, 289, 330340 Gier 99, 101, 111, 115, 117f, 134, 146f, 150, 163, 176, 248, 310, 322, 329f, 351 Glaube 29, 150, 230, 255, 294, 303, 312, 315, 344 Glaubwürdigkeit 54, 98, 163, 171f, 217, 333 Gleichheit 44, 97, 129, 200, 202, 204, 206, 214ff, 229, 277f, 307, 328 Gott 29, 38, 58, 68, 75, 81, 84, 111f, 130, 134, 144, 146ff, 150ff, 156ff, 173, 198, 224, 272, 299, 304, 314f, 345, 347, 351 Grenzen 12, 17f, 57, 89, 93, 95, 101, 104, 115, 124f, 129, 157, 159, 161, 164, 170, 175ff, 183, 201, 211, 213, 215ff, 219, 239, 242, 258, 300, 322, 330 Grundhaltungen 52, 71, 73f, 111, 131, 148 Güte 69, 71f, 103, 107, 185, 274 Gut/Güter 29, 49, 60, 70, 73, 85ff, 95f, 100, 106, 108f, 112, 114, 118, 135f, 146, 151, 157f, 161, 167ff, 189, 198, 212, 217, 220f, 223, 273, 276, 282ff, 286, 323, 352

365

Habgier (siehe Gier) Haltung 23, 42, 47, 50ff, 55, 66, 83, 87, 90, 107, 110, 128, 134, 147f, 154f, 216, 227, 230, 248, 266, 281f, 286, 306, 329 Handlung 30ff, 39, 59, 61, 66ff, 71, 76, 89, 108, 115, 121, 137, 139, 141ff, 154, 159, 174, 182, 187ff, 211, 226f, 250, 252, 278, 291, 301, 321, 347 Herausforderungen 22, 24f, 43, 72, 98, 109, 114, 122, 161f, 170, 176, 210, 233, 253, 255f, 259, 262, 26, 297, 318 Hierarchie 124, 243, 253 Himmel 134, 144, 146ff, 182, 197, 293, 312, 314 Hindernisse 42, 118, 124, 134, 144, 194, 199, 224, 230, 289, 252, 258f, 265f, 286, 332 Hoffnung 50, 60, 148, 174, 177, 216, 265, 282, 286, 293, 328 Höflichkeit 47, 229, 305, 326 Hunger 22ff, 38, 46, 53, 63, 79f, 82, 87, 99, 101, 151, 152, 178, 189, 244, 283, 292f, 295f, 304, 326, 342, 394, 350f Identitätsressourcen 53, 55, 56, 60ff, 70, 76, 85, 96, 116, 134, 159, 215, 227, 282ff, 286 Impact 206, 262, 306, 324 Indien 144, 235, 238f, 240, 243, 253, 262, 382 Initiativen 76, 153, 189, 218, 223, 227, 229, 234, 236, 239, 250, 255, 257, 262ff, 270, 276, 351 Innenleben 49, 51, 66, 103, 177, 249, 281, 301 Innenseite von Armut 49, 56, 240, 281 Innerlichkeit 5, 7, 9, 39, 41, 47, 49ff, 55, 57ff, 64ff, 70ff, 95f, 98, 102f, 105, 111, 114, 117f, 122, 126, 128, 130f, 157, 162f, 216, 221, 223, 228, 230, 245, 257, 281, 283f, 287, 299, 302, 304, 317, 328, 340, 348, 351f Institutionen 119, 121, 125ff, 172, 176, 196, 198, 215, 230, 253, 262, 284, 286, 318, 332, 334 intangible Infrastruktur 5, 85, 105, 118ff, 123, 125f, 206, 211, 216, 240, 243, 276, 277, 284, 287, 311, 329, 347, 351 Integration 40, 71, 72, 74, 155, 176, 168, 170, 183, 282, 292, 351 Integrität 5, 7, 54, 60, 70ff, 75f, 83, 96f, 103f, 134ff, 139, 147, 149f, 152ff, 157ff, 161, 174, 196, 202, 214f, 218, 282ff, 301, 304, 316, 320, 333, 351f

366

Interiorität 11, 41, 49, 57, 59, 117, 118, 215f, 249, 282, 286, 299 Jesus 130, 144, 146, 148, 229, 231, 270, 349 Kirche 112ff, 189, 201, 230, 274, kohäsive Versprechen 161, 171f, 199 Komplexität 47, 51, 68, 164, 218, 249, 265, 299 Konflikte 25, 56, 80, 97, 115, 196, 210, 220, 233, 249, 255, 267, 326 Kontingenz der Welt 42, 72, 138, 178, 241, 281, 323 Kooperation 70, 127, 176, 183f, 214f, 236, 260, 267, 270, 311, 328 Körper 20, 24, 66, 86, 94f, 120, 123, 143, 151, 164, 179, 181, 212, 242, 304, 307, 322, 352 Korruption 97, 100, 163, 248, 251f, 331 Krankheit 26, 44f, 54, 65, 76, 133, 136, 149, 151, 198, 218, 242, 245, 307, 310, 312, 323, 329 Kreativität 237, 259, 275f Krieg 23, 90, 98, 99, 105, 122, 139, 142, 196, 171, 195ff, 203f, 270, 272, 274f, 313, 316, 321, 326, 348, 352 Kultur 11, 13, 15f, 34, 43, 52, 56, 59, 62, 70, 72, 77, 87ff, 93f, 96, 100, 105f, 111, 120, 122, 127ff, 131, 162, 170, 172, 194f, 211f, 217f, 225, 228, 232ff, 250ff, 256, 258f, 266f, 269, 272, 275, 283, 287f, 292, 294, 299f, 302, 305, 307, 309, 323, 331, 333f, 340, 342f, 346f Lebensform 68, 74, 91, 134, 136, 150f, 175, 180, 182, 184, 202, 225, 249, 281, 298, 305, 312, 316, 344 Lebenskampf 76, 78, 83, 100, 138, 151 Lebensontologie 189, 190f, 286 Lebensqualität 109, 158, 181, 346 Lebenstiefe 158, 216 Lehrer/in 42, 177, 181, 192f, 217, 224, 241, 309, 329, 330, 330f Leid 15, 21, 23, 45, 78, 99, 112, 115, 130, 133, 135, 144f, 166, 174, 183, 188, 190, 197, 208, 228, 246, 301, 304, 310, 347 Liebe 5, 26, 74, 93, 115, 118, 122, 124ff, 144f, 152, 155, 160f, 165f, 166ff, 174f, 181ff, 194, 199, 224, 243, 270, 300, 305, 310, 313f, 317f, 320, 324, 326, 235, 343, 346, 452 Lüge 55, 97, 101, 139, 164, 297, 308 Sachregister

Macht 16, 61f, 75, 94ff, 98ff, 121, 124f, 159, 187, 199, 205, 232, 244, 256, 282f, 288, 307f, 316, 329f, 334 malum 112, 135ff, 150ff, 240, 285, 315, 352 Mangel 21f, 34, 47, 50, 60, 69, 81f, 86, 90, 101, 117, 129, 135, 144, 150f, 153, 155, 163, 170, 208, 240f, 246, 250ff, 265ff, 273f, 283, 304, 329 Menschenblindheit 76, 126, 170, 352 Menschenhandel 213, 239 Mikroebene 14, 239, 253 Mikrofinanzierung 11, 34, 218 Mindestsicherung 106, 172 Misstrauen 21f, 100f, 119, 176, 242, 263, 276, 284 Mitglied 54, 61, 96, 100, 111, 126, 128, 136, 141, 159, 161, 174, 202, 205, 209f, 219, 243, 287, 284f, 320 Möglichkeitssinn 50, 69, 154f, 187f, 212, 224f, 248, 286f, 320 Monetarisierung 212–215, 352 MT = MikroTheorien 9ff, 29, 37, 40, 218, 352 Mühe 103, 115, 153, 168, 173, 174, 177, 202, 232, 264, 249, 265, 260, 285, 312, 329f, 333 Nachhaltigkeit 110, 226, 262, 277, 311, 348 Niedriglohnsektor 65, 139, 169f, 173f, 300 Not 23, 60, 81, 108, 112f, 130, 139, 141, 156, 179, 232, 241f, 244, 246, 265, 270f, 275, 303, 335 Notwendigkeit 47, 59, 102, 107, 114, 127, 134, 165, 174, 193, 248, 265f, 270, 284f, 315, 326, 331 Ohnmacht 62, 119, 130, 133, 142, 266, 284 Ökonomie 52, 64, 85, 107f, 110f, 114ff, 127, 264, 284, 287, 395, 298, 300, 302, 327, 333, 340, 347f, 351f Opfer 36, 99f, 102, 114, 123, 192, 203, 228, 234, 313 Option 112, 140, 148f, 151, 164, 182, 185, 189, 307, 320, 331, 333, 353 Organisationen (inkl. NGOs) 34, 36, 116, 164, 171, 215, 235, 247, 249, 263, 268, 271f, 275f, 286, 288, 295, 311, 334, 344, 350 Orientierung 27ff, 40f, 123, 145, 156, 163, 189, 214, 226, 229, 278, 282 Sachregister

patient capital 257, 261 Persönlichkeit/en 40, 44, 47, 71, 73, 76f, 88, 91f, 96, 116, 139, 169, 193f, 261, 267, 302 Philanthropie 151, 261, 276 Politik 7, 14f, 33f, 85, 96, 98, 100ff, 117f, 123, 161, 215, 217, 222, 282ff, 286, 288, 291, 303, 308f, 324, 334, 337, 342, 346, 350, 352 poor work 169ff Potentiale 187, 237, 239, 256, 265, 334 praktische commitments 30 Präsenz 39f, 154ff, 160, 180, 185, 206 Prestige 16, 88, 99, 101, 119, 174, 216, 243f, 258, 284 Privilegien 5, 90, 104, 119, 145, 170, 196, 199ff, 206, 214f, 221, 248, 257, 284, 286, 323, 330 Probleme 20f, 47, 101, 109, 130, 137, 170, 195, 208, 216, 228, 233, 244, 264f, 267, 287, 318, 329 Projekte 14, 100, 130, 191, 223, 247, 250, 255, 261ff, 272, 276 Propositionen 12, 30, 37 RD = ReferenzDenken 9f, 352 Rechenschaft 37, 112, 215, 245, 258f, 261f, 333f Rechte/Menschenrechte 14, 29, 109, 112, 121, 129, 136, 171, 231, 266, 285 Redlichkeit 71, 73, 124 Reflexion 51, 57, 64, 74, 96, 102, 155, 157, 163, 174, 184f, 215f, 218, 227f, 246, 256f, 282f, 287f, 298, 316, 324, 329, 333 Reformen 97, 128, 197, 217, 300, 324, 338 Regeln 9, 12, 14, 109, 121, 125, 141f, 161, 164, 184, 220, 228, 233, 234, 268, 321 Reichtum 46, 59, 76, 115, 117, 124, 149f, 199, 203, 205, 210, 240, 310, 314f Religion 115, 163, 243f, 295, 297, 338, 345 Reputation 99f, 119, 216, 219, 284, 300, 333 Resilienz 230, 246, 306, 348 Respekt 7, 23, 25, 54, 61, 71, 126, 135f, 148, 169, 216, 219, 263, 269, 285 Responsivität 71f, 136, 282, 282 Ressourcen 27, 49, 54f, 60, 69f, 72f, 87, 96f, 100, 105, 115f, 118, 131, 161f, 166, 172, 188, 202, 212, 215f, 221, 247, 251, 276, 281ff, 286f, 323 robuste Identität 75, 131, 144, 157f, 162, 302

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Scham (siehe auch Beschämung) 22, 53ff, 63f, 81, 89, 97, 100, 147, 154, 183, 246, 250, 279, 300, 304, 313, 338, 343f, 348, 350, 352 Schande 54, 63 Schicksale 14, 17, 23, 25, 296, 318 Schönheit 5, 81, 95, 130, 138, 153, 234ff, 292, 307, 313, 315 Schulden 101, 139f, 238, 313, 330 Schule 20, 35, 54, 83, 125, 145, 176, 192f, 194, 207, 217, 220, 224, 230, 234, 244, 271, 275, 303, 319, 321, 325, 348 Schutz 41, 46, 75, 82f, 86, 93, 100, 105, 112, 136, 153, 157, 159, 161, 168, 185, 226, 243, 285f, 306 Seele 25, 41, 49, 53, 58f, 72, 103, 120, 124, 134, 137, 145, 147ff, 152, 157, 177, 230, 278, 299, 314 Sehnsucht 21f, 42, 56, 110, 130, 145, 167, 307, 319, 351 Selbstachtung 170, 74, 248, 296, 274, 302 Selbstbewusstsein 55ff, 246 Selbstdisziplin 6, 83, 103, 241, 163, 265, 267, 269, 328 Selbsterkenntnis 47, 57, 103, 223 Selbstreflexion 33, 57, 74, 96, 102, 163, 216, 227f, 256f, 283, 287f, 298, 329, 333 Selbsttransformation 33, 40, 42, 44, 277, 281 Selbstverpflichtung 69, 71, 136, 150, 235, 259, 285 Selbstvertrauen 189, 248, 264, 266f Selbstwert 56f, 300 Sicherheit 22, 33, 41, 53, 82f, 86f, 108, 138, 163, 169, 171f, 211, 242, 246, 293, 329 Sklaverei 11, 25, 76, 148, 174, 302, 314 Solidarität 72, 119, 126, 129f, 151, 189, 232, 253, 284 Sorge/starke Sorge 159, 161, 165, 216, 218 Souveränität 102, 301 Sozialkapital 204ff, 209, 211, 258f Sozialpathologien 161f, 168, 258f, 352 Spielraum 11, 51, 56f, 68, 76, 97, 139ff, 155, 170f, 187, 220, 251, 274, 314, 351 Spiritualität 6, 230, 270, 273, 275ff, 287 Sprachspiel 11, 76, Sprechakt 69, 121 Stabilität 23, 54, 62, 69, 85, 91, 113f, 123, 127f, 138, 226, 233, 262, 309, 312, 342

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»Stachel im Fleisch« 23, 42, 150, 152, 257 Status 5, 12, 14, 17, 19, 29, 35, 42, 55, 98, 100f, 104, 109, 116, 119, 121, 133ff, 152ff, 162f, 186, 189, 200ff, 204, 206, 216, 228f, 256ff, 284f, 288, 300, 308f, 313, 315, 350 Steuern 53, 113, 172, 205f, 235 Straßenkinder 40, 228f, 231ff, 326 Streben 58f, 103, 118, 152, 199, 225 Stress 45, 69, 82, 106, 133, 138ff, 150, 163, 176, 187, 264, 300, 303 System 14, 16, 23, 31, 41, 56, 78, 86, 101, 111, 116, 121, 128, 163, 189f, 217, 220, 225, 233, 252f, 264f, 266f, 275, 277, 289, 296, 301, 310, 318, 323f, 330, 341 tangible Infrastruktur 94, 120ff, 125f, 211, 216, 243, 271, 311 Tauschakt 106f 169, 212, 323 Täuschung 100f, 104 Teilhabe 161f, 166ff, 175, 249, 286, 308 Telos 96, 196, 246, 277, 288 tiefe Politik 7, 96, 101f, 161, 215, 283f, 286, 288, 352 tiefe Praxis 162, 166ff, 175, 185, 221, 286, 320 Tiefe 9, 15, 17, 31, 33, 39, 43ff, 49, 51, 57ff, 65f, 77, 85, 94, 97, 148, 155f, 158, 160, 185, 216, 231, 254, 256, 281, 289, 293, 299, 331, 351 Tradition 14, 46, 49ff, 75, 92, 95, 104, 109f, 114, 133ff, 144ff, 150ff, 197, 205, 213, 221, 237, 240f, 243, 258, 261, 264, 276, 284, 287, 309, 327ff, 334f, 348f, 351f Transformation 39f, 76, 120, 153, 162, 166, 168, 176, 182, 187, 190, 216, 227, 231, 259, 261, 277, 287, 294, 309, 319, 337, 345f Trauer 59, 155f, 243 Trauma 155, 219, 306 Tugend 30, 50, 52, 115, 144, 149f, 163, 199, 205, 224f, 234, 240, 249, 253, 279, 282, 310, 328 Übel 5, 83, 111, 133ff, 146f, 150ff, 154, 244, 285, 304, 310, 313, 351 Überfluss 146, 150, 152f Überleben 64f, 88, 100f, 122, 139f, 142, 151, 179, 181, 193, 243, 270, 317, 326, 340 Überzeugungen 29ff, 50ff, 71, 73, 95f, 99, 107, 126, 128f, 146, 154f, 207, 210, 216, 218f, 224, Sachregister

231, 233ff, 237, 239, 241, 246, 250, 259, 261, 282f, 286, 298, 306, 312, 319, 330 Unfrieden 21f, 79, 83, 138 Ungerechtigkeit 127, 133, 151, 161f, 174, 202, 214, 286, 298, 312 Ungleichheiten 52, 119, 126, 129, 133, 138, 142, 150, 163, 165, 198, 202, 206, 212ff, 216, 228, 277, 284, 300, 323, 338, 348 Unglück 96, 124, 150, 162, 234 Unmenschlichkeit 18, 136, 162, 230, 232, 285, 298 Unrecht 42, 112, 154 Unterscheidungen 15, 31ff, 54, 86, 129, 159, 200f, 212, 241, 252, 269, 281, 300, 312, 331, 334 Unterstützung 78, 80, 92, 96, 112, 159f, 175ff, 188, 193ff, 199, 234, 239, 243f, 261ff, 267, 277f, 284, 321 Unversehrtheit 71f, 76, 157, 282 Unverwundbarkeit 43, 72 Unzufriedenheit 82, 135, 151f, 173, 230, 300 Urteil 20, 31ff, 40, 47, 50, 58f, 64, 67, 71, 101, 103, 127, 154, 156, 163, 201, 223, 228, 240, 243, 278, 279, 282, 293, 297, 306, 316 Utopien 55, 99, 154, 292, 320 Verachtung 62, 144, 229 Veränderung 5, 13f, 16, 21, 25, 27, 32, 53, 60, 67f, 75, 85, 87, 116, 139, 154, 156, 165, 166, 171, 187, 190ff, 212, 216, 226, 235, 238f, 241, 247ff, 256, 268, 286, 289, 328, 332, 351 Verantwortung 19, 74, 83, 96, 102ff, 112, 138, 141, 158, 178, 193, 195, 217ff, 223, 226ff, 231f, 251f, 254, 258f, 262, 268, 283, 287, 329, 333 Vergleichen 9, 19, 32f, 38f, 56, 80, 83, 91, 93, 107, 155, 159, 162, 200, 218, 241, 278, 327 Verlässlichkeit 62, 70, 184, 211, 228, 233, 271, 287 Verletzbarkeit, Verletzlichkeit 42, 72, 93, 129f, 135, 185, 192, 214, 251f, 274, 281, 285, 320, 325 Verlorenheit 44f, 53, 93, 153, 155, 164, 181, 308, 314, 343f Verlust 51, 56, 63, 90, 92, 97, 113, 146, 155, 162f, 178, 182, 185, 195, 255, 257, 300, 305, 327, 351 Sachregister

Vermögen 18, 28, 47, 50, 58f, 72, 77, 118f, 121, 129f, 145, 149, 154, 163, 187f, 190f, 203f, 207, 211, 214, 227, 251, 276ff, 282, 310, 313, 314f, 321, 352 Vernunft 47, 68, 73, 94, 120, 125, 145, 158, 190, 242, 252, 298, 301, 307, 316 Verpflichtungen 10, 30, 37, 71, 74f, 96, 104, 121, 126f, 134, 154, 205, 217, 226, 243, 256, 259, 265, 271, 276, 301, 311, 320 Verrohung 80, 83, 170, 246 Versagen 56, 63, 252 Versprechen 37, 51, 62f, 68ff, 83, 127f, 136, 161, 171f, 174, 194, 199, 226, 236, 282, 285, 352 Verstand 35, 59, 261 Vertrag 56, 66, 69f, 119, 127f, 171f, 203, 206, 254, 268, 312, 334, 350 Vertrauen 6, 21, 44, 63, 69f, 98, 106f, 111, 119, 126ff, 148, 151, 164, 172, 189, 194f, 204f, 211, 214, 216f, 219, 226, 228, 243, 245, 248, 258, 261, 263, 267, 269, 284, 287, 289, 308, 312f, 317, 323, 332, 342 Verwundbarkeit 11, 14, 42ff, 72, 76, 123, 133, 171, 185, 199, 202, 242, 281, 289, 320, 324, 351 Verzweiflung 21f, 44, 82, 140, 293, 296, 302 Vorstellung 17, 20, 48, 50, 52, 56, 64, 69, 73, 75f, 94, 97, 105, 108, 115, 119, 121, 126ff, 139f, 142, 154f, 163, 167, 181, 184, 187, 191, 198, 216, 221, 241, 246f, 269, 282, 284, 286f, 320, 329 Vortheorie 10, 12f, 18ff, 33 Vorurteile 57, 67, 219, 231, 266, 324 Wachstum 51, 86, 103, 112, 118, 198f, 225, 239, 302, 309f, 343, 348 Wahrheit 17, 19, 36, 47, 96, 101, 161, 175, 178, 283, 299, 301, 308, 337, 342, 350 Wahrnehmung 13, 24f, 54, 57, 66ff, 71, 88, 126ff, 164, 191, 223f, 241, 252, 264, 268, 329 Weisheit 27ff, 115, 117, 146, 195, 199, 295, 337 Wert/e 20, 26, 48, 52, 69, 85ff, 91f, 95ff, 105, 108ff, 114f, 117ff, 127, 129f, 157f, 173, 179ff, 195, 198, 201f, 207f, 213ff, 220, 224f, 232, 245f, 249, 264, 266, 268, 277f, 282ff, 286, 299, 307, 310, 313, 319f, 333, 340, 352 wholeheartedness 71, 74 Widerstand 39f, 86, 101, 110, 123, 154ff, 180f,

369

195, 246, 248, 277, 296, 299, 305, 316, 325, 332, 338 Wille 32, 50, 58f, 68, 74, 119, 149, 155, 188, 198, 218, 235, 256, 282, 284, 308, 326, 329 Wirtschaften 34f, 52f, 97, 105ff, 169, 197f, 203, 213, 236, 244, 250f, 258, 264, 284, 298, 308ff, 343, 346, 348, 351f Wissen 5, 7, 10ff, 17, 19ff, 26ff, 31ff, 41ff, 49, 69, 71ff, 76f, 79, 88, 91, 96, 118ff, 129f, 145, 158, 191, 204, 210, 214, 216, 218, 240, 247, 249, 251f, 255, 269, 273, 278, 281ff, 287ff, 291, 294, 302f, 320, 330, 332, 343, 348ff Wissensmangel 252 Wohlstand 90, 105, 142, 243, 246f, 249, 300, 334, 337 Wohlwollen 7, 22, 113, 189, 195 working poor 169, 171ff, 263, 347, 352 Wünsche 20, 50, 51f, 65, 74, 76, 89, 95, 109, 115, 121, 127, 157, 216, 235, 238, 286f, 312, 328, 329, 330 Würde 65, 88, 130, 248, 302, 313

370

»Wunde des Wissens« 5, 43, 44, 47, 72, 73, 76, 122, 281f, 289, 302 Wunden 5, 43, 45, 72, 98, 123, 124, 130, 159, 181, 183 Zeit 17, 23f, 26f, 47, 54f, 66, 85, 93, 106, 115, 117, 124, 145, 156, 160, 200, 204f, 210, 213, 229, 233, 242, 249, 256, 275, 297, 325, 328, 339 Zerbrechlichkeit 27, 47, 61, 69f, 176, 183, 249 Zerbrechlichkeitsfrage 43f, 46, 72, 74, 215, 281, 323 Zorn 54, 155, 293, 298, 314, 324, 348 Zugehörigkeit 11, 19, 54, 61, 64, 87, 91, 116f, 159, 177, 189, 243, 261, 282, 306, 307 Zuhören 253, 261, 269 Zurückweisung 35, 44, 71, 126, 185, 267 Zusammenarbeit 105, 199, 226, 235, 330, 332, 338 Zuverlässigkeit 26, 115, 128, 177, 204, 310 Zwang 90, 99, 103, 140, 222, 266, 277 zweite Integrität 72, 215, 282, 351

Sachregister

ERNST BRUCKMÜLLER (HG.)

ARMUT UND REICHTUM IN DER GESCHICHTE ÖSTERREICHS

Der Band knüpft an aktuelle Diskussionen an. Es geht dabei um inhaltliche, vor allem aber zeitliche Vertiefungen: Wann galt wer weshalb als „arm“ bzw. „reich“? Welche Veränderungen können wir diesbezüglich vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart feststellen? Hat die Industrielle Revolution tatsächlich eine neue Armut hervorgebracht – oder nicht vielmehr historisch erstmals die Überwindung massenhafter Ressourcenknappheit? Wie verschoben sich durch den Ersten Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg die Dimensionen von „Armut“ und „Reichtum“? Beiträge von Helmut Bräuer, Ernst Bruckmüller, Alfred Damm, Gerhard Jaritz, Gerhard Melinz, Peter Melichar, Martin Schenk, Hannes Stekl, Sabine Veits-Falk, Gudula Walterskirchen. 2010, 238 S. BR. 135 X 205 MM. ISBN 978-3-205-78304-6

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar

SIMONE KREHER (HG.)

VON DER „LEUTENOT“ UND DER „NOT DER LEUTE“ ARMUT IN NORDOSTDEUTSCHLAND

Das Buch erzählt die Geschichte eines Landstriches, der schon immer von Armut geprägt war. Jene Region, die Max Weber in seiner berühmten Studie über die Lebensverhältnisse der ostelbischen Landarbeiter untersuchte, wird dabei in historisch langfristiger und räumlich breiter Perspektive dargestellt, empirische Befunde zur Bevölkerungsentwicklung, zu wohlfahrtsstaatlichen Politiken, Bildungs- und Beschäftigungsstrukturen, zur gesundheitlichen Lage und zu den langlebigen familialen Handlungsmustern erhoben. Sowohl eine eindringliche Fallstudie zur Lebensführung in Ostvorpommern als auch eine empirisch fundierte Gesellschaftsanalyse zu sein, sind die Anliegen des Bandes. 2012. 375 S. ZAHLR. TAB. UND GRAFIKEN, 4 FARB. KT. GB. 170 X 240 MM ISBN 978-3-205-78464-7

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