Armut auf dem Lande: Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 9783205784951, 3205784952

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Armut auf dem Lande: Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
 9783205784951, 3205784952

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Armut auf dem Lande Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts

Herausgegeben von Gerhard Ammerer, Elke Schlenkrich, Sabine Veits-Falk und Alfred Stefan Weiß

Helmut Bräuer gewidmet

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch:

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg Amt der Niederösterreichischen Landesregierung MA 7 - Kulturamt der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78495-1 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Layout und Satz: Mag. Herbert Moser, Salzburg Druck: Prime Rate kft., Budapest

Inhaltsverzeichnis

Einführung der Herausgeber/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Helmut Bräuer Armenmentalität in der Frühen Neuzeit – Annäherungen an ein komplexes Thema aus sächsischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Gerhard Ammerer Die „Betteltour“ – Aspekte der Zeit- und Raumökonomie nichtsesshafter Armer im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Otto Ulbricht Bettelei von Frauen auf dem Land in den Herzogtümern Schleswig und Holstein (1770–1810) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Sabine Veits-Falk Am Rand der Armut – Pädagogisierung „dienender Frauen“ in Salzburg im 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Sebastian Schmidt Armut und Armenfürsorge im frühneuzeitlichen England: Das Beispiel der Grafschaft Essex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Elke Schlenkrich Armenversorgung im ländlichen Raum Sachsens im 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . 143 Christina Vanja Krankheit im Dorf – ländliche Wege des „coping with sickness“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Alfred Stefan Weiß „… schlechter als ein Hund verpflogen …“. Organisation, Alltag und Leben. Kleinstädtische und ländliche Hospitäler der Frühen Neuzeit in den Herzogtümern Kärnten und Steiermark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Martin Scheutz Zum Transfer von städtischer Wiener Altersarmut auf das Land – das Wiener Versorgungshauswesen und seine ländliche Außenposten Mauerbach, St. Andrä und Ybbs an der Donau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Verzeichnis der Mitarbeiter/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Einführung

Welchen Reichtum historische Armutsforschung – unter Einbeziehung des Bettels als besonders krasser Erscheinungsform von Armut – zu bergen vermag, davon legen insbesondere die im Verlauf der vergangenen vier Dezennien erzielten Forschungsergebnisse ein beeindruckendes Zeugnis ab1. Es ist vor allem ein Reichtum, der sich in der Vielfalt der thematischen und methodischen Ansätze und Zugänge, in die unter anderem Impulse aus der Kulturgeschichte, der Historischen Anthropologie und Kriminalitätsforschung sowie der Sozialgeschichte der Medizin hineinwirkten und die Einblicke in das komplexe Phänomen der Armut erweiterten. Zweifelsohne zählt Armut zu den großen und wichtigen historischen Themen, wobei in der Forschung darüber Konsens besteht, dass Armut kein statischer, sondern ein relativer Begriff ist, der in jeder Epoche eine andere Bedeutung hat und, eingebettet in den jeweiligen politischen, ökonomischen, sozialen und mentalen Kontext, vielerlei Abstufungen kennt2. Die Ursachen für Armut waren und sind vielfältig: Auswirkungen von gesellschaftlich bedingten oder aufgrund natürlicher Ursachen entstandener Krisensituationen, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Schulden, Kinderreichtum, Auseinanderbrechen familiärer Strukturen etc. führten in der Vergangenheit und führen in der Gegenwart in die Armut bzw. wirk(t)en als Katalysator für die Beschleunigung von Verarmungsprozessen3. Ebenso vielfältig wie ihre Ursachen sind die „Gesichter“ von Armut. Ein komprimiertes Abbild des mittlerweile erreichten Forschungsstandes zur historischen Armut hat nunmehr auch Eingang in die „Enzyklopädie der Neuzeit“4 gefunden, die als größtes interdisziplinäres Publikationsprojekt deutscher Frühneuzeitforschung gilt. Mit Blick auf eine Annäherung an die Armutsthematik lässt sich bereits seit der Frühen Neuzeit eine steigende Intensitätskurve verzeichnen. So beschäftigte sich etwa seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert der Reichstag mit der Problematik. Darüber hinaus begann in den Territorien des Alten Reichs eine Flut an gedruckten Verordnungen, Mandaten und Patenten einzusetzen, deren Inhaltsschwerpunkte Umgangsbestimmungen mit Armut und Bettel ausmachten. Ebenso nahmen sich zeitgenössische Humanisten, Theologen und theologisch orientierte Sozialreformer der Armutsproblematik an. Sie analysierten und bewerteten das Armenproblem, suchten nach Lösungen und unterbreiteten den städtischen Regimentern Lösungsvorschläge: beispielsweise Geiler von Kaysersberg für Straß-

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Die Herausgeber/innen

burg oder Martin Luther für Wittenberg und Leisnig. Seit dem 17. Jahrhundert knüpften dann kameralistische Autoren (Becher, Marperger, Krafft, Justi u. a.) an diese ersten im 15. und 16. Jahrhundert entwickelten Konzepte an, wobei dem Arbeitsgedanken bzw. der Arbeitsbeschaffung eine signifikante Bedeutung zugemessen wurde. Vor dem Hintergrund eines Perspektivenwechsels, mit dem der Blick auf die großen Darstellungen zur Armut gelenkt wird, sind die im ausgehenden 19. Jahrhundert publizierten umfangreichen Abhandlungen Georg Ratzingers5 und Gerhard Uhlhorns6 zu nennen. In den 1970er-Jahren setzte die „moderne“ sozialgeschichtliche Behandlung des Themas Armut ein. Das war mitnichten ein Zufall, sondern wird vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1973 und des Aufkommens der so genannten Neuen Armut besonders transparent. Nimmt man zugleich die Folgen der ökonomischen Entwicklung seit den 1990er-Jahren in den Blick, zu deren Charakteristika etwa die uneingeschränkte Freiheit des Marktes, ein neoliberaler Wirtschaftskurs mit Börsenspekulationsgeschäften usw. zählen, dann wird die Aktualität und vor allem auch die Brisanz der Thematik besonders augenfällig, hat sich doch im Zuge der sich weltweit durchsetzenden neoliberalen Marktwirtschaft die Schere zwischen Arm und Reich enorm vergrößert und werden immer breitere Bevölkerungsschichten von Armut erfasst und in den Sog der Abstiegsspirale gezogen. Wenn im Folgenden einige wesentliche Entwicklungstendenzen der Armutsforschung seit den 1970er-Jahren grob konturiert werden sollen, dann ist für die frühen Arbeiten zunächst festzuhalten, dass hier Massenarmut vor allem im Zusammenhang mit Versorgungskatastrophen bzw. Hungersnöten gesehen wurde7. Zeitgleich begann sich seit den 1970er-Jahren ein weiterer Trend abzuzeichnen, der zu einer Weitung des Blickwinkels und der Themen führte, indem man damit begann, Randgruppen, Vagierende, Migrierende, Bettler und Bettlerinnen sowie deren Lebenswelten gezielt in die Forschungen einzubeziehen8. Dabei kann auf einen weit gespannten Untersuchungsbogen geblickt werden, der sich in bruchstückhafter Auswahl unter anderem aus dem Bettelwesen in der Schweiz9, Bettlern und Gaunern in Franken10, der Welt eines Bettlers um 177511, Bettlervisitationen in Niederösterreich12 und Vaganten im Österreich des Ancien Régime13 zusammensetzt. Darüber hinaus erschienen vor allem seit den 1980er-Jahren größer dimensionierte zusammenfassende Darstellungen, für die Autoren wie Michel Mollat14, Christoph Sachße/ Florian Tennstedt15, Bronisław Geremek16, Robert Jütte17, Wolfgang von Hippel18 und Martin Rheinheimer19 stehen. Nicht zuletzt wurde in den vergangenen Jahren auf der Basis umfangreicher archivalischer Grundlagenforschung ein bemerkenswerter Erkenntniszuwachs auf einem der „klassischen“ Themenfelder der Armutsforschungen erzielt, der Institution(alisierung) der geschlossenen Armenfürsorge. Es erschien eine große Anzahl an Monografien und Sammelbänden zu den verschiedenen Spitalstypen, den Armen-, Findel-, Waisen-, Zuchtund Arbeitshäusern sowie den Armenschulen. Neben der „äußeren“ Sicht auf diese Häuser der Verwahrung, d. h. auf Verfassung, Verwaltung und Wirtschaft dieser Einrichtungen, wurde nunmehr auch damit begonnen, verstärkt die Binnenstrukturen in diesen Institu-

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tionen in den Blick zu nehmen, wobei insbesondere nach den Insassen (inklusive Dienstpersonal) und deren Beziehungen zueinander gefragt wird20. Im Rahmen der Armutsforschung, die inzwischen längst zu einem anerkannten Teilgebiet der Geschichtswissenschaft avanciert ist, nehmen die in bemerkenswerter Anzahl im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte vorgelegten Studien, die aus der Schreibwerkstatt des sächsischen Armutsforschers Helmut Bräuer21 stammen, einen festen und international anerkannten Platz ein: Im Jahr 1991 hatte Helmut Bräuer zunächst ein Forschungskonzept zur Armut im vorindustriellen Sachsen vorgestellt22, das jedoch aufgrund gravierender Forschungsdefizite für die obersächsische Region im Vergleich mit dem bis dahin für den mitteleuropäischen Raum erreichten Forschungsstand in dieser Form nicht umgesetzt werden konnte. Das machte eine Modifizierung des Arbeitsprogramms erforderlich, um den defizitären Forschungsgegebenheiten Rechnung zu tragen. Letztlich fiel die Entscheidung auf ein sachthematisches Inventar23, um so eine möglichst breite Übersicht über die themenrelevanten Quellen zur Verfügung zu stellen. Zudem waren Bräuers Forschungsinteressen vor allem auf Bettler und Bettlerinnen24 – unter Erweiterung des Blickwinkels über die obersächsischen Perspektiven hinaus – gerichtet. In den letzten Jahren galt seine wissenschaftliche Neugier verstärkt der Mentalität armer Leute25. Die Ergebnisse der Bräuerschen Annäherungen an die Armenmentalität sind mittlerweile auch in einem beispielgebenden Essay-Band26 nachzulesen. Die vom 24. bis 27. September 2008 in Salzburg stattgefundene Tagung „Armut auf dem Land in Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“, auf deren Beiträgen der vorliegende Sammelband gründet, stand in Themenwahl und Zeitplanung in enger Beziehung zu Helmut Bräuer. Dessen 70. Geburtstag sollte den Anlass dafür bilden, die Verdienste und das Wirken des Jubilars in der Armutsforschung angemessen zu würdigen. Das Tagungsthema wurde bewusst auf den ländlichen Raum fokussiert, sind doch für diesen im Vergleich zu dem für die Städte erreichten Stand der Untersuchungen noch erhebliche Forschungslücken zu schließen. Untersuchungen, die sich dezidiert mit Armut auf dem Land befassen und die vor allem darauf abzielen, den Zusammenhang zwischen Armut, Fürsorge, Armenpolitik und sozialem Wandel in ländlichen Gebieten zu erforschen, waren bis vor wenigen Jahren noch die Ausnahme27. Als Grund hierfür wurde immer wieder auf die disparate Aktenlage verwiesen, wobei der Quellenwert von Bildern noch kaum „entdeckt“ worden ist28. Darüber hinaus mochten der Forschung vor dem Hintergrund agrarromantischer Vorstellungen Armutsphänomene im ländlichen Raum im Gegensatz zur Stadt als weitaus weniger Existenz bedrohend erscheinen, weswegen sie nicht den Aufmerksamkeitshorizont auf sich zogen. Wie unzureichend der Forschungsstand noch vor wenigen Jahren war, spiegelt sich paradigmatisch in einem kurzen Abschnitt zum Armsein im Dorf in der Überblicksdarstellung von Werner Troßbach und Clemens Zimmermann zur Geschichte des Dorfes wider29. Vor allem seit der Einrichtung des Sonderforschungsbereiches 600 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusions-

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formen von der Antike bis zur Gegenwart“ an der Universität Trier und speziell mit dem Teilprojekt B 5 „Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philanthropie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter – Poverty in Rural Regions between Welfare Politics, Charity and Self-Help during the Industrial Age (1860–1975)“ wurde in jüngster Vergangenheit ein maßgeblicher Durchbruch hinsichtlich der Erforschung der Armut auf dem Land erzielt30. Das Projekt verfolgt ein umfangreiches Arbeitsprogramm, das an die Überlegungen der Mikro- und Alltagsgeschichte anknüpft, wobei das Interesse vordergründig der sozial- und kulturhistorischen Rekonstruktion der Lebenswelt und der Überlebensstrategien armer und bedürftiger Menschen gilt. Hierbei wird mittels lokaler und regionaler Fallstudien darauf abgezielt, das Sozialprofil ländlicher Unterstützungsempfänger zu ermitteln und die Praxis kommunaler Armenfürsorge sowie das Angebot privater Wohlfahrtspflege zu untersuchen. Darüber hinaus wird dem Aspekt der Wahrnehmung von Armen innerhalb kleinräumiger Strukturen in landwirtschaftlich geprägten Regionen Westeuropas nachgespürt31. Inzwischen liegen zu diesem Themenkomplex mehrere Arbeitsergebnisse vor, mit denen insbesondere für den Zeitraum von der Mitte des 19. bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts maßgebliche Forschungslücken geschlossen werden konnten und die zudem anregende Impulse für weitere Untersuchungen vermitteln. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die Studien von Inga Brandes32, Katrin Marx-Jaskulski33 und Martin Krieger34 zu verweisen, überdies auf die außerhalb des Trierer Sonderforschungsbereiches jüngst von Eva-Maria Lerche vorgelegte volkskundliche Dissertation zur Lebenswelt heimatloser Armer35. Diese hier grob skizzierten neuen Wege zur Armutsforschung auf dem Land wurden auch während der Salzburger Tagung in den von österreichischen und deutschen Armutsforschern präsentierten Beiträgen beschritten und weiter verfolgt. Die im Tagungsband versammelten Studien, die unter anderem auch Teil- bzw. Zwischenergebnisse aus in Arbeit befindlichen Forschungsprojekten zur Diskussion stellen, leisten weitere wichtige Beiträge für die Vermessung des weiten Forschungsfeldes „Armut auf dem Land“. Hierbei reicht im Tagungskontext die zeitliche Spannweite vom Spätmittelalter bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts. Hinsichtlich der zu untersuchenden Räume werden Forschungssonden in der Grafschaft Essex, den Herzogtümern Schleswig und Holstein, in Hessen und Sachsen (nebst inkorporierter Oberlausitz) gelegt und darüber hinaus in (Nieder-)Österreich, im Land Salzburg sowie in den Herzogtümern Kärnten und Steiermark. Dabei schweift durchaus an gegebenen Stellen der vergleichende transregionale Forscherblick über die Grenzmarkierungen des jeweils abgesteckten Untersuchungsraumes hinaus. Trotz ihrer forschungsgeografischen und zeitlichen Differenziertheit weisen die Tagungsbeiträge erhebliche gemeinsame Schnittmengen auf: Deren geistige Urheberinnen und Urheber haben einen Perspektivenwechsel hin zu den Lebensumständen der Betroffenen vollzogen, indem sie einen subjektzentrierten und mikrohistorisch orientieren Untersuchungszugang wählten, sich ein umfangreiches Quellenkorpus zur Beantwortung ihrer forschungsleitenden Fragen zu Nutze machten, das normative Bestimmungen, quantifizierbares Material, Verhörprotokolle, Supplikationen und Gutachten enthält. Sie kombi-

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nieren sozial- und kulturhistorische Auswertungsmethoden miteinander, um so die Lebensumstände und Überlebensstrategien, die Erfahrungen und Handlungs(spiel)räume der armen Leute inklusive der Bettler und Vaganten auszuleuchten. In seiner Struktur ist der Tagungsband so angelegt, dass er zunächst einleitend einen themenübergreifenden Beitrag von Helmut Bräuer (Leipzig) präsentiert, mit dem er Annäherungen an die Armenmentalität vornimmt. Hierbei ist sich Bräuer durchaus bewusst, dass es kein leichtes Unterfangen ist, die Mentalität armer Leute zu erforschen, andererseits kritisiert er zu Recht die geringe Zugriffsbereitschaft der Mentalitätsforschung auf das Thema – trotz eines nicht zu übersehenden quantitativen Armenübergewichts. Im Rahmen des Beitrages werden Quellensituation und -struktur hinsichtlich der Untersuchungssubjekte analysiert, Quellenkorpus und Quellenkritik in den Blick genommen sowie die Begriffe Arbeits- und Landarmutsmentalität diskutiert. Die hierauf anschließenden Studien von Gerhard Ammerer und Otto Ulbricht konzentrieren sich auf die nicht sesshafte Armut – Bettlerinnen und Bettler, Vagantinnen und Vaganten. Darüber hinaus ist ihren Ausführungen gemeinsam, dass die Analysekategorie gender besondere Aufmerksamkeit findet. Der Beitrag von Gerhard Ammerer (Salzburg) ist zunächst einmal in der Forschungskonjunktur zu verorten, die gegenwärtig für den Raum zu konstatieren ist. Er beschreibt die Zwänge des vagierenden Lebens und die Anpassung an sich laufend ändernde Verhältnisse als variierende Beziehungen von Nichtsesshaften und Sesshaften mit jeweils unterschiedlich ausgeprägten Motiven und Interessen. Der physische und soziale Raum der Straße, des Hofes und des Dorfes überschnitten sich auf der Ebene der frühneuzeitlichen Mangel- und Surrogatwirtschaft. Der Autor geht zudem der Frage nach, ob die Nutzung der spezifischen Bettelreviere durch die nichtsesshaften Armen möglicherweise zumindest eine gewisse Zugehörigkeit zu einem Raum konstituierten oder vielleicht neben Vorstellungen von Sicherheit und Sättigung ein gewisses Geborgenheits-, vielleicht sogar Heimatgefühl hervorrufen konnten. Explizit stellt Otto Ulbricht (Kiel) Frauen und deren schwierig zu fassende Bettelei auf dem Land in das Zentrum seiner Betrachtungen, wobei er seinen Forschungsrahmen mit dem ländlichen Raum der Herzogtümer Schleswig und Holstein absteckt. Es sind vor allem drei zentrale Punke, denen Ulbricht in seiner Fallstudie nachgeht. Er untersucht das Verhältnis der interimistisch bzw. ausschließlich bettelnden Frauen zu der sie umgebenden ländlichen Gesellschaft, wobei er mit dem Begriffspaar Duldung und Integration operiert, des Weiteren analysiert er die Besonderheiten, die weibliches Betteln ausmachten und zudem fragt er nach Gründen für die Ausgrenzung von üblicherweise geduldeten Bettlerinnen und durchleuchtet Ursachen, die Frauen in den Bettel führten. Mit Frauenbildern und Geschlechterzuschreibungen, die das weibliche Unter- und Nachgeordnetsein kultivierten und Verarmungsprozesse begünstigten, setzt sich Sabine Veits-Falk (Salzburg) auseinander. Anhand von pädagogischen, zum Teil direkt an „dienende Frauen“ adressierten Salzburger Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert sie als „typisch weiblich“ propagiertes Rollenverhalten und zeigt mögliche daraus resultie-

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rende spezifisch weibliche Armutsrisiken auf. So führten zum Beispiel ein hoher Anpassungsdruck, Selbstverleugnung, der Verlust der „weiblichen Ehre“ und der Verzicht von Frauen auf eigene Bedürfnisse und Ansprüche zu eklatanten Benachteiligungen hinsichtlich der Erwerbstätigkeit. Verstießen Frauen gegen diese Codes, verschlechterten sich auch ihre Chancen auf Armenunterstützung. Die hieran anschließenden Fallstudien von Sebastian Schmidt und Elke Schlenkrich thematisieren die Praxis von Armenfürsorge vor Ort und beziehen darüber hinaus zum einen Seitenblicke auf Bettler und Vaganten und zum anderen Binneneinsichten in Gemeindearmenhäuser in ihre Ausführungen ein. Mittels des Beitrages von Sebastian Schmidt (Trier) werden die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches überschritten und der Blick auf England respektive auf die Grafschaft Essex als Fallbeispiel gerichtet. Dort lebte ebenso wie im Alten Reich des 17. und 18. Jahrhunderts ein Großteil der Menschen an der Armutsgrenze bzw. in Armut. Allerdings gab es einen signifikanten Unterschied: In Folge gesetzlich festgeschriebener Verpflichtungen begann sich in England bereits seit dem 16. Jahrhundert ein Fürsorgesystem auf lokaler Ebene herauszubilden. Den Schwerpunkt seiner Ausführungen legt Schmidt auf die Gemeinde Braintree, an deren Beispiel er schlaglichtartig die lebensweltlichen Kontexte der Armen untersucht, die mittels der öffentlichen Gemeindefürsorge unterstützt wurden. Darüber hinaus zeichnet er auf der Grundlage von Verhörprotokollen aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein Bild von Bettlern und Vaganten. Am Beispiel ausgewählter Herrschaftskomplexe in den sächsischen Erblanden (Grundherrschaft) und der Oberlausitz (Gutsherrschaft) befasst sich Elke Schlenkrich (Frankfurt/Oder) mit Transformationsprozessen im ländlichen Armenversorgungswesen des 18. und 19. Jahrhunderts. Hierbei analysiert sie traditionelle Fürsorgeformen und die gewährten Unterstützungsleistungen. Ferner erörtert sie die sich seit den 1830er-Jahren vollziehenden Veränderungen bei der ländlichen Armenfürsorge. Ihr Interesse gilt insbesondere Dorfarmen mit ihren Individualschicksalen, den Ursachen für die Unterstützungsbedürftigkeit sowie Altersstrukturen und dem sozialem Status. Darüber hinaus beschreibt sie aus der Binnenperspektive den Alltag in ausgewählten Gemeindehäusern und lotet die Handlungsspielräume einzelner Insassen dieser Häuser aus. Im Zentrum des letzten Beitragsblockes stehen ausschließlich Einrichtungen der geschlossenen Armenfürsorge. Christina Vanja (Kassel) wendet sich einem Thema zu, das bislang in der Agrar- und Dorfgeschichte noch selten Interesse gefunden hat: der Krankheit im Dorf. Vor dem Hintergrund der seit den 1530er-Jahren begonnenen Installation eines Netzwerkes sozialer Fürsorgeinstitutionen (Hohe Hospitäler) in Hessen, wobei 4.000 Aufnahmevorgänge für den Zeitraum von der Mitte des 16. Jahrhunderts erhalten geblieben sind, von denen wiederum zwei Drittel die ländliche Bevölkerung betreffen, stellt Vanja die im Zusammenhang mit der Bitte um Hospitalaufnahme entstandenen Supplikationen und deren Quellenwert für die Patientengeschichte bzw. die darüber möglichen Zugänge zum Krankheitsgeschehen und dessen Folgen in den Mittelpunkt ihres Beitrages.

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Der Aufsatz von Alfred Stefan Weiß (Salzburg) gründet auf Forschungen im Rahmen eines mittelfristig angelegten Projektes, in dem er aus vergleichender Perspektive frühneuzeitliche Hospitäler der Herzogtümer Kärnten und Steiermark sowie des Erzstifts Salzburg untersucht. Ausgehend von der Tatsache, dass die Aufnahmekapazitäten der von ihm erforschten Hospitäler nicht vergleichbar sind mit Großanstalten wie beispielsweise Wien oder Nürnberg, weswegen in den Hospitälern seiner Untersuchungsräume auch kein Pfründenerwerb üblich war, wendet sich Weiß verschiedenen Alltagsaspekten in diesen Einrichtungen zu, indem er auf der Grundlage der Rechnungsüberlieferung, der Inventare etc. Einsichtnahmen in exemplarisch ausgewählte Hospitäler vornimmt. Darüber hinaus kontrastiert er an Beispielen die Norm mit der Praxis. Den Tagungsband beschließt Martin Scheutz (Wien) mit Ausführungen, in deren Zentrum die ländlichen Außenposten des Wiener Versorgungshauswesens stehen. Hierbei handelt es sich um einstige Klosterräume, die im Zuge der josephinischen Klosteraufhebungen als Verwahrräume in das Versorgungswesen integriert wurden. Den Rahmen seiner Untersuchung markieren gleich mehrere armenfürsorgerische Modernisierungsaspekte wie die Errichtung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien (1784), die Nutzung der Eisenbahn für den Transport von Pfründnern, die mit dem Heimatgesetz gesetzlich definierte Fürsorgepflicht der Heimatgemeinde sowie Medikalisierungs- und Professionalisierungsprozesse im Rahmen der Armen- und Krankenbetreuung. Zum einen skizziert Scheutz diese Entwicklungstendenzen, zum anderen richtet er sein besonderes Interesse auf die Insassen dieser Außenposten, wobei er deren Sozial- und Berufsstruktur in den Blick nimmt, von den Pfründern begangene Delikte analysiert und darüber hinaus nach deren Todesursachen fragt. Wir wünschen Helmut Bräuer, dem dieser Band gewidmet ist, viel Vergnügen beim Lesen sowie den Rezipienten einen möglichst großen Erkenntnisgewinn und hoffen, denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die sich zukünftig mit der Geschichte der Armut (im ländlichen Raum) beschäftigen werden, mit unseren Beiträgen einige Anregungen gegeben zu haben.

Salzburg, Frankfurt/Oder, Sommer 2010

Die Herausgeber/innen

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Anmerkungen 11 D  etailliertere Analysen des Forschungsstandes, die weit über die in diesem Einleitungsbeitrag präsentierten Streiflichter hinausgehen u. a bei Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29), Wien-München 2003, S. 39–47; Martin Scheutz, Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jahrhunderts (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 34), St. Pölten 2003, S. 15–26; Christoph Kühberger, Clemens Sedmak (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung (Geschichte, Forschung und Wissenschaft 10), Wien 2005; vgl. jüngst auch: Ernst Bruckmüller (Hg.), Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs (Österreich Archiv. Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), WienMünchen 2010. 12 Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 34), München 1995, S. 3. 13 Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut, Weimar 2000, S. 28–57. Jütte differenziert in diesem Zusammenhang nach Schicksalsschlägen sowie zyklischen und strukturellen Ursachen. 14 Enzyklopädie der Neuzeit, hg. von Friedrich Jäger, Bd. 1, Stuttgart-Weimar 2005, Artikel Altersarmut, Armen- und Bettelwesen, Armenpflege, Armut, Armutskulturen, Frauenarmut. 15 Georg Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege, Freiburg i. Br. 21894. 16 Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit, Stuttgart 21895. 17 Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis, Hamburg-Berlin 1974. 18 Aus der Fülle der einschlägigen Publikationen u. a. František Graus, Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 385–437; Franz Irsigler, Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt, Köln 1300–1600, München 31990; Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.), Randgruppen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Ein Hand- und Studienbuch, Warendorf 1990; Carsten Küther, Menschen auf der Straße. Vagierende Unterschichten in Bayern, Franken und Schwaben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 56), Göttingen 1983. 19 A nne-Marie Dubler, Armen- und Bettlerwesen in den Gemeinen Herrschaften „Freie Ämter“ (16.–18. Jahrhundert), Basel 1970. 10 Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt/Aisch 1983. 11 Otto Ulbricht, Die Welt eines Bettlers um 1775. Johann Gottfried Kästner, in: Historische Anthropologie 2 (1994) H. 3, S. 371–398. 12 Scheutz, Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 1). 13 A mmerer, Heimat Straße (wie Anm. 1). 14 Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter, München 21987. 15 Christoph Sachße, Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 21998. 16 Bronisław Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München-Zürich 1988. 17 Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider (wie Anm. 3). 18 Von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen (wie Anm. 2). 19 Martin Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850, Frankfurt 2000. 20 Aus der Fülle der Literatur einige Beispiele für in jüngster Vergangenheit erschienene Arbeiten: MIÖG 115 H. 3–4, Themenschwerpunkt Europäische Spitäler; Arnd Friedrich, Irmtraud Sahmland, Christina Vanja (Hg.), An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008; Martin Scheutz, Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl, Alfred

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Stefan Weiß (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit (MIÖG Ergänzungsbd. 51), Wien-München 2008; dies. (Hg.), Quellen zur europäischen Spitalgeschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit (Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 5), Wien-München 2010; Gerhard Ammerer, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Strafe, Disziplin und Besserung. Die österreichischen Zucht- und Arbeitshäuser von 1750 bis 1850, Frankfurt-Berlin-Bern-Bruxelles-New York-Oxford-Wien 2006; Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 15), Konstanz 2008; Gerhard Ammerer, Arthur Brunhart, Martin Scheutz, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter (Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der Separierung, Verwahrung und Bestrafung 1), Leipzig 2010; Elke Schlenkrich, Von Leuten auf dem Sterbestroh. Sozialgeschichte obersächsischer Lazarette in der frühen Neuzeit (Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft 8), Beucha 2002; dies., Die späten Pestzüge des ausgehenden 17. und des frühen 18. Jahrhunderts als Armutskatalysatoren in Sachsen und Schlesien, in: Helmut Bräuer (Hg.), Arme – ohne Chance? Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ vom 23. bis 25. Oktober 2003 in Leipzig, Leipzig 2004, S. 99–112. 21 Abgesehen von weiteren Literaturangaben in den nachfolgenden Anmerkungen wären an dieser Stelle zu nennen: Helmut Bräuer, Armut und Arme aus der Perspektive obersächsischer Städtechronisten des 17. Jahrhunderts, in: Uwe Schirmer (Hg.), Sachsen im 17. Jahrhundert. Krisen, Kriege und Neubeginn (Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft 5), Beucha 1998, S. 115–130; ders., Leipzigs Messen und die armen Leute während der frühen Neuzeit, in: Hartmut Zwahr, Thomas Topfstedt, Günter Bentele (Hg.), Leipzig Messen 1497–1997. Gestaltwandel – Umbrüche – Neubeginn Teilbd. 1 (1497–1914) (Geschichte und Politik in Sachsen 9/1), Köln-Weimar-Wien 1999, S. 317–328; ders., Die ersten Bewohner des Armenhauses in Dresden. Bemerkungen zu ihrer sozialen und mentalen Beschaffenheit, in: Hartmut Zwahr, Uwe Schirmer, Henning Steinführer (Hg.), Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festgabe für Manfred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag, Beucha 2000, S. 395–401; ders., Almosenausteilungsplätze als Orte der Barmherzigkeit und Selbstdarstellung, des Gesprächs und der Disziplinierung, in: Ders., Elke Schlenkrich (Hg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, Leipzig 2001, S. 57–100; ders., Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700, in: Manfred Hettling, Uwe Schirmer, Susanne Schötz unter Mitarbeit von Christoph Volkmar (Hg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, S. 225–239; ders., Bettelvögte. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Beobachtungen aus Obersachsen während der frühen Neuzeit, in: Renate Wißuwa, Gabriele Viertel, Nina Krüger (Hg.), Landesgeschichte und Archivwesen. Festschrift für Reiner Groß zum 65. Geburtstag, (Dresden) 2002, S. 121–148; ders., Die Armen, ihre Kinder und das Zuchthaus, in: Gerhard Ammerer, Falk Bretschneider, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Gefängnis und Gesellschaft (Comparativ 13 [2003] H. 5/6), S. 131–148; ders., Hausgenossen in Städten Obersachsens während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Ders., Gerhard Jaritz, Käthe Sonnleitner (Hg.), Viatori per urbes castraque. Festschrift für Herwig Ebner zum 75. Geburtstag, Graz 2003, S. 73–95; ders., Über die „gemeynen arbeitter“ und „Taglohner“ in obersächsischen Städten während der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 22 (2003), S. 59–79; ders., Armut in Bergstädten des sächsischen Erzgebirges während der frühen Neuzeit, in: Karl Heinrich Kaufhold, Wilfried Reininghaus (Hg.), Stadt und Bergbau (Städteforschung A 64), Köln-Weimar-Wien 2004, S. 199–123; ders., Statt einer Einführung: Feststellungen, Sichtweisen und Diskussionsaufforderungen zum Thema „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“, in: Ders., Arme – ohne Chance? (wie Anm. 20), S. 29–38; ders., Über „alte“ und „neue“ Arme und den Umgang mit ihnen. Bemerkungen nach einer Konferenz, in: ebd., S. 357–384; ders., Elke Schlenkrich, Kampf um den Gemeinen Kasten in Zwickau. Städtische Armenversorgung zwischen Ratstisch, Gassen und Kanzel, in: Herbergen der Christenheit. Beiträge zur deutschen Kirchengeschichte 28/29 (2004/2005), Leipzig 2006, S. 55–87; ders., Armsein in obersächsischen Städten um 1500. Sozialprofile und kommunale Handlungsstrategien vor der Reformation, in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-

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Die Herausgeber/innen

Anhalt 6), Leipzig 2007, S. 7–28; ders., Weggelegte Kinder während der frühen Neuzeit, in: Sebastian Schmidt (Hg.), Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 10), Frankfurt 2008, S. 21–50; ders., Armut in Mitteleuropa 1600 bis 1800, in: Sylvia Hahn, Nadja Lobner, Clemens Sedmak (Hg.), Armut in Europa 1500–2000 (Querschnitte 25), Innsbruck-Wien-Bozen 2010, S. 13–34; Elke Schlenkrich, ders., Armut und Verarmungsprozesse im sächsischen Handwerk des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts und ihre öffentliche Wahrnehmung, in: Karl Heinrich Kaufhold, Wilfried Reininghaus (Hg.), Stadt und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschung A 54), KölnWeimar-Wien 2000, S. 93–118. Ders., Armut im vorindustriellen Sachsen – Konturen eines Forschungsvorhabens, Karl-LamprechtVortrag 1991, hg. von Gerald Diesener, Leipzig 1991. Ders., Elke Schlenkrich (Bearb.), Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau. Ein sachthematisches Inventar, 2 Halbbde., CD-ROM, Leipzig 2002; ders., Ein Quelleninventar zur sächsischen Armutsproblematik vor 1800. Einsichten und Impulse aus einem Projektzusammenhang, in: Kühberger, Sedmak, Aktuelle Tendenzen (wie Anm. 1), S. 45–66. Ders., „Bettelweiber“ in Obersachsen während der frühen Neuzeit, in: Sächsische Heimatblätter 40 (1994) H. 5, S. 263–268; ders., „… und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich während der Zeit Kaiser Leopolds I., Wien-Köln-Weimar 1996; ders., „… weillen Sie nit alzeit arbeit haben khan“. Über die „Bettelweiber“ von Wien, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 7 (1996) H. 1, S. 135–143; ders., Arbeitende Bettler? Bemerkungen zum frühneuzeitlichen Bettlerbegriff, in: Comparativ 3 (1996) H. 6, S. 79–91; ders., Bettelund Almosenzeichen zwischen Norm und Praxis, in: Gerhard Jaritz (Hg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 7. Oktober 1996 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 2), Wien 1997, S. 75–93; ders., Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert, Leipzig 1997; ders., Nachdenken über den Bettel um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein Beispiel aus Wien, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt Bd. 5, Köln-Weimar-Wien 1999, S. 317–328; ders., Bettler in frühneuzeitlichen Städten Mitteleuropas, in: Beate Althammer (Hg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne (Inklusion/Exklusion 4). Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt 2007, S. 23–47. Ders., Persönliche Bittschriften als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens, in: Gerhard Ammerer, Christian Rohr, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch, Wien-München 2001, S. 294–301. Ders., Armenmentalität in Sachsen 1500 bis 1800. Essays, Leipzig 2008. Zum Überleben Armer im Frankreich des 18. Jahrhundert Olwen Hufton, The Poor of EighteenthCentury France 1750–1789, Oxford 1974; zum ländlichen Pauperismus noch immer klassisch Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770–1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64), Göttingen 1984; Christiane Neumann, „… und sie treiben unnütz Lebensart“. Bettler und Vagabunden auf dem platten Land (Kreis Warendorf im 19. Jahrhundert) (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 69), Münster 1990; etliche Aspekte ländlicher Armut werden benannt bei Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993; Christa Gysin-Scholer, Krank, allein, entblößt. „Drückendste Armut“ und „äusserste Not“ im Baselgebiet des 19. Jahrhunderts, Liestal 1997; Ines Zissel, „… dass der Begriff der Armut in jeder Gemeinde ein anderer ist“. Dörfliche Armenversorgung im 19. Jahrhundert, in: Norbert Franz (Hg.), Landgemeinden am Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum (Trierer Historische Forschungen 36), Mainz 1999, S. 217–247; Schnittmengen zur Armut im ländlichen Raum bei Sabine Veits-Falk, „Zeit der Noth“. Armut in Salzburg 1803–1870 (Salzburg Studien 2), Salzburg 2000; Barbara Kink, Armut und Armutsbekämpfung in einer bayerischen Hofmark im 17. und 18. Jahrhundert, in: Bräuer, Arme – ohne Chance? (wie Anm. 21), S. 113–134; Gerhard Ammerer, Zur Ver-

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sorgung von alten, arbeitsunfähigen Personen auf dem Lande – Überlegungen und Hinweise zu kommunalen Defiziten von Regionalbeamten und Betroffenen, in: ebd., S. 159–190; Rosmarie Fruhstorfer, Armut auf dem Land. Eine volkskundliche Untersuchung zu Aspach im Innviertel des 19. Jahrhunderts, Aspach 2006. Vgl. Gerhard Ammerer, Sabine Veits-Falk, Die Visualisierung des Bettelns. Geben und Nehmen zwischen Mildtätigkeit und Sozialkritik an bildlichen Beispielen Österreichs und Süddeutschlands vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007) H. 2, S. 301–328. Werner Troßbach, Clemens Zimmermann, Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich bis zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 187–190. Inga Brandes, Martin Krieger, Katrin Marx-Jaskulski, Tamara Stazic-Wendt, „Armut im ländlichen Raum“ – Vorstellung eines Forschungsprojekts, in: AKA-newsletter Nr. 23, Februar 2008, S. 3–12. Inga Brandes, Katrin Marx-Jaskulski (Hg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850−1930 (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 11), Frankfurt-Berlin-Bern 2008. – Eine vollständige Liste über die aus dem Projekt hervorgegangenen Publikationen sowie die in Arbeit befindlichen Vorhaben findet sich unter http://sfb600.uni-trier.de/ Pfad: Teilprojekte/B5/Publikationen, 27. Juni 2010. Inga Brandes, Ländliche Armut in der Grafschaft Donegal. Irland in europäischer Perspektive 1880–1930, Trier 2008. Katrin Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts XVI), Göttingen 2008. Martin Krieger, Arme und Ärzte, Kranke und Kassen. Ländliche Gesundheitsversorgung und kranke Arme in der südlichen Rheinprovinz (1869−1930) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beih. 31), Stuttgart 2008. Eva-Maria Lerche, Alltag und Lebenswelt von heimatlosen Armen. Eine Mikrostudie über die Insassinnen und Insassen des westfälischen Landarmenhauses Benninghausen (1844–1891) (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 113), Münster-New York-München-Berlin 2009.

Armenmentalität in der Frühen Neuzeit – Annäherungen an ein komplexes Thema aus sächsischer Sicht Helmut Bräuer

Einleitung Am 14. April 1717 hatte der Rat der Stadt Leipzig eine detaillierte Bestimmung über die Behandlung und Beherbergung auswärtiger Personen, insbesondere ortsfremder schwangerer Frauen, und die diesbezüglichen Sicherungs- und Meldepflichten der Gassenmeister, Hauswirte und Wohnungsvermieter beschlossen1. Sie präzisierte und spezifizierte die nur wenige Monate ältere Anweisung für den Torschreiberdienst2. Beide Instruktionen richteten sich in ihrem Kern gegen die aus den Dörfern in die Messestadt drängenden armen Leute, die entweder auf einen Dienst, vor allem während der Messezeiten, oder eine Gelegenheit zum Almosensammeln spekulierten3 bzw. die in Kindsnöten einen Gebärplatz suchten, der im Vergleich zur Landstraße oder dem Dorf besser war und die auf die Hilfe einer Hebamme und auf eine Taufmöglichkeit für das Kind hofften4. Die neuen Regelungen zielten im Wesentlichen auf Abweisung Unerwünschter und verschlechterten die Lebenssituationen der Fremden generell, diejenigen der in vielfachen Nöten befindlichen Frauen allerdings besonders. Zugleich brachten sie auch deren Umfeld in Schwierigkeiten. So traf es z. B. den Hausgenossen Hans Friedrich Hanisch in der Bettelgasse, einer Arme-Leute-Wohngegend vor den Mauern der Messestadt. Der Mann arbeitete als Tagelöhner5. Auf Befragen sagte er am 1. Dezember 1719 im Rathaus Folgendes aus: Es hielte sich ein Mensch Nahmens Christina, so Schwanger und von Schaffstädt [nahe Merseburg] seyn solle, bey ihm auff, ihren Zunahme aber wiße er nicht. Es sey wieder seinen willen geschehen, daß sein Eheweib vor ohngefehr 4 Wochen dieselbe mit nach Hauße gebracht, weiln sie sonsten auf der Gaße bleiben müßen und zwar hätte sie nur gebethen, sie eine Nacht zu beherbergen, denen Gaßenmeistern aber hätte er es nicht gemeldet, weiln er nicht willens wäre, sie bey sich zu behalten, wiße auch nicht, daß man gar niemand ohne Vorwißen der Gaßenmeister einnehmen dürffe. Ob im übrigen ihr Zeit der Geburt so nahe vorhanden, daß sie nicht von hier weg kommen könte, sey ihm nicht bewust, bittet, ihn mit einiger Strafe zu verschonen. Im übrigen gebe die geschwächte vor, daß ein Buchbinder Nahmens Richter, bey dem sie in Dienst gewesen, sie geschwängert. Der Rat bedachte den Mann wegen der Übertretung der Melde- und Herbergsbestimmungen mit einer Strafe von zehn Talern (= 40 Tagelöhnen zu je sechs Groschen6). Die Magd wurde ins Rathaus zum Verhör bestellt7. Dann brechen die Akten ab.

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Unter sozialem Blickwinkel sind zwei deutlich abgrenzbare Armen-Milieus zu erkennen: zum einen die Ebene eines verheirateten, tagwerkernden8 und vom Hausbesitzer abhängigen Mieters9, zum anderen die Ebene einer fremden, vom Land gekommenen, in einem Abhängigkeitsverhältnis geschwängerten Dienstperson10, die illegal beherbergt wurde. Aus diesen ärmlichen, aber dennoch unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen ergaben sich für den Tagelöhner und die Dienstmagd divergierende Haltungen, ausgedrückt durch erheblich von einander abweichende Denkweisen und Argumentationsstrategien. Hans Friedrich Hanischs Sorge galt der Hoffnung auf Strafverschonung. Dafür argumentierte er mit viel Nichtwissen zur Person der Frau und zur „Rechtslage“ in Beherbergungsfragen – beides nicht völlig glaubhaft – und ließ zugleich seine Bereitschaft erkennen, die gesetzlichen Vorschriften einhalten zu wollen. Objektiv wird seine Menschlichkeit sichtbar, die weitgehend durch die Handlungsweise seiner Ehefrau initiiert, vielleicht auch erzwungen wurde. Als Hausvater aber trug er mit der humanen Geste der Aufnahme der Schwangeren die Verantwortung für den Normenverstoß gegenüber allen Formen von „Obrigkeit“ – vom Hauswirt über den Gassenmeister bis zum Rat der Stadt. Es ist dies ein Beispiel, wie groß die Diskrepanz zwischen einer humanen Handlung oder Absicht und den Rechtsnormen sein konnte. Die schwangere Magd suchte Hilfe und relative Sicherheit für sich und das zu erwartende Kind. Ihre Hoffnungen richteten sich also auf eine Bleibe, auf Niederkunftsbeistand und die Gewährung der Taufe, die bislang in der Stadt möglich war und die das Seelenheil des Kindes absichern sollte. Man wird unterstellen können, dass sie um die längere Dauer wusste, bis diese „Pläne“ verwirklicht würden. Dennoch versuchte sie das mittels einer Bitte zu erreichen, die sich „taktisch“ auf Kurzfristigkeit der Beherbergung festlegte. Das heißt, sie wählte zur Sicherung ihres Bitterfolges die Zumutung eines nur geringfügig erscheinenden, kurzzeitigen Normenverstoßes durch den Tagelöhner und Hausgenossen Hanisch, und sie wandte sich zudem mit ihrem Anliegen an eine Geschlechtsgenossin, wovon sie sich offenbar bessere Erfüllungschancen versprach. Verknappt gesagt: Die Magd erfasste die Schwierigkeiten ihres Anliegens und bemühte sich um gangbare Wege, ihr Vorhaben zu realisieren. Mit den hier aufgeführten Quellen wurden die für die Arme-Leute-Welt der Frühen Neuzeit in Struktur und Überlieferungsform typischen Informationen präsentiert: dürftig, vielfach indirekt, bruchstückhaft, nicht immer widerspruchsfrei, viele Probleme nur aufwerfend und Antworten verweigernd, so dass sich die Frage stellt, ob eine Untersuchung der Mentalitäten gesellschaftlicher Unterschichten bzw. der in diese Regionen hinabgesunkenen oder der dort bereits existierenden Menschen überhaupt möglich ist oder ob mit entsprechenden Analyseversuchen den Spekulationen nicht doch ein zu großer Raum geboten wird. „Die Mentalität der Armen zu erforschen, ist kein leichtes Unterfangen“11. Mit dieser lapidaren Feststellung wies Robert Jütte kürzlich in einer Rezension auf einen Sachverhalt hin, der eine Realität beschreibt und dabei vorrangig auf diese knappe Überlieferungs-

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decke abhebt. Was die Schwierigkeiten anlangt, so gehen sie allerdings weit über den genannten wichtigen Faktor der Quellenbasis hinaus. Nachfolgende Ausführungen stützen sich auf einen längeren Umgang mit Zeugnissen aus diesem Milieu bzw. über dasselbe, darin eingeschlossen die mehrjährige Tätigkeit in einem Quellenermittlungsprojekt12 und nehmen Bezug auf eine Reihe von Konferenzergebnissen und Untersuchungen zu speziellen Fragen der Thematik. An ihrem (vorläufigen) Ende stand ein Versuch, sich dem Gegenstand „Armenmentalität“ in Form von Essays zu nähern13. Theoretische Orientierungshilfen boten mir vor allem die begrifflich-konzeptionellen Umrisse, die Peter Dinzelbacher14 und Iris Gareis15 gezogen haben.

Erstens. Eine methodische Grundfrage Wer die Gesellschaft der Frühen Neuzeit in Augenschein nimmt, stößt auf die quantitative Dominanz von Unterschichten, plebejischen oder vorproletarischen Gruppierungen, armen Bauern oder armen Leuten schlechthin –, auf ein Potential von Habnits oder im sozialen Differenzierungsprozess abgeglittenen Menschen. Das ist bereits um 1500 so16 und bedarf kaum noch eines Beleges. Wirft man indessen einen „geweiteten“ Blick in die Forschungslandschaft, der die Stadt und das Dorf umschließt, so wird die Beobachtung gemacht werden können, dass die Mentalitätsgeschichtsforschung, wenn es um die armen Leute geht, eine bemerkenswerte Zurückhaltung übt und den sozialen Sachverhalt eines quantitativen Armenübergewichts nahezu unbeachtet lässt. Misst man dieses Phänomen an der Gesamtdimension der gesellschaftlichen Hierarchie von der Bettlerin bis zum König, so widerspiegelt ein solcher Zustand also nicht die realen Größenverhältnisse der einzelnen Stände, Klassen, Schichten oder Gruppen. Ich übersehe oder missachte keinesfalls die bislang vorliegenden Einzelstudien, aber die Zugriffsbereitschaft der „Historikerzunft“ auf Themen aus dem Bereich der Armenmentalität erscheint mir insgesamt außerordentlich gering. Eine Durchsicht der von Peter Dinzelbacher initiierten Reihe „Kultur und Mentalität“17 eröffnet wohl interessante thematische Perspektiven, demonstriert aber auch beispielhaft die Disproportionen zwischen den jeweiligen Sozialkategorien und ihrer Berücksichtigung in den Texten der verschiedenen Autoren: Auf die Mentalitäten der armen Leute richten sich die Interessen der Historiker am seltensten. Vielleicht wirkt diese Feststellung provokant. Wer sie so empfindet, trifft das, was ich betonen möchte. In dieser grob skizzierten Situation spiegelt sich nach meinem Ermessen eine Forschungsstrategie, die von politikgeschichtlichem oder partiell auch von wirtschaftsstrategischem Denken ausgeht und jene gesellschaftlichen Gruppen in den Mittelpunkt rückt, die den entscheidenden Einfluss haben oder „auf die es letzten Endes ankommt“. Ganz davon abgesehen, dass dies generell meinen Vorstellungen von „moderner“ Gesellschaftsforschung widerspricht, weil vornehmlich nach den „Eliten“ und den „Saturierten“ gefragt wird, halte ich im Bereich von Sozial- und Mentalitätsgeschichte ein ausgewogenes Verhältnis der Verteilung der Forschungen auf alle sozialen Milieus für unabdingbar, wenn ein klares Bild der jeweiligen Gesellschaft skizziert werden soll. Dass eine solche Intention

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auf sehr unterschiedliche Voraussetzungen für die Untersuchung trifft, versteht sich, ist allerdings als „Begründung“ für den umrissenen Zustand inakzeptabel. Schließlich setzt Forschung zumindest auf Neugier. Die aber scheint mir hier noch nicht ausreichend entwickelt zu sein. Eine solche unzureichende Untersuchung von Unterschichtenverhältnissen aber – und das trifft auf die sächsische Forschung explizit zu – hat zwei weitaus gewichtigere Konsequenzen: die Vernachlässigung der Erforschung der vertikalen sozialen Mobilität – und zwar nach beiden Richtungen – und die Frage nach den Ursachen von Armut, die nicht ohne Beachtung der Relationen von armen und reichen Leuten auskommen kann. Wenn hier wissenschaftliche Fortschritte erzielt werden sollen, ist der Blick auf die gesamte Gesellschaft erforderlich.

Zweitens. Der Zusammenhang von Sozialem und Mentalem Ich armer hoch noth dirfftiger Man bin Ja so in grosser Noth, daß ich nit weiß, wo Nauß woh naij, ich hatte die liebe feyertag das liebe brodt nit zu essen gehabt, wen mir gutte leidt nit geborget hetten, Meinem wirth Sol ich itz vff den Johanny tag Hauß Zinß geben, ich habe es Ja nit [...], schrieb um 1655 ein 78-jähriger böhmischer Exulant eigenhändig an den Dresdner Rat und bat um eine finanzielle Gabe18. Offenkundige Armut und das Bewusstsein der Hilflosigkeit einerseits, die Erfahrungen um gewisse barmherzige Bereitwilligkeiten gegenüber den Glaubensflüchtlingen andererseits – das sind Sachverhalte, die hier auf knappem Raum begegnen und die den Zusammenhang von sozialer Situation und mentalen Phänomenen unterstreichen. Das Problem gehört nach meinem Ermessen zu den zentralen Beobachtungen im Rahmen der Arbeit am Themenfeld „Armenmentalität“: Denken, Fühlen und Handeln stehen zum sozialen Platz des jeweiligen Personenkreises in einem sehr engen Verhältnis. Aufwachsen und Existenz in einem konkreten sozialen Milieu armer Leute schufen Rahmenbedingungen, die durch Erziehung, Vorbild oder Muster und Anpassen respektive Einordnen in die entsprechenden Strukturen „platzbestimmend“ waren. Hier bildeten soziale Umstände und mentale Verfassung annähernd einen adäquaten Zusammenhang. Auf ihn übten zusätzlich die abweisenden bzw. abschottenden oder auch die helfenden Reaktionen aus anderen, vor allem „höheren“ Sozialräumen, einen „Druck“ aus. Dass sie zugleich „Verlockung“ sein konnten, sei eingestanden. Grundsätzlich aber gilt, dass Stände, Klassen, Schichten oder Gruppen durch ihre gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, insbesondere durch ihre materiellen Fundierungen, mentale Äußerungen und Haltungen erzeugten, die diesen Milieus weitgehend entsprachen. Es ist das sicher kein Automatismus, aber die Analyse von etwa 1.000 Bittschriften aus Freiberg und dem dörflichen Umland in der Zeitspanne von 1500 bis 1800 lässt erkennen, welche gravierende Wirkung Geburtsstatus/Familie, Beruf/Tätigkeit, Besitz/Eigentum, Wohnplatz, Kirchgemeinde und soziales Umfeld auf die Ausbildung bestimmter mentaler Züge gehabt haben. Es wäre sicher falsch, von Kongruenz und absoluter Dauerhaftigkeit der Verbindungen zu sprechen, aber eine relativ enge und relativ beständige

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Anlehnung scheint zu bestehen. Das trifft für das Gros der untersuchten Fälle zu, selbst wenn Ausnahmen – wie anderswo – die Regel unterstreichen. Dennoch sind daneben oder gleichzeitig spezifische Tendenzen zu berücksichtigen: Einerseits lassen sich bei Absteigern – insbesondere aus dem Handwerkermilieu19 – Gewohnheiten und Bestrebungen feststellen, die der ursprünglichen Sozialsituation angemessen waren. Das äußerte sich in der von Wertschätzung geprägten Einstellung zum verlorenen Eigentum und der vormaligen gesellschaftlichen Umwelt, drückte sich aber auch in der ideellen, teilweise ebenso in der praktischen Abwendung von jenen Kreisen aus, denen man nunmehr realiter angehörte, und es zielte darauf ab, alles zu versuchen, um den Wiederaufstieg zu erlangen. Insbesondere bei raschen sozialen Abstürzen konnten sich die geistigen und gefühlsmäßigen Haltungen, die eingeübten Denk- und Verhaltensmuster nicht in gleichem Tempo umwandeln. Sie blieben oft dem vormaligen Lebenskreis verhaftet und sorgten für „Sehnsüchte“ nach der verlorenen Vergangenheit – nicht allein, weil dieselbe sozial „besser“ und materiell fundierter war, sondern auch weil diese Menschen Daseinsmuster mit sich trugen, die nun nicht mehr realisiert werden konnten und weil sich die ursprünglichen gesellschaftlichen Sphären – etwa in Gestalt der vormaligen Nachbarschaften – gegen Kontakte wehrten, die sie für nicht mehr passend ansahen, da sie ihnen in der eigenen Umwelt „peinlich“ geworden waren. Nach einer gewissen Zeit schliffen sich solche Positionen und Einstellungen ab, sofern es keine Impulse zu einem Wiederaufstieg gab. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet der Chemnitzer Schornsteinfeger Christoph Tzschencke, der über die Lebensperspektive bis in die nächste Generation hinein nachdachte und plante20. Andererseits spielten bei den sozial völlig am Boden Angekommenen, den chancenlosen Dorf- und Stadtarmen etwa, resignative und depressive Äußerungen eine auffällige Rolle. Hier und bei den vagierenden Bettlern scheint die Gleichgültigkeit zur Überlebenshaltung geworden zu sein. Die bei Letzteren völlig fehlende materielle Basis und eine weitgehende gesellschaftliche „Ächtung“, die sie als Fremde vom Almosenempfang ebenso ausschloss wie von längerfristigen Kontakten zum etablierten gesellschaftlichen Umfeld, trug zur Entwicklung der Ablehnung aller gesellschaftlichen Verhaltensnormen bei, wie sie sich u. a. in der Einstellung zum Eigentum oder zum Anderen äußerte. Sie konnte auch umschlagen und in Rebellion, Aufbegehren oder – düsterstenfalls – in die Kriminalität einmünden. Das veranlasste die Obrigkeiten, sie mit Härte weiter an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Entsprechende Gegenreaktionen blieben dann oft nicht aus. Manche von ihnen demonstrierten zwar wütendes Aufbegehren und Hass, fielen aber, wenn der Zugriff der Obrigkeit kompakt genug erfolgte, in Hilflosigkeit zusammen. 1719 machte z. B. im Erzgebirgsvorland der Jahnsdorfer Richter mit einigen Bauern Jagd auf den Bettler Martin Schmiedigen. Nach dem Bericht der Dorfobrigkeit habe der Mann gesagt, die Dörfler, die zum Bettlerfangen ausgezogen seien, thäten es des Geldes wegen. Es wehrn in gantzen Sachsen Land nicht so schlimme Leute als hier in diesem Dorffe [...]. Unser herr Gott straffe doch alle Tage, denoch wolden sie die armen Leute untertricken, Gott solde ihn straffen, er wolde in ehesten wieder hausen seyn [das heißt, das angedrohte Zuchthaus verlassen

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haben], er wehr ein Bleßirter Soldat, es hette ihn jeder erlaubet [...] Brod zu Betteln. Aber, so betonte der Berichterstatter, der Mann habe sich höchst ungebührlich aufgeführt und wieder und wieder mit den Hand auffen Tisch geschlagen21. Welch eine hilflose und letztlich resignierende Geste! Dass jedoch diese beiden knapp markierten „Lager“ einander nicht scharf abgegrenzt gegenüber standen, sondern dass ein Übergangsraum mit all seinen sozialen und mentalen Konsequenzen existierte, demonstriert der Blick auf die Kategorie der Lohnabhängigen, hier repräsentiert durch den Tagelöhner Hanisch. Seiner ungesicherten sozialen Lage – der Wohnraum leicht zu kündigen, Arbeitsmöglichkeit und geregelter Lohnempfang höchst unberechenbar, gesellschaftliches Prestige wenig ansehnlich – entsprach sein Lavieren, de facto die Haltung eines Mannes, der durch Missachtung der obrigkeitlichen Order nicht „anecken“ und dennoch durch den Verstoß gegen eben diese Order helfen wollte, weil er selbst ein Leben von der Hand in den Mund führte und um die Daseinsschwierigkeiten der anderen wusste. In ähnlicher Weise widersprüchlich vollzog sich die Existenz der Bergleute22. Einerseits spielte das Risiko einer Arbeit im Berg mit den vielfältigen natürlichen und gesellschaftlichen Unwägbarkeiten – von den gesundheitlichen Belastungen über die Gefahren im Arbeitsprozess bis zu den Unsicherheiten der Fündigkeit, der Lohnzahlung und „Gangbarkeit“ der Zeche respektive der Sicherheit des Arbeitsplatzes – eine Rolle und sorgte für materielle Instabilität. Andererseits wirkten aber Faktoren auf die Mentalität ein, die es woanders nicht gab: das Bewusstsein von der besonderen Rechtsstellung hinter dem Begriff der Bergfreiheit mit realen und pseudo-realen Vergünstigungen. Es drückte sich öffentlich sichtbar in der Existenz einer „standeseigenen“ Organisation aus, die ihrerseits Stolz vermittelte und kollektives Handeln ermöglichte, bestimmte Aktivitäten aber umgehend wieder einschränkte, sofern sie sich an den hierarchischen Strukturen rieben und den Interessen des Landesherrn und der nichtbauenden Gewerken zuwiderliefen.

Drittens. Quellencorpus und Quellenkritik Eingangs war bereits zu beobachten, wie schmal, inhaltlich arm und oft nur aus kontextlosen Singularstücken bestehend der Fonds mentalitätsgeschichtlich brauchbarer Quellen ist, wobei vor allem der Umstand der Einmaligkeit von Nachrichten hohe Barrieren aufbaut, weil dadurch keine weiteren Beziehungen der Untersuchungsperson(en) ermittelt werden können, die deren Umfeld ausleuchten und sie selbst deutlicher konturieren würden. Außerdem sorgt eine solche Quellenlage auch nur für Momentaufnahmen und schließt das Erfassen von „Entwicklungen“ weitgehend aus. Konsens existiert in der Forschung darüber, dass im Zentrum eigen- und fremdhändige Bittschriften (Armenbriefe)23 sowie Verhörprotokolle24 stehen25. In der Bewertungsdiskussion dieser Quellen reichen die Argumente von der relativen Personennähe eigenhändiger Petitionen und der diffizilen Motivlage der fixierten Bittanliegen bis zur Vielfalt der „Verfälschungsmöglichkeiten“ von Befragungsniederschriften durch Gerichts- oder andere

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Interviewpersonen bzw. auch durch die Verhörten selbst. Zu beiden Kategorien gibt es also berechtigte quellenkritische Bedenken. Sie dürfen folglich in der praktischen Arbeit des Historikers keineswegs aus dem Blick geraten. Da es sich aber um solche Quellen handelt, die am dichtesten an mentale Sachverhalte armer Leute heranführen, müssen sie nach wie vor für die benötigten Auskünfte in Anspruch genommen werden; zumindest sehe ich keine Alternativen. Mit Nachdruck sei daher unterstrichen: In diesen Quellen finden sich am unmittelbarsten die Gedanken und Empfindungsäußerungen der armen Leute, selbst wenn sie zum Teil von fremder Hand niedergeschrieben wurden. Wichtig scheint mir hier allerdings, den „mutmaßlichen“ Glaubwürdigkeitsgrad im Auge zu behalten26. Natürlich ist dies kein Kriterium, das strenger wissenschaftlicher Kritik absolut standhalten würde, aber mit seiner Hilfe sind Tendenzen anzuzeigen. So lassen sich bei Bittschriften mancherlei Rückschlüsse aus der Art und dem Grad erbetener Hilfe ziehen. Wenn der vormalige Tischler Egidius Mahler aus Chemnitz, der sich eine schwere Handverletzung zugezogen hatte, die zur Lähmung führte, beim Rat um die Zuweisung einer Tätigkeit einkam, das ich nicht mein bislein brodt für fromer leutte thüren suchen brauchte27, oder die 70-jährige Witwe Anna Fiedler aus Dresden, die während des 30-jährigen Krieges in Öderan materiell gänzlich ruiniert worden war und keinerlei Rücklagen besaß, um ein Almosen ansuchte28, dann besteht kaum Veranlassung, an der entsprechenden Bedürftigkeit der Personen und damit an der „Korrektheit“ ihrer Bitten zu zweifeln. Denn: Die Preisgabe des eigenen Armutszustandes stellte gegenüber der Nachbarschaft eine persönliche „Öffnung“ dar, die doch in den meisten Fällen gern vermieden worden wäre. Gerede in Stadt und Dorf war stets peinlich und belastend, und es betraf die Ehre! Überdies verfügten Räte respektive Almosenbehörden, Kirchengemeinden und Nachbarschaften über ausreichende Kontrollmechanismen, um die Exaktheit der Angaben prüfen und bewerten zu können. Die Fertigung einer Specificatio derer bey hiesiger Stadt [Chemnitz] befindlichen Armen (1716) 29 liefert einen von Dutzenden Belegen. Andere Äußerungen erhalten ihr Gewicht durch die Vielzahl ähnlicher Schriften und eine sinngleiche Sicht aus obrigkeitlicher Perspektive. So beschwerte sich der auf den Landstraßen zwischen Meißen und Großenhain eingesetzte Landbereiter August Friedrich Müller 1723 darüber, dass sich die Bettler bei ihrer Verhaftung widersetzten, wovon er die gröste schande und spott tragen muß30. Ich sehe keine Notwendigkeit, die Quellenaussage nicht zu akzeptieren, denn es gibt eine Reihe von Bemühungen der Obrigkeit, ähnlich klagenden Bettelvögten, Armen- und Almosenamtsverwaltern oder Landbereitern und ihren Knechten den Rücken zu stärken und ihre moralischen Bedenken oder Bedrängnisse abzubauen, aber natürlich waren die diesbezüglichen Verlautbarungen vergeblich31. Eine besondere Stellung im System armenrelevanter Quellen nehmen Forderungen oder Artikel – insbesondere in Zeiten oppositioneller oder revolutionärer Bereitschaft – ein. So verlangten 1525 im Raum Annaberg die Knappschaften die Einrichtung eines Gemeinen Kastens, darvon armen vertorbenen leuten aus der knapschaft in Notzeiten ein Unterhalt gegeben werden könne32, und die Bergleute, die in den Dörfern um den Seuwald im Erzgebirge wohnten, forderten, man möge vom Knappengeld ein Haus für jene kaufen, dye da

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schaden nehmen des bergkwercks halben ader alters halben, um sie darin pflegen zu können33. Die entsprechenden Anregungen dazu stammten möglicherweise aus den Knappschaften von Schwaz34 oder den sächsischen Handwerken, von denen einige für ihre Gesellen solche Einrichtungen geschaffen oder zumindest Betten in den städtischen Spitälern gemietet hatten35. Solche Forderungen sind freilich Quellentexte, die auf einen kollektiven Autor mit einer unterschiedlichen sozialen Struktur zurückgehen. Sie können folglich nur sehr bedingt und lediglich zu einem Teil den armen Leuten zugeordnet werden. Auch ist der Anteil der Textproduzenten anonym. Eindeutig jedoch zielt die Forderung in ihrem Kern auf die Erfüllung von Bedürfnissen der Armen, so dass zumindest davon ausgegangen werden kann, dass sich dieselben in der Entstehungsphase der Forderung entsprechend artikuliert hatten, denn für ihre Familien fielen die Belastungen, die aus Arbeitsunfall, Krankheit, Siechtum oder Alter resultierten, am stärksten ins Gewicht. Die ins Bergamt Freiberg eingereichten Petitionen rückten immer wieder den familialen Belastungsfaktor in den Vordergrund, der ihren leiblichen Zuständen entsprang und zeugen von der großen Sorge und vom Verantwortungsbewusstsein der Knappen, wenn es um Frau und Kinder ging36. Die genannten hauptsächlichen Quellenkategorien mit anderen Zeugnissen zu verknüpfen, wie sich das bei diesem letzten Beispiel – der Spitalforderung und der Almosenbitte – bereits angedeutet hat, ist ein wichtiges, freilich oft aufwandreiches Verfahren. Dabei liegt die Schwerpunktorientierung auf personaler, insbesondere namentragender Schriftlichkeit – Kirchenbücher, Almosenlisten, Steuerbücher, Strafgeldregister, Bewerbungen, Rechnungen, teilweise auch Hausratsinventare respektive Verlassenschaften und Personenbeschreibungen, die etwas zur Bekleidung aussagen etc. Im Fall des oben genannten Hausgenossen Hanisch wurde z. B. die Ermittlung seiner beruflichen Tätigkeit über die Leipziger Ratsleichenbücher vorgenommen. Es kann jedoch auch zweckmäßig sein, die Quellendimension bis zu normativen Stücken – von Mandaten bis zu Dienstinstruktionen und Appellen – auszudehnen, weil sie den jeweiligen Handlungsrahmen markieren, im konkreten Fall der schwangeren Magd also verdeutlichten, welche „Grenzen“ die Frau mit ihren Handlungen überschritten hatte oder welcher Mut dazu gehörte, dies zu tun. Das führt nicht immer zu den Motiven einer Handlung, unterstreicht aber eine mentale Befindlichkeit, die von Courage oder Verzweiflung nicht weit entfernt liegt. Wenn, wie demonstriert, Suppliken und Verhörprotokolle oft mehrfache Deutungsmöglichkeiten einschließen, so drängen sie der Forschung bestimmte Prüfungsverfahren auf. Sie enthalten also „Reizstoffe“ in relativ hoher Konzentration, nach möglichen Interpretationsvarianten und -mustern zu suchen, das heißt, beispielsweise auch Quellen einzubeziehen, die über Handlungen berichten. Da sich Denk- und Empfindungsäußerungen vielfach in Handlungen niederschlagen, kommt jenen Quellen eine erhöhte Aufmerksamkeit zu, die die unterschiedlichsten Formen von Aktivitäten abbilden. Freilich stammen Berichte darüber in der Regel wiederum von externen Autoren und tragen daher auch alle Willensmerkmale der „anderen Seite“, so dass die zu prüfende mentale Verfassung der

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armen Leute nur in Spuren greifbar wird. Ein solches Verfahren schließt Zeugnisse ein, die das Gegenstück von Aktivität repräsentieren – die Belege für Resignation, Lethargie, Depression oder Passivität. Das weist noch direkter auf Quellen hin, die nicht von den durch Armut Geschlagenen stammen müssen, sondern durchaus von Dritten veranlasst oder verfasst sein können. So berichtet aus Dresden ein Hauswirt über einen seiner in Armut gekommenen Mieter: [...] durch die länge der zeit nun will der Mann fast in Verzweifflung fallen und stößet desparate Worte aus, daß er noch müßte davon lauffen oder sich ein Leids thun37.

Viertens. Selbstsichten und geweiteter Blick Überaus wichtig erscheinen mir die eigenen intellektuellen und gefühlsmäßigen Beziehungen der armen Leute zum Phänomen Armut – ausgedrückt durch die Frage: Wie sehe ich mich selbst in meinem sozialen Zustand? Welche Empfindungen rufen Armut oder Bettel bei mir hervor? Wie stehe ich zur gesellschaftlichen Ausgrenzung? Für das Gros der von der Armut geschlagenen Leute traf jene Sentenz zu, die 1673 der bettelnde Krüppel Jacob Mende aus Freiberg niederschrieb, als er dem Rat der Stadt mitteilte: Denenselben kan ich bettel armer Mann zu belestigen und meine noth, Elendt und Armuth in meinem nunmehro 67Jährigen Alter zu klagen, nicht unterlaßen 38. Es folgt die Darlegung seiner armseligen Lebensumstände. Diese detaillierte „Erzählung“, die in dem Gedanken gipfelt, dass er nicht wisse, wo er sich lassen solle, wenn ihn der liebe Gott vollents lagerhafft werden leßet, entstammte seinem Erfahrungs- und Beobachtungswissen, war auf diese Weise eine feste Einsicht, die die Akzeptanz der individuellen Perspektivlosigkeit einschloss, wie dies ganz dezidiert bei den Bergfertigen39, den unausweichlich auf den Tod darniederliegenden Bergleuten, studiert werden konnte. Hier spielten wohl ab und an Überlegungen eine Rolle, woher dieses soziale Desaster habe kommen können, worin die Ursachen der Verarmung gesehen werden müssen. Doch in vielen Fällen glitt das Gedankenspiel nur hinüber auf die Ebene einer göttlichen Strafe für die Sünden im Allgemeinen und im Individuellen – insbesondere dann, wenn es sich um Krankheiten, Unfälle, Seuchen oder Kriegsereignisse handelte, die als Auslöser für Verarmung fungierten oder galten. Es dominierten die meist erstaunlich „nüchternen“ Sichtweisen auf das eigene Dasein und die sozialen Beschaffenheiten der Familie, und schon die Nachbarn waren oft „Fremde“ oder Leute, denen man mit Vorsicht und Distanz begegnete. Hier lassen sich Spuren der Angst vor öffentlichen Vorhaltungen erkennen, wie sie als Reaktionen der Besitzenden nur zu häufig waren und die viele Arme deshalb schmerzen mussten, weil solche Attacken ungerechtfertigt waren oder entsprechend empfunden wurden. So hoben der Freiberger Sattler Samuel Meutzner und seine Frau Anna Magdalena in ihrem Schreiben an den Rat ausdrücklich hervor, sie hätten nicht etwan unser bißgen Armuth Liederlich verthan 40. Einen „geweiteten Blick“, der über das Individuelle und dessen direktes Umfeld hinausführte, entwickelten die armen Leute, sobald ihnen korporative Potentiale zur Verfügung standen, die eine Kommunikation ermöglichten. Auch wenn es nur höchst dürftige Zeug-

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nisse von jenen „Debatten“, „Streitgesprächen“ oder „Auseinandersetzungen“ gibt, halte ich sie für überaus bedeutungsvoll. In ihnen wurde offenbar Prinzipielles geklärt. In diesen Szenarien lösten sich die Schilderungen der Not vom Ego-Bezug ab, wuchsen in eine (meist berufsorientierte) Kollektivität hinein und näherten sich den tatsächlichen Ursachen von Armsein an. In einem solchen Kontext formten sich innere Haltungen, bauten sich emotionale Züge einer Persönlichkeit auf und gelangten zur Reife, sich zu artikulieren. Zugleich wird man an diesem Ort die Keimzellen für jenen Prozess zu sehen haben, der den „Umschlag“ vom Nachdenken und verbalem Austausch in Handlungen vorbereitete. Eines der Beispiele bieten die Knappschaften. Als 1719/20 die Hungersnot im Erzgebirge äußerst krasse Formen annahm, wandten sich die Bergarbeiter von Freiberg und Brand in einem Aufruf an ihre Bergbrüder im gesamten Revier und benannten die Getreidewucherer als Verursacher des Elends. In diesem Text heißt es, man möge bedenken, wie zu handeln sei, den daß ist eine Theuerung von Menschen gemacht und nicht von Gott, sollen mir den unser Weib und Kind in Hunger eingehen laßen? Und damit die Verantwortlichen lernen sollten, wie die Bergleute über diese Dinge dachten, so wollten sie ihnen zeigen, waß ein Auffstand ist 41. Bedauerlich ist, dass hier Individuen hinter der oft anonymen Front der Kollektivität zurücktreten, so dass die unterschiedlichen Akteure und Akteursgruppen nicht erkennbar werden, aber als es beispielsweise 1725 in den Dörfern der Amtshauptmannschaft Flöha um die Vorbereitung des Widerstandes gegen grundherrliche Steuerforderungen ging, sagte ein 17-jähriger Bursche aus, da hätten wohl Bauern, Gärtner und Häusler die Abrede getroffen und mit ihren Zustandsschilderungen und Klagen den Forderungen die Richtung gegeben, aber die alten Bauern haben oben am Tische geseßen 42. Solche Quellen geben zumindest die Tendenz an, nach welchem sozialen Muster die Rollen zwischen Führenden und Mitwirkenden verteilt waren. Sie lassen jedoch erkennen, dass die armen Leute in der Inszenierung keine Statisten gewesen sind.

Fünftens. Arbeitsmentalität? Die armen Leute sahen in der Arbeit die entscheidende Quelle zur Lebenserhaltung. Verständlicherweise war auch dies „Erfahrungswissen“. Mit den unterschiedlichen Versionen der Subsistenzmittelbeschaffung verband sich die Daseinsvorstellung aller Armen. Unterhalb dieser Feststellung freilich differenzierte sich das Bild und zeigte verschiedene Nuancen. Für den Teil der Wiederaufstiegsbewussten war Tätigsein nicht allein an Nahrungsbeschaffung gebunden, sondern orientierte sich an den Normen ihrer sozialen Herkunftsbzw. Zielgruppen, also an der erhofften Perspektive. Hier ging es um die Demonstration von Fleiß, um ehrliche Arbeit, um blutsaure Arbeyt, die Beachtung von Qualität und Solidität der Arbeitsergebnisse, um das sich daraus ableitende Ansehen in der Öffentlichkeit, um Akzeptanz und „Wieder-dazu-gehören-wollen“. Während die lutherische These von der „Arbeit als Gottesdienst“ nicht direkt artikuliert wurde, schwingt sie dennoch in For-

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mulierungen wie „Gottgefälligsein“ oder „Gottgefälligkeit“ mit43. Dass außerdem Hoffnungen gehegt wurden, „spielerisch“ zur Lagebesserung zu kommen, bezeugen die Einlagen von Mägden und Dienerinnen in den Zwickauer Glückstopf des Jahres 157344. Dies leitete aber de facto bereits zur nächsten Gruppe über. Bei ihr handelte es sich vornehmlich um Ältere bzw. Alte, meist mit leiblichen Gebrechen, die ihren Stolz zum Ausdruck brachten, lebenslang emsig, fleißig und tüchtig gewesen zu sein, also normengerecht gelebt zu haben, und die nunmehr einen bescheidenen „Lohn“ in Gestalt eines Almosens oder eines Spitalplatzes erbaten. Obwohl es ausnahmslos um „Bitten“, nicht um „Forderungen“ ging, klang die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs auf Hilfe an – verdientes, durch Arbeit und Wohlverhalten erworbenes Recht. Die dritte Gruppe, Almosenempfänger und Bettler, empfand ihr Dasein keineswegs als „Müßiggang“, sondern als Organisations- und Beschaffungsleistung und daher als „mühevolles Hinbringen“. Es waren dies freilich Vorstellungen von Arbeit, die meist nur interne Gültigkeit besaßen. Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, Zugang zu Almosen oder Arbeit zu finden, und angesichts des verbalen und des physischen Disziplinierungsdruckes durch Obrigkeit und Besitzgesellschaft entstanden in diesem Milieu verhärtete mentale Positionen. Ihnen entstammten dann Haltungen, die all jene Züge von „Gesellschaftsschädigung“ aufwiesen, die ihnen bereits vor ihrer Ausprägung von den Habenden vorgehalten worden waren: Faulheit und Ungehorsam, Verschwendung und Belästigung des Umfeldes45. Unter diesem Aspekt wurde die Einstellung der Besitzenden und der Obrigkeit, die die Armut partiell und den Bettel insgesamt als „Müßiggang“ definierten, von den armen Leuten nicht akzeptiert, sondern vehement zurückgewiesen. Zugleich aber existierten einzelne Äußerungen, die eine Mischung von Ohnmacht, Zorn und Nichtachtung öffentlicher Normen darstellten. So hat die Vagantin Christina Janin, eine seit dem 15. Lebensjahr im Zuchthaus aufgewachsene Bauerntochter, die ihr Leben zwischen Bettel, Arbeit, Diebstahl und Prostitution auf den Landstraßen verbracht hatte und die 1716 vom Straßenbereiter Cotta im Meißnischen verhaftet wurde, nach dessen Bericht denselben einen Schelm und Schurken genannt und ihn veranlasst zu schreiben: [...] wenn [ich] alle Flüche, Lästerungen und Schimpfreden gegen Gott und hoher Obrigkeit mit anführen solte, [würde] ein gantzer Bogen davon allein nicht zulänglich sein. Und schließlich erging sie sich, so Cotta, in hilflosen Prophezeiungen, wir würden bald einen andern Herrn alß dem Kayser zum Fürsten haben [...]46. Summiert: Eine 32-jährige Frau aus dem Dorf, von der Gesellschaft auf die Landstraße geworfen, sozial und mental deformiert. Ein Mensch von vielen.

Sechstens. Landarmutsmentalität? Im Vergleich zur Stadt besaß die Landarmut47 ein anderes Gesicht. Es fehlten die großen Ballungen; die Hauptrolle spielten eher Kleingruppen oder Einzelpersonen, und oft wurden die Verhältnisse durch die Einbindung der Armen in familiale Beziehungen kaschiert – freilich nicht eliminiert. Die relativ umfangreichen Wüstungen oder das Wüstwerden

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einzelner Stellen waren häufig Zeichen für Abwanderung von Verarmten. Mägde, Knechte und landwirtschaftliche Tagelöhner bildeten ein vergleichsweise starkes mobiles Element, das nicht ungern den entsprechenden feudalen Arbeitsbindungen auswich, um in eine gewerbliche „Selbständigkeit“ zu treten, wovon die Klagelieder von Grundbesitzern und Obrigkeiten einhellig zeugen48. Diese sozialstrukturellen Umstände hatten Auswirkungen auf die mentalen Beschaffenheiten der Armen im Dorf. Sie reichten von demütigem Abwarten der Todesstunde durch die Altenteiler oder der Suche nach „leichter“ Bauern-Arbeit über das Verlassen des Dorfes, um auf den Landstraßen und in anderen Orten zu betteln und sich damit in Widerspruch zu den obrigkeitlichen Bestimmungen zu begeben, bis zu den unterschiedlichsten Formen von Renitenz. Im Zuge des Wachstums der Kategorie der Armen im Dorf profilierte sich deren soziale Struktur. Diese „Bewegung“ machten die mentalen Äußerungen teilweise mit. Teile der agilen und mobilen Störer der gewerblichen Warenproduktion, die engagiert obrigkeitliche und korporative Normen und weit verbreitete Auffassungen unterliefen, waren dabei wichtige Handlungsträger. Diese Menschen verweisen immer wieder auf die Zwänge zur Erhaltung ihrer Familien; sie nahmen hohe Belastungen und Gefahren auf sich – und sagten und schrieben das auch. Verschiedentlich findet sich „Aufstiegsmentalität“. Saisoniers sowie Knechte und Mägde passten sich der jeweiligen Lage an, im Zuge ihres Altwerdens aber rückt ein besonderes Forschungsproblem in den Vordergrund: Wie haben sie all das verarbeitet, was sich hinter dem Begriff „Gnadenbrot“ verbirgt? Über das Umschicken und seine mentalen Folgen wissen wir ebenso wenig wie über das Leben in den (relativ späten) Dorfarmenhäusern49. Bislang waren Lohnabhängige zumindest halbjährig gebunden, aber sie konnten diesem Zustand ausweichen, jetzt waren sie, durch Krankheit und/oder Alter bedingt, dem Almosengeber und seiner Willkür ausgeliefert. Und eine dritte große Gruppe – heterogen in der Herkunft – zog bettelnd über die Landstraße oder in die Stadt. In der Hauptsache hatten diese Menschen die „Sicherheitsperspektive“ aufgegeben und waren mental auf das Überleben fixiert. Zugleich aber finden sich auch arme Städter bettelnd im Dorf50. Bei der Untersuchung der Landarmenmentalität lassen sich momentan zwei Merkmale deutlich erkennen, die in engem Konnex stehen: Einerseits spielen dorfinterne soziale Herkunft und Position – bäuerliches, Landarbeiter-, dorfgewerbliches oder Bettler- und Vagantenmilieu – eine entscheidende Rolle für die mentalen Befindlichkeiten mit breitem Spektrum, andererseits tritt der Zusammenhang dieser Äußerungen mit den Defiziten bisheriger sozialgeschichtlicher Forschung markant hervor. Erst wenn wir mehr über die substantielle Lage der Dorfarmen wissen, wird es leichter sein, Aussagen über ihr Denken, ihre Gefühle und Haltungen zu ermitteln. Bittschriften und Verhörprotokolle dominieren auch hier den Quellenfonds, erweisen sich aber weder quantitativ noch qualitativ als ähnlich ertragreich wie in der Stadt. Amtserbbücher, Kirchenbücher51, Armen- und „Jauner“-Listen, Strafgeldregister und -erlassverzeichnisse, Kirchen- und Schulvisitationsberichte und Kastenrechnungen sowie das

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„Notberichtsschriftgut“ der Pfarrer zu besonderen Hungerzeiten an das Dresdner Konsistorium bieten mehrfach Einstiegsmöglichkeiten, um Antworten auf Fragen zur Armenmentalität zu finden. Die gesamte Schriftlichkeit, insbesondere die direkt im Dorf entstandene, erweist sich indessen als dürftig. Einesteils sind die Überlieferungen höchst lückenhaft und anderenteils sind selten schriftliche Quellen entstanden, weil durch vielfache mündliche Abmachungen und traditionelle Beziehungen die Schriftform für nicht erforderlich angesehen wurde. Da, wo Lasten- und Dienstproteste gegen Herrschaften oder Beschwerden gegen die zünftigen Handwerker fixiert wurden, waren die Autoren solcher Texte meist nicht die Dorfarmen, sondern Kleinbauern und Gärtner bzw. störende Handwerker. Es treten damit jene Unsicherheiten in den Vordergrund, auf die bereits in ähnlichen Zusammenhängen verwiesen wurde. Die Orientierung der Forschung auf die Verwaltungs- und Überlieferungsebene der Ämter, also der staatlichen Mittelbehörden, scheint insgesamt am meisten erfolgversprechend zu sein.

Fazit So vielfältig und diffizil die Problematik der Armenmentalität ist und so schwierig sich ihre Bearbeitung erweist, erscheinen mir vier – vielleicht sehr pragmatische Momente – betonenswert. Erstens sind mentale Äußerungen maßgebliche, inhärente Seiten einer „Existenz in Armut“. Eine Orientierung der Armenbeschreibung allein auf die sozialen (materiellen) Komponenten ihres Daseins wird ihrer Situation und vor allem ihrer Rolle in der Gesellschaft nicht gerecht. Wer das Leben dieser Menschen zumindest in Grundzügen erfassen will, kann an Fragen des Zusammenhangs von sozialer und mentaler Konstellation nicht vorbeigehen. Zweitens halte ich es für wichtig, einen zeitlich, geographisch und hinsichtlich der Armutsstruktur genügend großen Raum in die Untersuchung einzubeziehen, um eine entsprechend sichere Quellenbasis gewinnen zu können. Damit werden zugleich die Voraussetzungen geschaffen, unterschiedliche Entwicklungen und Erscheinungsbilder sowie deren Variabilität einzufangen, denn wie sich soziale Sachverhalte wandeln, können sich ebenso mentale Konsequenzen „bewegen“. Der Aufmerksamkeit der Forschung darf die Spezifik des Einzelschicksals nicht entgehen, weil sich in ihm sowohl allgemein gültige Züge als auch individuelle Besonderheiten offenbaren, die Abweichungen, aber auch Ansatzpunkte für neue Tendenzen darstellen können. Drittens bedarf es der Sicht auf die gesamte Gesellschaftshierarchie, wenn die Position und Rolle einer ihrer Strukturteile näher beleuchtet werden soll. Das trifft angesichts der relativen Quellenarmut auf die Unterschichten in ganz besonderem Maße zu. Und viertens werden sich die Historiker in ihrer Erwartungshaltung und den darauf aufbauenden konkreten Arbeitsplänen bescheiden müssen und gut daran tun, sehr dezidiert von Annäherungen an die Thematik der Armenmentalität zu sprechen. Eine

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solche Einstellung hilft der Bewahrung eines realistischen Blickes. Wichtigste Voraussetzung aber bleibt die bewusste Hinwendung der Forschung zu diesem Themenfeld der Geschichte.

Anmerkungen 11 S tA Leipzig, Tit. (F) I. 42, Verordnungen in Policey-Sachen, die ao. 1658 [ff.], Bl. 197–200; Druck bei Helmut Bräuer, Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert, Leipzig 1997, S. 147 f. 12 StA Leipzig, Tit. (F) I. 42 (wie Anm. 1), Bl. 193b. 13 Helmut Bräuer, Leipzigs Messen und die armen Leute während der frühen Neuzeit. Beobachtungen, Anregungen, Fragen, in: Hartmut Zwahr, Thomas Topfstedt, Günter Bentele (Hg.), Leipzigs Messen 1497–1997. Gestaltwandel – Umbrüche – Neubeginn Teilbd. 1 (Geschichte und Politik in Sachsen 9/1), Köln-Weimar-Wien 1999, S. 317–328. 14 StA Leipzig, Tit. (F) I. 42 (wie Anm. 1), Bl. 197–200: Geschwängerter Weibs Personen aufnehmen und Verhalten, Bl. 201–204: Fremder Personen Aufnehmen und beherbergen; Stift. IV. 1 a, Vol. I, ArmenOrdnung bei der Stadt Leipzig betr., Ao. 1704, Bl. 138b. 15 StA Leipzig, Leichenbücher der Leichenschreiberei, Nr. 25, 1738–1742, Bl. 74: Sonnabend, d. 8. August 1739 wurde begraben: Ein Mann, 50 Jahr, Johann Friedrich Hamisch [!], Tagel[öhner] aus der Bettelgaße. 16 StA Leipzig, Tit. (F) LXII. T 2, Acta, die Einrichtung wegen derer Tagelöhner betr., 1737–1761, Bl. 16b– 20b. 17 StA Leipzig, Tit (F) VIII. 332 b, Allerley angebrachte Registraturen von 1717–1721, Bl. 45. 18 Helmut Bräuer, Über die „gemeynen arbeitter“ oder „Taglohner“ in obersächsischen Städten während der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 22 (2003), S. 59–79; Sema Simon, Die Tagelöhner und ihr Recht im 18. Jahrhundert (Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht 2), Baden-Baden 1995. 19 Helmut Bräuer, Hausgenossen in Städten Obersachsens während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Ders., Gerhard Jaritz, Käthe Sonnleitner (Hg.), Viatori per urbes castraque. Festschrift für Herwig Ebner zum 75. Geburtstag, Graz 2003, S. 73–95. 10 Renate Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall in der frühen Neuzeit, Franfurt-New York 1995. 11 Robert Jütte, Rez. zu: Helmut Bräuer, Armenmentalität in Sachsen 1500 bis 1800. Essays. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2008, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 96 (2009) H. 1, S. 90 f. 12 Helmut Bräuer, Elke Schlenkrich (Bearb.), Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau. Ein sachthematisches Inventar, 2 Halbbde., 1 CD-ROM, Leipzig 2002; vgl. dazu Helmut Bräuer, Ein Quelleninventar zur sächsischen Armenproblematik vor 1800. Einsichten und Impulse aus einem Projektzusammenhang, in: Christoph Kühberger, Clemens Sedmak (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 10), Wien 2005, S. 45–66. 13 Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11). 14 Peter Dinzelbacher, Zu Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte, in: Ders. (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen (Kröners Taschenausgabe 469), Stuttgart 1993, S. XV–XXXVII, hier S. XXI. 15 Iris Gareis, Art. Mentalitäten, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 8, Stuttgart-Weimar 2008, Sp. 372–377.

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16 H  elmut Bräuer, Armsein in obersächsischen Städten um 1500. Sozialprofile und kommunale Handlungsstrategien vor der Reformation, in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen Anhalt 64), Leipzig 2007, S. 25–52. 17 U. a. Franz Neiske, Europa im frühen Mittelalter 500–1050. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Kultur und Mentalität), Darmstadt 2006; Peter Dinzelbacher, Europa im Hochmittelalter 1050–1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Kultur und Mentalität), Darmstadt 2003; Johannes Grabmayer, Europa im späten Mittelalter 1250–1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Kultur und Mentalität), Darmstadt 2004; Beatrix Bastl, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1450–1650. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Kultur und Mentalität), Darmstadt 2002; Bea Lundt, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Kultur und Mentalität), Darmstadt 2009. 18 StA Dresden, RA, B. XIII. 5, Intercessiones von Exulanten, 1647–1655, unpag. 19 Elke Schlenkrich, Helmut Bräuer, Armut, Verarmung und ihre öffentliche Wahrnehmung. Das sächsische Handwerk des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts, in: Karl Heinrich Kaufhold, Wilfried Reininghaus (Hg.), Stadt und Handwerk in Mittelalter und früher Neuzeit (Städteforschung A 54), Köln-Weimar-Wien 2000, S. 93–117. 20 Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 239–251. 21 StA Chemnitz, III. VI. 1 c, Verschiedene, das Bettelwesen betr. Schriftstücke, 1685–1848, unpag., Bericht vom 5. Oktober 1719. 22 Helmut Bräuer, Armut in Bergstädten des sächsischen Erzgebirges während der frühen Neuzeit, in: Karl Heinrich Kaufhold, Wilfried Reininghaus (Hg.), Stadt und Bergbau (Städteforschung A 64), Köln-Weimar-Wien 2004, S. 199–238. 23 Zuletzt Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah, Spitäler in Dresden. Vom Wandel einer Institution (13. bis 16. Jahrhundert) (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 24), Leipzig 2008, die zunächst einen forschungsgeschichtlichen Überblick über das Supplikationswesen (S. 29–32) und dann einen umfangreichen auswertungspraktischen Teil zum Themenbereich „Hospitalaufnahme“ (S. 331–416) bietet. Vgl. auch Helmut Bräuer, Persönliche Bittschriften als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens, in: Gerhard Ammerer, Christian Rohr, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch, München-Wien 2001, S. 294–304; Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. 24 Besonders gewichtige Ausführungen bei Martin Scheutz, Zwischen Mahnung und Normdurchsetzung. Zur Rezeption von Normen in Zeugenverhören des 18. Jahrhunderts, in: Ralf-Peter Fuchs, Winfried Schulze (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörsprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit 1), Münster-Hamburg-London 2002, S. 357–397; ders., Frühneuzeitliche Gerichtsakten als „Ego“-Dokumente. Eine problematische Zuschreibung am Beispiel der Gaminger Gerichtsakten aus dem 18. Jahrhundert, in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 40), Waidhofen a. d. Thaya 2000, S. 99–134. 25 Meinen Standpunkt dazu vgl. Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 18–21. 26 Das ist eine allgemeine Forderung der Quellenkritik, die ebenso für die Schriftlichkeit aus anderen sozialen Sphären gilt, hier aber das besondere Gewicht aus der Zentralität dieser Quellenkategorie für mentale Fragestellungen erhält. 27 StA Chemnitz, III. VI. 1°, Unterstützungsgesuche, 1510–1867, Stück 9. 28 StA Dresden, RA, I. IV. 47, Acta, die gesuchte Aufnahme weiblicher Personen in das Hospital Materni betr., 1671–1680, unpag., 12. März 1672. 29 StA Chemnitz, V. I. 1, Protocoll, das Bettelwesen und die desfalls im Land emanirte Generalia betr., ab Ao. 1681, unpag. Die Liste enthält 28 detaillierte Armenbeschreibungen. 30 StA Dresden, RA, B. XIII. 105 d, Collectanea, das hiesige Armen- und Bettelwesen betr., 1723–1785, unpag., Bericht vom 31. Mai 1723.

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31 B  räuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 269. 32 Felician Gess (Hg.), Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen Bd. 2, LeipzigBerlin 1917, Nr. 984. 33 Adolf Laube, Werner Seifert u. a. (Bearb.), Flugschriften der Bauernkriegszeit, Berlin 21978, S. 135–138, S. 585 f.; Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 283 f. 34 Erich Egg, Peter Gstrein, Hans Sternad, Stadtbuch Schwaz. Natur – Bergbau – Geschichte, Schwaz 1986, S. 136. 35 Helmut Bräuer, Gesellen im sächsischen Zunfthandwerk des 15. und 16. Jahrhunderts, Weimar 1989, S. 284 f. Zum Spitalwesen vgl. zuletzt Martin Scheutz, Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hospitals and Institutional Care in Medieval and Early Modern Europe (MIÖG Ergänzungsbd. 51), Wien-München 2008. 36 Bergarchiv Freiberg, Bergamt Freiberg, BA-F / A 29 / Nr. 1409, Acta, die von alten krancken oder zu Schaden gekommen[en] Steigern und Bergleuten bey denen Gruben Gebäuden allerselbige zulezt in Diensten gestanden und angefahren, gesuchte Verschreibung eines wöchentlich[en] Gnadengeldes betr., 1752, unpag.; Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 165. 37 StA Dresden, RA, B. XII. 153 w, Acta über die aufgefundenen und in das hiesige E. E. Rath gehörige Findelhauß aufgenommene Kinder, 1773–1782, Bl. 12 f. 38 StA Freiberg, Aa. VII. II. 9, Armen- und Notstandssachen von Freiberger Untertanen (Almosenkasten); Vol. I, 1554–1675, unpag.; Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 207. 39 Bergfertige: Bereits von Paracelsus und Agricola beobachtete kranke Bergleute mit lungenkarzinomen Erscheinungen, die von Gesteinsstaub ausgelöst wurden. 40 StA Freiberg, Aa. VII. II. 9 (wie Anm. 38), Vol. III, 1505–1724, unpag., Brief vom 2. Oktober 1708. 41 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. 9993/11, Acta, das Getreyde Bedürfnis betr., Vol. II, Anno 1719, Bl. 137; Helmut Bräuer, Reflexionen über den Hunger im Erzgebirge um 1700, in: Manfred Hettling, Uwe Schirmer, Susanne Schötz unter Mitarbeit von Christoph Volkmar (Hg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, S. 225–239, hier S. 233. 42 Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, 30605, Grundherrschaft Auerswalde, Nr. 121, Gerichtsprotokolle 1722–1785, Bl. 22 f.; Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 272. 43 Vgl. hier zuletzt: Die neue Frage nach der Arbeit. Wittenberger Sonntagsvorlesungen 2007, Wittenberg 2007. 44 StA Zwickau, V. H5. 2, Einlagebuch für den Glückstopf, 1573. 45 Bräuer, Armenmentalität (wie Anm. 11), S. 113–160. 46 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung, Loc. 30752, Das Zucht- und Armenhauß Waldheim betr., ao. 1716, Bl. 324–336. 47 Gezielte Versuche einer Behandlung frühneuzeitlicher Landarmut bei Uwe Schirmer, Alltag, Armut und soziale Not in der ländlichen Gesellschaft. Beobachtungen aus dem kursächsischen Amt Wittenberg (1485–1547), in: Oehmig, Medizin und Sozialwesen (wie Anm. 16), S. 115–142. Wichtige Anstöße zur vergleichenden Sicht sozialer und mentaler Phänomene mit den Verhältnissen in Österreich finden sich bei Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien 29), Wien-München 2003, und Sabine Veits-Falk, „Zeit der Noth“. Armut in Salzburg 1803–1870 (Salzburg Studien 2), Salzburg 2000, S. 111–114. 48 StA Leipzig, Tit. (F) LVII. G. 3, 5, Gesindeordnung 1714–1735. Hier auch Ausweichen des Gesindes in ein „freies“ Arbeitsverhältnis. 49 Manfred Schober, Zur Geschichte der Armenhäuser in den Dörfern der Sächsischen Schweiz im 19. Jahrhundert, in: Aus den Forschungen des Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung, Marburg 1991, S. 147–158; Benno Kolbe, Zur Armenversorgung und zur Anlage der Armenhäuser im 19. Jahrhundert im sächsischen Vogtland, in: ebd., S. 159–165. 50 Verhörprotokolle bei Bräuer, Leipziger Bettler (wie Anm. 1), S. 197–209.

Armenmentalität in der Frühen Neuzeit

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51 M  arkus Cottin, Kirchenbucheinträge als Quellen zu Armut und Bettel auf dem Lande – die Beispiele Großzschocher und Windorf, in: Katrin Keller, Gabriele Viertel, Gerald Diesener (Hg.), Stadt, Handwerk, Armut. Eine kommentierte Quellensammlung zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Helmut Bräuer zum 70. Geburtstag zugeeignet, Leipzig 2008, S. 439–456.

Die „Betteltour“ – Aspekte der Zeit- und Raumökonomie nichtsesshafter Armer im 18. Jahrhundert Gerhard Ammerer

Einleitung Der Raum hat Hochkonjunktur. Über den „Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften“1 sind im letzten Jahrzehnt so viele Arbeiten entstanden, dass es beinahe schon zum guten Ton des Historikers gehört, den Begriff und dessen inflationäre Verwendung kritisch zu hinterfragen. Bei den folgenden Überlegungen zum Charakter des Raumes als sozialer Konstruktion orientiere ich mich vor allem an den Zugangsweisen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und der Darmstädter Soziologin Martina Löw. Bourdieu unterscheidet im Hinblick auf den Zusammenhang von Raum, Macht und sozialen Verhältnissen zwischen „physischem Raum“ und „sozialem Raum“ – nach dem Leibnizschen Begriffsinstrumentarium auch: „angeeigneter physischer Raum“2. Jeder Akteur ist dabei, so Bourdieu, durch einen Ort charakterisiert, an dem er „mehr oder minder dauerhaft situiert ist, sein Domizil“3. Seine aus der Gegenwartsbetrachtung erfolgte Wertung, dass Nichtsesshafte daher „nahezu keine Existenz“ besitzen, möchte ich in meinen Ausführungen für die Frühe Neuzeit in Frage stellen, denn zwischen dem Wohnsitz eines Bauern, dem temporären Domizil eines Knechts, der flüchtigen Heimat eines Gesellen und dem räumlich zumeist eng begrenzten Bettelrevier eines Vaganten bestanden zwar sowohl hinsichtlich des sozialen als auch des physischen Raumes qualitative Unterschiede, doch gab es auch wesentliche Verschränkungen und Berührungspunkte. Zudem sind die Übergänge fließend. Der soziale Raum Vagierender ist zunächst überwiegend im (Zwischen-)Raum zwischen den Ansiedlungen und Höfen der Sesshaften zu verorten, doch auch wenn die Straße den überwiegenden Lebensraum darstellte, nahmen Häuser und Orte, wie zu zeigen sein wird, im angeeigneten physischen Raum dennoch einen wichtigen Platz ein. Denn „sozialer Raum“ und „angeeigneter physischer Raum“ sind Räume von Beziehungen, welche die gleichen Entstehungsbedingungen aufweisen4. Die Ausstattung mit ökonomischem, sozialem oder kulturellem Kapital bestimmt die Position eines Akteurs im sozialen Feld und ermöglicht es ihm, sich ein mehr oder weniger großes Stück Raum anzueignen. Von dieser her kann auf seine soziale Stellung, auf seinen Platz im „sozialen Raum“ geschlossen werden. Dieses relationale Raumverständnis hat sich in der neueren historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung weitgehend durchgesetzt und als produktiv erwiesen. Nach

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Martina Löws Soziologie des Raumes5 entstehen Räume erst durch Handlungen und Wahrnehmungen. Sie definiert Raum als „relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung“6. Unter Spacing versteht sie das Platzieren von Menschen und sozialen Gütern sowie das Anbringen symbolischer Markierungen. Durch die Syntheseleistung, „das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst“7. Auf diese Prozesse deuten auch topographische Bezeichnungen für sozial konnotierte Räume hin. So finden sich Termini wie Bettlersteig für eine im Bereich des Kaisergebirges (Tirol) gelegene frühere Almosenroute8, bzw. das letzte, steile Wegstück vom Ennsboden zur Wallfahrtskirche Frauenberg (Steiermark)9, oder Bettlerweg für Verbindungen etwa auf dem Pizol in der Nähe von Bad Ragaz und bei Engi im Kanton Glarus (Schweiz), oder auch über das Furkajoch im Bregenzer Wald (Vorarlberg)10. Die Bezeichnungen weisen darauf hin, dass auch Bettler durch Interaktionsrituale, die zeit- und handlungsbezogen gestaltet wurden, Räume konstituierten. Den zeitlichen und geographischen Horizont bilden für die folgenden Ausführungen das 18. Jahrhundert und das Habsburgerreich.

Straße, „Reiserouten“ und Bettelreviere Die Quellen, vor allem die Untersuchungs- und Justizakten der regionalen Gerichte, enthalten zumeist nur knappe Hinweise auf die örtliche Präsenz und die Bewegung von Vaganten im Raum. Nur bisweilen schilderten vagierende Bettler in den Verhören die zurückgelegten Wege detailreich und nur vereinzelt protokollierten Beamte ihre Erzählungen auch. Diese Beschreibungen und zahlreiche singuläre Hinweise aus Verhörprotokollen lassen jedoch zumindest eine Annäherung an Raumerfahrungen und Raumkonzepte der Nichtsesshaften zu. Jenseits der falschen roman­tischen Vorstellungen eines von Lust und Laune diktierten Umherziehens, wie es etwa die Texte der Carmina Burana vermitteln, eines ungebundenen, von allen Zwängen freien „Zigeunerlebens“, wie es bis heute in bester Tradition von diversen Liedermachern besungen wird, bedeuteten angeeigneter und sozialer Raum sowie Zeit für die nichtsesshaften Menschen der Frühen Neuzeit – von dieser Hypothese gehe ich im Folgenden aus – Kategorien, die unter den besonderen strukturel­len Bedingungen eine im Vergleich zur sesshaften Bevölkerung zwar andere Nutzung erforderten, jedoch stark mit dieser verschränkt waren. Innerhalb ihres Lebensraumes „Straße“ verfolgten Vaganten bewusst oder unbewusst spezifische soziale und ökonomische Konzepte, die sie „erfahren“ und erlernt hatten. Die Aussage eines 13-jährigen, der sich erst kurze Zeit auf der Landstraße bewegte: Er halte sich auf, wo er halt hinkomme11, zeugt von einer noch weitgehend unbeholfenen Orientierungslosigkeit, einem Mangel an Raumerfassung und Raumerfahrung, die dieser Knabe erst im Laufe der Zeit beim Durchstreifen von Regionen erwerben musste, wenn er sich nicht einer Gruppe anschloss, wie es häufig der Fall war. Erst durch Wahrnehmung, Handeln und Erfahrung bildete sich Routine und ein sozialer Raum heraus.

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Dem vorübergehenden oder dauernden Leben auf der Landstraße war eine vielschichtige „Ökonomie des Notbehelfs“ eigen, denn das schmale Spektrum an Konsumchancen bedingte charakteristische räumliche Dispositionen und Anpassungspraktiken12. Nur Vagierende, die Kenntnis von den regionalen Spezifika der sozioökonomischen Infrastruktur (Märkte, Almosenanlaufpunkte, Bettel- und Nächtigungsmöglichkeiten etc.) erworben und die ihrer Zeit- und Lebenseinteilung eine Art Rhythmus gegeben hatten, waren „bewandert“. Raumnutzung und Zeiteinteilung wurden durch Übung erworben und nur selektiv an andere weitergegeben13. Den äußerst kom­plexen Strukturen der Ökonomie des Überlebens, der Vielzahl der routinemäßigen Alltagshandlungen und Improvisationen im Einzelnen nachzugehen, ist in diesem Rahmen nicht möglich. Der vornehmliche Lebensraum der Vaganten war die Straße. Unter dem Terminus verstanden sie Unterschiedliches: ein Wegstück von einem Ort zum anderen, den konkreten geographischen Lebensraum vor Ort, die Landschaft, die man sah, bereiste und sich nutzbar machte, aber auch den sozialen Raum der Nichtsesshaften14, die Lebensbedingungen und Formen der Kommunikation und des Umgangs miteinander. Auf der Strada15, so ein nicht nur topographisch gemeinter Hinweis in einem Steckbrief der Jahreswende 1784/85, kannte innerhalb eines überschaubaren Gebietes ein jeder den Wiener Bader als Kopf einer nur lose verbundenen, nichtsesshaften Gruppe, denen vom amtlichen Druckerzeugnis Eigentumsdelikte vorgeworfen wurden. Die Umgangsweise mit dem Raum vermittelt nicht zuletzt die von den Nichtsesshaften für die Bewegung verwendete Begrifflichkeit. Mit Präpositionen wie hinauf gegen, hinauf bis, bei, um [...] herum, unterhalb, zwischen etc. wurden sozial konnotierte Fixpunkte in der Region festgemacht. Allerdings bildeten vornehmlich nicht die Orte als geschlossene Räume, sondern Landstriche bzw. einzelne Raumkomponenten, vor allem Liegenschaften, die wesentlichen Bezugspunkte16. Die Vagierenden verbanden mit den konkret lokalisierten Häusern häufig auch die Hof- oder Besitzernamen17 sowie Abweisung oder Entgegenkommen, also für sie das existenziell Wesentliche, an das sie sich, wenn sie auf ihrer Betteltour das nächste Mal an dieser Stelle vorbei kamen, erinnern mussten. Das habituelle Merkmal Mobilität scheint nicht zwangsläufig Fremdheit bedeutet zu haben18, zeugten doch mehrere Bevölkerungssegmente von einer höchst mobilen Gesellschaft. Daher erscheint auch die Frage nicht abwegig, ob Vagierende durch einen zielgerichteten Umgang mit dem Raum möglicherweise so etwas wie „Heimat“ konstituierten bzw. den Status eines integralen, akzeptierten oder wenigstens geduldeten Bestandteils innerhalb der ansässigen Bevölkerung erlangen konnten. Waren diese in ihren Bettelrevieren immer Fremde oder waren sie – nach dem eigenen Selbstverständnis oder aus der Sicht der Sesshaften – als Teil der Gesellschaft akzeptiert, vielleicht sogar (teil-)integriert? Die durchwanderten Landschaften beschrieben die Vagierenden häufig nach Kriterien der Almosen- und Nächtigungsmöglichkeit19. Märkte und Städte, die sie beim Verhör zur Lokalisierung der Wegführung mitunter nannten, hatten die Verhörten hingegen oft gar nicht betre­ten. Unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit wurden auch Hauptstraßen von Vaganten möglichst gemieden. Eine gesteigerte Frequenz kam nur dann vor, wenn sich

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eine andere praktikable Möglichkeit des Fortkommens in der nächsten Umgebung nicht anbot oder wenn es sich um viel befahrene Verkehrsverbindungen handelte und somit eine gewisse Sicherheit vor Kontrollen bestand, eine Sicherheit, die durch den Gebrauch von Bettelmasken noch gesteigert werden konnte. Zu diesen Straßen zählten die bedeutenden Handelswege sowie Routen zu bekannten Wallfahrtsorten20, für Sesshafte wie für Nichtsesshafte wichtige, nicht nur religiös konnotierte Anlaufpunkte. Die Römerstraße wimmelt von solchem Gesinde 21, hieß es etwa bei einer Beschreibung von falschen Pilgern 1784. Solche Wegstücke waren wegen der hohen Frequenz sicherer als andere und wurden sogar von allein vagierenden Frauen gewählt, die sich ansonsten davor scheuten, gefährliche Strecken ohne Begleitung zu begehen22. Untersucht man das Wanderverhalten nichtsesshafter Armer, so lässt sich ansatzweise ein zwar unterschiedlich konstituiertes bevorzugtes Wegenetz erkennen, das jedoch zumeist abseits der großen Straßenverbindungen, vielfach, wie auch die oben erwähnten topografischen Bezeichnungen verraten, auf Bergen und Anhöhen lag und ein durch Kontrollen wenig behindertes, auch grenzüberschreitendes Vorwärtskommen ermöglichte. Die Bewegung und Ortsveränderung orientierte sich in der eigenen Wahrnehmung der Vaganten, die Norbert Schindler wegen der spezifischen Sehweise des Raumes auch als „Augenmenschen“ charakterisiert hat, an Brücken, Bäumen, Wegkreuzen, Hausfassaden etc.23. Vornehmlich waren es Gebäude, die sie zum Betteln aufsuchten. Neben Handwerkerhäusern und bäuerlichen Anwesen waren insbesondere Pfarrhöfe beliebte Ziele der Almosenhoffnungen und des Nachtquartiers24. Nach mehreren Aussagen von Weltgeistlichen wurden sie täglich von 30 bis 60 Bittstellern aufgesucht25. Klöster schätzten die Bettler vor allem wegen der Austeilung von Brot und Suppe26. Neben der Gabenbitte und Quartiersuche erhielten Vagierende in vertrauten Liegenschaften noch eine weitere Unterstützung, die auf einen gewissen Grad an Integration in „ihrer“ Bettelregion hindeutet: Sie durften einen Teil ihrer Fahrnis im Haus deponieren, um nicht laufend die gesamte Habe herumtragen zu müssen und somit Kräfte zu schonen. Teilweise erfolgte dies nur auf kurze Dauer – Ich habe mein Binkerl aufzuheben gegeben, sondann den Markt abgesamelt, und darauf wieder mein Binkerl abgeholt27, beschreibt der aufgegriffene Vagant Lorenz Wierland seine und die Praxis zahlreicher anderer –, teilweise geschah die Hinterlegung von Bündeln, Binkerln oder Backen auch über Wochen oder Monate und die Abholung erfolgte entweder dann, wenn man sie benötigte oder wenn man auf seiner Betteltour wieder an diesem Ort vorbeikam28. Die Wahrnehmung der Ressource „Raum“ im Sinn der „Bettelökonomie“ spiegelt auch die regionale Herkunft der Vagierenden. Ein großes Grazer Steckbriefsample lässt bei rund der Hälfte der 1.884 erfassten Personen die Bestimmung des Geburtslandes zu29. 57,7 % kamen aus einem der habsburgischen Länder, 3 % aus Salzburg, 10 % aus Bayern, 8,2 % aus anderen deutschen Territorien und 1,8 % aus Italien, der heutigen Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Dänemark und Polen. Nach Geschlechtskriterien ausgewertet, bestätigen die Zahlen, dass es sich bei den wenigen von weither zugewanderten Vagierenden beinahe ausschließlich um Männer handelte. Dafür war in erster Linie der Militärdienst

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verantwortlich, der vielfach räumliche und gesellschaftliche Entwurzelungseffekte zur Folge hatte, häufig auch vorzeitig durch eine Desertion „beendet“ wurde, die es nicht opportun erscheinen ließ, das Heimatgebiet auf absehbare Zeit wieder zu betreten. Das Herkommen der Vagantinnen war in den habsburgischen Ländern im Vergleich zu den Männern engräumiger. Die erwähnte Sammlung der überwiegend in Graz gedruckten Steckbriefe weist 28,1 % in der Steiermark gebürtige Männer, hingegen 36,7 % hier geborene Frauen aus. Eine statistische Auswertung von Gerichtsakten des Domstiftes Seckau hat ergeben, dass die Hälfte aller Festnahmen von Bettlern innerhalb eines 50 km-Radius von deren Geburtsort erfolgte und lediglich 15 % der Vagierenden 200 km und mehr von diesem entfernt aufgegriffen wurden30. Die Auswertung beider Samples zeigt, dass Reisen durch halb Europa singuläre Ausnahmen darstellten. Auf die Regel verweisen zahlreiche Protokollnotizen zu den Bettelrevieren vagierender Gruppen, z. B.: die Schubesleuth. [Sie] kommen alle Jahr einmahl im [= ins] Pusterthal, sonst halten sie sich in Kärnthen und Pinzgau herum auf31. Die Beobachtungen aus der Steiermark stimmen mit den Ergebnissen von Ernst Schubert, Gerhard Fritz oder Laurence Fontaine überein, die für die Frühe Neuzeit einen generellen Trend zur „Regionalisierung der Mobilität“ Vagierender annehmen32. Auch Eva Wiebel und Andreas Blauert kommen für das 18. Jahrhundert bei ihrer Auswertung von Steckbriefsammlungen zum Ergebnis einer relativ starken „Standortgebundenheit“ und eines kleinräumig ausgeprägten Herumziehens33. Stand im Zentrum eines engen Wanderradius und eines angeeigneten Raumes möglicherweise eine (temporäre) Heimat? Die Tatsache, dass weiträumiges Vagieren selten vorkam, sagt noch nichts über die tatsächliche Größe des Wanderradius aus. Die Steckbriefe geben nur selten Auskunft darüber, wie lange oder wie häufig sich jemand in einem Gebiet aufhielt. Die 54-jährige Maria Kärnerin etwa, die seit acht Jahren bettelnd umherstrich, gab über das von ihr „bereiste“ Gebiet die Auskunft: Überall in Unter Steyer, in Salzburg-Land, in Österreich, und mehreren Orthen34. Das entsprach – bei aller Ungenauigkeit der Angabe – einem vergleichsweise sehr großen Wanderradius, befanden sich die Rou­ten, insbesondere diejenigen von Frauen, in der Regel doch innerhalb des Rahmens gut bekannter Landstri­che und Ortschaften35. Über die Reisegeschwindigkeit und die zurückgelegten Distanzen erweisen sich die Quellen ebenfalls als wenig auskunftsfreudig. Das Vorwärtskommen hing von mehreren Faktoren ab, neben persönlichen Aspekten wie dem Gesundheitszustand oder der Gruppengröße auch von der Witterung und den topographischen Gegebenheiten, etwa der Dichte der Anlaufpunkte in einer Region. Distanzen von 20 Kilometern und mehr pro Tag waren selten und dienten zumeist einem raschen und markanten Gebietswechsel, doch kamen innerhalb weniger Tage zurückgelegte Wegstrecken von 100 Kilometern auch dann vor, wenn es etwa galt, möglichst rasch ein Dorf zu erreichen, wo ein Kirchweihfest oder ein Jahrmarkt stattfand36. Zwischen fünf und zehn Kilometer pro Tag dürfte jedoch die Regel gewesen sein, wenn Bettler von Hof zu Hof um Almosen gingen37. Rosina Ebner legte laut gerichtlicher Feststellung (Schätzung?) innerhalb einer Gebietsfläche von 150 bis 200 Quadratkilometern in sieben Jahren rund 2.000 km zurück38. Auf Tage umgerechnet, ergibt diese Angabe wesentlich weniger als den eben genannten Wert. Gründe dafür waren

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vor allem das temporäre Verbleiben an einem Standort (vor allem während der Wintermonate, aber auch bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt, zeitweiser Arbeit u. a. m.) sowie das Faktum, dass (Um-)Wege, etwa für das Almosensammeln von einem Haus zum anderen, das Begehen von sicheren Nebenwegen oder Geländeüberquerungen ins nächste Dorf für die Behörden unmaßgeblich waren und daher nicht ausreichend detailliert dokumentiert wurden.

Sozialer Raum und gesellschaftliche Anbindung Das Überleben auf der Landstraße sicherte die als „Ökonomie des Notbehelfs“ ins Schrifttum eingegangene Alltagspraxis, eine aus unterschiedlichen legitimen wie illegitimen Erwerbsquellen kombinierte Existenzform, eine „Kultur der Vielseitigkeit“ (Ernst Schubert)39. Von den Mitgliedern einer fahrenden Gemeinschaft, der überwiegenden Form des vagierenden Personenverbandes, wurden zur bestmöglichen Versorgung verschiedene zur Verfügung stehende Verdienstmöglichkeiten wahrgenommen und kombiniert. Bettelerträgnisse allein reichten zur Subsistenzsicherung nicht aus. Auch für Einzelgänger scheint das reine Almosen den Lebensunterhalt nicht gewährleistet zu haben. So erklärte Valentin Podling, der zumeist allein unterwegs war, der Behörde, dass er die Diebstähle, die ihn schließlich in den Arrest gebracht hatten, nur deshalb begangen habe, indem ich nicht allzeit Arbeit gehabt, durch Bethlen aber nicht so viel erworben habe, als ich zur nöthigen Kleidung gebraucht 40. Situations- und saisonbedingte Anpassung, flexible, alternative Arran­gements sowie geschicktes Organisieren waren erforderlich, um das Auskommen zu gewähr­leisten. Die Nutzung und Kombination heterogener materieller Ressourcen erforderten eine im tagtäglichen Umgang mit den materiellen Zwängen erworbene Kompetenz41, also die Löw’sche Syntheseleistung, wie die in Begleitung von zwei Kindern aufgegriffene Witwe Elisabeth Glanzerin bestätigt: Sie hätten keinen rechten Aufenthalt gehabt, sondern sich mit Schwämme schneiden, Hant-Arbeithen, Beuttlmachen und Stricken erhalten [...]. Hätte wohl zuweillen die Leuth um ein Stickl Brod /:weillen ansonst gar hart zu leben:/ gebetten 42. Eine andere Witwe, Maria Anna Kleinpäurin, ernährte sich und ihr Kind durch Krämerei, Nähen und Stricken sowie schließlich auch durch Beutelschneiden43. Helmut Bräuer hat solche Frauen unter dem Erwerbsaspekt als arbeitende Bettlerinnen typologisiert44. Die Kombination von temporärer Arbeit einerseits und der Bettel andererseits scheint die häufigste Überlebensstrategie dargestellt zu haben: Wan sie Arbeit [be]kommete, thäte sie arbeithen, als Spinnen, Nähen, und Stricken, wan aber keine Arbeit wäre, mieste sie betlen gehen, so die 48-jährige Helena Wilpergerin, die in einem engräumigen Bettelrevier im Gebiet von Schladming und der Ramsau vagierte45. Außer der Schnittarbeit in Österreich, in welche mein Mann jährlich gehet, leben wür lediglich von Bettlen 46, war hingegen die falsche Auskunft von Gertraud Schmiedin vor dem Richter, da sie nicht verheiratet war und ihr Lebensgefährte auch anderen Tätigkeiten nachging. Die meisten fahrenden Frauen und Männer gingen von Dorf zu Dorf und von Haus zu Haus und nutzten jede Erwerbs-

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Abb. 1: Christian Wilhelm Ernst Dietrich, Bettelvolk. Öl auf Holz 1774 (Bildarchiv der ÖNB, Inv.Nr. D 34491/AB*RF).

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möglichkeit. Sie boten ihre Arbeitskraft für saisonal bzw. konjunkturell abhängige landwirtschaftliche oder gewerbliche Tätigkeiten an und wurden, wenn man ihre Mithilfe benötigte, oft nur mit Behausung und Nahrung entlohnt. Es konnte sich dabei um Ernte-, Dresch-, Hirten- oder Holzarbeiten, aber auch um die Mithilfe beim Straßenbau, in Ziegelbrennereien etc. handeln47. Vielfach wurden von befragten Vagant/inn/en Kombinationen von zwei oder drei saisonal ausgerichteten „Haupterwerbstätigkeiten“ genannt. Insbesondere Spinnen, Stricken, Nähen und Wäsche Waschen waren Arbeiten, die auch minder erwerbsfähige Personen verrichten konnten, solche, die der grossen Arbeith nicht mehr wegen Uncräften vorstehen 48 konnten. Innerhalb des gemeinschaftlichen Wirtschaftens einer Gruppe lässt sich eine gewisse Arbeits- bzw. Rollenaufteilung feststellen, die eine geschlechtsspezifische und eine altersspezifische Kompo­nente aufweist. Aussagen zu den vielfältigen Facetten des kollek­tiven Mischerwerbs finden sich in den Verhörprotokollen: Wir Weibsbilder sind meistentheils allein geblieben, haben bey denen Häusern und Schwaig Hütten gebettlet, der Peter und der Klampferer [= Kesselflicker] haben geklampfert, und seynd abends [...] auch allzeit zusammen gekommen, sie haben etwas wenigs Geld von der Klampferer Arbeit auch bisweilen Spöck und Fleisch mitgebracht 49 – so die Angabe einer Elfjährigen zur Zeit- und Arbeitsökonomie einer fünfköpfigen Gruppe. Schon dieses Zitat deutet auf Bezugspunkte zwischen Vagierenden und Bauern hin, welche die Koexistenz von Nichtsesshaften und Sesshaften fundierten. Auf der Qualität des sozialen Raumes, den familialen und nichtfamilialen Akteuren und Netzwerken50, gründete auch die Präferenz von Regionen und Wegen. Hielten sich die beiden jungen, bettelnd umherziehenden Abdeckerbrüder Johann Georg und Franz Aublinger zumeist in der Gegend um Hartberg in der Steiermark auf, wo sie mit dem Abdecker Hansel N., der sein Haus unweit Grafendorf hat [...] gut bekannt51 waren, so befanden sich Maria und Anna, die neun und 13 Jahre alten Töchter der bereits erwähnten Schubesfamilie zu dem Zeitpunkt, als diese zum wiederholten Male aufgegriffen wurden, im Gerichtsbezirk Spittal auf dem Weg zu ihrer Taufpatin, die ihnen im Sommer zuvor etwas zum Anziehen versprochen hatte52.

Die Zeit Das komplexe Phänomen Zeit bedeutete für Vagierende nicht nur eine soziale Dimension des Erlebens, des Bewusstseins und der Erfahrung, sondern stellte ebenfalls eine Kategorie des ökonomischen Denkens dar53. Die Erfahrungen der Vagierenden erwuchsen einem Lebenszusammenhang, in dem Zeit nicht dem Rhythmus einer genau vorausplanbaren Ordnung unterworfen war, sondern sich nach den jeweiligen Bedingungen der Stunde und des Tages richten musste, die unter anderem von der Natur und von den Jahreszeiten, etwa den Zwängen der Nahrungsbeschaffung durch Sammeln von Nüssen und anderen Früchten des Waldes, dem Stehlen von reifem Obst etc. bestimmt waren. Zudem bedurfte auch das Vagieren in einer Gruppe einer zeitlichen Koordination. Vorwürfe an Partner, sie seien beim Betteln zu langsam gewesen54, deuten auf das Bemühen

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einer ökonomischen Zeitverwendung hin: Als bedeutender Einnahmequelle der nichtsesshaften Armen war damit sogar dem Bettel eine spezifische Zeitdimension eigen. Eine möglichst knappe Zeitspanne sollte der Wortwechsel zwischen Bettler und Almo­sengeber dauern, was bedingte, dass das Anliegen kurz und prägnant vorgetragen wurde. Das führte, worauf Norbert Schindler hingewiesen hat, zu einer gewissen Formelhaftigkeit und Habitualisierung des Dialoges55. Siedlungen und Täler wurden systematisch abgebettelt56. Das Abgehen bzw. das Abstreifen der Häuser und Höfe bestimmte das Tempo der Bewegung im Raum und war nicht zuletzt nach Ernte- und Schlachtzeiten ausgerichtet. Die Wegführung wurde somit stark vom agrarischen Zyklus mitbestimmt. Erfahrene Vaganten wussten, wann es in „ihren“ Bettelrevieren im landwirtschaftlichen Jahreslauf kleine Verdienstmöglichkeiten und wo es althergebrachte Terminalalmosen57 zu erheischen gab bzw. bei welchen Institutionen an welchen Feiertagen besondere Speisenausteilungen stattfanden. Vielerorts wurde zu solchen wiederkehrenden Anlässen Brot vor den Kirchentüren gereicht58. Zudem hatte man Kenntnis, wann und wo im angeeigneten physischen Raum Jahrmärkte, Feste und Feiern stattfanden, die nicht nur für das Leben der sesshaften Landbevölkerung wichtige ökonomische und gesellschaftliche Ereignisse darstellten, sondern auch für die Vagierenden gleichzeitig Treffpunkte, Zentren des Austausches von Waren und Informationen, Almosenreviere und Erwerbsstätten darstellten. Auf den Kirchweihen war mit Spendierfreudigkeit zu rechnen, konnten Dienstleistungen oder Gegenstände zum Kauf angeboten, inmitten des Festtrubels aber auch kleine Eigentums­delikte begangen werden. In Steckbriefen finden sich wiederholt Hin­wei­se auf diese Bettelrouten konstituierenden Fixpunkte: Sein Aufenthalt ist stäts in Böhmen, ausser der Marktszeit zu Linz, Krems, Stadt=Steyer, Wels, und Salzburg, bei welcher er sich sicher allda einfindet59. Wenn nun an einem Orte vollends Kirchweihfest, oder Markt ist, so der Wiener Schriftsteller Johann Pezzl satirisch überhöht zur Besucherfrequenz, dann wird man beinahe ganz von Bettlern aufgefressen 60. Auf Kirchweihen, Jahrmärkten oder Messen trafen sich unterschiedliche Vaganten(gruppen) zufällig, bisweilen jedoch auch verabredet61. Die Winterszeit barg für nicht sesshafte Personen besondere Gefahren, insbesondere für Einzelgänger. Dass man nach der Schneeschmelze halbverweste Leichen von Vaganten fand62, kam des Öfteren vor. Vor allem in strengen Wintern erfroren immer wieder Bettlerinnen und Bettler auf der Straße. Vaganten, die über den Winter in eine andere Region wechselten, sind quellenmäßig zwar mehrfach belegt63, doch scheint das nicht der Normalfall gewesen zu sein. Die Winterquartiere, die sich Nichtsesshafte aneigneten, waren von unterschiedlicher Qualität. Manche wählten Stadeln oder Almhütten als Unterschlupf64, die Mehrzahl aber versuchte, während der kalten Monate bei einem Bauern oder Landhandwerker unterzukommen. Der Bitte, jemanden über den Winter zu behalten 65, wurde häufig entsprochen, auch wenn die Aufnahme oft nur behelfsmäßig in Scheunen oder Ställen geschah. Als Gegenleistung mussten die Vagierenden häusliche und agrarische Arbeiten verrichten. Beim Eder, so der vagierende Hans Wallenstainer 1758, het er sich wohl von Winter an, bis auf den Länzen aufgehalten, darnach het ihme Eder fortgehen

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gehaissen. An Tätigkeiten habe er in dieser Zeit Fah­ren, Dröschen, und andere Hausarbeit mehr66 verrichtet. Vagierende beteiligten sich also bei der Winterarbeit auf den Höfen und wurden zu Tätigkeiten herangezogen, die auch das Gesinde, Tagwerker oder Inwohner wahrnahmen. Damit war ein Großteil der Vaganten zumindest temporär, über einige Monate, in einer sesshaften Gemeinschaft integriert und Teil des Ganzen Hauses.

Straßen und Orte als Ressource Der Lebensraum Straße, der bezogen auf den praktischen „Umgang“ damit auch als „Zweckraum“ bezeichnet werden könnte67, stellte nicht nur hinsichtlich des Bettelns eine Art Ressource dar68. Neben der Existenz von Naturprodukten wie Holz, Wasser, tierischer und pflanzlicher Nahrung etc., bestimmten die Besiedlung sowie die topographischen und geopolitischen Eigenschaften des Raumes die Möglichkeiten der Nutzung und damit dessen „Wert“. Die Landschaft, die ansässigen Menschen und die Wirtschaftsweisen bzw. „Ökotypen“ waren grundlegend für die Dienstleistungs- und Warennachfrage. Der Raum wurde als „Nahrungsraum“ somit auch zur sozialen Konstruktion. Er gehe über Göss in die Obersteiermark, so erklärte der erst seit kurzer Zeit vagierende 30-jährige Joseph Spällinger seine auf einem klaren ökonomischen Kalkül beruhende Wegwahl, weil auf dieser Route mehr Häuser zum Betteln vorhanden seien, als wenn er die Landstraße entlang ginge69. Und gleichzeitig thematisierte er die Notwendigkeit, trotz eines schwerwie­genden Fußleidens permanent Wegstrecken zurücklegen zu müssen, um genügend Almosen sammeln zu können: Er kenne nirgendwo jemanden näher, da er alle Nacht ein anders Ort zur Herberg gehabt [...] ist wirklich war, daß ich alle Tag gegangen, dann sonst hätte ich nicht zu Leben gehabt70. Diese und ähnliche Aussagen lassen auf einen gewissen Zwang zur Fortbewegung und darauf schließen, dass Vagierende in der Regel nicht erwarten konnten, von ein und derselben Person mehrmals hintereinander Almosen zu erhalten. War die Zeitspanne zwischen den „Besuchen“ zu knapp, gaben die Bauern, wenn überhaupt, nur unter Zwang und Protest71. Bisweilen vertraten die Vagierenden in den protokollierten Aussagen sogar selbst die Auffassung, dass sie die Bauern zwar um Nachtquartier und Essen bitten, aber keineswegs über Gebühr belasten sollten, um nicht gesichertes Sozialkapital72 aufs Spiel zu setzen73. Das Verhalten der Almosengeber steckte den physischen Raum ab, den sich Nichtsesshafte mehrheitlich aneigneten. Waren das ein-, höchstens zweimal jährliche Erscheinen und die entsprechende Gabe das Übliche, so gehorchte das häufigere Aufsuchen eines Hauses anderen „Gesetzen“, vor allem denjenigen der materiellen Wechselseitigkeit, die in einer Leistung des Ansässigen sowie einer Abgeltung des Vagierenden bestand. Elisabeth Mayrin erzählte bei ihrer Befragung im Dezember 1782 vom Schuhmacher von Liechtenwald, bei dem sie zusammen mit ihrem Sohn um die Pfingstzeit mehrmals hintereinander gewesen war. Fleisch, Mehl und andere Naturalien habe sie jeweils mitgebracht und der Quartiergeber habe daran partizipiert: Bey dem Schuster aber konnten wir jederzeit kommen, wir haben dorten auch einmahl beysammen geschlafen, öfters gekochet, und geessen, wo

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Abb. 2: Bettlergruppe, Bildausschnitt aus: Hl. Johannes Nepomuk mit Bettlern, anonym, Federzeichnung aus dem Troger-Umfeld, 18. Jahrhundert (Stift St. Paul/Kärnten).

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wir ihm dann auch öfter einen Brocken gegeben [...]. Am letzten Pfingsttag, hat er mit uns geessen, und dieses geschahe gemeiniglich, so oft wir aldorten kochten, wann wir kein Salz hatten, und er uns eines zum Kochen hergeben, bekamme er auch jedesmal ein Paar Kreutzer dafür [...] und wir haben ihm auch zu trinken gegeben74. Raum und Straße wurden von den Vaganten mental und rhetorisch im Sinn der wirtschaftlichen Nutzung in Erfahrungsbereiche und -gehalte, in die Gegensatzpaare von „innen“ und „außen“, von „fremd“ und „vertraut“ eingeordnet, konnten als Korrelat des Fahrenden je nach Ort und Gegend ihre Bedeutung ändern, fördernd wirken oder hemmen, Entfaltungsmöglichkeit oder Wider­stand bieten75. Die Heimatgemeinde von Paul Mayr war Kufstein. Während er seine gewohn­te Umgebung in Tirol mit Präpositionen wie auf, in oder nach bezeichnete, wurde sprach­lich sofort deutlich, wenn er die gewohnte Umgebung verließ: Zur Holzarbeit war er noch in die Gerlos gegangen, während er ins benachbarte Bayern hinaus gekommen76 war. Das Prinzip des Innen, des Vertrauten, das Mayr auch als hineingehen bezeichnete, und des Außen, des Fremden, das durch Verben wie hinausgehen, hinauskommen etc. beschrieben wurde, beruhte nicht auf abstrakten Grenzen, sondern auf der konkreten räumlichen Wahrnehmung von vertrauten Landschaften, von angeeigneten Räumen. So vermeinten Vaganten auch zu wissen, dass das Betreten bestimmter Gegenden sicher oder aber gefährlich sei77. Der durch Erfahren und Erfahrung gewählte, räumlich relativ enge Lebensbereich war für die Mehrzahl der Vaganten das Gebiet mit ausreichendem Almosen und eben dem Vorzug der Sicherheit. In der Regel waren sie dort als Bettler und/oder als Anbieter von Dienstleistungen und Waren bekannt und wurden etwa auch durch die Bevölkerung vor etwaigen Generalstreifen gewarnt78. Vor allem dünn besiedelte Gegenden, Täler oder Berg­re­gi­onen79, und dort vor allem abseitig liegende Pfarrhöfe und Bauerngüter80, wurden als Orte, die gleichermaßen Brot und Schutz boten, geschätzt. Der Aufenthalt in denen Bergen 81 als einem über­sichtlichen, begrenzten Raum, in dem man auch vor behördlicher Kontrolle einigermaßen sicher war und der gleichzeitig Almosen und temporäre Arbeit bot, findet sich häufig in den Quellen. Klagen von an Bettelrouten gelegenen Bauern, dass sie an manchen Tagen bis zu 20 Kreuzer, folglich wohl eben so viel als sie ihr eigener Unterhalt kostet, an die Bettelleute wegschenken müssen (Pezzl) 82, waren keineswegs eine literarische Erfindung und vermitteln eine Vorstellung vom Umfang des Almosenwesens. Auf dem Land gehörte es zum Alltag jedes Hausbesitzers, dass jemand an die Tür klopfte und um Nahrung oder Nachtherberge bat83. Diesem wurde nur selten die Tür gewiesen, wenngleich man ihn argwöhnisch betrachtete, wenn er tatsächlich fremd war, und diesen rhetorisch manchmal recht unwirsch behandelte84. Wie häufig das Gewähren von Nachtquartier oder das Reichen von Almosen durch das Bemühen, Erpressungen und anderen Unannehmlichkeiten, wie etwa Sachbeschädigungen oder Flüchen, aus dem Weg zu gehen85, motiviert war, ist quellenmäßig nicht zu erfassen. Die Annahme, dass Angst die Haupt- oder sogar alleinige Ursache für das „vagantenfreundliche Verhalten“ der Bevölkerung darstellte bzw. die These einer Terrorherrschaft und mafiaähnlicher Verhältnisse auf breiter Basis86, wie sie jüngst Gerhard Fritz für

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Südwestdeutschland formuliert hat, entspricht den Quellenbefunden des Habsburgerreiches nicht. Für das Almosensammeln bedeutete eine dichte Besiedelung einen wesentlichen Zeitgewinn, die Stadt jedoch war den Nichtsesshaften im 18. Jahrhundert prinzipiell fremd und feindlich. Dort versuchte man, „gute Ordnung“ zu halten, dort war Betteln unerwünscht und repressive Kontrolle zu erwarten87, und manchem urbanen Gemeinwesen gelang es tatsächlich, Bettel und Vagabondage innerhalb der eigenen Mauern durch repressive Maßnahmen, durch Torwächter und „Sicherheitsorgane“, weitgehend zu unterbinden88. Darauf wies etwa Friedrich Nicolai im dritten Band seiner Reisebeschreibung hin, als er die Erfolge des Wiener Magistrats beschrieb: In der Stadt findet man keine Bettler. Da stehen der Policeysoldaten zu viele 89. Aussagen wie diejenige von Maria Mayrhoferin: In den Stötten häten sye sich nicht, sondern nur auf denen Berg herum aufgehalten, massen sye wohl gewust, das sye in ersteren Orthen nicht würden gedultet werden 90, weisen gleichermaßen auf die Präferenz sicherer Gebirgsräume hin. Das kollektive Wissen um die Gefahren der Stadt scheint häufig sogar zu unreflektierten Strategien des vermeintlich erlaubten Bettelns auf dem Land und der bewussten Meidung des urbanen Raumes, weill es alldort verbotten ist91, geführt zu haben. Der 22-jährige Webergeselle Franz Schwarz, der nach einer Krankheit keine Arbeit mehr gefunden hatte, ergänzt diesen Aspekt noch mit dem Hinweis auf die Verweigerung von Almosen: Ich habe mich auch meistens mit dem Bettlen erhalten müssen, weillen ich sonst nicht zu Leben hab. In der Stadt darf man nicht bettlen, und man bekomt nichts, derowegen mus ich bei der Bauerey das Brod suchen, habe mich derowegen nicht in die Stadt getraut bitten zu gehen, weillen aldort ein Diener mit 2 Knechten sich befindet92. Viele Städte besaßen allerdings randständige oder außerhalb des Zentrums gelegene, relativ sichere Bereiche. Für Wien hat Helmut Bräuer für das 17. Jahrhundert mehrere Striche jenseits des Linienwalls wie etwa die Leopoldstadt festgemacht, für Graz war es die Murvorstadt und für Wels die Lambacher Vorstadt93. Dort gab es eine Reihe von bekannten (Winkel-)Herbergen (s. u.) Auch wenn viele Vagierende die Städte mieden, positionierten sie sich zum Betteln vielfach an den Hauptverkehrsverbindungen in deren Nähe, wo viele Menschen vorbeikamen, die dorthin unterwegs waren und setzen sich schon fruh Morgens, sonderbahr an denen Sonn=und Feyrtagen auf die Strassen [und] plagen die Vorbeygehendte 94.

Grenzräume und Gebietswechsel Bisweilen kam es vor, dass die „Tragfähigkeit“ eines Raumes auf Dauer oder auch vorübergehend abnahm, weil dieser entweder von negativen Ereignissen betroffen war oder aber von zu vielen Individuen und/oder Gruppen durchstrichen wurde und sich damit die Möglichkeiten der „legalen“ Subsistenzsicherung verringerten. In solchen Fällen basierte der Wechsel des Aufenthaltsraumes auf einer „Übernutzung“ des Landstrichs, in dem man sich gemeinhin aufhielt95. Wenn der angeeignete Raum die ökonomische Existenz einer fahrenden Gruppe nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleistete, bestand eine wei-

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tere, häufig gewählte Lösung darin, deren Zusammensetzung zu ändern, was bei großen Gruppen generell vielfach üblich war: Wenn wir alle beysammen seyn, bringen wir das Essen viel zu hart auf96, erklärte Viktoria Spitalerin, die Mutter einer personenstarken Vagantenfamilie, bei der drei Töchter im Alter zwischen neun und 14 Jahren häufig von den Eltern getrennt bettelten. Das Phänomen der befristeten Trennung ist bei familialen wie bei nichtfamilialen Gruppen festzustellen, die an vereinbarten Treffpunkten wieder zusammenkamen97. Selbst Paare trennten sich, manchmal auch auf längere Dauer, und gingen einzeln dem Bettel nach98. Ihren Angaben zufolge hatte Gertraud Schmiedin ihren Angetrauten, einen invaliden Soldaten, der sich als Tagwerker zuweilen beim Einbringen des Getreides verdingte, zu Schwöchat verlassen, und wür haben uns abgeredet, erst zu Michaelis dieses Jahrs zu Kirchberg in Österreich wider zusammen zu kommen. Bis dahin [wollte] ich dem Samlen nachgehen99. Damit wird deutlich, dass bei Vagierenden die Kommunikations- und Kontaktbedürfnisse den topographisch bedingten Notwendigkeiten der Bettelökonomie untergeordnet waren100.

Das „Anherbergen“ Ohne von einer früheren Lebenssituation verbliebene oder neu geschaffene fixe Anlaufpunkte war eine Bettlerexistenz nur schwer möglich101. Einzelpersonen wie Gruppen suchten in der Regel immer wieder dieselben Orte einiger weniger Gerichtsbezirke, seltener einiger Länder, und dort vor allem diejenigen Leute auf, die ihnen bekannt und wohl gesonnen waren102. Eine Anbindung an die „etablierte Welt“ war dort besonders leicht möglich, wo Familienmitglieder Haus und Hof besaßen oder eine Dienststelle innehatten. Solange Kontakte bestanden, konnte man zeitweise bei diesen unterkommen oder sie in dringenden Notfällen, etwa bei Krankheit, kontaktieren103. Die 36-jährige Witwe Magdalena Huberin, die in Begleitung ihres Kindes in Österreich und Bayern zeitweise arbeitete und ansonsten ihr Brot von Gott, und guten Leuten suchte104, plante auf ihrer Bettelroute immer wieder den Besuch von Verwandten in Linz und Engelhartszell ein. Die Aufnahme von Kranken auch bei nicht familialen verbundenen Bauern und Wirten105, und dies selbst über mehrere Wochen, wird in den Quellen mehrfach erwähnt. Auch Hochschwangeren gewährte man Quartier106. Lediglich Personen mit erkennbaren ansteckenden Leiden wurden generell abgewiesen. Die 1783 in der Gegend des Stiftes Gleink erfolgte Herbergssuche eines an der Ruhr erkrankten Mannes blieb vergeblich. Diese Person, so hieß es daraufhin lapidar in der gerichtlichen Protokollnotiz dazu, mußte in einer Hüthe das Leben beschlüssen107. Vereinzelt wurden „Schlafstellen“ sogar vom vagierenden Vater auf den vagierenden Sohn weitergegeben108. Bei aller Bandbreite zwischen Antipathie und Sympathie weisen Aussagen von Quartiergebern wiederholt auf ein zumeist keineswegs feindliches, manchmal sogar durchaus vertrautes Verhältnis zwischen Sesshaften und Nichtsesshaften hin, etwa darauf, dass Bettler wie die bereits erwähnten Schubesleute nicht nur bei ihnen gekocht, sondern auch mit ihnen den Rosenkranz gebetet hätten. Das Gruppenoberhaupt, so die Angabe der Bauersleute, habe in der Stube mit den ältesten

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Söhnen auch noch für Späß gekartet [= ohne Geldeinsatz Karten gespielt], als sie bereits schlafen gegangen waren109. Wie unkompliziert und beinahe selbstverständlich das Übernachten von Vagierenden bei Bauern – häufig sogar in deren zentralem Wohnbereich – vor sich ging, schilderte der Landwirt Michael Kerschbaumer dem Gericht: Vor einigen Tagen sei abends um sieben Uhr ein Mann gekommen, hat um die Herberg gebittet, und ist geschwind in der Kuchl hinter die Häfen hingelegen, hat sich nicht recht anschauen gelassen, und als krank gestellt. Wir haben ihn da liegen lassen. Hat dann ein Tirggen [= Türken = Mais] gestohlen. Ein anderer Mann, der ebenfalls bei uns übernachtet hat, hat uns gesagt, daß dieser in der Nacht in die Stube gekommen und dann fortgegangen ist. Wir sollten schauen ob uns nichts abgeht110. Die übliche Ankunftszeit für das Anherbergen war Mitte bis später Nachmittag. Jedenfalls sollte es noch hell sein111. War bereits die Dämmerung hereingebrochen, so gestaltete sich die Suche bedeutend schwieriger, denn nach Sonnenuntergang standen die Vagierenden oft vor verschlossenen Türen, da die Hausbe­wohner mit dem Einbruch der Dunkelheit schlafen gegangen waren. Nur mit einigem Glück erhielt man zu später Stunde noch Quartier: Sie haben beym Bauern noch Liecht gehabt, erzählte Balthasar Schubes, und haben mich wohl gefragt, warum wir so spath anherbergen thäten: Ich hab ihn halt gesagt, wir haben zu Sillian keine Herberg bekommen. Meine Kinder haben halt so stark geweint und da haben sich die Leut über selbe erbarmet112. Das Gewähren des Nachtlagers hing maßgeblich von der Größe der vagierenden Gruppe ab. Eine geringe Anzahl von Personen fand leichter Aufnahme, große Einheiten teilten sich oft über Nacht auf mehrere Häuser und Höfe auf: Am Sambstag hat sie bey dem Schneider an Sonntag aber bey dem Zacherl geschlafen, einige seynd bey dem Wagner, einige bey dem Gruntner geblieben113, beantwortete Catharina Hagin die Frage nach der Übernachtung ihrer Gruppe in Obermarreith. Eine solche Aussage macht auch deutlich, dass Vagierende in den von ihnen bevorzugt durchwanderten Räumen die Übernachtungsmöglichkeiten ziemlich exakt abzuschätzen vermochten. Nur ausnahmsweise wurde selbst eine zwölfköpfige Vagantengruppe von einem Bauern aufgenommen, allerdings musste sie dabei schon eine geschickte Strategie anwenden: Mein Mann und der Pfunderer Stöfl haben zuerst um Herberg gebeten. Dann bin ich mit allen meinen Kindern nach. Dan wan wir alle auf einmahl hineingegangen wären, würden wir kein Herberg bekommen haben114. Diese große vagierende Gruppe um die uns bereits bekannte Familie Schubes bezeugt andererseits auch die permanenten Schwierigkeiten bei der Suche nach einem gemeinsamen Nachtquartier, wie die folgende Klage beweist: Wir seynd erst spat in die Herberg gekommen, weil man uns nirgends wo hat behalten wollen, weil wir unnser zuviel Leuth waren. Fanden einzelne Personen auf einem Hof selbst dann noch Aufnahme, wenn bereits eine Vagantengruppe Nachtquartier bezogen hatte und die Bäuerin, deren Stube ohnehin bereits stark frequen­tiert war, darauf hinwies, es liegeten so genueg Leuth bey ihr115, so musste man sich in einem solchen Fall als großes Kollektiv aufteilen oder weiterziehen und beim nächsten Hof vorstellig werden.

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Die Taverne – Ort der Begegnung und der Kommunikation Bei den Quartieren kann neben Objekten, zu denen eine familiale Verbundenheit bestand oder die Teil des erworbenen Sozialkapi­tals waren und solchen, die ohne Zustimmung der Besitzer bezogen wurden wie Hütten oder Heuschupfen116, unterschieden werden. Als weiteren Typus gab es die „eta­blierten“ Herbergen, die professionellen oder die Winkelwirtshäuser. In der wissenschaftlichen Literatur wird die bislang nur dürftig belegte These vertreten, dass es in Abständen von höchstens einem Tagesmarsch sichere (geheime) Herbergen gab, die das Rückgrat des Wegenetzes von Vagierenden bildeten117. Quellenhinweise auf Übernachtungs- und Unterschlupfmöglichkeiten finden sich nicht nur in Aussagen von Betroffenen und Zeugen vor Gericht, sondern auch in Steckbriefen, in denen übergeordnete Behörden Regionalbeamten mitteilten, in welchen Gasthöfen möglicherweise Diebsgruppen anzutreffen waren118. Ein steiermärkischer Sammelsteckbrief von 1773 beschreibt nicht nur diejenigen 56 Personen, die Ignatz Sieß, dessen Betteltour durch Kärnten und die Steiermark führte, beim Verhör als ihm aus diesem Raum bekannt angegeben hatte, sondern darüber hinaus auch ein Netz von Nachtquartieren, als derenselben öftere Aufenthalts=Orte: Die Hauptherbergen sind in Kärnten. Bey dem sogenanten Sudler zu Paternion. Zu Villach bey dem sogenanten Gözen. Bey dem Wirth auf der Perau. Zu Feldkirchen beym Sudler. Zu St. Veit beym Fuhrmann. Bey dem Peter auf der Klang. Zu Völkermarkt beym Brayer. Zu Wolfsberg beym Drucker. In Steyer. Zu Judenburg beym lustigen Bauern, und beym Lehrbaum wie auch beym langen Gangwirth. Zu Neumarkt beym Steinbräuer Jbelle genannt. Zu Scheifling beym Drucker. Ausser Knittelfeld beym Weber. Zu Gratz auf der Lend in der alten Tuchmacherherberg ohnweit der Papiermüll. Zu Leibnitz beym Pabst. Zu Feldbach beym Biernstingel, und ausserhalb bey einem Amtmann. Ausser Mahrburg am Leittersberg, und weiter hinaus bey der Strassen, bey der Salzburgerin. Zu Pettau beym Krücklwirth ohnweit die Kapuzinern. Zu Rackerspurg ausserhalb der Brucken beym Proviantbäcken. Meistens aber kommen die Diebe bey die Klöster zusam119.

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Die Aufzählung macht trotz ihres fragmentarischen Charakters deutlich, dass Wirtshäuser unter den von Vaganten frequentierten Herbergen einen gewissen, keineswegs jedoch den größten Anteil ausmachten. Übernachtungsmöglichkeiten fanden sich unter anderem in vielen Häusern von Dorfarmen und Unehrlichen wie Hirten, Schäfern, Abdeckern, Mesnern oder Müllern120, also von Ansässigen, jedoch gesellschaftlich Randständigen, wobei es in diesen Fällen oft zu ökonomischen Austauschbeziehungen zwischen Nichtsesshaften und Sesshaften kam. Diese „inoffiziellen“ Herbergen wurden von den Beamten als Winckel Würths-Häuser, zu disem dem Lande höchst schädlichen Gesin­dels Aufenthalt fast für einen öffentlichen SammelPlatz dienen121, beargwöhnt. Von solchen Quartiergebern hatten die Behörden vielfach Kenntnis122, doch wurden diese oft erst bei aktuellen Beherbergungen von Kriminellen bzw. verdächtigen Personen inspiziert. Einige Treffpunkte scheinen sogar weithin bekannt gewesen zu sein. In Altenstadt nahe Feldkirch boten der Sonnenwirt und in der Feldkircher Vorstadt der Schankwirt bey dem Becher bekannt sichere Quartiere für Vaganten123. In Lustenau war das Haus von Franzisca Hämmerlin bis 1769 – in diesem Jahr wurde sie beraubt und ermordet – ein bekanntes, wenn auch anrüchiges Vagantenquartier124. Bisweilen fungierten offizielle wie Winkelquartiergeber auch als Hehler. In Hohenems konnte gestohlene Ware ins Gasthaus Zum Bock gebracht werden, im Bregenzer Wald zu einem Wirt in Reuthe namens Jegel sowie zum Schmidt im Tobel – dieser fertigte im Übrigen auch Einbruchswerkzeuge an –, in Dornbirn zum Wildenmannwirth und den dort ansässigen Friseuren125. Den „Soziotyp“ des Wirtshauses bildete vor allem das „Einkehr-Gasthaus“ (Schenke, Taverne, Herberge), wo auch Fuhrleute abstiegen. Es war Treffpunkt für Fahrende aller Art, bot Quartier für die Nacht (auch auf den Bänken und dem Boden der Schankstube)126, fungierte als Gewand-, Waren- und Nachrichtenbörse und als Stätte des Informationsaustauschs für Arbeits- und Bettelbelange127. Diese Wirtshäuser kannten die Fahrenden genau128. Der Aufenthalt in den Tavernen war allerdings zumeist derb und nicht ungefährlich. Von sexuellen Übergriffen wird berichtet, von häufigen Streitigkeiten infolge übermäßigen Alkoholkonsums oder von Zwietracht beim Würfel- und Kartenspiel. Das erbettel­te oder entwendete Geld gaben Vaganten zur Befriedigung substanzieller Bedürfnisse, also für Speis und Trank aus, bisweilen aber auch fürs Spielen129. Das Hasard- und das Falschspiel hatten hier eine Heimat, wobei die Wirte nicht selten in irgendeiner Form am „Gewinn“ beteiligt waren130. Eine Reihe von Herbergen diente zugleich als Bordell, als Umschlagplatz für „heiße Ware“ und als Treffpunkt für Diebe, Räuber und Baldower131. Zahlreiche Wirtsleute machten mit der Beherbergung, andere mit dem Hehlen von Diebsgut mitunter recht einträgliche Geschäfte132.

Am Ende doch Heimatgefühle? 1. Der Alltag mit seinen Zwängen des vagierenden Lebens und der Anpassung an sich laufend ändernde Verhältnisse bestand in einem gemeinsamen Handeln und Erleben von

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Nichtsesshaften und Sesshaften, in kommu­ni­kativen und sozialen Beziehungen mit jeweils unterschiedlich ausgeprägten Motiven und Interessen. Der physische und soziale Raum der Straße, des Hofes und des Dorfes überschnitten sich auf der Ebene der Daseinsfristung, der „Mangel- und Surrogatwirtschaft“133. Die ökonomischen, zum Teil auch persönlichen Verflechtungen erscheinen bei näherem Quellenstudium stärker, die soziale Desintegration geringer ausgeprägt, als es die Vertreter der Subkulturthese annehmen134. Die weitgehende soziale Ausgrenzung der nichtsesshaften Population, die in Hans-Ulrich Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“ als „Unterwelt, die von unstet umherziehenden heimatlosen Menschen bevölkert wurde“135 definiert ist, erweist sich als unzutreffende, tendenziös pejorative Generalisierung, die den historischen Gegebenheiten nicht entsprach. Auszugehen ist vielmehr von einem grob- bis feinmaschigen Netz von Sozialbeziehungen und Tauschverhältnissen zwischen Vagie­ren­den und Sesshaften, von einem sozialen Raum, der erst durch Syntheseleistung entstand. 2. Die Frage, ob die beschriebene lose Zugehörigkeit zu einem Raum (Bettelrevier) bei nichtsesshaften Armen über die Vorstellungen von Sicherheit und Sättigung hinaus zu einem gewissen Geborgenheits-, vielleicht sogar zu einer Art Heimatgefühl führen konnte, ist pauschal wohl nicht zu beantworten. Manche sprachliche Details in den Verhörprotokollen weisen jedenfalls darauf hin. Der Umfang des positiv konnotierten Raumes variierte zwar beträchtlich, dürfte sich überwiegend jedoch zwischen wenigen Tälern und Gerichten – auch länderübergreifend – bewegt haben. Jenseits dieses Raumes war die Sicherheit bedroht und die Subsistenzsicherung erschwert, da man hier unbekannt war. Weil wir fremde Leuth seyen, die nicht in das G[eric]ht gehören136, so wurde einer Mutter mit Kind bedeutet, würde ihnen das Almosen verwehrt. Sie waren offenbar nicht Teil der sozialen Zusammengehörigkeit dieses Raumes. Gegenüber den vertrauten (Innen-)Räumen verbanden die meisten Vaganten das „Außen“, den unbekannten Raum, mit Hungerleiden und der Möglichkeit einer behördlichen Verfolgung. Auf die qualitative Vorstellung der Vagierenden von nicht (vollständig) angeeigneten Lebensräumen als fremde und ungewisse Sphären deuten protokollierte Aussagen von Nichtsesshaften wiederholt hin. Die Bauern droben sagten, ich sollte hindan auch bettlen gehen, ich kömmete ihnen gar zu oft137, erzählte der 28-jährige Mathias Kübler, als er aus dem ihm vertrauten, jedoch offenbar zu eng abgesteckten Lebens- und Almosenraum fortgewiesen und bald nach dem Gebietswechsel tatsächlich bei einer Hauptvisitation aufgegriffen worden war. Hier, in einem ihm unbekannten Gebiet, hatte offenbar auch das ansonsten gut funktionierende Informationssystem des sozialen Raumes versagt. War er aus seiner Heimat getrieben worden?

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Anmerkungen 11 So der Titel des kürzlich erschienenen Sammelbandes von Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. – Dieser Beitrag basiert maßgeblich auf den Ergebnissen meiner Habilitationsschrift: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 29), WienMünchen 2003. 12 Das Folgende nach Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt 1991, S. 25–34. 13 Ebd., S. 26. 14 Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1761), Frankfurt 2006, S. 87. 15 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt 2001. 16 Ebd., S. 271. 17 Ebd., S. 159. 18 Karl Finsterwalder, Tiroler Ortsnamenkunde. Gesammelte Aufsätze und Arbeiten, hg. von Hermann M. Ölberg, Nikolaus Grass Bd. 2: Einzelne Landesteile betreffende Arbeiten. Inntal und Zillertal (Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte 16, Schlern-Schriften 286), Innsbruck 1990, S. 463. 19 http://www.wandern.com/land/at/steiermark/alpenregion-nationalpark-gesaeuse/ausflugsziele/ wallfahrtskirche-frauenberg.html, 20. Juli 2009. 10 http://www.ostschweiz.ch/de/navpage-HikeOST-ClimbingOST-38572.html; http://www.nfzh-wiedikon.ch/info/info.php?t=Touren&read_group=18; http://www.dav-huettensuche.de/?huetten_ id=231213&pagedef=details, 20. Juli 2009. 11 TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1750–1769, Fasz. 98 (VPr Joseph Schuster vom 2. Februar 1766). 12 Vgl. Norbert Schindler, Jenseits des Zwangs? Zur Ökonomie inner- und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ders., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1992, S. 20–46, hier S. 23 und S. 38 f.; Wolfgang Seidenspinner, Jenische. Zur Archäologie einer verdrängten Kultur, in: Beiträge zur Volkskunde in Baden Württemberg 5 (1993), S. 63–95, hier S. 93. 13 Vgl. Gertrud Bodmann, Jahreszahlen und Weltalter. Zeit- und Raumvorstellungen im Mittelalter, Frankfurt-New York 1992, S. 219; Dirk Riesener, Die Produktion der Räuberbanden im kriminalistischen Diskurs. Vagantische Lebensweise und Delinquenz im niedersächsischen Raum im 18. und 19. Jahrhundert, in: Carl-Hans Hauptmeyer (Hg.), Hannover und sein Umland in der frühen Neuzeit. Beiträge zur Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte 8), Bielefeld 1994, S. 183–213, hier S. 185. 14 Vgl. Edith Saurer, Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 90), Göttingen 1989, S. 15. 15 StLA, Ste, o. D. = Jahreswende 1784/85 (SSt). 16 Z . B.: Eine Stund unter Michldorf in einem einschichtigen Baurn Hauß linker Hand (StLA, Amt GössKloster, Sch. 366, H. 564, VPr Joseph Spällinger vom 2. Dezember 1768). 17 Vgl. z. B. TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47, VPr Carl Peyrl vom 13. November 1771): Nennung der Namen einiger Bauern im Gericht Windischmatrei, wo Carl Peyrl übernachtet hatte. 18 Betrachtet man das Thema aus der Perspektive des Trierer Sonderforschungsbereichs 600 „Fremdheit und Armut“, so drängt sich vom Projekttitel her die Frage nach der Fremdheit oder der Zugehörigkeit zu einer Region auf, nach Exklusion oder Inklusion vagierender Armer. 19 Vgl. Sabine Kienitz, Unterwegs – Frauen zwischen Not und Normen. Lebensweise und Mentalität vagierender Frauen um 1800 in Württemberg (Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde 3), Tübingen 1989, S. 80–82.

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20 V  gl. für die Steiermark etwa Helfried Valentinitsch, Frauen unterwegs. Eine Fallstudie zur Mobilität von Frauen in der Steiermark um 1700, in: Heide Wunder, Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500–1800, Göttingen 1996, S. 223–236, hier S. 231. Für die Wallfahrtsstraße über Gaming nach Mariazell vgl. Martin Scheutz, Alltag und Kriminalität. Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert (MIÖG Ergänzungsbd. 38), Wien-München 2001, S. 482. 21 Eibl, Die Pilgrimme nach Wien, Wien 1783, S. 5. – Vgl. auch den Hinweis: von St. Pölten hinauf gegen und ober der Ens wimmelt [...] [es] von Müßiggängern bei Joseph von Sonnenfels: Grundsätze der Polizey- Handlung- und Finanzwissenschaft Teil 1, Wien 1770, § 122, Anm. 1. 22 Vgl. Kienitz, Frauen (wie Anm. 19), S. 65. – Andererseits schlossen sich Frauen einer Vagantengruppe auch fallweise an, wenn sie den Weg nicht kannten; vgl. TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Maria Sämin von 1784): Ich wollte nach Kärnten und schloss mich den Schubesleuten [an,] [...] weil ich diesen Weeg dahin allein nicht gewußt hab. 23 Vgl. Norbert Schindler, Die Entstehung der Unbarmherzigkeit. Zur Kultur und Lebensweise der Salzburger Bettler am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Ders., Widerspenstige Leute (wie Anm. 12), S. 258–314, hier S. 300. 24 Vgl. AVA, OJ, HKo, Alte Miscellanea, Kt. 123 (hs Patent, Linz 20. Oktober 1750). StLA, Amt GössKloster, Sch. 364, H. 560 (VPr Adam Schmid vom 26. Februar 1782): […] sonst nirgends als denen Pfarrhöfen auch wohl zuweillen, wann sie was gebraucht, zu andern Orthen samblen gangen. Ebd., Sch. 366, H. 564 (VPr Joseph Spällinger vom 12. Januar 1769): Gehe bevorzugt zu Pfarrhöfen und in die Marktflecken. TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr mit dem 8-jährigen Carl vom 26. Februar 1749): Übernachtungen in Herbergen, Bauernhöfen und Pfarrhöfen. 25 Vgl. vier Beispiele bei Wolfgang John: ... ohne festen Wohnsitz ... Ursache und Geschichte der Nichtseßhaftigkeit und die Möglichkeiten der Hilfe. Dissertation Heidelberg, Bielefeld 1988, S. 207 f. 26 A nonym (= Joseph Richter), Die Kapuzinersuppe, o. O. 1787. StLA, Amt Göss-Kloster, Sch. 364, H. 560 (VPr Barbara Durnhoferin vom 23. Dezember 1768): zu Knitlfeld um die Closter-Sup­pen gebettelt; StLA, Fürstenfeld, Fasz. 35 (VPr vom 21. Oktober 1782): Gertraud Schmiedin, die sich von ihrem Lebensgefährten, einem invaliden Soldaten getrennt hatte, traf diesen nach drei Jahren in Bayrisch-Waidhofen bei der Klostersuppen wieder, wo sie sich mit ihm versöhnte. 27 OÖLA, Archiv der Herrschaft Freistadt, Sch. 61 (VPr Lorenz Wierland vom 12. Mai 1778). Ähnlich: OÖLA, Herrschaft Hartenburg 40/VI (VPr Franz Höller, Ungenach 9. Mai 1780): Erwähnung einer hinter­legten Kraxe. In ähnlicher Weise ging Theresia Meyrin, bevor sie nach dem Betteln Oberwallsee/Oberösterreich wieder verließ, zum Pfarrhof, um ihren aldorth aufzubehalten gegebenen Packh, der einige Gewandstücke und Lebensmittel enthielt, abzuholen (OÖLA, Ha Oberwallsee 3, II, 2/b, VPr Theresia Meyrin vom 27. Juli 1756). 28 Diese Praxis des kurzzeitigen oder längerfristigen Deponierens von Gegenständen trägt allerdings dazu bei, das quellenmäßig fassbare Niveau der Sachmittelausstattung Vagierender noch um etliches geringer erscheinen zu lassen, als es ohnehin schon war. Mehrere Fahrnisbeschreibungen lassen vermuten, dass viele der Festgenommenen irgendwo etwas deponiert hatten; z. B.: Während der Vagant und Viehdieb Simon Killberger bei der Festnahme außer seiner Kleidung nur zwei Kreuzerstücke, einen Spiegel, ein Tuch, Tabak und ein Feuerzeug mit sich führte, fand man von ihm beim Mesner von Reith (bei Kitzbühel) hinterlegt zwei Paar Socken, ein Paar Handschuhe, ein Paar Armstizl und ein Tuch (TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1794–96, Fasz. 106, Fahrnisbeschreibung von Simon Millberger o. D. = Januar 1775). 29 Insgesamt: 49,3 %; Frauen: 45,1 %, Männer: 51,9 %. Die Tatsache, dass die Sammlung des Steiermärkischen Landesarchivs auch einige wenige länderübergreifende Listen beinhaltet, relativiert allerdings etwas die Auswertungsergebnisse; vgl. Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 1), S. 473, Anm. 90. 30 Vgl. Edith Wurm, Die Verfolgung von Bettlern in der Steiermark im 18. Jahrhundert. Am Beispiel der Herrschaft des Domstiftes Seckau. Diplomarbeit, Graz 1989, S. 46 und S. 119 (Tab. 6). 31 TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Maria Sämin vom 29. Januar 1784). 32 Vgl. Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 374; Laurence Fontaine, History of Pedlars in Europe, Cambridge 1996, S. 40 f.; Norbert Schindler, Die Mobilität der Salzburger Bettler im 17. Jahrhundert, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 19 (1989), S. 85–91, hier S. 90.

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33 V  gl. Eva Wiebel, Andreas Blauert, Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staates, in: Mark Häberlein (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.–18. Jahrhundert) (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 2), Konstanz 1999, S. 67–96, hier S. 77. 34 StLA, Domstift Seckau, Sch. 859 (VPr Maria Kärnerin vom 5. Januar 1769). 35 Vgl. etwa auch Robert Jütte, Dutzbetterinnen und Sündfegerinnen. Kriminelle Bettelpraktiken von Frauen in der Frühen Neuzeit, in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der frühen Neuzeit, Köln-Weimar-Wien 1995, S. 117–137, hier S. 121; Ulinka Rublak, Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt 1998, S. 175. 36 Vgl. Schindler, Mobilität (wie Anm. 32), S. 90. 37 So Rolf Wolfensberger, „Heimatlose und Vaganten“. Die Kultur der Fahrenden im 19. Jahrhundert in der Schweiz. Dissertation, Bern 1996, S. 118. 38 Vgl. Valentinitsch, Frauen unterwegs (wie Anm. 20), S. 231. 39 Schubert, Fahrendes Volk (wie Anm. 32), S. 22. 40 TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1783–1785, Fasz. 100 (VPr Valentin Podling vom 16. Juni 1784). 41 Vgl. Schindler, Jenseits des Zwangs? (wie Anm. 12), S. 41. 42 StLA, Domstift Seckau, Sch. 860, H. 5 (VPr Elisabeth Glanzerin vom 17. Juni 1767). 43 OÖLA, Ha Oberwallsee 4, II, 2/b (VPr Maria Anna Kleinpäurin vom 1. März 1755). 44 Helmut Bräuer, „Bettelweiber“ in Obersachsen während der frühen Neuzeit, in: Sächsische Heimatblätter 40 (1994) H. 5, S. 263–268. 45 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 115 (VPr von drei Frauen vom 20. Juli 1761, die bei einer Generallandesvisitation aufgegriffen worden waren). 46 StLA, Fürstenfeld, Fasz. 35 (VPr Gertraud Schmiedin vom 26. August 1782). 47 Vgl. Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 1), Bonn 1990, S. 166 f. 48 StLA, Domstift Seckau, Sch. 859 (VPr Eva Öschnerin vom 27. November 1762). 49 Ebd. (VPr Cäcilia Maßtnerin vom 10. Juni 1774). 50 Gerhard Ammerer, „… dem müssigen Vaganten Leben zugethann“ – Betrachtungen zur nichtsesshaften Bevölkerung, in: Stephan Wendehorst, Siegrid Westphal (Hg.), Lesebuch Altes Reich, München 2006, S. 168–175, hier S. 171 f.; ders., Bettler, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 2, Stuttgart-Weimar 2005, Sp. 91–93. 51 StLA, Ste, 29. Juli 1788 (Laufzettel und Beschreibung. Der Diebsgespänne des bei dem Stadt= und Landgericht Radkersburg prozeßirten Joseph Aublinger). 52 TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Viktoria Spitalerin vom 10. Januar 1784). 53 Vgl. Saurer, Straße (wie Anm. 14), S. 41; Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt 1988, S. 44 f.; vgl. Schubert, Fahrendes Volk (wie Anm. 32), S. 70. 54 Vgl. Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 1), S. 461. 55 Vgl. Schindler, Jenseits des Zwangs? (wie Anm. 12), S. 297. 56 Dieser Terminus scheint wiederholt in den Quellen auf; vgl. z. B. TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Viktoria Spitalerin vom 10. Januar 1784): Über den Berg herunter [hätten sie] die Häuser abgebetelt. 57 Dieser Terminus nach Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner in Franken des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/26), Neustadt a. d. Aisch 2 1990, S. 191. 58 Ebd., S. 180; Thomas Fricke, Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus. Bilanz einer einseitigen Überlieferung. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung anhand südwestdeutscher Quellen (Reihe Geschichtswissenschaft 40), Pfaffenweiler 1996, S. 462; Heinz Reif, Vagierende Unterschichten, Vagabunden und Bandenkriminalität im Ancien Régime, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 1 (1981) H. 1, S. 27–37, hier S. 35.

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59 O  ÖLA, Stadt Freistadt 347/XII (SSt o. O. o. D. = 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts); vgl. auch Wiebel, Blauert, Gauner- und Diebslisten (wie Anm. 33), S. 77. 60 (Johann Pezzl), Reise durch den Baierischen Kreis, Salzburg-Leipzig 1784, S. 157. 61 StLA, Ste, 15. Mai 1790 (SSt): Diese 4 beschriebenen Diebe, und Räuber seyn alle aus Bayern, und halten sich meistens um die Stadt Steyer, Wels, Linz ec. herum auf, geben sich als Landkrämmer aus, führen in einem mit einem Pferd bespannten Wagen, oder Chaise auch Waaren, in seidenen Halstücheln, so anderen bestehend, mit sich, und besuchen alle umliegende Jahrmärkte, sogar auch die Grazer Messe [...] und kommen meistens auf denen Jahrmärkten oder Messen alle 4 zusammen. Vgl. z. B. weiters TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Maria Mayrhoferin vom 8. November 1771): Neben Verabredungen unter Vaganten, auf welchen Kirchtagen man sich wieder treffen wollte, sei man sich auch ungeplant auf solchen begegnet: Sye häten sich nicht unterreth, weren halt zum Aufhofner Kirchtag zusammen gekommen, und sodan wiederumen voneinander gegangen. 62 Vgl. Klaus O. Mayr, Kriminalität in einer ländlichen Gesellschaft. Rechtsprechung in Kärnten im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. 1740–1792. Diplomarbeit, Klagenfurt 1986, S. 161. 63 Wienbibliothek im Rathaus, C 39.530 (Beschreibung. Der von einer [...] gefänglich insitzenden Weibsperson angegebenen, und noch im Freyen herumgehenden Dieben, Wien 28. Dezember 1791): […] halten sich im Winter in Ungarn bey Preßburg auf, im Sommer an der Donau in der Gegend bei Schönbüchel und Ayspach, auch bey Traißmauer, Oberndorf, und Tulln. Vgl. auch StLA, Ste, 20. Mai 1757 (Spezification deren [...] in Oesterreich, sonderheitlich auf offentlichen Jahr=Märkten herumstreichen= gefährlich= und land=schädlichen Diebs=Banden, und Beutel=Ab­schnei­dern). Über einen Tuchmacher unbekannten Namens und dessen Frau heißt es: Diese Leuthe halten sich Winters=Zeit meistens in Mähren, Sommers=Zeit aber dort und da auf denen Märkten in Oesterreich auf. 64 Vgl. Scheutz, Alltag und Kriminalität (wie Anm. 20), S. 466; Gernot Egger, Ausgrenzen – Erfassen – Vernichten. Arme und „Irre“ in Vorarlberg, Bregenz 1990, S. 41. 65 StLA, Fürstenfeld, Fasz. 36 (VPr Anna Kernin vulgo Hüttgraber Andl vom 10. Januar 1783). 66 TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Hans Wallenstainer vom 13. November 1758). 67 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 31976, S. 209. 68 Vgl. Wolfensberger, Heimatlose und Vaganten (wie Anm. 37), S. 34; Thomas Dominik Meier, Rolf Wolfensberger, „Eine Heimat und doch keine“. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.–18. Jahrhundert), Zürich 1998, S. 200; Claus Kappl, Die Not der kleinen Leute. Der Alltag der Armen im 18. Jahrhundert im Spiegel der Bamberger Malefizakten (Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstentums Bamberg Beih. 17), Bamberg 1984, S. 229. 69 Vgl. StLA, Amt Göss-Kloster, Sch. 366, H. 564 (VPr Joseph Spällinger vom 2. Dezember 1768). 70 Ebd. (VPr vom 29. Dezember 1768). 71 Vgl. OÖLA, Ha Obernberg 487, VII, 21 (BPr. Georg Reipöcker vom Simandlbauerngut, 13. April 1790): So wie dieser beschwerten sich mehrere Bauern über bettelnde Zigeuner, die sie mehrmals im Jahr aufsuchten. 72 Den Begriff „Sozialkapital“ hat Martin Dinges von Pierre Bourdieu entlehnt und in die deutschsprachige Forschung eingebracht. Er bezeichnet den sozialen Kredit, den ein Akteur im Beziehungsnetz von Verwandtschaft, Freundeskreis etc. angesammelt hat und der es ihm ermöglicht, auch in einer ökonomisch schwierigen Lage zu überleben; vgl. Gerd Schwerhoff: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 3), Tübingen 1999, S. 93, Anm. 6. 73 Diese Denkweise ist sogar bei Beamten zu finden, die Vaganten, die sich zu lange in einem Landstrich aufhielten, festnahmen und abschoben (Besonders deutlich: TLA, LgK 1798, Fasz. 5, Kriminalia Nr. I–IX (VPr Paul Mayr vom 31. Januar 1799): Auf die Frage, warum er aus Kitzbühel abgeschoben worden sei: Ich hab mich halt zu lang alldort aufgehalten. 74 StLA, Fürstenfeld, Fasz. 35 (VPr Elisabeth Mayrin vom 27. Dezember 1782). 75 Vgl. dazu Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, WeinheimBasel 1997, S. 1066–1078, hier bes. S. 1067; Bollnow, Mensch und Raum (wie Anm. 67), S. 20. 76 TLA, LgK 1798, Fasz. 5, Kriminalia Nr. I–IX (VPr vom 31. Januar 1799).

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77 [ …] weil es halt im Sillianer G[eric]ht so haigglich ist, und man nirgents zukehren tarf (TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47, VPr Viktoria Spitalerin vom 12. Januar 1784). 78 Gerhard Ammerer, „… keine andere Wirkung gehabt, als grosse und unnüze Kosten …“. Strukturelle und mentale Problemlagen bei der Umsetzung legistischer Maßnahmen gegen Bettler und Vaganten im Österreich des Ancien Régime, in: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 16 (2001), S. 9–21, hier S. 12; ders., Devianz, Marginalisierung und Kriminalität. Bemerkungen zum Delinquenzverhalten und zum Umgang mit Angehörigen nichtsesshafter Randgruppen, in: historicum, Herbst 2001, S. 22–31, hier S. 22 f. 79 Vgl. z. B. StLA, Ste, 2. Dezember 1777 (SSt, Nr. 10): Gehet meistens in denen Bergen um Mährnberg mit dem Friesacher Menti herum; vgl. auch Meier/Wolfensberger, Heimat (wie Anm. 68), S. 286. 80 AVA, OJ, HKo, Alte Miscellanea, Kt. 123 (hs Mandat, Linz 20. Oktober 1750). 81 StLA, Ste, 2. Dezember 1777 (Beschreibung von zwölf gesuchten Dieben). 82 Pezzl, Reise (wie Anm. 60), S. 157. 83 Vgl. z. B. StLA, Amt Göss-Kloster, Sch. 366, H. 564 (VPr Helena Lierzin vom 27. Juli 1774): […] ziehe ich heumlich ohne Dienst herum, bitte die Leut um Nachtherberg, und Essen. 84 Gezeuge habe zu ihnen gesagt, so ein einvernommener Bauer über sein Verhalten einem starken Bettler gegenüber, solchen Leuthen soll mann nicht geben, habe hienach iederderen ein Stükl Brodt gegeben, und gesagt sie sollen sich weitter scheren (TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47, VPr Hanns Kuenzer vom 27. November 1771). 85 Vgl. StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 115 (Schreiben des Klosters Göß an den Reichsgrafen vom 20. Januar 1761): Die Bettler auf dem Land würden, wenn sie nicht genügend Almosen bekämen, mit Abbrennen des Hauses drohen oder die Bauern verfluchen, etwa in der Form, dass das Vieh eingehen solle; ebd. (Schreiben Johann Georg Idnigs an das Kreisamt o. D. = 1762): Vor allem die abseits gelegenen Bauern getrauen selbe [= die drohenden Bettler] nicht aufzuheben, weilen sie einschichtig liegen, und dahero bald abgebrennet werden kunten; vgl. auch Mayr, Kriminalität (wie Anm. 62), S. 214. 86 So die Einschätzung für den südwestdeutschen Raum von Gerhard Fritz, „Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt“. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Alten Reiches (Stuttgarter historische Studien zur Landes- und Wirtschaftsgeschichte), Ostfieldern 2004, S. 438–448. 87 Vgl. Schubert, Fahrendes Volk (wie Anm. 32), S. 373. 88 Vgl. Kai Detlev Sievers, Absolutistische Sozialgesetzgebung. Das Beispiel der schleswig-holsteinischen Armenordnung von 1736, in: Werner Paravicini (Hg.), Mare Balticum. Beiträge zur Geschichte des Ostseeraums in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Erich Hoffmann (Kieler Historische Studien 36), Sigmaringen 1992, S. 279–289, hier S. 280. 89 Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten Bd. 1, Leizpig-Wien 1781; Bd. 3, Berlin-Stettin 1784, S. 220. 90 TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Maria Mayrhoferin vom 5. November 1771); vgl. dazu auch: Thomas Simon, Von der „Caritas“ zur policeylichen Armutsbekämpfung. Über den Wandel im politischen Umgang mit Armut und Bettel, in: Juridicum Spotlight. Armut und Recht. Diskussionsforum der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Wien 2010, S. 51–78, hier bes. S. 61. 91 StLA, Domstift Seckau, Sch. 859 (VPr Maria Elisabeth Turtltaubin vom 4. Dezember 1772). Auf die Frage, ob sie wisse, dass Betteln generell verboten sei: Nein, wenn wir dies gewust hätten, wären wir niemahls anhero gangen [...]. Nein, es hat uns niemand etwas gesagt. 92 Ebd. (VPr Franz Schwarz vom 27. März 1773). Ähnlich kommentiert Anton Knieß seine Erfahrungen: In denen Städten habe ich nicht, aber wohl bey denen Bauren gebetlet. Dieweillen sie in denen Städten nicht leicht etwas, wohl aber bey denen Bauren geben (ebd., VPr Anton Knieß vom 13. März 1773). Vgl. weiters ebd. (VPr Johan Vierents vom 12. März 1773): In Städten habe ich nicht sondern allein bey den Bauern gebettlet. 93 Für das 17. Jahrhundert vgl. Helmut Bräuer, „...und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich zur Zeit Kaiser Leopolds I., Wien-Köln-Weimar 1996, S. 164–168; StLA,

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193 S te, 11. August 1773 (SSt): Der Bayerl, namens Niklaus Fircht [...] haltet sich gemeiniglich bey der weissen Rosen zu Wien in der Leopoldstadt auf; vgl. Petra Müller, Steirische Steckbriefe als sozialgeschichtliche Quelle (um 1800). Diplomarbeit, Graz 1991, S. 68; StLA, Ste, o. D. = Jahreswende 1784/85 (SSt, Nr. 45). Für Steyr hieß es in einem Schreiben der Repräsentation und Kammer an Maria Theresia generalisierend, dass die dem Müssiggang anhangende Leute mehristen Theils nur in denen Vorstädten ihren Aufenthalt suchen (AVA, HKa IV M 5, Kt. 1358, Schreiben vom 28. November 1749). 194 Joh. Valentin Reiner, Neu Ausgelegter Curioser Tändl=Marckt der jetzigen Welt In allerhand Waaren und Wahrheiten vorgestellet [...], Wien-Brünn 1734, S. 201. 195 Vgl. Wolfensberger, Heimatlose und Vaganten (wie Anm. 37), S. 34. 196 TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Viktoria Spitalerin vom 12. Januar 1784). 197 Ebd. (VPr Maria Sämin vom 9. Februar 1784): Der Hießl hat uns gesagt, sie warteten auf uns morgen bis 11 Uhr oben bei der Gwäbler Kirche beim Weg. 198 Vgl. z. B. StLA, Amt Göss-Kloster, Sch. 364, H. 560 (Summarisches Examen des bei einer Visitation aufgegriffenen Lorenz Amon vom 5. Mai 1774). – StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 115, VPr Maria Größingin, Judenburg 8. Mai 1761); StLA, Ste, 28. Dezember 1791 (Beschreibung gesuchter Diebe): Maria Anna und Karl Humberger waren etwa bei Tag selten miteinander [...] in der Herzogburger Au pflegen sie des Abends zu kochen. 199 StLA, Fürstenfeld, Fasz. 35 (VPr Gertraud Schmiedin vom 11. November 1782). 100 S o auch Schindler, Mobilität (wie Anm. 32), S. 89; Wolfensberger, Heimatlose und Vaganten (wie Anm. 37), S. 202. 101 S chindler, Unbarmherzigkeit (wie Anm. 23), S. 296; Gerhard Sarman, „Ihme zur straff und andern zum abscheuhen und exempl“. Der Maria Saaler Hexenprozeß gegen den Bettler Christian Wucher 1720–1723. Eine Auswertung bisher unbekannter Archivalien zum letzten Todesurteil in einem Kärntner Hexenprozeß, Wien 1995, S. 79. 102 Solche Hinweise enthalten etliche Steckbriefe, die auf den Angaben von Inhaftierten beruhen; vgl. z. B. StLA, Ste, 20. Mai 1757 (Spezification deren von bey dem Stift Göttweigerischen freyen Land=Gericht in puncto vurti, & fractae Urphedae inliegenden Anton Griesbacher, und Anna Maria, dessen Ehewürthin, angegebenen in Oesterreich, sonderheitlich auf offentlichen Jahr=Märkten herumstreichend= gefährlich= und land=schädlichen Diebs=Banden, und Beutel=Abschneidern): Über Michael Froschhauers Familie heißt es: Diese 4. Personen pflegen sich dem Vorgeben nach, öfters bey dem Richter zu Micheldorf an der Post=Straß aufzuhalten, auch zuweilen bey dem Herrn Wintersteiner in Crems, und Frauen Landerin zu Stein. – Des Nagelschmidts Martls Vater, so war in einem undatierten Steckbrief des 18. Jahrhunderts zu lesen, durchwandert mit seinem Weibe Oesterreich, Steyermarkt, dann Kärnten, und wann er ins Land Tyrol kömmt, solle sein Unterschlupf beim Ueberführer Peterl zu Kiefersfelden und bei der Kramerin zu Kramsach bei Walchen seyn, und in derselben Sammelbeschreibung hieß es zum Friesachergärtner, dieser halte sich hauptsächlich in Tyrol auf, und wann er nach Innsbruck kommt, soll er seine Unterkunft in der Kothlacke bei einem Metzger haben (OÖLA, Stadt Freistadt 347/XII, SSt für Tirol, Oberösterreich und die Steiermark, o. O. o. D. = 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts). 103 Vgl. z. B. TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Johann Waldenstainer vom 13. November 1758): Vagant, der vor allem dem Bettel nachgeht, auch clain Weis gearbeitet hat und mehrmals in das Haus seines Bruders gekommen war, um dort erbettelte Lebensmittel zu kochen bzw. von diesem verköstigt zu werden. Vgl. auch Jutta Nowosadtko, Scharfrichter und Abdecker. Der Alltag zweier „unehrlicher Berufe“ in der Frühen Neuzeit, Paderborn-München-Wien-Zürich 1994, S. 278. 104 OÖLA, Ha Aschach-Stauff 76, VI (VPr Magdalena Huberin vom 27. April 1782). 105 Vgl. z. B. StLA, Ste, 5. April 1795 (Beschreibung von vier betrügerischen Bettlern, darunter der sogenannte Heuthaller, so Mathias heissen solle): Um das letzte neue Jahr ist er zu Pettau beim Gastwirth Georg Galschegg ausser der Draubrücken krank gelegen. 106 Vgl. z. B. Gerhard Ammerer, „...dem Kinde den Himmel abgestohlen...“. Zum Problem von Abtreibung, Kindsmord und Kindsweglegung in der Spätaufklärung. Das Beispiel Salzburg, in: Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich. Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 6 (1990/91), S. 77–98, hier S. 84.

Die „Betteltour“

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107 OÖLA, Stiftsarchiv Gleink 128 (Schreiben des Gleinker Hofrichters an das Kreisamt vom 24. November 1783). 108 TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (BPr. des Zeugen Georg Plattner vom 23. Dezember 1771): Hinweis, dass bereits der vagierende Vater des derzeit beim Gericht in Gewahrsam befindlichen Carl Peyrl des öfteren bei ihm übernachtet habe. 109 Ebd. (VPr Viktoria Spitalerin vom 10. Januar 1784). 110 Ebd. (VPr Michael Kerschbaumer vom 12. März 1784). 111 Wür seynd so um 3: Uhr hingekommen, und haben das Dörfl durch abgebettlt, bey dem letzten Haus haben wür um die Herberg gebittet, und seyn dorten geblieben (ebd., VPr Maria Sämin vom 13. Dez. 1783). 112 Ebd. 113 OÖLA, H. Freistadt 274 (VPr Catharina Hagin vom 6. Juni 1767). 114 Vgl. z. B. TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Viktoria Spitalerin vom 10. Januar 1784 und Aussage des Bauern Johann Winkler vom 19. Januar 1784): Darüber hinaus hat ein weiterer Fremder in der Stube übernachtet. 115 Ebd. (VPr Maria Sämin vom 13. Dezember 1783): In diesem Fall war die Stube bereits von den Sillianer Schinter Leut belegt. 116 Ich hab mich anfangs in Stadln aufgehaltn die mehrere Weil war ich zu Tell[fs] in einem Stall über Nacht, der Stall war alzeit offen. Wie das Haus heißt weiß ich nicht, die Leithe wusten auch nicht, daß ich in Stall schlief, während der vagierende Viehdieb Simon Millberger bei seiner Befragung in Kitzbühel aussagte, er habe theils bey Bauern, theils in Städeln übernachtet (TLA, LgK 1798, Fasz. 4, Nr. VII, VPr Barbara Brandlin vom 8. Oktober 1798). Die Vagierenden waren von ihrer Ausstattung her für die Übernachtung in kalten Stadeln eingerichtet und führten mitunter eingerollte Schlafsäcke mit sich, manche sogar Säcke mit Stroh (TLA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 [VPr von Johann Winkler vom 19. Januar 1784]). 117 Vgl. John, Wohnsitz (wie Anm. 25), S. 214; Andreas Blauert, Diebes- und Räuberbanden in Schwaben und in der Schweiz, an Bodensee und Rhein im 18. Jahrhundert, in: Harald Siebenmorgen (Hg.), Schurke oder Held? Räuber und Räuberbanden (Volkskundliche Veröffentlichungen des Badischen Landesmuseums Karlsruhe 3), Sigmaringen 1995, S. 57–64, hier S. 60. 118 StLA, Ste, o. D. = Januar/Juni 1764 (Beschreibung. Einer bey gefährlichen Diebs=Banda interessirten Weibs=Persohn); vgl. auch ebd., Ste 15. Mai 1779 (Beschreibung von 19 gesuchten Personen, Nr. 1): Der Rubenschwanz, Michl Stangl genannt [...] haltet sich gern bey dem sogenanten Fischer Würth zu Leitring [auf], wo er gar gut bekannt ist. 119 StLA, Ste, Januar 1773 (SSt). 120 Vgl. Nowosadtko, Scharfrichter (wie Anm. 103), S. 278; TLA, Kitzbühel, Criminalia 1789–90, Fasz. 104 (VPr Johann Scharler vom 12. September 1790): Übernachtung unter anderem bei einem Mesner und einem Abdecker. 121 StLA, Amt Göss-Kloster, Sch. 366, H. 564 (Kopie der Repräsentationsverordnung an den Kreishauptmann, 30. Dezember 1752). 122 Vgl. z. B. StLA, Ste, 26. Juni 1787 (Beschreibung mehrerer gesuchter Diebe): Der Stranker ist ein behaußter Keuschler ober Eggendorf im wolfsbergischen Gericht, Landes Kärnten [...] haltet nicht nur allein öfters Diebsleute in seiner Keuschen auf, sondern ist auch selbst ein Dieb. 123 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 115 (Schreiben der Herrschaft Pfannberg an den Kreishauptmann vom 27. Juli 1762). 124 Vgl. Wolfgang Scheffknecht, Fahrende Leute und Scharfrichter. Beispiele für nicht-seßhafte und seßhafte Außenseiter und Randgruppen in der Geschichte Vorarlbergs, in: Dornbirner Schriften 8 (1990), S. 23–51, hier S. 29 und S. 35. 125 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 115 (Schreiben der Herrschaft Pfannberg an den Kreishauptmann vom 27. Juli 1762). 126 Vgl. z. B. TLA, Landgericht Kufstein, 1798, Kriminalia, Fasz. 4, Nr. II (BPr. des bestohlenen Johann Eisenkeil vom 16. September 1798): Übernachtung mit seiner Familie und einem Begleiter in einem Bierhaus, wo sich abends zum Schlafen alle auf den Stubenboden legten.

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Gerhard Ammerer

127 Vgl. Wolfgang Hartung, Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter. Phänomen und Begriff, in: Bernhard Kirchgässner, Fritz Reuter (Hg.), Städtische Randgruppen und Minderheiten (Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung 13), Sigmaringen 1986, S. 49–114, hier S. 63 und S. 78; Monika Spicker-Beck, Räuber, Mordbrenner, umschweifendes Gesind. Zur Kriminalität im 16. Jahrhundert (Rombach Wissenschaft. Reihe Historiae 8), Freiburg im Breisgau 1995, S. 178; Martin Scheutz, Konkurrierende Disziplinierungsgewalten im grundherrschaftlichen Markt. Der Gaminger Hofrichter mit und gegen den Scheibbser Marktrichter und -rat während des 18. Jahrhunderts, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich N. F. 1999 H. 4, S. 41–64, hier S. 42. 128 Vgl. StLA, Ste 11. September 1779 (Beschreibung von Dieben und einigen Diebsherbergen). Katharina Rainerin gab bei Gericht an, dass in der Gegend von Rottenmann beim sogenannten Paltensimerl auch eine Diebsherberge seye [...]. Zu Muhregg kehren die Diebe auch bey dem sogenannten Finkenwürth ein. 129 Vgl. z. B. StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 115 (VPr von Personen, die in einem Neustifter Wirtshaus zugegen waren, als eine Rauferei ausbrach, 22. Dezember 1760, Ambrosi Weigoni): Weilen ich mit denen Taback Tragern in Neustifter Wirtshäußl getrunken, und da sie geraufet haben; TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1783–1785, Fasz. 100 (Rechtliches Gutachten über Diebstähle und Urfehdebruch von Johann Gaming vom 16. Januar 1784). Zum Spielen im Wirtshaus vgl. vor allem Manfred Zollinger, Geschichte des Glücksspiels. Vom 17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien-Köln-Weimar 1997, S. 132 f. 130 V  gl. Robert Jütte, Die Anfänge des organisierten Verbrechens. Falschspieler und ihre Tricks im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 70 (1988), S. 1–32, hier S. 12. 131 Vgl. z. B. TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1783–1785, Fasz. 100 (VPr Johann Gaming vom 6. und 16. Dezember 1783): Mit zwei Kameraden, die er erst im Wirtshaus kennen gelernt hatte, verabredete und verübte dieser einen Einbruch; SLA, Hofrats-Kriminalia, Fasz. 1, Nr. 920 (Relatio criminalis im Verfahren gegen den Gewohnheitsdieb Johann Obermayr, Salzburg 14. September 1765): Treffen von vier Dieben in einem Straßwalchener Wirtshaus, um einen Einbruchsdiebstahl durchzuführen. 132 V  gl. Scheffknecht, Fahrende Leute (wie Anm. 124), S. 35; Spicker-Beck, Räuber (wie Anm. 127), S. 180. 133 U  lrich Kluge, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18. Jahrhundert. Hungerkrisen, soziale Randgruppen und absolutistischer Staat in Preußen, in: Freiburger Universitätsblätter 96 (1987), S. 61–91, hier S. 87. 134 V  gl. Uwe Danker, Räuberbanden im Alten Reich um 1700. Ein Beitrag zur Geschichte von Herrschaft und Kriminalität in der frühen Neuzeit Bd. 1, Frankfurt 1988, S. 359 und S. 482; Schindler, Fahrendes Volk (wie Anm. 32), S. 89; Kienitz, Frauen (wie Anm. 19), S. 153. 135 H  ans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987, S. 175. 136 T  LA, Landgericht Lienz 1728–1789, KP, Fasz. 47 (VPr Viktoria Spitalerin vom 5. Februar 1784). 137 StLA, Domstift Seckau, Sch. 859 (VPr Mathias Kübler vom 23. Mai 1772).

Bettelei von Frauen auf dem Land in den Herzogtümern Schleswig und Holstein (1770–1810) Otto Ulbricht

Einleitung Armut und Bedürftigkeit sind nicht nur ein berufsspezifisches, sondern auch ein geschlechtsspezifisches Merkmal1. Zu dieser auch für heutige Zeiten gültigen Aussage kam Thomas Fischer vor fast 30 Jahren in seiner Untersuchung städtischer Armut und Armenfürsorge für die Übergangszeit vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Die Ergebnisse von Studien zur Armenfürsorge in den Städten der Frühen Neuzeit zeigen in der Tat, dass oft etwa Zweidrittel der Unterstützten Frauen waren2. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den Haushalten bewirkte schlechtere Wiederverheiratungschancen von Witwen mit Kindern, z. B. bei Handwerkern. Die deutlich geringeren Löhne für weibliche Arbeit, seien es nun die von Witwen, von arbeitenden Ehefrauen der Unterschicht, besonders wenn deren Männer arbeitslos, krank oder behindert waren, oder von ledigen, insbesondere Dauerledigen, erlaubten bestenfalls eine Kümmerexistenz. Eine Unterstützungssituation trat folglich leicht ein, so wenn beispielsweise eine Witwe noch kleine Kinder zu versorgen hatte. Daher stellten Frauen die Mehrzahl der würdigen Armen in der Stadt3. Zahlte die Armenkasse aus rechtlichen Gründen nicht oder wurde ihre Hilfe aus moralischen oder anderen Gründen nicht in Anspruch genommen, so war die Bettelei der nächste Schritt. Aber Armut ist bekanntlich auch ein altersspezifisches Problem. Es verwundert angesichts des kurz skizzierten Hintergrundes nicht, dass es im Alter überwiegend Frauen waren, die in Armut lebten und Unterstützung erhielten. Im Folgenden geht es nun nicht um die besser erforschbare und auch erforschte Armut in der Stadt, auch nicht um die Armenunterstützung, sondern um die schwieriger fassbare Bettelei von Frauen auf dem Land. Für die bettelnden Frauen, seien sie aus der Stadt oder vom Land, stellten die angesprochenen Punkte ebenfalls den Hintergrund dar. Für die Untersuchung müssen aber noch die strukturellen Gegebenheiten des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts einschließlich des ersten Jahrzehnts des folgenden4, auf das sich mein Beitrag aufgrund der Quellenlage für die Herzogtümer Schleswig und Holstein beschränkt, kurz vorgestellt werden: Etwa ab 1770 wuchs die Bevölkerung schneller als zuvor; die Preise für landwirtschaftliche Produkte stiegen weiter – die Agrarkonjunktur setzte sich fort – und schossen in den neunziger Jahren kriegsbedingt steil in die Höhe. Gleichzeitig öffnete sich die Schere zwischen Preisen und Löhnen, da die Reallöhne dem Preisanstieg

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hinterher hinkten. Durch Bevölkerungswachstum, steigende Preise und Mangel an Arbeitsmöglichkeiten vergrößerte sich die Unterschicht, die in den Dörfern um 1800 erstmals die Mehrheit der Bevölkerung stellte. Erste Anzeichen von Agrarpauperismus lassen sich ausmachen. Aufgrund dieser Situation nahm auch der Umfang der mobilen Unterschicht zu. Bettelei war in den Herzogtümern wie auch anderswo verboten, zuerst für Fremde, dann ab dem 17. Jahrhundert überdies für Einheimische, durchgesetzt werden konnte das Verbot jedoch nicht. Ein Versuch zur Reform des Armenwesens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheiterte letztlich, ebenso wie eine Abkehr von der traditionellen Armenpolitik in den 1790er-Jahren5. Ab den 1770er-Jahren ließ die Obrigkeit in den Herzogtümern systematisch Streifen zur Vertreibung des losen Gesindels durchführen, die man in anderen Territorien schon früher kannte. Ihre Etablierung erfolgte ausgerechnet, nachdem man während der Hungerkrise von 1770 bis 1772 das Bettelverbot gelockert hatte. Auch auf dem Land war in dieser Zeit die Zahl der Unterstützungsbedürftigen dramatisch in die Höhe geschossen. Deshalb wurde zum Beispiel im Amt Cismar in Ostholstein denen Kindern notdürftiger und geringen Leuten dem bestehenden Bettelverbot zuwider erlaubt […] vor den Thüren der bemittelten Einwohner eine Beysteuer zu ihrem Unterhalt zu suchen […]6. Viele Erwachsene, die in den 1780er- und 1790er-Jahren um Almosen baten, hatten also auch die Erfahrung legitimen Bettelns in einer Notlage gemacht. Meine Quellen sind in erster Linie die kurzen Protokolle, die entstanden, wenn von den Streifen Aufgegriffene befragt wurden, um den unterstützungspflichtigen Ort zu ermitteln. Es sind also perspektivisch ausgerichtete Minimalinformationen. Dazu kommen einige gedruckte Bettlerlisten, die zwar ein Ergebnis dieser Verhöre waren, aber deshalb wichtig sind, weil sie einen Überblick über die Angehaltenen in allen Ämtern und Städten gestatten, also sich gut für eine quantitative Auswertung eignen. Sowohl in diesen Verzeichnissen wie bei den summarischen Verhören tritt ein altbekanntes Phänomen auf: Frauen verschwinden bei einigen Ämtern fast völlig hinter den Männern. So heißt es zum Beispiel in einer Aufstellung arretierter fremder Vagabonden: angehalten wurde Friedrich Carl Schönemeyer, 52 Jahr alt, mit […] seiner ungenannten Frau und 2 Kindern7. Wenn die Frauen befragt wurden, dann stets nach den Männern, mit der Folge, dass oft nur festgehalten wurde, dass die Aussagen identisch gewesen seien. Die Quellen stammen aus holsteinischen Ämtern bzw. aus Dithmarschen. Für die statistischen Angaben habe ich auch die gedruckten Bettlerverzeichnisse aus dem Herzogtum Schleswig herangezogen. Meine zentralen Fragen sind: Wie ist das Verhältnis der zeitweise oder ausschließlich bettelnden Frauen zur sie umgebenden ländlichen Gesellschaft zu beschreiben? Dabei arbeite ich mit den Begriffen Integration und Duldung, wobei klar ist, dass Integration, verstanden als Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, auf der Basis der herangezogenen Quellen nur recht begrenzt erkennbar sein wird. Kurze summarische Verhörprotokolle sagen nichts darüber aus, ob die Frauen z. B. bei dörflichen Festen wie Kirchmessen oder Hochzeiten8 als um Gaben Heischende oder Zuschauer dabei waren, während ihre Anwesenheit auf Märkten immer wieder erwähnt wird. Danach fragt der Beitrag nach den Besonder-

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heiten weiblichen Bettelns, bevor der Blick auf mögliche Ausgrenzungsursachen geworfen wird. Abschließend wird versucht, die Ursachen aus der Sicht der Bettlerinnen nachzuzeichnen. Bei meinem Vorgehen werde ich versuchen, die Analysekategorie gender 9 im Blick zu behalten, deren Anwendung – bräuchte sie noch eine Begründung – schon gerechtfertigt ist, wenn man registrieren muss, dass 1788 alle gesunden und starken männlichen Bettler zur Miliz geschickt werden sollten10. Als erstes muss man klären, wie die geschlechtsspezifische Verteilung der Aufgegriffenen aussah. Wenn Armut überwiegend weiblich war, heißt das dann, dass bei der Bettelei auf dem Land die Frauen ebenfalls die Mehrzahl stellten? Die Antwort lautet: nein. Eine eigene Listenauswertung ergab für das Jahr 1790 für das Herzogtum Holstein, dass Frauen mit einem Anteil von 33,5 % unter den Angehaltenen vertreten waren, Männer mit 46,5 %, den Rest stellten Kinder unter 15 Jahren11. Das ist nicht sehr weit entfernt von Schublistenzahlen der 1770er-Jahre für Österreich (39,3 %)12. Für die Zeit zwischen 1794 und 1809 lagen bereits Auswertungen vor. Dabei war der Anteil der Männer mit 53 % deutlich höher, der Prozentsatz für Frauen entsprechend niedriger: Er betrug 28 %. Betrachtet man einzelne Jahre, für die Zahlen vorliegen, so ergibt sich in den 1790er-Jahren ein steigender Anteil bei den Männern bis zu 65 %13. Diese Zahlen entsprechen mit ihrem deutlichen Männerüberschuss Ergebnissen für Bayern; auch einer Schätzung, dass Dreiviertel der Vagierenden (junge) Männer gewesen seien, wie auch der Ansicht, dass ein deutliches Überwiegen des männlichen Geschlechts über Jahrhunderte gleich geblieben sei, nicht aber den Zahlen für Teile der Schweiz und Österreichs, wo teils ein relativ ausgeglichenes Verhältnis, teils ein Frauenüberschuss festgestellt worden ist14. Allgemein scheint die zuletzt vorgeschlagene Relation von etwa zwei zu drei die Verteilung von Frauen und Männer unter den Angehaltenen recht gut wiederzugeben15, während sich in der Rede von dem eindeutig dominierenden Männeranteil wohl ein gewisses Maß an unbewusster Beeinflussung durch die heutige Denkweise über die Geschlechter verbirgt. Die unterschiedliche Zahl von Frauen und Männern auf der Straße verweist aber darauf, dass hier eine Vielzahl von (allgemeinen) Faktoren am Werk war, zu denen auch spezifische traten, z. B. Art (Land-)Wirtschaft der Region, Bevölkerungsdichte, die Lage an Grenzen oder Praxis der Gewährung von Armenunterstützung. Das macht eine Erklärung mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit sehr schwer. Untersuchungen verweisen gern auf einen Faktor: auf den moralischen Druck zur Sesshaftigkeit, womit gemeint ist, dass die Mobilität von Frauen mit Promiskuität oder gar mit Prostitution gleichgesetzt wurde, was dem bürgerlichen Verständnis jener Zeit entsprach16. Dasselbe gilt auch für die Ansicht, dass die Straße eine Gefahr für die Frauen darstellte, weshalb sich nur junge Männer darauf bewegten17. Das habe für einen so starken Anpassungsdruck gesorgt, dass arme Frauen sich nicht auf die Straße begeben hätten. Dieses von der Diskursebene auf die soziale Wirklichkeit herabgezogene Argument scheint von sehr begrenzter Erklärungskraft. Die bürgerliche Sexualmoral galt nur sehr eingeschränkt für die Unterschichten, man braucht nur auf die Sexualität vor der Ehe und auf die schichtenspezifische Illegitimitätsrate zu verweisen18. Außerdem ist von häufigen Vergewaltigungen von mobilen Frauen

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nichts bekannt. Darüber hinaus wird vernachlässigt, dass es die Zeit der Spätaufklärung war, in der eine nun häufiger anzutreffende sozio-ökonomische Erklärung von Armut ihre Auswirkungen zeigte. Die Beamten vor Ort teilten solche Sichtweise des Öfteren nicht. Sie bezeichneten die Frauen bei unverheirateten Paaren z. B. als Begleiterin oder Braut und den Mann als Liebhaber19. Sie sprachen nicht von Huren oder leichtfertigen Weibsbildern. Zumindest von Seiten der lokalen Obrigkeit war oft keine Diskriminierung zu spüren. Eine bessere, wenn auch allgemeine und daher nicht ausreichende Erklärung ist meines Erachtens die traditionelle Orientierung der Frau auf das Haus, auf das Innen, und der Männer auf die Welt, das Außen. Auch der Lebensentwurf einer Dienstmagd zielte auf eine Kate oder zumindest auf eine Wohnung auf einem Bauernhof, in der sie für den Haushalt und die Kinder zuständig war. Die Witwe eines Handwerkermeisters hatte die Arbeit und Haushaltsführung an seiner Seite gekannt. Ihnen fiel es daher schwer, in einen neuen, ihnen nicht oder zumindest nicht gut bekannten Raum zu gehen, einen radikalen Wechsel zu vollziehen. Weil ihnen die Straße nicht so vertraut war, mag ihnen der Übergang schwerer erschienen sein als den Männern, die zur Ausbildung (wandernde Handwerksgesellen), zur Erwerbsarbeit (saisonale Arbeit in der Fremde) und zum Militärdienst sich aus dem Heimatort wegbegeben mussten. Es wird auch behauptet, dass Frauen auf dem Land keine Arbeit finden konnten. Als einzige Möglichkeit fiel einem Autor die Saisonarbeit in der Ernte und die DienstmagdTätigkeit ein, wovon letztere aber für mobile Fremde kaum in Frage kam, wie er richtig sagt20. Da nun aber Sheilagh Ogilvie eine Vielzahl von weiteren Arbeiten für Frauen auf dem Land detailliert nachgewiesen hat21, müsste man eher anders herum argumentieren: Die geringere Zahl von bettelnden Frauen auf dem Land könnte zum Teil mit den vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten erklärt werden, wobei zusätzlich noch zu beachten wäre, dass sich im Rahmen der sich wandelnden Landwirtschaft neue Arbeitsmöglichkeiten ergaben; so der zunehmende Anbau von Hackfrüchten, da Hacken Frauenarbeit war. Die bisherige Forschung hat zur Mobilität, die zur Wahrnehmung von Arbeitsmöglichkeiten wie zur Bettelei nötig war, wie auch zur Nichtsesshaftigkeit von Frauen eindeutig Stellung bezogen. Carsten Küther sagt zur Lage von nichtsesshaften Frauen: „Sowohl in ihrem eigenen Selbstverständnis als auch in den Augen der Umwelt […] befanden sie sich in einer ausgesprochenen sozialen und moralischen Randstellung […]. Über abweichendes Verhalten wurde bei ihnen kaum einmal hinweggesehen, mochte es auch noch so unverschuldet sein“22. Auf der gleichen Linie liegen Aussagen von Frauen- und Geschlechtergeschichtlerinnen. „Für Frauen war Nichtsesshaftigkeit mit totaler Stigmatisierung verbunden und damit in der Regel gleichbedeutend mit einer definitiven und vollständigen gesellschaftlichen Marginalisierung“23.

Die Perspektive Integrationsgrad Am Anfang dieses Abschnittes muss eine Zurückweisung der eben zitierten Aussagen für den untersuchten Zeitraum stehen, jedenfalls was die Essenz des Verhaltens der ländlichen

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Bevölkerung angeht. Neuere Forschungen tendieren zu der Aussage, dass Bettlerinnen und Bettler Teil der ländlichen Gesellschaft waren, dass sie nicht nur geduldet wurden, sondern dass ihnen darüber hinaus auch Arbeit und Almosen gegeben wurden. Das hier benutzte Quellenmaterial bestätigt durch direkte Aussagen wie auf indirektem Wege, dass Bettlerinnen und Bettlern mit Nachsicht begegnet wurde. Der Bauer soll, der Regel nach das lose Gesindel anhalten, unterläßet es aber 24, stellte ein Amtsschreiber 1789 fest. Aber nicht nur das: Er gewährte den Bettelnden normalerweise auch ein Nachtlager, obwohl es verboten war. Oft waren es die Vorsteher der Gemeinden, die Bauernvögte, die angelaufen wurden, und die, obwohl sie von dem Beherbergungsverbot wussten, die Frauen und Männer trotzdem aufnahmen oder ihnen wenigstens Unterkunft in Hirtenhütten verschafften. Das ist das Gegenteil von absoluter Randstellung, völliger Ausgrenzung und totaler Stigmatisierung: Es ist eine Teilintegration auf einer schmalen, und wie sich zeigen wird, prekären Basis. Dieser partielle Einschluss in die ländliche Gesellschaft soll im Folgenden, soweit sie über Arbeit geschah, zunächst allgemein vorgestellt werden. Danach sollen die unterschiedlichen Grade der Teilintegration anhand von einzelnen Konstellationen aufgezeigt werden, denn Bettlerinnen und Bettler stellen keine homogene Masse dar. Logischerweise endet dieser Abschnitt mit einem Fall, bei dem man nur noch von Duldung, aber nicht mehr von Integration sprechen kann. Für einen guten Teil der Bettlerinnen galt, was Margaretha Köhn stellvertretend für viele andere sagte, nämlich sie habe nie gebettelt, wenn sie Arbeit haben können25. Um Gelegenheiten dazu zu suchen und sie wahrnehmen zu können, mussten die Frauen mobil sein. Durch solche Mobilität unterschieden sie sich zwar von der sesshaften und besitzenden ländlichen Bevölkerung, waren aber durch die Arbeit gleichzeitig ein Stück weit integriert. Einmal durch deren positive gesellschaftliche Bewertung, zum anderen ganz konkret durch die Art und Weise der Ausübung ihrer Tätigkeiten. Das wird deutlich, wenn man sich ansieht, welche Tätigkeiten die Frauen verrichteten und wo sie es taten, wenn sie nicht bettelnd von Haus zu Haus oder von Dorf zu Dorf zogen. An erster Stelle stehen auf der Basis meiner Quellen erwartungsgemäß Textilarbeiten. Am häufigsten werden das Spinnen und das Stricken, wozu manchmal sogar Unterricht genommen wurde26, genannt. Sophia Elisabeth Jensen, die sich lange mit Handarbeiten im Dorfe Trittau aufgehalten hatte, sagte 1790 aus, in dem Amt Bordesholm habe sie sich mit Betteln und Stricken durchgeschlagen27. Solche Arbeit, welche die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung spiegelt, bedeutet in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, wenn sie ambulant verrichtet wurde, Aufnahme in ein Haus. Wenn die mobilen Frauen für andere spannen oder strickten, dann taten sie es in der Kate ihrer „Arbeitgeber“. Neben dem Entgelt genossen sie freie Unterkunft und wohl auch Verpflegung. Das bedeutete Kontakte zu und Kommunikation mit den Besitzenden – für Wochen, manchmal vielleicht für Monate. Für die landwirtschaftlichen Arbeiten, welche die Frauen verrichteten, zum Beispiel Hilfe bei der Ernte, gilt das gleiche28. Es gab also über Arbeit eine Teilintegration, bei der das Fremdsein dieser Menschen etwas zurücktrat und dann völlig verschwand, wenn sich dieser Vorgang in regelmäßigen Abständen wiederholte.

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Der Handel, der Verkauf von Liedern, Bildern und Haussegen, wohl hauptsächlich auf Märkten, und das Hausieren mit Kurzwaren wie Bettbändern oder Garnnetzen von Tür zu Tür kann ebenfalls auf einen Grad von Integration verweisen, nämlich einmal dadurch, dass die Hausierer als nützlich empfunden wurden. Zum anderen wenn die Touren von einem festen Wohnort ausgingen und dorthin zurückführten. Trien Margareth Rieck aus Glückstadt, wo ihr Mann Soldat war, kam 1794 vom Plöner Markt, wo sie einige Lieder verkauft hatte29, als sie angehalten wurde. Sie begleitete Anna Margaretha Dorthe Jansen aus derselben Stadt, in welcher ihr Sohn als Soldat diente. Es ist anzunehmen, dass die beiden Frauen in Glückstadt eine Unterkunft hatten, somit in eine Nachbarschaft integriert waren. Sieht man nach diesem allgemeinen Hinweis, der die bereits von anderen herausgearbeitete weitgehende Ununterscheidbarkeit von Arbeit und Bettel insofern noch einmal unterstreicht30, etwas genauer hin, so kann man bestimmte Gruppen erkennen, die zu verschiedenen Graden teilintegriert waren. Eine Gruppe, die noch recht fest in die Gesellschaft eingebunden war, stellten die kranken einheimischen jungen Frauen dar. Allerdings ist unübersehbar, dass diese unverheirateten Frauen auf dem Weg waren, in die Dauerbettelei und die ständige Mobilität abzurutschen. Es handelt sich dabei um allein bettelnde Frauen. So wie Krankheit oft die Ursache von Armut sein konnte, so auch von Bettelei. Im Gegensatz zu den älteren, die sich kontinuierlich mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten, ergänzt durch Bettelei, durchschlugen, stand bei diesen Frauen das Almosenbitten eindeutig im Vordergrund, hatte sich aber noch nicht verstetigt. Margaretha Hedwig Becker, 20 Jahre alt, sagte aus, sie habe nach ihrer Konfirmation bei verschiedenen Herrschaften als Dienstmagd gearbeitet. Nach der Zeit hätte sie sich hier und dort mit Spinnen ernähret, zuweilen aber auch Allmosen gesammlet. Seit einem Jahr habe sie gar nicht dienen können, weil sie mit einem Fieber beständig behafftet gewesen [sei]31. Es zeigt sich ein Abstieg von der normalen Dienstmagd-Tätigkeit mit allen ihren unterschiedlichen Anforderungen zur leichteren Arbeit des Spinnens und schließlich zur Bettelei. Ähnlich hört sich die Aussage von Catharina Kupferschmidt, der 28-jährigen Tochter eines Tagelöhners, an, die zu Protokoll gab, sie habe wegen beständiger Kopf- u. Zahn- auch sonstigen gichtischen Schmerzen nicht mehr dienen können, und sich genötiget gesehen, um Allmosen zu bitten32. Die ledigen jungen Frauen waren durch eine Krankheit – die verschiedenen Fiebervarianten wurden als solche angesehen – aus der lebenszyklisch typischen Dienstmagd-Tätigkeit geworfen worden. Dieser Schicksalsschlag traf sie in einer Phase, in der die Grundlagen für das spätere Erwachsenenleben gelegt werden sollten. Stattdessen waren sie entlassen worden, wie bei längerer Erkrankung üblich. Ihre Krankheiten weisen eine andere Qualität auf als die starken körperlichen Behinderungen, die alte Männer zur gleichen Zeit zum Betteln führten, nämlich gebrochene Schultern oder lahme Arme. Erkrankte Knechte kamen in den von mir ausgewerteten Quellen auffälligerweise nicht vor. Für die Bettelei der jungen Frauen bot ihre frühere Dienstmagd-Tätigkeit eine gute Ausgangsposition. Dadurch hatten sie an verschiedenen Orten Bekannte, bei denen sie zuerst um eine Gabe bitten konnten.

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Nun brauchte Krankheit nicht unbedingt zur Bettelei zu führen, denn normalerweise half in solchen Situationen die Familie. In diesen Fällen war es nicht so, weil es sich entweder um unvollständige Familien handelte, wie sie in den armen Schichten der Gesellschaft häufig vorkommen, oder um Vollwaisen33. Die eben erwähnte Margaretha Hedwig Becker konnte zwar nach Hause gehen, sie hatte also noch einen festen Wohnsitz – ein klares Zeichen für ihre Teilintegration –, aber ihre Mutter, eine Witwe, konnte ihr jedoch lediglich einen Schlafplatz bieten, weil sie sich selbst mit Spinnen nur mühsam ernährte. Aussagen im Verhör können bekanntlich strategisch sein und so ist nicht auszuschließen, dass Krankheit auch einmal vorgeschoben wurde, um zu verbergen, dass es sich manchmal in Wirklichkeit um gescheiterte Versuche gehandelt hat, sich auf die eigene Hand zu setzen, wie es in den Quellen heißt. Die Abneigung gegen die abhängige Arbeit als Dienstmagd führte hin und wieder zu dem Entschluss, sich selbständig durchzuschlagen. Margaretha Hedwig Becker hatte die Dienstmagd-Tätigkeit aufgegeben, bevor sie krank wurde. Mit ihrem Verhalten verstieß sie gegen die Gesindeordnung von 1740, die den Dienst als Magd bzw. Knecht für junge Leute als Regel vorschrieb. Möglicherweise führte sie anschließend das Fieber an, um diesen Verstoß zu verschleiern. Eine andere Bettlerin sagte aus, sie sei die letzten neun Jahre ihr eigener Herr gewesen, habe aber unter anderem wegen einer ausgestandenen Krankheit ihre mehresten Sachen zu ihrem Unterhalt […] verkaufen müssen mithin unter diesen Umständen sehr zurückgekommen 34. Diese Frau, die älter war, aber unverheiratet und langjährig als Dienstmagd tätig, steht gewissermaßen für ein späteres Stadium eines solchen Unabhängigkeitsstrebens und die große Gefahr seines Scheiterns. Anna und Agneta Christians, Mutter und Tochter, weisen beispielhaft auf die Gruppe fremder Frauen hin, die noch teilintegriert waren, weil sie in dem begrenzten Raum, in dem sie sich bewegten, durch längeren Aufenthalt bekannt waren und auf Arbeit (sofern vorhanden) und Unterkunft rechnen konnten. Sie wurden 1778 im Amt Bordesholm als zwei Bettelweiber von einer Streife aufgegriffen35. Sie sind einzureihen in den Zug von Däninnen nach Süden, der jedoch meistens an der Grenze des Herzogtums Schleswig endete, die sie allerdings überschritten hatten. Damit befanden sie sich auf Reichsgebiet, wenn auch immer noch innerhalb des dänischen Gesamtstaates. Anna Christians, die Mutter, war zwischen 70 und 80 Jahre, ihre Tochter Agneta etwa 31, 32 Jahre alt. Die beiden stammten von der Insel Fünen in Dänemark. Die Mutter hatte die Arbeitssuche nach dem Tod ihres Mannes in die Herzogtümer geführt; die Tochter war bei Fremden aufgewachsen. Nach einer Pockeninfektion als junge Erwachsene war Agneta, die Tochter, stets kränklich und damit auf die Mutter angewiesen, und diese wiederum altershalber auf die Tochter. Beide zogen nun im Raum zwischen Kiel und Bramstedt umher und halfen u. a. bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten. So arbeiteten sie zum Beispiel bei der aus mehreren Arbeitsschritten bestehenden, mühseligen Flachszubereitung mit, die ausschließlich von Frauen verrichtet wurde. Sie waren am so genannten Schwingen des Flachses beteiligt, wobei es darum ging, aus dem gebrochenen und in kleinen Bündeln zusammengeschnürten Flachs die hölzernen Teilchen zu entfernen. Bezahlt wurden sie mit Flachshede, die sie

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selbst verwerten oder verkaufen konnten. Hatte die Arbeit in einem Dorf ihr Ende erreicht, zogen sie weiter und halfen in einem anderen, sehr wahrscheinlich auch bei anderen Arbeiten. Ein Zeuge gab an, sie hätten Lumpen gesammelt. Diese Tätigkeit lässt sich manchmal bei Herumziehenden feststellen36 und war mit dem Zug von einem Ort zum anderen gut vereinbar. Sie blieben durchschnittlich vier Wochen in einem Dorf, wo sie daher viele Bewohner zu Gesicht bekamen. Für sie trifft zu, was eine andere Frau aussagte, nämlich: Sie wäre durch ihre Arbeit im Amt bekannt geworden37. Dieses Bekanntsein gab beiden Seiten, der Landbevölkerung und den beiden Frauen, ein gewisses Maß an Sicherheit, das durch einen guten Ruf noch gestärkt werden konnte. Bekannt sein im positiven Sinn hieß, dass man von der Bevölkerung nicht mehr scharf beobachtet oder gar verdächtigt wurde38. Die beiden gingen darüber hinaus regelmäßig zur Kirche und zum Abendmahl und hatten sich auch einen bestimmten Pfarrer als Beichtvater gewählt. Aufgrund dieser Kriterien kann man sie, wie gesagt, durchaus als gut teilintegriert bezeichnen: Sie gehörten dazu – in Grenzen allerdings. Denn diese Teilintegration währte nur so lange, wie die ländliche Bevölkerung und die Bettlerinnen unter sich waren, mit anderen Worten: solange die Obrigkeit nicht eingriff. Das lässt sich auch bei anderen Fällen beobachten. Als bekannt wurde, dass eine Streife kommen würde, wollte man sie nicht mehr im Haus haben. Da sie nach zeitgenössischem obrigkeitlichen Verständnis fremd waren und sich nicht genügend lange an einem Ort aufgehalten hatten, um das Heimatrecht zu erwerben, und dazu Bettlerinnen waren (was sie allerdings abstritten39), wurden sie nach Dänemark abgeschoben. Angemerkt sei noch, dass die hier hervortretende Mutter-Tochter-Kombination bei der Bettelei kein Einzelfall war40, und eine Lebensform von Frauen in nordwesteuropäischen Städten spiegelt41. Eine andere Fallkonstellation stellt die Bettelei als Form des ständigen Lebensunterhalts von einem bestimmten Lebensabschnitt an dar. Dabei treten zwei Varianten hervor: Einmal handelte es sich um sozial nicht mehr integrierte Frauen auf Dauerwanderschaft, zum anderen um alte Frauen. Die erste Variante liegt dann vor, wenn Frauen in eine schwierige Lage gerieten, deren Beziehungen zu ihrer Familie und Verwandtschaft durch häufigen Ortswechsel lose geworden waren, und die durch eben diese Mobilität kein soziales Netzwerk hatten aufbauen können. Man wird zuerst an Soldatenfrauen denken, die ihren Mann verloren, nachdem das Regiment mehrere Male den Standort gewechselt hatte. Mein exemplarisch angeführtes Beispiel schließt eine solche Konstellation nicht aus; allerdings fehlen zu viele Angaben, um eine solche Einordnung vornehmen zu können. Maria Cathrina Näsert, eine 53-jährige Soldatentochter, gab an, dass sie als Kind von Kopenhagen nach Stockholm gekommen sei und dort einen Diener geheiratet habe. Ihr nächster Aufenthaltsort war dann Stralsund in Schwedisch-Vorpommern. Durch Unglücksfälle an den Bettelstab gekommen 42, wie sie sagte – vielleicht war ihr Mann gestorben oder hatte sie verlassen – wanderte sie bettelnd nach Westen: aus Schwedisch-Vorpommern ins Mecklenburgische, von dort in die Vierlande, die sie im Herbst 1783 erreichte, bevor sie im Winter des darauf folgenden Jahres im Amt Bordesholm im Holsteinischen angehalten wurde. Die Zeit von 1 ¼ Jahr, die sie brauchte, um die ca. 80–90 km zwischen den Vierlan-

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den und dem Amt Bordesholm zurückzulegen, spricht dafür, dass sie in den Dörfern solange bleiben konnte, wie sie dort Arbeit fand oder wie das Wetter gebot, ihr eine Unterkunft zu gewähren. Sie war also nur kurzfristig geduldet und strebte möglicherweise auch gar nichts anderes an. Da kein Hinweis darauf vorliegt, dass es sich bei ihrem Weg um eine regelmäßige Betteltour gehandelt hat, bei der in einem bestimmten Zeitabstand dieselben Stationen angelaufen wurden, muss man sie als nicht integriert bezeichnen43. Gut möglich, dass sich zudem ihre Bindung an die Kirche gelockert hatte. Eine andere Frau sagte nämlich aus, seit dem sie auf Reisen sei habe sie nicht communiciret und konnte sich nicht erinnern, wann sie es das letzte Mal getan hatte44. Nun kann man dieselbe Entfremdung auch für Männer annehmen, doch ein Unterschied bleibt, da Frauen oft eine engere Beziehung zu Religion und Kirche gehabt haben. In Hinblick auf die ländliche Gesellschaft ist interessant, dass Maria Cathrina Näsert bei der Angabe ihres Weges keine Städte nannte, was jedoch verständlich wird, wenn man bedenkt, dass man ohne Papiere schlecht in diese hineinkam, und sie immer weniger bereit waren, Wanderbettlern zu helfen45. Das Land muss daher attraktiver für Bettler und Bettlerinnen geworden sein. Alleinwandernde Frauen aus Dänemark oder Schweden und damit Fremde, die außerhalb der Gesellschaft standen, kommen nur in sehr geringer Zahl vor. Während vereinzelte männliche Bettler auch aus Italien, Frankreich und Polen zu registrieren sind, lassen sich keine Frauen aus diesen Ländern nachweisen. Das südlichste Land bei den Frauen ist die Schweiz; aber ob die Angabe der Tochter eines verstorbenen Musselin-Fabrikanten, so ihre Aussage, vertrauenswürdig ist, kann nicht entschieden werden46. Die zweite Variante ständiger Bettelei ist die von alten Frauen auf dem Land. Allerdings ist sie bei Frauen nicht häufig, die Männer waren eindeutig in der Mehrzahl. Frauen machten höchstens ein gutes Fünftel der alten Bettelnden aus. Dabei überrascht es ein wenig, wenn man hört, dass die meisten Witwen waren, denn diese gehörten traditionell zu den würdigen Armen, und man erwartet eigentlich, dass sie, gleichviel, ob sie aus der Stadt kamen oder vom Land, da wie dort, aus der Armenkasse unterstützt worden wären. Die Kombination von zwei unterschiedlichen Tatsachen bewirkte, dass sie trotzdem vertreten waren: Zum einen war entweder keine Familie im engeren Sinn mehr vorhanden oder, wenn das der Fall war, konnte sie praktisch keine Hilfe bieten. Ein altes Weib sagte aus, sie [sei] aus Neustadt des damahligen 10jährigen StadtDieners Jacob Friedrich Evers daselbst Witwe, sie habe noch eine Tochter in Neustadt mit 8. Kinder [so] wohnen, deren Mann ein Tagelöhner Jacob Bartel Arend, u. eine Schwester Witwe Nesch, alle arme Leute, die ihr nichts geben können, weshalb sie im Lande herum gehen müsse, u. ihr Brod betteln 47. Zum anderen gab es den altetablierten Grundsatz der Selbsthilfe, der implizierte, dass man normalerweise Armenunterstützung und das Armenhaus nur in Anspruch nahm, wenn kein anderer Ausweg mehr möglich war. Das heißt diese Frauen bestanden ebenso wie Männer darauf, sich selbst ihr Brot zu verschaffen, solange sie dazu in der Lage, also mehr oder weniger gesund waren. Alter spielte dabei keine Rolle. Nach allem was bekannt ist, hätte die Witwe Evers Anspruch auf Zahlungen aus der Armenkasse oder ein Anrecht auf einen

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Platz im Armenhaus gehabt, aber statt die meist sehr kargen, oft nicht ausreichenden Zahlungen aus der Armenkasse zu beanspruchen (die oft so gering waren, dass noch weiter gearbeitet [meist gesponnen] werden musste), versuchte sie sich selbst durchzuschlagen. Das Armenhaus stellte für viele ein Gräuel dar, es wurde als sozial deklassierend angesehen, wenn man nicht alt und krank war. So wie man in der europäischen Gesellschaft unabhängig vom Alter arbeitete, solange man konnte, so bettelten einige Frauen, bis sie auf der Straße von einer tödlichen Krankheit befallen wurden und kurz danach starben48. Über einen Integrationsgrad lässt sich hier keine eindeutige Aussage machen. Manchmal waren die alten Frauen der Bevölkerung zumindest namentlich bekannt – das spricht für ein Minimum an Integration –, manchmal wussten sie nichts über sie, wie bei einer alten Frau, die auf dem Weg starb und von der den Dorfbewohnern nur bekannt war, dass sie aus dem Mecklenburgischen stammte49. Schließlich gab es noch Frauen, die nichts anderes als die Bettelei kennen gelernt hatten50. Auch diese waren, wenn sie regelmäßige Betteltouren unternahmen und in einem bestimmten Raum bekannt waren, noch minimal integriert.

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beim Betteln Betrachtet man die Bettelei von Paaren – verheiratet oder nicht –, dann fällt auf, dass bei ihnen des Öfteren eine Variante des Arbeitspaares vorherrschte, von dem Heide Wunder schon vor längerer Zeit gesprochen hat: Ein (Unterschichten-)Paar, das nur überleben konnte, wenn beide arbeiteten51. Bei den mobilen jüngeren Paaren gab es eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Der Mann ging seinem Beruf oder seiner Tätigkeit nach, die Frau bettelte. So arbeitete zum Beispiel der verabschiedete Soldat Christian Friderich Borst als Kesselflicker, während seine Frau und die Kinder im Dorf bettelten52. In einem anderen Fall bat die Frau eines arbeitslosen Scharfrichterknechts mit ihrem anderthalbjährigen Kind um Almosen, während ihr Mann Pferdekuren verrichtete53. Bei Soldatenehen findet sich ebenfalls diese Art der Arbeitsteilung, allerdings war dann der Mann fest an einem Ort, während die Frau mobil war, wie beispielsweise die 25-jährige Ehefrau des Musketiers Petersen54 oder die zwei bereits erwähnten Frauen aus Glückstadt55. Der Sold des Mannes stellte keine ausreichende Existenzgrundlage für eine Familie dar. Wenn davon die Rede ist, dass „das Untergeordnetsein der Frau, ihre materielle und nichtmaterielle Abhängigkeit vom Mann, auch im Bettlermilieu galt“56, so scheint es fraglich, ob das auf die geschilderte Konstellation in materieller Hinsicht anwendbar ist. Eine Beschreibung als gegenseitiges Angewiesensein, bei dem die Teile zwar nicht gleich, aber gleichermaßen notwendig waren, scheint mir besser zu passen. Nun kann man einwenden, dass Bettelei keine Arbeit ist und schon gar keine Erwerbsarbeit im herkömmlichen Sinn, sondern wie die Zeitgenossen in den Kanzleien und an den Schreibpulten sagten, Müßiggang oder Faulheit, also das genaue Gegenteil. Sicher handelt es sich nicht um Arbeit oder Erwerbsarbeit im wirtschaftlichen Sinn, sicher ist auch, dass viele das Betteln als „bitteren Notbehelf“ für die Zeit der Arbeitslosigkeit be-

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trachteten57. Es fragt sich aber, ob diejenigen, die keine Chance auf Arbeit mehr hatten, die Bettelei nicht doch als etwas Arbeitsähnliches verstanden. Einige sprachliche Wendungen legen das nahe, so wenn eine angehaltene Frau sagt, sie mache sonst vom Betteln keine Profession58, was heißt, dass man es schon so betreiben kann, oder wenn das Betteln als ein handwerksmässiges Gewerbe bezeichnet wird59. Sicher ist: Arbeitsam mussten die Bettlerinnen und Bettler bei ihrer „zielgerichtete[n] Aktivität“60 schon sein. In mancher Hinsicht forderte sie mehr Leistung und Energie als die Arbeit des Spinnens: „[E]in Bettler benötigte nach damaliger Auffassung sowohl Tatkraft als auch Durchhaltevermögen und mentale Agilität“, hieß es61, und das galt selbstverständlich auch für die Bettlerin. Somit erscheint – cum grano salis – der Begriff „Arbeitsteilung“ nicht ganz unangebracht. Als Erklärung für diese Arbeitsteilung ist bisher auf „mehr Mitleid“62 hingewiesen worden, das den Frauen entgegengebracht wurde. Das ist besonders bei Frauen mit Kindern überzeugend, aber doch nicht ausreichend, denn die Beobachtung kann gleichermaßen bei Paaren ohne Kinder gemacht werden. Es sind wohl vor allem zwei ganz unterschiedliche Faktoren, die dazu führten, dass es hauptsächlich Frauen bei herumziehenden Paaren (und ebenfalls bei Gruppen63) waren, die bettelten. Einmal hatten die Frauen ganz selten eine berufliche Ausbildung und somit geringere Verdienstmöglichkeiten; dazu könnte gekommen sein, dass vielleicht weniger kurzfristige Arbeiten für Frauen zur Verfügung standen. Die Arbeit eines Scherenschleifers war schnell getan; aber an einer Spinntätigkeit seiner Frau für ein paar Stunden hatte niemand im Dorf Interesse. Zum anderen kommt das Denken über die Geschlechterrollen hinzu. Aus der Sicht der Gebenden verdienten Frauen eher eine „Beisteuer“ als ein Mann, denn nicht sie, sondern der Mann wurde als Ernährer gedacht. Das Bild der Frau als schwach mag unterstützend dazugekommen sein. Und schließlich dürfte für die Gebenden auch der Anblick eine Rolle gespielt haben: Anna Eleonora Catharina Elbergen, 27 Jahre alt, runden schieren und hübschen Angesichts, mit blauen Augen und blonden Haaren mag mehr Chancen auf ein Almosen gehabt haben als Joh. Andreas Eggert, […] 28 Jahr alt, von mittler [sic!] Statur, rundem vollen Gesicht, schwarzbraunen abgeschnittenen Haaren, und übersichtig, das rechte Auge ist ihm geschlossen 64. Zum Anblick gehört die Kleidung: Bettlerinnen und Bettler achteten darauf, dass sie zwar ärmlich, aber nicht zerlumpt war. Die Quellen bieten jedoch Hinweise – mehr nicht –, dass Frauen in dieser Hinsicht etwas sorgsamer waren65, was sie als Bittende akzeptabler machte. Das Muster, dass bei Paaren die Frau bettelt, der Mann jedoch nicht, zeigt sich bei den „Sonderformen des Überbrückungsbettels“ ebenfalls66. Dabei geht es um das Ausnutzen einer Gelegenheit, sei es als Chance oder sei es unter dem Druck in einer momentanen Notlage. Eine solche Gelegenheit zum Betteln bot die Reise von einem Ort zum andern, so zum Beispiel die Verwandtenbesuche, die oft genug dazu dienten, über die Runden zu kommen und manchmal sicher auch als Rechtfertigung der Mobilität, wenn man nicht in flagranti beim Betteln ertappt worden war. Man sicherte sich bei den Familienangehörigen Unterkunft und Verpflegung für einige Zeit. Auf dem Wege zu diesen baten Paare – das heißt die Frau – dann noch um Almosen. Engel Burmester, 32 Jahre alt, befand sich mit

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ihrem Mann auf dem Rückweg von einem Verwandten, als sie bettelnd ertappt wurde. Sie sagte aus, es thue ihr leid, dass sie solches unternommen. Ihr Mann sey unterdessen auf der Landstraße geblieben, während sie zu den Häusern gegangen war67. 1790 wurde ein Mann eingebracht, der sich mit seiner Frau und einem kleinen Sohne in eyderstede aufgehalten, allwo die Frau gebettelt habe 68. Nicht der zum Musikanten gewordene Kupferschmied bettelte, sondern typischerweise seine Frau. Falls die Notsituation – sie gaben an, ihnen sei auf der Suche nach ihrem verschwundenen anderen Sohn das Geld ausgegangen69 – nicht den Tatsachen entsprach, so bleibt doch, dass die um Almosen bittende Frau dieser Fiktion offensichtlich Glaubwürdigkeit verlieh.

Bettlerinnen an der Haustür Bettelei war Alltag. Es war in vielen Gebieten nichts Ungewohntes, eine Frau oder einen Mann bettelnd vor der Tür zu sehen. Grundsätzlich kann man daher annehmen, dass das Verhältnis sehr stark von Routine geprägt war; die Zahl der Bettelnden war einfach zu groß. Die Routine zeigt sich darin, dass in manchen Gegenden ein Bettelkorb am Fenster befestigt war70. Die Bettelnden brachten ihre Bitte „durch Worte, Gesten, Körperhaltung und sonstige wiedererkennbare Zeichen“ zum Ausdruck71. Belegt sind für andere Gegenden auch Lieder. Die Kleidung könnte man ebenfalls zu den wiedererkennbaren Zeichen zählen; außerdem konnte die Begleitung – zum Beispiel wenn ein Kind eine blinde Frau führte – ein klares Signal abgeben. Angesichts dieser Kennzeichen mag oft bereits eine kurze formelhafte Bitte genügt haben. Für das katholische Bayern wissen wir, dass eine Reihe von „gut katholischen“ Formeln heruntergeleiert wurde72. Auch in den protestantischen Herzogtümern dürfte die Bitte christlich geprägt gewesen sein73. Von dem Kirchenbesuch der Anna und Agneta Christians ist bereits die Rede gewesen, und als 1788 eine Bettlerin kurz nach ihrer Verhaftung starb, fand sich unter ihren kärglichen Besitztümern auch ein Gesangbuch74. Da die Situation eindeutig war, brauchten die Gebenden keine Zeit auf viele Fragen zu verwenden. Wenn von den um Almosen Heischenden etwas erzählt wurde, dann dürfte es eher freiwillig geschehen sein, um der Bitte größeren Nachdruck zu verleihen. Wenn nun eine Bettlerin vor der Tür stand, dann war man eher geneigt, so kann man argumentieren, ihr etwas zu geben als einem Mann. Dafür sind eben schon Argumente angeführt worden. Hinzu kommt, dass man beim Stereotyp vom gefährlichen Bettler nicht an eine Frau dachte75. Das dürfte Bettlerinnen zu einem gewissen Vorteil gereicht haben. Aber die Situation an der Tür kann noch genauer bestimmt werden. Das hierarchische Verhältnis zwischen Nehmenden und Gebenden war oft ein rein weibliches, besonders wenn es sich um einen bäuerlichen Haushalt handelte. Das Haus, der Garten und das Kleinvieh waren der Arbeitsbereich der Bäuerin und ihrer Helferin, der Dienstmagd. Sie waren also eher zu Hause als die Männer, deren Bereich die Feldarbeit und das Großvieh waren. Da nun außerdem die Bettelnden auf dem Land in der Regel Naturalien bekamen

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– als 1784 der Bettelsack der Margaretha Hedwig Becker und eines Bettlers durchsucht wurde, fand sich darin nichts anderes als etwas Brod, Mehl und Grüze 76 – ergibt sich auch aus diesem Grund eine Zuständigkeit der „Hausfrau“. Es ist aber klar, dass solche Überlegungen nur eine grobe Leitlinie sein können, und sich schon durch die Jahreszeit – die Dresch- und Reparaturarbeiten der Männer im Winter fanden auf dem Hof statt – Veränderungen ergeben konnten. Beweise dafür, dass es eine Frauensolidarität gab, wenn nun eine Frau einer anderen gegenüberstand, sind nicht zu finden; die „Detailaufnahmen“, die zur Beantwortung dieser Frage notwendig sind, fehlen in den durchgesehenen Beständen. Sicher ist aber, dass ein Umstand stark auf die Bereitschaft des Almosengebens einwirkte: das Beisein kleiner Kinder. Dann handelte es sich um den klassischen Appell an das Mitleid: die hilfsbedürftige Frau und das Kind, das nichts für seine Lage kann. Schutz und Hilfe für sie haben eine lange Tradition. Als eine Bäuerin die Bettlerinnen wieder erkannte, die ihre Magd eingelassen hatte, fragte sie nach dem kleinen Kind, das im letzten Jahr dabei gewesen war77. Auch Amtspersonen zeigten sich dann nachsichtig. Ein Vogt gewährte zwei Frauen Aufschub, nachdem er sie zum Verlassen des Ortes, in dem sie Arbeit gefunden hatten, aufgefordert hatte, weil eine Streife stattfinden sollte: Da Deponentin ein kleines Kind habe, so hätten sie noch von ihm die Erlaubnis erhalten, bis diesen Morgen dort zu bleiben78. Da die Frauen die kleinen Kinder nolens volens mit sich führen mussten, da es niemanden gab, der sie beaufsichtigen konnte79, erübrigt sich die Frage, ob sie sie gezielt zur Bettelei einsetzten. Dass Bettlerinnen fremde Kinder liehen und zur Bettelei nutzten, wird immer wieder von Zeitgenossen und Historikern geschildert80, eindeutige Beispiele in dem herangezogenen Material gibt es jedoch nicht81. Die Untersuchenden waren an dem zuständigen Unterstützungsort, nicht an der Feststellung der Identität der Kinder interessiert. Der Anblick von Frauen mit Kindern war allerdings nicht übermäßig häufig. Betrachtet man die Witwen mit unmündigen Kindern allein, dann betrug ihr Anteil an einer Stichprobe nur drei bis vier Prozent. Nimmt man Paare mit Kindern dazu, dann steigt der Anteil auf zehn Prozent. Es ist wohl der emotionale Appell von Bildern von Kupferstechern wie Chodowiecki82 und die Verwendung des Motivs von heutigen Historikern83, die einem zu der Annahme führen können, die bettelnde Frau mit ihren Kindern sei eine der häufigsten Erscheinungen gewesen. Abgesehen davon, dass die christliche Religion Witwen schon von der Bibel her unter einen besonderen Schutz stellte und auch die Armenfürsorge sich ihrer annahm, wussten die Bäuerinnen, dass kleine Kinder eine große Last sein konnten und dass diese Frauen derentwegen nur unter großen Schwierigkeiten arbeiten konnten: Nicht umsonst fanden sich in manchen bäuerlichen Haushalten kleine fremde Mädchen oder Witwen, die sich um die Kinder der Bauersfrau kümmerten. Das dürfte sie zu einem Almosen geneigter gemacht haben. Witwer, die mit unmündigen Kindern unterwegs waren, sind die große Ausnahme. Da die Sorge für die Kinder den Frauen zugeschrieben wurde, ließen sie die Kinder lieber zu Hause und erfüllten so das Geschlechterstereotyp84. Wenn ein Mann die Tür öffnete, lag ein doppeltes hierarchisches Verhältnis vor: nicht nur von Gebendem zu Nehmendem, sondern in der patriarchalischen Gesellschaft, auch

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von Mann zu Frau. Diese Gedanken erhalten eine gewisse Stützung durch einen Vorfall, der sich zutrug, als zwei Bettlerinnen vor der Tür standen und ihnen ein Mann entgegentrat. Als er zu ihnen hinausgegangen, berichtet der Mann, und gefragt, wo sie herkämen und wohin sie wollten? Hätte die große starke Person – die andere sey ihren Vorgeben nach blind und habe sich ruhig verhalten – mit trotzigem Worten ihm geantwortet, was ihn […] das anginge, er sollte sich nur um das seinige kümmern und nicht um sie bekümmern 85. In der Reaktion der Frau spiegelt sich, dass ein derartig inquisitorisches Verhalten von Gebenden eher ungewöhnlich war. Hier kommt der Widerwille gegen das Ausgefragt-Werden zum Ausdruck, den man gegenüber der Obrigkeit meist unterdrückte. Und die Obrigkeit – diese banale Tatsache darf man nicht vergessen – trat den Frauen stets als Mann gegenüber. Was die Frauen nicht wussten, ist, dass der von ihnen aufgesuchte Mann eine obrigkeitliche Funktion auf unterster Ebene wahrnahm. Es handelte sich um einen Holzvogt, und diese nahmen auch an Bettelstreifen teil. In seiner Perspektive spiegelt sich dagegen, dass das selbstbewusste Verhalten der Frau das Gegenteil von dem war, was die Obrigkeit von Bettlern, vor allem aber von weiblichen, erwartete: nämlich nicht Trotz, sondern demütige Unterwürfigkeit. Den Versuch, sie zu dem Bauernvogt zu führen, beantwortete die Frau mit Schlägen, Schläge, die sonst trotzige Bettelnde verordnet bekamen. Manchmal findet sich das bekannte Motiv der verkehrten Welt eben auch in der sozialen Wirklichkeit. Die Frage, zu der das Verhalten dieser Frau führt, ist die nach dem Verhältnis von aggressivem Betteln und gender. Welchem „Geschlecht“ ist aggressives Betteln, ist die immer wieder angeführte Drohung mit Brandstiftung oder mehr in erster Linie zuzuordnen? Die Frage scheint rhetorisch, die Antwort offensichtlich. Indirekte Androhung von Gewalt auf Festnahmen bei Männern – so stellte einer den Amtsschreiber förmlich […] zur Rede, und meinte drohend zur Arretierung seiner Frau: Wenn er dabei gewesen wäre, dann solte es ganz anders gekommen seyn 86 –, kommen in dem benutzten Material allerdings zu selten vor, als dass man eine bestimmte Antwort geben könnte. Drohungen und Widersetzlichkeiten ereignen sich eben vor der Verhörsituation, in der die benutzten Quellen entstanden. Andere Studien haben aber die Drohung als überwiegend männliche Verhaltensweise87 ein- und damit das aggressive Betteln den Männern zugeordnet. Die Situation an der Tür ist sicher noch „unterkomplex“ dargestellt worden, denn über das, was im Haus vorging, bekommt man aufgrund von Verhörprotokollen selbstverständlich keine Auskunft. Ob gegeben werden sollte und wie viel, darüber wurde sicher auch manchmal im Haus gesprochen. Und erst recht kam es zu Diskussionen, wenn eine Bettlerin aufgenommen werden sollte. Nur die Perspektive der Gebenden kann hier helfen. Welche Auseinandersetzungen es tatsächlich gab, beleuchtet eine Quelle aus einem anderen Teil Deutschlands, aus Schlesien. Adam Bernd berichtet in seiner Autobiographie eine Episode aus seiner Kindheit: Nicht lange nach diesem lief ein arm Weib des abends noch auf der Gasse herum, weinte und heulte, klopfte unter andern auch bei uns an, und bat, man möchte sie doch eine Nacht beherbergen, damit sie nicht bei so schlimmen Wetter auf der Gasse liegen dürfte. Ich weiß nicht, warum sie nicht meine Leute in die Schenke gewiesen, allwo auch die Bettler zur Not auf eine Nacht Herberge finden. Doch, wie mein Vater bei seinem großen

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Zorn, den er, wenn es Not tat blicken ließ, ein weichherziger Mann war, so nahm er das Weib ins Haus, so sehr wir Kinder auch samt der Mutter uns widersetzten 88. Der Hausvater entschied aufgrund seiner Position und schob die Ansicht der streng religiösen Hausmutter beiseite. Spekulieren kann man darüber, ob auch Vorstellungen über das richtige Verhalten von Männern gegenüber armen Frauen eine Rolle gespielt haben.

Betteln mit Kindern Die Vorteile des Bettelns mit Kindern sind bereits angesprochen worden, doch von den Schwierigkeiten ist bisher noch nicht die Rede gewesen. Bettelei mit Kindern stellte die Frauen auf der Landstraße vor vielerlei Probleme. Gegen die hohe Gefährdung von Säuglingen, vor allem durch Magen- und Darmerkrankungen, insbesondere in den Sommermonaten, und der kleinen Kinder durch Kinderkrankheiten wie Masern und den gefährlichen Pocken mussten die herumziehenden Bettlerinnen ankämpfen. Das Wissen um das mögliche Eintreten solcher Situationen mag einige allein mit ihren Kindern bettelnde Frauen zum Zusammenschluss mit anderen geführt haben. Wenn nun ihre Säuglinge und Kleinkinder krank wurden, so hatten die Frauen zwar Beistand, aber nicht die Mittel, um ihren Kindern, wie den Umständen nach geboten, zu helfen. Auch mussten sie dann gelegentlich Kinder für die Zeit des Bettelns krank bei anderen Personen zurücklassen89. Eine Bettlerin, die sich mit ihren zwei Kindern einer Gruppe angeschlossen hatte, sagte aus: Ihr kleinstes Kind sey bereits seit länger als 6 Wochen mit offenen Schaden an den Beinen behaftet gewesen 90. Was sie dagegen getan hat, erfährt man aufgrund der Perspektive der Quellen nicht. Dass die anderen Frauen ihr aber geholfen haben, darf man annehmen, und geht auch aus dem folgenden Quellenzitat hervor. Die Bettlergesellschaft war für eine Nacht bei einem Bauernvogt untergekommen, als sich die Krankheit des Kleinkindes verschlimmerte. Die Dienstmagd des Bauern gab zu Protokoll: In der Nacht habe sie nicht schlafen können und also gehöret, dass das Kind auf seinem Lager sehr gewinselt habe. Die Weiber hätten sich viele Mühe damit gegeben und sie hätten viele Umsorge dafür bewiesen. Gegen Morgen um die Zeit, da der Hahn zum 2ten mahl krähete, sey das Kind stille geworden, nachdem es etwas leiser gestöhnet und da hätten die Weiber bitterlich darüber geweinet, dass es nunmehro gestorben 91. Noch schlimmer war es, wenn sich ledige Mütter mit ihren Kindern auf der Straße wiederfanden. Eine 19-jährige unverheiratete Mutter wurde mit ihrem Kinde in einem hülfsbedürftigen Zustande an der Landstraße angetroffen. Die junge Frau, die an einem Beinschaden litt, musste für ein 15 Wochen altes Kind sorgen. Sie wurde zwar fünf Wochen lang verpflegt, das Kind starb allerdings während dieser Zeit92. Dass ihr und ihrem Kind Hilfe geleistet wurde, hatte sie einer Verordnung der Zentralregierung aus dem Jahr 1776 zu verdanken. Nachdem schwerkranke Bettlerinnen und Bettler, weil man die Armenkasse nicht mit den hohen Kosten für deren Behandlung und Pflege belasten wollte, schnellstens zum nächsten Dorf transportiert worden waren und von da weiter (oder wieder zurück), bis sie starben, hatte die Regierung nicht nur angeordnet, solche Fälle nach oben zu mel-

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den, sondern auch unchristliche Transporte […] mit härtester Strafe bedroht93. Anna Hedwig Rosenberg wurde aufgrund dieser Verordnung mit ihrem Kind 1791 gehörig untersucht, und erst auf den Weg zum Unterstützungsort geschickt als befunden [wurde,] dass solche ohne Schaden ihrer beiden Gesundheit weitertransportiert werden konnten94. Wurden die Kinder älter, versuchten die Frauen manchmal, den männlichen Nachwuchs in eine Lehre zu geben. Für Töchter kam so etwas nicht in Frage: Ausbildungsberufe für Mädchen (z. B. als Klöpplerin in Nordschleswig) waren sehr selten. Ein 13-jähriger Junge berichtet: Vor etwa einem ¼ Jahr wäre er nach Lübeck bei einem Reifer namens Wulff, an der Trave wohnhaft, in die Lehre gekommen, aber nach etwa 14 Tagen wieder weg und nach seiner Mutter gelaufen 95. Auch andere Beispiele dieses gescheiterten Weges aus der Bettelei sind bekannt96. Offensichtlich verkrafteten die Jungen die Trennung von der Mutter, verbunden mit einer völligen Veränderung ihrer Lebensweise, nicht. Das Beispiel zeigt nicht nur, welche Schwierigkeiten auch ältere Kinder für die Bettlerinnen darstellten, sondern auch dass sie Kontakte zur sesshaften Bevölkerung hatten und diese nicht unbedingt Ressentiments gegen Bettlerkinder hegten. Mädchen wurden von Frauen, die arbeitend und bettelnd durch das Land zogen, nach dem kirchlichen Erwachsenwerden in Dienst gegeben, so die oben erwähnte Margaretha Becker, die aussagte, sie sei mit ihrer Mutter nach Rixdorf gekommen und sey in dortiger Gegend von einem Ort zum anderen mit derselben gezogen, bis sie confirmiret gewesen. Von dieser Zeit an habe sie bey dem Aufseher der Wildkoppel zu Rastorf, Namens Schröder, ein Jahr bei dem Schuster Bustorff in Preez und ein halbes Jahr bey dem dortigen Brauer Gosch gedient97. Eine andere Frau war von Kind an das Betteln gewöhnt – so hatten sich ihre Eltern ernährt. Wahrscheinlich ging der Blick ihres Vaters nicht über diese Welt hinaus, als er kurz vor seinem Tod sich um die Zukunft seiner Tochter sorgte: Er habe sie nemlich um diese Zeit bei Leuten, die gleichfalls im Lande herumgegangen, hingethan98. Vielleicht hatte ihn auch die böse Grind 99, unter der seine Tochter litt, dazu bewogen. Diese Krankheit sollte später verhindern, dass sie eine Stelle als Dienstmagd bekam. Wenn es den Müttern nicht gelang, ihre Kinder irgendwo unterzubringen, blieb letztlich nur ein Leben auf der Straße, mit der Gefahr, im Laufe der Zeit noch weiter abzusinken. 1790 wurde Anna Maria Schondorf aufgegriffen. Die 34-jährige Frau gab an, die Witwe eines Mannes zu sein, der zur See gefahren und daselbst vor etwa 10 Jahren geblieben sei100. Mit ihr wurden ihre 15-jährige Tochter und ihr neunjähriger Sohn angehalten, angeblich ein Sohn des Matrosen, wie der Verhörende wegen des Alters des Jungen misstrauisch hinzusetzte. Sie handelten mit Liedern, Bildern und Haussegen, bettelten aber auch. Statt die Tochter nach ihrer Konfirmation in Dienst zu geben, blieben Mutter und Tochter zusammen. Neun Jahre später wurden die drei erneut von einer Streife gefasst. Die Gruppe hatte sich inzwischen vergrößert: Die nun ins vierundzwanzigste Lebensjahr gehende Tochter erschien zum Verhör mit ihrem unehelichem säugenden Kinde101. Nicht die zu dieser Zeit allgemein häufige Illegitimität ist aus der Perspektive dieses Beitrages das Interessante, sondern dass eine solche Gesellungsform bei Männern schlecht vorstellbar ist102. Ihrer Angabe nach ernährten die Frauen sich nun durch Spinnen auf dem Land. Der Sohn,

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inzwischen 18–19 Jahre alt, wurde bei der erneuten Befragung als blödsinnig geschildert103. Wie auch immer seine Veranlagung gewesen sein mag: Zur Schule dürfte er nicht gehalten – um den zeitgenössischen Ausdruck zu gebrauchen – worden sein. Eine mit Steinzeug handelnde und bettelnde Witwe begründete 1804 die Tatsache, dass ihr 16-jähriger Sohn noch nicht konfirmiert sei, so: Sie habe solches nicht thun laßen können weil derselbe nur schwach am Verstande sey und sie auch das Geld nicht dazu gehabt habe, ihn in die Schule gehen zu laßen104 – das zu zahlende Schulgeld mag in der Tat schwer aufzubringen gewesen sein – der wahre Grund liegt aber wohl darin, dass Schulunterricht und umherziehende Lebensweise schwer auf einen Nenner zu bringen waren.

Anlässe zur Ausgrenzung Die eingangs gemachte Aussage, dass die Landbevölkerung die Bettlerinnen und Bettler normalerweise duldete, ihnen Arbeit (sofern möglich) und Almosen gab, verweist auf ein System gegenseitiger Verhaltenserwartungen. So wie die gebende Seite gewisse Erwartungen hegte, so auch die nehmende, die allerdings am kürzeren Hebel saß. Allgemein verhielt sich die ländliche Bevölkerung entsprechend den informellen Normen. In Extremfällen traten jedoch Grenzen hervor; nur in solchen kam es zu einem Ausschlussverhalten. Die Aufmerksamkeit, die sie erregten, darf nicht über ihre Seltenheit hinwegtäuschen. Das gemeinsame stillschweigende Einvernehmen über gewisse Anrechte und Verpflichtungen und die damit verbundene Duldung endete bei einem großen Teil der ländlichen Bevölkerung – hier sind vor allem die Besitzenden gemeint, nicht diejenigen, die selbst an der Schwelle zur Kriminalität ihr Leben hinbrachten – in dem Augenblick, in dem die Bettlerinnen das Eigentum anderer nicht respektierten105 oder als eine zu große Belastung für die Armenkasse wahrgenommen wurden. Dann wurden scharfe Grenzlinien gezogen; wer gestern noch aufgenommen worden war, der wurde am nächsten Tag angezeigt106. Wem gestern noch ein Nachtlager eingeräumt wurde, dem wurde ein solches am nächsten Tag verweigert. Ein Unterschied auf der Basis der Kategorie Geschlecht ist (vorerst) nicht zu entdecken. Die 13-jährige Waise Anna Catharina Köster aus der Stadt Rendsburg klopfte 1776 an die Türen der Bauernhäuser im benachbarten Amt Bordesholm107. In einem der Häuser wurde das unbekannte Mädchen aufgenommen. Die Bauersfrau nahm sich seiner liebevoll an: Sie befreite es zuerst einmal von Ungeziefer durch intensives Kämmen. Das Mädchen verbrachte drei Tage in dem Haus; dann verließ es dieses aus eigenem Antrieb. Allem Anschein nach hätte es leicht länger bleiben können, doch das wollte es nicht: Ihr hatten ein Paar silberne Schuhschnallen, ein Halstuch und eine alte Geldbüchse zu sehr zugesagt. Der Diebstahl führte zur selbständigen Suche nach ihr und, als man sie gefunden hatte – sie hatte wiederum Aufnahme in einem Bauernhaus gefunden – zur Anzeige. Dieser Fall dokumentiert einmal die Bereitschaft zur Hilfe, die sicher durch das kindliche Alter vergrößert wurde – vielleicht half zusätzlich auch ein niedliches Aussehen –, hier treten aber

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auch die Grenzen der Duldung klar hervor: Eine Verletzung der Eigentumsrechte wurde nicht hingenommen. In einem solchen Fall wurden scharfe Grenzlinien markiert, selbst bei Kindern. Die Unantastbarkeit des Eigentums führte auch zur Anzeige und Abschiebung von Agneta Christians, von der schon die Rede war. Sie hatte mit ihrer Mutter zusammen die Zuständigkeit des Amtes Bordesholm erreicht. Über sie heißt es zwei Jahre später, also 1780, dass sie sich mit Betteln nährt. Doch nicht deshalb, sondern weil sie wegen verschiedener im hiesigen Flecken [gemeint ist Neumünster] begangener Mausereyen zur Hafft gebracht und bestraffet worden108 war, wurde sie in das benachbarte Amt Bordesholm abgeschoben. Wiederum waren es Kleinigkeiten – es ist von Mausereien die Rede und nicht von Diebstahl –, die zu einer scharfen Reaktion führten. Allein bettelnde Mädchen oder Frauen begingen also gelegentlich kleine Diebstähle, aber wenn es sich um bettelnde Paare handelte – seien sie nun permanent oder temporär miteinander verbunden –, dann war es der Mann, der stahl, während die Frau bettelte. Catharina Bölcken zog mit zwei Kindern um Almosen bittend im Land herum. Zu dieser kleinen Gruppe gesellten sich ab und zu andere Menschen, die unterwegs waren, unter anderen ein Kerl Namens Schröder, so berichtete ihr 13-jähriger Sohn, der sich in unbekannten Dörfern für den Mann seiner Mutter ausgegeben [...]. Dieser hätte gestohlen, wo er nur zu kommen können109. Die ländliche Bevölkerung war eher geneigt, einem Mann eine Straftat zuzuschreiben als einer Bettlerin. Das wird klar, wenn man sich die Vorstellungen, die über Bettler verbreitet wurden, etwas genauer ansieht. Die Obrigkeit stellte die Bettler tendenziell als Diebe, Räuber und Mörder dar. Die genannten Delikte wurden also eindeutig mit Männern in Verbindung gebracht. Das war sicher nicht das erste, was den Gebenden beim Anblick eines Bettlers einfiel, auch wenn sie davon in den Kirchen gehört hatten, wenn die Verordnungen verlesen wurden. Aber wenn ein Diebstahl von Bettlern begangen wurde, dann wird die Verbindung zustande gekommen sein. Der typische gefährliche Bettler war in der Vorstellung ein Mann, keine Frau. Typischerweise sagte eine junge Dienstmagd, die sich von dem Vorwurf der Brandstiftung befreien wollte, sie habe einem Bettler das Almosen verweigert, der darauf gedroht habe, ihr das Dach über dem Kopf anzustecken110. Es gibt noch einen zweiten Ausgrenzungsgrund. Sahen die Gebenden im ersten Fall ihr Eigentumsrecht verletzt und ihr Vertrauen durch diesen Normenverstoß missbraucht, so war es im zweiten die Furcht vor hohen Kosten für die Armenkasse bei schwerer Krankheit, die zur Ausgrenzung führte. Kam zur befürchteten Geldausgabe für ärztliche Behandlung, Pflege und vielleicht auch Begräbniskosten111 auch noch Unreinheit, verursacht durch die Krankheit, dann war ein Bruch der inoffiziellen (wie auch der offiziellen) Normen noch wahrscheinlicher. Auch hier wird man wieder von Ausnahmefällen sprechen müssen. Der Fall Anna Dorothea Böttger zeigt, wie ein solcher Extremfall zustande kommen konnte. Anna Dorothea Böttger hatte ihren langjährigen Wohnort Hamburg verlassen und war auf das Land gezogen, weil sich in der Hansestadt die Überlebensmöglichkeiten verschlechtert hatten. Sie ernährte sich mit dem Stricken von Strümpfen, hauptsächlich jedoch mit

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Betteln. Ihr Nachtlager erhielt sie problemlos in den Katen der ländlichen Bevölkerung. Doch dann erkrankte sie schwer und wurde im wahrsten Sinn des Wortes ausgeschlossen. Nachdem sie vor der Kate des Hufners Dittmer die Nacht vorher unter freien Himmel zu bringen müssen, wurde sie auf einen Mistwagen über die Grenze zum nächsten Dorf gebracht und ausgesetzt112. Es sind zwei Normen für die Behandlung von Bettlerinnen und Bettlern, die hier gebrochen wurden: die Gewährung eines Nachtlagers (unter freien Himmel ist mit einem Ausrufezeichen zu versehen; es war eine Anklage) und ein menschenwürdiger Transport. Die Beschreibung der Behandlung in einem anderen Dorf lässt die Normen noch einmal hervortreten: Der Schreiber, der ihren Standpunkt teilte (und teilen musste), hielt fest, sie wurde unter Dach gebracht, und [ihr wurde] die nötige Erquikung Verschaft; [sie] habe daselbst bei eben denselben 3 Tage gelegen und wäre zu ihrer Völligen Zufriedenheit bewirthet113 worden. Im Fall Anna Dorothea Böttger verband sich die Furcht vor hohen Kosten mit – bürgerlich gesprochen – einer „ekelhaften“ Krankheit, mit Blut und Kot. Sie litt an einer Frauenkrankheit – eine Hämorrhagie uteri stellte der Amtschirurg fest – verbunden mit häufigen Durchfällen. Der diskriminierende Mistwagen wurde nicht zufällig eingesetzt. Ihre Verlausung – anzutreffen bei vielen Bettlern – dürfte keine Rolle gespielt haben. Keineswegs wurde Bettlerinnen wie auch Bettlern – ein Unterschied nach Geschlecht ist hier nicht zu sehen –, die von einer tödlichen, aber sauberen Schwäche überfallen, auf einer Dorfgasse niederfielen, in der Regel die Hilfe verweigert. Sie wurden nicht liegengelassen oder wegtransportiert, vielmehr gibt es Beispiele, dass sie ins Haus geholt wurden. Aber in seltenen Fällen kam es auch dann zu einem Wegtransport.

Ursachen in den Augen der Bettlerinnen Verhörprotokolle von Bettlerinnen sind, will man die Sichtweisen der Verhörten erforschen, nicht ohne vorherige kritische Betrachtung auswertbar, vor allem keine summarischen. Es herrschte bei der Vernehmung ein Obrigkeits-Untertanenverhältnis, das den Inhalt der Aussagen beeinflusste. Darüber hinaus bedeutete der Prozess des Niederschreibens nicht allein eine verkürzende Zusammenfassung des mündlich Gesprochenen. Wenn z. B. ein Schreiber notierte, die Frau sei durch Unglücksfälle an den Bettelstab gekommen, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie ihm, um sein Mitleid zu erwecken, die einzelnen Schicksalsschläge erzählt, er sie aber zusammengefasst hat, weil sein Interesse ein anderes war. Durch das Niederschreiben trat aber auch eine sprachliche Überformung ein. Was wurde niedergeschrieben, wenn eine Frau undeutlich sprach? (Sie kam aus Bayern114.) Trotzdem sind die Protokollaussagen wertvoll, besonders in Passagen, auf die es in der Verhörsituation nicht ankam. Für den Historiker ist eben auch wichtig, was sich in die Protokolle gleichsam einschlich. Dies vorausgesetzt, kann man über die Wahrnehmung von „Ursachen“ einige Aussagen machen. Wie zu erwarten, gab eine ganze Reihe von Frauen an, dass die Not sie zum Betteln getrieben habe115. Es ist also zu fragen, wodurch die materielle Not entstanden war. Selbstverständlich kann man keine Erklärungen auf der Ebene der Gesellschaftsanalyse erwarten,

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wo zu dieser Zeit der rein moralisch-religiösen Erklärung von Armut und Bettelei, welche die Ursachen letztlich im persönlichen Fehlverhalten (Faulheit, Müßiggang, Leidenschaften etc.) sah, zunehmend eine unpersönliche, sozio-ökonomische an die Seite gestellt wurde. Ich habe lediglich eine Aussage gefunden, bei der eine wirtschaftliche Erklärung mit sozialem Hintergrund anklingt. Eine Bettlerin erklärte 1798, dass die durch die französischen Emigranten in die Höhe getriebenen Mietpreise in Hamburg sie gezwungen hätten, ihre Tätigkeit dort aufzugeben und auf das Land zu gehen, wo sie sich nun hauptsächlich mit Betteln ernährte116. Die Vermutung, dass sich bei ihr damit ein Gegensatz zwischen den reichen, adligen Emigranten und der armen Reinmachefrau, die sie gewesen war, verband, liegt nahe. Bei einer Reihe von Fällen gaben die ledigen Frauen eine offensichtlich unerwartete Dienstentlassung und die darauf folgende Arbeitslosigkeit an. Nur selten wird die Ursache klar, so z. B. wenn ein Dienstherr wegen Schulden seinen Hof hatte aufgeben müssen117. Oft stellt sich die Frage, ob es zu Streitigkeiten gekommen war, oder ob man den Frauen das Heimatrecht verweigern wollte, indem man sie vor Ablauf des sechsjährigen Aufenthalts an einem Ort, mit dem man das Heimatrecht erwarb, von dannen schickte. Auffällig ist, dass einige Bettlerinnen die magische Zahl sieben nannten; so war das bei Anna Elisabeth Jensen der Fall, die 1790 betonte, sie habe sich sieben Jahre an einem Ort aufgehalten, und auch die in Jütland gebürtige Margaretha Lucas sagte aus, sieben Jahre als Holländermagd gearbeitet zu haben – womit sie ihre Rückkehr an den Ort ihres letzten Aufenthalts bewirkten118. Relativ häufig wird bei Ledigen das Geschlechterverhältnis zwar nicht ausdrücklich als Ursache benannt, aber so geschildert, dass man es als eine wesentliche Ursache in der Deutung der Frauen ansehen kann. Es handelt sich bei den Ledigen vornehmlich um Opfer gescheiterter Beziehungen, bei den Verheirateten um schlechte oder zerbrochene Ehen119. Fehlgeschlagene Beziehungen im Vorfeld der Ehe sind offenbar ab und zu die Ursache dafür gewesen, dass Frauen aus der Bahn geworfen wurden und an den Bettelstab gerieten. Das Verhalten des Mannes, den sie heiraten wollte, stand zum Beispiel im Mittelpunkt der Erklärung von Catharina Dorothea Denker. Sie gab 1789 zu Protokoll, sie habe sich mit einem Kerl eingelassen, der ihr das Ihrige gestohlen und dann eine andere geheiratet habe. Dies habe sie mismuthig gemacht und zu dem herumlaufenden Wandel verleitet120. Wie um diesen krisenhaften Wendepunkt in ihrem Leben zu unterstreichen, klagte sie noch einmal über dessen Treulosigkeit. Wenn eine andere Bettlerin ein ganz ähnliches Schicksal anführte, obwohl es weit zurücklag und nicht mehr der aktuelle Anlass für ihre Bettelei war, zeigt sich darin doch, dass auch sie hier eine Wende in ihrem Leben sah. So berichtete Anna Dorothea Böttger, sie sei einem Pferdearzt unter dem Versprechen der Ehe nach Hamburg gefolgt, der sie aber später verlassen habe121. Und schließlich taucht in den Quellen noch eine Frau auf, die für wahnsinnig gehalten wurde, aber alles zusammenhängend erzählte, bis auf den einzigen Punkt einer Liebschaft. Da das für die Ermittlung des Unterstützungsortes völlig irrelevante Liebeserlebnis sich so in den Vordergrund drängte, könnte man vermuten, dass es für die Verwirrung der Frau und die anschließende Bettelei verant-

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wortlich war122. Wenn nichteheliche Gemeinschaften zerbrachen, war der weitere Weg der Frau stark gefährdet, besonders wenn daraus Kinder hervorgegangen waren. Sophie Charlotte Meyncken gehörte zu denjenigen, die länger mit einem Mann zusammengelebt hatten. Dieser sei nun zu den Soldaten gegangen, sagte sie aus. Sarkastisch stellte sie fest, was ihr diese Beziehung gebracht habe: mit hin ist für ihr nichts übrig geblieben als der Bettelstab und 2 Kinder123. Historikerinnen und Historiker haben in den 1980er-Jahren kontrovers über den Anstieg der Illegitimität diskutiert und ganz verschiedene Ursachen vorgebracht, als sicher kann jedoch gelten, dass auch die sich verringernden Arbeitsmöglichkeiten für die Männer einen strukturellen Faktor darstellten, der die Entscheidung, ihre Eheversprechen nicht einzuhalten, beeinflusste124. Die Frauen waren dann im Nachteil, da es Männern leichter möglich war, sich als Ledige ein Überleben zu sichern. Bei verheirateten Frauen werden des Öfteren gescheiterte Ehen zur Sprache gebracht. Was im Juristendeutsch jener Zeit böswillige Verlassung hieß, bedeutete für die Frauen, dass sie sich nun mit den Kindern alleine durchschlagen mussten. Arbeit war unter diesen Umständen schlecht möglich, Betteln blieb so eine nahe liegende Alternative. Dem Vorgeben nach habe ihr Mann Detlef Friedrich Prien sie am 16. d. M. verlassen und ihr mit einem 13Wöchigen Kinde und zweien andern, die bereits bei Hausleuten dienen, sitzen lassen, da sie schon mit ihrem Manne in kümmerliche Umstände gerathen wäre125. Eine andere sagte, aus, dass ihr Mann nichts zu ihrem Unterhalt gebe und sie 4. Kinder zu versorgen habe126. Was zum Scheitern von Ehen führte, ist schwer zu sagen, doch die Belastung durch die große Not trug zweifellos ihren Teil dazu bei. Misshandlungen schilderte eine Bettlerin, deren Mann sie während ihrer zweiten Schwangerschaft verlassen hatte. Während sie im Land mit ihren zwei Kindern gebettelt habe, sei er wiedergekommen, habe sie verschiedentlich schlecht behandelt und einem Kind einen Arm zerschlagen. Danach habe er sie wieder verlassen127. Die schwere Lage, der sie sich nun gegenüber sah, war nicht das Betteln auf dem Land – das hatte sie auch vorher schon gemeinsam mit ihrem Mann getan, sondern dass sie es nun mit den zwei Kindern allein tun musste. Über eine dramatisch schlechte Ehe als Anlass für ihre Bettelei berichtet Maria Catharina Gendrien. Sie sei an die Grenze von Böhmen verheiratet worden, verrückt geworden und ihr Mann habe sie geschlagen. (Die Reihenfolge ist nicht klar). Dann sei sie geschieden worden, aber im Haus ihres Mannes geblieben, weil er fortgefahren, sie zu prügeln, ja ihr so gar zu dreymahlen Gift beygebracht, [...] so sey sie dadurch ihn zu verlassen bewogen worden. Bettelei war die Folge128. Der Wahrheitsgehalt der einzelnen Angaben kann nicht beurteilt werden, aber dass hier eine Ehe, die zum Kampf auf Leben und Tod geworden war, als Ursache präsentiert wurde, steht fest. Es war nicht der einzige Fall, bei dem Frauen ihre Männer verließen. Sie wären von ihren Männern deren üblen Begegnung halber weggegangen129, sagten eine Mutter und ihre verheiratete Tochter aus, die sich nun auf dem Land arbeitend, und wenn das nicht möglich war, bettelnd, aber selbständig durchschlugen. Die einfachste und bekannteste Ursache präsentierten die bettelnden Witwen: den Tod ihres Ehemannes. Ihnen war klar, dass er ihren sozialen und wirtschaftlichen Niedergang gebracht hatte. Das braucht nicht lange ausgebreitet zu werden; das Phänomen der ver-

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armten Witwen ist zu gut bekannt. Nur der soziale Abstieg mit seinen langfristigen Folgen verdient noch einmal unterstrichen zu werden. Maria Elisabeth Guthzeiten hatte 23 Jahre in Eckernförde gelebt, indem ihr seel. Mann allda nicht nur Bürger und Knochenhauer gewesen sondern auch ein eigenes Haus130 besessen hatte. Wahrscheinlich war sie beim Tod ihres Mannes in einem Alter, in dem es schwer war, einen neuen Ehemann zu finden. Sie konnte das Haus nicht halten – eine Beschäftigung, die für sie so viel eingebracht hätte wie der Schlachterberuf ihres Mannes war für sie als Frau nicht erreichbar – und wohnte dann zur Miete an einem anderen Ort. Der Abstieg setzte sich im Alter fort: 1778 wurde sie als Bettlerin, die, wie sie aussagte, von Haus zu Haus gehe und spinne, angetroffen.

Anmerkungen 11 T  homas Fischer, Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 77, S. 128. 12 Häufig dokumentiert, auf europäischer Ebene: Robert Jütte, Poverty and Deviance in Early Modern Europe, Cambridge 1994, S. 61. Zahlen für (weitere) deutsche Städte gab es schon früh, z. B. bei Brigitte Schnegg, Armut und Geschlecht, in: Anne-Lise Head, Brigitte Schnegg (Hg.), Armut in der Schweiz (17.–20. Jahrhundert). La pauvreté en Suisse, Zürich 1989, S. 9–17, hier S. 13 f.; Claudia Ulbrich, Frauenarmut in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 40 (1992), S. 108–120, hier S. 110. 13 Häufig dokumentiert, vgl. z. B. Helmut Bräuer, „Bettelweiber“ in Obersachsen während der frühen Neuzeit, in: Sächsische Heimatblätter 40 (1994), S. 263–268, hier S. 266, zuletzt ders., Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1600–1800, Leipzig 2008, S. 46 f. 14 In diesem Jahrzehnt bahnten sich durch den Einbruch der Agrarkonjunktur und ein neues Armengesetz (1808) starke Veränderungen an, dem schließlich der dänische Staatsbankrott 1813 folgte. Deshalb lasse ich den Untersuchungszeitraum mit dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts enden. 15 Zur Reforminitiative in den 1790er-Jahren und zur neuen Armenordnung von 1808 vgl. Ernst Erichsen, Das Bettel- und Armenwesen in Schleswig-Holstein während der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte 79 (1955), S. 217–256. 16 Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 107, Nr. 268, Schreiben des Amtmanns, 4. September 1773. 17 Ebd., Verzeichnis der … 1790 … angehaltenen fremden Vagabonden, Nr. 68 und Nr. 70. 18 Ordnungen des 16. Jahrhunderts verboten die Teilnahme von Bettlern an Hochzeitsfeiern ausdrücklich, was heißt, dass eine solche Praxis vorkam. Vgl. Karl-Sigismund Kramer, Volksleben in Holstein (1550–1800), Kiel 21990, S. 231. 19 Vgl. Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075; zur Geschichte dieses klassischen Aufsatzes Joanne Meyerowitz, A History of „Gender“, in: American Historical Review 113 (2008), S. 1346–1356. 10 L ASH, Abt. 106, Nr. 1167, Reskript vom 21. Februar 1788. Nicht in: Chronologische Sammlung der im Jahr 1788 ergangenen Verordnungen und Verfügungen für die Herzogthümer Schleswig und Holstein …, Kiel 1792. 11 Vgl. LASH, Abt, 107, Nr. 268, Verzeichnis der … 1790 … angehaltenen fremden Vagabonden; desgleichen für die Grafschaft Ranzau. 12 Vgl. Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime, Wien-München 2003, S. 131. 13 Vgl. Kai Detlev Sievers, Vaganten und Bettler auf Schleswig-Holsteins Straßen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte 114 (1989), S. 51–71, hier S. 64.

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14 C  arsten Küther, Menschen auf der Straße, Göttingen 1983, S. 28–30 für Bayern; die Schätzung lieferte Heinz Reif, Vagierende Unterschichten, Vagabunden und Bandenkriminalität im Ancien Régime, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 11 (1981), S. 27–37, hier S. 34; von Überwiegen über die Jahrhunderte spricht Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995, S. 90; in etwa ausgeglichen bei Anne-Marie Dubler, Armen und Bettlerwesen in der Gemeinen Herrschaft „Freie Ämter“, Basel 1970, S. 41 f. und Martin Scheutz, Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jahrhunderts, St. Pölten 2003, S. 53; Wolfgang Scheffknecht, Arme Weiber, in: Alois Niederstätter, Wolfgang Scheffknecht (Hg.), Das Bild der Frau in der Geschichte Vorarlbergs, Sigmaringendorf 1991, S. 77–109, hier S. 94 (Frauenüberschuss). 15 Vgl. Ammerer, Straße (wie Anm. 12), S. 131. Das „etwa“ habe ich hinzugesetzt. 16 Vgl. Rachel G. Fuchs, Gender and Poverty in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2005, S. 26. Es fragt sich, ob eine solche Denkweise nicht unbewusst den Hintergrund von Helmut Bräuers Aussage bildet, dass Bettel von Frauen „stets [!] das Risiko einer außerehelichen Schwangerschaft einschloss, die aus der größeren Palette von Gelegenheiten zu sexuellen Kontakten bei Vagierenden oder materiellen ‚Zwängen’ zur Prostitution“ resultierte, denn gab es tatsächlich einen Unterschied zu den ländlichen Unterschichten? Außerdem sollte man in Betracht ziehen, dass eine Heirat Papiere und Geld erforderte, beides aber oft genug fehlte. Helmut Bräuer, „... weillen sie nit alzeit arbeit haben khan“. Über die Bettelweiber von Wien während der frühen Neuzeit, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 7 (1996) H. 1, S. 135–144, hier S. 140. 17 Vgl. Reif, Unterschichten (wie Anm. 14), S. 34. 18 K ritisch zur Übertragung „bürgerlicher Rechts- und Ehrbarkeitsvorstellungen [...] als feststehendes und vor allem Schichten übergreifendes Normensystem“ auf Bettlerinnen bzw. Vagierende bereits Sabine Kienitz, Unterwegs – Frauen zwischen Not und Normen, Tübingen 1989, S. 15. Einzelfälle von Prostitution gab es, vgl. den Fall der Betrugsbettlerin und mehrfachen Diebin Anna Maria Pfennewartin, mit der Martin Scheutz sein Werk über Bettlervisitationen beginnt. Scheutz, Ausgesperrt (wie Anm. 14), S. 12. 19 Die genaue Formulierung; Ihn begleitet Catharina Margaretha […] Brüggemann, […] hat sich von dem [...] Kesselflicker schwängern lassen, dem zu folgen sie sich entschlossen; Catharina Maria Kamanns wird als Braut und von ihm schwanger bezeichnet; LASH, Abt. 107, Nr. 268, Verzeichnis der … 1790 … angehaltenen fremden Vagabonden, Glückstadt o. J., Nr. 2, Nr. 44; Liebhaber, Abt. 106, Nr. 1167, P. M., Boosse, 31. Januar 1778. 20 Vgl. Küther, Menschen auf der Straße (wie Anm. 14), S. 29. 21 Sheilagh Ogilvie, A Bitter Living: women, markets, and social capital in early modern Germany, Oxford 2003, zeigt die Arbeitsmöglichkeiten für (Dauer-)Ledige, verheiratete Töchter und Witwen auf. 22 Küther, Menschen auf der Straße (wie Anm. 14), S. 30. 23 Schnegg, Armut und Geschlecht (wie Anm. 2), S. 16. Die zitierte Passage ist allerdings vor dem Hintergrund eines kurzen Aufsatzes zur „Nichtsesshaftkeit und geschlechtspezifische(n) Ausprägungen von Armut“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Thomas Meier und Rolf Wolfensberger entstanden. 24 LASH, Abt. 107, Nr. 298, Ahrensböker Amtsstube, 5. Februar 1789. 25 L ASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, 15. Dezember 1790. Ebenso: Catharina Elisabeth Witten, ebd., Abt. 106, Nr. 1168, Nortorf, 7. September 1805. 26 Catharina Kupferschmidt hatte Unterricht in Handarbeiten genossen. LASH, Abt. 106, Nr. 1168, Protokollabschrift, Kiel, 11. Januar 1794. 27 Ebd., Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm, 18. Dezember 1790. 28 Sie habe den Bauern in der Arbeit geholfen, sagte z. B. Anna Elisabeth Witten 1805. Ebd., Abt. 106, Nr. 1168, Nortorf, 7. September 1805. 29 Ebd., Protokoll vom 26. November 1794. 30 Insofern als die Wege von einer Arbeit zur anderen oft zum Betteln genutzt wurden. Zur Ununterscheidbarkeit vgl. Helmut Bräuer, „… und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich während der Zeit Kaiser Leopold I, Wien-Köln-Weimar 1996, S. 144 f.

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31 LASH, Nr. 1167, Protokoll, Kiel, 27. November 1784. 32 Ebd., Nr. 1168, Protokollabschrift, Kronshagen, 11. Januar 1794. 33 So im Fall der eben erwähnten Catharina Kupferschmidt, deren Vater vor sieben Jahren gestorben war. Da von ihrer Mutter nicht die Rede ist, dürfte sie schon früher gestorben sein. 34 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Protokoll, Ahrensbök, 20. August 1798 (Caterina Dorotea Denckern). 35 Zu diesem Fall vgl. Sievers, Vaganten und Bettler (wie Anm. 13), S. 68 f.; Otto Ulbricht, Anna und Agneta Christians, Überleben am Rand, in: Damals 29 (1997), S. 32–38. 36 1794 wurde ein Mann angehalten, der im Sommer Lumpen sammelte und sich im Winter als Marionettenspieler betätigte. Vgl. LASH, Abt. 108, Nr. 928, Klamp, 26. November 1794. 37 Catharina Struck, vgl. LASH, Abt. 106, Nr. 1168, Verhörprotokoll, 3. März 1805. 38 Vgl. Jan Peters, Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1500–1800, Berlin 2007, S. 576. 39 Ich habe bei den Angaben keine Grenze gezogen zwischen als bettelnd Ertappten und solchen, die nicht als bettelnd registriert wurden. Eine solche Beschreibung schien mir die Wiedergabe des zufälligen Zeitpunktes des Arrests zu sein. 40 Ein Beispiel aus der Steiermark bei Helfried Valentinitsch, Frauen unterwegs, in: Heide Wunder, Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500–1800, Göttingen 1996, S. 223–236, hier S. 227–230. 41 Olwen Hufton, Frauenleben, Frankfurt 1998, S. 349. 42 LASH, Abt. 106, Nr, 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm, 8. November 1784. 43 Wenn man den Weg der Maria Catharina Näsert ansieht, so könnte man vermuten, dass sie über Jütland nach Kopenhagen wollte. 44 Catharina Dorothea Denker, LASH, Abt. 108, Nr. 60. Plön, Verhörprotokoll, 7. November 1789. 45 Ingeborg Titz-Matuszat, Mobilität der Armut. Das Almosenwesen im 17. und 18. Jahrhundert im südniedersächsischen Raum, in: Plesse-Archiv 24 (1988), S. 9–338, hier S. 26 f. 46 LASH, Abt. 106, Nr. 1167, Offene Requisition, Bordesholm, 11. Juni 1805. 47 LASH, Abt. 107, Nr. 268, Verhörprotokoll, Cismar, 15. Dezember 1790. 48 Im Material finden sich gleich drei solcher Fälle: Muhring, Dorothea Böttger, eine Frau bleibt anonym (aus dem Mecklenburgischen). Alle drei in LASH, Abt. 108, Nr. 928. 49 Ebd., Verhörprotokoll, Ahrensbök, 19. Januar 1788. 50 Vgl. dazu weiter unten. 51 Vgl. Heide Wunder, Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Dies., Christina Vanja (Hg.), Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt 1991, S. 12–26, hier S. 20. 52 Vgl. LASH, Abt. 108, Nr. 928, Pro Memoria, Ahrensbök, 5. Februar 1789 und Verhörprotokoll, 7. Februar 1789. 53 Vgl. LASH, Abt. 106, Nr. 1147, Verhörprotokoll, Bordesholm, 24. November 1784. 54 Ebd., Abt. 106, Nr. 1168, Verhörprotokoll, Bordesholm, 26. Januar 1807, Maria Christina Petersen. 55 Vgl. dazu weiter oben. 56 Bräuer, „weillen sie nit alzeit“ (wie Anm. 16), S. 139. 57 Ders., Arbeitende Bettler? Bemerkungen zum frühneuzeitlichen Bettler-Begriff, in: Comparativ 3 (1993), S. 78–91, hier S. 89. 58 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 24. Februar 1786. 59 Das Zitat stammt von Gerhard Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 411. 60 Bräuer, „seithero gebetlet“ (wie Anm. 30), S. 146. 61 Lynn A. Botelho, Das 17. Jahrhundert. Erfüllter Lebensabend – Wege aus der Isolation, in: Pat Thane (Hg.), Das Alter: eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2005, S. 113–173, hier S. 155. 62 Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 413.

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63 V  gl. Helfried Valentinitsch, Auf der Suche nach Arbeit und Brot. Eine Gruppe von Gelegenheitsarbeitern und Bettlern in der Obersteiermark um 1770, in: Blätter für Heimatkunde 63 (1989), S. 90–99, hier S. 96 und S. 98. 64 L ASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verzeichniß der ... 1790 … angehaltenen fremden Vagabonden, Schleswig 1794, S. 4, Nr. 29. Abgeschnittene Haare galten übrigens als verdächtig. 65 In einer Liste für Holstein von 1802 mit 316 Nummern finden sich keine Angaben zu Frauen mit zerlumpten Kleidern; bei den sechs Angaben für Männer (ein Junge eingeschlossen) ist viermal die Rede davon. Vgl. LASH, Abt. 101, IV A IV, Nr. 90, Alphabetische Liste der … 1802 … angehaltenen und befragten einheimischen und auswärtigen Herumstreifer und Bettler, Glückstadt, o. J. Zur Männerund Frauenkleidung vgl. Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 341–344, der sich stark auf Steckbriefe stützt, was den Blickwinkel verändert. 66 Bräuer, „seithero gebetlet“ (wie Anm. 30), S. 144. 67 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 24. Februar 1786. 68 Ebd., Verhörprotokoll, 15. Dezember 1790. Der Bauernvogt gab an, sie des Öfteren bettelnd gesehen zu haben. 69 Erst wenn der (Ehe-)Mann zur Arbeit unfähig war, wie altersbedingt der Tagelöhner Feddersen, sammelten beide auf dem Weg zu ihren Verwandten ihr Brod. Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, (Bordesholm), 18. und 19. Dezember 1776. 70 Vgl. Ernst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a. d. Aisch 21990, S. 79. 71 Beate Althammer, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne, Frankfurt 2007, S. 3–22, hier S. 9. 72 Johann Pezzl, Reise durch den Baierischen Kreis, Faksimileausgabe der 2. erw. Aufl. von 1784, München 1973, S. 155. 73 Weil auch die andere Seite christlich dachte. Nicht umsonst versuchte man in der zeitgenössischen Diskussion das Argument, (e)s bringe Segen Bettlern einzelne Gaben zu reichen, zu entkräften. Vgl. Litterärische Nachrichten und Anzeigen, in: Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte 1792 H. II, S. 281 (Anzeige der Schrift von Johann Heinrich Schulze, Versuch einiger Einwürfe, Vorwürfe und Bedenklichkeiten aus dem Wege zu räumen, welche häufig die wohlthätige Abschaffung der Bettelei hindern und erschweren). 74 L ASH, Abt. 108, Nr. 928, Protokoll, Ahrensbök, 19. Januar 1788. Die Frau war namentlich nicht bekannt; sie kam aus dem Mecklenburgischen. 75 Vgl. dazu weiter unten. 76 LASH, Abt. 106, Nr. 1167, Protokoll, Kiel, 28. November 1784. 77 LASH, Abt. 107, Nr. 298, Verhörprotokoll, 30. Dezember 1798. 78 LASH, Abt. 108. Nr. 928, Ahrensbök, 15. Dezember 1790. 79 Vgl. Bräuer, „seithero gebetlet“ (wie Anm. 30), S. 147. 80 A mmerer, „… ein handwerksmässiges Gewerbe …“ – Bettel und Bettelpraktiken von Vagierenden im Ancien Régime, in: Österreich in Geschichte und Literatur 47 (2003) H. 2 b–3, S. 98–118, hier S. 115. 81 Wohl aber für den Verdacht der Beamten. Über Sophia Burst heißt es: Sie hatte ein kleines 3- 4wöchiges Kind bei sich, welches sie für das Ihrige ausgab [!]. Alphabetische Liste aller … 1802 angehaltenen und befragten einheimischen und auswärtigen Herumstreifer und Bettler, S. 5, LASH, Abt. in: Abt. 101, IV A IV, Nr. 90. Wenn ein bettelndes Ehepaar an der Begleitung eines fremden Mädchens interessiert war, oder ein Mann mit einem fremden Jungen herumzog, liegt es nahe, an eine Ausnutzung der Kinder zu denken. Vgl. Abt. LASH, 106, Nr. 1167 das Ehepaar Feddersen und Abt. 108, Nr. 928, Konrad Schaub. 82 Vgl. Daniel Nikolaus Chodowiecki, Das druckgraphische Werk, Hannover 21984, S. 14 und die Bettelkinder, S. 6. 83 A ls einziges Bettlerbild bei Reif, Unterschichten (wie Anm. 14), S. 34; auch gewählt von Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 414; Titelbild bei Scheutz, Ausgesperrt (wie Anm. 14) und sowie bei

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1Althammer, Bettelei (wie Anm. 71), Titelbild; auch meinen kleinen Beitrag hat man reichlich damit 1ausgestattet, vgl. Ulbricht, Anna und Agneta Christians (vgl. Anm. 35), S. 32, S. 34, S. 35, S. 36. 184 Nur ein Vater kam in den ausgewerteten Quellen vor, der mit seiner 11-jährigen Tochter bettelte; dazu ein Witwer, der (drei) Kinder hatte und ohne sie bettelte. LASH, Abt. 101, Nr. IV A IV, … Liste … der 13ten April 1802 angehaltenen … Herumstreifer und Bettler, Nr. 173; sowie ebd., Abt. 108, Nr. 928 (Johann Christian Erhorn aus Oldesloe). Bettelnde Kinder mit projektemachendem Vater (kein Witwer) bei Johann Christoph Sachße, Der deutsche Gil Blas, Eisenach 1951, S. 32 f. 185 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Protokoll, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 9. Juni 1788. 186 Ebd., Pro Memoria (Ahrensbök), 5. Februar 1789. 187 Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 419. 188 Adam Bernd, Eigene Lebens-Beschreibung, Nachdruck München 1973, Leipzig 1738, S. 41. Die Episode spielte sich im Jahr 1688 ab. 189 Vgl. LASH, Abt. 101, IV A IV, Nr. 90, Verhörprotokoll, Weddingstedt, 13. April 1802. 190 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 30. Dezember 1789. 191 Ebd., 31. Dezember 1789. 192 Ebd., Stockelsdorf, 2. September 1779 (Catarina Margaretha Wulf). 193 L ASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verordnung, wie es … in Ansehung der von der Armen=Casse zu übernehmenden Armen, zu halten, Copenhagen, 3. Juli 1776, § 7 und 8. 194 LASH, Abt. 108, Nr. 484, Attest, Schleswig 13. April 1790. 195 Ebd., Nr. 928, Verhörprotokoll, 12. November 1784. 196 Vgl. Martin Scheutz, „in daz brod bettlen ausgegangen“. Armut, Bettel und Armenversorgung in Niederösterreich während des 18. Jahrhunderts, in: Österreich in Geschichte und Literatur 47 (2003) H. 2 b–3, S. 119–135, hier S. 133. 197 LASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, Kiel, 27. November 1784. 198 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 24. März 1797 (Anna Margaretha Hübner). 199 Zu Hautkrankheiten von Vagierenden vgl. Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 358. 100 L  ASH, Abt. 107, Nr. 268, Verzeichnis der … 1790 … angehaltenen fremden Vagabonden, Nr. 26–28. „Bleiben“ heißt hier „seinen Tod finden“. 101 LASH, Abt. 106, Nr. 1168, Verhörprotokoll, Bordesholm, 20. Dezember 1799. 102 Weiteres Beispiel: Florentina Regina Burst, deren Tochter Sophie und deren drei bis vierwöchiges Kind. Alphabetische Liste der … 1802 … befragten Herumstreifer und Bettler, Nr. 48 und 49, Glückstadt o. J., in: LASH, Abt. 101, IV A IV, Nr. 90. 103 LASH, Abt. 106, Nr. 1168, Schriftstück betitelt NB., Bordesholm, 20. Dezember 1799. 104 L ASH, Abt. 101, IV A IV, Nr. 91, Verzeichnis der in der Landschaft Norderdithmarschen bey der am 18. Okt. [1804] gehaltenen … Nachsuchung betroffenen … Bettler und Vagabonden (Anna Margaretha Peters). 105 E  s dürfte klar sein, dass die ländliche Bevölkerung auch Gruppen umfasste, die nicht so auf eine Verletzung des Eigentumsrechts reagierten. 106 Vgl. Ammerer, „handwerksmäßiges Gewerbe“ (wie Anm. 80), S. 99. 107 L ASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm. Dieser Fall auch bei Sievers, Vaganten und Bettler (wie Anm. 13), S. 66. 108 Ebd., Pro Memoria, Neumünster, 12. Januar 1780. 109 L ASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 12. November 1784. Die Mutter widersprach dieser Aussage. 110 Vgl. Otto Ulbricht, Rätselhafte Komplexität. Jugendliche Brandstifterinnen und Brandstifter in Schleswig-Holstein ca. 1790–1830, in: Andreas Blauert, Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte, Konstanz 2000, S. 801–829, hier S. 822. 111 Vgl. Ammerer, Heimat Straße (wie Anm. 12), S. 368. – Die immense Belastung der örtlichen Armenkasse führte dazu, das die Regierung 1791 für solche Fälle eine Verteilung der Kosten auf das ganze Amt bzw. Landschaft anordnete. Vgl. LASH, Abt. 102, S-Dithm. IX, Nr. 35, Intimation vom 19. Juli 1791.

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112 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Barkau, 5. November 1798. 113 Ebd. 114 L ASH, Abt. 107, Nr. 268, Verzeichnis der … 1790 angehaltenen fremden Vagabonden, Nr. 32 und 88, die meines Erachtens identisch sind. 115 Sie wäre betteln gegangen, da die Noth ihr dazu gezwungen, sagte eine Frau aus (Catharina Maria Prien). LASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm, 18. Dezember 1790. 116 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Verhörprotokoll, Barkau, 5. November 1798 (Anna Dorothea Böttger). 117 LASH, Verhörprotokoll, Ahrensbök, 31. Dezember 1793 (Catharina Elisabeth Röhlen). 118 LASH, Abt. 106. Nr. 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm, 18. Dezember 1790. 119 Zu schlechten Ehen als Ursache ganz kurz Bräuer, „Bettelweiber“ (wie Anm. 3), S. 267; ebenso: Ders., „weillen sie nit alzeit“ (wie Anm. 16), S. 141. 120 LASH, Abt. 108, Nr. 60, Verhörprotokoll, Plön, 7. November 1789. 121 Ebd., Nr. 928, Verhörprotokoll, Barkau, 7. November 1789. 122 Ebd., Nr. 484, Pro memoria, Ahrensbök, 23. März 1791. 123 LASH, Abt. 106, Nr. 1167, P. M., Bossee, 31. Januar 1778. 124 Louise A. Tilly, Joan W. Scott, Miriam Cohen, Women’s Work and European Fertility Patterns, in: Journal of Interdisciplinary History 6 (1976), S. 447–476. 125 LASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm, 18. Dezember 1790. 126 LASH, Abt. 108, Nr. 60, Verhörprotokoll, Plön, 11. Dezember 1804 (Catharina Dorothea Lorenz). 127 Ebd., Nr. 928 Verhörprotokoll, Ahrensbök, 30. Dezember 1789 (Maria Elisabeth Braad). 128 LASH, Abt. 106, Nr. 1167, Verhörprotokoll, Bordesholm, 8. Februar 1778. 129 LASH, Abt. 108, Nr. 928, Ahrensbök, 15. Dezember 1790 (Dorotea Steffens und Margareta Köhn). 130 LASH, Abt. 106, Verhörprotokoll, Bordesholm, 2. Februar 1778.

Am Rand der Armut – Pädagogisierung „dienender Frauen“ in Salzburg im 18. und 19. Jahrhundert Sabine Veits-Falk

Geschlechterrollen – Volksaufklärung – pädagogische Schriften „Neue“ Frauenbilder Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden analog zum bürgerlichen Familienideal männliche und weibliche Geschlechterrollen neu- bzw. umdefiniert. Die Vorstellungen von den Geschlechtern wurden nun nicht mehr überwiegend theologisch begründet, sondern verstärkt von Naturtheorien abgeleitet. Die Schriften des französischen Philosophen und Pädagogen Jean Jacques Rousseau beeinflussten das Denken über die Frau und deren „Natur“ maßgebend. Mit Kernaussagen wie eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen sich im Geist ebenso wenig gleichen wie im Antlitz oder die Frau sei dazu geschaffen, um dem Mann zu gefallen, setzte er bei den dominierenden Denkmustern der abendländischen Philosophie über die besondere und andere Rolle der Frau an, die in der christlichen Deutung die Unterwerfung der Frau unter die Herrschaft des Mannes zu legitimieren versuchte. Mit Ideen, wie jene von einer auf der Souveränität des Volkes gegründeten Gesellschaftsordnung – allerdings ohne Frauen als Partnerinnen mit einzubeziehen – konterkarierte Rousseau jedoch die Vorstellung von einer religiös gestifteten Weltordnung1. Darüber hinaus trugen medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Physiologie der Frau dazu bei, dass sich zunehmend eine dualistische Sichtweise über das Verhältnis der Geschlechter durchsetzte und die Weiblichkeitskonstrukte Rousseaus zur Basis des Paradigmas von der weiblichen Sonderanthropologie wurden2. So war etwa 1795 auch im „Salzburger Intelligenzblatt“ zu lesen, Frauenzimmer wären gewiß keine Männer. Die Natur habe sie anders gebildet und ihre Geisteskräfte anders gemischt. Daher sei es gewiß der Natur gemäß, daß sie in anderen Sphären, in anderen Geschäften und Verhältnissen ihre Tugend üben3. Der Mann galt als das starke, aktive, in der Öffentlichkeit stehende „Kulturwesen“, von der Frau wurde das Bild des schwachen, zarten und passiven „Naturwesens“ kreiert. Ihr wurde der Platz innerhalb des Hauses zugewiesen, wo sie, durch die Liebe ihrer Angehörigen entlohnt, „schaltete und waltete“. Die Frau sollte sich gute Menschenkenntnis, häuslichökonomisches Wissen und Bildung für den Hausgebrauch aneignen4. Einig waren sich die Verfasser aufgeklärter pädagogischer Schriften, dass sich dieses scheinbar natürliche Weiblichkeitsmuster durch eine entsprechende Erziehung am besten entfalten könne.

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Die Geschlechterzuschreibungen, deren Manifestierung unter anderem durch die zunehmende Verlagerung der männlichen Arbeit außer Haus begünstigt wurde, spiegelten gewiss nicht die soziale Realität der breiten Masse wider, nichtsdestoweniger fanden sie Eingang in die Rechtswirklichkeit des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (1811), in dem der Mann eindeutig als Oberhaupt der Familie definiert wurde. Hand in Hand entwickelte sich das bürgerliche Familienideal zur gesellschafts- und staatsstabilisierenden Ideologie des 19. Jahrhunderts, aber auch zum Leit- und Wunschbild der unteren Bevölkerungsschichten5. Mit welchen Rollenbildern und Weiblichkeitsvorstellungen wurden Frauen und Mädchen im Land Salzburg um 1800 konfrontiert und wie wirkten sich diese in ihrem Alltag aus? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Selbstzeugnisse oder mentalitätsgeschichtliche Quellen von Frauen, die darüber Auskunft geben könnten, sind so gut wie nicht vorhanden. Eine Möglichkeit, sich zumindest einer Antwort anzunähern, ist die Untersuchung von zeitgenössischen Schriften, die ein „typisch weibliches“ Rollenverhalten propagierten und von Frauen aus den mittleren und unteren Schichten mit großer Wahrscheinlichkeit rezipiert wurden. Dabei spielten die Verbesserungen im Bildungswesen und die Anhebung des Alphabetisierungsgrades eine wichtige Rolle. Schulreform – Volksbildung Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht unter Maria Theresia 1774 in Österreich ist auch als Teil eines umfassenden Prozesses zu sehen, der die Einflussmöglichkeiten des Staates auf das tägliche Leben der Untertan/inn/en immer mehr ausdehnte. Indem der Staat zunehmend die Verantwortung für die Erziehung des „Volkes“ für sich in Anspruch nahm, konnte er unter Ausschaltung von intermediären Gewalten wie Kirche oder Grundherrschaft die Untertan/inn/en als Zielgruppe obrigkeitlicher Anordnung direkt erreichen6. Auch in Salzburg, das unter der Regentschaft Erzbischof Hieronymus Graf Colloredos (1772–1803) zu einem Zentrum der kirchlichen und weltlichen Spätaufklärung im süddeutschen Raum avancierte, wurden Volksaufklärung und Förderung des Volksunterrichts als wichtige Voraussetzungen für die Umsetzung von Reformprogrammen erkannt. In Anlehnung an die maria-theresianische Schulreform wurde 1776 in der Stadt Salzburg eine Trivialschule und 1777 eine Hauptschule eröffnet. Die unterste Stufe bildeten die so genannten Trivialschulen, benannt nach dem Basiswissen des Triviums, in dem Grundkenntnisse des Lesens, Schreibens, Rechnens und der Religion vermittelt werden sollten. In Zentralorten wurden Hauptschulen eingerichtet, die darüber hinaus eine gründlichere Ausbildung in kaufmännischem Rechnen anboten. Die Elementarschulbildung machte zunächst keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Mädchen und Knaben. In der Stadt Salzburg erfolgte allerdings schon 1786 in der Hauptschule eine Trennung der Geschlechter mit speziellen Lehrangeboten7. Allein an der Organisationsstruktur des „öffentlichen Schulwesens“ zeigt sich die geschlechts- und sozialpolitische Dimension des Bildungssystems, das

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durch eine doppelte Ausdifferenzierung geprägt war: Das „niedere“, auf dem Land oft einzige Schulwesen sollte für beide Geschlechter gleichermaßen gelten, eine Separierung fand erst auf der „höheren“ Stufe statt, deren erweiterte Ausbildung vor allem den Söhnen der Bürger in der Stadt zugute kommen sollte8. Federführend bei der Umsetzung der Schulreformen in Salzburg war Franz Michael Vierthaler, dessen Methoden von einem Salzburger Landesschulinspektor 1912 als noch immer zeitgemäß beurteilt wurden9. 1790 wurde Vierthaler Direktor der deutschen Schulen und Leiter des Lehrerseminars, 1794 gab er einen neuen Schulplan für Stadt und Land Salzburg heraus, der auch konkrete Schulbücher vorschrieb10. In seinen Konzepten reflektierte er die damals aktuelle Erziehungsliteratur wie Rousseaus „Emile“ oder Pestalozzis „Lienhard und Gertrud“ und kannte demnach auch deren Geschlechtermodelle11. Mit den im Seminar ausgebildeten Lehrern hielt Vierthaler in der Stadt ständig Kontakt, mit den Landschulmeistern tauschte er sich über regelmäßig einzusendende Schulberichte aus. Es ist also anzunehmen, dass die im Lehrerseminar vermittelten Grundsätze zumindest ansatzweise in Stadt und Land in die Praxis umgesetzt wurden. Obwohl die ländliche Bevölkerung den neuen Unterrichtsmethoden und Schulbüchern zum Teil Widerstand entgegenbrachte, da sie der Meinung war, die Kinder würden in der Schule weniger lernen als früher und Vierthalers Methoden als „lutherisch“ bezeichnete, wuchs die Zahl der schulbesuchenden Kinder in einigen Orten auf weit über zwei Drittel an12. Als Salzburg 1816 Teil der Habsburgermonarchie wurde, trat die „Politische Verfassung der deutschen Schulen“ (1805) in Kraft. Diese sah vor, dort, wo man es sich nicht leisten konnte, getrennte Schulen zu unterhalten – also überwiegend in ländlichen Gebieten –, nach wie vor Buben und Mädchen in einem Klassenzimmer gemeinsam zu unterrichten, empfahl aber für größere Orte aus „sittlichen“ Gründen und in Hinsicht auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse im Unterricht die Errichtung von getrennten Knaben- und Mädchenschulen13. Die Vorgaben der „Politischen Schulverfassung“ galten, leicht modifiziert, bis zum Inkrafttreten des Reichsvolksschulgesetzes 1869. Die bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzende Entwicklung zur fortschreitenden Differenzierung zwischen Mädchen- und Knabenerziehung verstärkte sich noch bis in das frühe 20. Jahrhundert: Schulreformen galten zwar den „Kindern“, doch waren vor allem Knaben gemeint. Das bürgerliche Frauenbild blieb weiterhin wirkungsmächtig, indem Mädchen Handarbeitsunterricht auf Kosten des Unterrichts in Rechnen, geometrischer Formenlehre und Realien erhielten14. Pädagogische Schriften In Schul- und Lehrbüchern, in Erbauungsschriften, pädagogischen Erzählungen und Romanen waren Geschlechterzuschreibungen in unterschiedlichen Formen und „Verpackungen“ zu finden. Seit den 1770er- und 80er-Jahren erschienen in Salzburg zahlreiche Jugend- und Volksschriften, die nicht mehr nur dem „gebildeten“ Menschen Anleitungen zur Erlangung von Glückseligkeit idealtypisch vorführten, sondern auch dem „niederen Volk“ in leicht verständlicher Form die wesentlichen Grundsätze für ein Leben in Vernunft

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beibringen wollten15. Von konkreten Lebenswirklichkeiten ausgehend und von der katholischen Tugendlehre untermauert, vermittelten die Schriften praktische Lebenshilfe. Dabei wurden Alltagsprobleme und Tugenden katalogisiert, um so zu einer Systematisierung der Lebenspraxis und Steigerung der Arbeitseffizienz beizutragen. Stilistisch bedienten sich die Schriften großteils einer zweckgebundenen Ästhetik, häufig auch der Gebrauchslyrik, Fabeln und Parabeln16. Sie wandten sich großteils undifferenziert an das „Volk“, die Kinder oder die Jugend, einige jedoch direkt an weibliche oder männliche Leser. In Erzählungen dienten die Protagonist/inn/en als Vorbilder zur Identifikation und als Modelle zum Imitationslernen sowie zur Übernahme bzw. Affirmation geschlechtsspezifischer Rollen17. Genaue Angaben über die Verbreitung oder Auflagezahlen lassen sich keine finden. Es darf aber davon ausgegangen werden, dass die Verbreitung der Schriften von der Obrigkeit unterstützt und durch die Schulreform und das Ansteigen der Alphabetisierung die Schriften auch auf dem Land gelesen wurden. Die „Sittenlehre für Kinder“ von Ägidius Jais erzielte immerhin insgesamt 52 Auflagen18. Zu den wichtigsten Verfassern von Erziehungsschriften in Salzburg zählen der Pädagoge Franz Michael Vierthaler (1758–1827), der Universitätsprofessor und Seelsorger Ägidius Jais (1750–1822) sowie deren Nachfolger bzw. Schüler Mathias Rumpler (1771–1846) und Aloys Maier (1773–1847). Gemeinsam ist allen vieren, dass sie keine großen Schriftsteller waren, sondern Gebrauchsliteratur mit erhobenem Zeigefinger verfassten. Franz Michael Vierthaler war der bedeutendste Vertreter der Aufklärungspädagogik in Salzburg. Als Direktor der deutschen Schulen und Leiter des Lehrerseminars bekleidete er Schlüsselpositionen der Salzburger Volksaufklärung. Darüber hinaus lehrte er Pädagogik an der Universität Salzburg, war Bibliothekar der landesfürstlichen Hofbibliothek, Direktor der Waisenhäuser, nach 1799 Zeitungsherausgeber und publizierte eine beachtliche Anzahl von landesgeschichtlichen und pädagogischen Schriften19. In Letzteren konzentrierte sich Vierthaler vorwiegend auf die Erziehung von Knaben. Was Mädchen in der Schule lernen sollen, erfährt man eher nur nebenbei, aber dafür eindeutig, nämlich für die Haushaltung wichtige Sachen wie Kochen, Backen, Speisen und Getränke zubereiten, Nähen, Stricken, Spinnen, Waschen usw.20. Dafür beschäftigte sich Vierthaler aber explizit mit den Lebens- und Arbeitsperspektiven von Dienstmädchen in „Goldner Spiegel. Ein Geschenk für Mädchen, welche in Dienste treten wollen“ (1791)21. Dieses Dienstbotenbrevier stand in der Tradition der Ratgeberliteratur, richtete sich aber nun anders als die Hausväterliteratur früherer Jahrhunderte direkt an seine (lesekundige) Adressatin, an ein potenziell von Armut bedrohtes Mädchen aus den unteren Schichten: Du bist ein armes Mädchen, oft Vater- und Mutterlos und hast vielleicht auf dieser Erde keinen Freund und Beistand22. In neun Kapiteln umfasst der „Goldne Spiegel“ das vorgesehene und real existierende Berufsspektrum des Dienens, indem Vierthaler den jungen Frauen Verhaltensregeln gegenüber sich selbst, der Herrschaft, dem Nebengesinde und gegenüber Fremden näherbringt, ihnen die Pflichten einer Kranken- und einer Kinderwärterin erklärt und ihnen gutgemeinte Lebensregeln mit auf den Weg gibt. Der Dienstbotinnen-Ratgeber vermittelt somit für die konkrete Anwendung ausgerichtetes Orientie-

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Abb. 1: Titelblatt von Franz Michael Vierthaler, Goldner Spiegel. Ein Geschenk für Mädchen, welche in Dienste treten wollen, Salzburg 1804 (Privatbesitz).

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rungswissen und beabsichtigt, die „dienende“ Frau in die gleichzeitig durch die Inhalte der Schrift normierte soziale Gruppe zu integrieren. Somit diente der „Goldne Spiegel“ in seiner Funktion als Ratgeber sowohl als konstituierender Faktor als auch als Spiegel des Denkens über die Kategorie Geschlecht23. Die Schrift zählte zu den vorgesehenen Schulbüchern24 und war mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf dem Land weit verbreitet. 1804 erschien sie in dritter Auflage. 1893 waren zwar sowohl der „Goldne Spiegel“ als auch Vierthalers „Franz Traugott. Eine lehrreiche Kindergeschichte“ (1792)25 nicht mehr im zeitgenössischen Lehrplan aufgenommen, die Lektüre des „Goldnen Spiegels“ wurde jedoch weiterhin empfohlen, da sie sich als sehr wirksam erwiesen hätte26. In „Franz Traugott“ führt Vierthaler die von ihm propagierte sokratische Methode vor, die sich auf den Zuhörer einstellt und seine Sprache spricht27. Als Protagonisten wählte er den fleißigen Traugott, um in erster Linie Knaben die Bedeutung von Schulbildung zu veranschaulichen und die Jugend zur aufmerksamen Betrachtung von Natur und Gesellschaft sowie in der Kunst, sich ihres Lebens zu freuen und in ihrem Stande glücklich zu sein, anzuleiten28. Als weibliche Figur wird nur Franz Traugotts Schwester kurz einmal als ein emsig arbeitendes und dabei vergnügt singendes Mädchen vorgestellt29. Lehr- und Lesebücher sowie Sittenlehren für die Schuljugend veröffentlichte auch Aloys Maier. Er hatte zuerst Theologie in Salzburg studiert, dann aber, nachdem er Vierthaler kennengelernt hatte, das Studium abgebrochen und eine Lehrerausbildung absolviert. 1796 begann er in der Salzburger Vorstadt Mülln zu unterrichten. 1813 wurde er Leiter des Salzburger Lehrerseminars30. Seine Schriften wenden sich an „Kinder“, die er allerdings in Lehrsprüchen direkt mit Jünglinge anspricht, woraus hervorgeht, dass ebenfalls in erster Linie Knaben gemeint sind31. Viel gelesen wurden in Salzburg auch die pädagogischen Schriften von Ägidius Jais. Der Benediktiner wurde 1778 in Salzburg Professor der Grammatik, später der Rhetorik, und Schulpräfekt. Danach war Jais als Seelsorger im Raum Oberbayern und als Novizenmeister im Kloster Rott am Inn tätig, bis er wieder als Professor der Moral- und Pastoraltheologie nach Salzburg kam, wo er 1805 für ein Jahr auch als Rektor der Universität amtierte. Seine weiteren Tätigkeiten führten ihn von 1806 bis 1814 als Religionslehrer der Kinder des Großherzogs von Toskana nach Würzburg, dann nach Florenz, von wo Jais zu seelsorglichen Aufgaben in seinen Heimatort Mittenwald und dann nach Benediktbeuern zurückkehrte32. Mit Geschlechterrollen befasst sich Jais eingehend in seinem Roman „Valter [sic!] und Gertraud, für das Landvolk auf dem Lande geschrieben“ (1809)33, für den er, wie schon aus dem Titel hervorgeht, Anleihen bei Johann Heinrich Pestalozzis vierbändigem Roman „Lienhard und Gertrud“ (1781–1787) genommen hatte. Das Leben der Bauersleute Gertraud und Valter spielt sich in Grünbach am Kirchmayrhof ab. Dort erlebt das Ehepaar gemeinsam mit Eltern, Kindern, Geschwistern und Dienstbot/inn/en die verschiedenen Stationen des Lebens, von der Hochzeit über die Geburt der Kinder bis zu Gertrauds Tod. In den Roman fließen zahlreiche praktische Ratschläge ein, wie zum Beispiel Verhaltensanleitungen bei Feuersgefahr, Durchmärschen fremder Soldaten, Umgang mit Vagierenden, Kindstod und so weiter. Das Register am Ende des Buches soll es zu einem alltagstauglichen Ratgeber und

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Nachschlagewerk aufwerten34. Christliche weibliche Tugenden sind das Thema von Jais’ „Gebethbuch für gottesfürchtige Mütter, das auch erwachsene Töchter größten Teils gebrauchen können“ (1812)35. Mathias Rumpler verfasste ebenfalls Anleitungen zu einem christlichen Lebenswandel für die Jugend. Auch er differenzierte nicht explizit zwischen Knaben und Mädchen, wiewohl aber ein Androzentrismus deutlich erkennbar ist. Der Konsistorialrat wurde 1810 Dechant von Altenmarkt im Pongau und Distrikts-Schulinspektor und war 1832 der erste Dechant des wieder errichteten Kollegiatstifts in Seekirchen. Seine zahlreichen, von volksbildnerischen Ambitionen getragenen Arbeiten über theologische, pädagogische und historische Themen waren weit verbreitet36. Im Folgenden versuche ich, aus diesen Schriften Einstellungs- und Verhaltensmuster herauszufiltern, die zu Benachteiligungen von Frauen führten bzw. diese festigten und sich zu spezifisch weiblichen Armutsursachen entwickeln konnten. Als typische Vertreterin der ländlichen weiblichen Unterschichten fungiert dabei „das Dienstmädchen“ – in der deutschen Grammatik ein Neutrum. Bei meinen Ausführungen verwende ich eine gendergerechte Sprache und daher für Dienstmädchen nicht sächliche, sondern – grammatikalisch inkorrekt – weibliche Pronomina.

Frauenbilder Äußere Anpassung Die Welt hänge an der diamantenen Kette der Ordnung, an die sich die Menschen streng halten müssen, schrieb Aloys Maier37. Ordnung befördere die Arbeit, erhalte Fleiß und Gesundheit und stärke die Kräfte. Darin waren sich die hier erwähnten Verfasser pädagogischer Schriften einig. So bläute Vierthaler den Dienstmädchen ein, stets auf Ordnung, die Seele aller Geschäfte38, zu achten. Unordnung erschwere nicht nur die Arbeit, sondern verursache oft großen Verdruss, deswegen müsse sie auch in der Gesindestube vermieden werden39. Auch Jais’ Protagonistin Gertraud achtet streng darauf, dass jede Magd ihr Geschäft und jedes Geschäft seine Zeit habe40. Ordnung bedeutete in diesem Zusammenhang soziale Stabilität, das Einhalten von Hierarchien und das Verhindern von Regelabweichungen, Disziplinlosigkeit oder In-Frage-Stellen des Systems. Daran sollten sich sowohl Frauen als auch Männer halten. Fast alle Schriften betonen in einem Atemzug mit der Ordnung auch die Wichtigkeit von Sauberkeit. Schmutz sei unter allen der auffallendste Fehler, der sogleich beym ersten Anblick wider die Person, die ihn an sich hat, einnimmt41, heißt es im „Jugendfreund“, der sich wie auch Rumplers „Sittenlehre“ an beide Geschlechter wendet und betont, dass das Aeußere eines Menschen gemeiniglich das getreue Bild seines Inneren widerspiegle42. Der „Goldne Spiegel“ mahnt die „dienenden“ Mädchen, besonders auf Körperpflege, Zahnhygiene und Wäschepflege zu achten43. Die Kleidung soll – wie auch Jais einer christlichen Ehefrau ans Herz legt44 – sauber, gut und dauerhaft sein45. Darüber hinaus müssen aus der Miene und Bewegung eines Dienstmädchens Bescheidenheit und Höflichkeit sprechen. Sie soll weder

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zu laut noch zu langsam sprechen, denn eine gute, reine, natürliche Sprache ist die Zierde für ein Mädchen. Vierthaler setzt seine Instruktion über angepasstes, unauffälliges Auftreten fort, indem er einer Dienstmagd empfiehlt, sich einen leichten Gang anzugewöhnen und ins Lächerliche fallende Geberden zu vermeiden. Sie dürfe den Kopf und die anderen Gliedmaßen nicht schief tragen und mit den Händen nicht fechten, sondern müsse diese an guten natürlichen Anstand gewöhnen46. Jais stößt in das gleiche Horn, wenn er junge Frauen auffordert, ihre Reinigkeit – hier als Synonym für Keuschheit zu verstehen – zu erhalten, indem sie ihre Augen in Schranken halten, nichts reden, singen oder anhören, thun oder zulassen sollen, was wider die Schamhaftigkeit sei47. In Jais’ „Valter und Gertraud“ erfahren wir auch nach dem Motto „auf die inneren Werte kommt es an“ wie seine, das ideale Frauenbild verkörpernde Protagonistin aussieht. Gertraud ist schöner von Gestalt als von Antlitz. Ihr Gesicht ist etwas blatternsteppig, sie hat einen kleinen Mund und große rothe Unterlefzen. Aus ihren hellen, blauen Augen blickt aber die gute Seele hervor. Ihr größter Reiz ist ihre holde weibliche Schamhaftigkeit und jungfräuliche Sittsamkeit48. Darin besteht ihre wahre Schönheit. Eine tugendhafte Jungfrau soll sich nach Jais auch bewusst machen, dass ein schönes Kleid ihre Fehler nicht bedecken kann49 und beten: Ich will in meiner Kleidung und in meinen Geberden ehrbar und eingezogen sein. Fern sei von mir aller nachlässige oder eitle und freche Aufputz, der nur muthwilligen Menschen Anlaß zum Bösen gibt50. Verpönt waren umherfliegende Haare, offene Brust und bloße Füße51, und Hausväter und -mütter wurden angehalten, keine freche Kleidung bei den Dienstboten zu dulden52. Jais beschwört die Seelsorger auf dem Land sogar, darauf zu achten, dass sich ihre Köchinnen oder Haushälterinnen nicht zu vornehm kleiden53 und der „Goldne Spiegel“ warnt die Mädchen vor zu viel Tändeleyen und unnöthige[n] Stücke[n] des Putzes54. In seiner „Sittenlehre“ erzählt Jais auch die Geschichte von einem eitlen Mägdlein, deren immerwährendes Thun Putzen und Zieren war und die sich, sobald sie Geld in die Hand bekam, Spitzen und Borten kaufte und nur mehr vor dem Spiegel anzutreffen war. Durch ein lehrreiches Gespräch mit dem Pfarrer konnte sie allerdings zur Bescheidenheit bekehrt werden55. Neben der Befürchtung, Frauen aus den unteren Schichten könnten sich mit dem Kauf von Schmuck und Putz finanziell übernehmen, und dem Bestreben, sie vor der Sünde der Eitelkeit zu bewahren, ging es bei diesen eindringlichen Warnungen wohl vor allem darum, Frauen davon abzuhalten, mit den standestypischen Kleidercodes zu brechen, sich über den Stand zu erheben56 und damit soziale Normen zu missachten. Ein Verstoß gegen diese äußerliche Ordnung war unerwünscht. Weibliche Konformität sollte sich schon in Gewand, Aussehen und Körpersprache manifestieren. Innere Anpassung Angepasstes Verhalten galt als eine weibliche Kardinalstugend und wurde Frauen auch entsprechend kommuniziert. Gehorsam ist eine der schönsten Tugendpflichten eines guten Mädchens57, heißt es im „Goldnen Spiegel“. Die Vorsehung habe ein Dienstmädchen in einen Stand geboren werden lassen, in dem sie anderen Menschen dienen müsse, um ihren Unter-

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halt zu erwerben58. Du bist zum Gehorchen und Ausrichten geboren, schärft Vierthaler den jungen Frauen ein und die Herrschaft, die die Stelle der Eltern vertritt, bestimme, welche Arbeiten sie verrichten müsse59. Liebe deine Herrschaft – lautet ein ausdrücklicher Imperativ – und beeifre dich durch treue und willige Erfüllung deiner Pflichten ihr Freude zu machen60. Um selbst glücklich sein zu können, müsse sich das Dienstmädchen um ein ruhiges Herz, eine heitere Seele und einen frohen Sinn bemühen61. Wenn die Arbeit ein saures Geschäft und beschwerlich ist, solle sie an jene Menschen denken, deren Los viel schwerer sei, wie jenes eines armen Taglöhners oder eines kranken, gebrechlichen Menschen62. Mit einem persönlichen Anliegen dürfe sich ein Dienstmädchen nur dann in größter Bescheidenheit an die Herrschaft wenden, wenn es ihr zu reden erlaubt sei63. Sie habe sich auch nicht anzumaßen, über die Befehle der Herrschaft zu klügeln, Widerspruch ist selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn das Dienstmädchen glaube, in einer Angelegenheit besser Bescheid zu wissen als die Herrschaft. Maße dich nicht an […] voller Eigendünkel zu wähnen, es klüger und besser zu machen, als es verlangt wird. […] Hüte dich deiner Herrschaft zu widersprechen64. Eigenständiges Denken oder eine eigene Meinung zu äußern war nicht erwünscht. Das Dienstmädchen wurde unmissverständlich zur bloßen Befehlsempfängerin und -ausführenden reduziert. Vierthalers Anleitungen zum Gehorsam gipfeln in seinen Verhaltensratschlägen bei Ungerechtigkeiten und Demütigungen: Wenn die Herrschaft wunderlich oder unwillig sei, so die verharmlosende Umschreibung, dürfe die Dienstmagd nicht minder gehorsam sein, ja im Gegenteil, sie soll dies als Chance erkennen, sich in der Kunst zu üben, die Fehler anderer zu dulden und die daraus entstehenden Leiden und Unbequemlichkeiten mit Geduld zu ertragen! So lange eine Magd das nicht lerne, werde sie unfähig zur Glückseligkeit sein, niemals ruhig und zufrieden werden und nur von Ort zu Ort, von Herrschaft zu Herrschaft ziehen und nirgends Zufriedenheit finden, stellt ihr Vierthaler in Aussicht. Mit der Feststellung, es gäbe überall fehlerhafte Menschen und auch sie selbst sei nicht ohne Fehler, schließt er seine Argumentation ab65. Den (lohn-)abhängigen Frauen wird – wie auch in anderen Lebensbereichen – ein beinahe masochistisches Selbstentsagungsprogramm verordnet. Das offensichtlich unvermeidliche Ertragen von Kummer und Leid wird in eine glückliche Fügung, diese Kunst zu erlernen, uminterpretiert. Das Dienstverhältnis dürfe eine Dienstmagd keinesfalls vorzeitig beenden. Für die Geduld und Treue, die sie durch das Ausharren beweise, werde sie durch einen guten Ruf und eine gute Herrschaft in der Zukunft entschädigt werden66. Unmissverständlich geht aus diesen Verhaltensanleitungen hervor, dass eine Frau in einem Abhängigkeitsverhältnis nur dann eine Chance auf ein zufriedenes Leben hat, wenn sie eine ganze Palette von Unrecht erduldet. Die Möglichkeit, dass sich die Betroffene auch nur in irgendeiner Form zur Wehr setzen und ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen könnte, wird völlig ausgeblendet. In den sich primär an die männliche Jugend wendenden Sittenlehren werden zwar auch Zufriedenheit und Geduld als zentrale Tugenden, aus denen Heiterkeit des Gemüts entstehe67, vorgestellt, doch wird den Knaben keine derartige Affektkontrolle und Selbstverleugnung abverlangt. Maiers „Sittenlehre“ empfiehlt beispielsweise

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bei der Höflichkeit den goldenen Mittelweg zu suchen und diese nicht zu übertreiben. Wohlverstandene Demut bringe verdiente Ehre. Es gäbe aber auch Fälle, in denen es die Pflicht erfordere oder es notwendig sei, von seinen eigenen Verdiensten und Tugenden zu reden, um sich wider Verleumdung und Klagen zu schützen und zu verteidigen68. Frauen wurde diese Empfehlung nicht gegeben. Unterordnung und Aufopferungsbereitschaft Das Gebot der weiblichen Unterordnung galt nicht nur für die Lebensbereiche Arbeit und „Dienen“, sondern auch für die Ehe. Jais trichtert den Ehefrauen in seinem „Gebethbuch für gottesfürchtige Mütter“ nachhaltig ein, ihrem Mann gegenüber untertänig und gehorsam, aufrichtig, dienstfertig, gefällig und nachgiebig zu sein und empfiehlt folgendes Gebet: Ich nehme mir heut’ vor dir, o Gott! Auf ’s neue ernstlich vor, Alles zu meiden, was den Hausfrieden stören könnte, Alles zu thun, was meinem Gatten gefällig, und dir, o Gott! Nicht missfällig ist. Ich will ihm allezeit mit Sanftmuth begegnen, und durch treue und aufrichtige Liebe seine Mühe und Arbeit erleichtern. Ich will jeder Uneinigkeit zuvorkommen, meine Fehler erkennen und zu verbessern trachten; die seinigen mit Geduld ertragen. Verleih’ mir, o Gott, dazu deinen Beystand!69 Durch Herzensgüte werde sich die Ehefrau immer liebenswürdig machen, durch Sanftmut und Bescheidenheit werde sie Vieles über ihn vermögen. Vor allem durch ihr gutes Beispiel solle die Ehefrau den Ehemann zum Guten ermuntern70. Mit der Empfehlung durch Liebenswürdigkeit Vieles beim Ehemann erreichen zu können, übernimmt Jais die Ideen Rousseaus. Die Instruktion, die Fehler des Ehegatten geduldig zu ertragen, ist auch ein zentrales Thema eines der populärsten Bücher über Mädchenerziehung des späten 18. Jahrhunderts, Joachim Heinrich Campes „Väterlicher Rat für meine Tochter“ (1789), das auch in Salzburg rezipiert wurde71. Darin erteilt Campe jungen Frauen wohlgemeinte Ratschläge, wie sie das Beste aus ihrem Leben in Abhängigkeit und Unterordnung unter den Mann machen können. Obwohl der Mann, auch rechtlich normiert, der Herr im Haus war, wurde er angehalten, seine Gewalt nicht zu missbrauchen und in den Bereichen seiner Frau nachzugeben, die ihre Angelegenheit waren. Ein harter und muthwilliger Mann, warnt Jais, könne leicht zum Mörder seines Eheweibes oder seiner noch ungeborenen Kinder werden72. Seine Romanfigur Valter hält sich an dieses Gebot und behandelt Gertraud stets respektvoll, obwohl sein Gemüt hitzig und aufbrausend ist. Nach einem mühevollen und verdrießlichen Tag sucht er bei seiner Gattin Trost und Unterstützung. Gertraud liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab und richtet sich in allen Dingen nach ihm. Sie ist die Sanftmut in Person und durch ihr Vorbild wird auch Valter an ihrer Seite von Tag zu Tag geschmeidiger. Deshalb leben die beiden auch in völliger Eintracht73. Gertraud verfügt über diese als typisch weiblich definierten Eigenschaften, da sie in ihrem bisherigen Leben nicht verwöhnt wurde. Sie hatte zwar eine gute Mutter, doch einen trunksüchtigen Vater und zwei etwas missratene Geschwister, einen ebenfalls trinkenden und spielenden Bruder und eine hoffärtige, putzsüchtige Schwester mit einem unehelichen Kind. Gertraud wurde aber so frühzeitig an die Leiden

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Abb. 2: Titelblatt von Aegid Jais, Valter und Gertraud, für das Landvolk auf dem Lande geschrieben, Salzburg 1809 (Privatbesitz).

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gewöhnt und war Männern gegenüber misstrauisch, indem sie sah, wie falsch, liederlich, hart und roh sie sein konnten74, was sich schlussendlich als ein Vorteil für ihr späteres Leben herausstellte. Auch in „Valter und Gertraud“ wird die Leidensfähigkeit einer aus dem unterbäuerlichen Milieu stammenden Frau als zentrale weibliche Überlebensstrategie präsentiert, durch die der Betroffenen sogar eine Heirat und ein sozialer Aufstieg gelingt. Sich selbst zurücknehmen und sich für andere aufopfern und wohltätig zu sein, galt auch als eine „typisch weibliche“ Eigenschaft, die dem sozialen Umfeld und der „peer-group“ zugute kommen sollte. Vierthaler erzählt in diesem Zusammenhang von zwei vorbildlichen Dienstmädchen: Die eine dient seit ihrem 16. Lebensjahr und gibt die Hälfte ihres Lohnes ihrer armen, kranken Mutter – auch Gertraud pflegt die sterbenskranke Mutter und leidet dabei mehr als die Kranke selbst75 –, die andere strickt in der Dämmerung Strümpfe, um sie an arme Kinder zu verteilen76. Dienstmädchen sollten auch in die Hütten der Armen gehen, sich mit ihrem Elend vertraut machen und Unterstützung für sie erbeten77. Darüber hinaus werden sie angehalten, sich bei Arbeitsüberlastung und Krankheit gegenseitig beizustehen78. Arbeit- und Sparsamkeit Auf die Gesundheit zu achten und diese nicht mutwillig zu verscherzen, erhob Vierthaler zur Gewissenspflicht eines Dienstmädchens. Denn bist du krank, so bist du zur Erfüllung deiner Pflichten unfähig, und wenn du dich durch Nachlässigkeit um deine Gesundheit bringst, so mußt du deshalb Rechenschaft geben. Gewöhne dich aber auch nicht weichlich79. Auch hier stehen die Pflichterfüllung gegenüber der Herrschaft und nicht die Konsequenzen einer Krankheit für das Dienstmädchen im Mittelpunkt. Hohe Ansprüche wurden an die weibliche Arbeitsmoral gestellt. Eine Dienstmagd müsse immer tätig sein und dürfe keinen Augenblick müßig verbringen, denn jede nicht gut angewandte Stunde raube sie der Herrschaft. Die Arbeit selbst soll sie unverdrossen und hurtig verrichten, und am besten dabei noch singen oder – ohne die Hände still zu halten – christliche, gute, anständige Sachen erzählen. Beim Spinnen oder Nähen dürfe sie nicht einschlafen. Auch wenn der Lohn gering sei, müsse eine Dienstmagd damit auskommen. Besonders wichtig sei das Sparen eines Nothpfennigs für den Fall, dass sie krank werde. Es ist sehr ungewiß, ob dich auch deine Herrschaft in kranken Tagen behalten werde, weiß Vierthaler80. Sparsam sollte auch eine Bäuerin sein: Gertraud übertrifft ihren Mann sogar noch beim Sparen. Aus unreifem oder verfaultem Obst macht sie Essig und versucht überdies noch das, was andere wegwerfen, wie Asche, Lumpen oder Samen, zu Geld zu machen. „Du bringst mir immer Geld“, sagte er [Valter] einst zu ihr, „und du begehrst so selten Geld von mir! Brauchst du denn nicht mehr zum Gewande für dich und die Kinder?“ „Mit dem Flicken“, antwortete Gertraud, „kann man das Kaufen ersparen, und mit dem Alten kann man das Neue erhalten“81. Gertraud führt den Leserinnen und Lesern mustergültig vor, wie leicht es ist, auf teure Kleider und Schmuck zu verzichten. Klagen über Dienstboten, die dafür zu viel Geld ausge-

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ben, haben eine lange Tradition und beschränken sich nicht nur auf Frauen: Rumplers „Sittenlehre“ predigt den Dienstbot/inn/en, das Geld, das sie gerne für Schmuck und aufwändige Kleidung ausgeben würden, lieber zurückzulegen, denn es werde ihnen dann einst in Noth und Alter gute Dienste leisten, so, daß sie es nicht nöthig haben, anderen Leuten zu Last zu fallen82. Auch hier wird wieder mit den negativen Folgen für die Allgemeinheit und nicht mit persönlichen Konsequenzen argumentiert. Der „Goldne Spiegel“ warnt ebenso das Dienstmädchen eindringlich davor, durch ihre persönliche Schuld einer öffentlichen Anstalt zur Last zu fallen, wenn sie in der Zeit, in der sie sparen könne, das Geld übel anlege – damit war auch eine Warnung vor Spiel und Lotterie83 verbunden. Wenn sie aber etliche Jahre gedient habe, werde sie alles bekommen, was sie zur Nothdurft brauche84. Unter Nothdurft wurde ein Minimum an Vermögen, das nicht nur zur Sicherung der physischen Existenz, sondern auch zur Aufrechterhaltung des sozialen Status notwendig war, erachtet – und der war bei einem Dienstmädchen sicher mehr als bescheiden85. Der Verzicht auf Luxus sollte Kindern schon frühzeitig vermittelt werden. In Jais’ „Sittenlehre“ kauft die Witwe Christine eine blecherne Büchse, in die ihre Kinder immer dann eine Münze einwerfen müssen, wenn sie Geld für etwas Ergetzliches oder schöne Kleider ausgeben wollen. Alle Vierteljahre wird die Büchse dann geöffnet und der Inhalt unter den armen Kindern verteilt86. Das Gebot, nicht leichtfertig Geld auszugeben oder gar dem Luxus zu frönen, fand auch in unterschiedlichen Varianten Eingang in das Erzählgut. In „Die Eulenmutter“, einer Sage aus Zell am See, wurde einer leichtsinnigen Bäuerin nach dem Tod ihres Mannes – bis dahin hatte er die wirtschaftliche Verantwortung für die Familie – ihre Verschwendungssucht zum Verhängnis. Sie brachte das ganze Geld durch und wurde obdachlos. Als einmal das Almosen, das ihre Kinder heimbrachten, zu gering war und diese sie um ein Stück Brot baten, erzürnte die Mutter und wünschte sich, ihre Kinder wären Steine, damit sie sich nicht mehr um sie kümmern müsse. Dies geschah und die Mutter ist seitdem verdammt, bei Tag zwei Felsen zu umkreisen und in der Nacht ruhelos in ihrer wahren Gestalt herumzuwandeln87. Ehre und Sittlichkeit Rasch wird in den an Frauen adressierten Schriften erkennbar, wovor sie am meisten gewarnt wurden – vor dem Verlust der Ehre und der Jungfräulichkeit. Vierthaler beginnt seinen Mahnruf mit der Aufforderung, ein Dienstmädchen solle sich bescheiden und sittsam kleiden (siehe auch weiter vorne), denn dadurch würde sie Gelegenheiten zu Sünden, zum Anstoß und Aergerniß vermeiden. Alleine unterwegs sein sollte eine Magd nur, um Verwandte zu besuchen. Ein flüchtiges Mädchen läuft immer gern aus, ein fleißiges Mädchen bleibt lieber zu Haus88, lautete einer der zahlreichen Sinnsprüche. Orte und Häuser, die sie nicht kenne oder wo üble Nachrede herrsche, solle sie meiden und keine öffentlichen Spaziergänge alleine unternehmen. Als besondere Gefahr wurde der Besuch von Tanz- und anderen Vergnügungsveranstaltungen gesehen: Fliehe besonders die [sic!] Tanzboden. Du verlierst hier deinen guten Nahmen und befleckst dein Gewissen89. Noch auf dem Sterbebett lobt Ger-

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traud ihre Tochter, dass sie Wirtshaus und Tanzboden meide und keine Freude an Lustbarkeiten habe, bei der die Unschuld schamrot werden müsse90. Gefahren für die „Sittlichkeit“ lauerten auch im Bauernhaus. Verschiedene Autoren schärften den Hausvätern und -müttern ein, ihre Dienstmägde im Auge zu behalten. Jais fordert sie beispielsweise zu regelmäßigen „Sitten-Kontrollen“ auf, wenn Mägde und Knechte unbeaufsichtigt auf dem Feld, im Wald oder auf der Alm gemeinsam arbeiten. Junge Weibspersonen sollten auch den Mannspersonen zur Nachtzeit nicht in die Schlafkammer leuchten91 und als Gefahrenpotenzial wurden auch übernachtende Handwerksburschen, Soldaten und Bettelleute eingestuft. Gertraud und Valter achten ebenfalls streng darauf, dass die Kammern der Knechte und Dirnen abgeteilt sind und scheuen weder Mühen noch Kosten, um Zucht zu gewährleisten und Sünden zu verhüten92. Als Gertraud selbst noch Dienstmagd war, konnte sie die Neckereien und Leichtfertigkeiten eines Knechtes, worüber die Mitdirnen nur lachten, nicht ertragen93. Wie in Wurzbachs biographischem Lexikon nachzulesen ist, wurde Jais selbst in Sachen Sittlichkeit aktiv. Als er erfuhr, dass in mehreren armen Häusern die Schlaf- und Wohnstuben nicht getrennt und die Lagerstätten der verschiedenen Geschlechter nicht gehörig abgesondert waren, stellte er eine Summe von 1.400 Gulden zur Verfügung, um Ordnung und Anstand herzustellen und die Unschuld so viel als möglich vor Gefahr zu schützen94. Nach einer Warnung vor verdorbenen Geschlechtsgenossinnen wird Vierthaler konkret: Ein Mädchen soll den Umgang mit Mannspersonen meiden, denn zu leicht, zu geschwind sei oft die Unschuld verloren, und ist sie einmahl verscherzt, so kann keine Thräne und kein ganzes reuevolles Leben sie wiederbringen. Ein Dienstmädchen soll sich nicht von Schmeicheleien betören lassen: Leihe dein Ohr nicht der Stimme der Verführung. Sie haucht Gift in deine Seele, das deine Unschuld tödtet […]. Bewahre deine Unschuld, wie das köstlichste [kostbarste] Kleinod deines Lebens. Wenn du sie beschützest, so bist du, wärest du auch noch so arm, reich und glücklich, siehest einer frohen Zukunft entgegen. Hüte dich vor dem ersten Schritt zur Sünde. So klein er ist, so führt er dich endlich zum Verderben. Du fällst immer tiefer, und wirst dir selbst zur Last, und der Welt zur Schande. Sobald ihr ein Verführer der Unschuld auflauere, solle sie sich mit Klugheit und Standhaftigkeit wappnen, sich einer redlichen Person anvertrauen und immer an die Strafe denken, die jene treffe, die die Unschuld verlieren und sich dem Laster preisgeben, also unehelichen Geschlechtsverkehr haben. Jais versucht die tugendhafte Jungfrau mit einem Gebet zu stärken. Sie soll zu Gott beten, dass sie keusch leben und alles sorgfältig vermeiden werde, was wider die Reinigkeit sei. Gott möge in ihr Abscheu gegen alles erwecken, was sie vor sich selbst und vor seinen Augen schamroth machen würde, damit sie ihren Leib heilig halte und sich nicht entehre und ihre Tugend und Ehre nicht um eine schnöde, augenblickliche Lust verscherze95. Vierthaler, der sonst die Frauen auf uneingeschränktes Ausharren bei der Herrschaft bis zum vereinbarten Zeitpunkt einschwor, rät ihnen sogar – offensichtlich wohl wissend um sexuelle Übergriffe auf Dienstbotinnen – einen Dienst, wo sie ihre Unschuld verlieren könnten, zu verlassen96. Die in den Salzburger Schriften zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts propagierten Frauenbilder modifizierten zum Teil ältere Zuschreibungen und waren großteils

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vom Gedankengut der Aufklärung geprägt. Viele Ansichten, wie Frauen sein sollten, fanden keinen schriftlichen Niederschlag. Offen muss auch die Frage bleiben, in welchem Ausmaß die in den Schriften verbreiteten Zuschreibungen die Frauen auf dem Land tatsächlich erreichten und ob sie die bestehenden Normen und Leitbilder spiegelten oder beeinflussten.

Lebensrealitäten – Frauenarmut Frauenarbeit Welcher Zusammenhang bestand zwischen den Rollenbildern und einem spezifisch weiblichen Armutsrisiko im Land Salzburg? Um bei den Adressatinnen der Schriften und der „Armuts-Risikogruppe“ der Frauen in „dienenden Positionen“ zu bleiben, so nahm im Untersuchungszeitraum der Anteil des Gesindes generell zu, innerhalb der Gruppe der ländlichen Dienstbot/inn/en dürfte das Verhältnis zwischen Mägden und Knechten im ganzen Land Salzburg (ausgenommen die Stadt Salzburg) relativ ausgewogen gewesen sein97. Die Sexualproportion war jedoch regional unterschiedlich, unterlag zeitlichen Schwankungen und hing von den Wirtschaftsformen ab. In den Gebirgsgegenden mit vorwiegend Viehzucht wurde das ganze Jahr hindurch mehr Gesinde benötigt als in den Ackerbaugebieten des Flachlands mit ihrer saisonalen Gebundenheit, was wiederum Auswirkungen auf geschlechtsspezifische Arbeitszuteilung hatte. Außerhalb der Landwirtschaft waren Dienstbot/inn/en vor allem bei Landhandwerkern und in Gasthäusern beschäftigt. Überwiegend weiblich war das Gesinde in den ländlichen Beamtenhaushalten. Zu den Merkmalen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Landwirtschaft zählte, dass Frauen meistens näher beim bäuerlichen Hof oder unter Einfluss und Überwachung der „Öffentlichkeit“ arbeiteten98. Eine Ausnahme waren hier allerdings die Sennerinnen auf der Alm. Die Einführung neuer Arbeitstechniken führte jeweils dazu, dass diese von Männern übernommen wurden, während Frauen meistens noch mit den bis dahin benutzten Geräten arbeiteten, wie dies auch das Beispiel der Einführung der Sense zeigt. Solange der Sensenschnitt den höchsten technischen Standard darstellte, verwendeten die Frauen weiterhin die „alten“ Sicheln. Arbeiten in gebückter Haltung, wie Klauben, Furchenziehen, Garbenbinden oder Jäten wurden prinzipiell nur von Frauen ausgeführt – die weibliche Unterordnung offenbarte sich somit allein schon in den Arbeitstechniken und Körperhaltungen bei der Arbeit99. Diese Muster waren aber auch marktabhängig. Als in den traditionellen Ackerbaugebieten des Salzburger Flachgaus das Getreide den höchsten Gewinn abgab, verrichteten Männer keine Stallarbeit. Sobald die Preise für Fleisch, Butter und Milch stiegen und von einem bisher weiblichen Arbeitsbereich ein höherer Ertrag zu erwarten war, wandten sich die Männer stärker der Viehhaltung zu100. Wie andernorts auch, waren Frauen in Salzburg weitgehend von einer Professionalisierung außer in Ausnahmefällen ausgeschlossen, sie praktizierten vorwiegend „learning by doing“. Zu den typisch weiblichen Tätigkeiten zählten Handarbeiten wie Stricken, Spinnen, Nähen, Dienstleistungen wie Waschen und Reinigungsarbeiten sowie Gartenwirtschaft und Kleintierhaltung einschließlich der Vermarktung der erzeugten Produkte.

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Auch bei der Arbeitsfähigkeit wurde nach Geschlecht differenziert: Wie aus den Quellen der Bayerhammer’schen Armenstiftung in Seekirchen Mitte des 19. Jahrhunderts hervorgeht, mussten als arbeitsunfähig bezeichnete Männer tatsächlich nicht mehr arbeiten, während der gleiche Begriff für Frauen bedeutete, dass sie noch zu Handarbeiten herangezogen wurden, wenn es zum Beispiel hieß: schwach, arbeitsunfähig, wird aber zum flicken verwendet oder schwächlich, arbeitsunfähig, fast erblindet, wird zum Stricken aber noch gut verwendet101. Die untergeordnete und abhängige Stellung, die Frauen im Arbeitsprozess einnahmen, spiegelte sich auch in der ungleichen Entlohnung wider. Männerarbeit war aus unterschiedlichen Gründen generell teurer als Frauen- und Kinderarbeit. Auch auf dem Land gab es eklatante Einkommensunterschiede102. In den 1770er-Jahren betrug der Jahreslohn einer Dienstmagd im Gebirge zwischen vier und sechs Gulden Bargeld und verschiedene Kleidungsstücke, die am Bauernhof von der hauseigenen Wolle hergestellt wurden. Ein Knecht erhielt hingegen 20 bis 26 Gulden Jahreslohn103. Ein direkter Vergleich kann bei diesen Angaben nicht gemacht werden, da hier Frauen einen Teil ihrer Entlohnung in materieller Form bekamen. Naturalien waren billiger und eine zweckgebundene, auch „entmündigendere“ Form von Bezahlung. Der Mann des „gleichen Standes“ verdiente nicht nur wesentlich mehr, ihm wurde auch die Freiheit zugestanden, selbst über die ganze Summe zu verfügen. In einer anderen Quelle wird der Lohn für den an der Spitze der Gesindehierarchie stehenden Bauknecht mit 22 Gulden plus 2 Gulden 24 Kreuzer Drangeld (zusätzliches Geld oder Handgeld) und zahlreichen Bekleidungsstücken, für die Baudirn, sein weibliches Pendant, mit zehn Gulden Lohn, einem Gulden Drangeld und zusätzlich Stoffen und Kleidung angegeben104. 1800 verdiente im Pinzgau ein in der männlichen Gesindehierarchie ganz unten stehender minderer Knecht eben so viel wie eine erste Magd, nämlich fünf bis zehn Gulden105. Vielleicht gab manches Dienstmädchen gelegentlich Geld für ein kleines Stück Luxus aus, Faktum war jedoch, dass es für ledige lohnabhängige Frauen beinahe unmöglich war, ausreichend Geld anzusparen. In Notsituationen oder im Fall von Arbeitslosigkeit und Krankheit waren sie vielfach auf den Zugewinn von Subsistenzmittel angewiesen, zum Beispiel durch Bettel oder allenfalls auch durch Gelegenheitsprostitution. Die ungleiche Verteilung der Ressourcen zwischen Frauen und Männern wurde großteils als „normal“ hingenommen und das Akzeptieren von Ungerechtigkeiten den Frauen in den Schriften eingetrichtert. Sexualität und Illegitimität Die häufige Thematisierung der weiblichen Unschuld hatte reale Hintergründe. Weit mehr als Männer waren Frauen Objekte der obrigkeitlichen Moralpolitik. Ihre Ehre wurde über Keuschheit definiert und ihre Begehrlichkeit als Zeichen sittlicher Minderwertigkeit verurteilt. Der Verlust der weiblichen Ehre war meistens auch von Einschränkungen der Erwerbsund Arbeitsmöglichkeiten begleitet, besonders dann, wenn die Frauen illegitime Kinder

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bekamen. Dies scheint – wie auch in der Literatur betont wird – stets eines der vorrangigen Armutsrisiken für Frauen gewesen zu sein106. Ende des 18. Jahrhunderts hatte in Salzburg das Dienstbotendasein großteils den Status einer Übergangsphase verloren, oft war es ein „lebenslängliches“. Bis dahin war Geschlechtsverkehr nach dem Verlöbnis in der sozialen Praxis akzeptiert, sexuelle Kontakte ohne geplante Ehe galten hingegen als „leichtfertig“107. Aufgrund der in Salzburg bis 1888 bestehenden Ehebeschränkungen – in Österreich wurde der Ehekonsens bereits 1765 aufgehoben – war es vielen Frauen und Männern nicht erlaubt zu heiraten, wenn sie nicht eine ausreichende finanzielle Grundlage nachweisen konnten108. Damit sollte die Verarmung von aus den Unterschichten stammenden Familien verhindert und der Reproduktion von Armut vorgebeugt werden. Liebesbeziehungen und sexuelle Kontakte ließen sich dadurch allerdings nicht verhindern und die Illegitimität stieg an. „Unzucht“, un- und außerehelicher Geschlechtsverkehr war in Salzburg bis 1806 per Gesetz für Frauen wie Männer verboten und wurde bestraft109. Es gab Geld-, Schand-, Gefängnis- und Arbeitshausstrafen, bei dreimaligem Ehebruch drohte sogar die Todesstrafe110. Sobald eine unverheiratete Frau schwanger war, musste darüber Anzeige erstattet werden. Dies galt theoretisch auch für den Mann, doch war der Kindsvater oft nach dem „Delikt“ nicht mehr greifbar. Gründe dafür waren die hohe Mobilität von Dienstbot/inn/en und Handwerkern, Ungewissheit, mangelndes Verantwortungsbewusstsein, Feigheit oder auch Flucht aus dem jeweiligen Gerichtsbezirk. Der Anteil der im Fornikationsprotokoll (Protokoll der „fleischlichen Verbrechen“) der Stadt Salzburg (von 1795 bis 1804) eingetragenen Männer betrug etwas über ein Fünftel der Gesamtanzeigen. Heute völlig empörend ist, dass selbst vergewaltigte Frauen mit einer Fornikationsstrafe belegt wurden111. Ab den 1770er-Jahren wurden die Strafen zunehmend im öffentlichen Raum exekutiert, denn damit sollte die abschreckende und vorbeugende Wirkung verstärkt werden. Quellenstudien aus dem Lungau von Peter Klammer ergaben, dass die Obrigkeit bis zum Ende des geistlichen Fürstentums in unverminderter Strenge an den rigiden Sexualnormen festhielt und die Fornikationsstrafen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar noch verschärft wurden112. Schandstrafen waren wegen ihres entehrenden Charakters besonders gefürchtet. Typische weibliche Schandstrafen waren die „Geige“, wobei die Delinquentin mit dem Kopf in eine geigenförmige Holzvorrichtung gesteckt und herumgeführt wurde, oder die Ausstellung der Verurteilten mit einem Strohkranz113. Ellinor Forster stellte für Uttendorf im Pinzgau fest, dass Männer innerhalb des Dorfkontextes voreheliche Beziehungen leichter abbrechen konnten, ohne sofort wie Frauen als „leichtfertig“ abgestempelt zu sein. Die Gesetze reflektierten zwar gleiche und adäquate Strafen für Frauen und Männer, in der Praxis hatten es Männer aber leichter, Schand-, Leiboder Zuchthausstrafen in Geldstrafen umzuwandeln. Dabei wurde auch auf den wirtschaftlichen Hintergrund Rücksicht genommen. Männer wurden eher zu kurzfristigen Schandstrafen verurteilt, während Frauen längere Zeit in das Arbeitshaus mussten und womöglich zusätzlich noch aus dem Gericht verwiesen wurden, denn Männer, vor allem Bauern, sollten nicht zu lange von der Hauswirtschaft entfernt sein. Frauen mit unehelichen Kindern

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mussten in vielen Fällen ihre Gesindeposition aufgeben und sich nach anderen Möglichkeiten des Gelderwerbs umsehen, für ledige Väter änderte sich relativ wenig114. Eine Untersuchung der Illegitimitätsrate in Salzburger Gemeinden zeigte, dass diese regional unterschiedlich war – im Pinzgau war sie zum Beispiel generell höher als im Lungau –, in allen untersuchten Gemeinden im Laufe des 19. Jahrhunderts anstieg und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Höchstwerte zu verzeichnen waren. So betrug die Unehelichenquote in Mittersill 1835 50 %, in St. Georgen im Pinzgau 1850 63,5 %. Als Erklärung für das komplexe Phänomen Illegitimität wird ein Ursachenbündel angeführt, zu dem die Agrarrevolution, die Aufhebung des Fornikationsgesetzes 1806, Veränderungen in der Erbfolge und auch die Gewerbefreiheit gezählt werden115. Der Makel eines unehelichen Kindes betraf grundsätzlich die ledige Mutter und das Kind, kaum den Vater, und bedeutete für Frauen meist eine gravierende Notlage, sowohl in materieller als auch sozialer Hinsicht. Kurzschlusshandlungen wie Kindesvernachlässigungen und -aussetzungen oder sogar Kindsmord konnten daraus resultieren. In den Salzburger Gebirgsgegenden, vor allem in jenen Regionen, wo Dienstbotenmangel herrschte116, dürfte die „Mitversorgung“ eines ledigen Kindes eines Dienstmädchens leichter gewesen sein als im Flachland. Aus einem Gutachten zum ländlichen Armenwesen aus dem Jahr 1773 geht sogar hervor, dass Mägde mit einem unehelichen Kind bei einer Aufnahme in den bäuerlichen Dienst die Bedingung stellten, ihr Kind mitnehmen zu dürfen. Beklagt wurde aber, dass die Kinder vernachlässigt, vielmehr in dem rohesten Stande mit dem Viech aufwachsen würden. Der Hausvater kümmere sich nur um seine eigenen Kinder und sehe das ohneheliche Product der Dienstmagd, das für ihn nur einen Esser mehr bedeute, mit scheelen Augen an, müsse es aber angesichts des allgemeinen Mangels an Dienstbotinnen akzeptieren117. Auch wenn in manchen Regionen die Frauen ihre Kinder bei sich behalten konnten, bedeutete dies nicht automatisch eine zufriedenstellende Lösung. Betrachtet man die Anzahl an unehelichen Kindern, exekutierten Schandstrafen und realen Nachteilen für Frauen, dann liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, dass die auf Enthaltsamkeit abzielenden Ordnungsentwürfe von Kirche und Obrigkeiten sowie in den an sie gerichteten Schriften nicht befolgt wurden. Ungewiss ist, wie hoch der Anteil an unfreiwilligen Kontakten war, doch es ist weder davon auszugehen, noch vermitteln die Quellen den Eindruck, dass Frauen überwiegend Opfer von sexuellen Übergriffen waren. In diesem Zusammenhang ist die These von einer ausschließlich sexuell konnotierten weiblichen Ehre im Gegensatz zu einer korporativ gedachten männlichen (Standes-)Ehre zu überdenken. Keuschheit wurde von den betroffenen Frauen nicht nur ohnmächtig erlebt und erduldet, sondern konnte, wie beispielsweise die Untersuchungen von Sabine Kienitz zeigten, auch in soziale Macht umgewandelt werden. Sexualität als gelebte Beziehung zwischen den Geschlechtern ließ und lässt sich nicht als statisch, in „starren Dichotomien von männlicher Macht und weiblicher Ohnmacht fassen“118.

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Arbeitsunfähigkeit – Krankheit – Alter Die Ratschläge, die an die körperliche Konstitution gebundene Arbeitsfähigkeit möglichst lang zu erhalten, bezogen sich ebenfalls auf reale Lebenssituationen, denn ihr Verlust war für Frauen und Männer der ländlichen Unterschichten existenzbedrohend. Ledige Dienstbot/inn/en ohne familiäres Auffangnetz konnten bei Krankheit und vor allem im Alter nur hoffen, Armenfürsorge, sei es in Form von materieller oder finanzieller Unterstützung, durch das System der „Einlage“ oder durch einen der wenigen Plätze in einem ländlichen Hospital, zu bekommen119. Frauen stellten generell die Mehrheit der Armenunterstützungsempfangenden dar und es wird auch davon ausgegangen, dass sie vor allem in Städten bessere Aussichten hatten, eine Unterstützung zu erhalten als Männer, denn als alte, ledige Frauen oder Witwen mit Kindern zählten sie zu den „klassischen, würdigen Armen“120. Nach einer Auswertung von Armenlisten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Seekirchen (Salzburger Flachland), Golling und Tamsweg (Gebirge) stammten die unterstützten Männer überwiegend aus dem Gesinde, einige arbeiteten als Taglöhner oder im Handwerk. Bei den Frauen sind kaum Berufsbezeichnungen eingetragen, die wenigen verweisen fast ausschließlich auf unqualifizierte Erwerbstätigkeit, zeitlich limitierte Hilfsarbeiten und textilerzeugende Beschäftigungen. Anstelle der Berufsangaben scheinen auf männliche Familienmitglieder bezogene „Standesangaben“ wie Maurertochter, Schmiedtochter, Kleinhäuslerwitwe auf121. Die meisten Unterstützungsempfänger/innen waren zwischen 50 und 70 Jahre alt. In den untersuchten Orten überwog der Anteil an Frauen, jedoch bei weitem nicht so deutlich wie zur gleichen Zeit in der Stadt Salzburg. Während hier vier bis sieben Mal so viele Frauen (hauptsächlich Dienstbotinnen) wie Männer (nur rund ein Viertel Dienstboten) in den Genuss armenfürsorglicher Maßnahmen kamen, betrug der Multiplikator auf dem Land nur zwischen 0,9 und 1,83. Die beinahe ausgewogene Geschlechterproportion auf dem Land kann damit erklärt werden, dass das Dienstbotendasein generell ein besonderes Armutsrisiko darstellte122 und sich daher dieses Verhältnis auf dem Land, wo trotz regionaler Schwankungen in etwa gleich viele weibliche und männliche Gesindepersonen beschäftigt waren, auch in den Armenunterstützungslisten widerspiegelte. Quantitative Auswertungen von Armenverzeichnissen geben allerdings nur Auskunft über die Anzahl jener Personen, die offiziell als arm anerkannt waren und auch Unterstützung erhielten. Auf das Ausmaß der „tatsächlichen“ Armut kann nicht geschlossen werden. Beim Quellenstudium entsteht aber der Eindruck, dass die für das Armenwesen zuständigen ländlichen Obrigkeiten jenes, in den Geschlechterzuschreibungen geforderte weibliche Verhalten verlangten, um Frauen als unterstützungswürdig anzuerkennen. So musste beispielsweise Bescheidenheit und „Sittsamkeit“ allein schon nach außen über Aussehen und Sprache kommuniziert werden. Auch Bettlerinnen wussten, dass ihre Kleidung ärmlich, aber nicht heruntergekommen sein durfte, damit sie Chancen auf ein Almosen hatten123. Die bewusste oder unbewusste Einhaltung dieses Grundsatzes war für arme Frauen, die um Armenfürsorge ansuchten oder betteln gingen, in der Praxis von großer Bedeutung: Befolgten oder beherrschten Frauen diesen Codex nicht, gingen sie leer aus. Verstießen sie

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gegen die Bescheidenheits- und Sittlichkeitsgebote, konnte dies, wie ein Beispiel aus Wagrain im Salzburger Pongau in den 1840er-Jahren zeigt, dramatische Folgen haben. Der bekannte (und zu Unrecht als „Sozialrevolutionär“ verklärte) Stille-Nacht-Dichter Joseph Mohr stellte einer ledigen Mutter, die ein Verhältnis mit einem verheirateten Gastwirt hatte, ein so verheerendes Leumundszeugnis aus, dass dieses die Wegnahme ihres Kindes, ihre Verweisung aus dem Ort und ihre Anhaltung zur Arbeit bewirkte. Sie sei ein Weibsbild mit kleinen geilen Augen, aus denen die Sinnes= und Fleisches=Lust spricht und der alle SchmähWorte, Schelten u. Fluch Worte geläufig seien. Sie gäbe Ledigen und Verheuratheten einen Strohsack ab und wolle von der Hurerey leben124, schrieb Mohr. Für Regina Schober aus Neumarkt im Salzburger Flachgau hatte ihre non-konforme Lebensweise Auswirkungen auf ihr Unterstützungsansuchen im Alter. Sie wurde als uneheliche Kleinhäuslerstochter geboren und musste ab ihrem elften Lebensjahr selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Zuerst verdingte sie sich als Kindermädchen bei Bauern, danach trat sie in der näheren Umgebung in Dienst, bis sie mit 29 Jahren schwanger wurde. Die Geburt ihres Kindes veranlasste sie, ihre Sesshaftigkeit zugunsten einer mobilen Lebensweise aufzugeben, eine Mischform aus zeitweiligem Vagieren und Phasen der Sesshaftigkeit sicherte ihr nun das Überleben. Nach ihren eigenen Aussagen schämte sie sich des Bettelns an jenen Orten, wo sie als redliche Dienstmagd bekannt war. 1829, mit 45 Jahren, suchte sie aufgrund von Krankheit um eine regelmäßige Unterstützung aus der Armenkasse Seekirchen an. Diese verwehrte man ihr mit der Argumentation, die Bevölkerung habe ihr ohnehin schon genug Almosen gespendet, als sie noch gesund und dienstfähig gewesen sei. Erst 18 Jahre später, da sie der Armut in diesem Alter sosehr unterliege und eine Hilfe nöthig habe, bewilligte ihr das Armeninstitut eine Unterstützung – allerdings aufgrund ihres schlipfrigen Lebenswandels nur die Hälfte des üblichen Betrags125.

Schluss „Das allgemeine gesellschaftliche Unter- und Nachgeordnetsein von Frauen begünstigte direkt wie mittelbar entsprechende Verarmungsprozesse und beschränkte die sozialen Aufstiegschancen“126. Diese Diagnose von Helmut Bräuer bestätigt sich auch in Salzburg im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In den an Frauen der Unterschichten adressierten Schriften und „Sittenlehren“ wird genau dieses weibliche Unter- und Nachgeordnetsein kultiviert und als Handlungsmodell vorgeführt. Deutlich wird, dass sowohl der Selbstwert einer ledigen, „dienenden“ als auch einer verheirateten Frau über Selbstverleugnung und die Anerkennung durch andere definiert wird und Frauen einem hohen Anpassungsdruck ausgesetzt waren. Ein selbstbewusstes Ego, „ja sogar ein wenig Eitelkeit und Narzissmus“ zählen nach heutigen Erkenntnissen zu wichtigen Triebkräften für Erfolg127. Genau das Gegenteil wurde aber von den Frauen verlangt und somit auch die Entwicklung eines dafür notwendigen Selbstbewussteins unterminiert. Bildung, die von der Aufklärung als notwendige Voraussetzung für einen sozialen Aufstieg erkannt worden war, sollten sich Frauen nur zu einem Mindestmaß aneignen,

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denn zuviel davon wäre wider die Natur und würde sich negativ auf den inneren Werth der Frauen auswirken128, war auch in Salzburg 1793 zu lesen. Darüber hinaus wurden Frauen aus den ländlichen Unterschichten zu Verhaltensweisen angeleitet, ökonomische Schlechterstellung und ihre Auswirkungen, die in eklatanten Einkommensunterschieden zum Ausdruck kamen, nicht zu hinterfragen. In der weiblichen Lebensrealität zeigte sich auch, dass der Verlust der „weiblichen Ehre“ zu eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten führte und im Alter auch den Zugang zur Armenfürsorge gefährdete. Der Verzicht von Frauen auf eigene Bedürfnisse, Rechte und Ansprüche konnte sich nicht nur im 18. und 19. Jahrhundert zu einem spezifisch weiblichen Armutsrisiko auswachsen. Viele Einstellungsmuster haben sich gegenwärtig vor allem im ländlichen Raum erhalten, wo die Armutsgefährdung für Frauen virulenter ist als in der Stadt129. Gründe dafür sind konservative Denkweisen wie zum Beispiel das Rollenbild der verständnisvollen, aufopferungswilligen, für die Kinder, pflegebedürftigen Angehörigen und die Bedürfnisse des Ehemanns zuständigen Frau. Sie sind auf dem Land tiefer verwurzelt als in der Stadt, zum einen, weil dichte persönliche Kontakte den Ausbruch aus vorgefertigten Bahnen und Rollenbildern erschweren und der soziale Druck ein enormes Ausmaß annimmt, zum anderen weil auch Frauen selbst diese Modelle verinnerlicht haben und sozusagen „weiter vererben“130. Das Wissen um die historischen Hintergründe dieser Zuschreibungen kann hoffentlich dazu beitragen, diese weibliche Armutsfalle zu erkennen und zu vermeiden.

Anmerkungen 11 U  te Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 12 f.; vgl. auch Claudia Opitz, Grenzen der Freiheit. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Rousseaus Ideen zur Geschlechterordnung, in: Dies., Aufklärung der Geschlechter, Revolution der Geschlechterordnung. Studien zur Politik- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Münster-New York-München-Berlin 2002, S. 108–132; Ute Frevert, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 17–48. 12 Susanne Barth, Mädchenlektüren. Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt-New York 2002, S. 40. 13 Ueber Aufklärung, Gelehrsamkeit und Cultur der Weiber, in: Salzburger Intelligenzblatt, 4. April 1795, S. 2. 14 Vgl. auch Sabine Veits-Falk, Doppelmoral und Armut: „Allein erziehende Mütter“ in der Zeit, als die Idealisierung der Mütterlichkeit begann, in: Alleinerziehende auf dem Weg. Journal für getrennte Eltern 4 (2009), S. 9–11, hier S. 9. 15 A ndreas Gestrich, Neuzeit, in: Ders., Jens-Uwe Krause, Michael Mitterauer (Hg.), Geschichte der Familie (Europäische Kulturgeschichte 1), Stuttgart 2003, S. 364–653, hier S. 533; Sabine Veits-Falk, Frauen und Öffentlichkeit, in: Harald Heppner, Alois Kernbauer, Nikolaus Reisinger (Hg.), In der Vergangenheit viel Neues. Spuren aus dem 18. Jahrhundert ins Heute, Wien 2004, S. 237–240, hier S. 239 f.; vgl. auch Gabriella Hauch, Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938 (Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 10), Innsbruck 2009, S. 85. 16 Brigitte Mazohl-Wallnig, Margret Friedrich, „... und bin doch nur ein einfältig Mädchen, deren Bestimmung ganz anders ist ...“. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie in der bürgerlichen Gesellschaft, in: L’ Homme 2 (1991) H. 2, S. 7–32, hier S. 21.

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17 A  nton Behacker, Geschichte des Volks- und Bürgerschulwesens im Lande Salzburg, Salzburg (1923), S. 49 f.; Alfred Stefan Weiß, Die Schulsituation in der Stadt Salzburg am Ausgang des 18. Jahrhunderts – Reformbestrebungen als Auswirkung der Aufklärung, in: Salzburg Archiv 12 (1991), S. 221–246, hier S. 227; ders., Das Armen- und Schulwesen am Ende des geistlichen Reichsfürstentums Salzburg, in: Salzburg Archiv 23 (1997), S. 209–241, hier S. 222; Karl Wagner, Zur Geschichte der Schulverbesserung in Salzburg unter Erzbischof Hieronymus Colloredo (Teil 1), in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 55 (1915), S. 151–222; Claudia Eidenhammer, Das niedere Schulwesen unter Erzbischof Hieronymus Colloredo. Diplomarbeit, Salzburg 1992, S. 87; Franz Hörburger, Salzburgs Schulwesen in Gegenwart und Vergangenheit, in: Salzburg. Sein Boden, seine Geschichte und Kultur. Festgabe der 59. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner vom 25.–29. September 1929, Baden 1929, S. 23–56, hier S. 30. 18 Mazohl-Wallnig, Friedrich, Mädchenerziehung (wie Anm. 6), S. 21. 19 A nton Behacker, Materialien zur Geschichte der Volksschulen des Herzogtumes Salzburg außerhalb der Landeshauptstadt Salzburg, Salzburg 1912, S. II. 10 Vgl. dazu Weiß, Armen- und Schulwesen (wie Anm. 7), S. 223 f. 11 Z . B. Franz Michael Vierthaler, Elemente der Methodik und Pädagogik, nebst kurzen Erläuterungen derselben (1791), in: Franz Michael Vierthalers ausgewählte pädagogische Schriften, hg. und mit einer Einleitung versehen von L(eopold) Glöckl (Bibliothek der katholischen Pädagogik VI), Freiburg im Breisgau 1893, S. 27–166, hier z. B. S. 147, S. 151, S. 161; zu Vierthalers Schrift vgl. auch Andreas Golob, Franz Michael Vierthalers „Elemente der Methodik und Pädagogik“ als Quellen für den Gesundheits- und Körpererziehungsdiskurs im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Salzburg Archiv 33 (2008), S. 285–294. 12 Weiß, Armen- und Schulwesen (wie Anm. 7), S. 227; Reinhard Rublack, Schule und Erwachsenenbildung, in: Heinz Dopsch, Hans Spatzenegger (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land Bd. II/3 (Neuzeit und Zeitgeschichte), Salzburg 1991, S. 1931–1962, hier S. 1937; leider liegen keine Zahlen über den Anteil von Knaben und Mädchen unter den Schüler/inn/en vor, vgl. Behacker, Materialien (wie Anm. 9). 13 Behacker, Volks- und Bürgerschulwesen (wie Anm. 7), S. 83; vgl. auch Alfred Stefan Weiß, Die Entwicklung des Schulwesens – Von den Anfängen bis ca. 1900, in: Elisabeth und Heinz Dopsch (Hg.), 1300 Jahre Seekirchen. Geschichte und Kultur einer Salzburger Marktgemeinde, Seekirchen 1996, S. 742–748, hier S. 746; Margret Friedrich, „Ein Paradies ist uns verschlossen …“. Zur Geschichte der schulischen Mädchenerziehung in Österreich im „langen“ 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 89), Wien-Köln-Weimar 1999, S. 53. 14 Margret Friedrich, Brigitte Mazohl-Wallnig, Die Erziehung der Mädchen, in: Brigitte Mazohl-Wallnig (Hg.), Die andere Geschichte Bd. 1. Eine Salzburger Frauengeschichte von der ersten Mädchenschule (1695) bis zum Frauenwahlrecht (1918), Salzburg-München 1995, S. 101–152, hier S. 109; Friedrich, „Ein Paradies ist uns verschlossen“ (wie Anm. 13), S. 238. 15 Eduard Beutner, „Es ist das wahre Glück an keinen Stand gebunden“. Jugend- und Volksschriften in Salzburg, in: Österreich in Geschichte und Literatur 28 (1984) H. 1, S. 15–28, hier S. 15; ders., Literatur und Theater, in: Dopsch, Spatzenegger, Geschichte Salzburgs (wie Anm. 12), S. 1707–1732, hier S. 1732. Die Salzburger Schriften können zwar nicht mit der Wiener Broschürenflut unter Joseph II. verglichen werden, der Trend der Publikation vieler populärer Schriften dürfte aber auch die Veröffentlichungen in Salzburg beeinflusst haben, vgl. dazu Ernst Wangermann, Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. (Österreich Archiv. Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien-München 2004, S. 14. 16 Eduard Beutner, Literatur und Theater (wie Anm. 15), S. 1732; vgl. auch Elke Brüns (Hg.), Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur, München 2008. 17 Vgl. auch Edeltraud Hütteneder, Die Rolle von Frau und Mann im Lesebuch. Eine Analyse geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen in österreichischen Lesebüchern der Sekundarstufe I. Dissertation, Salzburg 1985, S. 95. 18 Beutner, Jugend- und Volksschriften (wie Anm. 15), S. 20. 19 Rudolf Vierhaus, Hans Erich Bödecker (Hg.), Biographische Enzyklopädie der deutschsprachigen Aufklärung, München 2002, S. 308; Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiser-

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thums Oesterreich Bd. 50, Wien 1884, S. 276–280; Ulrich Salzmann, Franz Michael Vierthalers Leben. Beilage zu Franz Michael Vierthalers Reisen durch Salzburg, Reprint Salzburg 1983; Karl Köchl, Franz Michael Vierthalers Leben und Schaffen, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 98 (1958), S. 1–50; Weiß, Schulsituation (wie Anm. 7), S. 231–237; Theodor Brüggemann (Hg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750–1899, Stuttgart 1982, Sp. 1559 f. Franz Michael Vierthaler, Das Kinderbuch, Salzburg 1794, S. 53–56; vgl. auch Friedrich, „Ein Paradies ist uns verschlossen“ (wie Anm. 13), S. 231. Franz Michael Vierthaler, Goldner Spiegel. Ein Geschenk für Mädchen, welche in Dienste treten wollen, Salzburg 1791. (Ders.), Goldner Spiegel. Ein Geschenk für Mädchen, welche in Dienste treten wollen, Salzburg 3 1804, S. 9. Helene Mühlestein, Hausfrau, Mutter, Gattin. Geschlechterkonstruktionen in Schweizer Ratgeberliteratur 1947–1970 (Populäre Literaturen und Medien 3), Zürich 2009, S. 15. Behacker, Volks- und Bürgerschulwesen (wie Anm. 7), S. 54. Franz Michael Vierthaler, Franz Traugott. Eine lehrreiche Kindergeschichte, Salzburg 1792. L(eopold) Glöckl, Franz Michael Vierthaler, der „salzburgische Overberg“, in: Ders., Ausgewählte pädagogische Schriften (wie Anm. 11), S. 1–26, hier S. 15. Beutner, Literatur und Theater (wie Anm. 15), S. 1732. Franz Traugott. Eine lehrreiche Erzählung von Franz Michael Vierthaler. Neue vermehrte Auflage von Heinrich Schwarz (Bibliothek für die reifere christliche Jugend 56), Regensburg 1889, S. V. Vierthaler, Franz Traugott (wie Anm. 25), S. 15. A loys Maier wurde 1773 in Oberbayern als Sohn eines Gärtners geboren, vgl. Beutner, Jugend- und Volksschriften (wie Anm. 15), S. 18; Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich Bd. 18, Wien 1868, S. 76–78; Behacker, Volks- und Bürgerschulwesen (wie Anm. 7), S. 55. Vgl. z. B. Aloys Maier, Die Sittenlehre in Vorschriften für die reifere Schuljugend, zum denkenden Lesen und zum bildenden Schön- und Rechtschreiben, Salzburg 21823, S. 131. Jais wurde in Mittenwald in Bayern geboren, im Kloster Benediktbeuern erzogen, kam dann in das Kloster St. Emmeran bei Regensburg und erhielt 1776 die Priesterweihe. Zeitlebens sozial engagiert, verfügte Jais in seinem Testament die Verwendung seines Vermögens für Renten, die armen Knaben zur Erlernung eines Handwerks, bedürftigen Studenten sowie der Aussteuer junger Mädchen zukommen sollten. Vgl. Beutner, Jugend- und Volksschriften (wie Anm. 15), S. 18; vgl. auch (Friedrich Deinl), P. Aegidius Jais – nach Geist und Leben geschildert von einem seiner Freunde, MünchenRegensburg 1826; Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich Bd. 10, Wien 1863, S. 50–54; Brüggemann, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (wie Anm. 19), Sp. 1391 f. Aegid Jais, Valter und Gertraud, für das Landvolk auf dem Lande geschrieben, Salzburg 1809. Vgl. auch Susanne Pellatz, Pubertätslektüre für Mädchen am Ende des 18. Jahrhunderts. Der „väterliche Ratgeber“, in: Dies., Gisela Wilkending (Hg.), Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Weinheim-München 1997, S. 35–50, hier S. 36. Ägidius Jais, Gebethbuch für gottesfürchtige Mütter, das auch erwachsene Töchter größten Teils gebrauchen können, Salzburg 1812. Mathias Rumpler wurde 1794 zum Priester geweiht und begann seine seelsorgliche Tätigkeit im Land Salzburg. Vgl. Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950 Bd. 9, Wien 1988, S. 327; Peter F. Kramml, Das Kollegiatstift Seekirchen – Gründung und Geschichte, in: Dopsch, Seekirchen (wie Anm. 13), S. 409–426, hier S. 417 und S. 426. Zu den genannten Schriften zählen Mathias Rumpler, Anleitung zur sittlichen Erziehung der Kinder bis zu den Jahren, da sie schulfähig werden, Salzburg 1800; ders., Christliche Sittenlehre für Kinder, ehe sie aus der Schule treten, Salzburg 1802; vgl. Beutner, Jugend- und Volksschriften (wie Anm. 15), S. 18; Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich Bd. 27, Wien 1874, S. 261. Maier, Sittenlehre (wie Anm. 31), S. 137.

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Vierthaler, Goldner Spiegel (wie Anm. 22), S. 12. Ebd., S. 10 f. Jais, Valter und Gertraud (wie Anm. 33), S. 212. A loys Maier, Der Jugendfreund. Ein Lehr- und Lesebuch für die obere Klasse der Volksschulen, München 1819, S. 58. Rumpler, Sittenlehre (wie Anm. 36), S. 38 f. Vierthaler, Goldner Spiegel (wie Anm. 22), S. 16 f. Ägidius Jais, Guter Samen auf ein gutes Erdreich. Ein Lehr- und Gebetbuch sammt einem Haus- und Krankenbüchlein für gutgesinnte Christen, besonders fürs liebe Landvolk, neue Ausgabe Hildesheim 1817, S. 265: Eine christliche Ehefrau sollte immer reinlich, säuberlich und sittsam gekleidet sein. Vierthaler, Goldner Spiegel (wie Anm. 22), S. 20. Ebd., S. 54 f. Jais, Lehr- und Gebetbuch (wie Anm. 44), S. 254 f. Ders., Valter und Gertraud (wie Anm. 33), S. 121. Ders., Lehr- und Gebetbuch (wie Anm. 44), S. 254. Ebd., S. 255. Vierthaler, Goldner Spiegel (wie Anm. 22), S. 23. Jais, Lehr- und Gebetbuch (wie Anm. 44), S. 271. Ders., Bemerkungen über die Seelsorge, besonders auf dem Lande, Salzburg 41835, S. 239. Vierthaler Goldner Spiegel (wie Anm. 22), S. 18 f. Ägidius Jais, Schöne Geschichten und lehrreiche Erzählungen zur Sittenlehre für Kinder, und wohl auch für Erwachsene, Salzburg 241841, S. 57–60. Maier, Sittenlehre (wie Anm. 31), S. 87 f. Vierthaler, Goldner Spiegel (wie Anm. 22), S. 49. Ebd., S. 6. Ebd., S. 49. Ebd., S. 45. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 54. Ebd., S. 49. Ebd., S. 43. Ebd., S. 51. Rumpler, Sittenlehre (wie Anm. 36), S. 36. Maier, Sittenlehre (wie Anm. 31), S. 132 f. Jais, Gebetbuch für gottesfürchtige Mütter (wie Anm. 35), S. 66. Ebd., S. 64; vgl. auch ders., Lehr- und Gebetbuch (wie Anm. 44), S. 265. Im alten Katalog der Universitätsbibliothek Salzburg ist der Ratgeber des protestantischen Pädagogen in der 1790 in Wien erschienenen Ausgabe auch vorhanden; zu Campe vgl. u. a. Pia Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800, in: Elke Kleinau, Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung Bd. 1 (Vom Mittelalter zur Aufklärung), Frankfurt-New York 1996, S. 327–345, hier S. 331 f.; Dagmar Grenz, Von der Nützlichkeit und der Schädlichkeit des Lesens. Lektüreempfehlungen in der Mädchenliteratur des 18. Jahrhunderts, in: Dies., Wilkending, Geschichte der Mädchenlektüre (wie Anm. 34), S. 15–34, hier S. 22–28. Jais, Lehr- und Gebetbuch (wie Anm. 44), S. 265. Ders., Valter und Gertraud (wie Anm. 33), S. 121 f. und S. 134 f. Ebd., S. 168, vgl. auch S. 19–21.

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106 C  laudia Ulbrich, Frauenarmut in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 40 (1992), S. 108–120, hier S. 116; Brigitte Schnegg, Armut und Geschlecht, in: Anne-Lise Head, Brigitte Schnegg (Hg.), Armut in der Schweiz (17.–20. Jahrhundert) (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 7 H. 7), Zürich 1989, S. 9–17, hier S. 13 f.; Michael Mitterauer, Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Österreich, München 1983. 107 Jutta Baumgartner, „… zeige an, daß ich mich fleischlich verbrochen habe“. Das Fornikationsprotokoll des Stadtgerichts Salzburg (1795–1804), in: Salzburg Archiv 32 (2007), S. 209–226, hier S. 214; Sabine Fuchs, Sexualität auf dem Land. Normen und Alltag im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Lucia Luidold, Romana Rotschopf, Alfred Winter, Sabine Fuchs (Hg.), Frauen in den Hohen Tauern. Vom Korsett zum Internet, Neukirchen 1998, S. 123–148, hier S. 135; Rainer Beck, Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning, 1671–1770, in: Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983, S. 112–150, hier S. 126; Stefan Breit, „Leichtfertigkeit“ und ländliche Gesellschaft (Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 23), München 1991, S. 52. 108 Veits-Falk, Armut (wie Anm. 100), S. 39–42; Baumgartner, Fornikationsprotokoll (wie Anm. 107), S. 214; Alfred Rinnerthaler, Der politische Ehekonsens im Herzogtum Salzburg, in: Salzburg in Geschichte & Politik. Mitteilungen der Dr.-Hans-Lechner-Forschungsgesellschaft 2 (1992) Nr. 3/4, S. 259–304; Peter Klammer, In Unehren beschlaffen. Unzucht vor kirchlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Salzburger Lungau (Wissenschaft und Religion 7), Frankfurt 2004, S. 314 und S. 318. 109 Baumgartner, Fornikationsprotokoll (wie Anm. 107), S. 220; Veits-Falk, Doppelmoral und Armut (wie Anm. 4), S. 9. 110 Judas Thaddäus Zauner (Hg.), Auszug der wichtigsten hochfürstl(ichen) Salzburgischen Landesgesetze zum gemeinnützigen Gebrauch nach alphabetischer Ordnung, Salzburg 1785, S. 282, Nr. 30. 111 A rchiv der Stadt Salzburg, BU 1.469, Fornikationsprotokoll 1795–1804; Baumgartner, Fornikationsprotokoll (wie Anm. 107), S. 220 f. 112 Klammer, In Unehren beschlaffen (wie Anm. 108), S. 331. 113 Vgl. Ellinor Forster, „Unzucht“ und „Ketzerey“ in Uttendorf. Sozialgeschichte eines Dorfes am Beispiel zweier „Delikte“ des 18. Jahrhunderts, in: Salzburg Archiv 28 (2002), S. 85–128, hier S. 101; Gerhard Ammerer, „… als eine liederliche Vettel mit einem ströhernen Kranz zweymahl ofentlich herum geführet …“. Zur pönalisierten Sexualität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand Salzburger Kriminalrechtsquellen, in: Daniela Erlach, Markus Reisenleitner, Karl Vocelka (Hg.), Privatisierung der Triebe? Sexualität in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1994, S. 111–150, hier S. 131. 114 Forster, Unzucht (wie Anm. 113), S. 106 f. 115 Gabriele Habring-Enko, Illegitimität im Land Salzburg 1750–1904. Eine statistische Erhebung. Diplomarbeit, Salzburg 2005. 116 Der Dienstbotenmangel resultierte noch immer aus der Vertreibung von über 20.000 Protestant/inn/en vor allem aus den Salzburger Gebirgsregionen von 1732/33. 117 SLA, HS 48, Gutachten das Landalmosenwesen betreffend (1773), p. 14. 118 Sabine Kienitz, Geschäfte mit dem Körper. Sexualmoral und Überlebensstrategien von Frauen aus der Unterschicht Anfang des 19. Jahrhunderts in Württemberg, in: Historische Anthropologie 3 (1995) H. 3, S. 433–459, hier S. 453 f.; Ute Frevert, Weibliche Ehre, männliche Ehre. Das kulturelle Kapital der Geschlechter in der Moderne, in: Dies., „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 166–222; Lyndal Roper, „Wille“ und „Ehre“. Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen, in: Heide Wunder, Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt 1991, S. 180–197, hier S. 191. 119 A ls Einlage bezeichnete man das Quartierwechseln meist alter, arbeitsunfähiger Menschen, die auf einzelnen Höfen für unterschiedlich lange Zeit Unterkunft und Verpflegung gegen leichte Arbeiten, so fern sie dazu im Stande waren, erhielten. Die zeitliche Dauer richtete sich nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Hofes. Vgl. dazu Sabine Veits-Falk, Armut an der Wende zum Industriezeitalter, in: Ernst Bruckmüller (Hg.), Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs (Ös-

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terreich Archiv. Schriftenreihe des Instituts für Österreichkunde), Wien-München 2010, S. 89–112, hier S. 107 f.; Gerhard Ammerer, Zur Versorgung von alten, arbeitsunfähigen Personen auf dem Lande – Überlegungen und Hinweise zu kommunalen Defiziten von Regionalbeamten und Betroffenen, in: Helmut Bräuer (Hg.), Arme – ohne Chance? Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ vom 23. bis 25. Oktober 2003 in Leipzig, Leipzig 2004, S. 159–190; Sabine Veits-Falk, Öffentliche Armenfürsorge in Bischofshofen. Von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Fritz Hörmann (Hg.), Chronik Bischofshofen Bd. 1, Bischofshofen 2001, S. 323–338, hier S. 331–334; Peter Klammer, Auf fremden Höfen: Anstiftkinder, Dienstboten und Einleger im Gebirge (Damit es nicht verlorengeht ... 26), Wien-Köln-Weimar 1992, S. 191 f. Vgl. Helmut Bräuer, Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1600–1800, Leipzig 2008, S. 46 f.; ders., „Bettelweiber“ in Obersachsen während der frühen Neuzeit, in: Sächsische Heimatblätter 40 (1994) H. 5, S. 263–268, hier S. 266; Ulbrich, Frauenarmut (wie Anm. 106), S. 111; Inga Brandes, Katrin Marx-Jaskulski, Armut und ländliche Gesellschaften im europäischen Vergleich – eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850–1930. Poor Relief and Charity. Rural Societies in Europe, 1850–1930 (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 11), Frankfurt 2008, S. 9–46, hier S. 25–27. A ls Quellen dienten: Stiftsarchiv Seekirchen, KC 35/17, Armen=Versorgungs=Listen 1833/34, 1841/42, 1848/49; Pfarrarchiv Golling, Fasz. 16, Ausweis über die mit Geld unterstützten Personen bei dem Lokal=Armenfonde 1837/38, 1841/42, 1845/46; Dekanatspfarrarchiv Tamsweg, Bestand St.-Barbara-Spital, Qualification und Classification der Markt-Armen 1826, Armenregister des Pfarrbezirks Tamsweg 1827/28; vgl. Veits-Falk, Armut (wie Anm. 100), S. 64 f. Ebd., S. 61 f. und S. 67. Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29), Wien-München 2003, S. 341–344. Pfarrarchiv Wagrain, Karton 8/5, Leumundszeugnis vom 18. November 1842; vgl. dazu auch Sabine Veits-Falk, Frauen, die Anstoß erregten. Unangepasste Salzburger Unterschichtsfrauen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Gerhard Ammerer, Christian Rohr, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch, Wien-München 2001, S. 350–361, hier S. 350–352. Stiftsarchiv Seekirchen, KC 35/16, Armen-Personal und Versorgung; Veits-Falk, Armut (wie Anm. 100), S. 73 f.; Gerhard Ammerer, Sabine Veits-Falk, (Über-)Leben auf der Straße. Das 18. und 19. Jahrhundert, in: Sylvia Hahn, Nadja Lobner, Clemens Sedmak (Hg.), Armut in Europa 1500–2000 (Querschnitte 25), Innsbruck-Wien-Bozen 2010, S. 140–161, hier S. 143. Helmut Bräuer, Frauenarmut, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 3, Stuttgart-Weimar 2006, Sp. 1106–1108, hier Sp. 1106. Holger Rust, Lob der Eitelkeit, in: manager magazin 2002 H. 12, S. 24. Ueber Aufklärung, Gelehrsamkeit und Cultur der Weiber, in: Salzburger Intelligenzblatt 4. April 1795, S. 2. Vgl. Karin Heitzmann, Frauenarmut in Österreich: Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Armutspopulation, in: Dies., Angelika Schmidt (Hg.), Wege aus der Frauenarmut (Frauen, Forschung und Wirtschaft 14), Frankfurt 2004, S. 59–74, hier S. 63–65: Das Risiko aufgrund des Einkommens zu verarmen, liegt bei Frauen auf dem Land bei 14 %, bei Männern auf dem Land bei 10 % (in der Stadt 11 % Frauen und 6–8 % Männer); dies., Michaela Moser, Frauenarmut: Ursachen und Perspektiven, in: Heimat, bist du reicher Töchter? Frauenarmut in Österreich (edition:menschlichkeit 2), Salzburg 2005, S. 73–84. V  gl. Dagmar Aigner, frauen.armut-bericht, Salzburg 2002; Christa Schlager, Soziale Ungleichheit und Armut aus Geschlechterperspektive, in: Nikolaus Dimmel, Karin Heitzmann, Martin Schenk (Hg.), Handbuch Armut in Österreich, Innsbruck 2009, S. 127–137.

Armut und Armenfürsorge im frühneuzeitlichen England: Das Beispiel der Grafschaft Essex Sebastian Schmidt

Einleitung Der folgende Beitrag hat die ländliche Armut in England zum Thema. Als Fallbeispiel wurde hier die Grafschaft Essex gewählt, weil sie durch verschiedene Arbeiten hinsichtlich der Armutsthematik als gut untersucht gelten darf und dies die Voraussetzung dafür ist, die Vielschichtigkeit von Armut und Fürsorge im frühneuzeitlichen England deutlich zu machen1. Es gilt dabei einerseits zu zeigen, dass nicht nur derjenige tatsächlich arm war, der auch öffentliche Unterstützung erhielt, sondern dass die Anzahl bedürftiger Personen weitaus größer war. Zum anderen sollen anhand von exemplarisch ausgewählten Beispielen nicht nur die Gründe für die Armut sowie der Umgang mit der jeweiligen Lebenssituation dargestellt werden, sondern damit verbunden auch die vielfältigen Formen von Hilfe, Selbsthilfe und Fürsorge aufgezeigt werden, die erst zusammen gesehen Urteile über das frühneuzeitliche Armenwesen erlauben. Diese Ergebnisse bieten darüber hinaus die Möglichkeit, das Besondere des englischen Fürsorgesystems deutlich zu machen. So soll auf Spezifika hingewiesen werden, die bei einem systematischen Vergleich mit der frühneuzeitlichen Fürsorge im Heiligen Römischen Reich beachtet werden müssten. Zunächst sollen jedoch die Verhältnisse in Essex knapp in den Gesamtkontext der Entwicklung des englischen Fürsorgewesens eingeordnet werden2.

Rahmenbedingungen Die englische Fürsorgegesetzgebung in der Frühen Neuzeit Die Neugestaltung des englischen Fürsorgewesens in der Frühen Neuzeit erfolgte in mehreren Schritten. Eine markante Veränderung setzte nach dem Bruch mit der römischen Kirche in den 1530er-Jahren ein. Ging es 1531 noch vor allem um die Bestrafung und Heimsendung von Vaganten sowie die Erlaubnis für „würdige“ Arme (deserving poor) in der Gemeinde um Almosen zu betteln, so bedeutete das Armengesetz von 1536 eine wirkliche Neuerung3. Die Pfarrgemeinden (Parishes) hatten nun die Versorgung der arbeitsunfähigen Armen, der impotent poor, zu leisten. Für diesen Zweck wurden die Gemeinden dazu verpflichtet, wöchentliche Almosensammlungen durchzuführen. Die Fürsorgegelder sollten zentral in einer gemeinsamen Kasse gesammelt und kontrolliert verausgabt wer-

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den4. Dabei hatten Amtsträger der Gemeinde über die Ausgaben genau Buch zu führen. Die Bettelei sowie die unkontrollierten privaten Almosengaben waren hingegen abzuschaffen sowie Müßiggänger und Vagabunden zu bestrafen und in Arbeit zu bringen. Das Bemühen um Letzteres führte zwischenzeitlich zu einem Gesetz, das 1547 erlassen wurde und das im ersten Wiederholungsfall eine zweijährige Versklavung und beim zweiten Mal die Hinrichtung von Vagabunden vorsah. Dieser Ansatz wurde allerdings drei Jahre später wieder fallengelassen, weil er sich als unpraktikabel erwies5. Ab dem Jahr 1552 sollten die Armen jeder Gemeinde zur Feststellung ihres Bedarfs in Registern verzeichnet werden. Die Weigerung einzelner Personen, Spenden zum Erhalt der Armen beizusteuern, hatte zur Folge, dass diese zunächst dem Bischof, von 1563 an aber den Friedensrichtern (Justices of the Peace) gemeldet wurden6. Der Aufforderung zu einer gewissenhaften Buchführung und Spendenmeldung folgte allerdings erst mit dem Jahr 1572 der Erlass eines Gesetzes, das nun den Friedensrichtern die Aufgabe übertrug, diese zu kontrollieren. Zugleich verbot man endgültig das lizenzierte Betteln. Wichtig ist dabei die Einführung des Overseer-Amtes. Den Overseers of the Poor sollte künftig die praktische Umsetzung der Fürsorge anvertraut werden, wobei zwei bis vier Overseers pro Gemeinde vorgesehen waren. Zunächst war der Verantwortungs- und Kompetenzbereich dieser Amtsträger jedoch nicht klar genug festgelegt. Mit dem Statut von 1598 wurde dann aber schließlich eindeutig klar gemacht, dass innerhalb der Gemeinde allein die Churchwardens und Overseers künftig die Belange der Fürsorge zu regeln hatten. Zu diesem Zweck bekamen sie das Recht zugesprochen, die Bürger hinsichtlich ihres Vermögens einzuschätzen sowie die davon abhängigen Abgaben selbst einzuziehen7. Zudem gehörte es zu ihren Aufgaben, Kinder armer Eltern in eine Lehre sowie Erwachsene ohne Beschäftigung in ein Arbeitsverhältnis zu bringen. Die verschiedenen Gesetze und Bestimmungen hinsichtlich der Fürsorge wurden vor allem in dem Gesetz Elisabeths I. von 1601, dem Poor Law Act, nochmals zusammengeführt und festgeschrieben. Als so genanntes Old Poor Law bildeten die hier getroffenen Bestimmungen den Rahmen der Fürsorgegesetzgebung bis 1834. Den zentralen Punkt dieses Fürsorgesystems stellte das Recht der Gemeinden zur Erhebung einer regulären Armensteuer dar, die dem Erhalt der ortseigenen Armen dienen sollte. Wie im Heiligen Römischen Reich waren damit auch in England zunächst zwei Kriterien für die Almosenvergabe maßgebend: Zum einen die Arbeitsunfähigkeit, zum anderen das Kriterium der Zugehörigkeit zur Gemeinde8. Müßiggänger sollten demnach bestraft und fremde Arme in ihre Heimatgemeinde zurückgeschickt werden. Eine offene Frage blieb jedoch, wer eigentlich genau zur Gemeinde zu zählen, also zu unterstützen war, und wer nicht. In England wurde dies in dem Poor Relief Act von 1662, dem so genannten Settlement Act geregelt9. Wenn man nicht nachweisen konnte, dass man seine Niederlassung in der Gemeinde hatte (legally settled), musste man über ein gewisses Vermögen verfügen, um nicht der Gefahr zu unterliegen, ausgewiesen zu werden. Wer über zehn Pfund an Eigenkapital im Jahr nachweisen konnte – z. B. indem er glaubhaft machen konnte, diesen Betrag als Mietzins für ein Haus auszugeben –, bekam damit auch auf Verlangen das Settlement in

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der Gemeinde zugesprochen. Alle anderen Personen durften bis 1795 bereits dann ausgewiesen werden, wenn der Verdacht bestand, dass sie unterstützungsbedürftig werden könnten (likely to become chargeable). Im Jahr 1692 wurde allerdings die Möglichkeit erleichtert, in der Gemeinde ein Settlement zu erwerben: durch den Nachweis eines Lehrvertrages oder eines einjährigen Dienstverhältnisses als Servant oder indem man sich an der Zahlung der lokalen Steuer (Rates) beteiligte10. Im Jahr 1697 billigte man zumindest den Personen, die einen Ausweis ihrer Heimatgemeinde besaßen, zu, dass sie erst dann abzuschieben seien, wenn sie tatsächlich bedürftig wurden und um Unterstützung nachsuchten und nicht bereits im Vorfeld auf den bloßen Verdacht hin. 1795 übernahm man diese Regelung schließlich für alle Personen. Außerdem war im Jahr 1782 mit dem Gilbert’s Act den Gemeinden die Möglichkeit eingeräumt worden, Unions zu bilden, um gemeinsame Versorgungsanstalten für die arbeitsunfähigen Armen einzurichten. So konnten die Kosten für Einrichtungen wie z. B. Workhouses zwischen mehreren Gemeinden aufgeteilt werden. Die Unterstützung mittels öffentlicher Fürsorgegelder bildete allerdings in der Fürsorgehierarchie die letzte Stufe und kam überhaupt nur dann in Frage, wenn alle anderen Möglichkeiten der Hilfe ausgeschöpft waren. Neben der Verpflichtung der arbeitsfähigen Armen zur Arbeit bestand so z. B. eine gegenseitige Fürsorgepflicht innerhalb der Familie zwischen Eltern, Kindern und Großeltern. Gelder wurden meist nur als Zuschüsse zu anderen Einkommen gezahlt. Im Speenhamland-System von 1795 wurde diese Art der Hilfe systematisch an die Höhe der jeweiligen Lebensmittelpreise und die Familiengröße rückgebunden11. Vor allem in Folge des Seekrieges mit Frankreich sowie Ernteeinbrüchen waren die Weizenpreise enorm angestiegen. Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege war es wiederum zu einem starken Überschuss an Arbeitskräften gekommen, so dass die Löhne stark zurückgingen. Die Folgen dieser Entwicklungen versuchten die Gemeinden durch das Speenhamland-System kurzfristig abzumildern, wobei die einzelnen Gemeinden entscheiden konnten, ob sie es einführten oder nicht. Das System der familien- und preisgebundenen Lohn-Zuzahlungen (Allowance) wurde vor allem in den südenglischen Gemeinden praktiziert. Es führte allerdings auch dazu, dass von den Arbeitgebern von vorneherein niedrigere Löhne gezahlt wurden. Wie Untersuchungen zu Gemeinden der Grafschaft Essex zeigen konnten, passte sich die Höhe der Unterstützungsgelder dabei sehr rasch fallenden Weizenpreisen an, so dass auch in den Gemeinden, die das Speenhamland-System anwandten, die Fürsorgeausgaben nicht auf dem kurzfristig erhöhten Niveau verblieben, sondern sich denen der anderen Gemeinden anglichen12. Ab 1818 stand den Gemeinden ebenfalls frei, so genannte Select Vestries als ständige Ausschüsse der Armenpflege einzurichten, denen nun hauptberufliche Assistant-Overseers beigeordnet wurden. Außerdem durften sie für die Gemeinde Workhouses bauen und Arme hier zur Arbeit anhalten. Dies führte zu einer enormen Zunahme der Workhouses in England und Essex, die bis dahin nur eine untergeordnete Rolle in der Praxis der ländlichen Armut gespielt hatten. Vor allem für die arbeitsunfähigen Armen, die Waisen, kranken und alten Armen stellten die Workhouses eine Versorgungsmöglichkeit dar13. Die meisten Fürsorgegelder wurden jedoch in der Unterstützung der Armen außerhalb dieser Institution ausgegeben. So belief

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sich der Anteil des Out-door Relief in der Gemeinde Braintree von 1790 bis zur Einführung der neuen Fürsorgegesetzgebung 1834 auf zwischen 80–95 %14.

Die Grafschaft Essex In Essex lebten um 1700 etwa zwei Drittel der gesamten Einwohner der Grafschaft auf dem Land. Die Ortschaften waren im Durchschnitt eher klein: Nur 25 % der Gemeinden hatten mehr als 300 Einwohner15. In dem Gebiet um Colchester herum wurde auf den Farmen extensiv Getreide angebaut. Neben der Landwirtschaft war Essex vor allem durch die Tuchindustrie bekannt, die allerdings im Verlauf des 18. Jahrhunderts schwere Einbrüche erlitt. Gerade die Grafschaft Essex bekam deren Niedergang deutlich zu spüren. Insgesamt kann nach Brown die Landbevölkerung in Essex als recht mobil bezeichnet werden. Bei Untersuchungen von Familienwanderungen einzelner Ortschaften stellte sich heraus, dass ca. zwei Drittel der Familien nicht länger als 20 Jahre an einem Ort verbrachten16. Die noch bei Brown getroffene Annahme, dass demgegenüber die arme Bevölkerung weniger mobil gewesen sei, da die Settlement Regulations generell ihre Bewegungen eingeschränkt hätten, gilt dabei mittlerweile als widerlegt17. Im Gegenteil, bereits in jungen Jahren mussten viele ärmere Kinder ihre Heimatgemeinde verlassen, da sie als Farmarbeiter oder Dienstmägde an andere Gemeinden abgegeben wurden. Einige Parishes zahlten sogar Gelder an arme Einwohner, wenn sie sich in anderen Gemeinden – und sei es nur im Nachbarort – eine Arbeit suchten18. Kinder galten ab dem siebten Lebensjahr als reguläre Arbeitskräfte, die Geld verdienen konnten19. Mit über zwölf Jahren begann gewöhnlich das Leben als Farmarbeiter. In den ärmsten Familien verblieben die Jungen aufgrund des Arbeitskräfteüberschusses zu Beginn des 19. Jahrhunderts jedoch teils auch länger in den Familien, als dies im Durchschnitt der Fall war. Dies geschah nicht, um das Familieneinkommen zu steigern, sondern aus dem Mangel an Arbeitsmöglichkeiten20. Neben den meist adeligen Gutsherren unterteilten sich die Gemeinden grob in Händler, Farmer und Arbeiter. Letztere wurden meist als Cottager bezeichnet, da sie nicht auf der Farm selbst lebten, sondern eigene kleine Häuser bzw. Hütten besaßen und nur zur Arbeit auf die Farm gingen. Dass man diese Personen trotz ihres Hausbesitzes als „arm“ bezeichnen kann, daran gab es bereits unter den Zeitgenossen kaum Zweifel, denn in einigen Orten waren gerade einmal 2 % dieser Cottagebesitzer als Steuerzahler erfasst, die anderen hatten dafür einfach zu wenig Geld. In Landesbeschreibungen liest man entsprechend von kleinen Hütten mit undichten Dächern und herausgebrochenen Fenstern, vor denen spinnend arme Kinder und Frauen ihren Tag verbrachten21. Die Bewohner wurden bereits in zeitgenössischen Quellen als arm bezeichnet, selbst wenn ihnen in keiner Weise durch die Fürsorge Hilfe zuteil wurde. So hieß es z. B. zu den Farmern in Wennington, dass sie in ihrer Arbeit durch some poor persons in a cottage or two 22 unterstützt würden. Dieses Verhältnis von einem Farminhaber zu zwei Farmarbeitern entspricht in etwa dem Durchschnitt, denn um 1700 arbeiteten auf einer Farm ca. zwei bis drei Arbeiter. Von der männlichen arbeitenden Bevölkerung war der

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Großteil in der Landwirtschaft beschäftigt. Der durchschnittliche Lohn eines Farmarbeiters lag in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei etwa sechs Schilling die Woche und bei bis neun Schilling die Woche zu Ende des 18. Jahrhunderts, wobei die Arbeiter im Winter in der Landwirtschaft oft mehrere Monate ohne jedes Farmeinkommen auskommen mussten23. Über das Jahr wird für die Farmarbeiter im 17. Jahrhundert mit einem Lohn von ca. neun Pfund gerechnet24. Für die 1790er-Jahre konnte ein Tagelöhner auf dem Land bei ganzjähriger Beschäftigung immerhin auf einen Lohn von 23 Pfund im Jahr kommen. Bis ins Jahr 1804 stieg die Grenze des im besten Fall zu erzielenden jährlichen Einkommens sogar auf 34 Pfund an25. Diese Einnahmen konnten jedoch nur ca. 75 % der Ausgaben eines Ehepaars mit zwei Kindern decken26. Spinnen war daher für viele arme Familien ein wichtiges Zusatzeinkommen. Colchester als ein Zentrum der Tuchindustrie gab in den umliegenden Landgemeinden der Grafschaft Essex noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts ca. 10.000 Spinnern Arbeit, die vor allem von Frauen geleistet wurde27. Frauen arbeiteten im Sommer außerdem bei der Heu- und Kornernte mit. In Nordessex stellten sie bei der Saisonarbeit der Hopfenernte die meisten Personen28. Bereits in sehr jungen Jahren halfen Kinder nach Hindle ebenso beim Kardieren, d. h. dem Kämmen und Ausrichten von Wolle, dem Jäten von Unkraut auf dem Feld oder im Garten, beim Steinesuchen oder auch beim Vertreiben der Vögel, damit diese nicht der Saat oder der Ernte schaden konnten29. Die „Ökonomie des Notbehelfs“30, wie sie für die ländliche Armut in der Frühen Neuzeit kennzeichnend ist, erstreckte sich aber nicht nur auf die Annahme mehrerer Lohnarbeiten. Geradezu als Gewohnheitsrecht sahen die weiblichen Armen die so genannte „Nachernte“ an, im Englischen als gleaning bezeichnet31. Früchte, die bei der Ernte oder bereits vorher durch Sturm oder Regen auf den Boden gefallen waren, wurden von den Armen aufgesammelt. Dass diese Sammlungen einen beträchtlichen Wert annehmen konnten, ist mehrfach belegt. 1791 hieß es nach der Untersuchung von Brown etwa, dass 200 gleaning Families bei dem Ort Dunmow Weizen im Wert von 400 Pfund eingesammelt hätten. Umgerechnet sind dies zwei Pfund für die Nachlesearbeit einer Familie32. Arbeiten zu Suffolk und Norfolk zeigen, dass hier das gleaning allerdings meist nicht mehr als ein Pfund zum Gesamteinkommen der Familien beigetragen hat33. Brown selbst weist in diesem Zusammenhang auf einen Fall hin, in dem ein Farmer, der die Nachlese im Jahr zuvor selber gemacht hatte, einen anonymen Drohbrief zugeschickt bekam, in welchem er für den Wiederholungsfall mit Brandstiftung bedroht wurde34. Diese überaus eindrucksvolle Quelle zeugt nicht nur von der existentiellen Not der ländlichen Armen sowie der Bedeutung derartiger Nebeneinkünfte, sondern auch von ihrem Selbstbewusstsein und ihrem Sinn für eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit, denn weiter heißt es hier, dass sich der Gutsbesitzer ihrer Rache sicher sein solle, denn sie hätten bereits genug gelitten. Eine andere wichtige Erwerbsquelle stellte für die Armen der Wald dar. Bot er zum einen die Möglichkeit, Tiere zu mästen und Nahrungsmittel zu sammeln, war er darüber hinaus vor allem als Brennholzlieferant von großer Bedeutung. Schätzungen zufolge kann das Recht der Brennholzentnahme mit einem Geldwert von ca. zwei bis drei Pfund im Jahr veranschlagt werden und damit mit fast einem Fünftel des durchschnittlichen Landarbei-

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tereinkommens35. Aber auch hier gingen die Waldflächen gegenüber den Ackerflächen in der Frühen Neuzeit weiter zurück, so dass die Nutzungsrechte immer restriktiver in den Gemeinden vergeben wurden. Ab 1740 begann in Essex der Niedergang der Tuchindustrie. Das betraf insbesondere die textilwirtschaftlich ausgerichteten Gemeinden im nördlichen Essex. Mit dem Rückgang der Tuchherstellung in den städtischen Zentren sank auch der Bedarf an Stoffgarn, so dass das ländliche Spinnereigewerbe zum Erliegen kam, bzw. für die Arbeit nur noch minimale Löhne gezahlt wurden. Vor allem Frauen waren in ihrem Erwerb davon betroffen, die bis zu diesem Zeitpunkt ca. zwei bis drei Pence pro Tag mit Spinnen verdienen konnten, was in etwa halb so viel war, wie Männer für diese Arbeit erhielten36. Allerdings fiel auch der Durchschnittsverdienst der Männer in den 1790er-Jahren und lag 1798 bei nur noch zwei Schilling in der Woche, wohingegen die Lebensmittelpreise enorm gestiegen waren. Dies war unter anderem auch ein Ergebnis der wachsenden Bevölkerung, die von 1766 bis 1801 um fast 60 % zugenommen hatte37. Vor allem für die armen Familien auf dem Land fiel mit dem Niedergang der Textilindustrie ein wichtiges Zusatzeinkommen weg, so dass die steigenden Lebenshaltungskosten nur noch schwer bzw. gar nicht mehr aufgebracht werden konnten. Die einzige Möglichkeit für Kinder und Frauen, zum Familieneinkommen noch etwas beizusteuern, bestand damit zumeist in der Erntehilfe. Zwar war jede noch so kleine Geldeinnahme für die Subsistenz der Familien von größter Wichtigkeit, doch konnten Frauen und Kinder zusammen in diesem Bereich nach Schätzungen gerade einmal ca. drei Pfund im Jahr hinzuverdienen38. Zur gleichen Zeit ging im Bereich der Landwirtschaft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Während sich in der Gemeinde Braintree die Anzahl der Farminhaber bzw. -pächter in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahezu halbierte, stieg die der Farmarbeiter um ca. ein Drittel an. Die vorher stark gemischte Wirtschaft in Essex aus Textilindustrie und Landwirtschaft wich nahezu völlig der Landwirtschaft, wobei der Großteil der Bevölkerung nicht der Schicht der relativ wohlhabenden Farmer, sondern der am Existenzminimum lebenden Landarbeiter zuzurechnen war.

Unterschiedliche Gruppen von Armen in der Verwaltungsüberlieferung von Essex Arme in der öffentlichen Gemeindefürsorge Welche Chancen und Möglichkeiten ergaben sich nun aber für die Armen in Essex aus der eingangs skizzierten besonderen englischen Fürsorgegesetzgebung? Hier muss man feststellen, dass es trotz der bestehenden Armensteuer keine einheitlich festgesetzten Tarife oder Normen gab, aus denen die Höhe der Unterstützung abgeleitet werden konnte. Sie richtete sich daher auch nach der Höhe des zur Verfügung stehenden Geldes und nicht nur nach der Bedürftigkeit. Die Spanne reichte um 1700 in Essex von 15 bis 55 Pence, die pro Kopf der Bevölkerung jährlich in den Gemeinden für Fürsorge ausgegeben wurden; der

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Durchschnitt lag bei ca. 24 Pence39. Die Chance auf Unterstützung war nicht nur durch die wirtschaftliche Lage von Gemeinde zu Gemeinde höchst unterschiedlich, sondern auch von der Einstellung der jeweiligen Vestry – das heißt der Gemeindevertretung – abhängig. Die Gemeindeversammlung wählte meist unter den wohlhabenden Steuerzahlern die Amtsträger der Overseers of the Poor und die Kirchenvorsteher (Churchwarden)40. Bei diesen lag es letztlich, wer zur Fürsorge zugelassen und wer abgeschoben wurde. Zugleich waren sie als die größten Landbesitzer auch die einflussreichsten Arbeitgeber in der Gemeinde41. Sie wurden zwar in ihrer Amtsführung von den Justices of the Peace kontrolliert, die bei Klagen häufig die Position der Armen bezogen, doch wurde ihre zentrale Stellung in den Gemeinden dadurch kaum beeinflusst. Die Overseers achteten zudem allein schon aus Eigeninteresse als große Steuerzahler darauf, dass die Anzahl der zu unterstützenden Armen in der Gemeinde nicht zu groß wurde. So gaben sie Waisenkinder bereits mit acht Jahren als Farmarbeiter an andere Gemeinden ab, damit sie dort das Wohnrecht erwarben und nicht zu befürchten stand, dass sie die eigene Kasse als Erwachsene belasten würden. Die Fürsorge aus der Armensteuer stellte für viele Familien einen bedeutenden Posten im Jahreseinkommen dar. In der ländlichen Gemeinde Ardleigh wurden z. B. im Jahr 1796 insgesamt 1.234 Pfund an die Armen gezahlt42. Im Durchschnitt erhielt damit jeder Arme eine Zuwendung von 2,25 Pfund im Jahr. Entsprechend der durchschnittlichen Haushaltsgröße bekamen die Armen somit ca. 13 Pfund zu ihrer Unterstützung pro Haushalt. Insgesamt waren in diesem Jahr – das man im Vergleich durchaus als Krisenjahr werten kann – 44 % der Bevölkerung der Gemeinde arm, das heißt, sie gehörten zu Haushalten, die von der Gemeinde mit Hilfsgeldern unterstützt wurden43. Aber auch in den Jahren nach der akuten Krise sank der Prozentsatz normalerweise nicht unter 25 %. So waren in der Marktstadt Braintree 1821 ca. ein Viertel der Haushalte von Unterstützung abhängig44. Im Jahr 1802 bekamen die Armen hier mit drei bis vier Pfund im Jahr im Durchschnitt etwas mehr pro Kopf gezahlt als in Ardleigh45. Trotz der Settlement-Regelungen zogen viele arme Arbeiter in die Gemeinden, die ihnen Arbeit boten. Das Eigeninteresse der Gemeinden, möglichst wenig Arme dauerhaft versorgen zu müssen, führte schließlich dazu, dass sie die armen Arbeiter auch in anderen Gemeinden weiter unterstützten; immer in der Hoffnung, dass sie dort einfacher Arbeit fänden. Für die ländliche Armut brachte somit eine Lockerung der Ausweisebestimmungen im Zusammenspiel mit dem Anspruch auf Unterstützung eine Verbesserung ihrer Lage. Vor allem die Armen, die nicht in ihrer Heimatgemeinde lebten und somit nicht einfach mündlich mit den Gemeindebeamten kommunizieren konnten, suchten bei den Overseers bzw. der Vestry schriftlich um Unterstützung nach. Diese in beachtlichem Umfang erhaltenen Pauper Letters aus Essex, die Thomas Sokoll umfassend aufgearbeitet und publiziert hat, geben über die Situation dieser Personen Auskunft46. Die Armen forderten teils selbstbewusst von ihren Heimatgemeinden die Nachsendung von Unterstützungsgeldern. Dabei erfahren wir einiges über die Lebensläufe, die Gründe für ihre Armut sowie die verschiedenen Formen, wie sie damit umgingen und welche Hilfsmöglichkeiten sie auch außerhalb der öffentlichen Gemeindefürsorge nutzten.

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Anhand der gut untersuchten Gemeinde Braintree soll an dieser Stelle ein knapper Einblick gegeben werden, welche Informationen wir hier hinsichtlich der von der Kirchengemeinde versorgten Armen aus diesen Briefen erhalten können47. Die Beispiele sollen an dieser Stelle nur schlaglichtartig die Situation der Armen sowie ihren Umgang mit den Fürsorgeeinrichtungen beleuchten48. In den Akten werden konkrete Anlässe bzw. Gründe für die Bedürftigkeit der Schreiber bzw. ihre Bitte um Unterstützung deutlich: Es sind vor allem verschiedenste Krankheiten, wie z. B. Rheuma und Asthma-Attacken, lahme Knie und Unfälle. So sind allein in den Pauper Letters zu Braintree mit Stephen Linzell und James Smee zwei Fälle zu finden, in denen der Tritt eines Pferdes zu zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit führte. Bei Linzell, der offenbar einen komplizierten Splitterbruch seines Beines erlitt, kam hinzu, dass er für den Unterhalt von fünf Kindern aufkommen musste. Die Krankheiten oder Verletzungen wurden dabei meist von den ortsansässigen Overseers überprüft bzw. von Ärzten bestätigt. Bei Frauen war es nicht selten der Tod des Mannes, der sie als Witwen in Not geraten ließ49. In vielen Fällen war es aber nicht unbedingt die Krankheit oder Versehrtheit der Haupterwerbstätigen, die die Familien in Armut brachten, sondern Pflegefälle in der Familie. Durch die Pflegedienste kam es zum Erwerbsausfall, es brauchte zusätzliches Geld, um sich eine externe Pflege leisten zu können. So war etwa die Frau von Joseph Brand ans Bett gebunden und ihr Mann benötigte eine bezahlte Haushalts- und Pflegehilfe. Die Lage der Familie verschlechterte sich dramatisch, als er zusätzlich noch selbst einen Unfall erlitt. Die Pflege von Familienangehörigen ist auch in den Bittschriften von John Smoothy und Susan Spooner ein zentrales Thema: Während die Familie Smoothy auf eine fremde Person für die häusliche Pflege angewiesen war, pflegte Spooner die eigene kranke Schwester, die den Tod erwartete. Bei John Cardinal war die Ehefrau bereits seit sieben Jahren bettlägerig. Die Familie hatte sich auf diese Situation eingestellt, indem die Tochter die Pflege der Mutter übernahm, dadurch aber als zusätzliche Arbeitskraft ausfiel. Nur der Sohn verdiente mit drei Schilling in der Woche noch etwas zum Familieneinkommen dazu, war aber zeitweilig auch krank, so dass alle weiterer Unterstützung bedurften. William Marsh beschwerte sich bei der Heimatgemeinde darüber, dass man ihm die Unterstützungsgelder gekürzt hätte. Gerade zu diesem Zeitpunkt brauchte er aber mehr Geld, da seine beiden ältesten Söhne krank waren und – anstatt etwas zum Familieneinkommen beizusteuern – nun noch teure Arztkosten verursacht hätten. Finanzielle Belastungen entstanden aber nicht nur durch die Pflege oder medizinische Behandlung, sondern auch durch den Tod und das Begräbnis. Mary Smith schrieb 1829 an die Gemeinde, dass vor fünf Monaten ihre Kinder an den Pocken (Small Pox) erkrankt seien und schlimmes Fieber hätten. Eines ihrer Kinder sei dabei bereits verstorben. Mr. Meccup, der Overseer, hätte ihr daraufhin ein Pfund für die Beerdigung versprochen, dieses Geld sei aber nicht gezahlt worden. Sie selbst sei aber eine Witwe, die kein Geld mehr habe, um diese Kosten zu übernehmen. Sind Krankheit, körperliche Gebrechen sowie Pflege von Familienangehörigen häufig als Ursachen von Armut in den Armenbriefen zu finden, so lassen sich darüber hinaus Informationen über Einkommensverhältnisse, Besitz sowie Wohnverhältnisse und Mieten

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finden, die die Situation der Familien, ihre Lebensverhältnisse und Bedürftigkeit plastisch vor Augen führen. Da die armen Familien, die um Unterstützung bei der Vestry nachsuchten, selbst häufig kein Wohneigentum besaßen, waren sie gezwungen, einen Mietzins zu entrichten. Gerade dies war vielen Antragstellern jedoch kaum möglich. So klagten etwa John Cardinal, Thomas Cleare, Elizabeth Watty sowie George Whitaker darüber, dass sie die Miete nicht mehr zahlen konnten. Hierbei gab es jedoch große Unterschiede. Bei Watty belief sich die Miete auf zwei Pfund im Jahr, während Whitaker eine Miete von zehn Pfund im Jahr nicht zahlen konnte. Whitaker selbst verdiente in der Woche zehn bis zwölf Schilling, musste aber hohe Mietpreise in Cambridge aufbringen, um an Ort und Stelle seiner Arbeit nachgehen zu können. Bei Thomas Cleare sah die Situation hingegen wiederum wesentlich prekärer aus. Er hatte all sein Leinenzeug verkauft und nun sollte ihm auch noch der Webstuhl genommen werden. Offenbar hatte er zeitweise auch einen Jungen gegen Bezahlung der Gemeinde beschäftigt, den er aber für die 1 Schilling 6 Pence, die er in der Woche für ihn bekam, nicht erhalten konnte. Der Junge sei barfuß und er könne ihm nicht helfen, da er für sich selbst nicht genug habe. Dies bedeutet wiederum, dass 78 Schilling (3 Pfund 18 Schilling) im Jahr als ungenügende finanzielle Grundlage zum Überleben angesehen wurden50. Fehlendes bzw. mangelhaftes Schuhwerk wird häufiger in den Briefen angesprochen. Die Kosten für ein Paar werden dabei in einem Brief mit 3 Schilling 3 Pence veranschlagt. Dieser Preis erscheint noch sehr niedrig, denn aus einer Preisliste von 1825 für Armenkleidung geht hervor, dass selbst der billigste Kinderschuh nicht unter fünf Schilling zu haben war51. Für die Stiefel (high shoes) von Armen wurden demnach im Jahr 1825 12 Schilling 6 Pence gerechnet. William King, der der Verwaltung öfters eindringlich seine eigene sowie die Bedürftigkeit seiner kranken Frau schilderte und unter anderem darauf verwies, dass er verhungern müsse, wenn er keine Unterstützung bekäme, besaß nach eigenen Angaben ebenfalls nur sehr mangelhaftes Schuhwerk. Dieses habe er immer wieder geflickt, nun sei aber bei den Schuhen keine Basis mehr für weitere Flickarbeiten vorhanden. Auch seine gesamte Bekleidung sowie den Ring seiner Frau hatte er bereits weggegeben. Im April 1831 bedankte er sich für zehn Schilling, die er von der Gemeinde Braintree erhalten hatte, die aber zu wenig zum Leben seien, da er keine Kleidung habe und bereits zwölf Schilling Miete zahlen müsse. Zudem räumte er verschämt ein, dass er bereits viele Schilling Schulden habe, die er nicht zurückzahlen könne. Im Dezember bedankte er sich erneut für ein Pfund Unterstützungsgeld, das ihm zwar kurzfristig geholfen hätte, dennoch sei er weiterhin auf Hilfe angewiesen. Nun habe er auch seinen Mantel für 1 Schilling 6 Pence hergeben müssen. Dies empfand er als sehr bedrückend, da er und seine Frau an einem Poor Cold Mean Place 52 lebten und krank seien. 1832 berichtete er schließlich, dass er in eine bessere Behausung umgezogen sei. Im Oktober des Jahres folgte dann die Bitte, seinen Mantel für 2 Schilling 6 Pence wieder auszulösen. 1833 versuchte er erneut, weitere Hilfsgelder zu bekommen und informierte die Gemeinde darüber, dass er sich bei den Nachbarn bereits viel Geld geliehen habe. Die Schreiben geben somit Einblick, wie wenig an Besitz in manchen dieser armen Familien tatsächlich noch vorhanden war. Zu den Besitztümern, die

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man versuchte als Letztes zu veräußern, gehörte neben der Kleidung offenbar auch das Bettzeug53. Auch wenn die betroffenen Armen Unterstützungsgelder durch die Gemeinde für ihre Lebenshaltung erhielten, wurden diese häufig zunächst darauf verwendet, ausstehende Schulden zu bezahlen. Dies wurde in den Briefen auch offen zugegeben, wie z. B. in dem Schreiben von Edward Orwell. Er hatte bereits Geld von der Vestry bekommen, es aber sogleich wieder ausgegeben, um seine Schulden zu begleichen. So hatte er nun schon seit sechs Monaten keine Miete gezahlt und seine Familie besaß nur noch ärmliche Kleidung. Wir erfahren hier aber noch mehr über seinen Lebenslauf: Im Oktober 1831 war Edward Orwell 51 Jahre alt und hatte eine Frau, die 31 Jahre alt war. Mit dieser hatte er sieben Kinder im Alter von sieben Monaten bis 13 Jahren. Orwell war für 22 Jahre Soldat gewesen und erhielt nun eine Pension von einem Penny pro Tag (1 Pfund 10 Schilling 5 Pence im Jahr). Dann wurde er ein Watchman für weitere vier Jahre mit einem Gehalt von 13 bis 15 Schilling in der Woche (33 bis 39 Pfund im Jahr), um danach verschiedenen, öfter wechselnden Arbeiten nachzugehen. Von der Pension allein konnten er und seine Familie im Krankheitsfall nun aber nicht leben. Bei John Spearman erfahren wir wiederum, wie mit diesen Hilfsgeldern verfahren wurde. So bedankte er sich von London aus im Jahr 1833 für zwei Pfund Unterstützungsgeld, die er erhalten hatte. Offenbar hatte seine Frau von der Zahlung nichts erfahren, denn er führte in dem Brief entschuldigend aus, dass es Gründe dafür gebe. Er hatte sich bei einem Freund 18 Schilling geliehen, die er nun zuerst bezahlen müsse. Neun Schilling zahlte er an Schulden dem Bäcker zurück, von dem er das Brot bekommen hatte. Dies waren bereits 27 Schilling von den zwei Pfund, so dass er insgesamt nur noch im Besitz von 14 Schilling gewesen sei, von denen er in den letzten zwei Wochen fünf Schilling ausgegeben habe, um Essen für seine Frau und die Kinder zu kaufen. Für die restlichen neun Schilling wollte er nun versuchen, als Händler tätig zu werden. Hätte er seiner Frau gesagt, dass er im Besitz des Geldes sei, – so Spearman ­– wäre es umgehend für seine Mietschulden verausgabt worden, da sie so ängstlich darum bemüht sei, die Miete zu bezahlen. Hier wird einerseits die „Ökonomie des Notbehelfs“ vor Augen geführt, in die die Hilfsgelder der Gemeinde bei den Armen eingepasst war, zum anderen aber auch eine unterschiedliche Hierarchisierung der Notwendigkeiten bei den Betroffenen selbst. Legte der Mann offenbar mehr wert auf den Erhalt seiner Kreditwürdigkeit und den Beginn eigener Kleingeschäfte, war der Frau mehr an der Begleichung der Mietschuld und der vermutlich damit verbundenen Abwehr drohender Obdachlosigkeit gelegen. Aus den Briefen von Maria Godfry geht hervor, mit welchen Schwierigkeiten allein die Geldübermittlung bei den Armen verbunden war: Die Überweisung des Geldes erfolgte über einen Mr. Haywood, einen Kutscher, der es nach Whitechapel brachte. Offenbar holte das Geld üblicherweise ihre Tochter ab. Da diese im September 1833 aber selbst krank war, musste sie der Gemeinde Braintree schreiben, damit das Geld auch zuverlässig genau an diesem Tag gebracht würde, da sie sonst selbst gehen und dadurch einen Ausfall von einem halben Tag Arbeit in Kauf nehmen müsse. Sie schuldete ihrem Vermieter ohnehin

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bereits zwei Monatsmieten und war auf das Geld dringend angewiesen. Sie hoffte, dass man ihr das Geld bis Donnerstag zahlte, da ihr Vermieter sie andernfalls am Freitag mit ihren Kindern auf die Straße setzen würde. Die Beträge, die zur Unterstützung der Familien oder einzelner Personen gezahlt wurden, variierten entsprechend der Lebenssituation: Für die Familien schwankte die finanzielle Unterstützung zwischen zwei bis zehn Schilling in der Woche, das heißt zwischen 5 Pfund 4 Schilling und 26 Pfund im Jahr, wenn man davon ausgeht, dass die Gelder in dieser Höhe das ganze Jahr ausgezahlt wurden. Die höheren Summen wurden allerdings meist nur an Ehepaare bzw. Familien mit erhöhtem Pflegebedarf gezahlt. Die Unterstützung von Einzelpersonen lag eher bei drei Schilling in der Woche bzw. 7 Pfund 16 Schilling im Jahr. Diese Summe lag zwar leicht über dem durchschnittlichen Lohn, der in Verwaltungsakten oftmals für Knechte auf einer Farm angegeben wurde, doch waren davon noch die Mieten zu zahlen. Wie die Beschreibung der Lebens- und Besitzverhältnisse nahe legen, war damit zugleich das absolute untere finanzielle Limit erreicht, welches zwar das Überleben ermöglichte, mehr aber auch nicht. Aus den Briefen geht ebenfalls hervor, dass viele Arme sich für ihre Bedürftigkeit schämten und selbst nach Auswegen suchten. Es finden sich in den Schreiben Beispiele dafür, dass Arme eigene Geschäftsideen entwickelten, um als Selbständige ihre trostlose Situation zu verbessern. So schrieb z. B. Abraham Stuck in Upminster, Essex, 1832 an die Gemeinde Braintree, dass er nach seiner Beschäftigung in der Heu- und Erntezeit nun keinerlei Erwerb mehr fände. Die Gemeinde hätte so viele eigene Arme, dass man keine Arbeit bekäme, wenn man nicht selbst Gemeindeangehöriger sei. Er wolle daher im nächsten Frühjahr versuchen, selber Geschäfte mit Häuten, Austern und dergleichen zu machen. Ebenso bat John Spearman um eine einmalige Hilfe von drei Pfund, da er glaubte, damit ein Geschäft machen zu können, was ihn und seine Familie erhalten könnte. Er wollte damit zum Markt gehen und Sachen an- und verkaufen, wie es bereits drei oder vier andere tun würden. Er betonte dabei, dass ihn das Nichtstun krank mache und er endlich aus seiner eigenen Kraft heraus das Beste schaffen wolle. Tatsächlich schrieb er das Jahr darauf, von dem erhaltenen Geld zunächst einige Schulden bezahlt zu haben. Dann sei er in das 30 Meilen entfernte Ascot gegangen, um dort als Verkäufer tätig zu sein. Wiederum ein Jahr später bat er erneut um Geld, weil seine Werkzeuge verpfändet waren und er Geld brauchte, um sie wieder auszulösen und damit selbst genug für den Erhalt seiner Familie zu verdienen. Im Falle von Robert Sewell, von dem es hieß, dass er ein Schreiber sei, zahlte die Gemeinde ausdrücklich für Stifte, Tinte und Papier vier Schilling, damit er dieser Arbeit weiter nachgehen konnte. Die Beispiele zeigen, dass zum einen die Armen bemüht waren, selbst wieder an Arbeit zu kommen, zum anderen, dass die Gemeinden durchaus geneigt waren, solche Selbsthilfeprojekte zu unterstützen. Andere Personen suchten einen gänzlichen Neuanfang außerhalb Englands und baten hierin die Gemeinde um Unterstützung. So wollte James Gray nach Amerika auswandern, brauchte aber für die Schiffspassage noch weitere zwei Pfund. Er wies bei seiner Bitte zugleich darauf hin, dass er anderenfalls gezwungen sei, seine kranke Frau zurück in die Gemeinde zu schicken, die dann dort versorgt werden müsse. Aus einem anderen Brief

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geht hervor, dass ihn die Überfahrt 18 Pfund kostete. So viel Geld konnte sicherlich kaum ein Armer von sich aus aufbringen. So fragte z. B. auch ein Edward Grey bei der Gemeinde um sieben Pfund Unterstützungsgeld für eine Passage nach Nordamerika nach. Die Gemeinde konnte sich nun überlegen, ob sie die Armen mit geringeren Summen unterstützen wollte, dann aber wahrscheinlich dauerhaft und auf die Jahre hinweg mit einem doch erheblichen Kostenaufwand, oder mit einer höheren Summe, die nur einmalig an den Armen zu zahlen war, so dass die Gemeinde von weiteren Leistungen für immer befreit war. Die Pauper Letters von Braintree zeigen in ihrer Gesamtheit eindrucksvoll, dass die von der öffentlichen Fürsorge erfassten Armen sich nicht nur passiv ihrem Schicksal hingaben, sondern verschiedene Strategien hatten, um mit ihrer Armut umzugehen54. Sie zeigen darüber hinaus, welche Bedeutung für die Armen einerseits die Familie bezüglich der Notbehelfsökonomie sowie der Pflege spielte, andererseits wie wichtig für sie die Möglichkeit von Kleinkrediten war, um den Alltag zu bewältigen. Die Gemeindefürsorge stellte hier nur eine von mehreren Hilfsmöglichkeiten dar, auf die die Armen meist aber im Zusammenspiel insgesamt angewiesen waren. Die in den Armenbriefen genannten Personen stellen hinsichtlich der Gesamtheit der Fürsorgeempfänger nur eine Minderheit dar. Die weitaus meisten unterstützten Personen lebten vor Ort. In Essex befanden sich jedoch nicht nur diejenigen Armen, die in das Fürsorgesystem inkludiert waren, sondern auch diejenigen, die als Hausierer, Bettler, Tagelöhner versuchten, sich selbst und ihre Familien zu erhalten, ohne dass sie in der Gemeinde niedergelassen waren. Alle umherziehenden Armen, die jedoch versuchten, sich der Erfassung und Kontrolle durch die Gemeinde gänzlich zu entziehen, wurden als Rogues and Vagabonds bezeichnet. Allein die Anzahl der überlieferten Vagrants’ Examinations aus der Grafschaft Essex zeigt, dass es sich hier um einen nicht unerheblichen Anteil der ländlichen armen Bevölkerung gehandelt haben muss55. Bettler und Vaganten Griff man umherziehende arme Personen auf, so musste bei ihnen ebenfalls durch das Gericht bestimmt werden, in welcher Gemeinde (Parish) sie eigentlich ihr Settlement hatten. Da die Verhandlungen aber nur alle paar Monate stattfanden, hatten die lokalen Behörden, das heißt die Magistrate und Vertreter der Polizeigewalt das Recht, die umherziehenden Personen zunächst als Vagabunden ins Zuchthaus (House of Correction) zu bringen. Hier verblieben sie, bis auf den Quarter Sessions ein Urteil gegen sie erging, welches unter anderem festlegte, in welche Gemeinde sie als fremde Bettler nach der Zuchthausentlassung zu bringen waren. Das gesamte Verfahren, in dem auch die Vagierenden selbst über ihre Unterstützungsgemeinde befragt wurden, dokumentierte man in den so genannten Vagrants’ Examinations56. Von Interesse sind diese Dokumente vor allem, weil sie nicht nur Auskunft über den Settlement-Ort geben, sondern zum Teil auch über die Lebensverhältnisse. Überliefert sind diese Verhöre für Essex unter anderem in einem Aktenbestand, der mehrere Jahre zusammenfasst und anhand der Nachnamen der aufgegriffenen Personen

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geordnet ist. Da eine Gesamtauswertung des Bestandes noch aussteht, kann an dieser Stelle nur beispielhaft die Auswertung eines Ausschnittes dieser Quellen vorgenommen werden. Die hier dargestellten Fälle sind der Gesamtbestand der Buchstaben „B“ und „S“ aller aufgegriffenen Vaganten im Zeitraum von 1779 bis 1790/1791. Es handelt sich um 209 Vagantenprotokolle von insgesamt 199 Personen, die jeweils einzeln verhört wurden. Davon waren sechs Personen mehrfach verhaftet und verhört worden. Die Protokolle haben dabei in der Regel einen Umfang von zwei Seiten, bei der die erste Seite aus einem ausgefüllten Formularbogen mit sich wiederholenden Formulierungen besteht, während die zweite Seite eine handgeschriebene Zusammenfassung des Verhörs darstellt. Zu den eingetragenen Angaben auf dem Vordruck gehören Informationen zum Aufgreifungsort, zur letzten Gemeinde, in der der Betroffene sein legal settlement hatte, sowie zum Weg, auf dem der Arme zurück in seinen Unterstützungswohnsitz geschafft werden sollte. Aus dem Befragungsteil erfahren wir etwas über Alter, Geburtsort sowie verschiedene Beschäftigungen und die familiäre Situation. Wir können so ein Bild der Gruppe vagierender Armer in Essex im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nachzeichnen. Zunächst kann man feststellen, dass die Vaganten in der Mehrzahl Männer waren. Dies entspricht Ergebnissen, wie wir sie für Untersuchungen auch aus dem Alten Reich kennen. Allerdings ist in Essex die Gruppe der Frauen mit immerhin 96 von 199 Personen nur geringfügig kleiner als die der Männer. Die für die habsburgischen Lande getroffene Feststellung Gerhard Ammerers, dass die männlichen Vagierenden keinesfalls ein massives Übergewicht gehabt haben, findet sich damit auch für Essex bestätigt57. Von 99 Personen ist uns ihr Alter bekannt, in dem sie jeweils aufgegriffen wurden.

Diagramm 1: Geschlechterverteilung der aufgegriffenen Vaganten in den Vagrants’ Examinations (in absoluten Zahlen) 110 103 96

Anzahl

90

70

70

m

w

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Diagramm 2: Altersverteilung der aufgegriffenen Vaganten in den Vagrants’ Examinations (in absoluten Zahlen) 50 47

45 40 35

Anzahl

30

33

25 20 15

15

10 5 4 0

unter 20

20–39

40–59

ab 60

Die umherziehenden Armen sind eher mittleren Alters und zeigen damit ein geradezu spiegelverkehrtes Bild der Altersverteilung, wie wir sie etwa von den sesshaften Armen kennen58. Der jüngste allein umherziehende Vagant war dabei neun Jahre alt und der älteste 76 Jahre. Viele der Befragten kannten ihr genaues Alter nicht, sondern gaben die Altersangabe als ungefähre Schätzung ab. Der Großteil der verhörten Personen scheint zudem illiterat bzw. nicht schreibfähig gewesen zu sein, denn nur bei 28 Personen sind eindeutig eigenhändige Unterschriften unter den Verhörprotokollen zu erkennen, weitere 16 Personen machten Zeichen wie Striche oder einzelne Buchstaben, bei denen nicht eindeutig festgestellt werden kann, ob damit auch eine Schreibfähigkeit vorlag oder nicht. Bei weiteren sechs Verhörprotokollen gibt es keine Angabe bzw. fehlt im Dokument die Unterschriftenzeile. Bei allen anderen Personen aber steht statt des Namens ein Kreuz als Zeichen für die Unterschrift. Bei 120 Personen erfahren wir etwas über ihre Ausbildung bzw. ihren Beruf, den sie selbst oder ihre Ehemänner bzw. die Familienväter einmal ausgeübt hatten bzw. noch ausübten. Immerhin hatten einige der Vaganten einen Beruf erlernt oder waren zumindest in eine mehrjährige Lehre (Apprenticeship) gegeben worden. Dieser Befund ist nicht ungewöhnlich, denn siebenjährige Lehrverträge für eine Ausbildung wurden manchmal von der Vestry, das heißt der Gemeindevertretung, an einzelne arme Dorfjungen vergeben. Die Kinder begannen demnach ihre Lehre im Alter zwischen elf und 14 Jahren. In eine Lehre als Huf- und Grobschmied (Blacksmith) schickte man

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immerhin sechs Kinder, in eine Schuhmacherlehre vier Kinder, einen in eine Handschuhmacherlehre, einen in eine Schornsteinfegerlehre, einen Jungen gab man zu einem Fischereimeister, einen zu einem Metzger, einen zu einem Farmer sowie einen anderen zu einem Gärtner. Bei zwei weiteren ist nur vermerkt, dass sie überhaupt eine Lehre absolviert haben, aber nicht, in welchem Beruf. Bei den aufgegriffenen Frauen gaben sechs Auskunft über die Lehrausbildung ihrer Ehemänner: wieder ist es einmal die Lehre zum Grobschmied, dreimal zum Schuhmacher, einmal zum Hutmacher sowie einmal zum Planemaker (Plain worker – Näher, Schneider). Die lange Lehrzeit sowie die Behandlung der Lehrlinge hatten zur Folge, dass einige die Ausbildung nicht beendeten und nach ein paar Jahren fortliefen. In zwei Fällen verstarb der Meister während der Ausbildungszeit, so dass die Kinder vorzeitig entlassen werden mussten. Häufig arbeiteten sie danach als Servants für andere Personen. Die Gruppe derjenigen, die sich auf diese Weise als Knechte oder Mägde verdingten, ist mit 36 Personen die größte bei den Vagantenprotokollen aufgeführte Berufsgruppe. Hier ist ein deutlicher Unterschied zwischen Männern und Frauen erkennbar, denn oft werden in den Verhören überhaupt nur bei den Männern die Berufe notiert. So sind es elf Frauen, die nach Auskunft dieser Protokolle als Mägde gearbeitet haben, während es demgegenüber 25 Männer sind. Von diesen 25 Männern finden wir bei 15 Personen die spezifischere Angabe, dass sie als Servants auf einer Farm gedient haben. Über den Jahreslohn, der dabei jeweils ausgezahlt wurde, informieren uns die Aussagen der Vaganten in 27 Fällen: Tab. 1: Löhne von Bediensteten und Farmarbeitern nach Aussagen in den Vagrants’ Examinations, 1758–1791 Brucking, Robert Brady, Robert Bate, John Barlow, Joseph Bartlet, Samuel Bridge, William Bradford, William Barber, Martha Brock, John Bird, Samuel Brock, Charles Bowd, James Bundy, Philip Singwell, Thomas Skelton, Samuel Spooner, Francis Smith, James Shedd, Sarah Sewell, William Stanton, Anna Steff, Mary Stratford, Thomas Selby, Mary Smith, Hannah Studd, James Stephenson, Harriott Shedelow, Edward

1758 1763 1764 1774 1776 1777 1779 1779 1781 1781 1784 1787 1788 1779 1785 1785 1784 1784 1783 1782 1786 1786 1787 1789 1790 1790 1791

₤ 14 10 s ₤ 17 ₤ 12 2 s ₤ 12 12 s ₤ 16 6 s ₤ 16 8 s ₤ 17 ₤ 12 ₤ 15 ₤ 14 ₤ 18 8 s ₤ 15 10 s ₤ 14 ₤ 14 ₤ 15 10 s ₤ 18 ₤ 12 10 s Nur Kleidung ₤ 16 oder 7 ₤ 12 ₤ 11 15 s ₤ 19 1 8 s im Monat ₤ 15 1 s / Woche, dann Lohn um 37 s im Jahr erhöht 2 Jahre ohne Lohn, dann 5 Guinea, entspricht ₤ 5 5 s 1 ½ Guinea, entspricht ₤ 1 11 s 6 d

Farmarbeiter Farmarbeiter Farmarbeiter Farmarbeiter Farmarbeiter o. A. Farmarbeiter o. A. o. A. Knecht o. A. Farmarbeiter o. A. Farmarbeiter Farmarbeiter Bediensteter Farmarbeiter Bedienstete Farmarbeiter Farmarbeiterin Bedienstete Farmarbeiter o. A. Bedienstete Bediensteter Bedienstete Farmarbeiter

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Wie die Tabelle zeigt, gab es bei den Lohnzahlungen erhebliche Unterschiede. So wurden einer Dienstmagd als Entlohnung nur Kleider gegeben und ein anderer Bediensteter arbeitete zwei Jahre für gar keinen Lohn. Gerade Frauen mussten sich oft mit einem Entgelt von etwas mehr als ein bis zwei Pfund im Jahr begnügen. Insgesamt blieben die in den Verhörprotokollen angegebenen Löhne erheblich hinter dem ansonsten berechneten Durchschnittseinkommen eines Farmarbeiters von sechs bis neun Schilling in der Woche zurück, denn selbst wenn man vier Monate im Winter abzieht, erhielt ein Arbeiter ansonsten durchschnittlich mehr als zehn Pfund im Jahr. Nur von Joseph Barlow konnte diese Summe offenbar einmal ausgehandelt werden. Als Servant bzw. Husbandry war offenbar allein mit der Aufnahme in den Haushalt die meiste Arbeit abgegolten. Diese Ergebnisse werden auch durch andere Dokumente bestätigt, in denen Beschäftigungsverhältnisse von Armen sowie deren Löhne genannt sind. Als Beispiel sei hier nur exemplarisch auf den Aktenbestand der Pauper Examination books 1814–1815 in Essex hingewiesen59. Auch hier findet sich für Mary Royce, eine Frau, die als Servant im Haus für alle anfallenden Arbeiten angestellt worden war, der Hinweis, dass sie zunächst ein halbes Jahr gar keinen Lohn außer der Verpflegung, Kleidung und dem freien Wohnen bekam. Erst später konnte sie sich dann auf einen zusätzlichen Jahreslohn von drei Pfund mit ihrer Arbeitgeberin einigen. Da erhielt Joseph Gowers für ein Jahr als Husbandry mit 13 Guineas 11 Schilling sowie Unterkunft und Verpflegung wesentlich mehr, während William Fuller für die gleiche Arbeit nur neun Guineas neben Unterkunft und Verpflegung gezahlt wurden60. Die zweithäufigste Tätigkeit, die von den vagierenden Männern genannt wird, ist der Dienst in der Armee. Allein bei 16 Männern (15,5 % der männlichen Vaganten) stellte der Soldatenberuf einen Abschnitt in ihrem Leben dar. Nach dem oft mehrjährigen Dienst hatten die entlassenen Soldaten offenbar Schwierigkeiten, sich wieder in die Berufswelt einzufinden und sesshaft zu werden. Dass der Dienst als Marinesoldat nicht immer freiwillig erfolgte, wird aus dem Verhör des 40-jährigen Lescow Bitton im Jahr 1783 deutlich, den man in Colchester aufgegriffen hatte. Er war 14 Jahre alt, als er durch die Parish Officer von Woodbridge in die Lehre bei John Scotsbrook, einem Fischermeister in Lambeth, gebracht wurde, wo er für vier Jahre arbeitete. Dann trat er mit 18 Jahren in den East India Land Service ein, wo er 15 bis 16 Jahre als Soldat diente. Bei seiner Rückkehr von Indien vor ca. vier Jahren wurde er schließlich in den Sea Service gepresst, wo er bis zum Friedensschluss verblieb und dann entlassen wurde. Ähnliche Erfahrungen machte William Boswell, der offenbar bereits als Kind mit seiner Mutter umhergezogen war, denn er sagte über sie, dass sie eine alleinstehende Frau war, who travelled about the countrey from place to place, with a Baskett, Selling pins, needles, laces, and buying Horse Hair, old Penster and Brass with one Robert Boswell a Tinker. Schließlich zog er selbst mit Robert Hearn und Edward Hearn, zwei Travelling Lads, durch das Land, bis er schließlich vom Constable von Elmdon dazu gedrängt wurde, als Soldat zu dienen. Er schrieb sich daraufhin in das 25. Fußregiment ein, wo er im Dienst eine Verletzung am rechten Bein erlitt. Auch vagierende Frauen gaben an, dass ihre Männer Soldaten waren. So etwa Sarah Barnet, die mit ihrem Mann ein dreijähriges Kind hatte, dieser aber nun als Soldat nach

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Gibraltar versetzt worden sei. Jane Bickerdike, eine andere Vagantin, führte aus, dass sie vor 35 Jahren Richard Bickerdike geheiratet habe. Dieser habe dann als Soldat des 23. Regiments in der Provinz Kanada in Nordamerika seinen Dienst versehen und sei dort getötet worden. Der Mann von Mary Shinglewood verstarb hingegen als Soldat des 13. Infanterieregiments in der Karibik bei der Insel St. Eustatius. Bei Ruth Smith war der erste Ehemann ebenfalls in der Armee und zwar im Welsh Volunteer Regiment. Über seinen Verbleib erfahren wir jedoch nichts weiter. Alice Sidey wiederum gab nur zu Protokoll, dass ihr Mann Soldat gewesen und sie nun Witwe sei. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Tod oder das Verlassen des Partners häufig einen Grund für die prekäre Lebenssituation der Vagantinnen und Vaganten darstellte, zumal wenn sie zusätzlich noch eigene Kinder groß ziehen mussten61. Drei Frauen gaben an, ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, über Land zu ziehen und Kleinwaren wie Strumpfbänder zu verkaufen. Fünf Frauen wurden in den Verhörprotokollen bezichtigt, als Prostituierte ihren Lebensunterhalt zu verdienen: an idle disorderly person of evilfame and a common prostitute, heißt es hier in den entsprechenden Passagen. So wurde etwa bei der 28 Jahre alten Sarah Sinee notiert: picking up Men in the Highways for the business of Fornification. Bei den aufgegriffenen Minderjährigen handelte es sich meist um alleingelassene Kinder. So hatten einige früh ihre Eltern verloren oder waren von diesen kurz nach der Geburt in einer Gemeinde zurückgelassen worden. Über Anne Sale heißt es z. B., dass sie als eine arme vom Vater verstoßene Zwölfjährige nun seit mehreren Wochen bettelnd umherwandere. Diese aufgegriffenen Kinder wurden dann in Familien oder im Workhouse untergebracht. Über Thomas Balls, einen ebenfalls zwölfjährigen Jungen, lesen wir, dass er seit nunmehr sechs Jahren im Workhouse von Great Clackton untergebracht war, von dort aber nun seit der letzten Erntezeit weggegangen sei und durchs Land streife. Ebenso war der 15-jährige Junge William Baker schon mehrmals aus dem Workhouse aus Boxton ausgerissen und anschließend durch Essex gezogen. So hatte auch Hady Simpson nach dem Tod ihrer Eltern bisher als Waise in einem Workhouse in Suffolk gelebt. Sarah Studd hatte von ihren 19 Jahren immerhin 16 Jahre im gleichen Workhouse verbracht, war aber von dort vor vier Monaten entflohen. Der vaterlose 15-jährige William Smith war nach eigenen Angaben zwar im Workhouse aufgewachsen, von dort aber bereits mit 13 Jahren entlaufen. Von Sarah Stert heißt es, dass sie im House of Industry in Tattingstone aufgewachsen sei, von dem sie vor zehn Wochen entflohen sei und sich seit dem durch picking up men zu erhalten versuchte. Es kam aber auch vor, dass die Kinder nicht nur aus den öffentlichen Einrichtungen, sondern auch aus den Familien wegliefen, so z. B. ein 13-jähriges Mädchen, dessen Vater im Gefängnis saß. Bei den meisten der aufgegriffenen Vaganten lassen sich konkrete Ereignisse rekonstruieren, die die Armen dazu brachten, bettelnd über Land zu ziehen. Einigendes Merkmal ist die Bindungslosigkeit, sei es durch den Tod des Ehemannes, der Ehefrau oder eines Elternteils, sei es durch langjährigen Militärdienst. Das Verlassen des Ehepartners war eben-

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falls ein Grund. Dabei verließen nicht nur Männer ihre Frauen, sondern auch Frauen ihre Männer. Allerdings suchten viele offenbar nicht das gänzlich Unbekannte, sondern bewegten sich von ihrem ursprünglichen Unterstützungswohnsitz selten all zu weit weg. Tab. 2: Wanderungsdistanz der Vaganten zwischen Heimat- und Aufgreifungsort Fußweg-Entfernung in Kilometern zwischen Settlement- und Aufgreifungsort



100–150 051–100 101–150 151–200 201–250 251–300 über 301

Anzahl der Personen (gesamt 182)

66 42 36 16 5 6 11

Anzahl in %

36,3 23,0 19,8 08,8 12,7 13,3 06,0

0

Bei 79 % der Vaganten liegen der Ort, an dem sie umherziehend aufgegriffen wurden, sowie ihr Unterstützungswohnsitz nicht weiter als 150 km auseinander. Bei etwas mehr als einem Drittel aller Vaganten befindet sich der Ort in der vertrauteren Umgebung von ca. 50 km Fußweg. Dies bestätigt die Aussage bei Hindle, nach der überhaupt nur ein kleinerer Prozentsatz von Vaganten über 100 km weit reiste62. Vergleichbare Ergebnisse haben wiederum Untersuchungen zu Wanderungsbewegungen im Alten Reich ergeben, so dass bei den Vaganten in den untersuchten Ländern für die Frühe Neuzeit insgesamt von recht kleinräumigen Wanderungsbewegungen auszugehen ist und dies unabhängig vom jeweilig etablierten Fürsorgesystem63. Die meisten Vaganten, die in Essex verhört wurden, hatten sogar in dieser Grafschaft selbst ihren Unterstützungswohnsitz (50 Personen). Die zweitgrößte Gruppe kam aus Suffolk (43 Personen) bzw. Norfolk (24 Personen). Mit Abstand folgt noch Middlesex mit London (13 Personen). Alle anderen Vaganten verteilen sich als Einzelfälle auf weitere 19 Grafschaften sowie auf Irland und Schottland. Die meisten aktenkundig gewordenen Vaganten sind somit von Norden nach Süden in die Grafschaft Essex gezogen. Dies entspricht wiederum Ergebnissen, wie sie Paul Slack für die Wanderungen der in Colchester aufgegriffenen Vaganten gut 150 Jahre früher feststellen konnte64. Aufgrund dieser punktuellen Befunde ist zu fragen, ob es sich hierbei um ein regional stabiles Migrationsmuster handelt. In Essex selbst wurden die meisten Vaganten um Chelmsford herum bzw. westlich davon an der Grenze zu Middlesex aufgefunden, einem Gebiet, in dem viele Orte heute Stadtteile von London sind. Offenbar entfalteten London und die Handelsstraßen, die diese Metropole mit dem Rest des Landes verbanden, auf die Gruppe der umherziehenden Armen eine gewisse Anziehungskraft. In Essex waren sie vielfach als Erntehelfer und Landarbeiter tätig. Ob sie ursprünglich auch versucht hatten, anderweitig als Arbeiter unterzukommen, ist den Vagrants’ Examinations nicht zu entnehmen. Vielmehr wird in den

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Akten formelhaft als Verhaftungsgrund angegeben, dass sie umherziehend und bettelnd angetroffen wurden. In der überwiegenden Anzahl der Fälle wurden sie als Einzelpersonen festgenommen. Es waren aber auch Frauen mit ihren Kindern oder ganze Familien, die umherzogen und bettelten. Als Übernachtungsorte werden meist Ställe, Scheunen und Outhouses genannt, in denen man die Vaganten aufspürte. In einigen Fällen gaben die Verhörten an, dass sie schlicht unter dem freien Himmel kampiert hätten. Über ihren Zustand bzw. ihre Bedürftigkeit fehlen weitere Informationen. Die Friedensrichter wiesen sie zumeist für eine gewisse Zeit in das House of Correction in Chelmsford ein und legten aufgrund ihrer Aussagen einen Unterstützungswohnsitz fest. Bei einigen Vaganten/Vagantinnen ordnete der Friedensrichter zudem eine zusätzliche – meist auf ein bis zwei Monate begrenzte – Arbeitsstrafe (hard labour) im Zuchthaus an, bevor sie wiederum in ihre Heimatgemeinde verbracht werden sollten. In Ausnahmefällen wurde zusätzlich noch die Strafe des Auspeitschens angeordnet (to be whipt), ohne dass immer aus den Akten ersichtlich wird, warum gerade bei dieser Person zu solch strafverschärfenden Maßnahmen gegriffen wurde. Diese Bestrafung war allerdings im 17. Jahrhundert noch die Regel und nicht die Ausnahme gewesen65. Wenn ein Grund ersichtlich ist, handelt es sich meist um ungebührliches Verhalten oder darum, dass der Vagant zum zweiten Mal als Bettler aufgegriffen wurde. Dass es sich dabei teils noch um Kinder handelte, spielte offenbar keine Rolle, denn auch der 13-jährige Thomas Scuse sollte für sein wiederholtes Vagieren auf Anordnung des Gerichts körperlich gezüchtigt werden: [...] it was ordered that he should be Severely whipt and then Examined […]. Bei Margaret Smith, 38 Jahre, lag hingegen neben dem Vagieren auch noch ein Betrugsversuch vor – wandring abroad and trying to obtain Money by a false pass –, so dass sie dafür ebenfalls stark ausgepeitscht werden sollte, bevor man sie zurück in ihre Settlement-Gemeinde schickte. Die Rückführung in die Heimatgemeinden war dabei nicht billig, selbst wenn sie nicht sonderlich weit entfernt lagen. So ist z. B. eine Rechnung über die Ausweisung der Familie Topham von der Gemeinde Witham in die Gemeinde Braintree aus dem Jahr 1740 erhalten geblieben66. Demnach kosteten Verpflegung und Abschiebung der dreiköpfigen Familie 1 Pfund 7 Schilling 3 Pence. Allein der Wagen mit zwei Pferden für die Fuhre nach Braintree wurde mit fünf Schilling veranschlagt, das heißt fast soviel, wie ein Landarbeiter in einer Woche durchschnittlich im Taglohn verdienen konnte. Zwar war man Anfang des 19. Jahrhunderts an der Registrierung und Kontrolle der Vaganten weiterhin interessiert, aber im Gegensatz zu den drakonischen Strafen, wie sie frühere Jahrhunderte vorsahen, verfuhr man nunmehr sehr viel moderater mit den aufgegriffenen Personen. So stellte man 1828 in einem Treffen der Select Vestry der Gemeinde Braintree Regeln für den Umgang mit Vaganten auf, die neben der Registrierung und Festnahme vorsahen, dass jede Person über zwölf Jahren mit six ounces of Bread and Half-pint of Beer zu versorgen war67. Für Kinder unter zwölf Jahren gab es vier Unzen Brot und die gleiche Menge an Bier. Erst nach einer angemessenen Erfrischung sollten dann alle nicht kranken Personen zur Arbeit angehalten werden. Sie müssten jedoch wieder morgens um sechs Uhr bzw. im Winter um acht Uhr entlassen werden.

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Fazit und Möglichkeiten eines Vergleichs In Essex lebte zum Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Großteil der Menschen an der Armutsgrenze bzw. sie waren so arm, dass sie sich selbst nicht erhalten konnten. Diese Ausgangssituation ist zunächst mit der im Heiligen Römischen Reich grundsätzlich vergleichbar. In Folge der gesetzlich festgeschriebenen Verpflichtung der Gemeinden, ihre Armen zu versorgen, bildete sich in England allerdings im Gegensatz zu den Territorien im Reich bereits im 16. Jahrhundert ein steuerbasiertes Fürsorgesystem auf lokaler Ebene aus. Trotz dieser rechtlichen Rahmenvorgaben kam es aber auch in den einzelnen Gemeinden und Regionen Englands zu einer recht unterschiedlichen Ausgestaltung der Fürsorge. Wer als Gemeindemitglied mit entsprechenden Fürsorgeansprüchen zu gelten hatte, war trotz dieser Regelungen nicht immer eindeutig. Ebenso unterlagen die Höhe und Dauer der Unterstützung sowie die verschiedenen Formen der Hilfe dem Ermessensspielraum der örtlichen Amtsträger. So gilt die Grafschaft Essex allgemein als Bestandteil einer Fürsorgeregion, in der die Gemeinden im Gegensatz etwa zu Nordengland sehr viele Personen in die Fürsorge inkludierten und ihre Ansprüche auf öffentliche Hilfe anerkannten68. Im Vergleich mit Gemeinden in anderen Territorien wurde in Essex auch in den ländlichen Gebieten viel Geld für die Fürsorge verausgabt, so dass man die Fürsorgepraxis hier als relativ großzügig und wenig restriktiv beschreiben kann. Grundsätzlich waren die Heimatgemeinden häufig dazu bereit, nicht nur Pflegefälle und arbeitsunfähige Arme mit dem Nötigsten zu unterstützen, sondern versuchten auch Personen zu helfen, die kurzfristig in Finanz- und Kreditnöte geraten waren oder ihre Arbeit verloren hatten. So unterstützten sie überdies Arme außerhalb ihrer Gemeinde, damit diese z. B. in Städten und anderen Wirtschaftszentren ihr Auskommen finden konnten. Selbst bei den Vaganten scheint der Aspekt der Sozialdisziplinierung weniger Gewicht zu haben, als der Versuch, sie wieder in das öffentliche Unterstützungsprogramm ihrer Heimatgemeinden zurückzuführen. Die Beispiele zu Essex haben einerseits gezeigt, wie vielschichtig und komplex die Ursachenzusammenhänge für Armut waren, andererseits aber auch, wie die Gemeinden vielfach versuchten, auf diese Anforderungen angemessen bei den jeweiligen Einzelfällen zu reagieren. Individuelle Familien- und Haushaltssituationen sowie Versuche der Selbsthilfe und langfristigen Förderung fanden Eingang in die Aushandlungsprozesse zwischen Gemeinde und Fürsorgeempfängern. Selbst wenn sie damit aus heutiger Sicht vielfach den tatsächlichen Anforderungen nicht gerecht wurden, so gingen sie doch über die einfachen Beurteilungskriterien von „Zugehörigkeit zur Gemeinde“ sowie „Grad der Arbeitsfähigkeit“ weit hinaus. Immerhin entwickelte sich in Essex bei den Armen ein Selbstverständnis, das von einem Anrecht auf Unterstützung ausging. Hier ist ein grundlegender Unterschied zum Alten Reich zu sehen, wo Fürsorge immer den Charakter der freiwilligen Hilfe behielt. Zwar gab es auch in Essex starke regionale und lokale Disparitäten bei der Armenunterstützung auf dem Land, jedoch waren diese Unterschiede in vielen Reichsterritorien durch den Mangel zentraler, steuergestützter Armenkassen noch sehr viel ausgeprägter als in England.

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Insgesamt bleibt aber dennoch zu fragen, inwieweit die unterschiedlichen Rahmenbedingungen zu strukturell anderen Wahrnehmungen von Armen und Vagierenden geführt haben. Von welchen Faktoren hing es jeweils ab, ob sich in den verschiedenen Regionen eher restriktive oder eher großzügige Fürsorgekulturen etablieren konnten? Die Ergebnisse, die hierzu mittlerweile in der Forschung für Essex zusammengetragen werden konnten, zeigen dabei deutlich, dass nur ein Vergleich der tatsächlichen Fürsorgepraktiken in Stadt und Land sowie der vorzufindenden Aushandlungsprozesse zwischen den Armen und den Fürsorgeinstitutionen hierüber Aussagen erlaubt. Ob beispielsweise in den katholischen Territorien im Reich die Vielzahl dezentraler, kirchlich-kommunaler Fürsorgeeinrichtungen nicht dennoch eine vergleichbare Fürsorgepraxis hervorbrachte, bleibt noch genauer zu erforschen. Ebenso ist für England wie auch für das Reich zu hinterfragen, in welcher Weise sich regional und lokal unterschiedliche Fürsorgekulturen auf die Mentalitäten bzw. Handlungsorientierungen langfristig auswirkten und auch politische Gesellschafts- und Staatsvorstellungen prägten.

Anmerkungen 11 Z  um Armen- und Fürsorgewesen in Essex vgl. Thomas Sokoll, Essex Pauper Letters, 1731–1837, Oxford 2006; ders., Negotiating a Living: Essex Pauper Letters from London, 1800–1834, in: International Review of Social History 2000, S. 19–46; ders., Household and family among the poor. The case of two Essex communities in the late eighteenth and early nineteenth centuries, Bochum 1993; A. F. J. Brown, Prosperity and Poverty. Rural Essex, 1700–1815, Chelmsford 1996; F. G. Emmison, The care of the poor in Elizabethan Essex. Recently discovered records, in: Essex Review 62 (1953), S. 7–28. 12 Vgl. Paul A. Slack, The English Poor Law 1531–1782, Cambridge 1995; J. D. Marshall, The old poor law 1795–1834, London 21985; Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut, Weimar 2000, hier bes. S. 158–165; vgl. auch Franz Dorn, Basic principles of poor relief from late Antiquity to the nineteenth century, in: Andreas Gestrich, Lutz Raphael, Herbert Uerlings (Hg.), Strangers and Poor People. Changing Patterns of Inclusion and Exclusion in Europe and the Mediterranean World from Classical Antiquity to the Present Day, Frankfurt 2009, S. 415–430. 13 Slack, Poor Law (wie Anm. 2), S. 9; vgl. hierzu auch Jütte, Arme (wie Anm. 2), S. 158 f. 14 Ebd., S. 10. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. Steve Hindle, On the Parish? The Micro-Politics of Poor Relief in Rural England c. 1550–1750, Oxford 2004, S. 11. 18 Vgl. Dorn, Basic principles (wie Anm. 2). 19 Steven King, Poverty and Welfare in England 1700–1850. A Regional Perspective, Manchester 2000, S. 22 f. 10 Zu den Möglichkeiten für Arbeiter in anderen Gemeinden zu verbleiben vgl. Sokoll, Essex Pauper Letters (wie Anm. 1), S. 12. 11 Jütte, Arme (wie Anm. 2), S. 164; vgl. hierzu auch Marshall, Old Poor Law (wie Anm. 2).

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12 S okoll, Household (wie Anm. 1), S. 144, hier auch die gegenteilige Auffassung zur Einschätzung Marshalls, dass das Speenhamland-System den Markt zerstört habe, S. 135. 13 Ebd., S. 68. 14 Ebd., S. 230. 15 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 1. 16 Ebd., S. 3. 17 Sokoll, Essex Pauper Letters (wie Anm. 1), S. 12. Zur älteren Sichtweise der Schollengebundenheit unvermögender Arbeiter vgl. auch P. F. Aschrott, Das englische Armenwesen in seiner historischen Entwicklung und in seiner heutigen Gestalt (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen 23), Leipzig 1886, S. 18. 18 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 3. 19 Hindle, On the Parish? (wie Anm. 7), S. 23. In seiner Autobiographie beschreibt etwa John Castle, wie er als armer Waisenjunge mit neun Jahren in einer Seidenfabrik arbeiten musste, vgl. Essex Record Office (im Folgenden ERO), D/DU 490/1, Autobiography of John Castle (1819–post 1871) silk weaver, of Great Coggeshall, Soulbury, Buckinghamshire, Witham, London and Colchester 1871. 20 So der Befund von Sokoll für die Gemeinde Braintree, wo die Jungen der ärmsten Familien oft erst mit 20 Jahren den Haushalt verließen, vgl. Sokoll, Household (wie Anm. 1), S. 278. 21 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 68. In Reisebeschreibungen, wie sie z. B. von Johanna Schopenhauer aus dem Jahr 1818 vorliegen, wird die Armut vieler Behausungen deutlich, die man sogar in Höhlen hineingebaut fand. So heißt es bei ihr über den Besuch der berühmten Peak Cavern bei Castleton: Wir traten in die Höhle, die dunkle Nacht war dem allmählich sich daran gewöhnenden Auge zur Dämmerung. Bald unterschieden wir darin eine Menge Weiber und Kinder, emsig spinnend, die ärmlichsten Gestalten, welche die Phantasie nur erdenken kann. Gnomen gleich hocken sie in dieser kalten feuchten Dunkelheit und fristen kümmerlich ihr armes Leben; des nachts schlafen sie in kleinen bretternen Hütten, die sie sich in der Höhle erbauten und deren wir eine ziemliche Anzahl umherstehen sahen. Ungestüm bettelnd umgaben sie uns, sowie sie uns gewahrten; wir waren froh, nach dem Rate der Wirtin in Castleton, eine Menge Kupfergeld eingesteckt zu haben, um uns loszukaufen. Johanna Schopenhauer, Reise durch England und Schottland, Leipzig 1818. Im Internet abzurufen unter http://gutenberg. spiegel.de/?id=5&xid=2525&kapitel=1#gb_found, 10. September 2009. 22 Zitiert nach Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 9. 23 Ebd., S. 12. 24 Hindle, On the Parish? (wie Anm. 7), S. 23. 25 Sokoll, Household (wie Anm. 1), S. 119. 26 Ebd., S. 121. 27 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 12. 28 Ebd., S. 63. 29 Hindle, On the Parish? (wie Anm. 7), S. 25. 30 Zum Begriff vgl. Olwen Hufton, The Poor of Eighteenth-Century France, Oxford 1974. 31 Zur Bedeutung des gleaning vgl. Hindle, On the Parish? (wie Anm. 7), S. 35. 32 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 63. Auch bei Hindle, On the Parish? (wie Anm. 7), S. 36, wird das Einkommen durch das gleaning auf bis zu ein Achtel der Ernte einer armen Familie geschätzt. Vgl. dazu Peter King, Customary rights and women’s earnings: the importance of gleaning to the rural labouring poor, 1750–1850, in: Econonmic History Review 44 (1991), S. 461–476. 33 Vgl. hierzu Sokoll, Household (wie Anm. 1), S. 45. 34 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 65. 35 Hindle, On the Parish?, S. 30; ders., ‘Not by bread only’? Common right, parish relief and endowed charity in a forest economy, c. 1600–1800, in: Steven King, Alannah Tomkins (Hg.), The poor in England 1700–1850. An economy of makeshifts, Manchester-New York 2003, S. 39–75. 36 Hindle verweist darauf, dass im 16. Jahrhundert bereits ca. ein Drittel aller Frauen in der Textilindustrie tätig war. Hindle, On the Parish? (wie Anm. 7), S. 23 und S. 26.

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37 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 41. 38 Sokoll, Household (wie Anm. 1), S. 122. Für das Reich vgl. Sabine Kienitz, Unterwegs – Frauen zwischen Not und Normen. Lebensweise und Mentalität vagierender Frauen um 1800 in Württemberg, Tübingen 1989, S. 88. 39 Brown, Prosperity (wie Anm. 1), S. 13. 40 Zum Verhältnis von Armut, Reichtum und Ämterbesetzung in der Gemeinde Ardleigh (Essex) vgl. Peter King, Crime, Justice and Discretion in England 1740–1820, Oxford 2000, S. 67. 41 Sokoll, Essex Pauper Letters (wie Anm. 1), S. 11. 42 Sokoll, Household (wie Anm. 1), S. 124. Hier auch die weiteren Durchschnittsangaben. 43 Ebd., S. 150. 44 Ebd., S. 213. 45 Ebd., S. 216. 46 Sokoll, Essex Pauper Letters (wie Anm. 1). 47 Ebd., Braintree pauper letters Nr. 13–80, S. 101–153. Die folgenden Beispiele sind den hier edierten Briefen entnommen. Teils enthalten mehrere Briefe aus unterschiedlichen Jahren Informationen zu einer Person. 48 Für weiterführende Analysen zu Essex und insbesondere zu der Gemeinde Braintree sei an dieser Stelle ausdrücklich auf die grundlegenden Arbeiten von Thomas Sokoll verwiesen, vgl. hierzu vor allem Sokoll, Essex Pauper Letters (wie Anm. 1) sowie ders., Household (wie Anm. 1). 49 Vgl. hierzu auch allgemein Helmut Bräuer, Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1500 bis 1800, Leipzig 2008, S. 81. 50 Der Lohn, der in den Vagrants’ Examinations für die Arbeit auf den Farmen genannt ist, lag jedoch oftmals nicht weit über diesem Satz, vgl. hierzu den folgenden Abschnitt über die Vaganten. 51 ERO, D/P 264/18/11, List of prices of clothing for the poor 1825. 52 Zitiert nach Sokoll, Essex Pauper Letters (wie Anm. 1), Nr. 51, S. 132. 53 So bekannte Ann Hitchcock in einem Brief an die Vestry von Braintree zwar, dass sie im Besitz eines Bettes sei, bat aber zugleich um finanzielle Hilfe, damit sie es für sich und die Kinder behalten könne. 54 Thomas Sokoll, Verhandelte Armut: Mobilität, Kontrolle und Selbstbehauptung im englischen Armenrecht, 1780–1840, in: Sebastian Schmidt (Hg.), Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 10), Frankfurt 2008, S. 85–118. 55 Vgl. hierzu Paul A. Slack, Vagrants and Vagrancy in England, 1598–1664, in: The Economic History Review New Series 27 (1974), S. 360–379; A. L. Beier, Masterless Men. The vagrancy problem in England 1560–1640, London-New York 1985. 56 ERO, Bestand Q/RSv 1/2 Vagrants’ passes and examinations for surnames beginning with B, 1779–90 und Q/RSv 1/33 Vagrants’ passes and examinations for surnames beginning with S, 1779–1790. 57 Gerhard Ammerer, Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29), Wien-München 2003, S. 131. Vgl. hierzu auch die Untersuchungen von Gerhard Fritz, der für den südwestdeutschen Raum von einem Frauenanteil zwischen einem Drittel und der Hälfte der Vagierenden ausgeht, Gerhard Fritz, Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des alten Reiches, Ostfildern 2004, S. 228. 58 Vgl. Fritz, Rotte (wie Anm. 57), S. 230. Zum Geschlechter- und Altersverhältnis bei Bettlern und Fürsorgeempfängern siehe Bräuer, Mentalität (wie Anm. 49), hier bes. S. 43–63. 59 ERO, P/C Pa1, Pauper Examination books 1814–1815. 60 Ebd. 61 Vgl. Kienitz, Unterwegs (wie Anm. 38), S. 89. 62 Hindle, On the parish? (wie Anm. 7), S. 19. 63 Vgl. hierzu Ammerer, Heimat (wie Anm. 57), S. 473–476, hier bes. S. 474.

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64 S lack, Vagrants and Vagrancy (wie Anm. 55), S. 360–379. 237 Vaganten stellen bei Slack eine Untersuchungsgruppe dar, die im Zeitraum von 1630–1664 aus der Stadt Colchester vertrieben wurden. Zur Herkunft der in Colchester aufgegriffenen Vaganten vgl. bes. S. 372. 65 Ebd., S. 361. 66 ERO, D/P 264/16/3, Order for payment of costs of maintenance and removal 1740. 67 ERO, D/P 264/18/12, Printed orders for relief of vagrants with ticket for admission into the vagrant house 1828. 68 Zu den unterschiedlichen Fürsorgeregionen vgl. Steven King, Poverty and Welfare in England 1700–1850. A Regional Perspective, Manchester 2000, hier bes. S. 141–180.

Armenversorgung im ländlichen Raum Sachsens im 18. und 19. Jahrhundert Elke Schlenkrich

Vorbetrachtung Noch in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts richtete die Hainewalder Gutsherrschaft alljährlich ein Armenessen aus. Dieses gründete auf einer Stiftungsbestimmung aus dem Jahr 1683, mit der verfügt worden war, dass je 24 Arme aus Hainewalde, Spitzkunnersdorf und Oderwitz zu beköstigen seien1. Die „Speisenfolge“ war davon gekennzeichnet, dass jeder zur Armentafel geladene Untertan zunächst ein Brot erhielt, dann wurden Hirse, in Milch gekochte Graupen oder Grütze und Erbsen aufgetischt. Der Ausschank von Bier und Branntwein, dazu für jeden der 72 Auserwählten ein Stück Fleisch sowie die Austeilung von sechs Groschen dürften zweifelsohne den Höhepunkt des jährlichen Armenessens gebildet haben2. In den überlieferten Listen der Teilnehmer an diesen Essen3 sind namentlich kranke, verwaiste oder verwitwete Gutsuntertanen verzeichnet, die letztlich aus einer langen Liste der in Vorschlag gebrachten Anwärter auf diese Mahlzeit ausgewählt worden waren. Teilweise hatten diese Menschen sogar auf einer Warteliste gestanden, bis sie auf den Platz eines zwischenzeitlich verstorbenen Essensteilnehmers nachrücken durften. Anderen hingegen bewilligte die Gutsherrschaft nur eine einmalige Teilnahme oder verfügte im Fall einer Untertanin, wenn sie gesund wird, bekommt sie es nicht länger4. Bedürftigkeit und vor allem Wohlverhalten der Herrschaft gegenüber galten bei der Auswahl der Partizipienten als die entscheidenden Kriterien. Selbstredend ging das mit sozialer Kontrolle im Dorf einher. Wer als bedürftig galt und dazu noch gut beleumundet war, hatte Chancen auf einen Platz an der Armentafel. In die Beurteilung der Unterstützungswürdigkeit flossen demzufolge nicht nur eine zu konstatierende Mangelsituation, sondern gleichermaßen Fremdwahrnehmungen und Wertungen ein. Hierbei ist die Rolle des Pfarrers als (moralischer) Autorität nicht zu unterschätzen. Er hatte gewichtigen Einfluss auf die Vergabe von Unterstützungsleistungen. Darüber hinaus kam bei derartigen Entscheidungsfindungen der Stimme des Ortsrichters bzw. Dorfgerichts eine nicht zu verkennende Bedeutung bei. Bei einer derartigen (Fürsorge-)Praxis wie der hier grob skizzierten, verwundert es demzufolge kaum, wenn der Armutsbegriff in jeder Gemeinde ein anderer war5. Allein mit diesem Blick auf die Armentafel öffnet sich ein weites Untersuchungsfeld. Dennoch gehört die Alltags- und Sozialgeschichte der ländlichen Bevölkerung in Sachsen

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− und hierbei vor allem auch die Sozialgeschichte der Armut auf dem Land − zu den bis heute weitgehend vernachlässigten Forschungsgebieten. Für andere Regionen hingegen bildet die Untersuchung des Zusammenhangs von Armut, Fürsorge, Armenpolitik, privater Wohltätigkeit und sozialem Wandel in ländlichen Gebieten einen Schwerpunkt aktueller Forschungen6.

Entwicklungstendenzen im Rahmen der Armenversorgung Im Folgenden ein geschlossenes Bild der ländlichen Armenversorgung in Sachsen zu zeichnen, wird nicht möglich sein. Vielmehr werden erste Befunde zur Diskussion gestellt, die auf erhobenem Archivmaterial aus Grund- und Gutsherrschaften in den sächsischen Erblanden und der Oberlausitz basieren7. Die Untersuchungsgrundlage bilden vor allem die Grundherrschaften Liebstadt und Purschenstein sowie die Gutsherrschaften Hainewalde in der südlichen, protoindustriellen und Gaußig in der nördlichen Oberlausitz. Einerseits sollen in groben Linien übergreifende Strukturen und Entwicklungen nachgezeichnet werden, andererseits geht es um Individualisierungen, darum − um eine Formulierung Helmut Bräuers aufzugreifen −, den armen Leuten ins Gesicht zu schauen8. Wird das Armenversorgungswesen im 18. und 19. Jahrhundert in den Blick genommen, heißt das zugleich, im Hintergrund die Rahmenbedingungen mitzudenken: Mehrere Kriege und Truppendurchzüge brachten Not und Elend und verstärkten den Sog in die Verarmungsspirale. Wie sehr ländliche Ökonomien infolge der Napoleonischen Kriege in Mitleidenschaft gezogen wurden, schilderte beispielsweise im November 1813 der Liebstädter Einwohner Christian Gottlieb Canzler in einem an den Gutsherrn von Carlowitz adressierten Brief: Gestern sind es gerade zwölf Wochen, daß wir hier unter den größten Drucke sind und fast alles ist aufgeopfert, so daß wir einer höchsttraurigen Zukunft entgegen zu sehen haben. Felder und Scheunen, Häuser u. Ställe sind leer, der Viehstand ist ganz ruiniert und wer nicht in Zeiten etwas versteckt hat, den mangelt auch der nothwendigste Anzug. Mehrere Plünderungen von Cosaken, Baschkiren und Kirgisen, welche von böhmischen lieder[lichen] Volke angeführt worden, haben den größten Theil der vorher schon armen Einwohner zu Bettlern gemacht und auf den Dörfern ist kein Haus unbeschädigt; die besten Bauern gehen jetzt zerlumpt und in bloßen Füßen einher und das Elend ist allenthalben sichtbar u. unbeschreiblich 9. Ebenso hatte die Kriegsfurie vor den Gaußiger Untertanen nicht Halt gemacht. Vielmehr äußerten sich diese in einer an ihre Gutsherrin Henriette von Schall-Riaucour gerichteten Supplikation in einer lebendigen und bildhaften Sprache über die erlittenen Drangsale. Es ging schwerlich zu und wir waren nicht im Stande, unsere Felder gehörig zu bestellen […]. Während des Waffenstillstandes hatten wir 9 bis 11 Officiere, 40, 50 bis 60 Mann Gemeine und zugleich einige 50 Pferde fünf Wochen hindurch zu verpflegen und zu bequartieren. Diesen „Gästen“, die ca. 600 Reichtstaler Kosten verursachten, folgten Franzosen, Russen, Preußen, Kosaken. Dabei büßten die Dorfbewohner nicht nur Getreide und Vieh ein. Vielmehr beklagten sie: Man nahm uns unsere Kleidungsstücke, ja, wer ein

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Paar gute Stiefeln hatte, dem wurden sie sogar von den Füßen abgezogen. Und zerschlugen unsere Geräthschaften. Mit einem Worte, wir wurden so zu sagen bis auf die Haut ausgeplündert10. Zu diesen Kriegsbedrängnissen kamen Witterungsunbilden wie verheerende Hagelschläge am Beginn des 19. Jahrhunderts. Als extreme Notstandszeiten sind insbesondere die 1770er- und 1840er-Jahre zu nennen, die weitere (ökonomische) Krisen auslösten und zu bedrängten Lebensumständen führten. Drastisch spitzte sich die Situation infolge von Missernten vor allem in den Jahren 1842/43 und 1846/47 zu, in denen es aufgrund der Kartoffelfäule zu beträchtlichen Ausfällen bei der Erdäpfelernte kam und andere Lebensmittel erheblich verteuert wurden. Indem der zeitliche Rahmen dieses Beitrags das 18. und 19. Jahrhundert umfasst, wird zugleich der Bogen aus der Vormoderne in die Moderne gespannt. Dabei scheinen Transformationsprozesse auf, die auch ihren Niederschlag in der Armenversorgung fanden. Wenn nunmehr Kapitalien aus Armenlegaten und Stiftungen nicht mehr gegen Zins an Privatpersonen ausgeliehen, sondern in Form von Sparkassenbüchern angelegt wurden11, ist das ein Ausdruck dafür, dass sich das Vertrauen der Menschen auf abstrakte institutionelle Systeme zu verlagern begann – in diesem konkreten Fall auf die Institution Sparkasse. Auch hielt das Jahrhundert der Eisenbahn im Armenwesen Einzug. Die Bahn wurde für Reisen zwecks Einkaufs von Getreide sowie zum Transport des erworbenen „Armengetreides“ genutzt12. Ebenso war die Eisenbahn nunmehr ein bevorzugtes Transportmittel, um widerspenstige Arme der nächsthöheren Verwaltungsinstanz zuzuführen. Beispielsweise wurde der als Müßiggänger bezeichnete Ernst Fürchtegott Michel, der sich ungeachtet aller Ermahnungen immer wieder aus dem Niederoderwitzer Armenhaus entfernt und bei seiner Mutter aufgehalten hatte, unter Benutzung der Löbau-Zittauer Eisenbahn zur zuständigen übergeordneten Behörde transportiert13. Hingegen ist im administrativen Bereich das Heimatgesetz aus dem Jahr 1834 zu nennen. Nach dem Heimatgesetz gehörte jeder Staatsangehörige des Königreiches Sachsen einem Heimatbezirk an und besaß in demselben das Heimatrecht. Die Heimatbezirke waren gehalten, den ihrem Bezirk zugehörigen Armen Unterkunft sowie notdürftigen Unterhalt zu verschaffen, sofern die Betroffenen nicht durch eigene Anstrengungen und durch Unterstützung der privatrechtlich dazu verpflichteten Personen dazu in der Lage waren14. Letztlich wurde mit dem Heimatgesetz modifiziert und weiterentwickelt, was seit dem 16. Jahrhundert unter dem Begriff des „Heimatprinzips“ gefasst worden war. Bezog sich dieser Begriff zunächst auf den Geburtsort, bestimmte ein kursächsisches Mandat vom 11. April 1772, dass jeder Ort seine wahrhaft Armen selbst zu versorgen habe. Ein Recht auf Unterstützung hatten allerdings nur die am Ort Geborenen bzw. diejenigen, die mindestens zwei Jahre dort gelebt hatten. Besondere Bedeutung kommt im Rahmen der Gesetzestexte vor allem der Armenordnung für das Königreich Sachsen vom 22. Oktober 1840 zu15. Damit wurden alle einschlägigen älteren Gesetze und Verordnungen aufgehoben, insoweit diese nicht in der aktuellen Ordnung als noch gültig benannt waren. Die insgesamt 143 Paragraphen umfassende Ar-

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menordnung ist ein Spiegelbild zunehmender Bürokratisierung, in dem sich zugleich die normativ geregelte Installation verschärfter Kontrollmechanismen abbildet. Hatte bereits in der Frühen Neuzeit ein Entwicklungsprozess zur Steuerung des Armen- und Bettelwesens eingesetzt, der seinen Niederschlag in einer regelrechten Flut entsprechender Mandate und Verordnungen sowohl aus landesherrlicher wie auch kommunaler Perspektive16 fand, kam dieser Prozess im 19. Jahrhundert nunmehr zum Abschluss. Das Grundprinzip dieser Gesetzgebung bestand darin, den Gemeinden die alleinige Verantwortung für die Armenversorgung zuzusprechen. Hingegen standen übergeordneten Verwaltungs- bzw. Regierungsbehörden mit Blick auf diese vor Ort praktizierte Armenpflege Aufsichtsfunktionen zu. Dabei galt es insbesondere, die materiellen Ressourcen, die in den ländlichen Gesellschaften für die Armen vorhanden waren, zu überwachen. Das traf vor allem auch für bis dato vorhandene Stiftungen und Legate zu, auf die noch einzugehen sein wird. Die für die Armenfürsorge erforderlichen Mittel waren von den ländlichen Gemeinden selbst aufzubringen. In diesem Zusammenhang kam es zum Aus- bzw. Aufbau institutioneller Versorgungssysteme in Form von Armenvereinen, Armenversorgungsanstalten und (Orts-)Armenkassen. Woraus sich die Zuflüsse in diese Kasse speisen sollten, war detailliert in der Armenordnung geregelt17. Lediglich in Notstandszeiten gewährte der Staat eine ergänzende Versorgung in Form finanzieller Beihilfen18 oder der Arbeitsbeschaffung beim Straßen- und Wegebau. In diesem Zusammenhang schrieb der Zittauer Amthauptmann von Ingenhäff in einem auf April 1843 an die Kreisdirektion Bautzen datierten Bericht, die Not sei nicht mit Worten zu schildern. Zugleich betonte er vor dem Hintergrund des Webernotstandes in der südlichen Oberlausitz, der von mangelnden Arbeits- und Absatzmöglichkeiten geprägt war, er sei sich sicher, dass sich Tausende Weber eine andere Beschäftigung suchen würden, böten sich ihnen nur entsprechende Arbeitsmöglichkeiten. Zwar gab es seitens des Staates Bemühungen, hier gegenzusteuern, indem er Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der oben genannten Form von Straßen- und Wegebau zur Verfügung stellte. Jedoch wurden hier schnell die begrenzten Möglichkeiten staatlicher Hilfe sichtbar, war diese doch völlig unzureichend. Nach Meinung Ingenhäffs konnten dabei nur etwa 1.000 Personen Arbeit finden, was aber in keiner Weise zur Problemlösung beitrage, da viele Tausende täglich mit ihren Kindern zu Bette gehen, weil sie nichts zu thun haben und den Hunger zu verschlafen hoffen19. Die Verantwortung für die Armenversorgung vor Ort oblag Armendeputationen oder -kommissionen, die sich unter anderem aus Vertretern des Gemeinderates rekrutierten. Zu den wesentlichsten Gegenständen der Armenpflege, die die Armenordnung von 1840 festschrieb, zählten Almosenvergabe, Krankenpflege, Kindererziehung, Bereitstellung von Unterkünften sowie allumfassende Fürsorgeleistungen20. Das korrespondierte mit einem repressiven Umgang den Armen gegenüber, einer Verschärfung der sozialen Kontrolle und noch stärkerer Akzentsetzung auf das Kriterium Unterstützungswürdigkeit. Welchen Belastungen die Gemeindemitglieder allein durch Unterbringung und Verpflegung eines einzigen Almosenempfängers ausgesetzt sein konnten, dokumentiert der Fall des blödsinnigen Gotthelf Friedrich Kaden aus der Grundherrschaft Purschenstein21.

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Im Jahr 1842 war Kaden zum endgültigen Versorgungsfall für die Gemeinde geworden, nachdem er bereits seit 1826 einzelne Unterstützungsleistungen aus der Armenkasse bezogen hatte. Kaden, ein geistig behinderter Mann und nach Aussage der Dorfbewohner leicht erregbar, musste aufgrund seines (Geistes-)Zustandes inzwischen rund um die Uhr betreut werden. Bedingt durch seine gesundheitliche Konstitution war es jedoch nicht möglich, ihn dauerhaft bei einem Gemeindeangehörigen unterzubringen. Vielmehr musste er von den einzelnen Gemeindemitgliedern nach dem Prinzip des Reihezuges aufgenommen werden. Allerdings war das kein ungefährliches Unterfangen, denn die interimistische Beherbergung Kadens ging stets mit Brandgefahr einher. Trotz strengster Vorsichtsmaßnahmen hielt der Arme nach abwegigsten Rauchgelegenheiten Ausschau: Er höhlte unter anderem Krautstrünke aus, füllte diese anschließend mit Spänen, Heu und Stroh, um diesen „Tabaksersatz“ letztlich zu rauchen. Schließlich erfolgte im Juni 1842 seine Aufnahme in die Heil- und Verpflegungsanstalt Sonnenstein. Die Heimatgemeinde hatte dabei bis 1847 − in jenem Jahr verstarb Kaden − die jährlich anfallenden Verpflegungskosten für den Armen zu übernehmen. Bevor es zu diesen grob umrissenen Bruchstellen und damit einhergehenden Veränderungen bei der Armenversorgung kam, basierte ländliche Armenfürsorge auf dem nachfolgend zu skizzierenden System. Eine ihrer tragenden Säulen bildeten Stiftungen und Legate. In der Stiftungstätigkeit spiegelt sich aber keineswegs nur das auf der Hausväteridee des 16. Jahrhunderts gründende paternalistische Herrschaftsverständnis wider, vielmehr traten auch Gutsuntertanen als Stifter in Erscheinung. 1745 setzte beispielsweise der Hainewalder Erb- und Lehnrichter Johann Göhle ein Armenlegat, und auf 1828 datiert eine Stiftung des dortigen Häuslers und Wundarztes Immanuel Gottlieb Israel22. Aus herrschaftlicher Perspektive seien exemplarisch für die Gutsherrschaft Gaußig das auf 1780 datierte Gräflich Riaucoursche Armenlegat23 und das von Victoria Tugendreich von Canitz im Jahr 1703 in Hainewalde gestiftete Hospital genannt. Neun Armen und Alten wurde darin Unterkunft gewährt. Zudem erhielten sie Holz und Licht sowie ein von Woche zu Woche ausgeteiltes Geldalmosen24. In einer weiteren Quelle wird darüber berichtet, dass es an die Spitalbewohner wöchentliche Brotausteilungen gab. Darüber hinaus bekamen sie für die Zubereitung ihrer Mahlzeiten, jeweils für einen Zeitraum von sechs Wochen bemessen, drei Mäßel Hirse und dazu je eine Metze Hafergrütze, Graupen, Heidegrütze (Buchweizen) sowie Erbsen oder Backobst25. Hinsichtlich dieser (adeligen) Wohltätigkeitsakte besteht noch ein ganz erheblicher Forschungsbedarf. Der Umfang der hierüber erbrachten Versorgungsleistungen ist weitestgehend unbekannt. Auch gibt es bislang kaum Erkenntnisse zur Stiftungsmotivation. Es wird davon auszugehen sein, dass die Betätigung Adeliger als Stifter eine Prestigefrage war und zum herrschaftlichen Selbstverständnis zählte. Zudem war Mildtätigkeit ein probates Instrument, sich die Untertanen gefügig zu machen. Das korrespondierte mit ordnungspolitischen Erwägungen, sozialer Kontrolle und Disziplinierung. Darüber hinaus ließen sich karitative Akte für die Inszenierung und Absicherung von Macht nutzen. Nicht zuletzt ist hierbei auch klar zwischen den Semantiken und Praktiken zu unterscheiden.

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Rhetorisch ließ sich Wohltätigkeit durchaus als großzügig darstellen. Das sagt allerdings noch nichts über die Relationen aus, die der materielle Einsatz für wohltätige Zwecke oder eine Stiftung im Rahmen der herrschaftlichen Gesamtausgaben ausmachte. Möglicherweise schlug der hierfür verwendete materielle Einsatz nur mit einem Bruchteil zu Buche. Standen Austeilungen aus herrschaftlichen Stiftungen oder Legaten an, dann erstellten zumeist die Dorfgerichtspersonen unter Mitwirkung des Ortspfarrers Vorschlagslisten. Auf der Grundlage dieser Vorauswahl wurde dann seitens der Herrschaft entschieden, welche Personen unterstützt werden sollten. Hinzu kamen, wenngleich als Marginalie zu betrachten, seitens der Gutsherrschaft auf freiwilliger Basis gewährte Beihilfen in Form von (Saat-)Getreide. In diesem Zusammenhang wandte sich Johanna Christliebe Hirmann aus Deutschneudorf an den Gutsherrn von Schönberg auf Purschenstein. Seit ihrer Kindheit litt sie an geschwollenen Beinen und war deswegen zu schwerer Arbeit unfähig. Dennoch hatte sich die Frau immer bemüht, ihren Lebensunterhalt redlich zu erwerben. Inzwischen jedoch war sie alt und schwach geworden und auch nicht im Stande, herum zu gehen und milde Gaben zu sammeln. Da jedoch eine Dorfbewohnerin – die verwitwete Dietzin – verstorben war, die bisher eine Unterstützung mit Getreide genossen hatte, bat nunmehr die Supplikantin darum, Hochdieselben wollen diese Wohlthat gnädigst auf mich [zu] übertragen geruhen, um mir dadurch meine drückende Armuth und letzte Lebensjahre [zu] erleichtern26. Weitere unverbindliche, seitens der Herrschaft realisierte Unterstützungsleistungen bestanden in der Austeilung von Brot und (Saat-)Kartoffeln, Schulgeldzahlungen für Kinder armer Untertanen, in Ausnahmefällen auch die komplette Begleichung von Kosten für medizinische Behandlungen. So übernahm der Gutsherr von Kyaw die sich auf 14 Reichstaler belaufenden Kosten für Pulver, Salben, Pflaster, Einreibungen und Aderlass, die im Rahmen der Behandlung der an Aussatz leidenden Tochter des Gutsuntertanen Kluttig entstanden waren27. Möglich war auch die Bewilligung von Krediten. Als 1777 in Hainewalde venerische Krankheiten auftraten, brachte das einen Großteil der Betroffenen in eine äußerst prekäre Situation. Sie hatten bereits ihre Betten und Hausgerät versetzt, um die Rechnungen der Heiler, die sie bislang konsultiert hatten, begleichen zu können. Schließlich erklärte sich der Gutsherr von Kyaw bereit, denjenigen Untertanen, die zum Bestreiten der Behandlungskosten sowie zur Bezahlung der erforderlichen Medikamente nicht in der Lage waren, einen Vorschuss zu gewähren. Allerdings band er dieses Kreditangebot an absolute Fügsamkeit der Betroffenen. Hinfort war ihnen untersagt, außer dem Zittauer Stadtchirurgen noch weitere heilkundige Personen zu konsultieren. Auch durften sie keine anderen Mittel als die verordneten einnehmen. Dieses Beispiel illustriert eindrucksvoll, in welch starker Ausprägung sich der Gutsherr nach innen die Rolle des pater familias und seinen Untertanen die der unmündigen Kinder zumaß. Im Tausch gegen seine vermeintliche väterliche Fürsorge verpflichtete er diese zu unbedingtem Gehorsam und billigte sich eine uneingeschränkte Verfügungsgewalt über deren Körper zu28. Wie bereits ausgeführt, war mit dem kursächsischen Mandat vom 11. April 1772 bestimmt worden, dass jede Gemeinde ihre Armen selbst zu versorgen hatte. Zudem war ein

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Armenfonds bzw. eine Armenkasse zwecks gleichmäßiger Lastenverteilung einzurichten. Almosen, Gottespfennige, Stiftungsgelder und andere Einnahmen bildeten den Finanzstock dieser Kasse. Insofern die Mittel nicht ausreichten, hatten auf dem Land die Gerichtsherren freiwillige Beiträge zu leisten29. Darüber hinaus durften mit landesherrlicher Bewilligung gemeine Anlagen für den Armenfonds erhoben werden. Aus überlieferten Armenkassenrechnungen des ländlichen Raumes geht hervor, dass sich deren Kassenbestand aus Einnahmen im Rahmen von Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen, Käufen und Vermächtnissen, Kollekten sowie Strafgeldern speisten. Weiteren Zufluss erhielten diese Kassen aus Sammlungen freiwilliger Beträge30. Um eine quantitative Vorstellung von den Unterstützungsmöglichkeiten aus diesem Fonds zu vermitteln, sei das folgende Zahlenbeispiel angeführt: 1811 wies die Hainewalder Armenkasse einen Bestand von rund 33 Reichstalern auf. Die Ausgaben hatten sich auf rund 27 Reichstaler belaufen. Zehn Arme – bei einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 1.200 – erhielten aus dieser Kasse ein wöchentliches Almosen in Höhe von ein bzw. zwei Groschen31. Demzufolge fand nicht einmal ein Prozent der Hainewalder Bevölkerung bei der Gewährung von Unterstützung Berücksichtigung32. Insofern besondere Gebäude zur Aufnahme Armer vorhanden waren, wobei das zumeist das Gemeindehaus betraf, wurde den Bedürftigen darin freie Herberge gewährt. Nähere Angaben zu den Dorfarmen, die als unterstützungswürdig galten, sind in erster Linie den seitens der Dorfgerichtspersonen bzw. der Gemeindevorstände erstellten Armenverzeichnissen zu entnehmen. Ein besonderer Informationswert dieser Spezifikationen besteht darin, dass sie etliche Daten zum physischen und sozialen Status dieser Menschen enthalten. So finden sich Angaben zur körperlichen Konstitution und zu Krankheitsbildern, zur Erwerbssituation, zum Familienstand sowie zum Alter und zur familiären Situation. Darüber hinaus wird der in diesen Listen verwendete Armutsbegriff in Form der Abstufungen arm, sehr arm, ganz arm weiter ausdifferenziert33. Hauptsächlich war es mangelnde Arbeitsfähigkeit aufgrund körperlicher Gebrechen, die in die Bedürftigkeit geführt hatte: Chronische Krankheiten, Gicht, Wassersucht, Lähmungen, Knochenfraß, erlittene Schlaganfälle, Blindheit und Geisteskrankheiten werden oftmals in den Listen genannt. Hinzu kommen hohes Alter bzw. Altersschwäche und Witwenschaft34. Das Individualschicksal der Häuslerwitwe Anna Rosina Stangin weist gleich mehrere Einzelaspekte aus einem ganzen Ursachenbündel aus, das für potenzielle Verarmung bzw. Armut typisch war. Im Vertrauen darauf, dass ihr seitens der Gutsherrin Henriette von Schall-Riaucour Unterstützung gewährt würde, wandte sich Anna Rosina Stangin im Juli 1805 mit einem Bittgesuch an diese. Sie schrieb: Ew[er] Hochgebohrnen habe ich bis jetzt noch niemals mit einer unterthänigen Bitte zur Erleichterung meiner Umstände angehen dürfen, denn ich hatte, ob mich wohl die Armuth drückte, doch durch den fleiß meines seel. Ehemannes und durch eigene Thätigkeit so viel ich von einem Tage zum anderen bedurfte. Aber seit ein paar Jahren habe ich meinen Ernährer durch einen äußerst traurigen Zufall verlohren, indem mein Ehemann auf der zur hiesigen Mittelmühle gehörigen Schneidemühle zu Tode

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gequetscht wurde. Ich selbst werde alt, bin meiner Gesundheitsumstände halber unfähig, schwere Arbeiten zu verrichten und kann nicht mehr so viel als sonst verdienen. Zwar lebe ich bey einer Tochter, allein auch diese hat in dieser so sehr theuren Zeit mit ihrem Ehemann vollauf zu thun sich und ihre Kinder nur nothdürftig durch Tagearbeit zu ernähren35. Die bislang exemplarisch ausgewerteten Armenlisten geben eindeutige Hinweise darauf, dass das Geschlecht der Armut auf dem Land weiblich war. Signifikant ist dabei der hohe Witwenanteil. Das sei anhand einer Stichprobe aus der Gutsherrschaft Gaußig aus den 1860er-Jahren grafisch dargestellt36.

14 12 10 8 6 4 Angaben (GESAMT)

2

Männer Frauen

0

davon Witwen

1861

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1863

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Armenhäuser aus der Binnenperspektive Nach dieser groben Überblicksdarstellung soll nachfolgend auf einen sachthematischen Aspekt der Armenversorgung, die Gemeinde- bzw. Armenhausthematik 37, näher eingegangen werden. Mit der Armenordnung von 1840 wurden die lokalen Armenbehörden verstärkt darauf orientiert, sich mit dem Problemkreis Armen- respektive Gemeindehaus auseinanderzusetzen, um dort obdachlose Arme einzuquartieren. Der Reihezug hingegen sollte nur noch im Notfall in Anwendung kommen. Weiterhin war vorgesehen, Altersschwache, Gebrechliche und psychisch beeinträchtigte Menschen, die sich nicht selbstständig versorgen und auf kein soziales Kapital zurückgreifen konnten, in öffentlichen Hospitälern, Gemeindeund Armenhäusern unterzubringen38. In diesem Zusammenhang kam es im ländlichen

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Raum nachweislich zu Um- und Erweiterungsbauten an den zuletzt genannten Einrichtungen, insofern solche bereits vorhanden waren. Verschiedentlich wurden auch Neubauten geplant39. Es sind vor allem Revisionsberichte, über die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts Binneneinsichten in diese Häuser gewinnen lassen und die Aufschluss über deren Bewohner geben. Beispielsweise umfasste im November 1859 der Kreis der Hainewalder Armenhausbewohner 24 Personen, die auf der Altersskala Werte zwischen einem und 70 Lebensjahren aufwiesen40. Abgesehen von einem altersschwachen 70-jährigen Tagelöhner und einem 48 Jahre alten Maurer, der wegen eines chronischen Leidens arbeitsunfähig war, handelte es sich bei den Armenhausinsassen zumeist um Tagelöhnerfamilien sowie Witwen mit Kindern, die frei von körperlichen und geistigen Gebrechen waren. Die Bewohner des Armenhauses hatten zumeist einen guten Leumund, sieht man von einem Tagelöhner ab, dem nachgesagt wurde, er verstünde es nicht, seinen Erwerb einzuteilen sowie einer Witwe, die als widerspenstig und zänkisch galt. Ein Teil dieser Armenhausbewohner arbeitete auf dem herrschaftlichen Hof im Tagelohn. Einige Kinder der Armenhäusler, die noch die Schule besuchten, waren zudem mit Treibarbeiten beschäftigt. Einen Jahrzehntschritt weiter lässt sich ein ähnliches Bild von den Armenhausbewohnern zeichnen, wobei im Rahmen dieser Momentaufnahme unter den Beschäftigungen Näh- und Treibarbeiten dominierten. Ohnehin setzte die Armenordnung von 1840 zum wiederholten Mal einen besonderen Akzent auf den Arbeitsgedanken. Demnach waren „Arbeitscheue“ zur Arbeit zu zwingen, Arbeitsfähigen und -willigen hingegen sollte Arbeit verschafft werden41. Spannungslagen und Konfliktsituationen, die in den Archivalien aufscheinen, leuchten zwar die Alltagssituationen in diesen Einrichtungen nicht völlig aus, lassen aber zumindest Bruchstücke von Befindlichkeiten erkennen sowie die Armenhausinsassen als Akteure wahrnehmen. Als solche versuchten sie Einfluss auf den Alltag und die Lebensbedingungen in diesen Einrichtungen zu nehmen, wobei sie Handlungsstrategien entwickelten und Versuche unternahmen, im Sinn der Durchsetzung ihrer Interessen aktiv zu werden. Thematisiert wurde immer wieder die räumliche Enge − sowohl im Kontext zu Revisionsberichten42 als auch aus der Individualperspektive von Armenhausinsassen. Im Mai 1863 wandte sich beispielsweise Johanne Rahel Köhler, eine Bewohnerin des Spitzkunnersdorfer Armenhauses, mit einem Bittgesuch an die königliche Kreisdirektion zu Bautzen. Als allein erziehende Mutter war sie in Armut geraten und hatte nunmehr im Armenhaus eine Unterkunft zugewiesen bekommen. Der Frau nebst ihren zwei Kindern wurde eine Wohnfläche von 3 x 3,25 Ellen43 (ungefähr drei Quadratmeter) zugewiesen. Eine Nutzung dieser Fläche erfolgte als Wohn-, Schlaf- und Arbeitsstätte sowie Lagerplatz für Brennholz. Da das Stübchen nicht einmal gedielt war, klagte die Arme darüber, dass ihr Bett(zeug) vermodere und verfaule. Ihre beengte Wohnsituation kontrastierte sie mit den aus ihrer Sicht luxuriös anmutenden Verhältnissen der ebenfalls im Armenhaus lebenden Totengräberfamilie. Diese bewohnte die größte Stube. Darüber hinaus hatte diese Familie die Verfügungsgewalt über zwei Kammern und den Dachboden. Ferner reflektierte die

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Supplikantin darüber, dass der Totengräber drei Pachtäcker habe. Überdies stünden in dessen Stube drei Webstühle, an denen seine Kinder arbeiteten. Aufgrund dieser Beobachtungen kam die Frau zu dem Schluss, der Mann, der sparrt sich Geld und mir Armen haben nicht so ein Plätzchen, dass wir uns nicht ein bisschen Holz darauf legen können. Schließlich resümiert sie: Es gibt auch elende Kranke und krüppelhafte Menschen in unserer Kumun, so wollten auch Zuflucht im Armenhause, so kann es aber nicht sein, denn weil kein Raum mehr ist 44. Besonders problematisch wurde es, wenn fast alle Armenhausinsassen in einer Stube – zumeist war es eine der wenigen beheizbaren – logieren mussten und diese zugleich als Arbeitsstätte genutzt wurde. 1862 waren im Hainewalder Armenhaus in einem einzigen Raum, auf einer Fläche von 8 x 8 Ellen (das entspricht in etwa 20 Quadratmeter), 15 Personen zusammengepfercht45. Dass unter solchen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens sehr rasch Spannungslagen und Konfliktsituationen entstanden, versteht sich beinahe von selbst. Dabei war es vor allem ein „explosives“ Gemisch aus Verdruss, Daseinsunlust, Ausweglosigkeit, Neid, völlig unterschiedlichen mentalen Veranlagungen, sozialen und sexuellen Nöten, das partiell zu eruptiven Entladungen führen konnte. Die dabei an die Oberfläche treibenden Emotionen wie Einsamkeit, Verzweiflung, Wut, Hass und Kränkungen lassen sich regelrecht aus den Akten extrahieren. Mit dem folgenden Beispiel sollen diesbezügliche Einblicke in die inneren Verhältnisse des Hainewalder Armenhauses gegeben werden46. Zunächst wurde Johanne Christiane Reichel aktenkundig. Sie war kein ganz unbeschriebenes Blatt, hatte wegen Diebstahls bereits einige Wochen im Gefängnis gesessen und aufgrund ungebührlicher Reden einen Verweis vom Gerichtsamt Zittau erhalten. Geboren als uneheliches Kind, hatte sie im 13. Lebensjahr ihre Mutter verloren. Reichel ging in Hainewalde zur Schule, wurde dort auch konfirmiert und erlernte das Wirken. Diesen Beruf übte sie geraume Zeit aus, diente später jedoch bis zu ihrer Verehelichung als Magd in Eibau. Im Alter von etwa 20 Jahren heiratete sie einen Spitzkunnersdorfer Weber. 1857 wurde die Ehe geschieden. Nach der Scheidung blieb sie zunächst in Spitzkunnersdorf, kam dann nach Hainewalde und wohnte seitdem im Armenhaus. Nach Einschätzung der Armendeputation war Reichel diejenige Person, welche uns durch ihr zucht- und zügelloses, bis jetzt durch keines der uns zu Gebote stehenden Mittel zu bändigendes Verhalten die meiste Noth macht und die Ordnung im Armenhause stört 47. Unisono berichteten der Armenhausaufseher und die Bewohner des Hauses, dass diese oftmals Zank und Streit mit ihren Stubengenossen anfinge, insbesondere mit der Witwe Johanne Rahel Köhler, die dort mit ihren zwei kleinen unehelichen Kindern lebte. Bei diesen Zänkereien sollte Reichel grässliche Flüche ausstoßen und sich tätlich an ihren Gegnern vergreifen. Von Ermahnungen und Strafandrohungen ließ sich die Frau nicht beeindrucken. Im Laufe der Zeit hatte sich ein längerer Katalog der Reichelschen Fehltritte angesammelt: Mehrmals soll sie betrunken gewesen sein, Branntwein ins Armenhaus geschmuggelt und davon ihren Kindern zum Trinken gegeben und überdies unsittliche

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Reden und Pantomimen in Gegenwart kleiner Kinder und der übrigen Hausgenossen geführt haben. Darüber hinaus sei sie mehrmals spät in der Nacht nach Hause gekommen. Weiterhin habe sie nicht zum Armenhaus gehörige Leute zum Fenster hereingelassen und die Nacht hindurch mit diesen in der Stube Unfug getrieben48. Zudem stand Johanne Christiane Reichel im Verdacht, die Unzucht geradezu erwerbsmäßig zu betreiben. Damit wurde gleich ein ganzes Bündel stereotyper Anschuldigungen hinsichtlich Lebenswandel, Moralität und Verhalten gegen sie vorgebracht. Als die Armenhausbewohnerin aufgrund dieser Vorwürfe auf das Zittauer Gerichtsamt geladen wurde, zeigte sich, dass sie durchaus versucht hatte, ihre Handlungsspielräume auszuloten. So räumte sie unter anderem ein, sich manchmal mit der Köhlerin gezankt und geprügelt zu haben und vom Branntwein angetrunken gewesen zu sein. Auch stellte sie nicht in Abrede, im Beisein anderer spaßweise Äußerungen zu tun, die sich auf geschlechtlichen Umgang mit Männern beziehen. Das weist eindeutig darauf hin, dass Reichel ihr Leben im Armenhaus nach ihren individuellen Vorstellungen zu gestalten versuchte. Hingegen wehrte sie sich mit Vehemenz gegen den Vorwurf der gewerbsmäßigen Unzucht – eine Unterstellung, mit der sie kriminalisiert und ihre Ehre auf das Äußerste untergraben wurde, verdiente sie sich doch mit Näharbeiten ihren Lebensunterhalt. Das bestätigte der Armenhausaufseher als vor das Gerichtsamt geladener Zeuge. Allerdings vermochte die Armenhäuslerin mit dieser Arbeit und bei allem Fleiß nicht mehr als täglich zweieinhalb Neugroschen zu verdienen. Unter Zurechtweisungen und Ermahnungen schickte man die Frau schließlich wieder ins Armenhaus zurück. Nur wenige Monate später wurden Reichel und Köhler erneut aktenkundig, nachdem erneut Exzesse zwischen den beiden Frauen vorgefallen waren. Allerdings geht aus der Aktenlage hervor, dass dazu Köhler den Anlass gegeben hatte. An Nichtigkeiten, alltäglichen Banalitäten hatte sich ein weiterer Konflikt entzündet, der mehrere Steigerungsstufen durchlief, wobei bei diesem Konfliktaustrag auch vor Gewaltanwendung nicht zurückgeschreckt wurde. Am Anfang stand der verbale Schlagabtausch, dem sich das Aussprechen von Drohungen anschloss. In der Dramaturgie folgten zerschlagenes Geschirr und das Umherwerfen eines Schemels. Das Ende schließlich markierte eine erhebliche Wunde am Arm der Reichel, die daher rührte, dass Köhler mit Wucht einen Krug an den Arm ihrer Widersacherin geschmettert hatte. Ein alter Stubengenosse der Frauen, dem der Streit einfach nur lästig war, hatte zu schlichten versucht und zur Ruhe gemahnt. Daraufhin attackierte ihn Reichel verbal. Ihr alter Teufel, haltet Eure Gusche, Ihr braucht Euch nicht in alles einzumischen. Darüber verärgert, zog nunmehr der Alte die Frau an den Haaren. Sie parierte umgehend und versetzte dem Mann mit der Mangelkeule einen Schlag. Allerdings war die Spitze des Eisberges noch immer nicht erreicht, sondern erst in dem Moment, als das feindselige Verhältnis der beiden Frauen insofern eskalierte, als Köhler ihre Gegenspielerin massiv zu belasten begann, indem sie ihr Sexualdelikte unterstellte. Zum einen behauptete sie, Reichel habe, noch dazu in Gegenwart von im Armenhaus wohnenden Kindern, einen Slowaken zum Beischlaf gereizt. Viel gefährlicher jedoch war die Unterstellung, dass sie ihr dreijähriges Kind zur Unzucht angestiftet haben sollte. Derartig mit

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moralisch-sexuellem Fehlverhalten belastet, drohte ihr eine strafrechtliche Verfolgung mit der Konsequenz, die soziale Stufenleiter noch weiter hinabzugleiten. Nur einem Glücksumstand, der Aussage einer völlig unverdächtigen Zeugin, wonach die Angeklagte in keiner Weise ihr Kind veranlasst habe, sie unzüchtig zu betasten, war es zu verdanken, dass das Strafgesetzbuch nicht in Anwendung kam. Mehr Ruhe zog vermutlich erst im Armenhaus ein, nachdem die Armendeputation beschloss, der Witwe Köhler, die jene Einrichtung zu verlassen wünschte, zunächst für ein Jahr den Hauszins für eine anderweitige Unterkunft zu gewähren. Reichel hingegen sollte wegen ihres unmoralischen Lebenswandels in eine Korrektionsanstalt gebracht werden – notfalls auf Kosten der Armenkasse.

Fazit Die hier vorgenommene Längsschnittanalyse zur Armenfürsorge zeigte, dass das Versorgungswesen noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein von einem ausgeprägten Paternalismus gekennzeichnet war. Dabei wurde Armenfürsorge auch instrumentalisiert, um Herrschaftsanspruch durch Ausüben von Fürsorge abzustützen. Das korrespondierte mit sozialer Kontrolle und Disziplinierung der Untertanen. Hingegen war es aus der Perspektive der armen Leute ein typisches Verhaltensmuster, sich in gesellschaftlich und/oder individuell bedingten Not- und Krisensituationen mittels Supplikationen an die Herrschaft zu wenden, womit die Armen zumeist darauf abzielten, ihr (ökonomisches) Überleben zu sichern. Insbesondere im Kontext zur Armenordnung aus dem Jahr 1840 wurden Bruchstellen sichtbar, die zugleich den Übergang zu weit reichenden Veränderungen bildeten. Deren wesentliches Kennzeichen besteht in einer Verlagerung des auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basierenden traditionellen paternalistischen Armenversorgungswesens auf institutionelle Versorgungssysteme. Mit den darüber hinaus vorgenommenen Individualisierungen wurden einzelne Arme in ihren lebensweltlichen Kontexten in den Blick genommen, wobei gezeigt werden konnte, dass diese durchaus eigene Handlungsstrategien zu entwickeln vermochten.

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Vgl. Staatsfilialarchiv Bautzen (im Folgenden StaFilA Bz), 50133, GA Hainewalde, Nr. 1382, unpag. Vgl. StaFilA Bz, GH Hainewalde, Nr. 721, unpag. Vgl. StaFilA Bz, 50133, Nr. 4613. Ebd. Ich beziehe mich hierbei auf Ines Zissel, „… dass der Begriff der Armuth in jeder Gemeinde ein anderer ist“. Dörfliche Armenversorgung im 19. Jahrhundert, in: Norbert Franz u. a. (Hg.), Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum (Trierer Historische Forschungen 36), Mainz 1999, S. 217–247, hier S. 217. So formulierte das 1851 Landrat von Arnim an die Bezirksregierung Köln. Hier ist vor allem auf Studien zu verweisen, die aus dem Forschungsprojekt B 5 „Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philanthropie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter, 1860–1975“ hervorgingen. Dieses Projekt ist Bestandteil des Trierer Sonderforschungsbereiches 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsverfahren von der Antike bis zur Gegenwart“. An dieser Stelle seien vor allem genannt Inga Brandes, Katrin Marx-Jaskulski (Hg.), Armenfürsorge und Wohltätigkeit. Ländliche Gesellschaften in Europa, 1850−1930 (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 11), Frankfurt-Berlin-Bern 2008; Katrin Marx-Jaskulski, Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts XVI), Göttingen 2008; Martin Krieger, Arme und Ärzte, Kranke und Kassen. Ländliche Gesundheitsversorgung und kranke Arme in der südlichen Rheinprovinz (1869−1930) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beih. 31), Stuttgart 2008. Als anschlussfähig für unsere Untersuchung insbesondere auch Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770−1848. Bauern und Unterschichten. Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64), Göttingen 1984. – Lediglich ein nur kurzer Abschnitt zum Armsein im Dorf findet sich in der Überblicksdarstellung von Werner Trossbach, Clemens Zimmermann, Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich bis zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006, insbes. S. 187–190. – Mit Blick auf das ländliche Armutsproblem in Sachsen an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit siehe Uwe Schirmer, Alltag, Armut und soziale Not in der ländlichen Gesellschaft. Beobachtungen aus dem kursächsischen Amt Wittenberg (1485–1547), in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, Leipzig 2007, S. 115–142. Für das 17. und 18. Jahrhundert hat sich anhand von Kirchenbucheinträgen Markus Cottin mit der Thematik befasst. Markus Cottin, Kirchenbucheinträge als Quellen für Armut und Bettel auf dem Lande – die Beispiele Großzschocher und Windorf, in: Katrin Keller, Gabriele Viertel, Gerald Diesener (Hg.), Stadt, Handwerk, Armut. Eine kommentierte Quellensammlung zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Helmut Bräuer zum 70. Geburtstag zugeeignet, Leipzig 2008, S. 438–455. Das Material für diesen Beitrag wurde im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts „Ländlicher Alltag auf dem Weg in die Moderne. Sächsische und oberlausitzische Agrargesellschaften zwischen Rétablissement und Erstem Weltkrieg“ erhoben und ausgewertet (vgl. www.isgv.de). Ich danke meiner Kollegin Ira Spieker für ihre Anmerkungen. Vgl. zu diesem Grundprinzip des Themenverständnisses der Armutsforschung Helmut Bräuer, Der Leipziger Rat und die Bettler. Quellen und Analysen zu Bettlern und Bettelwesen in der Messestadt bis ins 18. Jahrhundert, Leipzig 1997, S. 13. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden 10365, GH Liebstadt, Nr. 2549, unpag. StaFilA Bz 50133, GA Gaußig, Nr. 1656, unpag., 11. Dezember 1813. Ebd., Nr. 424, unpag., 26. August 1861. Vgl. StaFilA Bz 50016, AHM Zittau, Nr. 3657, unpag. Vgl. ebd., Nr. 3722, Bl. 10. Vgl. Heimaths-Gesetz vom 26. November 1834, insbes. § 4. Armenordnung für das Königreich Sachsen vom 22. Oktober 1840, Grimma 1841.

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16 F  ür ausgewählte sächsische Städte siehe hierzu die überaus zahlreichen Nachweise bei Helmut Bräuer, Elke Schlenkrich (Bearb.), Armut und Armutsbekämpfung. Schriftliche und bildliche Quellen bis um 1800 aus Chemnitz, Dresden, Freiberg, Leipzig und Zwickau, 2 Halbbde., Leipzig 2002. 17 Vgl. Armenordnung für das Königreich Sachsen, §§ 13 bis 20. Untergliedert nach der Struktur A: zufällige Einnahmen (u. a. Sammlungen bei Hochzeiten, Kindstaufen, Begräbnissen, Bestätigungen von Käufen, Tauschkontrakten, Abgaben von Innungsverwandten, Abgaben von Tanzveranstaltungen, Schaustellungen etc.), B: bestimmte Einnahmen sowie C: Einnahmen aus eigener Verwaltung wurde hier ganz genau geregelt, was an Einlagen in die Kasse zu erbringen war. 18 Beispielsweise stellte die Kreisdirektion Bautzen im Notstandsjahr 1855 einen Betrag von 90 Talern zur Verfügung, die zu je 45 Talern für die Armenunterstützung in Hainewalde und Spitzkunnersdorf verwendet werden sollten. Vgl. StaFilA Bz 50016, AHM Zittau, Nr. 3657, Bl. 66. 19 StaFilA Bz 50012, Kreishauptmannschaft Bautzen, Nr. 4358, Bl. 30. 20 Vgl. Armenordnung für das Königreich Sachsen, § 33. 21 Zum Fall des Kaden siehe Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden 10492, GH Purschenstein, Nr. 5096, Bll. 85–105. 22 Zu einer Zusammenstellung dieser und weiterer Stiftungen siehe StaFilA Bz 50012, Kreishauptmannschaft Bautzen, Nr. 3215. 23 Vgl. StaFilA Bz 50133, GA Gaußig, Nr. 424. Hierbei waren für das Legat folgende Verwendungszwecke bestimmt: Pensionen für alte und unvermögende Diener sowie Unterstützung deren bedürftigen Witwen, Beihilfen für Hausarme, Bresthafte oder Abgebrannte ohne Unterschied der Religion, Ausstattung von armen Untertanenkindern. 24 Vgl. StaFilA Bz 50141, GH Hainewalde, Nr. 1382. 25 Vgl. ebd., Nr. 721, unpag. 26 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden 10492, GH Purschenstein, Nr. 5092, unpag., 27. März 1838. 27 Vgl. StaFilA Bz 50141, GH Hainewalde, Nr. 4613, unpag. 28 Robert Berdahl, Paternalismus als Herrschaftssystem, in: Hans Jürgen Puhle, Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick (Geschichte und Gesellschaft Sonderh. 6), Göttingen 1980, S. 123–145. 29 Für den städtischen Bereich erstreckten sich die freiwilligen Beitragleistungen auf Beamte, Ratsherren, Geistliche und Schuldiener. 30 Vgl. dazu exemplarisch Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden 10365, GH Liebstadt, Nr. 1100, unpag. 31 Vgl. StaFilA Bz 50141, GH Hainewalde, Nr. 4515, unpag. 32 Entsprechende Zahlenangaben, die in der aktuellen Forschungsliteratur genannt werden, weisen eine Varianz von unter einem bis höchstens drei Prozent der ländlichen Bevölkerung aus, die in das Blickfeld der Armenversorgung gerieten. Vgl. Inga Brandes, Katrin Marx-Jaskulski, Armut und ländliche Gesellschaft im europäischen Vergleich, in: Dies., Armenfürsorge und Wohltätigkeit (wie Anm. 6), S. 9–45, hier S. 10. Vgl. ferner Zissel, Begriff Armuth (wie Anm. 5), S. 238. 33 Vgl. zu diesen Angaben, StaFilA Bz 50047, AG Bautzen / Vorakten PG Gaußig, Nr. 941, Bl. 13 ff.; StaFilA Bz 50133, GA Gaußig, Nr. 424, unpag. 34 Vgl. StaFilA Bz 50047, AG Bautzen / Vorakten PG Gaußig, Nr. 941, Bl. 13 ff.; StaFilA Bz 50133, GA Gaußig, Nr. 424, unpag. 35 StaFilA Bz 50133, GH Gaußig, Nr. 1655, unpag., 10. Juli 1805. 36 Die Grafik basiert auf Angaben aus StaFilA Bz 50133, GA Gaußig, Nr. 424, unpag. Weiteres herangezogenes Vergleichsmaterial in Form eines Gaußiger Armenverzeichnisses aus dem Jahr 1830 verdichtet diese Momentaufnahme. Unter den 38 Namensangaben dieses Armenverzeichnisses werden 30 Frauen genannt, wobei sich bei 21 der Vermerk der Witwenschaft fand. Vgl. StaFilA Bz 50047, AG Bautzen / Vorakten PG Gaußig, Nr. 941, Bl. 13 ff. 37 A ls vergleichende Sichtweise auf die ländliche Armenhausproblematik siehe für die Sächsische Schweiz Manfred Schober, Zur Geschichte der Armenhäuser in den Dörfern der Sächsischen Schweiz im 19. Jahrhundert, in: Aus den Forschungen des Arbeitskreises für Haus- und Siedlungsforschung

Armenversorgung im ländlichen Raum

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(Berichte für Haus- und Siedlungsforschung 2), Marburg 1991, S. 147–158. Für Westfalen Eva-Maria Lerche, Alltag und Lebenswelt von heimatlosen Armen. Eine Mikrostudie über die Insassinnen und Insassen des westfälischen Landarmenhauses Benninghausen (1844–1891) (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 113), Münster 2009, S. 218–329; dies., Forschungsbericht: Alltag und Lebenswelt von heimatlosen Armen („Landarme“) im 19. Jahrhundert in Westfalen, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 56 (2008), S. 73–79. – Aus der Perspektive sächsischer Städte sei verwiesen auf Helmut Bräuer, Die ersten Bewohner des Armenhauses in Dresden. Bemerkungen zu ihrer sozialen und mentalen Beschaffenheit, in: Hartmut Zwahr, Uwe Schirmer, Henning Steinführer (Hg.), Leipzig, Mitteldeutschland und Europa. Festgabe für Manfred Straube und Manfred Unger zum 70. Geburtstag, Beucha 2000, S. 395–402. Vgl. dazu Armenordnung für das Königreich Sachsen vom 22. Oktober 1840, Grimma 1841, §§ 52 ff. Zu einem solchen Neubauvorhaben vgl. beispielsweise Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden 10365, GH Liebstadt, Nr. 1104, unpag. Vgl. StaFilA Bz 50016, AHM Zittau, Nr. 3711, Bl. 1 ff. Vgl. Armenordnung für das Königreich Sachsen, § 27. Vgl. u. a. StaFilA Bz 50016, AHM Zittau, Nr. 3711, Bl. 107. Gerechnet wurde mit der sächsischen Elle, die 56,6 cm metrischen Maßes entspricht. StaFilA Bz 50016, AHM Zittau, Nr. 3740, Bl. 10b. Ebd., Nr. 3711, unpag., 1. August 1862. Zu einem ähnlichen Befund aus dem Niederoderwitzer Armenhaus vgl. ebd., Nr. 3722, Bl. 29. Ein ähnliches Bild wie das Folgende ließe sich auch anhand des überlieferten Archivmaterials zum Armenhaus in Spitzkunnersdorf zeichnen. Siehe dazu ebd., Nr. 3740. Ebd., Nr. 3711, Bl. 27. Vgl. ebd., Bl. 27b.

Krankheit im Dorf – ländliche Wege des „coping with sickness“ * Christina Vanja

Patientengeschichte Im Jahr 1985 rief der britische Historiker Roy Porter (1946–2002) dazu auf, Medizingeschichte aus Sicht der Patienten zu schreiben und damit die traditionelle Ärztezentrierung ebenso wie die Fixierung auf gelehrte Texte zu überwinden. Inzwischen ist die „Patientengeschichte“1 im deutschsprachigen Bereich längst keine „terra incognita“ mehr. Patientenbriefe bzw. Konziliarkorrespondenz, ärztliche Fallschilderungen (Observationes), Tagebücher, persönliche Briefe und Autobiographien als bislang für die Frühe Neuzeit bevorzugt herangezogene Quellen verweisen allerdings vor allem auf den „Homo patiens“ der oberen Gesellschaftsschichten2. Rechnungen und Unterlagen aus Gerichtsprozessen gewähren zwar ebenfalls einen Zugang zu geistigen und körperlichen Leiden der ärmeren Bevölkerung, sind aber durch ihre enge Zwecksetzung in der Aussagefähigkeit begrenzt3. Die seit dem 19. Jahrhundert massenhaft vorhandenen Krankenakten aus Krankenhäusern und Heilstätten fehlen in der Frühen Neuzeit und vielfach noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Quellengattung4. Nur selten ist es daher für die Zeit vor 1800 gelungen, ein breites „Patienten“-Spektrum zu untersuchen5. Wenig wissen wir hierbei über das Leben kranker Menschen der Unterschichten (Gesinde, Tagelöhner); ein besonderes Forschungsdesiderat stellt der Umgang mit Krankheit und Behinderung in der (armen) Landbevölkerung dar. Die ältere Geschichtsschreibung bewertete die bäuerliche Gesellschaft lange Zeit als besonders rückständig und unterstellte ihr vor allem eine Affinität zu „Aberglauben“ und „Quacksalberei“. Erst die jüngere Sozialgeschichte fragte nach dem „Eigensinn“ des „einfachen Volks“ und verwies auf die Schlüssigkeit vieler Handlungsweisen. Dabei wurde zunehmend auch die ländliche Welt Gegenstand einer quellennahen „Mikrogeschichte“6. Patientengeschichtliche Dokumente liegen als Ärzteberichte oder Ego-Dokumente von Kranken allerdings für das Land seltener vor als für die Stadt. Überdies hat die Agrar- bzw. Dorfgeschichte das Thema „Krankheit“ bislang nur sporadisch thematisiert7. Sozialgeschichtliche Studien zum Umgang mit Krankheit jenseits des städtischen Milieus lassen sich daher bis heute immer noch leicht überschauen8. Durch die Vorstellung des besonderen Quellenkorpus der Bittschriften, welche im Rahmen der Aufnahmeanträge für die hessischen Hohen Hospitäler in großer Zahl über-

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liefert sind, soll im Folgenden auf einen eigenen Zugang zum bislang vernachlässigten Thema „Krankheit im Dorf“ verwiesen werden9.

Supplikationen Supplikationen (Supplicium = flehentliche Bitte) eröffneten den Untertanen in der Frühen Neuzeit einen direkten Zugang zur Obrigkeit10. Das von allen Teilen der Bevölkerung in Anspruch genommene Bitt- und Beschwerdewesen war zwar rechtlich nicht kodifiziert, genoss jedoch als tradierter Brauch allgemeine Anerkennung11. Nicht zuletzt das neue Selbstverständnis des Landesherrn als „gnädiger Landesvater“ räumte seit der Reformation den Bitten der Landeskinder einen hohen Stellenwert ein. So wies der hessische Landgraf Philipp der Großmütige (1504–1567) in seinem Testament aus dem Jahr 1562 seine Söhne sogar besonders an, auch Supplicationes an[zu]nehmen, die[se] selbst [zu] verlesen, oder [diese] inen referiren [zu] lassen12. Insbesondere dachte der Landgraf dabei an die Armen, denen man gern und umb Gotteswillen geben, und Niemands Mangeln oder Noth leiden lassen sollte13. Die Möglichkeit, beim Landesherrn oder bei einer anderen Obrigkeit um Hilfe zu supplizieren, wurde in Hessen ebenso wie in anderen Territorien sehr häufig genutzt14. Zahlreiche Bittschriften sind deshalb in staatlichen, kommunalen und kirchlichen Archiven erhalten15. Unter ihnen bilden wiederum die Armut und Krankheit betreffenden Unterlagen beachtliche Bestände. Bei den von Hilfesuchenden an die Obrigkeit gerichteten Schreiben handelt es sich nicht um Kranken- und Therapieberichte im engeren Sinn; die Krankheitsdarstellungen sind vielmehr in den größeren Zusammenhang der Armutsschilderung eingebettet und haben gelegentlich medizinische Hilfe, häufiger jedoch den Erhalt eines Almosens oder Steuererlass zum Ziel. Im Falle äußerster, unter anderem durch schwere Krankheit oder Behinderung begründeter Not konnte aber auch ein Hospitalplatz Abhilfe schaffen.

Die hessischen Hohen Hospitäler Um armen, alten und kranken Untertanen auch außerhalb der Städte eine dauerhafte Versorgung zu gewähren, entstand in Hessen bereits seit den 30er-Jahren des 16. Jahrhunderts ein territorial ausgerichtetes Netzwerk von Fürsorgeinstitutionen, die Hohen Hospitäler. Vorausgegangen war in landgräflichem Auftrag die Visitation des Hospitalwesens im ganzen Land. Dabei war festgestellt worden, dass fast alle hessischen Städte mindestens über ein Bürgerspital verfügten, hilfsbedürftige Dorfbewohner (nämlich durch Krankheit oder Behinderung arbeitsunfähige Lohnarbeiter, kleine Handwerker und Höker) jedoch nach Auflösung der Feldklöster und angesichts sehr begrenzter Almosenfonds weitgehend unversorgt blieben. Bei den neuen Armenhäusern handelte es sich entsprechend der Vielfalt der Gebrechen um vier multifunktionale Einrichtungen. Der bereits zitierte hessische Landgraf Philipp der Großmütige ließ sie zwischen 1533 und 1542 mit festgelegten Einzugsbereichen in den vier Landesteilen Hessens für die arme Landbevölkerung errichten16.

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Abb. 1: Landeshospital Merxhausen, Stich von L. Thümling, um 1850.

Fortan lebten in ehemaligen Kloster- und Pfarreigebäuden ständig bis zu 1.000 Hilfsbedürftige, darunter alte, invalide, mit ansteckenden und anderen körperlichen Leiden belastete, gemütskranke und geistig behinderte Menschen ebenso wie Findel- und Waisenkinder17. Diese bedürftigen Untertanen erwarben sich den Platz im Hospital durch eine Supplikation18. Die Landesherren schlossen bei Bewilligung des Antrags das Verfahren durch Erlass eines Aufnahmereskripts ab19, das sie dem jeweiligen Obervorsteher, der bis 1810 für alle vier Hospitäler zuständig war, übermitteln ließen. Dieser hatte in besonders dringenden Fällen (vor allem „rasende“ Geisteskranke) sofort extra ordinem, andere Hilfsbedürftige erst bei Freiwerden eines Platzes im Hospital secundum ordinem, also auf einer Warteliste, aufzunehmen20. Zur Entscheidungsfindung zog der Landgraf schon sehr früh seine vor Ort kundigen Amtleute heran, welche die Bittgesuche überprüften. Erst seit 1728 wurden nach Erlass einer Renovierten Hospitalordnung auch Atteste von Physici (studierten Amtsärzten) verlangt21. Dennoch blieb die Krankheit selbst nur eines der Kriterien für den positiven Aufnahmebescheid, denn es galt weiterhin eine breit definierte Fürsorgepflicht des Landesherrn, der über die armen Dorfbewohner hinaus in wachsender Zahl ausgemusterte Soldaten, arbeitsunfähig gewordene Landesbedienstete, die öffentliche Sicherheit störende oder suizidgefährdete geisteskranke Stadtbewohner und unversorgte

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Abb. 2: Arme, verkrüppelte und wahnsinnige Hospitalinsassen vor dem ehemaligen Zisterzienserkloster Haina, Kupferstich „Heinz von Lüder, Vorsteher des Hospitals zu Haina, vor den Abgeordneten Kais. Karl des V.“ von G. Boettger senior, 1820.

Kinder, soweit sie nicht im Waisenhaus untergebracht werden konnten, in den Hospitälern versorgen ließ. Zu dieser sehr heterogenen Gruppe von Armen gesellte sich überdies die wachsende Zahl der „Hospitaliten von Stande“, sofern bei diesen körperliche oder geistige Gebrechen vorlagen; deren Inferendum (= ein einmaliger Geldbetrag als eine Leibrente) konnte die Belastungen der Hospitalökonomie allerdings selten ausgleichen22.

Aufnahmevorgänge Für die Zeit von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1810 sind rund 4.000 Aufnahmevorgänge für die hessischen Hohen Hospitäler erhalten. Zwei Drittel der Reskripte betreffen Angehörige der ländlichen Unterschichten23. Ein Fall sei hier vorgestellt, ohne dass dessen Repräsentativität beansprucht werden kann oder soll. Es handelt sich um eine im Jahr 1791 im Frauenhospital Merxhausen bei Kassel extra ordinem zur Aufnahme reskribierte 35-jährige Frau aus dem Dorf Dodenhausen bei Frankenberg an der Eder mit Namen Anne

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Marthe Ebert(in)24. Nicht erst aufgrund des Inhalts dieser Bittschrift, demnach die Supplikantin fast blind war, sondern bereits durch das Schriftbild wird bei dieser Supplik – wie bei fast allen anderen Bittschriften – deutlich, dass sie nicht von eigener Hand, sondern von einem (ungenannten) Berufsschreiber verfasst worden war25. Auch dieses „Ego-Dokument“26 gibt folglich eine sprachlich in das Hochdeutsche übersetzte Klage der behinderten Frau wieder. Überdies sind die Darstellung ihrer körperlichen Gebrechen, ihrer Verlassenheit und Armut, wie bei allen Bittschriften, in hohem Maße formelhaft gehalten27. So beginnt der Text: Vatter[-] und Mutterlos diente ich von Jugend auf bei andern Leuthen [...]. Allein auf einmal kommt alles Elend über mich. Blind, Taub und Gebrechlich liege ich da ohne Versorg- und Nahrung. [Zu] Niemandem kann ich Zuflucht nehmen. Es handelte sich offensichtlich um eine Magd, der als Waise jede familiäre und deshalb vom Landgrafen erbetene subsidiäre Hilfe fehlte. Die Schilderung des Gebrechens hebt ihre völlige Hilflosigkeit hervor. Tatsächlich wissen wir allerdings nicht, ob Anne Marthe Ebert wirklich völlig blind und taub war oder nur schlecht sah und hörte28. In jedem Fall empfanden die Zeitgenossen die in Ich-Form gehaltene Schilderung einer blinden und tauben Frau nicht als unglaubwürdig. Die Formulierung, dass praktisch ohne Vorankündigung alles Elend über mich gekommen sei, entspricht durchaus dem Krankheitsverständnis der Zeit, in der Leiden den Menschen über- oder anfielen29. Das Schreiben der Supplikantin kulminiert in ihrem Appell an Ewer hochfürstlichen Durchlaucht und seine schon so viele beglückende Huld und endet mit der verbreiteten Devotionsformel, demnach sie sich unterthänigst demütigst an ihn wendet und um eine Pfründe im Hohen SamtHospital Merxhausen fleht. Diese Supplikation beschränkte sich auf die nötigsten Hinweise und war dennoch erfolgreich, da die Hilflosigkeit der Bittstellerin offensichtlich genügend deutlich wurde. Andere Petitionen waren vergleichsweise ausführlicher und gaben zugleich detaillierte Einblicke in das Krankengeschehen selbst30. Hier finden sich ebenso humoralpathologisch bzw. diätetisch begründete Erklärungen für Erkrankungen (falsche Ernährung, Verkühlung, psychische Belastungen, zum Beispiel durch Kriegserlebnisse, Heimweh oder den Verlust eines geliebten Menschen) wie Hinweise auf die bisher unternommenen Heilungsversuche (Purgationen durch Aderlass, Abführ- und Brechmittel, Operationen, aber auch Kurbadaufenthalte). Dass sich sogar Dorfbewohner an handwerklich gut ausgebildete Chirurgen sowie an studierte Ärzte um Hilfe wandten, ist bei der Auswertung der Supplikationen besonders aufschlussreich31. Insgesamt sollten jedoch die fast durchgängig „natürlichen“ Erklärungen von Krankheiten und die Hilfesuche bei anerkannten Heilern nicht überbewertet werden, da Adressat der Suppliken das Magie, Hexenglauben und Exorzismus ablehnende protestantische Landgrafenhaus war. Eine versuchte Teufelsaustreibung kam in einem Aufnahmegesuch nur zur Sprache, weil die angebliche Besessene körperliche Leiden davontrug32. Von Quacksalberei erfahren wir ebenfalls dann, wenn die Behandlungen schlecht ausgingen33.

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Abb. 3: Reskript Landgraf Wilhelms IX. von Hessen-Kassel für Anne Marthe Ebert aus Dodenhausen, 1. April 1791.

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Abb. 4: Erste Seite der Supplikation von Anne Marthe Ebert, ohne Datum (1791).

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Abb. 5: Zweite Seite der Supplikation von Anne Marthe Ebert mit Devotionsformel, ohne Datum (1791).

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Beiliegende Gutachten Dem Bittgesuch lagen schon seit dem 16. Jahrhundert Stellungnahmen der Ortsvorsteher (im ländlichen Hessen Greben genannt) und der Gemeindepfarrer, seit 1728, wie oben bereits erwähnt, zumeist auch Atteste der zuständigen Amts- oder Landphysici, gelegentlich überdies eine Stellungnahme des Amtschirurgen bei. Deren Aussagen und die Bittschrift überprüfte wiederum der landgräfliche Amtmann vor Ort. Durch diese Beilagen zur Supplikation besitzen wir weitergehende Informationen. Aufgabe des Pfarrers, der die Hilfesuchenden häufig seit langer Zeit kannte, war es, eheliche Geburt und christlichen Lebenswandel der Supplikanten sowie – als Verwalter des Kirchen- und Armenkastens – deren Armut zu bestätigen. Nicht selten ließen sich jedoch gerade Pfarrer auch über medizinische Fragen aus. So schreibt zur Bittschrift von Anne Marthe Ebert der Hainaer Pfarrer Johann Friedrich Faust: Sie ist von Kindheit mit Flüssen behafftet gewesen. Und es folgt die Bestätigung, die Bittstellerin habe vor längerer Zeit Gehör und Gesicht (also das Augenlicht) verloren, liege in den größten Schmerzen an den Augen und [dem] ganzen Cörper und könne nun in ihrer Blindheit nicht einmal betteln34. Der „Fluss“ war ein in der Frühen Neuzeit medizinisch gebräuchlicher Oberbegriff, der krankhaft veränderte, faulige oder verdorbene Körpersäfte beschrieb und Rheuma, Gicht und Katarrh, als Stickfluss eine Obstruktion der Lungen oder als Salzfluss zum Beispiel offene Beine mit austretenden „salzigen“ bzw. „scharfen“ Körpersäften meinen konnte. Der „Fluss“ ließ sich grundsätzlich in allen Körperteilen nieder, konnte also auch Augen und Ohren betreffen35. Auf das zwei Tage zuvor gratis verfasste, für die „Ebertin“ relativ kurz gehaltene ärztliche Attest des Landphysikus Dr. Duncker hatte sich der Pfarrer offensichtlich jedoch nicht direkt bezogen. Denn dieser Arzt beschrieb die recht elende persohn als blindt, taub und mit vielen fistularen, also offensichtlich mit äußerlichen Scheden behafft36. Mit dem Begriff behafftet folgte der Arzt der allgemein üblichen Vorstellung, ein Leiden greife von außen den Körper an. Es sind Übel, so führt Duncker weiter aus, die bei dem Arzt recht großes Mitleiden, aber nicht die geringste[n] Hülfen erfahren können. Der Empathie des Mediziners steht somit das Unvermögen gegenüber, eine Heilung herbeizuführen, eine Argumentation, die auf die Aufnahmebedingungen verwies. Nur „Unheilbare“ nämlich erhielten einen Hospitalplatz. Der Arzt blieb aber nicht beim medizinischen Aspekt, sondern verwies seinerseits auf die soziale Lage der Frau37. Grebe und Vorsteher des Dorfes Dodenhausen fassten das ganze Elend der Supplikantin nochmals zusammen. Auch sie betonten, die Bittstellerin sei seit etlichen Jahren her ganz taub gewesen und ist dieselbe auch blind geworden, und mit Flüssen [sie übernahmen damit die Formulierung des Pfarrers] an ihrem ganzen Koerper behafftet. Auf demselben Blatt Papier bekräftigte der zuständige Amtmann Fuhrhans, dass Grebe und die Vorsteher zu Dodenhausen vorstehendes Attestat [mit Grund] ausstellen. Denn die Ebertin sei die elendeste Person, arm, taub, blind, mit flüßen behafftet, auch habe sie keine Herberge.

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Der Quellenwert der Supplikationen Wie dieser kurze Einblick in eine der hessischen Bittschriften gezeigt hat, eröffnet die Interpretation dieser Quellengattung als (im weitesten Sinn) Patientenbiographie durchaus interessante Zugänge zum Krankheitsgeschehen und seinen Folgen. Der Weg zu überzeugenden Schlussfolgerungen ist jedoch nicht ohne Fallstricke. Während die Schreiber, den narrativen Darstellungen der Supplikanten folgend, beispielsweise mit Blick auf die Aufnahmebedingungen die für das Armenwesen bedeutsamen Stichworte besonders hervorheben, lassen sie andererseits alle für den Adressaten problematischen Geschehnisse (z. B. die Zuflucht zu nicht autorisierten Heilpraktikern) ungenannt. Wiederkehrende Bilder, Termini und Textstrukturen verweisen auf das Genre der Supplikation und müssen bei einer eingehenden, quantitativen und qualitativen Analyse berücksichtigt werden. Dennoch stehen hinter jeder Bittschrift individuelle Erfahrungen, die es durch eine quellennahe historische ebenso wie sprachliche, literarische, theologische und anthropologische Interpretation neben dem Formelhaften zu entdecken gilt. Im Ergebnis dürfte das Wissen um Krankheitsbilder, das Kranksein und Krankheitstherapien im umfassenden Sinn des „coping with sickness“38 auf der Basis dieses Quellenkorpus durch die Vielzahl der enthaltenen Informationen bereichert werden39. Insbesondere können zu der Supplik der Kranken oder ihrer nächsten Angehörigen auch das Attest des Arztes sowie die Gutachten der beteiligten Pfarrer, Ortsvorsteher und Amtleute zur Bittschrift vergleichend herangezogen werden. Fragen nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen ärztlichen Attesten und Laienschilderungen, den Darstellungen von Männern und Frauen, Akademikern – dem Arzt, dem Pfarrer, dem vielfach juristisch ausgebildeten Amtmann – und Handwerkern oder Tagelöhnern, Bauern und Landbewohnern, gebildeten und unbelesenen Antragstellern können so nicht nur neue Einblicke in die vielfach widersprüchlichen Professionalisierungs- und Medikalisierungsverläufe der Frühen Neuzeit sowie des beginnenden 19. Jahrhunderts40 geben, sondern überdies auch den Horizont der Kenntnisse über die „medikalen Kulturen“41 deutlich erweitern.

Quellen zum weiteren Lebensweg der Kranken Die überlieferten hessischen Supplikationen enden gewöhnlich mit der Anordnung zur Aufnahme des Bittstellers in eines der Hohen Hospitäler. Die Weiterführung des Schriftverkehrs als Krankenakte mit Angaben zum Gesundheitszustand, zu Therapie, Tod oder Entlassung war noch um 1800 nicht vorgesehen42. Die Rekonstruktion des weiteren Lebensweges der Hospitaliten bzw. Hospitalitinnen kann jedoch auf andere Quellengattungen rekurrieren. Zu nennen sind insbesondere die Insassenlisten, die vom Küchenmeister des Hospitals im 18. Jahrhundert regelmäßig geführt wurden43. Sie enthalten Namen, Herkunftsorte, Alter, Gebrechen, Aufnahmemodus und Kost der tatsächlich im Hospital befindlichen Menschen. Gelegentlich verdeutlicht erst die Auswertung dieser Daten, wie viele Jahre zahlreiche Supplikanten trotz Armut und schwerer Leiden warten mussten, bis sie endlich die gewünschte lebenslange Versorgung im Hospital fanden. Vermerke über

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ihren Tod, die Entlassung nach unerwarteter Gesundung oder eines Urlaubs im Heimatort sind gleichfalls in diesen Küchenrechnungen enthalten. Für die weitere Krankheitsgeschichte der Aufgenommenen sind Hinweise auf eine spezielle, das heißt leichtere Krankenkost sowie die Eintragungen in der Rubrik „Gebrechen“ von Interesse. Denn wurde zunächst die „Diagnose“ aus dem Aufnahmereskript bzw. der häufig gleichlautenden Bittschrift übernommen, konnte sich die Eintragung doch im Laufe der Jahre – aus Quellen, über die wir bislang nichts wissen – verändern. Systematische Angaben zur medizinischen Behandlung der einzelnen Insassen in den Hospitälern finden sich ebenfalls erst seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts. Und zwar handelte es sich um die Applikation von Arzneien durch den Wundarzt des Hospitals, der eine Apotheke „auf eigene Rechnung“ führte. Alle ausgegebenen Medikamente mit ihren Preisen rechnete er jeweils im Frühjahr des Folgejahres unter Nennung von Behandlungsdatum, Patientennamen und der verabreichten Mengen und Mischungen, aber leider ohne Krankheitsangabe, ab44. Als weitere Quellen zur Geschichte der Pfleglinge seien Entlassungslisten, Überführungen der Leichen verstorbener Hospitalinsassen zur Anatomie, Lohnlisten und Untersuchungen zu Missständen in den Einrichtungen benannt45. Werden diese Daten mit den Hinweisen der Supplikationen einschließlich aller Anlagen, dem Reskript und den Eintragungen des Küchenmeisters verbunden, dürften trotz des Mankos der in den Medicinalrechnungen fehlenden Krankheitsdiagnosen auch Erkenntnisse zur Frage, ob und welchen „Klinikcharakter“46 diese Armenspitäler am Ende der Frühen Neuzeit besaßen, zu gewinnen sein. Die Unterlagen könnten insbesondere Aufschluss darüber geben, mit welchen medizinischen Konzepten und nach welchen Kriterien (Stand, somatisches oder psychisches Leiden, Alter und Geschlecht) hier Kranke behandelt wurden47.

Anmerkungen * D  ieser Text stellt eine überarbeitete Version des Beitrages der Autorin „Arm und krank – Patientenbiographien im Spiegel frühneuzeitlicher Bittschriften“, in: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebenslaufanalysen 19 (2006) H. 1, S. 26–35, dar. 1 Z  utreffender ist der Begriff „Krankengeschichte“, da es gerade in der Frühen Neuzeit keineswegs generell um ein Arzt-Patient-Verhältnis bzw. um den behandelten Kranken ging, doch ist der Terminus „Krankengeschichte“ schon an die Krankenakte vergeben: Eberhardt Wolff, Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung in: Norbert Paul, Thomas Schlich (Hg.), Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt-New York 1998, S. 311–334; Katharina Ernst, Patientengeschichte – Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie, in: Ralph Bröer (Hg.), Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Pfaffenweiler 1999, S. 97–108; Vera Jung, Otto Ulbricht, Krankheitserfahrung im Spiegel von Selbstzeugnissen von 1500 bis heute. Ein Tagungsbericht, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 137–148. 2 Vgl. u. a. Michael Stolberg, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln-Weimar-Wien 2003; Marion M. Ruisinger, Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 28),

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Stuttgart 2008; dies., Auf Messers Schneide. Patientenperspektiven aus der chirurgischen Praxis Lorenz Heisters 1683–1758, in: Medizinhistorisches Journal 36 (2001), S. 309–333; dies., „Mit vielen Trännen schreibe ich dieses“ – Ein Beitrag zur Patientinnen-Geschichte des 18. Jahrhunderts, in: Frank Stahnisch, Florian Steger (Hg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart 2005, S. 83–101; Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987; Sabine Graumann, „So ist die Hauptesblödigkeit nit besser.“ Medizinische Consilia für Herzog Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg (1562–1609), in: Hildener Museumshefte 5 (1993), S. 83–107; Michael Kutzer, Liebeskranke Magd, tobsüchtiger Mönch, schwermütiger Handelsherr. „Psychiatrie“ in den Observationes und Curationes des niederländischen „Hippokrates“ Pieter van Foreest (1522–1592), in: Medizinhistorisches Journal 30 (1995), S. 245–273; Thomas Schnalke, Medizin im Brief. Der städtische Arzt des 18. Jahrhunderts im Spiegel seiner Korrespondenz (Sudhoffs Archiv Beih. 37), Stuttgart 1997; Martin Dinges, Vincent Barras (Hg.), Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum 17.–21. Jahrhundert (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 29), Stuttgart 2007; Jens Lachmund, Gunnar Stollberg: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. Jahrhundert bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995; Robert Jütte, Krankheit und Gesundheit im Spiegel von Hermann Weinsbergs Aufzeichnungen, in: Manfred Groten (Hg.), Hermann Weinsberg (1518–1597). Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005, S. 231–251; Vera Jung, Die Leiden des Hieronymus Wolf. Krankengeschichten eines Gelehrten im 16. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 9 (2001) H. 3, S. 333–357; Gudrun Piller, Krankheit schreiben. Körper und Sprache im Selbstzeugnis von Margarethe Milow-Hudtwalcker (1748–1794), in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 212–235; Sabine Sander, „Gantz toll im Kopf und voller Blähungen ...“. Körper, Gesundheit und Krankheit in den Tagebüchern Philipp Matthäus Hahns, in: Katalog Philipp Matthäus Hahn, 1739–1790, Stuttgart 1989, S. 99–112; Katharina Ernst, Krankheit und Heiligung. Die medikale Kultur württembergischer Pietisten im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg 154), Stuttgart 2003. A ntje Sander, „Dulle“ und „Unsinnige“. Irrenfürsorge in norddeutschen Städten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Peter Johanek (Hg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800 (Städteforschung 50 A), Köln 2000, S. 111–125; Maren Lorenz, Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999; Vera Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999. Christian Müller, Zur Geschichte der Krankengeschichte, in: Dieter Janz (Hg.), Krankengeschichte. Biographie – Geschichte – Dokumentation, Würzburg 1999, S. 93–104; Ellen Leibrock, Krankenakten von Geisteskranken aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 13, Würzburg 2007, S. 101–116; Christina Vanja, Archivierung und Nutzung von Krankenunterlagen beim Landeswohlfahrtsverband Hessen, in: Rainer Polley (Hg.), Anbietung von Unterlagen öffentlicher Stellen an die Archive: Rechtslagen, Probleme, Lösungswege (Schriftenreihe der Archivschule Marburg), Marburg 2010 (im Druck); beispielhaft: Johanna Bleker, Patientenorientierte Krankenhausgeschichtsschreibung – Fragestellung, Quellenbeschreibung, Bearbeitungsmethode, in: Dies., Eva Brinkschulte, Pascal Grosse (Hg.), Kranke und Krankheiten im Juliusspital zu Würzburg 1819–1829. Zur frühen Geschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 72), Husum 1995, S. 11–22. Vgl. Carlos Watzka, Arme, Kranke, Verrückte. Hospitäler und Krankenhäuser in der Steiermark vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung für den Umgang mit psychisch Kranken (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 36), Graz 2007; Iris Ritzmann, Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert, Köln-Weimar-Wien 2008; Aline Steinbrecher, Verrückte Welten. Wahnsinn und Gesellschaft im barocken Zürich, Zürich 2006. Beispielhaft Helmut Bräuer, Armenmentalität in Sachsen 1500 bis 1800. Essays, Leipzig 2008; Otto Ulbricht, Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 2009. Die Studie von Oliver Stenzel zu Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert geht zwar auf die ländliche Welt ein, berücksichtigt jedoch die große Zahl der handwerklichen Heiler nicht: Oliver Stenzel, Me-

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10 d  ikale Differenzierung. Der Konflikt zwischen akademischer Medizin und Laienheilkunde im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2005; als anregende Einzelstudien sind u. a. zu nennen: Alfons Bieger, Schröpfende Heiler – schwitzende Kranke. Das Thurgauer Medizinalwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Thurgauer Beiträge zur Geschichte 140), Frauenfeld 2004; Willem F. Daems, Johann Anton Grass von Portein 1684–1770. Arzt, Chirurg, Zahnarzt, Harndiagnostiker, Pharmazeut, Viehdoktor und Dorfpolitiker. Ein Beitrag zur Kultur- und Medizingeschichte des Domleschgs und Heinzenbergs im 18. Jahrhundert, Chur 1985; Irene Fickenscher, Die Kenntnisse eines bayerischen Dorfbaders im 18. Jahrhundert. Dissertation, München 1956; als Überblick: Christina Vanja, Medizin, Religion und Magie – Krankheit und Heilung in der Frühen Neuzeit, in: Dietmar Schulte, Martin Momberg (Hg.), Das Verhältnis von Arzt und Patient? Wie menschlich ist die Medizin?, München 2010 (im Druck). 18 Bis heute ohne Vergleichsstudie geblieben ist Michael MacDonalds Auswertung der Aufzeichnungen des Landarztes und Astrologen Richard Napier aus dem 17. Jahrhundert: Michael MacDonald, Mystical Bedlam. Madness, Anxiety, and Healing in Seventeenth-Century England, Cambridge 1981. 19 Diese Studie ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziell unterstützten Forschungsprojektes „Krankheit im Dorf – Patienten- und Sozialgeschichte im Umfeld der Hessischen Hohen Hospitäler Haina und Merxhausen (1730–1810)“ an der Universität Kassel. Wissenschaftliche Mitarbeiterin ist Prof. Dr. Irmtraut Sahmland. 10 Gerhard Schmid, Akten, in: Friedrich Beck, Eckart Henning (Hg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 89 f. Vgl. Cecilia Nubola, Andreas Würgler (Hg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19), Berlin 2005; Siegfried Gross, Martin Grimberg, Thomas Hölscher, Jörg Karweick, „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung“. Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch, Bonn 1989; Harald Tersch, Vielfalt der Formen. Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit als historische Quelle, in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 40), Waidhofen/ Thaya 2000, S. 69–98. 11 Helmut Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen – Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert T. 1, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 110–190; ders.: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen – Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert T. 2, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 29 (1979), S. 63–97. 12 Christina Vanja, Die Neuordnung der Armen- und Krankenfürsorge in Hessen, in: Inge Auerbach (Hg.), Reformation und Landesherrschaft (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24), Marburg 2005, S. 137–147. 13 Neuhaus (1978), Supplikationen (wie Anm. 11), S. 115; zur Person des Landgrafen: Ursula BraaschSchwersmann, Hans Schneider, Wilhelm Ernst Winterhager (Hg.), Landgraf Philipp der Großmütige 1504–1567. Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen, Marburg-Neustadt an der Aisch 2004. 14 Birgit Rehse, Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797) (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 35), Berlin 2008. 15 Vgl. Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegung zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 207–226; Otto Ulbricht, Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: ebd., S. 207–226. 16 Christina Vanja, Die Hohen Hospitäler Landgraf Philipps als neue caritas, in: Heide Wunder, Christina Vanja, Berthold Hinz (Hg.), Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 24,8), Marburg 2004, S. 207–221; dies., Psychiatriemuseum Haina / Haina Psychiatry Museum, Petersberg 2009. 17 Karl E. Demandt, Die Hohen Hospitäler Hessens. Anfänge und Aufbau der Landesfürsorge für die Geistesgestörten und Körperbehinderten Hessens (1528–1591), mit besonderer Berücksichtigung

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der Hospitäler Haina und Merxhausen, in: Walter Heinemeyer, Tilman Pünder (Hg.), 450 Jahre Psychiatrie in Hessen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 47), Marburg 1983, S. 35–134; H. C. Erik Midelfort, A History of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford/California 1999; Iris Ritzmann, Kindermedizin in frühneuzeitlichen Hospitälern, in: Arnd Friedrich, Fritz Heinrich, Christina Vanja (Hg.), Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien 11), Petersberg 2004, S. 253–263; dies., Sorgenkinder (wie Anm. 5). Bei Geisteskranken richteten allerdings zumeist die nächsten Familienmitglieder das Bittgesuch an den Landesherrn; vgl. Christina Vanja, „Und könnte sich groß Leid antun“. Zum Umgang mit selbstmordgefährdeten psychisch kranken Männern und Frauen am Beispiel der frühneuzeitlichen „Hohen Hospitäler“ Hessens, in: Gabriela Signori (Hg.), Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften (Forum Psychohistorie 3), Tübingen 1994, S. 210–232. Reskript = schriftlicher amtlicher Bescheid im Wir-Stil. Christina Vanja, Die frühneuzeitliche Entwicklung des psychiatrischen Anstaltswesens am Beispiel Haina/Hessen, in: Gunter Wahl, Wolfram Schmitt (Hg.), Heilen – Verwahren – Vernichten. Mochentaler Gespräche zur Geschichte der „Seelenheilkunde“ (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der Seelenheilkunde 2), Reichenbach 1997, S. 28–44. Irmtraut Sahmland, „Welches ich hiermit auf begehren Pflichtmäßig attestiren sollen“ – Geisteskrankheiten in Physikatsgutachten des 18. Jahrhunderts, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 25 (2006), S. 9–57. Christina Vanja, Macht Stadtluft krank? Gemütskranke Stadtbewohner der Landgrafschaft Hessen in den Hohen Hospitälern Haina und Merxhausen, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 107 (2002), S. 83–104; dies., Ein hessischer „Trade in Lunacy?“ – Hospitaliten und Hospitalitinnen von Stande in den Hohen Hospitälern, in: Arnd Friedrich, Irmtraut Sahmland, Christina Vanja (Hg.), An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert. Festschrift zum 475. Stiftungsjahr, Petersberg 2008, S. 227–243. Von den erhaltenen Suppliken sind zur Zeit rund 2.700 Fälle in der Datenbank „Hospia“ verzeichnet. Diese Datenbank kann beim Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (im folgenden LWVArchiv) benutzt werden. LWV-Archiv, Bestand 17, Nr. 367; alle weiteren Quellenzitate stammen aus dieser Archivalie. Denn, wie Otto Ulbricht herausgestellt hat, waren für den Erfolg der Bittschrift nicht nur die Verwendung der richtigen Anrede- und Devotionalformeln, sondern auch der Gebrauch des Hochdeutschen und nicht zuletzt die Lesbarkeit der Schrift entscheidend; vgl. Ulbricht, Supplikationen (wie Anm. 15), S. 153. Schulze, Ego-Dokumente (wie Anm. 15). Vgl. Fabian Brändle, Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. Probleme der Selbstzeugnisforschung, in: Kaspar von Greyerz, Hans Medick, Patrice Veit (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850) (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), Köln 2002, S. 3–31. Karl-Heinz Leven, Krankheiten: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: Paul, Schlich, Medizingeschichte (wie Anm. 1), S. 153–185. Robert Jütte, Die Frau, die Kröte und der Spitalmeister. Zur Bedeutung der ethnographischen Methode für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin, in: Historische Anthropologie 4 (1996) H. 2, S. 193–215. Es scheint, dass es sich bei den ausführlicheren Bittschriften insbesondere um Darstellungen von Gemütskrankheiten handelte, die nicht nur schwerer diagnostizierbar waren, sondern auch periodisch verliefen; vgl. Christina Vanja, Gemütskranke als Naturwesen – Pazifizierungsstrategien im Umgang mit psychisch Kranken in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in: Klaus Garber, Jutta Held, Friedhelm Jürgensmeier, Friedhelm Krüger, Ute Széll (Hg.), Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur, München 2001, S. 835–853; dies., Macht Stadtluft krank? (wie Anm. 22).

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31 C  hristina Vanja, Homo miserabilis. Das Problem des Arbeitskraftverlustes in der armen Bevölkerung der Frühen Neuzeit, in: Paul Münch (Hg.), „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (Historische Zeitschrift Beih. 31), München 2001, S. 193–207. 32 Dies., Waren die Hexen gemütskrank? Psychisch kranke Frauen im hessischen Hospital Merxhausen, in: Ingrid Ahrendt-Schulte, Dieter R. Bauer, Sönke Lorenz, Jürgen Michael Schmidt (Hg.), Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung, Bielefeld 2002, S. 175–192, hier S. 185. 33 Sahmland, „Welches ich hiermit ...“ (wie Anm. 21), S. 34–36. 34 Demnach war das Betteln auf dem Land aus Krankheitsgründen durchaus legitim: Jochen Ebert, Hausarme und „ausländische“ Bettler in Schwebda. Formen und Funktionen dörflicher Armenunterstützung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Ders., Ingrid Rogmann, Peter Wiedersich, Heide Wunder (Hg.), Schwebda – ein Adelsdorf im 17. und 18. Jahrhundert. Mit einem Beitrag zu Herrschaft und Dorf Völkershausen (Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde 46), Kassel 2006, S. 201–259; ders., Auf der Suche nach Lohn und Brot. Fremde in der Stadt und auf dem Land in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 17. und 18. Jahrhundert, in: Siegfried Becker, Joana M. C. Nunes Pires Tavares (Hg.), Zuwandern, Einleben, Erinnern. Beiträge zur historischen Migrationsforschung (Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung N. F. 43), S. 56–73; vgl. zum städtischen Bereich Beate Althammer (Hg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 4), Frankfurt 2007, mit einleitendem historischen Teil von Helmut Bräuer. 35 Stolberg, Homo patiens (wie Anm. 2), S. 129–137. 36 Christoph Elias Heinrich Knackstedt, Medizinisch-chirurgisch-terminologisches Wörterbuch. Erfurt 1814, S. 259: Fistula, eine Fistel. Ist ein länglicher mit einer engen und schwielichten Oeffnung versehener Gang, welcher sich oftmals selbst bis zum Knochen erstreckt, und seinen Ursprung gemeiniglich von einem Eitergeschwür hat. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Röhre“: Dietmar Urmes, Vom Afterwolf bis Zipperlein. Wie die Krankheiten zu ihren Namen kamen, Wiesbaden 2008, S. 101. 37 Zu den ärztlichen Attesten im Rahmen der hessischen Aufnahmereskripte, die in Umfang, Struktur und Terminologie ähnlich wie die Bittschriften sehr unterschiedlich sein konnten; vgl. Sahmland, „Welches ich hiermit ...“ (wie Anm. 21). 38 John Woodward, Robert Jütte (Hg.), Coping with sickness. Historical aspects of health care in a European perspective, Sheffield 1995; Angela Schattner, Zwischen „Raserey“ und „Feuers Noth“ – Fallsüchtige Patienten in Haina und Merxhausen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert im Spiegel ihrer Bittgesuche, in: Friedrich, Sahmland, Vanja, An der Wende zur Moderne (wie Anm. 22), S. 173–197. 39 Louise Gray, Patientenbiographien: Armut, Krankheit, körperliche Leiden, in: Friedrich, Heinrich, Vanja, Das Hospital am Beginn der Neuzeit (wie Anm. 17), S. 243–253. 40 Francisca Loetz, Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beih. 2), Stuttgart 1993; Robert Jütte, Vom Hospital zum Krankenhaus: 16.–19. Jahrhundert, in: Alfons Labisch, Reinhard Spree (Hg.), „Einem jeden Kranken in einem Hospitale sein eigenes Bett“. Zur Sozialgeschichte des Allgemeinen Krankenhauses in Deutschland im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1996, S. 31–50. 41 Volker Roelcke, Medikale Kultur: Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung eines kulturwissenschaftlichen Konzepts in der Medizingeschichte, in: Paul, Schlich, Medizingeschichte (wie Anm. 1), S. 45–68. 42 Zu den Anfängen der medizinischen Aufzeichnungen in den hessischen Landeshospitälern vgl. Salina Braun, Franz Amelung und die Anfänge der Psychiatrie in Hofheim (1821–1849), in: Friedrich, Sahmland, Vanja, An der Wende zur Moderne (wie Anm. 22), S. 363–376 und Christina Vanja, „ ... sie können indessen wegen ihrer Religion keine eigene Einrichtung darin fordern“ – Jüdische Patientinnen im Landeshospital Merxhausen im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 245–270. 43 Sie befinden sich in den Jahres- bzw. Küchenjahresrechnungen, die beim Hessischen Staatsarchiv in Marburg (Bestand 229) und beim LWV-Archiv (Bestand 13) archiviert sind; zum Küchenmeister vgl. den Beitrag von Gerhard Aumüller, Obervorsteher und Küchenmeister – Instanzen der Verwal-

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tung und der Versorgung der Hohen Hospitäler im 17. und 18. Jahrhundert, in: Friedrich, Sahmland, Vanja, An der Wende zur Moderne (wie Anm. 22), S. 273–302. Vgl. Christoph Friedrich, Arzneimittelanwendungen im Hohen Hospital Merxhausen 1760, in: Friedrich, Sahmland, Vanja, An der Wende zur Moderne (wie Anm. 22), S. 139–159, und Gerhard Aumüller, Barbara Rumpf-Lehmann, Einblicke in das Krankheitsspektrum und die Verschreibungspraxis. Die Medizinalrechnungen der Hospitalchirurgen, in: ebd., S. 121–138. Vgl. Irmtraut Sahmland, Fürsorge zwischen Ordnung, Ökonomie und Moral. Ausweisungen von Hospitalitinnen aus Merxhausen im 18. Jahrhundert, in: Gerhard Aumüller, Kornelia Grundmann, Christina Vanja (Hg.), Der Dienst am Kranken. Krankenversorgung zwischen Caritas, Medizin und Ökonomie vom Mittelalter bis zur Neuzeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 68), Marburg 2007, S. 201–225; Natascha Noll, Die Arbeit von Hospitalitinnen im Hospital Merxhausen (1764–1810), in: Friedrich, Sahmland, Vanja, An der Wende zur Moderne (wie Anm. 22), S. 199–225; Irmtraut Sahmland, Verordnete Körperspende – Das Hospital Haina als Bezugsquelle für Anatomieleichen (1786–1855), in: ebd., S. 65–105. A nnemarie Kinzelbach, Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500–1700 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beih. 8), Stuttgart 1995, S. 319–389. Vgl. Irmtraut Sahmland, Zwischen Pflege und Heilung – Hospitalmedizin in Haina um 1800, in: Friedrich, Sahmland, Vanja, An der Wende zur Moderne (wie Anm. 22), S. 15–47.

„… schlechter als ein Hund verpflogen …“ 1 Organisation, Alltag und Leben. Kleinstädtische und ländliche Hospitäler der Frühen Neuzeit in den Herzogtümern Kärnten und Steiermark Alfred Stefan Weiß

„Unser soziales Österreich“ oder einige Gedanken zur Aktualität der Armut auch in Österreich Am Sonntag, den 25. Mai 2008, titelte die österreichische Tageszeitung „Kurier“: „Supermarkt der Armen. Die Teuerung macht Essen zum Luxus: Reportage im Sozialmarkt – und beim Gourmethändler“2. Mit dieser Story wurde eine Diskussion angeheizt, die im Sommer 2008 und damit unmittelbar vor den österreichischen Nationalratswahlen am 28. September d. J. nichts an Aktualität und Brisanz einbüßen sollte. Das Einkaufen von Lebensmitteln wurde als „Shopping der Gegensätze“ beschrieben: „Wer mehr Geld als Hunger hat, kauft beim Meinl am Graben“3. Im Leitartikel wurde darauf hingewiesen, dass im reichen Österreich knapp 460.000 Menschen an der Armutsgrenze leben oder armutsgefährdet sind. Besonders bedenklich ist in dieser Hinsicht, dass täglich tonnenweise einwandfreie Lebensmittel (z. B. auch falsch etikettierte) entsorgt werden müssen, da zu viele davon produziert werden. Arme Frauen und Männer, die nur knapp 800 Euro monatlich zur Verfügung haben, dürfen daher im 2006 eröffneten Soma (Sozialmarkt) in Wiener Neustadt in Niederösterreich wöchentlich dreimal um je zehn Euro einkaufen. So kostet dort z. B. das Joghurt zehn, ein Kilo Tomaten 30 Cent. Immerhin waren bereits bis Mai 2008 1.000 Berechtigungskarten ausgestellt worden. Insgesamt gab es im Frühjahr 2008 in den Bundesländern Niederösterreich, Oberösterreich und Salzburg seit der Ersteröffnung 1999 zehn derartiger Sozialmärkte4. Es verwundert daher nicht weiter, dass sich die so genannten Straßenzeitungen regelmäßig zum „Würgegriff“ der Armut äußern und die Diskussion um den Mythos der angeblichen „sozialen Hängematte“, also den Vorwurf des Ausnutzens der Sozialsysteme, ablehnen5. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die staatlichen Österreichischen Bundesbahnen mit ihren Zügen Sozialprojekte propagieren. So führte im Jahr 2008 ein Intercity-Zug von Wien nach Salzburg den Namen „Wiener Tafel – die soziale Spedition“ und warb mit dem Slogan „Lebensmittel gehören nicht in den Müll, sondern in den Magen“ für die Weitergabe von brauchbaren Nahrungsmitteln an 60 Wiener Sozialeinrichtungen6. Dass das Engagement der österreichischen Bundesregierung nicht immer auf volles Verständnis stößt, sei abschließend an einem kuriosen Beispiel demonstriert. Bleiben wir noch kurz bei den ÖBB und ihrer bisweilen eigenwilligen Namengebung von

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Fernzügen. Vor einigen Jahren ließ der einstige Sozialminister Herbert Haupt einen Zug auf der Strecke von Klagenfurt nach Salzburg, der den Namen „Unser soziales Österreich“ führte, mit 10.000 Euro sponsern. In diesem Fall zeigte sich, dass Werbung auch eine negative Wirkung zeigen konnte und zu eigenwilligen Situationen führte. Am Endbahnhof Salzburg lasen die erstaunten Fahrgäste: „Unser soziales Österreich. Bitte nicht einsteigen“ oder bei anderen Bahnhöfen auf der Strecke hieß es nicht allzu selten, dass „Unser soziales Österreich“ Verspätung habe7.

Die Hospitäler in Kärnten und in der Steiermark als Orte der Armut – eine Annäherung Im Frühjahr 1747 bat Johann Schwaiger, ein armer blinder Witwer, um Aufnahme in das Bürgerspital der an der Mur gegen das Königreich Ungarn hin gelegenen, befestigten landesfürstlichen Grenzstadt Radkersburg, die damals knapp 200 Häuser zählte8. Der Mann war 72 Jahre alt, hatte sieben Kinder, die jedoch nicht für ihn sorgen wollten. Da kein Platz im Hospital frei war, konnte sein Gesuch vorerst nicht positiv erledigt werden. Der Antragsteller nützte allerdings die Informationskanäle der Stadt und brachte rasch folgende Tatsache in Erfahrung: Zuemallen aber Inmitler Zeith sich eraignet hat, daß ersthin eine dasebstige Spitallerin Nambens Barbara Huebmaÿrinn das Zeitliche gesegnet, weliches vacant wordenes orth In dem Spitall Hinwiderumb mit einen Armben Verlassenen ersetzt werden mueß9. Johann Schwaiger erneuerte sein Bittgesuch aufgrund seiner höchst antringenden armueth und wandte sich an den Dechant von Radkersburg Martin Eberle (Eberlein) und den Spitalmeister Joseph Gögleis, die ihm helfen sollten, dass er Beÿ dieser obrecenssirten vacant wordenen Stöll In das allhiesige Spitall vor allen andern aufgenomben werden möchte10. Der Begriff Hospital, der bereits mehrfach verwendet wurde, bedarf der zeitgenössischen Definition, die sich beinahe als deckungsgleich mit den Worten des berühmten Zedler’schen Lexikons aus dem Jahr 1739 erweist11. In den Herzogtümern Kärnten und Steiermark, die den größten Gebietsteil von Innerösterreich ausmachten12, verband man mit dem Wort Spital um 1800 ebenfalls einen zweyfachen Begriff, und zwar entweder ein Versorgungshaus, in welchem kranke Personen bis zu ihrer Genesung oder erfolgenden Todfall untergebracht, oder ein Haus, in welchem mühselige oder zur Arbeit unfähige Leute die ganze Zeit ihres Lebens hindurch, auf Kosten der zu diesem Entzwecke vorhandenen Stiftungs-Capitalien verpflegt und versorgt13 wurden. Gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts thematisierte man den Aspekt des Versorgungshauses im Sinn einer Krankenanstalt in den regionalen Hospitalordnungen noch nicht, es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass in diesen Häusern Arme/ Alte/ Krancke/ und sonsten gebrechliche Leuthe solcher gestalten zu unterhalten [seien]/ damit ihrer von GOtt und der Natur aufhabenden Armuth und Gebrechen in Christlicher Mildthätigkeit gesteuret werde14. Die Betroffenen sollten überdies nicht mehr in der Lage sein, sich selbst zu versorgen15. Neben der bevorzugten Aufnahme von Bürgern einer Stadt oder eines Marktes und den Dienstleuten einer weltlichen oder geistlichen

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Herrschaft dehnte man den Kreis der Berechtigten auch auf dem Spital „nützliche“ Personen aus. Im kleinen Markt St. Gallen (Herrschaft Gallenstein des Stifts Admont) wies man im September 1754 explizit darauf hin, dass vorderist Jenne zu des gemeinen Markhts Nothwendigkeit Vnentbehrliche Leuthe als Todtengraber, Nachtwachter und schaffhalter [= Schafhirte], auch da ein armer Burger von Haus Khommet, welche mit tägl[icher] Handarbeith ihr Brod gewinnen muessen16, in das Armenspital aufgenommen werden sollten. Wie jedoch bereits diese Definitionsversuche erahnen lassen, waren die Hospitäler im Untersuchungsraum „keine Eldorados für sozial beeinträchtige Personen“, wie dies der Grazer Historiker und Soziologe Carlos Watzka einprägsam formuliert hat17. War ein Überschuss an Geld oder Nahrungsmitteln vorhanden, „sorgte entweder das Verwaltungspersonal dafür, dass das Wohlleben auf einen kleinen Kreis, nämlich auf jenes selbst [= das Verwaltungspersonal], beschränkt blieb, oder die Gemeinden bzw. Landesfürsten als Spitalsträger wurden früher oder später auf den erfreulichen Umstand aufmerksam und wussten die Ressourcen in andere Kassen und zu anderen Zwecken umzuleiten“18. Das durchschnittliche kärntnerische oder steirische Hospital der Frühen Neuzeit war keinesfalls eine Großanstalt, wie z. B. derartige Einrichtungen in Nürnberg, Augsburg oder auch Wien, in denen die Anzahl der beherbergten Frauen und Männer in die Hunderte gehen konnte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestanden in den beiden Herzogtümern lediglich drei Großhospitäler, nämlich das 1724 gegründete landesfürstliche Armenhaus in Graz mit knapp 200 Bewohnern und das Armen- sowie das Waisenhaus in Klagenfurt, das allerdings von Joseph II. aufgelöst wurde. Zwölf weitere Hospitäler wiesen zeitweise Insassenzahlen zwischen 30 und 75 Personen auf: die Hofspitäler in Graz und Aussee, die Bürgerspitäler in Graz, Leoben, Eisenerz, Klagenfurt, Villach, St. Veit, Völkermarkt und Tarvis sowie die herrschaftlichen Spitäler in Sauerbrunn und Spittal an der Drau. Etwa die Hälfte aller steirischen Hospitäler hatte um 1750 jedoch allerhöchstens acht Pfründner, die durchschnittliche Belegungszahl der nicht-städtischen Anstalten lag den Berechnungen Watzkas zufolge nur bei zehn. Es finden sich vereinzelt sogar kleine, meist aus Holz errichtete Häusl, die jahre- oder jahrzehntelang nur zwei bis vier Individuen beherbergten19. Stellt man die Frage nach der Anzahl der Pflegeplätze nach 1750, so lassen sich dafür nur Annäherungswerte anführen. Die Steiermark zählte zu diesem Zeitpunkt etwa 700.000 Einwohner, denen annähernd 100 Hospitäler gegenüberstanden. Eine seitens der mariatheresianischen Regierung in den Jahren 1754/55 durchgeführte Erhebung aller existierenden Fürsorgeeinrichtungen brachte als Ergebnis, dass ca. 1.330 Kinder, Frauen und Männer (ca. 0,2 % der Bevölkerung) in diesen Häusern dauerhaft versorgt werden konnten. Oder anders formuliert: Jede/r 530. Steirer/in wohnte und lebte um 1750 in einem Hospital. Ein Blick auf diese nüchternen Zahlen macht rasch klar, dass auch in der Steiermark nur ein sehr kleiner Anteil der tatsächlich Bedürftigen auf einen Versorgungsplatz in einem Hospital hoffen konnte. Zu bedenken bleibt ferner, dass die deutliche Zunahme der Ressourcen und damit der Versorgungsplätze in der Zeit vom Jahr 1500 (ca. 890) bis ca. 1750 durch das Gesamtbevölkerungswachstum in demselben Zeitraum deutlich über-

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troffen wurde. 1750 lebten beinahe doppelt so viele Menschen in der Steiermark wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die Insassenkapazitäten waren aber nur um die Hälfte gestiegen. Selbstverständlich war der Zugang zu den Hospitälern in den Städten und Märkten einfacher als am Land mit seiner überwiegend dörflichen Struktur. Das Angebot differierte ebenso von Nord nach Süd (zwischen der ökonomisch deutlich besser situierten Obersteiermark und Untersteiermark konnte eine auffällige Differenz im Verhältnis der Anstalten von vier zu eins festgestellt werden, hinsichtlich der Aufnahmechance rangierte die Untersteiermark noch deutlich schlechter: Landesdurchschnitt 1 : 530, Obersteiermark 1 : 270, Untersteiermark 1 : 1.620)20. Für das benachbarte Herzogtum Kärnten konnten die Vergleichszahlen aus der Zeit um 1750 noch nicht ermittelt werden21. Nach 1780 lebten ca. 295.000 Menschen in Kärnten, von denen ca. 320 in 16 ländlichen Armenanstalten und zusätzlich 630 in drei Klagenfurter Einrichtungen Betreuung erfuhren, im spitalähnlichen Zucht- und Arbeitshaus in der Hauptstadt wurden noch zusätzlich 82 Männer und 43 Frauen – selbstverständlich gegen ihren Willen – verwahrt. Ohne Berücksichtigung des Zuchthauses fand jede/r 310. Kärntner/in (0,3 % der Bevölkerung) einen Platz im Hospital, d. h. die Chance auf geschlossene Versorgung war im Herzogtum Kärnten im Vergleich zur Steiermark doch etwas höher22. In der Gegenwart (Zahlen aus dem Jahr 2006) werden in den österreichischen Bundesländern Kärnten und Steiermark insgesamt 226 Seniorenheime geführt (davon 64 in Kärnten und 162 in der Steiermark), die gewissermaßen als Nachfolgeinstitutionen der Hospitäler angesehen werden, jedoch den gegenwärtigen Platzbedarf ebenfalls nicht annähernd decken können23. Kehren wir zum anfänglich zitierten Beispiel des Hospitals von Radkersburg zurück und werfen einen Blick auf die Entwicklung dieser Institution, um anschließend der Frage nachzugehen, auf welche Weise es dem Staat im 18. Jahrhundert gelang, die Verwaltung der Spitäler dauerhaft zu übernehmen. Das Bürgerspital zum Heiligen Geist der kleinen Stadt Radkersburg wurde erstmals im Dezember 1421 erwähnt, dürfte jedoch vermutlich älteren Ursprungs sein. Es befand sich in räumlicher Verbindung mit der Hl.-Geist-Kirche in der Nähe des Ungartors, doch sind diese Gebäude nicht erhalten geblieben24. Nach der Auflösung des Augustinerklosters im Jahr 1542 baten die Vertreter der Stadt um die Transferierung des Hospitals in die nunmehr leer stehenden Räumlichkeiten. Die Zustimmung Ferdinands I. erfolgte noch im selben Jahr, allerdings verbunden mit der Auflage, die Einkünfte des Klosterbesitzes dezidiert den Armen zukommen zu lassen. Brände in den Jahren 1595 und 1607 führten zur Zerstörung des Gebäudes bis auf die Grundmauern und noch 1617 galt das ehemalige Kloster als abgebrunnen. 1595 wurde erstmals ein zweites Spital in der Vorstadt unterhalb des jenseitigen Burgberges erwähnt, welches vermutlich von Jacob Grießer, landschaftlicher Rechnungsleger für Statsgebeu und Grabenarbeit, testamentarisch gestiftet worden sein dürfte und von den „Griesern“, den Bewohner dieses Stadtteils am anderen Murufer (Untergries), besonders gefördert wurde. Sind wir auch über die Motive dieser Stiftung nicht informiert, so darf zu Recht vermutet werden, dass die Gründung dieses Hauses eine

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Abb. 1: Das ehemalige Bürgerspital in Oberradkersburg (Gorna Radgona, Slowenien), heute ein Haus für kulturelle Veranstaltungen, Foto: Alfred Stefan Weiß.

Folge der reformatorischen Bestrebungen war. Nach dem endgültigen Sieg der Gegenreformation 1617 waren die Mauern der Anstalt bereits schadhaft und überdies bedurfte das Dach einer baldigen Ausbesserung. Seit der Vertreibung der protestantischen Bürger am Gries hatte der Magistrat die Leitung des Hospitals an sich gezogen und bemühte sich um die Ansiedlung der Kapuziner in der Stadt. Es erging daher im Jahr 1618 an Ferdinand II. die Bitte, beide Hospitäler räumlich zu vereinigen und den Kapuzinern den Brandplatz des zerstörten Bürgerspitals zu überlassen. Ein Neubau des Hospitals wäre ohnedies an fehlenden Geldmitteln gescheitert. Die südöstlich der Pfarrkirche St. Peter in Oberradkersburg (Gorna Radgona) gelegene Anstalt (Maistrov Trg 1), ein Haus mit spätmittelalterlichem Kern, dessen Äußeres und Reste von Fresken aus dem 18. Jahrhundert stammen, blieb bis 1920 in Verwendung. Durch die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte Grenzziehung lag Oberradkersburg im heutigen Slowenien. Das Haus musste geräumt werden und verlor seine Besitzungen am rechten Murufer. Neben dem Spital befanden sich der Meierhof und ein Großteil der Güter in oder in der Nähe von Oberradkersburg, so dass slowenische Sprachkenntnisse für den jeweiligen Spitalmeister von Vorteil waren, da es mit dem dulmätschen ein harte sach war25. Außer den Hospitalbewohnern waren auch die Unter-

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tanen dem besoldeten Spitalmeister zum Gehorsam verpflichtet, doch führten berechtigte Beschwerden im Jahr 1743 zur Absetzung seiner Person. Um generell Missbrauch zu vermeiden, wurde dem Hospitalmeister bei Amtsantritt und der Leistung einer hohen Kaution neben dem Inventar26 eine detaillierte Dienstanweisung übergeben. Laut dieser sollte er die milde Stiftung befördern und allen Schaden sowie Nachteile davon abwenden27. Er unterstand nicht nur der Kontrolle des Magistrats, sondern überdies der landesherrlichen Behörde, die Stadtrichter und Dechant als Inspektoren ernannte und somit deutlich ihre Eingriffsmöglichkeit dokumentierte28. Das Haus versorgte nicht nur die Insassen, sondern überdies arme Personen außerhalb der Anstalt – im Jahr 1626 immerhin 30 bedürftige Frauen und Männer, 1586 waren es sogar 50 Stadtbewohner gewesen. Daneben wurden gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der 1789 profanierten ehemaligen Spitals- und Kapuzinerklosterkirche der Stadt Radkersburg (Theatergasse), die vom josephinischen Armeninstitut erworben werden konnte, Theaterstücke aufgeführt, deren Erlös ebenfalls bedürftigen Personen zukam29. In den Jahren 1710 bis 1839 bemühten sich insgesamt 104 Bittsteller/innen, vornehmlich Bürgerinnen und Bürger der Stadt Radkersburg, dauerhaft in die Anstalt aufgenommen zu werden, doch nur 26 Frauen und 25 Männer (insgesamt 49 %) konnten aufgrund fehlender Ressourcen und nicht vorhandener freier Pfründplätze tatsächlich versorgt werden. Wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch meist zwölf bis 15 Personen betreut, so führte eine Maßnahme Joseph II. 1787 zu einer deutlichen Reduktion der Pfründner, das Spital wurde allmählich in eine Altenpflegeanstalt umgewandelt. Nach 1818 lebten in der Regel nur mehr sechs Frauen und Männer in dem durchaus geräumigen Hospitalgebäude mit vier großen Räumen und einer kleinen Hauskapelle. Nach der Aufgabe der spitalseigenen Meierei erhielten die Insassen lediglich ein Kostgeld, um 1750 fünf Kreuzer täglich30. Wie der Spitalmeister Joseph Neubauer im September 1754 referierte, hing die Aufnahme der vornehmlich älteren Frauen und Männer ausschließlich von der Entscheidung der in Graz tätigen Landessicherheitshofkommission ab, welche die Spitalsbewohner verpflichtete, für die zahlreichen Wohltäter, vor allem aber für die Regierung und das Erzhaus Österreich, zu beten31. Nicht nur in Radkersburg zeigte sich der Staat eifrig bestrebt, die Sozialfürsorge unter seine Kontrolle zu bringen und den Einfluss der Städte und Märkte sowie der geistlichen und weltlichen Herrschaften eindeutig zu beschneiden und auf Geldzahlungen sowie die Leistung von Sachgütern zu beschränken. Die frühesten Bemühungen um eine Zentralisierung datieren in die 1660er-Jahre, als die landesfürstlichen Behörden an eine Erfassung aller weltlichen Stiftungen in der Steiermark dachten, jedoch noch an der Unzulänglichkeit ihrer Verwaltungsorganisation scheitern mussten32. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht eine im Februar 1718 von Kaiser Karl VI. in Graz erlassene Hofverordnung, die das Ziel hatte, nicht nur den Bettel einzudämmen, sondern quasi als Nebeneffekt auch die Platzkapazitäten und den Zustand der Hospitäler zu erfassen, um damit denen wahrhafftig armen Preßhafft- vnd Zur arbeith vntauglichen Leuthen, so allda im Land gebohren, oder in Langwürigen Diensten erarmet, vnd Müheseelig worden seynd, die gerechtfertigte Unter-

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stützung zukommen zu lassen33. Aus Ersparnisgründen sollte die Oberaufsicht über die Hospitäler in den Städten und Märkten weiterhin von Bürgern amore publici wahrgenommen werden. Obwohl Antworten der Kommunen – wenn auch mit monatelanger Verzögerung – eintrafen, vergingen noch mehrere Jahre, bis 1724/25 eine gesonderte Commission zur Einrichtung gemainer Landes-Sicherheit und Besorgung deren milden Stiftungen bei den Hofbehörden in Graz eingerichtet wurde, die für den Länderkomplex Innerösterreich zuständig war. In den folgenden Jahren griff die Behörde nachhaltig in die Verwaltung der kärntnerischen und steirischen Armenanstalten ein, forderte die Vorlage der rechtlichen Grundlagen und zog diese an sich. Ein wesentliches Ergebnis dieser Bemühungen war ferner die Drucklegung einer besonderen Instruktion für den jeweiligen Hospitalmeister, der nunmehr direkt der landesherrlichen Behörde verantwortlich war34, und die Publikation einer generell gültigen Hospitalordnung im Jahr 1731, deren tatsächlicher Einfluss jedoch nicht überschätzt werden darf35, da in späteren Berichten zur Lage der Hospitäler von den verantwortlichen Personen nur selten darauf verwiesen wurde. Konnten sich die Kommunen und Herrschaften auch jahrzehntelang gegen die unbeliebten Einmischungsversuche der neu gegründeten Behörde mehr oder minder erfolgreich zur Wehr setzen und diese in ihrer Arbeit zumindest behindern, so traten die mächtiger werdenden Zentralgewalten unter Maria Theresia und Joseph II. zu einem langfristigen Siegeszug an. Aus Landes-Mütterliche[r] Sorgfalt ließ Maria Theresia im Sommer 1754 eine 18 Punkte umfassende Instruktion ausarbeiten, die Fragen nach der Errichtung der milden Stiftungen, deren Vermögen, Verwendung und Verwaltung sowie eventueller Gebrechen stellte36. Das Schwergewicht der Untersuchung wurde unmissverständlich auf die finanziellen Verhältnisse der einzelnen Anstalten und die Erhebung der Zahl der betreuten Personen gelegt. Der umfangreiche Schriftverkehr erforderte die Arbeit von eineinhalb Jahren, bis für die Steiermark eine Haupt-Stiftungstabelle vorgelegt werden konnte, die inklusive Ergänzungen knapp einhundert Anstalten aufzählte37. Die Herrschaftsverwalter, Markt- und Stadtrichter sowie Hospitalmeister reagierten auf die neuerliche Untersuchung teilweise mit einer Hinhaltetaktik und mit Argwohn und wiesen hinsichtlich der Frage nach den Dokumenten darauf hin, dass alle Rechnungen und alle übrige[n] schriftliche[n] Urkunden daselbsten [= Graz] aufbehalten werden, wessentwegen dan ein solche anbefohlene untersuechung keines wegs hiesiger herrschaft sondern nur den Milden Stüfftungs Comission zustehen und einzulegen gebühren will 38. Aufgrund der strengen Kontrollen der im Hospitalwesen Tätigen fiel es den Magistraten zunehmend schwerer, geeignete Ratsmitglieder zu finden, die weiterhin bereit waren, Aufgaben in der Spitalverwaltung zu übernehmen39. Diese in den Herzogtümern Steiermark und Kärnten vorgenommenen theresianischen Untersuchungen bildeten die Grundlage für den weiteren Ausbau der landesfürstlichen Armenversorgung und die wesentlichen Veränderungen unter Joseph II40. In den Jahren 1783 bis 1787 bestimmte der Kaiser im Zuge der geplanten Zentralisierung gegen den ausdrücklichen Widerstand der Magistrate die (völlige) Auflösung der so genannten Hofspitäler41 und aller bürgerlichen Spitäler sowie der noch vorhandenen Meiereien, um mit

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deren Erlös den jeweils örtlichen Armenfonds zu speisen. Lediglich die bettlägerigen Kranken sollten auch weiterhin stationär verpflegt werden, ein Plan, der in seiner Radikalität nicht rasch durchführbar war. In einem Schreiben des Kreisamtes Villach vom April 1787 hieß es diesbezüglich: Für die Siechen [sollte] aber dort wo ein Kreis Phisikus sich befindet, ein oder anderes Spitalgebäu rückbehalten werden 42. Dabei wurde behördlicherseits hinsichtlich des Bedarfes der Spitäler überdies ignoriert, dass im Jahr hindurch sehr oft krankh als presshafte Burgers Leith und Kinder – wie auch andere frembde ankommende arme – oder auch krankhe leith durch ain- zwey- oder auch mehrer Täg, nebst der Behörbergung zu verpflegen seynd 43. Viele Bürgerspitäler behaupteten dennoch auch weiterhin ihre Existenz und behielten sogar einen Teil ihrer Güter, wurden allerdings zusätzlich mit eigenen Krankenzimmern versehen44. Die herrschaftlichen Spitäler hatten hingegen kaum „Überlebenschancen“. Die Häuser wurden nach Möglichkeit umgewidmet und ihr Vermögen vom Ärar eingezogen, so z. B. in Sauerbrunn bei Pöls (in der Nähe der Stadt Judenburg) und in der Stadt Murau45. Eine Aufstellung aus der Zeit um 1790 listete für Innerösterreich nunmehr 75 Hospitäler, fünf Zucht- und Arbeitshäuser und drei Waisenhäuser auf, davon entfielen 54 Einrichtungen auf das Herzogtum Steiermark (1.500 Versorgungsplätze) und 20 auf das Herzogtum Kärnten (1.072 Plätze)46. Auf Widerstand vor allem seitens der ländlichen Bevölkerung stieß ferner die mehrfach angeordnete Sperrung, Profanierung und der anschließende Verkauf zahlreicher beliebter Hospitalkirchen47.

Hospitaltypen und Aspekte des Alltagslebens Eine in Stein gehauene Inschrift am Hospitalgebäude48 des Marktes Mureck mit seinen 150 Häusern kündete – eher ungewöhnlich – von der 1560 getätigten Stiftung des Hans von Stubenberg, Erbmundschenk im Land Steier und Inhaber der Herrschaft, worauf der bürgerliche Chirurg und Spitalmeister Andree Seiberth in seinem Bericht vom September 1754 besonders hinzuweisen wusste. Der Historiker erwartet sich nach diesem Fingerzeig auf die besondere Fürsorge der Herrschaft eine größere und für die Südsteiermark durchaus bedeutende Anstalt, wird aber enttäuscht, da um 1750 und auch noch 40 Jahre später lediglich zwei Frauen und ein Mann mit täglich gereichten Lebensmitteln im Wert von bloß drei Kreuzern pro Person versorgt wurden. Obwohl das Haus bereits unter der Oberaufsicht der Landessicherheitshofkommission stand, reichte die Herrschaft noch nach altem Herkommen jährlich Geld und Salz im Wert von 30 Gulden49. Trotz der gesicherten finanziellen Basis und eines Kapitalfonds von 1.050 Gulden war es für die Hausbewohner schwer, mit den geringen Mitteln ihr Auskommen zu finden und es wird dabei rasch klar – folgt man der plausiblen Ansicht von Martin Scheutz –, dass der Aufenthalt in einem Hospital nicht unbedingt eine gesicherte Existenz bedeuten musste50. Wenige Arme wurden meist in einem kleinen, beengten Stübl untergebracht, dem noch eine Küche und ein Keller angeschlossen sein konnten, im besten Fall ein winziger Garten, und ernährten sich bei Fehlen eines entsprechend dotierten Fonds von deme, was Ihnnen aus getreuer Milden handt mitgetheillet wirdet51. Die Erledigung kleinerer Arbeitsaufträge52 oder „Bettelzüge“

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der Anstaltsbewohner in die nähere Umgebung waren daher im Untersuchungsgebiet nicht ungewöhnlich und führten im obersteirischen Markt Frohnleiten mit seinen 90 Häusern dazu, dass im Pestjahr 1679 die tödliche Krankheit eine noch raschere Verbreitung fand und auch das Spital beinahe gänzlich leerte. Ob an diesen Betteltouren um 1750 auch der ehemalige Gastwirt und langjährige Marktrichter Josef Severin Mauller teilnahm, wissen wir nicht, doch können wir seine Anwesenheit im Bürgerspital als Indiz dafür lesen, dass Armut wohl kaum jemanden verschonte53. Die vorangestellten Beispiele – Häuser mit nur geringen Aufnahmekapazitäten – verdeutlichen, dass es weder in Kärnten noch in der Steiermark in der Frühen Neuzeit üblich war, eine Pfründe in einem Hospital zu erwerben. Vielmehr war es weit verbreitet, dass die Interessenten um einen freien Platz bei ihrem Eintritt „einen beträchtlichen Teil des Wenigen, was sie besaßen, [freiwillig] an die Anstalt übergaben“54. Dabei bleibt jedoch zu bedenken, dass nur eine verschwindende Minderheit der künftigen Anstaltsinsassen zu irgendwelchen Gegenleistungen in Form von Kapitalien, Realien oder alltäglichen Gebrauchsgegenständen imstande war. Aufnahmebeträge in der Höhe von 50 Gulden, wie sie aus der Stadt Judenburg überliefert sind, oder 100 Gulden aus dem reichen landesfürstlichen Markt Eisenerz55, stellten zwar einen beachtlichen Wert dar, waren aber zumindest für Hospitalbewohner aus dem Bürgerstand durchaus leistbar. Dieses Geld wurde in der Regel Zins bringend angelegt, doch war die Grundsumme de facto auch bei größter Sparsamkeit seitens der Hospitalverwaltung bereits nach wenigen Jahren durch den anfallenden Aufwand für den jeweiligen Hausinsassen verbraucht. Von völlig mittellosen Personen konnte man ohnedies nur Dank in Form der obligatorischen Gebete erwarten56. Beim Tod eines „Spitalers“ fiel dessen bescheidene Verlassenschaft üblicherweise dem Haus anheim57. Wenn auch in der neueren Literatur mit Nachdruck betont wird, dass Hospitäler in ihrer Grundintention keineswegs im Sinn des bekannten Konzepts der Totalen Institution58 zu interpretieren seien59 und sich die Grenzen zwischen Personal und Insassen als fließend erwiesen60, so wurde zumindest durch die gebetsmühlenartige Wiederholung der Hospitalordnungen61 und durch ein „Überwachungsmanagement“ der Versuch unternommen, Kontrolle auch in den kleinen und unbedeutenden Anstalten auszuüben. In dieser Hinsicht wurde in Neumarkt in der Steiermark, dicht an der Grenze zum Herzogtum Kärnten und der Stadt Friesach gelegen, ein taugliches weibsbild aufgenommen, welches guet obsicht tragen [sollte], weilen dergleichen arme leuth zuweilen ohne wissende obsorge und forcht […] in ihrem tun ganz liederlich zu sein pflegen, selbe sowohl auf saubrigkeit und anderen Erforderungen, ermannungen, als ehrbarkeit ihres standes anhaltet. Zudem sollte die Stubenmutter darauf achten, daß durch den Müssiggang kein laster einschleichen könne 62. Stellt man die Frage nach den „Betreibern“ der Hospitäler, so kristallisiert sich rasch heraus, dass sich der Landesherr nur wenig engagierte und bloß in Zentralorten Anstalten – die Hofspitäler in Graz, St. Veit und im Markt Aussee sowie das Armenhaus in Graz – einrichten ließ63. Wesentlich größere Bedeutung kam den gestifteten Häusern des Klerus und weltlicher Herrschaften zu. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war jedoch das Bürger-

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spital der Märkte und Städte die dominierende Versorgungseinrichtung der geschlossenen Armenfürsorge. Ein beispielhafter Blick auf und in einzelne Hospitäler soll der Verdeutlichung dienen. Am Ostende des kleinen Kärntner Dorfes Kirschentheuer mit 250 Einwohnern, an der Straße in das nahe Ferlach gelegen und in Blickrichtung zum Herrschaftssitz der Hollenburg, ließ der Inhaber Siegmund Ludwig von Dietrichstein am St.-Bartholomäus-Tag (24. August) 1641 ein kleines Spital zur heiligen Dreifaltigkeit mit einer angeschlossenen Kapelle für zwölf arme und alte Männer aus der Grundherrschaft neu errichten. Der Pfarrer von Kappel oder einer seiner Kapläne, die dem Stift Viktring unterstanden, mussten in der Kapelle wöchentlich eine Messe lesen, an der die Hospitalinsassen verpflichtend teilzunehmen hatten, und den Pfründnern den Tod durch die Beichte und die letzte Ölung erleichtern. Die Männer sollten als Dank ihrerseits der Seelen der Angehörigen des Hauses Dietrichstein gedenken, sonderheitlich aber der jezo Lebenden Ihrer Linie, und der Erbens Erben in Ewigkeit bitten und betten 64. Sie wurden einigermaßen gut versorgt, wie aus den erhaltenen jährlichen Rechnungen für das sonntägliche Fleisch, den eingekauften Speck, Stockfische, „Brezen“ sowie das verbrauchte Bier und den Wein hervorgeht. Eine eigens angestellte und entlohnte Wärterin kümmerte sich um das leibliche Wohl der Bewohner, wusch die Wäsche und pflegte die Kranken. Der Versuch der Herrschaft, um 1750 ein Benefizium in Kirschentheuer einrichten zu lassen und damit die dauerhafte geistliche Betreuung der Insassen zu sichern, scheiterte um 1755 am beharrlichen Widerstand des Abtes Benedikt von Viktring65. Wie ein Inventar aus der Zeit des späten 18. Jahrhunderts verdeutlicht, war das kleine Gebäude mit seinen zwei Zimmern, einer Küche, einer Vorratskammer und der Vorlaube66 nur spärlich eingerichtet und verfügte bloß über elf Betten für üblicherweise zwölf Insassen, doch waren zumindest genügend Leintücher und Bettdecken vorhanden – auch nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Interessant ist, dass einige Arbeitsgeräte, z. B. Mistgabeln und Hackbeile, vorrätig waren, ein deutlicher Hinweis auf die geforderte Mitarbeit der alten Männer im Haushalt. Bemerkenswert ist ferner der seltene archivalische Beleg für eine Hölzerne Henguhr, mit der sich die Zeit der „Spitaler“ im Rahmen der Hausordnung regulieren ließ67. Das Gebäude wurde Ende Juni 1834 ein Raub der Flammen, erneut aufgebaut und wenige Jahre später wieder eingeweiht, jedoch die Anstalt im Rahmen der Grundentlastung 1848 von der Herrschaft aufgelöst68. Wurde in Kirschentheuer in der Nachfolge Christi die klassische Zahl von zwölf Armen versorgt, so konnten die herrschaftlichen Spitäler in Sauerbrunn und in Spittal (an der Drau) einen wesentlich größeren Personenkreis betreuen. Das Haus in Sauerbrunn bot den Armen einen außergewöhnlichen Wohnsitz, nämlich die ehemalige Residenz des Grundherrn Franz von Teuffenbach, die im Jahr 1612 beim Erlöschen des Mannesstamms zu einem Hospital umgestaltet wurde. Die Lebensbedingungen im Schloss, das mit reichem Grundbesitz und einer bedeutenden Meierei ausgestattet war, erwiesen sich allerdings als wenig herrschaftlich; wie aus einer bischöflichen Visitation des Jahres 1619 ersichtlich wird, mussten damals 18 Arme in einem einzigen Raum hausen und wurden auch zu Arbeiten im Meierhof herangezogen. Die Zahl der Insassen wuchs beständig und

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Abb. 2: Die sich in Privatbesitz befindliche Kapelle des ehemaligen herrschaftlichen Hospitals Kirschentheuer, Foto: Stefan Mak.

erreichte 100 Jahre später mehr als 30 Personen. Im Zuge der landesherrlichen Zentralisierungsbemühungen wurde die Anstalt 1730 zum Hofspital erklärt und der Oberaufsicht in Graz unterstellt. Nunmehr mussten die im September 1731 erlassenen Regulen und Satzungen Beachtung finden, welche die Spitalsbewohner zu einer quasi bruderschaftlichen Gemeinschaft zusammenfassten. Die strenge Lebensordnung verhinderte aber weder Missstände in der weltlichen Verwaltung und geistlichen Betreuung noch unter den verpflegten Frauen und Männern, so dass Joseph II. die Anstalt 1789 ohne großen Widerstand aufheben und die Armen außer Haus unterbringen konnte69. Zu Ende des 18. Jahrhunderts beherbergte das Hospital in Spittal an der Drau elf Männer und 14 Frauen, die Speise, Trank und Kleidung erwarten durften und in „zweispännigen“ Betten schliefen. Das Fondsvermögen bestand aus 8.600 Gulden und die jährlichen Ausgaben beliefen sich auf immerhin 1.720 Gulden70. Gabriel von Salamanca ließ nach der Erwerbung der Grafschaft Ortenburg im Jahr 1524 nach der Aufgabe des alten Hauses an der Lieserbrücke ein neues palastartiges Hofspital erbauen und führte damit die Tradition seiner Vorgänger fort. In seinem Testament vom 2. Dezember 1539 ordnete er ferner die Errichtung einer Spitalkirche an, deren Fertigstellung sich jedoch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts verzögerte. Außerdem erhielt jeder Hospitalbewohner beim Tod des

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Hospitalstifters ein schwarzes Gewand im Wert von drei Gulden. Das so genannte Spittl mit seiner großen Kirche prägte zusammen mit dem herrschaftlichen Schloss das Aussehen des Ortes ganz wesentlich mit. Die wirtschaftliche Grundlage der neuen Anstalt bildeten die Abgaben und Dienstleistungen von immerhin 50 Bauerngütern. Das Innenleben der Anstalt wurde durch eine detaillierte Hausordnung aus dem Jahr 1654 (gültig bis 1772) geregelt, deren Einhaltung dem Spitalverwalter und dem Meier aufgetragen wurde, so lieb Ihnen ist die Gnadt Gottes, vnd das Heill ihrer Seel Seeligkheit, aldieweilen dieses alles ein Gott wollgefälliges werkh der Barmherzigkheit […] ist71. Diese Instruktion beinhaltete auch einen starren Essensplan, der am Sonntag und Donnerstag Fleischspeisen verhieß, an den restlichen Wochentagen jedoch Rüben, Kraut, Mus, Suppen und Hirsebrei vorsah. Neben dem Spitalmeier und seiner Frau, die für die Wirtschaftsführung verantwortlich waren, sowie dem hauptverantwortlichen Verwalter und den ihn unterstützenden Kaplan bemühte sich vor allem eine Außwarterin, d. h. eine Aufseherin und Krankenpflegerin, der aufgrund ihrer Funktion ein Einzelbett zur Verfügung stand, um die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sauberkeit. Die meisten benötigten Lebensmittel stammten aus der eigenen Land- und Viehwirtschaft (immerhin zwölf Kühe, sieben Mastschweine und zwei Pferde), das Brennholz konnte im Spittlforst geschlagen werden. Beim Tod eines Hospitalinsassen erfolgte die Wiederbesetzung der Pfründe meist innerhalb einer Woche, wobei Personen mit zumindest geringem Vermögen bevorzugt wurden. Das Haus kam seinem sozialen „Versorgungsauftrag“ nach und verpflegte in mittelalterlicher Tradition auch kurzfristig Pilger und Reisende. In anderer Hinsicht wagte es der Verwalter, die mariatheresianischen Behörden zu kritisieren, indem er darauf hinwies, dass die Anstalt nur für Arme der Herrschaft und keineswegs für Fremde gestiftet sei. Außerdem sprach er sich vehement gegen den Verkauf der Meierei und die Austeilung eines Kostgeldes aus und begründete dies damit: Seynd in diesem Spital die meisten Stum, taub, Lamb, Mente Capiti [= verrückt, ohne Verstand], und solche Leithe, welche keine Münze erkhennen, und theils nicht im Stande seyn, den anderen einen Trunkh Wasser zu reichen weniger zu einer Beyhilff sich was zu verdienen, oder die erforderliche Nothdurfften einzukauffen. Zu denen ist auch zu erwegen, daß derley Mente Capiti etc. bey ihrem Mängel innerlich gleichwohlen einer gesunden Natur, und wie leicht zu erachten eine weith grössere, und stärkere Nahrung, alß andere nur eraltete Leuthe brauchen72. Das regional bedeutende Hospital existierte bis zur Zerstörung der Anstalt durch einen verheerenden Brand im April 1797. Die Ruine wurde im März 1802 seitens der Herrschaft verkauft, doch bestand die Armenstiftung, deren Erlös weiterhin bedürftigen Personen zukam, bis zur endgültigen Auflösung unter den Nationalsozialisten im August 193973. Eines der wenigen noch in der Frühen Neuzeit von der Geistlichkeit finanzierten Armenspitäler für Frauen und Männer befand sich im Markt Seckau mit seinen 80 Häusern, zugleich Sitz des gleichnamigen Bistums. Diese Einrichtung wurde von Dompropst Johannes Dürrberger, der sich in der Spitalkapelle als Stifter verewigen ließ, im Jahr 1502 aus dem Vermögen des aufgehobenen Chorfrauenklosters geschaffen, doch existierte bereits im Hochmittelalter ein hospitale pauperum. Das Gebäude musste 1912 auf behördliche

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Anordnung geschliffen werden, lediglich die Luziakapelle mit ihren spätgotischen Wandmalereien mit den Themen des menschlichen Leides, der wohltätigen Humanitas und der Caritas konnte vor dem Abriss bewahrt werden74. Noch um 1970 war angeblich eine Holztafel erhalten, auf der die Statuten dieses Hauses mit ihrer Überbetonung des religiösen Aspekts aus der Zeit um 1700 verzeichnet waren75. Das Spital dürfte im Zuge der josephinischen Aufhebung des Stifts 1782 ebenfalls aufgegeben worden sein, denn es findet wenige Jahre danach keine Erwähnung mehr. Das Haus war ursprünglich – ähnlich wie im Stift Göß – für die erarmte Stiffts und maÿrleith geschaffen worden, wobei man trotz Unglaubwürdigkeit nicht müde wurde, häufig darauf hinzuweisen, dass die Armen mit erspar- und abkürzung unsers eigenen Stuck-brods ernährt wurden76. Liegen uns bisher über die Anzahl der betreuten Armen in Seckau keine Informationen vor, so wissen wir, dass in Friesach – eine zwar im Herzogtum Kärnten gelegene, aber im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit unter Salzburger Herrschaft stehende Stadt (mit finsteren und schmutzigen Straßen), die um das Jahr 1800 annähernd 1.000 Einwohner zählte77 – neben den versorgten Armen im Bürgerspital kaum mehr als fünf bis sieben Personen im Hospital des Deutschen Ordens in der St. Veiter Vorstadt Verpflegung erhielten. Obwohl sich die Brüder um die ordentliche Versorgung und Betreuung der alten Männer kümmern sollten, wurde wiederholt Kritik an dieser schon im 12. Jahrhundert geschaffenen Einrichtung laut. Das eigentliche Hospitalgebäude war nach den Akten der Generalvisitation des Jahres 1720 zu einer Hausschmiede zweckentfremdet worden, die Insassen hielt man wie Knechte und sie mussten in der ruinösen Torstube wohnen. Lediglich das Bild der Ordenspatronin Elisabeth am Eingang des Hauses erinnerte die Visitatoren, aber auch die Vorbeireisenden, daran, dass es sich um eine milde Stiftung handelte. Die vier Hospitalbewohner hausten in einer engen und finsteren Stube, die ihrer Gesundheit abträglich war und im Pestjahr 1716 den Tod aller Insassen mitverursacht hatte. In den folgenden Jahren wurde daher streng darauf geachtet, dass die Ordensmitglieder ihren Verpflichtungen nachkamen und die Armen, die man mehrfach befragen ließ, entsprechend behandelt und versorgt wurden. Um 1880 konnte das ehemalige Spital nach seiner Revitalisierung in ein modernes Krankenhaus umgestaltet werden (Deutsch-Ordens-Spital Friesach mit gegenwärtig 205 Betten)78. Zu den wenigen Sozialfürsorgeeinrichtungen in den ländlichen Regionen, deren oft wechselvolle Geschichte erforscht ist, zählt das Bürgerspital der in Unterkärnten gelegenen Stadt Völkermarkt, eine Anstalt, die im Jahr 1398 erstmals urkundliche Erwähnung fand. Die Auswirkungen der Reformation gingen am Bürgerspital nicht spurlos vorüber. Im Jahr 1564 stiftete die verwitwete Völkermarkter Bürgersfrau Agnes Kienberger Gründe und Abgaben von Untertanen zum Unterhalt eines evangelischen Prädikanten an der Spitalkirche St. Jakob. Die Ausbreitung, Förderung und Festigung des protestantischen Glaubens standen dabei im Mittelpunkt ihrer reichen Stiftung. Obwohl der Rat um 1570 fast zur Gänze protestantisch war, zeigten die gegenreformatorischen Maßnahmen Erzherzog Ferdinands und seiner Berater innerhalb weniger Jahrzehnte entsprechende Wirkung auch in Völkermarkt. Eine im Auftrag des Salzburger Erzbischofs in den Jahren 1616 und 1617

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angeordnete Visitation aller salzburgischen Kirchen Kärntens erbrachte für Völkermarkt das Ergebnis, dass Teile der Kirche profaniert waren und als Lagerraum dienten. Für das Hospital war keine Ordnung auffindbar und die Zahl der versorgten Armen war nicht festgelegt. Völkermarkter Bürger hatten das Besitztum des Hospitals teilweise an sich gezogen und die Insassen wurden nur mangelhaft mit Lebensmitteln versorgt. Aufgrund der fehlenden finanziellen Dotierung einigten sich 1664 die geistlichen und weltlichen Aufsichtsorgane, auf das kostspielige Festessen bei der jährlichen Rechnungslegung zu verzichten. Trotz fehlender Geldmittel konnte dennoch zumindest eine „Aufwärterin“ beschäftigt werden, um die Kinder und die alten Frauen sowie Männer zu betreuen. Selbstverständlich wurde von den Insassen eine Mitarbeit im Haushalt und gelegentlich in der Landwirtschaft erwartet. Um 1750 hatte sich die Situation deutlich gebessert und das Spital konnte sogar einen jährlichen Überschuss von mehr als 300 Gulden erwirtschaften. Die Anstalt bot zeitweise mehr als 30 Personen Unterkunft, Essen und Kleidung, zusätzlich erhielten üblicherweise zehn bis zwölf Hausarme vierzehntägig Nahrungsmittel. Im 18. Jahrhundert wurde das Obergeschoß des bis heute erhaltenen Hauses als Getreidespeicher genutzt. Neben dem teilweise gemauerten Meierhof lagen die Wirtschaftsgebäude mit Stadeln, Wagenhütte, Keller, Heuscheune, Viehhütte und einem kleinen Gebäude für die Flachsbearbeitung. Die Hospitalkirche wurde nach 1800 profaniert, die Meierei aufgegeben und die Gründe verkauft, jedoch das Gebäude noch bis in die 1920er-Jahre für die Unterbringung von Gemeindearmen genutzt. Die Bürgerspitalstiftung hatte hingegen bis Mai 1939 Bestand79. Interessant und von Bedeutung wäre auch das Werden des Bürger- und des Hofspitals St. Veit, das sogar ein landesfürstliches Wappen führen durfte80, doch fehlen uns für die genaue Kenntnis der Armenpflege in der alten Kärntner Herzogsstadt teilweise die entsprechenden archivalischen Quellen81. Wir wissen summarisch, dass das in den Jahren um 1320/1330 gegründete Bürgerspital zeitweilig bis 45 Insassen und damit bereits zu den „großen“ Anstalten zählte. Das Bürgerspital „überlebte“ auch die Jahre der josephinischen Alleinregierung, da sich der Rat bei der Regierung um den Weiterbestand der Institution bemühte82. Wesentlich besser sind die Überlieferungssituation und damit der aktuelle Forschungsstand für die landesfürstliche steirische Kreisstadt Judenburg. Als älteste Spitalseinrichtung gilt in Judenburg das Marienspital, das im Jahr 1271 gemeinsam von der Ritter- und Bürgergemeinde jenseits der Mur gegründet wurde. Diese Institution, die üblicherweise sechs Personen versorgte, wurde 1599 gemeinsam mit der Magdalenenkirche an den Pfarrer von Judenburg übergeben und somit zum geistlichen Beneficium 83. Daneben existierte seit 1420 das Heilige-Geist-Spital, eine Einrichtung, die jedoch 1607 vom Landesherrn in eine Stipendienstiftung umgewandelt wurde84. Als wichtigste Anstalt der örtlichen Caritas gilt das St.-Barbara-Bürgerspital mit der Barbara-Kapelle, dessen erste Nachricht aus dem Jahr 1405 stammt. Das Gebäude befand sich gegenüber der Augustinerkirche (heute Kaserngasse 27) und wurde im Lauf seines Bestehens – zum Teil auch wegen Baufälligkeit – mehrfach umgebaut. Der Stadtbrand des Jahres 1670 beschädigte das Spital schwer, so dass

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Abb. 3: Das Bürgerspital von Judenburg um 1730, kolorierte Zeichnung, anonym. In: StLA, Weltliche Stiftungsakten, Fasz. 23, Nr. 12.

unter Mithilfe der Spitalinsassen die Ruine abgebrochen und das Haus neu errichtet werden musste. Über das einstige Aussehen des Spitals geben uns ein Plan und zwei Zeichnungen aus dem Jahr 1730 detaillierte Auskunft85. Das Innere des Spitalgebäudes wurde wenige Jahre zuvor beschrieben: […] daß gehäuß dieses armen Bürger Spitalls ist schlecht genurg beschaffen und befundet sich in üblen und gefährlich standt […]86. Ein Bericht vom Februar 1730 präzisierte noch diese Beobachtung: […] das Spitall liget etwaß abwerths von dem Berg, und ist […] wegen des alterthumb wie auch der erlittenen feyersprunsten […] sehr zerfallen, daß es also einer zeitlichen reparation bedarf, umb der arme Spitaller so woll von der gefahr deß Einfallens, und des feuersß zu errötten, alß auch ihnen ein bößers Unterkommen zu verschaffen hechts nettig hat […] derselb so woll in einer ungewelbten schlechten Stuben deß Tagß hindurch ihr wohnung, alß auch in einer unreparierten kälten Schlaff Kammer, so einen Stall gleichet, ihr nacht lager nemmen müssen 87. Trotz der Dringlichkeit der Angelegenheit konnte das Spital aufgrund finanzieller Engpässe erst in den Jahren 1738 bis 1744 repariert werden. Im Jahr 1758 dürfte noch ein eigenes Zimmer für die Kranken eingerichtet worden sein, um diese von den Gesunden zu separieren. Im Haus wohnten neben den Armen die Bediensteten, neben dem Meier und seiner Frau im Jahr 1644 noch weitere neun Personen, deren Hauptaufgabe die Führung der zum Spital gehörenden Landwirt-

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schaft war88. Infolge des Stadtbrandes von 1807 wurde das Spitalgebäude erneut schwer in Mitleidenschaft gezogen, und der Wiederaufbau zog sich jahrelang hin, da sich der Magistrat und das Kreisamt in der Kostenfrage nicht einigten. Bis zum Jahr 1811 konnten nur der Dachstuhl und ein einziges Zimmer für die ursprünglich 16 Insassen renoviert werden. Im frühen 19. Jahrhundert wurde das Gebäude verkauft und 1839 schließlich abgetragen. Heute befindet sich an dieser Stelle das Stadtmuseum von Judenburg89.

Norm und Praxis Stellt man nunmehr die Frage nach den Lebensbedingungen in diesen Häusern, so muss sich der Historiker der Mühe unterziehen, die (meist) normativen Quellen gegen den berühmten Strich zu lesen. Wichtige Ergänzungen zum trostlosen Alltag in den Hospitälern können Beschwerdeschriften der „Spitaler“ liefern, die sich jedoch nur in geringem Ausmaß erhalten haben. Üblicherweise erwartet sich die Forschung bei der Beschäftigung mit der geschlossenen Armenfürsorge das Auffinden von detaillierten Hospitalordnungen, die den Tagesablauf von morgens bis abends genau vorgeben, doch wird man auch bei der peniblen Durchsicht des einschlägigen Quellenmaterials für Anstalten in ländlichen und damit oft abgelegenen Regionen in der Regel in dieser Hinsicht enttäuscht. Für die Herzogtümer Kärnten und Steiermark sind bisher erst mehr als ein Dutzend dieser Ordnungen bekannt. Gewissermaßen einen „Ersatz“ bieten die bereits erwähnten und von Karl VI. erlassenen Regulen und Satzungen aus dem Jahr 173190, deren Gültigkeit sich de iure zumindest auf die gesamte Steiermark, vermutlich jedoch auch auf Kärnten bezog91. Um die „Eigenregie“ der Hausbewohner, d. h. eine mehr oder minder von der Obrigkeit unabhängige Lebens- und Alltagsgestaltung zu unterbinden92, gab der Staat, gelenkt von einer zentralistisch orientierten Politik, den Hospitalmeistern und ihren Untergebenen, meist ein Meier und eine Meierin oder zumindest ein Hospitalvater oder eine Hospitalmutter, spätestens im 18. Jahrhundert eine von oben verordnete Satzung in die Hand. Diese sollte eine gleichförmige Handhabung sicherstellen. Im Sinn des von den Habsburgern propagierten Katholizismus wurde ein besonderer Wert auf ein gottgefälliges Leben gelegt, das quasi klösterlichen Statuten folgte. Bereits in Punkt eins der Regulen und Satzungen hieß es unmissverständlich: Solle alles mit GOtt angefangen/ und forderist durch öfftere Pflegung der Beicht und [des] heiligsten Nachtmahls das Gewissen gereiniget/ und das Gemüth mit dem Göttlichen Willen vereinbahret werden. […] Item ihr tägliches Gebett zu Hauß mit Andacht verrichten/ als Morgends/ Abends/ und unter Tags/ vor und nach dem Essen etc. und wie es sonsten ihre Obligenheit nach Innhalt deren Stifftungen erforderet93. Die Verpflichtung zu endlosen Gebetsübungen und zur Teilnahme an allen gelesenen Messen war eine aus dem Mittelalter überkommene Forderung, die noch bis ins 19. Jahrhundert in Hospitälern, Armenhäusern und auch in den noch jungen Krankenhäusern Bestand haben sollte. Neu war hingegen die Aufforderung, speziell für die Mitglieder der kaiserlichen Familie und damit das Wohl des Staates zu beten. Die Hospitalinsassen sollten Streit untereinander vermeiden, die Zeiten des Aufstehens und der Nachtruhe mit ihren jeweiligen Ritualen beachten,

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sich hygienischen Mindeststandards unterwerfen, das Haus nicht ohne Erlaubnis verlassen und sich den Anweisungen des Hospitalmeisters ohne Widerrede fügen. Bei Zuwiderhandlung drohte das erste Mal eine Ermahnung, im Wiederholungsfall der Verlust des Essens oder der Geldzuteilung, im dritten Fall sogar die Einsperrung in die Keuche (= Gefängnis, abschließbarer Raum). Vielfach diente ein kleines „Extrastüberl“ nebenbei auch als Arrestzelle94. Ein Ausschluss aus dem Haus – eine nur selten verfügte Maßnahme – wurde in den Regulen und Satzungen nicht thematisiert, auch für Sexualdelikte und Diebstahl wurde lediglich nur die zeittypische verdiente Bestraffung verlangt95. Dem Spitalmeister96, häufig ein angesehener Bürger und Mitglied des Rates, der üblicherweise erst im 18. Jahrhundert auch lesen und schreiben konnte97, jedoch sich seines Amtes in vielen Fällen gerne entzogen hätte98, kam die oberste Kontrollfunktion in wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht zu. Er sollte die Stiftung fördern (teilweise auch aus eigenen finanziellen Mitteln), die Fondsgelder sparsam einsetzen, geeignete Kandidaten/innen für die Aufnahme in das Hospital in Vorschlag bringen, die Insassen und das Personal überwachen und für sauber[e] und wohl gekocht[e] Speisen Sorge tragen. Im 18. Jahrhundert wurde der Hospitalmeister (und eventuell auch seine Frau) für seine Tätigkeit entlohnt, in den früheren Jahrhunderten handelte es sich hingegen um ein Ehrenamt und er durfte seine Entlohnung vom reichen Himmel erwarten. Bemerkenswert ist, dass bereits 1731 die Aufgabe der Naturalversorgung empfohlen und damit die Bestrebungen Kaiser Josephs II. teilweise vorweggenommen wurden. Mit dieser Maßnahme erhoffte man sich, dass vile Klagen und Beschwärungen von denen Armen zuruck bleiben99. Das Wirksamwerden der erwähnten Regulen und Satzungen und der zeitgleich erlassenen Instruktion für den Hospitalmeister darf durchaus bezweifelt werden100, da sich in den Berichten an die Landessicherheitshofkommission und damit die Landesregierung kaum ein Niederschlag oder zumindest ein Nachhall entdecken lässt. Eines der wenigen Beispiele hat sich für den landesfürstlichen obersteirischen Markt Trofaiach erhalten, wo der Spitalmeister im Herbst 1754 an das Kreisamt in Bruck berichtete, dass sich die Hausbewohner nach allgemeiner Spitals Ordnung, und Vorschrüfft zu verhalten hätten101. Mit dem Hinweis spielte er mit ziemlicher Sicherheit auf die Normen des Jahres 1731 an, die – wie die meisten erhaltenen Spitalstatuten – der langen Dauer verpflichtet waren und im Markt Eisenerz sogar bis 1906 Bestand haben sollten102. Die ältesten Statuten, die ich bisher einsehen konnte, stammen aus dem Kärntner Markt Spittal und datieren in das Jahr 1654. Es handelt sich um die am 1. Januar seitens der Herrschaft erlassene Disposition und Anordnung was gestalt die Sechs und Zwainzig armen Leÿth, oder Spentler, dass ganze Jahr durch sollen in der Speiß, als auch in der Bekleidung, und Sauberkeit tractirt, und gehalten werden103. Neben der genauen Vorgabe des jährlichen Bedürfnisses an Rohstoffen und Viktualien sowie der Festlegung der Mahlzeiten wurde sehr früh besonderer Wert auf Sauberkeit und Hygiene gelegt. Das Meierehepaar musste dafür Sorge tragen, dass das Haus unter Mithilfe der Spentler iederzeit sauber und gekehrter erhalten wurde. Eine eigens angestellte Außwarterin (Wärterin) war überdies verpflichtet, sowohl im Sommer als auch im Winter die Schlafkammern und Taflstuben gegen Ungezieferbefall

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zu räuchern, die Secret Häuser [Toiletten] wegen des besen tampfs geschlossen zu halten, die Esstische abzureiben, mit Hilfe der Insassen aufzubetten und den Insassen einmal wöchentlich frische Leibwäsche zu reichen104. Außerdem wurde verfügt: So solle man auch gemelten armen Leüthen alle vierzehn Tagen die padtstuben haizen, und sie darinnen paden, und säubern, wie gebräuchig105. Knapp 140 Jahre später legte der Rat der Stadt Radkersburg neben den bereits genannten Aspekten Wert darauf, dass der Hospitalmeister und seine Ehefrau den Insassen freundlich begegneten, sie sozusagen nicht übel traktir[t]en, sich unbestechlich erwiesen und Vorsorge im Krankheitsfall trafen106. Die ungefähr zeitgleichen Ordnungen der Hospitäler in den steirischen Märkten Seckau und Gleisdorf aus der Zeit um 1700 unterscheiden sich hingegen in markanten Punkten. Wurde im Vorwort der Seckauer Statuten hervorgehoben, dass die gros Unordnung, die Gott erzürnen würde, den Anlass für die Verschriftlichung der Normen geboten hätte und betrafen die meisten dieser Regeln religiöse Angelegenheiten (Es ist nicht genug, das der Bauch voll ist, sondern man muess auch daneben Gott gedenken)107, so ließ die Herrschaft Freiberg, die das Spital in Gleisdorf finanzierte, hingegen besonderen Wert auf das gemeinsame Zusammenleben im Haus legen. Außerdem verfügte die Herrschaft eine einheitliche blaue Kleidung für die neun bis zehn „Spitaler“, um ihre Wohltätigkeit sofort augenfällig zu machen108. Eine Einheitskleidung blieb in den Hospitälern dennoch die Ausnahme, üblicherweise trugen die Armen Bauerntracht oder auch gebrauchte Kleidungsstücke von verstorbenen Pfründnern109. Die Hospitalordnungen verfolgten nicht nur den Zweck, das Leben der Insassen minutiös zu regeln, sondern dienten – zumindest im zeitgenössischen Verständnis – auch deren Schutz. Eine einheitliche Kleidung konnte nicht nur stigmatisieren und die jeweilige Person als arm deklarieren, sondern auch die Zugehörigkeit zu einem (gewissermaßen bruderschaftlichen) Verband ausdrücken110. Werfen wir abschließend einen Blick auf die im Jahr 1751 erlassene Ordnung für das Spital im Markt (Maria) Zell mit der berühmten und reich dotierten Wallfahrtskirche, das Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden sein dürfte und lediglich mit Zinseinkünften und gesammelten Almosen 18 Arme versorgen konnte. Wie der Superior Peter Pierbaum, vermutlich Benediktiner aus St. Lambrecht, festhielt, mussten die Bittsteller um eine Pfründe vor allem Gottsförchtig und sich denen Spittalls-sazungen Gemess aufführen, widrigenfalls Sÿe Von danen Verstossen werden. Die zehn Punkte umfassenden Regeln verfügten, dass die Hausbewohner bereits sehr früh zwischen 4 Uhr 30 und 5 Uhr aufstehen mussten, um ihren überbordenden Gebetsdiensten nachkommen zu können. Ungewöhnlicherweise sah die Hausordnung nach den jeweiligen religiösen Übungen fixe Arbeitszeiten vor, so dass kaum mehr Raum für „Freizeit“ blieb111. Im Markt Spittal, wo die Frauen spinnen mussten112, und in Seckau, wo ebenfalls gearbeitet werden sollte, durften die Frauen und Männer wegen Arbeitsaufträgen sogar zu spät zum Mittagstisch kommen, doch mussten sie die versäumten Gebete danach in aller Stille verrichten113. Eine relativ junge Hausordnung für die Spitäler des Bezirkes Judenburg aus dem Jahr 1828 ist im Sinn der konstatierten langen Dauer der Ordnungen noch durchweht vom spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen geistlichen Geruch und betont den Aspekt des gemeinschaftlichen christlichen Lebens. Sie kennt

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noch immer den berühmt-berüchtigten Disciplinar-Arrest und die Einschränkungen der Insassen beim Wunsch, das Haus für kurze Zeit verlassen zu wollen. Verschwunden ist hingegen die Verpflichtung, sich seinen Unterhalt teilweise selbst verdienen zu müssen, doch bestand weiterhin die Verbindlichkeit, den kranken und schwachen Mitbewohnern im Bedarfsfall Unterstützung zukommen zu lassen114. Die Insassen verstießen aus verständlichen Gründen gegen die strikten Hausordnungen und rebellierten auch gelegentlich gegen herrschende Missstände in den Anstalten und gegen das Aufsichtspersonal, insbesondere gegen den Hospitalmeister, dem durchaus Feuer über sein Haus gewünscht werden konnte (so z. B. in der landesfürstlichen Stadt Leoben)115, den Geistlichen, den Meier und seine Frau sowie die Köchin. So nahmen die Bewohner des Bürgerspitals in der landesfürstlichen Stadt Leoben ihre schlechte Versorgungssituation und ihre grobe Behandlung im späten 16. und im 17. Jahrhundert nicht hin und petitionierten mehrfach beim Rat um Abhilfe116. Aus der Mitte des 17. Jahrhunderts hat sich ferner die Klage der Pfründner des Bürgerspitals in St. Veit erhalten, die beim Stadtrat eine diemiethige und Fueßfahlende Klag einreichten. Sie beschwerten sich über die Meierin wegen des schelten, fluechen, und Vermahledeyen Biß abgrundt der Höllen, sie murrten über deren gesellschaftlichen Umgang und die Veruntreuung von Lebensmitteln. Ihr Fazit lautete: Wir brauchen keine Maÿrin sondern Eine Pfriendtdirn. Darüber hinaus sprachen die Insassen an die Ratsmitglieder die Empfehlung aus, sie würden wohl wissen was mit Einer sollichen Untreyen Dienstpotten zu thuen seye. Kategorisch äußerten sie: Wir wollen sÿe nicht mehr haben, sondern sie kerth forth. […] Und solang sÿe in Spittall werdt sein, werdt kein Rast noch Ruehe, Villweniger ein Fried [sein]117. Stößt man in derartig aussagekräftigen Quellen auf die „Eigenmacht“ der Hausbewohner, die in den kleinen und Kleinstanstalten vom unentlohnten Hausvater oder der Hausmutter, die Ungebührliches verhindern sollten118, kaum reguliert werden konnte, so lässt sich mit Carlos Watzka konstatieren, dass „die Spitalsbewohner […] keineswegs rechtlos waren“119. Eine willkommene Abwechslung im eintönigen Alltag bot die Reichung der Speisen. Dabei muss betont werden, dass die relative Sicherheit der Nahrungszufuhr die Hospitalbewohner deutlich von den nicht in den Anstalten lebenden Armen unterschied. Allerdings lassen sich bei vielen sozialen Einrichtungen Kostgänger nachweisen, die zwar noch über ausreichend Geld verfügten, ihre eigene Behausung zu finanzieren, jedoch sich ihre tägliche Nahrung nicht mehr leisten konnten und aus diesem Grund ihr Essen im Hospital erhielten120. Da es in Kärnten und der Steiermark aufgrund des Überhangs an kleinen Hospitälern keine eigentlichen Pfründneranstalten gab und sich damit eine hierarchische Untergliederung der Insassen nicht nachweisen lässt, wurden das Hausgesinde und die Armen deckungsgleich ernährt. Kritisch wurde in einem Bericht des Hofkriegsrats vom Januar 1771 zu den (bäuerlichen) Essgewohnheiten in der Steiermark nach Wien berichtet: Knecht und Mägde forderen des Tages vier- und fünfmal zu essen. Sie schluken dabei die harten Mehlspeisen, so groß Mund und Kehle die Stüke fassen mag, und auf jeden Bissen nehmen sie einen Löfel voll Schmalz, wo es alsdan kein Wunder ist, daß das darneben trinkende resche Wasser Kröpfe, Satthälse und andere Gebrechen verursachet121. Die erhaltenen Speisepläne

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zur Kost in den Hospitälern bestätigen dieses Vorurteil nicht, denn häufig wurden nur zwei Mahlzeiten (Mittag- und Abendessen; das Frühstück bildete vielfach noch die Ausnahme) pro Tag gereicht. Ob allerdings die Knechte und Mägde im Gegensatz zu den Hausbewohnern auf den Feldern zusätzlich eine Jause zu sich nahmen, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei nachweisen. Allerdings kann man annehmen, dass zumindest das Meierehepaar in der Lage war, für sich und „besondere“ Bewohner (z. B. Geistliche)122 reichliche oder bessere Kost zu verschaffen. Wie zuletzt durch eine Auswertung von Speiseplänen123, die sich im Wochenrhythmus wiederholten, für das Untersuchungsgebiet nachgewiesen werden konnte, wurden pro Insasse im Durchschnitt Lebensmittel mit einem Nährwert von ca. 2.000 bis 3.000 Kilokalorien veranschlagt – soweit die Theorie. An den zahlreichen katholischen Festtagen erfuhr das Angebot durch milde Stiftungen noch eine Aufbesserung. In der Praxis dürfte sich vor allem in Krisenzeiten, bei nur gering dotierten Fonds oder auch bei Korruption des Personals dieses Angebot reduziert haben. Die verarbeiteten Produkte – Brotgetreide, Kraut, Rüben und andere Gemüsesorten, Hülsenfrüchte, Milch und in unterschiedlichem Ausmaß Fleisch (oft geringerer Qualität) sowie Speck und die gereichten Getränke (Bier, Wein von schlechter Qualität, abgekochtes Wasser) – entsprachen in etwa der „Angebotspalette“ der bäuerlichen Bevölkerung. Wurde den Hospitalinsassen nur Kostgeld gereicht – im späten 18. Jahrhundert die Regel – so war die Versorgung ohne zusätzliche Almosen oft nicht durchgehend gesichert, da die Geldbeträge nicht automatisch in Teuerungszeiten angehoben wurden. Allerdings konnte in den Hospitälern in der Regel auch in Krisenzeiten eine schwere Unterernährung der Spentler vermieden werden124.

Ausblick Meine bisherigen Archivrecherchen dienen der Vorbereitung der vergleichend angelegten Studie „Die Hospitäler der Herzogtümer Kärnten und Steiermark sowie des Erzstifts Salzburg in der Frühen Neuzeit“. Das langfristig projektierte wissenschaftliche Vorhaben gewinnt allmählich Konturen, zeigt aber auch deutliche Grenzen und Lücken hinsichtlich der möglichen Forschungsfragen auf. In diesem Aufsatz habe ich vornehmlich versucht, Antworten hinsichtlich der Organisation und Größe der Häuser sowie nach der Versorgungssituation der Insassen zu finden. Als (Zwischen-)Ergebnis kann ich festhalten, dass um 1790 das Verhältnis der versorgten Frauen und Männer – überraschenderweise – annähernd gleich war. Ohne Berücksichtigung der (Landeshaupt-)Städte Klagenfurt und Graz wurden laut Statistik 724 Frauen, Männer und Kinder in den ländlichen Regionen in 61 Anstalten erhalten (durchschnittlich 11,87 Personen pro Haus). In der Steiermark gab es 45 Häuser, die durchschnittlich neun Personen betreuten, in Kärnten hingegen lediglich 16 Hospitäler, die allerdings im Durchschnitt fast 20 Personen zu beherbergen hatten125. Die Versorgung im Hospital war sicherlich nicht ideal, doch sind uns – im Gegensatz zur Gegenwart – kaum „Pflegeskandale“ mit Todesfolge, wie zuletzt im Juni 2008 im Bezirk Völkermarkt126, überliefert. Das Personal war vielfach überfordert, die Verwalter unwillig

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und oft auch unqualifiziert, die finanzielle Dotierung der Fonds zu gering bemessen und die Stifter achteten mehr auf ihre Memoria als auf geregelte Verhältnisse in den Hospitälern. Von der Forschung beinahe unbemerkt blieb bisher ein Problem, das in den Quellen jedoch wiederholt thematisiert wurde, nämlich die ungeordnete Überlieferung der Stiftungsurkunden und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Von der Aufgabe überfordert, hielt der Berichterstatter aus der Stadt St. Veit im Sommer 1806 fest: […] alles, was davon zurückgeblieben, bestehet in unzusammenhängenden Briefstücken aus dem 13. 14. 15. und 16. Jahrhundert […] in damaligen altdeutschen Stühl, mit jetzt unleserlichen Buchstaben geschrieben […]127. Ähnlich gereizt meldete der Spitalverwalter im Kärntner Markt Obervellach den staatlichen Behörden bereits mehr als 50 Jahre zuvor: Es sei hinsichtlich des Hospitals nichts schriftliches vorhanden, ausser einige in dem alhiesig Raths hauß befindliche- uralte- nicht mehr zu lesen seyende Schriften128.

Anmerkungen 11 S tLA, Weltliche Stiftungsakten, Fasz. 83, Teil 1, Karton 301, fol. 32r–33v, Joseph Sallfellner armer müheseliger Mann in der Verpflegung zu Admont fueßfallendes Bitten an das k. k. I. Ö. Gubernium, undatiert (Dezember 1779). Sallfellner bat um Aufnahme in das Spital zu Kalwang, das unter der Verwaltung des Stiftes Admont stand. 12 Kurier am Sonntag, 25. Mai 2008, S. 1; vgl. Apropos. Straßenzeitung für Salzburg, September 2008, S. 10. Der Andrang auf die Sozialmärkte stieg durch die Weltwirtschaftskrise. Vgl. dazu Salzburger Volkzeitung, 15. Mai 2009, S. 2. Allgemein zur Situation in Österreich vgl. jüngst Nikolaus Dimmel, Karin Heitzmann, Martin Schenk (Hg.), Handbuch Armut in Österreich, Innsbruck-Bozen-Wien 2009. 13 Kurier am Sonntag, 25. Mai 2008, S. 4 f. 14 Ebd.; zu den Armutszahlen in Österreich vgl. Dimmel, Heitzmann, Schenk, Handbuch Armut (wie Anm. 2), S. 14. Ende Mai 2009 gab es bereits 39 Sozialmärkte in acht österreichischen Bundesländern, weitere Standorte sind geplant. Vgl. Sozialmärkte boomen in Österreich, http://oesterreich.orf. at/stories/364893/, 28. Mai 2009. 15 Apropos. Straßenzeitung für Salzburg, Oktober 2007 und September 2008, bes. S. 10. 16 Reisebegleiter ÖBB IC 644 Wiener Tafel. Wien Westbahnhof–Salzburg Hbf, 9. Dezember 2007–6. Juni 2008. 17 http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/309576/print.do, 29. Januar 2008 (der Text bezieht sich auf die Ausgabe der Presse vom 11. Juni 2007); mündliche Auskunft einer ÖBB-Angestellten vom 28. Januar 2008, Clublounge der ÖBB am Hauptbahnhof Salzburg. 18 Joseph Karl Kindermann, Historischer und geographischer Abriß des Herzogthums Steyermark, Graz 31787, S. 132 f.; ders., Repertorium der Steyermärkischen Geschichte, Geographie, Topographie, Statistik und Naturhistorie, Graz 1798, S. 485 f. 19 Diözesanarchiv Graz-Seckau, Pfarrarchiv Radkersburg, Schachtel 29, H. 220, Bittschrift des Johann Schwaiger, 24. April 1747. 10 Ebd. 11 Johann Heinrich Zedler, Großes Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste […] Bd. 13, Leipzig-Halle 1739, Sp. 971. 12 Vgl. dazu zuletzt: Johannes Kalwoda, Bedeutungsvarianten des Terminus „Innerösterreich“ in der späten Habsburgermonarchie, vor allem im frühen 20. Jahrhundert, in: MIÖG 116 (2008) H. 1–2,

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S. 158–171. Zu Innerösterreich gehörten neben Kärnten und Steiermark mit der Hauptstadt Graz noch Krain, Inneristrien, Triest und Görz. Cajetan Wanggo, Practische Anleitung die Werbbezirks-Geschäfte in Oesterreichs-deutschen Erblanden nach Vorschrift der ergangenen Gesetze zu besorgen, Graz 21818, S. 296–301 (Von den Spitälern), hier S. 296. StLA, Weltliche Stiftungsakten, Fasz. 83, Teil 2, Karton 302, fol. 1073r–v, Regulen/ und Satzungen/ Wie die in denen Spitäleren/ und Stifftungen unterhaltende Arme sich aufzuführen, Wien, 22. September 1731. StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 390r, Bürgermeister, Richter und Rat der landesfürstlichen Stadt Leoben an das Kreisamt in Bruck, 9. September 1754. Ebd., fol. 407r, Bericht des Rupert Märkhl, Pfleger der Stift Admont’schen Herrschaft Gallenstein, an den Kreishauptmann in Bruck, undatiert, September 1754, Punkt 8. Carlos Watzka, Arme, Kranke, Verrückte. Hospitäler und Krankenhäuser in der Steiermark vom 16. bis zum 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung für den Umgang mit psychisch Kranken (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 36), Graz 2007, S. 53. Ebd. Ders., Totale Institutionen und/oder „Disziplinar-Anstalten“ in der Frühen Neuzeit? Das Problem der sozialen Kontrolle in Hospitälern und deren Funktionen der „Verwahrung“ und „Versorgung“ am Beispiel des Herzogtums Steiermark, in: Gerhard Ammerer, Arthur Brunhart, Martin Scheutz, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter (Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der Separierung, Verwahrung und Bestrafung 1), Leipzig 2010, S. 235–254, hier S. 241 f.; Helfried Valentinitsch, Armenfürsorge im Herzogtum Steiermark im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 73 (1982), S. 93–114, bes. S. 99, S. 112–114; Alfred Stefan Weiß, „Aus Unglück arm geworden“. Lebensbedingungen in Bürgerspitälern während der frühen Neuzeit (mit einem Ausblick ins 19. Jahrhundert) – Beispiele aus Kärnten und Salzburg, in: Helmut Bräuer (Hg.), Arme ohne Chance. Protokoll der internationalen Tagung „Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart“ vom 23. bis 25. Oktober 2003 in Leipzig, Leipzig 2004, S. 191–221, bes. S. 200–206; Statistisch geographische Uebersicht der drey Herzogthümer Steyermark, Kärnthen, Krain und der Grafschaft Tyrol, Frankfurt-Leipzig 1794, S. 74–88; Jakob Scheließnigg, Kärnten im Jahre 1783 in statistischer und wirthschaftlicher Hinsicht, in: Carinthia 46 (1856), S. 149–152, hier S. 150. Vgl. die Auflistung der Hospitäler bei J(akob) Wichner, Beiträge zu einer Geschichte des Heilwesens, der Volksmedicin, der Bäder und Heilquellen in Steiermark bis incl. Jahr 1700, in: Mittheilungen des Historischen Vereins für Steiermark 33 (1885), S. 3–123, hier S. 43–75; Karl R. H. Frick, Geschichte der Medizin in Kärnten im Überblick. I: Von den Anfängen bis zum Jahre 1804 (Das Kärntner Landesarchiv 14), Klagenfurt 1987, S. 75–84. Carlos Watzka, Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch Kranken und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa (Menschen und Kulturen. Beihefte zum Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 1), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 182–184, S. 344; ders., Arme (wie Anm. 17), S. 21–52; ders., Totale Institutionen (wie Anm. 19), S. 241; Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 93, S. 100, S. 112–114; Martin Scheutz, Ausgesperrt und gejagt, geduldet und versteckt. Bettlervisitationen im Niederösterreich des 18. Jahrhunderts (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 34), St. Pölten 2003, S. 63; ders., „in daz brod bettlen ausgegangen“. Armut, Bettel und Armenversorgung in Niederösterreich während des 18. Jahrhunderts, in: Österreich in Geschichte und Literatur 47 (2003) H. 2 b–3, S. 119–135, hier S. 129; ders., Alfred Stefan Weiß, Spitäler im bayerischen und österreichischen Raum in der Frühen Neuzeit (bis 1800), in: Martin Scheutz, Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit (MIÖG Ergänzungsbd. 51), Wien-München 2008, S. 185–229, hier S. 205; StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 55r–69v, Verzeichnus Aller in dem Herzogthum Steyr zum Unterhalt der Armut befindlichen Milden Stüftungen; ergänzend ebd., fol. 72r–81r. Es sei hier nur auf den umfangreichen Bestand verwiesen: KLA, Findbuch 76, Milde Stiftungen I, 67–73.

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22 S tatistisch geographische Uebersicht (wie Anm. 19), S. 85–88; Scheließnigg, Kärnten (wie Anm. 19), S. 150; Weiß, Unglück (wie Anm. 19), S. 200 (mit zum Teil noch unrichtigen Zahlenangaben). 23 A ltenheime und Pflegeheime in Österreich. Mitte (Kärnten, Oberösterreich und Steiermark), Wien 6 2006, Einleitung, S. 711–713, S. 721–727. In Österreich gab es Ende 2006 insgesamt 773 Alten- und Pflegeheime. 24 Georg Kodolitsch, Radkersburg. Kunstgeschichtlicher Stadtführer, Graz 1974, S. 39 f. 25 Ute Weinberger, Armenversorgung der Stadt Radkersburg vom Beginn der Neuzeit bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Bürgerspitals. Diplomarbeit, Graz 1993, S. 24 f., S. 27, S. 32 f.; Franci Just (Hg.), Gorna Radgona, Murska Sobota 2007, S. 47 f., S. 61 f., S. 88 f., S. 131; Gerhard Dirnberger, Die Geschichte der landesfürstlichen Stadt Radkersburg vom Beginn der Neuzeit bis zum Regierungsantritt Maria Theresias. Dissertation, Graz 1973, S. 150–174; Heinrich Lechner, Radkersburg. Ein Heimatbuch, Graz 1931, S. 77 f.; Wichner, Beiträge (wie Anm. 19), S. 68; Friedrich Vlasaty, Das Spital in der steirischen Geschichte von seinen Anfängen bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Steiermark. Dissertation, Graz 1950, S. 42 f.; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 25, S. 57. 26 StLA, Archiv Radkersburg, Karton 55, H. 250, Inventare der Jahre 1630 und 1634. 27 Ebd., Instruktion des Spitalmeisters, 8. Juli 1781. 28 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 63. 29 Diözesanarchiv Graz-Seckau, Pfarrarchiv Radkersburg, Schachtel 24 und 25, H. 155–159, H. 168; Weinberger, Armenversorgung Radkersburg (wie Anm. 25), bes. S. 84; Sepp Szedonja, Bauen in Bad Radkersburg im Wandel der Zeit, in: Hermann Kurahs, Erwin Reidinger, Sepp Szedonja, Johann Wieser, Bad Radkersburg. Naturraum und Bevölkerung, Geschichte, Stadtanlage, Architektur, Bad Radkersburg 1997, S. 215–252, hier S. 233. 30 Weinberger, Armenversorgung Radkersburg (wie Anm. 25), S. 63–74, S. 79 f.; Alfred Stefan Weiß, Österreichische Hospitäler in der Frühen Neuzeit als „kasernierter Raum“? Norm und Praxis, in: Ammerer, Brunhart, Scheutz, Weiß, Orte der Verwahrung (wie Anm. 19), S. 217–234, hier S. 221. 31 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 167r–169 v, Bericht des Spitalmeisters von Radkersburg, 26. September 1754; Archiv Radkersburg, Karton 55, H. 250, Instruktion des Spitalmeisters, 8. Juli 1781, bes. Punkt 3. 32 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 61. 33 Diözesanarchiv Graz-Seckau, Pfarrarchiv Radkersburg, Schachtel 29, H. 220, Schreiben des Statthalters Johann Christoph Graf von und zu Wildenstein, 3. März 1718. 34 Sandra Kloibhofer, Das Bürgerspital von Eisenerz. Diplomarbeit, Graz 1993, S. 122 f. 35 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 62 f.; Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 95; Scheutz, Ausgesperrt und gejagt (wie Anm. 20), S. 61 f.; Regulen und Satzungen (wie Anm. 14); Österreichische Nationalbibliothek BE.8.A.12 (Adl. 17), Instruction, Krafft welcher sich die bestelte Spittl-Meister Uber die im Land befindliche Spittäler / Waisen- vnd Armen-Häuser / Nach Inhalt Der unter dato 22. Septembris 1731. emanirten Kayserl. Allergnädigsten Resolution zu verhalten / und zu dirigiren haben, Graz 1731, 15 §§. 36 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 299r–300r; vgl. Gernot Peter Obersteiner, Theresianische Verwaltungsreformen im Herzogtum Steiermark. Die Repräsentation und Kammer (1749–1763) als neue Landesbehörde des aufgeklärten Absolutismus (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 37), Graz 1993, bes. S. 194–204. 37 Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 95 f.; Martin Scheutz, Demand and Charitable Supply: Poverty and Poor Relief in Austria in the 18th and 19th Centuries, in: Ole Peter Grell, Andrew Cunningham, Bernd Roeck (Hg.), Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Southern Europe (The History of Medicine in Context), Aldershot-Burlington VT 2005, S. 52–95, hier S. 73. 38 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 178r–179v, Verwalter der Herrschaft Wäxenegg an den Kreishauptmann in Graz (Spital in Anger), September 1754. 39 Christine Tropper, Zur Geschichte des Bürgerspitals St. Jakob, in: Günther Körner (Hg.), 750 Jahre Stadt Völkermarkt. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart Völkermarkts, Völkermarkt 2001, S. 121–132, hier S. 126–128.

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40 O  bersteiner, Theresianische Verwaltungsreformen (wie Anm. 36), S. 204; Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 202 f. 41 Ernst Nowotny, Das Heilig-Geist-Spital in Bad Aussee. Geschichte eines steirischen Spitals und seiner Kirche (Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark Sonderbd. 21), Graz 1979, S. 76 f., S. 81. 42 K LA, Markt Obervellach, 36, 42 B, Spital 1751–1845, Schreiben des Kreisamtes Villach an das Marktgericht Obervellach, 29. April 1787. 43 KLA, Milde Stiftungen I, 69, Fach 928, Obervellach, Bericht des Marktrichters, 12. Oktober 1754. 44 Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 203; Helga Olexinsky, Die Geschichte der Armen- und Krankenpflege in Kärnten, unter besonderer Berücksichtigung der Klagenfurter Versorgungsanstalten. Dissertation, Wien 1969, S. 3, S. 8–11, S. 13 f.; Heinz Moser, Vom Heilig Geist Spital zum Bezirkskrankenhaus Hall in Tirol, Hall in Tirol 1997, bes. S. 219, S. 221–223, S. 225, S. 243; Ernst Nowotny, Die ehemaligen Bürgerspitäler Niederösterreichs und ihre Kirchen, in: Unsere Heimat. Zeitschrift des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 56 (1985), S. 267–281, hier S. 272 f. 45 Walter Brunner, Geschichte von Pöls, Pöls (1976), S. 108, S. 213 f.; ders., Murau. Eine Stadt stellt ihre Geschichte vor Bd. 1, Murau 1998, S. 543; Sibylle Naglis, Das St. Elisabethspital in Murau. Die Geschichte eines steirischen Spitals und seiner Kirche. Diplomarbeit, Graz 1994, S. 90. 46 Statistisch geographische Uebersicht (wie Anm. 19), S. 74–88. 47 Naglis, Elisabethspital in Murau (wie Anm. 45), S. 92, S. 95 f.; Walter Brunner, Geschichte von Neumarkt in der Steiermark, Neumarkt 1985, S. 218 f.; Martina Abendstein, Die historische Entwicklung des Leobener Bürgerspitals von seiner Gründung bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Diplomarbeit, Graz 1990, S. 45. 48 Häufiger wurden Hospitäler mit einem frommen Bild oder Kreuz geschmückt. Brunner, Neumarkt (wie Anm. 47), S. 215. 49 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 49r–51v, Schreiben von Richter und Rat des Marktes Mureck an den Kreishauptmann in Graz; Statistisch geographische Uebersicht (wie Anm. 19), S. 81. 50 Scheutz, Brod (wie Anm. 20), S. 130. 51 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 II, Karton 401, fol. 62r–65v, Antoni Läzäri De Varda, Verwalter der Herrschaft Kalsdorf, an die innerösterreichische Regierung betreffend das Hospital im Markt Ilz, undatiert, nach 1732 und vor 1754. Das Spitalhaus wurde im Jahr 1787 durch einen Brand zerstört. Karl Mayr, Ilz. Ein Heimatbuch, Ilz 1965, S. 81–83, hier S. 82. 52 Mayr, Ilz (wie Anm. 51), S. 81. 53 Othmar Pickl, Geschichte des Marktes Frohnleiten, Graz 1956, S. 141 f. 54 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 90. 55 Doris Ebner-Wanker, Leben und Sterben. Die Geschichte des St. Barbara-Bürgerspitals in Judenburg von 1405–1839 (Judenburger Museumsschriften 15), Judenburg 2000, S. 82–89; Kloibhofer, Bürgerspital Eisenerz (wie Anm. 34), S. 130–136. 56 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 90–97. 57 Gabriele Levonyak, Die Entwicklung des Hospitalwesens am Beispiel des Hartberger Bürgerspitals von seinen Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Diplomarbeit, Graz 1991, S. 107–109. 58 Dazu jüngst Martin Scheutz (Hg.), Totale Institutionen (Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8/H. 1), Innsbruck 2008; Weiß, Österreichische Hospitäler (wie Anm. 30), S. 218 f. 59 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 113 f., S. 118 f.; ders., Totale Institutionen (wie Anm. 19), S. 235–254. 60 Ders., Arme (wie Anm. 17), S. 57 f. 61 Vgl. Achim Landwehr, Absolutismus oder „gute Policey“? Anmerkungen zu einem Epochenkonzept, in: Lothar Schilling (Hg.), Absolutismus, ein unersetzliches Forschungskonzept. Eine deutsch-französische Bilanz (Pariser historische Studien 79), München 2008, S. 205–228, bes. S. 209–217. Der Autor verweist darauf, dass die Wiederholung von Normen nicht automatisch deren geringe Durchsetzungskraft bedeutet. 62 Zit. nach Brunner, Neumarkt (wie Anm. 47), S. 220.

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63 Die staatlichen Hospitäler sind nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. 64 Joachim Eichert, Die Kapelle St. Anna und das Spital zu Kirschentheuer, in: Die Kärntner Landsmannschaft 1989 H. 3, S. 11 f.; Hans M. Tuschar, Ferlach. Geschichte und Geschichten, Klagenfurt 1996, S. 301–303; Stephan Singer, Kultur- und Kirchengeschichte des unteren Rosentales. Dekanat Ferlach, Kappel 1934, Nachdruck Klagenfurt 1997, S. 57–60; KLA, Kreisamt Klagenfurt, 14, fol. 266r–273v, hier fol. 266r. 65 K  LA, Dietrichstein Herrschaftsarchiv, 87, Nr. LXXIX/25/10, Spital Kirschentheuer 1643–1776–1848. 66 Ebd., Plan um 1844. 67 Ebd., Inventar 1792. 68 Eichert, Kirschentheuer (wie Anm. 64), S. 12; Tuschar, Ferlach (wie Anm. 64), S. 300 f., S. 303; Singer, Rosental (wie Anm. 64), S. 69. 69 Brunner, Pöls (wie Anm. 45), S. 107 f., S. 213 f., S. 216; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 83 f.; StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 II, Karton 401, fol. 684r–694v, Bericht des Spitalverwalters Joseph Klämpff in Sauerbrunn an das Kreisamt in Judenburg, 26. September 1754. 70 Statistisch geographische Uebersicht (wie Anm. 19), S. 87. 71 KLA, Porcia Herrschaftsarchiv, 19, Nr. 78, Spital Meÿer Ordnung, 1. Januar 1654, fol. 8v. 72 K LA, Porcia Herrschaftsarchiv, 18, Nr. 77, Notata wider die von Ihro Röm Kay. Konigl. Maj. allergnadigst bevorhabende Verkauff- und Verehr-lassung hiesiger Spittl-Mayrschaffts Gründen: und dißfahls sich eussernd Unthunlichkeit, 1756. 73 Siehe dazu weiterführend: Therese Meyer, Wo lag das erste ortenburgische Hospital? Der Ursprung der Stadt Spittal, in: Barbara Grünwald, Therese Meyer, Bernd Oberhuber, Hartmut Prasch (Red.), Spittal 800. 1191–1991. Spuren europäischer Geschichte. Ausstellungskatalog, Spittal an der Drau 1991, S. 98–100; Katalogteil, in: ebd., S. 256; dies., Die Geschichte Spittals von den Anfängen bis 1918, in: Hartmut Prasch (Hg.), Chronik 800 Jahre Spittal 1191–1991, Spittal an der Drau 1991, S. 7–154, S. 507–551, bes. S. 8–15; Franz Türk, Zur Ortsgeschichte von Spittal an der Drau. 3. Das „Spittl“ zu Spittal, in: Carinthia I 142 (1952), S. 408–420; KLA, Porcia Herrschaftsarchiv, 19, Nr. 78. 74 Benno Roth, Das Seckauer Spital und die St. Luziakapelle (Seckauer Geschichtliche Studien 23), Seckau 1969. 75 Ebd., S. 8; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 109; Wichner, Beiträge (wie Anm. 19), S. 70–73. 76 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 418r–421v, Berichterstattung der Äbtissin des Stiftes Göß, Oktober 1754. 77 (Julius Heinrich Schlegel), Reise durch einige Theile vom mittäglichen Deutschland und dem Venetianischen, Erfurt 1798, S. 3. 78 Frick, Medizin in Kärnten (wie Anm. 19), S. 75–79; Bernhard Demel, Die Generalvisitation der Deutschordenskommende Friesach im Jahre 1720 und ihre Auswirkung bis zum Jahre 1724, in: Carinthia I 162 (1972), S. 345–374, hier S. 363–366, S. 369 f.; Peter Stenitzer, Die Deutschsordensprovinz Österreich unter der Führung des Komturs und Balleioberen Johann Joseph Philipp Graf Harrach (1678–1764). Studien zur grundherrschaftlichen, kirchlich-seelsorglichen und karitativen Aufgabenstellung des Deutschen Ordens in Nieder- und Oberösterreich, Kärnten, Steiermark und Krain 1712–1764. Dissertation, Wien 1992, bes. S. 146–152; vgl. Georg Lexer, Erich Wappis (Hg.), Chronik und Vision, Klagenfurt 1998, bes. S. 268–273. 79 Tropper, Bürgerspital St. Jakob (wie Anm. 39), S. 121–132; Weiß, Unglück (wie Anm. 19), S. 202 f., S. 212 f.; Statistisch geographische Uebersicht (wie Anm. 19), S. 88; KLA, Milde Stiftungen I, 72, Fach 939. 80 Wilhelm Deuer, Ein landesfürstliches Wappen für das Hofspital in St. Veit an der Glan, in: Carinthia I 190 (2000), S. 463–465. 81 Der Bestand KLA, Milde Stiftungen I, 72, Fach 938 fehlt bedauerlicherweise. Vorhanden sind hingegen die Bestände des Stadtarchivs (KLA, Stadtarchiv St. Veit 201/1 und 11) und die Spitalrechnungen der Jahre 1682–1811 (KLA, Findbuch 18, Stadt St. Veit/Glan, Handschriften 270–292). Rudimentäre Hinweise zur Geschichte des Bürgerspitals finden sich bei Weiß, Unglück (wie Anm. 19), S. 201; Karl R. Frick, Geschichte der Krankenhäuser Kärntens. Mit einer Einführung in die Geschichte des Krankenhauswesens in Österreich, Klagenfurt 1990, S. 127; Statistisch geographische Uebersicht (wie

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1Anm. 19), S. 87. Kursorisch zum Siechenhaus siehe Walter Wohlfahrt, Das Siechenhaus in der Her1zogstadt St. Veit, in: Carinthia I 196 (2006), S. 603–607. 182 K LA, Stadtarchiv St. Veit, 201/1, Bürgerspital 1490–1800, Bittschreiben der bürgerlichen Gemeinde an das Innerösterreichische Ländergubernium, Mai 1787. 183 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 II, Karton 401, fol. 682r–v, Bericht des Dechants und Stadtpfarrers von Judenburg Joannis Dominici Romedi an den Kreishauptmann in Judenburg, September 1754. 184 Johann Andritsch, Armenfürsorge in Alt-Judenburg, in: Herwig Ebner, Walter Höflechner, Helmut J. Mezler-Andelberg, Paul W. Roth, Hermann Wiesflecker (Hg.), Festschrift Othmar Pickl zum 60. Geburtstag, Graz-Wien 1987, S. 15–38, hier S. 15–25, S. 32–35; Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 15–20; Vlasaty, Spital (wie Anm. 25), S. 25–34; Paul Dedic, Das Schicksal der Judenburger Klöster und Spitäler in der Reformationszeit, Graz 1930, S. 9–14; R(ichard) Peinlich, Judenburg und das h. Geistspital daselbst, Graz 1870. 185 Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 25–27; Andritsch, Armenfürsorge (wie Anm. 84), S. 30 f.; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 80. 186 StLA, Weltliche Stiftungsakten, Fasz. 23, Nr. 9 zit. nach Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 25. 187 StLA, Weltliche Stiftungsakten, Fasz. 23, Nr. 12, zit. nach Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 27; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 83. 188 Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 78; Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 217. 189 Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 29–36; Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 213 f. 190 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 112–114; ders., Hospital (wie Anm. 20), S. 188 f. 191 Ein Nachweis für das Herzogtum Kärnten steht bisher noch aus. 192 C  arlos Watzka, Das Bürgerspital von Hartberg – eine frühe Institution (auch) der „dezentralen“ Versorgung mental Behinderter und psychisch Kranker, in: Steinpeißer. Zeitschrift des Historischen Vereins Hartberg 13 (2006), S. 8–15, hier S. 10. 193 Regulen und Satzungen (wie Anm. 14), Punkt 1. 194 Watzka, Bürgerspital Hartberg (wie Anm. 92), S. 14. 195 Regulen und Satzungen (wie Anm. 14), Punkte 2–9 und Anmerkung. 196 Zuletzt Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 56 f.; Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 217 f., S. 221 f.; Weiß, Österreichische Hospitäler (wie Anm. 30), S. 221–223. 197 Vlasaty, Spital (wie Anm. 25), S. 67; Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 68. 198 Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 69 f. 199 Instruction … Spittl-Meister (wie Anm. 35), bes. Punkt 12; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 115–117; Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 103 f. 100 W  atzka, Hospital (wie Anm. 20), S. 188; ders., Totale Institutionen (wie Anm. 19), S. 247; Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 104. 101 S tLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 471r–474v, hier 471r, Bericht des Spitalmeisters des Marktes Trofaiach Johann Adam Haidler an das Kreisamt Bruck, undatiert, Oktober/November 1754. 102 K loibhofer, Bürgerspital Eisenerz (wie Anm. 34), S. 168. 103 K LA, Porcia Herrschaftsarchiv, 18, Nr. 77, fol. 2r–9v, Ordnung und Disposition, Abschrift des Originals aus dem 19. Jahrhundert; siehe auch 19, Nr. 78, Spital Meÿer Ordnung; Türk, Ortsgeschichte von Spittal (wie Anm. 73), S. 414–416; Meyer, Geschichte Spittals (wie Anm. 73), bes. S. 15. 104 A lle Zitate KLA, Porcia Herrschaftsarchiv, 18, Nr. 77, fol. 5v–6r, Ordnung und Disposition. 105 Ebd., fol. 6v. 106 StLA, Archiv Radkersburg, Karton 55, H. 250, Instruktion des Spitalmeisters, 8. Juli 1781, Punkte 5, 9 und 12.

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107 Wichner, Beiträge (wie Anm. 19), S. 70. 108 Franz Arnfelser, Gleisdorf in alter und neuer Zeit, Graz 1928, S. 75–77; Robert F. Hausmann, Geschichte der Kirche Mariä Reinigung, in: Ders., Siegbert Rosenegger, Gleisdorf 1229–1979, Gleisdorf 1979, S. 247–260, hier S. 248; StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 160r–164v, bes. fol. 161r–v, Ordnung Gleisdorf, 26. September 1751. 109 Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 110; vgl. Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 76. 110 Vgl. Naglis, Elisabethspital in Murau (wie Anm. 45), bes. S. 56 f.; Karin Schweighardt, Die Entwicklung der Spitäler und anderer sozialer Einrichtungen in Bruck/Mur. Diplomarbeit, Graz 1988, S. 59 f. 111 StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 I, Karton 400, fol. 538r–539v, Satzungen Maria Zell, 31. März 1751. 112 K LA, Porcia Herrschaftsarchiv 18, Nr. 77, fol. 7r, Ordnung und Disposition; als weitere Beispiele siehe Ernst Nowotny, Heilig-Geist-Spital Aussee (wie Anm. 41), S. 35; Ebner-Wanker, Leben und Sterben (wie Anm. 55), S. 91; Gundula Arlic, Das Spital Maria am Rain in Rottenmann. Diplomarbeit, Graz 1997, S. 130–138. 113 Wichner, Beiträge (wie Anm. 19), S. 72. 114 Marita Gröchenig, Das Bürgerspital in Knittelfeld (1429–1784). Diplomarbeit, Graz 1992, S. 95–99. 115 Vgl. zu diesem Fall: Norbert Weiss, „Den Kranken zum Heile“. Geschichte des Landeskrankenhauses Leoben, Leoben 2003, S. 28. 116 Abendstein, Leobener Bürgerspital (wie Anm. 47), S. 79; Watzka, Hospital (wie Anm. 20), S. 189. 117 Alle Zitate: KLA, Stadtarchiv St. Veit, 201/1, undatiert, ca. Mitte des 17. Jahrhunderts. 118 StLA, Weltliche Stiftungsakten, Fasz. 83, Teil 1, Karton 301, fol. 104r–107v, Bericht und Gutachten an die Hauptkonferenz über das Spital in Eibiswald, 9. März 1729. 119 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 117. 120 Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 224; Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 64. 121 Michael Hochedlinger, Anton Tantner (Hg.), „… der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig“. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770–1771 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Sonderbd. 8), Wien 2005, Edition S. 24–35, hier S. 33. 122 Tropper, Bürgerspital St. Jakob (wie Anm. 39), S. 128. 123 Siehe in Auswahl: Weiss, Leoben (wie Anm. 115), S. 28 f.; Brunner, Neumarkt (wie Anm. 47), S. 220 f.; Günter Cerwinka, Das Leobener Bürgerspital im Mittelalter, in: Der Leobener Strauß. Beiträge zur Geschichte, Kunstgeschichte und Volkskunde der Stadt und ihres Bezirkes 6 (1978), S. 63–89, hier S. 78 f.; Türk, Ortsgeschichte von Spittal (wie Anm. 73), S. 415; Meyer, Geschichte Spittals (wie Anm. 73), S. 13; Kloibhofer, Bürgerspital Eisenerz (wie Anm. 34), S. 146 f.; Schweighardt, Entwicklung der Spitäler (wie Anm. 110), S. 57–59; Tropper, Bürgerspital St. Jakob (wie Anm. 39), S. 128; StLA, Repräsentation und Kammer, Sach 127 II, Karton 401, fol. 464r–465v, Speiseordnung Windischgrätz, 10. September 1754; ebd., fol. 691r–692r, Speiseordnung Sauerbrunn, um 1750. 124 Watzka, Arme (wie Anm. 17), S. 64–75; ders., Hospital (wie Anm. 20), S. 186; ders., Bürgerspital Hartberg (wie Anm. 92), S. 11 f.; Scheutz, Weiß, Spitäler (wie Anm. 20), S. 224 f.; Valentinitsch, Armenfürsorge (wie Anm. 19), S. 109 f.; allgemein Adalbert Mischlewski, Alltag im Spital zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Alfred Kohler, Heinrich Lutz (Hg.), Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 14), Wien 1987, S. 152–173, hier S. 165–167. 125 Zahlen berechnet nach Statistisch geographische Uebersicht (wie Anm. 19), S. 75–88. 126 http://kaernten.orf.at/stories/287687/, 23. Juni 2008. 127 KLA, Stadtarchiv St. Veit, 11, Schreiben aus St. Veit an das Kreisamt Klagenfurt, 22. August 1806. 128 K LA, Milde Stiftungen I, 69, Fasz. 928, Bericht des Spitalverwalters des Marktes Obervellach, 27. August 1754.

Zum Transfer von städtischer Wiener Altersarmut auf das Land – das Wiener Versorgungshauswesen und seine ländlichen Außenposten Mauerbach, St. Andrä und Ybbs an der Donau Martin Scheutz

Einleitung Das Eisenbahnzeitalter brachte auch für die von der Haupt- und Residenzstadt Wien versorgten Armen manche Änderung, die Transportgeschwindigkeit bei der Verlegung von Pfründnern von der Wiener Zentralanstalt Alserbach in die niederösterreichischen Außenposten erhöhte sich damit gleichermaßen wie auch die Transportkapazität. War es bislang üblich gewesen, die Armen mittels Schiff auf der Donau oder mittels Pferdewagen in die extramuralen Versorgungshäuser der Stadt Wien – nach Mauerbach, St. Andrä an der Traisen und Ybbs – zu translozieren, so wurden nunmehr neue Transportmöglichkeiten in die kostenminimierenden Überlegungen der städtischen Administration miteinbezogen. Als die Wiener Zentralanstalt, das Versorgungshaus am Alserbach („Zum blauen Herrgott“), 1863 umgebaut werden sollte, verlegte man die Insassen in die niederösterreichischen, der Stadt Wien unterstehenden Versorgungshäuser. Der Transport der Pfründner erfolgte vor der Errichtung der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn 1856–1858 mit dem Wagen, sollte aber nunmehr mittels Eisenbahn oder Dampfschiff auf der Donau vorgenommen werden. Der Transport der Pfründner via Eisenbahn bot anders als der weiterhin auf der Achse bewerkstelligte Materialtransfer Vorteile, weil nicht nur mittels Eisenbahn eine größere Anzahl Pfründner auf einmal transportirt werden kann, sondern auch die Kosten sich bedeutend niedriger stellen, da schon jetzt ein Transport von 50 Pfründnern sammt nöthiger Begleitung 243 fl. 12 kr. kostet, während per Achse für die gleiche Anzahl 292 fl. ausgelegt werden mußten. Diese Ausgaben dürften sich aber noch vermindern, wenn von Seite der Westbahn-Direkzion, an welche sich dießfalls gewendet wurde, für den Pfründner-Transport ermäßigte Preise zugestanden werden1. Die Westbahn-Direktion erlaubte zudem, dass die Pfründner separiert von der normalen Zahlklasse der Passagiere in dem letzten Waggon untergebracht werden, damit bei der Ankunft in der Station dieser Waggon abgekuppelt werden und der Zug ungehindert fortfahren kann. Hierdurch ist es für die Pfründner bequemer auszusteigen, indem dieselben bei ihrer Gebrechlichkeit hiezu längere Zeit benöthigen, und wird auch dadurch Unfällen vorgebeugt2. Schon der erfreute Tätigkeitsbericht des Wiener Bürgermeisters für das Jahr 1865 vermerkt, dass die Westbahndirektion zugestimmt hatte, dass die Pfründnertransporte nur die halbe Gebühr der dritten Wagenklasse 3 zu entrichten haben, was eine weitere Reduktion der Pfründner-Transportkosten nach Ybbs und St. An-

204

Martin Scheutz

drä zur Folge hatte4. Umgekehrt bewilligte das Eisenbahnministerium 1896 auf Ansuchen der Gemeinde Wien, dass die Pfleglinge des Versorgungshauses St. Andrä die III. Fahrklasse gegen Erlag der halben Fahrtaxe benutzen durften, um ihre Angehörigen in Wien zu besuchen. Schwer empfinden es vielfach die Pfleglinge, daß sie in der Versorgungsanstalt zu St. Andrä soweit von ihren Angehörigen, die in Wien leben, entfernt sind 5. Mit dem Transport der Pfründner aus ihrem gewohnten sozialen Beziehungsgefüge in eine „neue Welt“ war die Reisemöglichkeit dieser „Schachfiguren“ des Wiener Wohlfahrtswesens aber noch lange nicht erschöpft. Die in den Versorgungshäusern verstorbenen Personen hatten Anrecht auf eine „Gratisbestattung“, wobei die Gratis-Leichen ab 1864 nicht mehr in Sackleinwand genäht werden durften6, sondern mit einem Sarg bestattet werden mussten. Sowohl in St. Andrä als auch in Mauerbach gab es Leichenvereine, wo die Pfründner gegen Bezahlung des geringen Beitrages von zwei Kreuzern pro Monat (1854) Anrecht auf eine „christlich-übliche Bestattung“7 mit einer besseren Ausstattung als bei den Gratisleichen hatten, so begleitete ein Priester den Toten auf den Friedhof. Die Pfründner wurden separiert von den Ortsangehörigen auf eigenen Friedhöfen bestattet, die Welt der kleinbürgerlichen Marktbewohner und der Armenhäusler trat selbst beim Tod nicht miteinander in Berührung. Jedes Armengrab erhielt ein einfaches eisernes Kreuz, auf dem sich Name, Geburts- und Sterbedaten der Verstorbenen befanden. Mitunter wurden die Pfründner nach ihrem Tod – in Migrantenkulturen nichts Ungewöhnliches – aber wieder auf Wunsch ihrer Wiener Angehörigen nach Wien zurückbefördert8, um in die Memoria der Familiengräber eingeschlossen, auch im Tod weiter im familiären Netzwerk verankert zu bleiben.

Das Wiener Versorgungshauswesen Mit der Gründung des Allgemeinen Krankenhauses samt angeschlossenem Gebär-, Findel- und „Tollhaus“ 1783/84 schritt auch eine Neuorganisation der institutionellen Armenpflege in der Haupt- und Residenzstadt Wien einher. Die neu gegründete Stadthauptmannschaft erhielt 1807 das erstinstanzliche Entscheidungsrecht für die Armen-, Kranken- und Versorgungsanstalten9, doch bestand parallel dazu die Hofkommission bis 1816 weiter. Erst mit 26. Juni 1842 wurde der Stadt die alleinige Leitung der Armenfürsorge zugesprochen und die Verfügungsgerechtigkeit über das unter dem Titel „Allgemeiner Versorgungsfonds“ zusammengezogene Stiftungsvermögen überantwortet10. Mit dem Heimatgesetz vom 3. Dezember 1863 fiel die Fürsorge für die Armen vollständig an die Heimatgemeinden (die so genannten Zuständigkeitsgemeinden). Die Armen erhielten damit eine staatlich garantierte Fürsorge, einen Anspruch auf Versorgung: Ausschlaggebend für die Zuerkennung des Heimatrechtes waren die Geburt, die Verehelichung, die ausdrückliche Aufnahme in den Heimatverband oder die Zuerkennung eines öffentlichen Amtes. Die Versorgungsanstalten der Stadt Wien sind zur Unterbringung und gänzlichen Erhaltung von altersschwachen oder mit körperlichen Gebrechen behafteten Personen, dann zur

205

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

Unterbringung, gänzlichen Erhaltung und Pflege von blöden, epileptischen und mit unheilbaren Krankheiten behafteten Individuen bestimmt und sind daher entweder Versorgungsanstalten oder Siechenanstalten11. Die Versorgung der Armen und Alten sollte nach den Vorgaben des Heimatrechtes ohne Rücksicht auf Stand, Geschlecht und Religion erfolgen, wichtig schien es aber gleichzeitig, die Versorgten dem Anblicke des Publicums zu entziehen12, die Straßen der Haupt- und Residenzstadt sollten nicht von Bettlern bevölkert werden13. Um diese Aufgaben zu bewältigen, schuf die Stadt Wien ein bezüglich seiner Dimensionen beeindruckendes System institutioneller Armenfürsorge – die Mitte des 19. Jahrhunderts schon rund 3.000 Plätze und Ende des Jahrhunderts 4.700 Betten14 umfassenden, aus fünf bzw. sechs Anstalten bestehenden Wiener Versorgungshäuser. Neben der Zentralanstalt Alserbach („Blauer Herrgott“) und dem 1858 errichteten und bis 1928 bestehenden, für Bürger zuständigen Bürgerversorgungshaus (1858–1860) und seinen Vorgängerinstitutionen gab es noch Versorgungshäuser in Mauerbach (seit 1784), Ybbs (seit 1805) und St. Andrä an der Traisen (seit 1828). Vorübergehend brachte man auch Arme (vor allem arme Frauen) in Klosterneuburg (1874–1878), einem Filialhaus des „Blauen Herrgotts“ (ohne eigenständige Leitungsstruktur), und schließlich dauerhaft auch im ehemaligen Schloss Liesing (ab 1877)15 unter. Tab. 1: Belegzahlen der Versorgungshausanstalten 1874–1876 (gerundete Zahlen aus den durchschnittlichen Pfründnerzahlen)

Alserbach Ybbs Mauerbach Bürgerversorgungshaus St. Andrä Klosterneuburg Summe (Durchschnitt)

Pfründner gesamt

Pfründner

Pfründnerinnen

Anteil des Hauses an der Pfründnergesamtzahl

1.666 (100 %) 694 (100 %) 581 (100 %) 534 (100 %) 387 (100 %) 180 (100 %) 4.042 (100 %)

614 (36,85 %) 269 (38,76 %) 261 (44,92 %) 226 (42,32 %) 193 (49,87 %) 216 (48,88 %) 1.579 (39,06 %)

1.052 (63,15 %) 425 (61,24 %) 320 (55,08 %) 308 (57,68 %) 194 (50,13 %) 164 (91,11 %) 2.463 (60,93 %)

41,22 % 17,17 % 14,37 % 13,21 % 9,58 % 4,45 % 100,00 %

Quelle: Administrationsbericht 1874–1876 (1878), S. 843–869.

Das Versorgungshaus Alserbach („Blauer Herrgott“) – 1848 bis 1852 wurde der hintere Teil, 1865 bis 1868 der vordere Teil neu errichtet und mit dem Neubau des Versorgungshauses Lainz 1904 wieder geschlossen – war die Zentralanstalt des Wiener Versorgungshauswesen, das den Nichtbürgern gewidmet war, während das vom Bürgerspitalsfonds verwaltete, schon nach dem Korridorprinzip errichtete Bürgerversorgungshaus eine bürgerliche Klientel versorgte16. Die Ende der 1850er- und in den 1860er-Jahren eine Modernisierungswelle durchlaufenden Wiener Versorgungshäuser versuchten neuen Gesichtspunkten der Medizin, der Hygiene und der Krankheitsprävention zu entsprechen. Das in zwei Etappen (1846 bzw. 1868) neu erbaute Versorgungshaus Alserbach17 verfügte beispielsweise über einen Verwaltungstrakt (drei Schreibzimmer, Kassazimmer, fünf Magazine für Wäsche, Tuch, Leinen, Leder) und im Keller acht Vorratsräume (Holz, Stein-

206

Martin Scheutz

Abb. 1: Wiener Versorgungshaus, Wien 23, Liesing im Jahr 1909 (Foto, Frontalaufnahme mit Staffage 1909, August Stauda, ÖNB, Signatur: ST 2.835).

kohle, Stroh, Bettfournituren, Tischlerholz, Alteisen), insgesamt 74 größere und kleinere Zimmer mit Wohnungen für die Beamten (vier Beamte, drei Ärzte, ein Seelsorger, ein Hausaufseher, eine Oberwäscherin, zwei Traiteure), Räumlichkeiten für die Traiteure (jeweils einer im Alt- und Neugebäude), zwei Ordinations- und ein Wartezimmer, eine Sezierkammer, eine Leichenkammer und ein Schlafzimmer des Leichenwächters. Die Pfründner waren in einem dreigliedrigen Zimmersystem (Gesunde, Marode, Kranke) untergebracht: 21 Zimmer für gesunde Männer, 14 für „marode“, zwei für Kranke; 35 für gesunde Frauen, 36 für „marode“ und vier für kranke Frauen. Weiters gab es eine Portierloge, ein Korrektionszimmer, ein Zimmer für aus Sanitätsrücksicht abzusondernde Pfründner, eine Zelle für Betrunkene und Tobende und zehn Zimmer für gegen Entrichtung von Geld aufgenommene Pensionäre. Die Versorgungshäuser standen organisatorisch unter der Oberleitung des Magistrats Wien, der wiederum vom Gemeinderat kontrolliert wurde. Bezüglich der ökonomischen Verwaltung war der aus mehreren Quellen gespeiste Versorgungshausfonds zuständig. Ein dem Gemeinderat und dem Magistrat verantwortlicher Verwalter präsidierte das jeweilige Versorgungshaus, dem ein so genannter Controllor als Rechnungsprüfer auf gleicher Ebene nicht immer friktionsfrei beigeordnet war18. Im Wiener Versorgungshaus verfügte man zusätzlich über einen Kassier. Die medizinische Betreuung wurde in den 1870er-Jahren im Wiener Versorgungshaus von zwei Hausärzten und zwei Hilfsärzten versehen (in Mauerbach zwei Hausärzte, in den übrigen Versorgungshäusern je ein Hausarzt), die seelsorger-

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

207

Abb. 2: Wiener Versorgungshaus Mauerbach im Jahr 1862 (Aquarell, Emil Hütter, 20. Juli 1862, Topographische Sammlung Niederösterreich, Signatur: 4.576 [alt D XVI 105]).

liche Obhut hatte ein eigener Versorgungshausbenefiziat über. Jedes Versorgungshaus verfügte über einen Hausaufseher und (in Wien und Ybbs) über einen Hausdiener sowie noch über einige „auswärtige“ Wärterinnen und Wärter. Umfangreiche Instruktionen19 regelten transpersonal und über die langen Amtswege hinweg die Kompetenzen und Arbeitsbereiche der in den Versorgungshäusern angestellten Führungspersonen. Die Rechte und Pflichten der Insassen waren intern über ein Hausstatut und, an die Pfründner gerichtet, über eine Hausordnung geregelt. Für die Ausspeisung im Versorgungshaus war ein Traiteur verantwortlich – diese Funktion wurde an den Billigstbieter „versteigert“, was sich, wenig überraschend, auf die Versorgungsleistung der Pfründner negativ auswirkte. Monatlich trat eine Hauscommission (oder auch Conferenz genannt) zusammen, die aus den Verwaltungsbeamten, den Hausärzten und dem Hausgeistlichen bestand, bei welcher die Wünsche und Bemerkungen dieser Functionäre in Betreff der im verflossenen Monate gemachten Wahrnehmungen in Anstaltsangelegenheiten zu erörtern, und andererseits die Bitten oder Beschwerden der Pfründner entgegenzunehmen sind 20. Die Pfründner erhielten neben der Wohnung, der Verköstigung (in Pauschalbeträgen), der Bekleidung, der Bettund Leibwäsche und der Reinigung der Wäsche kostenlos ärztliche Behandlung und Wartung im Krankheitsfall sowie nach dem Tod ein einfaches Begräbnis21. Das vorwiegend aus Pfründnern bestehende „Personal“ der Versorgungshäuser – die Pfründner waren solange sie körperlich dazu imstande waren, zur „Hausarbeit“ verpflichtet22 – erfuhr langsam einen Professionalisierungsschub, die großteils alten Pfründner waren der Aufrechterhaltung der Versorgungsleistungen für Kranke bzw. den Haushaltsarbeiten im Versorgungshaus nicht mehr gewachsen und wurden durch angestelltes Personal ersetzt. Da man zur Ueberzeugung kam, daß die zur Krankenpflege verwendeten Pfründner den Dienst nicht ausreichend versehen können, fand man sich veranlaßt, auswärtige Wärterinnen, und zwar in jedes Versorgungshaus vier mit einem Monatslohne von 15 fl., dann außer diesen für das Versorgungshaus in Ybbs für die mit Epilepsie behafteten Pfründner noch einen Wärter für die Männer, mit einem Monatslohne von 21 fl. und zwei Wärterinnen für die Weiber, mit einem Monatslohne von je 18 fl. [...] aufzunehmen23. Die „Systemisierung“, also die planmäßige und dauerhafte Besetzung von Stellen an den Wiener Versorgungshäusern, schritt langsam voran. Am Versorgungshaus Alserbach wurden 1883 zwei auswärtige

208

Martin Scheutz

Abb. 3: Versorgungshaus St. Andrä, Darstellung 19. Jahrhundert (Bleistiftzeichnung, Topographische Sammlung Niederösterreich, Signatur: 104).

Wächter statt der Portiere aus dem Pfründnerstande, im Versorgungshause Ybbs eine fünfte Hauswächterstelle neu systemisiert, in beiden Anstalten je zwei auswärtige Wärter und Wärterinnen auf die Dauer des Bedarfes neu aufgenommen24. Auch die bislang von den Pfründnern versehenen Leichendienste wurden ab 1894 von einem auswärtigen Leichenwächter[n] verrichtet25. Im Jahr 1892 gab es bereits 15 Wärterinnenstellen26 im Versorgungshaus Alserbach, auch in den anderen Versorgungshäusern stieg der Professionalisierungsgrad, im Jahr 1914 wies das Versorgungshaus Mauerbach schon 37 Angestellte (15 Personen für die Pflege; die anderen für die Küche und die Wartung der Maschinen) auf27. Das Dienstpersonal im Versorgungshaus St. Andrä setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus einem Verwalter, einem Kontrollor, einem Arzt, einem Benefiziaten, einem Hausaufseher (seit 1882), einem Werkmeister (seit 1909), einer Oberwäscherin (seit 1897), acht Küchenbediensteten (seit 1895), vier Pflegern und drei Pflegerinnen, einem Maschinistengehilfen, einem Tischler, einem Hausmaurer, einem Schuhmacher, einem Kutscher und zwei Tagelöhnern zusammen28. Die 3.835 Insassen (Jahresbeginn 1874) der sechs Wiener Versorgungshäuser bestanden beispielsweise aus 1.384 Männern (36,09 %) und 2.451 Frauen (63,91 %)29 – ein Verhältnis von zwei Dritteln weiblicher und einem Drittel männlicher Insassen war in der zweiten

209

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Wiener Versorgungshäusern die Regel. Bei den (mit Jahresende) 1874 erhobenen 3.996 Insassen war – durchaus typisch insgesamt – rund ein Drittel der Insassen (1.374 Personen, 34,38 %) ledig, knapp unter der Hälfte verwitwet (bzw. in geringen Umfang geschieden, 1.829 Personen, 45,77 %) und nur rund ein Fünftel verheiratet (793 Personen, 19,84 %). Der durchschnittliche Pfründner war also eine entweder verwitwete oder ledige katholische alte Frau, das Durchschnittsalter der Pfründner lag zwischen 60 und 80 Jahren. Alter und Armut fielen nach dem traditionellen frühneuzeitlichen Modell zusammen. Lediglich die Versorgungshäuser Ybbs und St. Andrä wiesen einen hohen Anteil von unter 50-jährigen Personen auf, vor allem im Bereich der Männer. Als Ursache scheint schon in den „Administrationsberichten“ des Wiener Bürgermeisters in den 1870er-Jahren die Erklärung auf, daß jene Personen, welche in Folge von Blödsinn in die Versorgung aufzunehmen sind, nach Ybbs oder St. Andrä transferirt werden, und unter diesen sich noch viele jüngere Personen befinden30. Tab. 2: Durchschnittliche Altersstruktur der Insassen in Wiener Versorgungshäusern (1873–1881) Unter 50 Allgemeines Versorgungshaus

50–60

239 (137 F) 235 (148 F)

60–70

70–80

80–90

508 (334 F)

496 (329 F) 130 (102 F)

Über 90

Durchschnitt Pfründnerstand

3 (3 F)

1.611 (1.053 F)

Bürgerversorgungshaus

14,85 % 4 (4 F) 0,75 %

14,58 % 28 (21 F) 5,23 %

31,53 % 214 (125 F) 40 %

30,79 % 246 (139 F) 45,98 %

8,07 % 43 (24 F) 8,04 %

0,18 % – –

100 % 535 (313 F) 100 %

Mauerbach

98 (45 F)

121 (61 F)

186 (101 F)

136 (77 F)

22 (16 F)

2 (2 F)

565 (302 F)

17,34 % 21,42 % 32,92 % 24,07 % 3,89 % 250 (124 F) 89 (54 F) 152 (103 F) 130 (95 F) 30 (22 F) 38,40 % 13,67 % 23,35 % 19,97 % 4,61 % 33 (18 F) 50 (33 F) 257 (160 F) 220 (153 F) 14 (10 F) 5,75 % 8,71 % 44,77 % 38,33 % 2,44 % 71 (28 F) 51 (24 F) 119 (62 F) 94 (56 F) 15 (12 F) 20,23 % 14,53 % 33,90 % 26,78 % 4,27 % 695 (356 F) 574 (341 F) 1.436 (885 F) 1.322 (849 F) 254 (186 F)

0,36 % – – – – 1 (1 F) 0,29 % 6 (6 F)

100 % 651 (398 F) 100 % 574 (374 F) 100 % 351 (183 F) 100 % 4.287 (2.623 F)

0,14 %

~100 %

Ybbs Liesing (1877–82) St. Andrä

Gesamt Gesamt in Prozentzahlen

16,22 %

13,02 %

34,41 %

30,99 %

5,22 %

Quelle: Stephan Sedlaczek, Die Armenpflege im Wiener Armenbezirke in den Jahren 1863–1882, Wien 1884, S. 216–230.

Beruflich waren die Insassen der Wiener Versorgungshäuser vor ihrem „Ruhestand“31 vor allem im Handwerk und im Gewerbe angesiedelt, wobei sich hier deutliche Unterschiede zwischen dem Bürgerversorgungshaus (vor allem Gewerbeleute)32 und den übrigen Versorgungshäusern auftaten, weil in Letzteren vor allem die Hilfsarbeiter beim Gewerbe ihre letzte Heimstatt hatten. Bei den Frauenberufen waren die Handarbeiterinnen führend. Eine wichtige Position unter den Insassen kam den Tagelöhnern und den Dienstboten zu, immerhin jeder zehnte Insasse war zum Zeitpunkt des Eintritts – auch altersbedingt – beschäftigungslos gewesen.

210

Martin Scheutz

Tab. 3: Klientel der Versorgungshäuser 1871–1873 nach Berufen (gerundete Zahlen) Mauerbach

Doktoren/Lehrer Gewerbsleute und Hilfsarbeiter beim Gewerbe Beamte Agenten und Handelskommis Handarbeiterinnen Dienstpersonen Tagelöhner Andere Beschäftigungen Ohne Profession

St. Andrä

Ybbs

Alserbach

Bürgerversorgungshaus M F – –

M –

F –

M –

F –

M –

F –

M 2

F 2

117

7

57

21

102

10

185

2

227









4















6





– 5 90

187 62 45

– 21 60

60 20 45

– 24 35

130 98 70

– 19 73

3



1



3



192

43

23

50

50

68

89

30

582 (258 M, 385 (189 M, 639 (242 M, 324 F) 196 F) 397 F)

Summe

%

M 2

F 2

0,10 %

287

688

327

27,32 %





4



0,10 %







6



0,16 %

275 160 177

– – –

– – –

– 69 258

652 340 337

17,55 % 11,00 % 16,01 %

398





199

398

16,06 %

73



7

191

242

11,65 %

1.588 (501 521 (227 M, M, 1.087 F) 294 F)

3.715 (1.417 M, 2.298 F)

100 % (gerundet)

Quelle: Administrationsberichte 1871–1873.

Die Mortalitätsrate in den Wiener Versorgungshäusern – entscheidender Parameter der „Umschlagziffer“ – lag zwischen 1871 und 1881 bei 12,43 % (gerechnet auf die Gesamtzahl der Pfründner), wobei vor allem die Zentralanstalt Alserbach und das großteils mit 60–80-Jährigen besetzte Bürgerversorgungshaus Währingerstraße hohe Sterberaten aufwiesen, während umgekehrt St. Andrä und Ybbs, wo viele unter 50-Jährige ihren Heimplatz hatten, unterdurchschnittliche Werte verbuchten, Liesing und Klosterneuburg unterschritten die Mortalitätszahlen deutlich. Tab. 4: Mortalitätszahlen der einzelnen Anstalten 1871–1881 (Prozent-Anteil am Gesamtpfründnerstand – Angaben in Prozent) Alserbach Bürgervers. Mauerbach St. Andrä Ybbs Liesing Klosterneub. Schnitt/Jahr

1871 18,64 16,34 11,51 13,43 8,83 – – 13,75

1872 16,52 15,49 10,97 11,11 7,27 – – 12,27

1873 18,85 16,50 14,26 10,49 14.98 – – 15,02

1874 14,3 13,9 14,2 10,7 10,3 – 6,9 11,72

1875 18,6 14,1 9,8 12,8 11,0 – 7,1 12,23

1876 18,5 14,7 14,1 11,1 12,1 – 6,9 11,23

1877 19,2 12,2 10,7 10,5 11,5 6,5 7,3 11,13

1878 18,3 13,0 11,8 10,5 10,1 7,2 8,9 11,4

1879 19,1 11,6 12,3 10,2 11,6 6,7 10,4 11,7

1880 19,5 12,2 13,6 10,5 13,3 9,8 – 13,15

1881 20,6 13,0 14,8 10,3 9,9 10,8 – 13,23

Schnitt ~18,4 ~13,9 ~12,5 ~11,1 ~10,9 ~8,2 ~7,9 12,43

Quelle: Administrationsberichte 1871–1881.

Die am häufigsten auftretende Todesursache der nicht einheitlich geführten amtlichen Statistiken waren Altersschwäche, Lungenentzündung, Tuberkulose und Gehirnschlagfluss, aber auch Mangelkrankheiten wie etwa Skorbut (Mauerbach) oder Fallsucht (als Krankheit in der Irrenanstalt Ybbs).

211

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

Tab. 5: Die häufigsten Todesdiagnosen 1874 bis 1876 in den Wiener Versorgungshäusern (gerundet) Alserb.

Bürgerver.

Mauerb.

St. Andrä

Ybbs

Klosterneub.

Summe

Altersschwäche

95

17

28

14

29

1

184

Krankheit am Nervensystem

88





8





96

Krankheit der Atmungsorgane

79





7



2

88

Krankheit der Kreislauforgane

29





3





32

Tuberkulose Krebs Gehirnerweichung Schlagfluss Fallsucht Lungenempyhsem Skorbut Lungenentzündung Gehirnschlagfluss

55 47 – – – – – – –

7 – – – – – – 8 6

20 – – – – 5 5 3 –

16 – – – – – – – –

18 – 12 7 5 10 – – –

4 – – – – – – – –

– 4 12 7 5 15 5 11 6

Quelle: Administrationsberichte 1874–1876.

Die Erben des Klostersturms in Niederösterreich und die karitative Neuinterpretation des gewonnenen Raumes – Klosterneuburg, Mauerbach, St. Andrä und Ybbs Der josephinische Klostersturm und die medizinische wie elementare Versorgung der Wiener Armut im 19. Jahrhundert stehen in einem eigenartigen weltlich-geistlichen Spannungsverhältnis, das gleichzeitig die architektonische Transponibilität von Klosterraum zu Versorgungs- bzw. Verwahrungsraum unterstreicht33. Die Stadt Wien trat, gleichsam in der Nachfolge der christlichen Caritas, an die Stelle der Klöster, der Wiener Magistrat funktionalisierte Klosterraum im Sinn eines säkularisierten neuen „spacings“ zu Räumen der bürgerlichen Wohlfahrtspflege um. Das Kartäuserkloster Mauerbach, Ausgangspunkt der josephinischen Klosteraufhebung durch direkte Appellation zweier Patres über Missstände im Kloster beim Landesfürsten 1781, wurde am 22. Jänner 1782 aufgehoben, die Patres verließen am 22. Juni desselben Jahres die Kartause34. Joseph II. schlug selbst in einem Handbillet den neuen Verwendungszweck der Gebäude vor: Die Unterbringung der Armen Gebrechlichen oder sonst eckelhaften Kranken aus den verschiedenen hiesigen Spitälern sollte im ehemaligen Kartäuserkloster seinen Ort haben35. Zwischen 1782 und 1784 erfolgten Umbauten der weiterhin dem Religionsfonds unterstehenden und nun von der Stadt Wien genutzten Anstalt36, so dass ab dem 1. September 1784 die ersten Pfründner langsam eintrafen, während gleichzeitig noch die Umbauarbeiten voranschritten. Das nach Angaben des Herzogenburger Haushistorikers Wilhelm Biélsky im „infelix annus“ 1784 aufgehobene Chorherrenstift St. Andrä – eines von 39 in josephinischer Zeit im heutigen Niederösterreich aufgehobenen Klöster37 – sah in den nächsten rund 45 Jah-

212

Martin Scheutz

ren eine bewegte Geschichte auf sich zukommen38. Nach der Umsiedlung des Pfarrers in den ehemaligen Meierhof des Stiftes stand das Klostergebäude ab 1795 leer, mit einem Kostenaufwand von 7.500 fl. wurde das Klostergebäude 1802 schließlich in eine Filialkaserne umgewandelt. In den Franzosenjahren 1805 und 1809 diente das dem Herzogenburger Propst unterstehende Klostergebäude als Lazarett. Der Staat kaufte 1828 das Gelände und gab es noch im selben Jahr an den kaiserlich-königlichen Versorgungsfonds weiter, der am 1. Juli 1828 ein für 318 Pfleglinge ausgerichtetes Versorgungshaus errichtete. Der Plan, ein Irrenhaus dort zu errichten, zerschlug sich aus Kostengründen. Mit 33 Wagen kamen im Juli 1828 die ersten Pfleglinge aus Hollenstein, wohin sie von Ybbs aus mit dem Schiff transportiert worden waren; im November 1828 folgten weitere 100 Pfründner39. Das immer wieder Hochwasser gefährdete Versorgungshaus St. Andrä war nach der aus den 1830er-Jahren stammenden Darstellung des Topographen Franz Xaver Schweickhardt (1794–1858) (und vor dem Brand 1853) ein Gebäude mit zwei Stockwerken von neuerer Bauart, einem Haupthof und zwei Nebenhöfe bildend […; es war] seit den 6. Juli 1828 ein k. k. Versorgungshaus für verarmte Personen jedes Alters und beiderlei Geschlechtes […]. Zunächst der Pfarrkirche, im Versorgungshause, befindet sich noch eine geräumige Hauskapelle, wo die Pfründner ihre Hausandacht halten, mit gewölbten stukkaturten Plafond und hölzernen schwarz staffirten Altare mit weißen Verzierungen […]. Uebrigens ist das Ganze von großen Obstgärten umgeben, welche von einer Mauer umschlossen werden, an welcher sich, unweit der Kirche und des freien Platzes, so wie bei der Einfahrt in Letzteren, kleine runde Thürme mit spitzer Schindeldachung befinden 40. Das heute als Geriatriezentrum verwendete Gebäude erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Adaptierungsmaßnahmen (1877–1879, Modernisierung der Anstalt 1899 etc.). Noch verwundener als für St. Andrä war der Weg des formell am 15. August 1788 aufgehobenen und schließlich am 20. Oktober 1788 geräumten Franziskanerklosters in Ybbs zu einem Teil des Wiener Versorgungshaussystems41. Eine ehemalige, in den 1720er-Jahren errichtete Reiterkaserne wurde ab den späten 1770er-Jahren erstmals mit Pfründnern belegt und diente ab 1805 als Pfründnerhaus, eine eigene Manufaktur war mit dem Versorgungshaus verbunden, wo graues Tuch zu Pfründner-Kleidungen, grauer Boy zu Weiberröcken, Kotzen, Strickwolle und Hanfgarn erzeugt werden 42. In den 1830er-Jahren war die zum Versorgungshaus umgebaute ehemalige Reiterkaserne Ybbs eine Anstalt für Verunglückte und vom Alter gebeugte österreichische Unterthanen, gebrechliche Findelhaus-Zöglinge, Blödsinnige, und sonst der Hilfe bedürftige arme Personen, deren man immerhin 7 bis 800 und darüber in dieser Anstalt findet. Das Gebäude enthält ein Stockwerk, 62 Fenster in der Facade, und eine kleine Hauscapelle, bei der ein eigener Priester angestelt ist, der wöchentlich für die Versorgten den Gottesdienst abzuhalten hat 43. Im Zug eines Rechtsstreites mit dem k. k. Irrenfonds überschrieb man diesem Fonds 1858 die Rechte an der Ybbser Anstalt (und erhielt im Gegenzug das Eigentumsrecht für St. Andrä)44. Die rund 600 Pfründner im Ybbser Versorgungshaus sollten im durch den Anbau von zwei Seitenflügeln (1859–1861) adaptierten Franziskanerkloster Unterkunft finden. Nach der 1859 erfolgten Trennung der Irrenanstalt und des Versorgungshauses Ybbs folgten im Wiener Versorgungshauswesen

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

213

bald weitere Reformen, was den Umbau von Ybbs deutlich beeinflusste. Das als Mitteltrakt erhalten gebliebene Franziskanerkloster wurde nach der Reform der Versorgungshäuser 1862 (Trennung der Geschlechter, Regelung der Ausgangstage, organisatorische Trennung der „Blödsinnigen“ von den übrigen Insassen45, Versetzung, Speisetarife für Kranke usw.) nicht wie ursprünglich geplant renoviert, sondern nach Plänen von Ferdinand Fellner d. Ä. (1815–1871) bis 1864 völlig neu errichtet, so dass rund 700 Pfründner untergebracht werden konnten. Die Ybbser Versorgungsanstalt war (neben dem Altgebäude des Versorgungshauses Alserbach) nach dem Neubau der Unterbringung und gänzlichen Erhaltung und Pflege von blöden, epileptischen und mit unheilbaren Krankheiten behafteten Personen gewidmet 46. Verschlungen und langwierig war auch die Einspeisung eines weiteren aufgehobenen Franziskanerklosters in das Wiener Versorgungshaussystem. Der 1873 von der Stadt Wien angekaufte Jakobshof in Klosterneuburg, eine ehemalige Zuckerfabrik und in der Folge Klostergebäude der Mechitaristen, war ein ehemaliges, unter Joseph II. 1784 aufgehobenes Kloster47. Das Gebäude sollte ein weiteres „Filialversorgungshaus“ (1874–1879) des Versorgungshauses Alserbach werden, der weitere Ausbau dieser Einrichtung unterblieb aber zugunsten des, an der Südbahn gelegenen 1877 eröffneten Versorgungshauses Schloss Liesing, das schließlich die Schließung des Jakobshofes in Klosterneuburg 1879 bewirkte.

Der Transfer – die „Übersetzung“ aus Kosten- und aus Disziplinierungsgründen Die Armenversorgungsleistung durch die Stadt Wien bedeutete nicht, dass diese Versorgung auch in Wien seine räumliche Verortung haben würde. Jeder für Rechnung des allgemeinen Versorgungsfondes Verpflegte muss es sich gefallen lassen, in eine andere Versorgungsanstalt übersetzt zu werden, wenn es die Umstände erheischen. Ueber Ansuchen der Versorgten um Uebersetzung in eine andere Versorgungsanstalt entscheidet der Magistrat und haben die Versorgten die Kosten ihrer Uebersiedlung in diesem Falle aus Eigenem zu bestreiten 48. Obwohl immer wieder verwirklichte Pläne bestanden, dem Bettenengpass in Wien mit dem großzügigen Ausbau eines der niederösterreichischen Versorgungshäuser (etwa St. Andrä)49 zu begegnen, machte sich schließlich Kritik öffentlich breit. So meint etwa der Sekundararzt im Versorgungshaus Alserbach Carl Endlicher schon in den 1860er-Jahren in seinen gedruckten „Bemerkungen bezüglich einer Reform in den Versorgungsanstalten“, dass es nicht human sei, dass Leute, die durch ihre Zuständigkeit nach Wien, ein Anrecht auf ihren Aufenthalt daselbst haben, gewaltsam meilenweit von Wien wegtransportirt werden. Man muss den Jammer der armen alten Leute nur gesehen haben, wenn sie gezwungen werden, ihre Heimat, ihre Kinder oder Wohlthäter auf Nimmerwiedersehen zu verlassen50. Auch Bürgermeister Andreas Zelinka (1861–1868), der als ehemaliger Sanitätskommissar einschlägige Fachkenntnis besaß, bezeichnet in seinem „Administrationsbericht“ von 1863 die – von Interventionen der Angehörigen und der Betroffenen begleitete – Uebersetzung der Pfründner [...] in einem sehr vorgerückten Alter [...] als eine harte Maß-

214

Martin Scheutz

regel 51. Nach einer Regelung des Gemeinderates von 1862, die bis 1877 Geltung besaß, sollten in Wien vor allem Insassen verbleiben, die über 80 Jahre zählten, die nicht transportfähig waren, die das Heimatrecht direkt im Wiener Gemeindegebiet (und nicht in den Vororten) besaßen und die nicht mit ekelhaften Gebrechen behaftet52 waren. Während lediglich zwei Fünftel der Pfründner in den Wiener Versorgungshäusern auch in Wien geboren waren, meldeten vier Fünftel der Pfründner Wien als Wohnort vor ihrem Eintritt in ein Versorgungshaus53. Die Wiener Versorgungshäuser wurden im Dezember 1872, um die Beamtenentlohnung zu systematisieren, dementsprechend in drei Kategorien eingeteilt. Die Zentralanstalt Alserbach bildete die erste, Ybbs und Mauerbach die zweite und St. Andrä die dritte Kategorie54 – es gab also sowohl bezüglich der Entlohnung der Beamten als auch des „standings“ der Versorgungshäuser in der Verwaltungsöffentlichkeit beträchtliche Unterschiede. In die Versorgungshäuser außerhalb von Wien wurden diejenigen Personen deportiert, die entweder nicht nach Wien zuständig waren, weiters Personen mit eckelhaften Gebrechen Behaftete, ferner Epileptische, dann Blinde, Irre, Gewohnheitsbettler und unverbesserliche Trunkbolde 55. Aber auch Personen, die „aus Disziplinarrücksichten aus Wien entfernt werden mussten“, fanden ihre Heimstatt in Niederösterreich. Pfründner, die sich beispielsweise über die Verwalter oder die Kost im Versorgungshaus beschwerten, riskierten im Gegenzug von den Beamten abgeschoben zu werden – eine Rückkehr von Mauerbach oder Ybbs nach Wien war in der Praxis schwer zu bewerkstelligen. Aber nicht nur das Personal konnte sich die „Unbequemen vom Hals“56 schaffen, auch die Angehörigen intervenierten mitunter um Versetzung ihrer lästig gewordenen Angehörigen bei den Leitern der Versorgungshäuser, wie ein Beispiel aus Mauerbach verdeutlicht. Würden Sie nicht in der Lage sein, einen Ihrer unverbesserlichsten Pfründner Namens Josef K. nach Ybbs, oder Andrä zu schubieren? daß er nicht so nahe bei Wien ist. Es würde Ihnen gewiß eine Anzahl anständiger Verwandter, sehr Dankbar sein, wenn Sie und Herr Verwalter [uns] von diesem Subject befreien würden. Mit diesem Menschen ist es nicht mehr zum aushalten, er ist mehr in Wien, als in Mauerbach, will nichts als Geld, abermals Geld, dann geht er Tag und Nacht herum, jetzt hat er sogar seinen Rock vom Leib verkauft57. Ende des 19. Jahrhunderts traf der Wiener Gemeinderat schließlich eine eindeutige, davor liegende usuelle Praktiken festschreibende Regelung betreffs der Verteilung der Pfründner auf die verschiedenen Anstalten: Die Ybbser Anstalt diente der Aufnahme von Geisteskranken, die Anstalt Mauerbach nahm Pfleglinge auf, die eine strenge Disciplin58 erforderte, St. Andrä und Liesing waren Personen vorbehalten, welche des Landaufenthaltes bedürfen. In der Wiener Anstalt bleiben nur jene Armen, welche nicht transportabel sind, die Fremden, welche als unheilbar aus öffentlichen Krankenanstalten übernommen werden müssen, und nach Maßgabe des Raumes solche Arme, deren Belassung in Wien mit Rücksicht auf ihre Familienverhältnisse wünschenswert erscheint. Die durchaus im gesamteuropäischen Trend des 19. Jahrhunderts liegende Anstaltsspezialisierung ließ sich aufgrund der Überfüllung der Häuser nicht konsequent durchführen, weil letztlich aufgrund des herrschenden Platzmangels Pfründner dort untergebracht werden mussten, wo gerade Platz war59.

215

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

Die amtliche Statistik der Stadt Wien weist auch das Verhältnis von Neuaufnahme und Transferleistung der Versorgungshäuser – entscheidende Parameter für die lebensweltliche Praxis der Pfründner – aus. Das Versorgungshaus Alserbach als Kopfbahnhof der Wiener institutionellen Armenunterstützung hatte erwartungsgemäß – nach der Aufstellung von 1871 bis 1881 – den größten Anteil an Neuaufnahmen (72 %), empfing umgekehrt aber nur wenige Versetzungen von anderen Versorgungshäusern (2 %). Die Versorgungshäuser Ybbs und St. Andrä empfingen von der Zentralanstalt viele Pfründner (zwischen 19 und 23 %), nur Mauerbach weist einen hohen Anteil von Neuaufnahmen an Pfründnern (16 %) auf. Tab. 6: Verteilung der Pfründner in den Wiener Versorgungshäusern 1871–1881 (Neuaufnahme und Verteilung)

1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 Durchschnitt (gerundet)

Alserbach G NA 1.561 913 1.588 878 1.611 811 1.568 1.300 1.623 1.193 1.691 976 1.684 1.234 1.542 1.297 1.617 1.242 1.588 1.357 1.530 1.517

V 24 27 23 14 29 24 10 44 57 69 36

G 638 658 651 617 691 692 698 678 644 620 603

1.600 1.156 32 654 (100 %) (72 %) (2 %) (100 %)

Ybbs NA 20 33 41 48 35 78 64 27 22 28 25

V 146 120 102 199 131 111 98 124 107 118 126

38 126 (6 %) (19 %)

Mauerbach G NA 602 130 604 87 575 134 568 148 575 104 583 112 584 90 594 71 570 44 483 80 574 38 574 94 (100 %) (16 %)

V 32 38 41 29 26 34 151 82 35 211 91

St. Andrä G NA 391 7 392 34 395 43 372 37 403 25 369 54 389 10 349 41 324 10 342 7 310 6

70 367 25 (12 %) (100 %) (7 %)

V 138 105 67 98 73 55 88 94 99 42 80 85 (23 %)

G = Gesamtzahl; NA = Neuaufnahme; V = Versetzung; Quelle: Administrationsberichte 1871–1881.

Der weitere Ausbau der Wiener Versorgungshäuser ereignete sich in der liberalen Ära unter Bürgermeister Andreas Zelinka (und mit Rücksicht auf das Heimatgesetz von 1863, das die Heimatgemeinden ermächtigte, das Heimatrecht selbstständig zu verleihen) in Reaktion auf den Unwillen der Pfleglinge, auf das Land abgeschoben zu werden, tatsächlich in bzw. nahe bei Wien: das Versorgungshaus Kritzendorf/Klosterneuburg (1873, bereits 1879 geschlossen), das Versorgungshaus Alserbach 1865–1868, das Versorgungshaus Liesing neu eröffnet 1877). Während die Stadt versucht war, die schlecht ausgestatteten Armenhäuser und Grundspitäler zu schließen, erhöhte man das Platzangebot der Versorgungshäuser, die institutionelle Armenversorgung wurde vor der offenen Armenunterstützung gefördert. Steigende Bevölkerungszahlen, die Industrielle Revolution und nicht zuletzt die durch die Hygienisierung bewirkte erhöhte Lebensdauer führten bis zum Bau der neuen Zentralanstalt in Lainz60 1902–1904 zu ständig überfüllten Versorgungshäusern. Mitte der 1880er-Jahre ging man dazu über, Anspruchsberechtigte aufgrund des Bettenengpasses nicht mehr in die Versorgungshäuser aufzunehmen, sondern diesen Personen einen Erhaltungsbeitrag von 7 oder 8 fl. per Monat 61 als ambulante Armenversorgung

216

Martin Scheutz

zu gewähren – doch auch dieser „verheißungsvolle Köder“ verfing nicht62. In den 1890erJahren beschloss der Gemeinderat einstimmig, dass es zu strengerer Handhabung der Vorschriften bei Aufnahme in die Versorgungsanstalten durch eine strikte Auslegung der ärztlichen Atteste kommen solle63. Austrittswilligen Pfründnern wurde eine Anweisung höherer Pfründe in Aussicht gestellt64. Neben der Raumnot der Wiener Versorgungshäuser – das Versorgungshaus Alserbach war die Zentralanstalt und der Verschubbahnhof der in Wien offiziell aufgenommenen Armen und Alten – waren die ländlichen Versorgungshäuser Mauerbach, St. Andrä und Ybbs einerseits kostengünstiger, andererseits konnte man hier die Verpflegung ruhiger und stiller Irrer, die vom k. k. Irrenfonds unterhalten wurden, leichter bewerkstelligen. Das Versorgungshaus Alserbach lag im Schnitt mit seinen Verpflegungskosten pro Kopf und Tag leicht über den übrigen Versorgungshäusern, das vom Bürgerspitalsfonds erhaltene Bürgerversorgungshaus lag 20 bis 30 Kreuzer pro Tag darüber. Das Versorgungshaus Liesing bot die kostengünstigste Pfründnerversorgung aller Versorgungshäuser. Tab. 7: Verpflegungskosten pro Kopf und Tag (in Kreuzern) im Durchschnitt (1867–1896) Bürgerversorg. Alserbach Mauerbach St. Andrä Ybbs Liesing Klosterneuburg

1867 61 42 38 37 50 – –

1868 64 47 38 37 50 – –

1869 57 46 40 37 51 – –

1870 60,5 45 38 38 52 – –

1874 79,51 57,76 53,14 48,63 63,93 – 61,18

1875 80,33 53,94 52,53 46,32 56,46 – 62,84

1876 77,05 50,17 50,36 45,65 55,63 – 55,54

1883 73,75 54,53 53,29 51,62 58,03 43,86 –

1886 76,00 55,46 52,46 52,90 59,70 45,35 –

1895 79,58 57,90 55,90 54,35 59,18 46,91 –

1896 81,99 59,79 55,33 55,16 56,22 49,39 –

Quelle: Administrationsberichte 1867–1896.

Eine unmittelbare Folge der Straffälligkeit von Pfründnern war ihre Übersetzung in eine andere Versorgungsanstalt. So wurde 1899 ein Pfründner aus St. Andrä nach Mauerbach übersetzt, weil er ein unverbesserlicher Trunkenbold 65 war. Es helfen nicht Ermahnungen, noch Rügen oder Strafen. Damit er zu Geld komme, um seiner Leidenschaft für Alkohol fröhnen zu können, hat er seine Wäsche und Kleider verkauft. Einem Hausarreste, wußte er sich immer dadurch zu entziehen, daß er den Weg über die Gartenmauer nahm. Im Zustande der Trunkenheit zerreißt er seine Kleider, zerschlägt Glas und Geschirr, kurz geberdet sich wie ein wildes Thier. Die hierortige Anstalt entbehrt der Mittel, derartige Individuen unschädlich zu machen. Der Pfründner bedürfe, so die Versorgungshausadministration, der strengsten Korrektion. Die kleinen Versorgungshäuser St. Andrä und Mauerbach und die relativ große, auch geistig behinderten Personen gewidmete Anstalt Ybbs stellten zusammen rund 40 % der Bettenkapazität, wiesen aber fast 90 % aller zwischen 1874 und 1876 begangenen 988 Delikte in den Versorgungshäusern auf. Mauerbach hatte innerhalb des Wiener Versorgungshaussystems eine Sonderstellung, weil in dieses Haus Exzedenten und Trunkenbolde, also verhaltensauffällige Pfründner, zu überstellen waren. Seit 1861 wurde deshalb eine eigene

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Transfer städtischer Wiener Altersarmut

Abteilung für Alkoholkranke in Mauerbach installiert66. Die Ausspeisung dieser Personengruppe sollte in einer besonderen Abtheilung gemeinschaftlich vorgenommen werden, und ihnen nicht, so wie den übrigen Pfründnern, gestattet werden, ihre Brotportion zu reluiren [in Geld auszuzahlen], um zu verhindern, daß dieselben ihr Brot, um Geld zum Branntweintrinken zu bekommen, außer der Anstalt verkaufen 67. Sowohl in Mauerbach als auch in St. Andrä traten nach der amtlichen, vom Wiener Magistrat erstellten Statistik am häufigsten Alkoholdelikte und Verstöße gegen die Hausordnungen auf. Rund 57 % aller Delikte zwischen 1874 und 1876 standen in Zusammenhang mit Alkohol, mit großem Abstand gefolgt von Auflehnungen gegen das strikte Hausregime (13,67 %), Unsittlichkeit (6,68 %), Verkauf von Anstaltskleidung (5,76 %) oder unerlaubtem Entfernen aus dem Versorgungshaus (5,66 %). Die vom Torwächter kontrollierte Sperrstunde und das Schließen der Haustore hatten die Insassen dagegen weitgehend verinnerlicht (2,93 %), Diebstahl und Drohungen gegenüber den Mitinsassen und dem Personal kamen selten vor. Das Betteln in den Ortschaften, den Wirtshäusern oder vor den Kirchen spielte dagegen nur eine geringe Rolle – auch auf dem Land sollten die Pfründner möglichst unauffällig, man könnte sagen unsichtbar, sein. Die Straffälligkeit von Pfründnern war mit ein Versetzungsgrund für verhaltensauffällige Insassen. Der Fall einer aufgrund ihres Alkoholkonsums nervenkranken Frau, die schon strafweise von Alserbach nach Mauerbach transferiert wurde, verdeutlicht die Deliktumgebung des Alkoholismus in den Versorgungshäusern: Die Pfründnerin überzog auch in Mauerbach die Sperrstunden, verunreinigte den Anstaltsgang und frequentierte die Mauerbacher Wirtshäuser. Sie wurde in total betrunkenem Zustand gestern abends [15. November 1886] aus Richters Gasthaus in Mauerbach durch den Hausknecht mittels Schiebekarren in die Anstalt überbracht 68. Tab. 8: Deliktzahlen der Pfründner im Vergleich 1874–1876 Mauerbach Trunkenheit „Exceß“ Unsittlichkeit Wäscheverkauf Entweichung Sperrstundenüberschreitung Diebstahl Unverträglichkeit Bettelei Drohung Unreinlichkeit Veruntreuung Summe Häufigkeit

St. Andrä

Ybbs

Alserb.

M 74 35 20 21 13

F 52 12 16 8 2

M 226 13 7 5 23

F 48 12 7 – 1

M 87 30 8 16 16

F 16 12 4 3 –

M 31 13 1 – –

F – – 3 – –

19

2





5

3





10 2 – – – – 4 – – – – – 290 (196 M) 29,35 %

4 – – – – – 2 1 – – – – 349 (280 M) 35,32 %

6 2 7 6 – – 5 1 4 1 2 2 236 (186 M) 23,89 %

Quelle: Administrationsbericht Cajetan Felder 1874–1876.

– – 6 – 12 4 – – – – – – 70 (63 M) 7,09 %

Bürgerversorg. M F 12 4 – 1 – – – – – 1 –



– – – – – 1 – – – – – – 19 (12 M) 1,92 %

Klosterneuburg M F 5 8 4 3 – – 1 3 – – –



– – – – – – – – – – – – 24 (10 M) 2,43 %

Summe M 435 95 36 43 52

F 128 40 30 14 4

24

5

20 4 13 6 12 5 11 2 4 1 2 2 988 (747 M) 100 %

218

Martin Scheutz

Die Hausordnung der Wiener Versorgungshäuser sah vor, dass die in großen Räumen untergebrachten Pfründner zur Erhaltung der Ruhe und Ordnung in der Anstalt verpflichtet [waren], einander mit Ruhe und Ordnung zu begegnen, und Selbsthilfe, wörtliche und thätliche Beleidigungen strengstens zu vermeiden 69. Die hohen „Deliktzahlen“ der 1870er-Jahre – im Wesentlichen Verstöße gegen die Hausordnung – scheinen stärkere Kontrollen und vorbeugende Maßnahmen bewirkt zu haben. Ein Vergleich der Delikte zu Beginn der 1880er-Jahre zeigt deutlich niedere Zahlen von Straffälligkeit, 690 Delikte wurden verbucht. Zwischen 1880 und 1882 rangierte immer noch Trunkenheit an erster Stelle (47,97 % aller Fälle), gefolgt von der Rubrik „Exzesse“ (11,45 %), dem Wäsche- und Kleiderverkauf von Anstaltseigentum (7,53 %), den Sperrstundenüberschreitungen (7,39 %), den Entweichungen (6,38 %) und der – nicht näher ausgeführten – „Unsittlichkeit“ (6,08 %). Lediglich das „Delikt“ Unverträglichkeit (4,49 %) ragt noch aus den weit verstreuten Auffälligkeiten (Betrug, Misshandlung von anderen Insassen, Unreinlichkeit, Bettelei) heraus. Die Versorgungsanstalt Mauerbach mit Pfründnern belegt, für welche eine strengere Disziplin nothwendig erscheint70, wies 1880 bis 1882 drei Fünftel aller Delikte in allen Wiener Versorgungshäusern auf. Das mehrstufige Bestrafungssystem sah zuerst ein Ausgangsverbot der Pfründner, dann Zimmerarrest und schließlich das Einsperren in eine Arrestzelle (mit Fasten bei Wasser und Brot für höchstens sechs Tage) vor, wobei diese Einzelhaft vom Anstaltsarzt oder vom Hausarzt genehmigt werden musste71. Auf lokaler Ebene sorgte die Konzentration der Straffälligen in Mauerbach – man sprach in einer Gemeinderatssitzung von 1862 vom Auswurf der Versorgungshäuser – für Widerstand72. Der Mauerbacher Bürgermeister Laurenz Seitner beschwerte sich 1906 beim Wiener Magistrat: Eine große Anzahl dieser „ausgemusterten“ Personen sowohl Männer als auch Frauen sind dem Trunke derart ergeben, daß sie [die] hieraus entstehenden Streit- und Raufhändel auf öffentlichen Gassen oder Plätzen ausfechten, wobei die Kinder des Ortes die Zuschauer sind. Der Anblick von betrunkenen Männern und Frauen, welche durch die Straße wanken oder zuweilen auf den Fußwegen liegen, ist keine neue Erscheinung73. Umgekehrt lebten die Wirtsleute in den niederösterreichischen Standorten der Versorgungshäuser gut vom Verkauf von Branntwein und Spirituosen an die Pfründner74. Der Alkoholkonsum sollte das nur wenig genießbare, von den Traiteuren ausgekochte Essen in den Versorgungsanstalten substituieren. Die immer wieder geäußerten Beschwerden über die Qualität des Essens – der Traiteur selbst hatte allerdings nur einen äußerst engen ökonomischen Spielraum bei der Herstellung der Speisen und fuhr häufig Defizite bei der Pacht der Traiteurleistung ein – konnten seitens der an möglichst wenig öffentlichem Aufsehen interessierten Verwaltung der Versorgungshäuser zu Korrektionsstrafen führen75. Der Wiener Magistrat experimentierte deshalb immer wieder mit der so genannten Naturalverpflegung: Die „gesunden“ Pfründner sollten nach einem Gemeinderatsbeschluss 1862 für die Versorgungsanstalt Alserbach, ebenso wie die ohnedies mit Naturalkost verpflegten Kranken, die geistig Behinderten oder die Straffälligen, keine Geld-Portionen und kein Brot (täglich entweder ein Pfund weißes Pohlenbrot oder 1 ½ Pfund schwarzes Roggenbrot), sondern den Gegenwert in Gestalt von täglich

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verabreichten Mahlzeiten erhalten76. Aber schon 1863 kehrte man wieder zum alten System, der Geldauszahlung für die Verpflegung, zurück, die Pfründner hatten sich weinend und flehend beim Gemeinderat beschwert, die Kost ist nicht zu genießen; alle Gemüse sind zu schlecht, als dass man sie auch nur den Thieren vorsetzen könnte 77. Im Jahr 1895 führte man erneut die Naturalausspeisung in den Wiener Versorgungshäusern ein (und schuf damit den Traiteur ab), mit dem Jahr 1897 hörte man damit wieder auf und verabreichte den Pfründnern nach deren Wunsch erneut Essens-Handgeld78. Die Versorgungshausleitung hatte vor allem Angst, dass die Pfründner das Handgeld in Alkohol umsetzen würden bzw. dass die Mangelkrankheit Skorbut dadurch verstärkt auftreten könnte. Der Anteil der naturalverpflegten Personen betrug im Jänner 1898 rund 53 % (in der Versorgungsanstalt Ybbs nahmen von 303 Personen 193, also rund 64 %, freiwillig die Naturalverpflegung) – vom Gemeinderat als „Beweis“ interpretiert, dass die in den Anstalten verabreichte Kost keinen Anlass zur Klage gibt79. Trotz der Verbote von gegenseitigen Besuchen von Männern und Frauen in den Pfründnerzimmern kam es immer wieder zu „Unsittlichkeit“ unter den Pfründnern, wobei auch in einzelnen Fällen Kinder auf die Welt kamen, was vor allem im Fall von geistig behinderten Frauen zu großen Problemen führte und den Wächtern sowie Stubenvätern bzw. -müttern als Verletzung der Aufsichtspflicht angelastet wurde. Tab. 9: Deliktzahlen der Pfründner im Vergleich 1880–1882

Trunkenheit „Exceß“ Unsittlichkeit Wäsche-/Kleiderverkauf Entweichung Sperrstundenüberschreitung Diebstahl Unverträglichkeit Bettelei Unreinlichkeit Veruntreuung Trinkgeldannahme von Pfründnern Übervorteilung von Zimmergenossen Betrug Misshandlung von Genossen Übertretung der Hausordnung Dienstvernachlässigung Summe Häufigkeit

Mauerb. M F 121 84 32 20 6 10 15 10 37 6

St. Andrä M F 27 4 4 – 6 3 6 2 – –

Ybbs M F 25 6 8 6 10 4 8 3 1 –

Alserb. M F 29 4 3 – 2 1 7 1 – –

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– 9 3 10 –

– 10 – 5 –

– 3 – 1 –

1 3 – – –

5 – – – 4

4 – – – –

– 1 8 – –

























– – – – – – – – 414 (260 M) 60 %

Quelle: Administrationsberichte 1880–1882.

– – – – – – – 1 68 (54 M) 9,85 %

Bürgerv. M F 4 1 – – – – – – – –

Liesing M F 15 3 6 – – – – – – –

Summe M F 229 102 53 26 24 18 36 16 38 6









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– 3 1 – –

– 1 – – –

– – – – –

– 1 – – –

– – – – –

5 15 11 11 4

5 16 1 5 –



1











1

1











1



4 – – – 4 6 – – 7 2 – – – – – – 107 (76 M) 70 (59 M) 15,51 % 10,14 %

– – – – – – – – 6 (5 M) 0,86 %

– – – – – – – – 25 (3 M) 3,62 %

4 – 4 6 7 2 – 1 690 (476 M) 100 %

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Zusammenfassung Die Wiener Versorgungshäuser kümmerten sich um die würdige Armut im Sinn einer Armenbetreuung von Personen, die aus dem Arbeitsprozess aus Altersgründen ausgeschieden waren. Der Versorgungsstaat des 19. Jahrhunderts bemühte sich um die Produktion sozialer Sicherheit im Tausch gegen berechenbares Verhalten der Armen. Während die unwürdige Armut als „Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft“ immer stärker marginalisiert, zum Teil romantisiert oder umgekehrt kriminalisiert und animalisiert wurde, wie die Wiener Sozialreportagen der „Kanalstrotter“ Max Winter (1870–1937) und Emil Kläger (1880–1936) belegen80, suchte man die würdige, häufig verheiratete oder verwitwete Armut in tristen Großarmenanstalten zu versorgen. Das Wiener Versorgungshauswesen arbeitete lange Zeit mit kostengünstigen, architektonisch und sanitätstechnisch wenig geeignet erscheinenden Provisorien, häufig baulich dysfunktionale Relikte aus der Zeit des Josephinischen Klostersturmes auf dem flachen Land, oft unter schlechten hygienischen Verhältnissen (etwa ohne Essenssäle ausgestattet) und mit – aus heutiger Sicht – äußerst wenig Personal und zur Arbeit verpflichteten Insassen. Erst nach der „bürgerlichen Revolution“ begann angesichts der rapiden Urbanisierung eine intensive Neubauphase des Wiener Versorgungshauswesens. Moderne Anstalten, meist Anbauten an bestehende Häuser (etwa Ybbs, „Der blaue Herrgott“, das Bürgerversorgungshaus), wurden nicht zuletzt aus ökonomischem Kalkül errichtet. Die Reformdebatte der 1860er-Jahre schlug sich in gedruckten ärztlichen Interventionen nieder: Was soll man davon denken, wenn z. B. die Gebäudeerhaltung in dem Versorgungshause St. Andrä 9 kr., in dem Versorgungshause zu Mauerbach, welches dem Verfalle überlassen ist, 8 fl. 33 kr., im Ybbser Versorgungshause, welches gar nicht mehr erhalten, sondern durch ein neues ersetzt wird, gar 18 fl. 35 kr. per Kopf beträgt; wenn die Beheitzung z. B. in Ybbs, wo das Brennholz bis vor die Thüre geschwemmt wird, fast dreimal so viel pr. Kopf kostet, als in dem Versorgungshause der Währingergasse in Wien; wenn die Wäschereinigung in Mauerbach mehr als das doppelte, in Ybbs mehr als das Dreifache pr. Kopf kostet als in Wien 81. Ursprünglich diente das Kostenargument im Vormärz und in der vorliberalen Ära als Auslöser dafür, dass mehr als die Hälfte der Wiener Insassen von innerstädtischen Versorgungshäusern auf das Land geschickt wurde, indem man nämlich annahm, das die Verpflegung der Pfründner auf dem Lande wohlfeiler zu stehen komme, als in der Stadt; vielleicht mochte man auch dabei den Grund geltend gemacht haben, dass die Pfründner in einem kleinern Orte leichter überwacht werden können, als in einer grossen Stadt. Beide Gründe haben sich in der Praxis nicht bewährt 82. Die Versorgung war aber im Gegenteil in einigen niederösterreichischen Versorgungshäusern sogar teurer als in Wien. Im Zuge der Reformdebatte um die Wiener Versorgungshäuser ab den 1860erJahren wurde schon an die Ärzte die Forderung gestellt, dass die Stadt Wien ihre Pfründner in der Regel in Wien verpflege und dass nur für jene Pfleglinge Versorgungsanstalten auf dem Lande errichtet werden, welchen der Arzt aus Gesundheitsrücksichten den Aufenthalt auf dem Lande [...] anordnet 83. Die Versorgungshäuser waren – wie Bürgermeister Lueger in einer Debatte um den Neubau von Versorgungshäusern im Gemeinderat am 6. September 1899 vermeldete – de facto Kasernen [...]. Da liegen 50 und oft noch mehr Personen in einem gro-

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ßen Raum, jedem ist eigentlich nur ein Bett und daneben ein kleiner Kasten – oft nur eine Truhe zugewiesen. Die Frauen sind von den Männern getrennt, die Eheleute sind auseinandergerissen. [...] Ich denke, meine Herren, dass es einer Vertretung, wie ja die Gemeinde Wien es ist, würdig ist, die Frage zu studieren, ob nicht auch da an Stelle größerer Gebäude vielleicht – wie soll ich sagen – kleinere Gebäude treten sollen, dass es Eheleuten, wenn sie auch arm sind, möglich gemacht werden soll, wenigstens in einem Zimmer beisammen die letzten Tage zuzubringen 84. Lange Zeit wurden Versorgungshäuser (oder etwa in England „workhouses“) binär entweder als im nie erreichten Idealfall sich selbst finanzierende Zwangsarbeitsanstalten oder als Disziplinierungsorte (Verlust der Autonomie von Alten und Armen) verstanden, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich auch infolge des steigenden Bevölkerungsanteiles der „Alten“ (und der beginnenden Herausformung des „Ruhestandes“) 85 und einer sich wandelnden Einstellung zum Alter86 als dritter Strang das institutionalisierte Altersasyl heraus, das zwar noch Funktionen der alten frühneuzeitlichen Einrichtungen aufwies, aber das Altersheim und die Medikalisierung des Alters vormodellierte87. Die allmähliche Differenzierung der Versorgungshäuser in Richtung einer neuen Form von „Humanitätsanstalt“ und in Richtung der neuen, aus Pavillons bestehenden Zentralversorgungsanstalt Lainz zeichnete sich ab, die ländlichen Versorgungsanstalten als Orte von gesundheitsschädlicher, rückschrittlicher Armutsverwaltung spielten in der Debatte aber immer wieder eine Rolle88. Als Hintergrund der Neuerrichtung des Versorgungshauses Lainz kam dem Wunsch, daß unsere Pfründner nicht weit von Wien wegkommen, große Bedeutung zu. Die Entfernung der Pfründner aus dem Stadtraum oder, wie es pars pro toto in der Debatte hieß, vom Stephansdom, spielte in den Wiener Gemeinderatssitzungen eine mehrmals artikulierte Rolle. Es schien etwa einem kritischen Wiener Gemeinderat ein innerer Widerspruch zu sein, daß gesagt wird, daß man das Liesinger Versorgungshaus wegen der Entfernung von Wien nicht erweitern will, während das Versorgungshaus, um welches es sich jetzt handelt [Lainz im XIII. Bezirk], nicht viel näher als das Liesinger Versorgungshaus vom Zentrum ist89. Die Haupt- und Residenzstadt Wien hatte 1875 nach einer Polizeizählung 673.865 Einwohner (324.738 Männer und 307.389 Frauen)90 – die Industrialisierung bewirkte, dass viele Personen, die nicht in Wien geboren worden waren, zuzogen, am bekanntesten darunter sicherlich die Ziegelböhmen (Mährer und Böhmen mit über 15 %), die unter oft katastrophalen Bedingungen wohnen mussten91, aber auch der große Anteil an Migranten aus den heutigen österreichischen Bundesländern (der zwischen 1857 und 1871 immer einen Anteil zwischen 15 bis 20 % ausmachte) war beträchtlich. Im Jahr 1875 erreichte der Anteil der in Wien Geborenen an der Wiener Wohnbevölkerung mit 38,5 % einen Tiefpunkt. Parallel dazu sank die Zahl der in Wien Heimatberechtigten und damit der Anspruchsberechtigten für Armenfürsorge nach 1869 stetig: 1869 44,6 %, 1880 35,2 %, 1890 34,9 %92. Ein amtlicher Eskapismus von Unterschichten war, abgesehen von sentimentaler Genremalerei des jungen Georg Ferdinand Waldmüller (1793–1865) oder eines Josef Danhauser (1805–1845)93, lange Zeit, bis zum Bau des Versorgungshauses Lainz, das Prinzip der unterbürgerlichen institutionellen Armenversorgung in Wien – nicht zuletzt ging es

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darum, die (wenn schon nicht als potentiell verbrecherisch, so doch zumindest sozial problematisch angesehene) canaille bzw. die als gefährliche[n] Classen verstandenen Bevölkerungsteile sozialtopographisch aus Wien zu transportieren94. Während die Bürger im Bürgerversorgungshaus kaum Verschickungen auf das flache Land fürchten mussten, war dies bei den unterbürgerlichen Armen aus Kosten- und Disziplinierungsgründen mit relativ großer Wahrscheinlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und eingeschränkt im 20. Jahrhundert95 der Fall.

Anmerkungen 11 A  dministrazions-Bericht des Bürgermeisters der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien Dr. Andreas Zelinka für das Jahr 1863, Wien 1864, S. 50. Als Überblick allgemein Peter Borscheid, Altenhilfe – Armenhilfe. Zur historischen Entwicklung der Altenhilfe und Altenhilfepolitik, in: Hans Peter Tews, Thomas Klie, Rudolf M. Schütz (Hg.), Altern und Politik. 2. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (Schriftenreihe der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Fortbildung in der Altenhilfe 11), Melsungen 1996, S. 23–36. Für Wien Hannes Stekl, Armenversorgung im liberalen Wien, in: Herbert Knittler (Hg.), Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge. Festschrift für Alfred Hoffmann zum 75. Geburtstag (Sonderband der Sozial- und Wirtschaftshistorischen Studien und der Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte), Wien 1979, S. 431–450; siehe zum gesamten Thema meinen auf das Versorgungshaus „Blauer Herrgott“ (Alserbach) ausgerichteten Beitrag: „Der blaue Herrgott“, die Disziplin und die Pfründner. Das nicht-bürgerliche Versorgungshaus „Alserbach“ als Zentralanstalt der Wiener Versorgungshäuser im 19. Jahrhundert, in: Gerhard Ammerer, Arthur Brunhart, Martin Scheutz, Alfred Stefan Weiß (Hg.), Orte der Verwahrung. Die innere Organisation von Gefängnissen, Hospitälern und Klöstern seit dem Spätmittelalter (Geschlossene Häuser. Historische Studien zu Institutionen und Orten der Separierung, Verwahrung und Bestrafung 1), Leipzig 2010, S. 269–293. 12 Administrationsbericht 1863 (wie Anm. 1), S. 50. 13 Administrationsbericht 1864, Wien 1865, S. 82. 14 Der Transport der Pfründner von Kemmelbach nach Ybbs wurde sogar öffentlich ausgeschrieben, Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1893, S. 2127 (31. Oktober 1893). 15 Leopold Hahn, Das Wiener Versorgungshaus St. Andrä a. d. Traisen, in: Blätter für das Wohlfahrtsund Armenwesen der Stadt Wien XIX (1920), S. 133–137, hier S. 137. 16 Administrationsbericht 1863 (wie Anm. 1), S. 48: Ferner wurde verfügt, daß für die Leichen jener Pfründner, die in keinem Leichenverein eingezahlt haben, oder für welche die Angehörigen kein Leichenbegängnis besorgen, und deren Leichen früher in Sackleinwand eingenäht und beerdiget wurden, fernerhin auf Kosten des Versorgungs-Fondes ein Sarg beigestellt und ein einfaches Leichenbegängniß abgehalten werde; ebenso wurde angeordnet, daß die aus dem Pfründnerstande beizustellenden Leichenträger hierbei in anständiger Kleidung zu erscheinen haben. 17 Karl Fahringer, „Alten und Elenden ihr trauriges Daseyn etwas milder zu machen“. Das Schicksal der ehemaligen Kartause Mauerbach (1782–2007) (Mauerbacher Beiträge 13–15), Mauerbach 2007, S. 84. 18 Elke Kunar, Die Pflege im Stift St. Andrä an der Traisen. Vom Siechenhaus zum modernen Geriatriezentrum. Diplomarbeit, Wien 2005, S. 60. 19 Siehe dazu Elisabeth Rachholz, Zur Armenfürsorge der Stadt Wien von 1740 bis 1904. Von der privaten zur städtischen Fürsorge. Dissertation, Wien 1970, S. 53–92; eine kurze Darstellung zur Entwicklung (ohne Fußnoten) in Wien Karl Heinz Tragl, Chronik der Wiener Krankenanstalten, Wien 2007, S. 27–32; Überblick bei Martin Scheutz, Demand and charitable supply: Poverty and Poor Relief in Austria in the 18th and 19th centuries, in: Ole Peter Grell, Andrew Cunningham, Bernd

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Roeck (Hg.), Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Southern Europe, Aldershot 2005, S. 52–95; Sophie Ledebur, Armut und Alter. Eine überblicksartige Darstellung der Wiener Armenpflege, in: Ingrid Arias, Sonia Horn, Michael Hubenstorf (Hg.), „In der Versorgung“. Vom Versorgungshaus Lainz zum Geriatriezentrum „Am Wienerwald“, Wien 2005, S. 27–40; Karl Weiß, Geschichte der öffentlichen Anstalten, Fonde und Stiftungen Bd. 1, Wien 1867, S. 292–334; zu den Pfarrarmeninstituten und deren Reform Josef Karl Mayr, Zwei Reformatoren der Wiener Armenfürsorge. Eine sozialgeschichtliche Studie, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 8 (1949/1950), S. 110–135 und 9 (1951), S. 151–186. Als Überblick siehe Heinrich Berg, Gesundheitseinrichtungen, Ärzte, in: Peter Csendes, Ferdinand Opll (Hg.), Die Stadt Wien (Österreichisches Städtebuch 7), Wien 1999, S. 291–307. Wilhelm Löwy, Die öffentliche Armenpflege und die private Wohlthätigkeit in Wien in den Jahren 1848 bis 1898, in: Hans Heger (Hg.), Oesterreichs Wohlfahrts-Einrichtungen 1848–1898 Bd. 1, Wien 1899, S. 195–365, hier S. 223: Insgesamt gab es Ende des 19. Jahrhunderts neun verschiedene Fonds für die öffentliche Armenpflege: den allgemeinen Versorgungsfonds, den nur für Bürger bestimmten Bürgerspitalsfonds, den nur für Bürger bestimmten Bürgerladsfonds, den für die Mitglieder der sechs Wiener Freibataillone gewidmeten Wiener Landwehrfonds, den Waisenfonds, den Grossarmenhaus-Stiftungenfonds, den Johannesspital-Stiftungenfonds, den Landbruderschaftsfonds und den Hospitalfonds. Der Allgemeine Versorgungsfonds war neben den Bürgerspitalsfonds mit Abstand der wichtigste. Der Armen-Versorgungsfonds wurde gespeist aus den Verlassenschaftsprozenten (1 % des reinen Nachlasses), die Lizitationsprozente, die Spektakelgebühr (für alle gegen Eintritt stattfindenden Veranstaltungen) und das seit 1697 bestehende Lohnwagengefälle (alle Lohnkutscher mussten eine Lizenzgebühr entrichten). Daneben erhielt der Armen-Versorgungsfonds noch die Hälfte des reinen Einkommens des k. k. Versatzamtes (bis 1860 und nach 1887). Die Armen-Pflege in den Versorgungshäusern der Stadt Wien, Wien 1879, S. 3 (Statut für die Versorgungsanstalten der Stadt Wien). Siehe den Überblick von Josef Ehmer, Altersversorgung, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 1, Stuttgart-Weimar 2005, Sp. 272–282. A ndreas Haidinger [Justiziär], Das wohlthätige und gemeinnützige Wien. Eine ausführliche Beschreibung der in der k. k. Residenzstadt zum allgemeinen Besten bestehenden öffentlichen und Privat-Anstalten, Wien 21844, S. 499. Siehe dazu für die Zwischenkriegszeit Sigrid Wadauer, Betteln – Arbeit – Arbeitsscheu (Wien 1918–1938), in: Beate Althammer (Hg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 4), Frankfurt u. a. 2007, S. 257–299. Kapazität der Wiener Versorgungshäuser 1840/46: Währingerstraße (Bäckenhäusel) 570, Alserbach 360, Langenkeller 104, Mauerbach 682, Ybbs 838, nach Joseph Johann Knolz, Darstellung der Humanitäts- und Heilanstalten im Erzherzogthume Oesterreich unter der Enns, als Staatsanstalten und Privatwerke, nach ihrer dermaligen Verfassung und Einrichtung, Wien 1840, S. 112, und Anton Rudolf Kratochwill, Die Armenpflege der k. k. Haupt- und Residenzstadt Wien, verbunden mit einer besonderen Abhandlung über die Zuständigkeit oder das Heimathsrecht, Wien 1846, S. 276, St. Andrä 388 (Kratochwill, Die Armenpflege, S. 276) und die sämtlichen Grundspitäler Wiens 214 (Knolz, Darstellung, S. 112). Gesamt 3.096 (Knolz, Darstellung, S. 112) bzw. 2.942 (nach Kratochwill, Die Armenpflege, S. 276). Ferdinand Opll, Liesing. Geschichte des 23. Wiener Gemeindebezirkes und seiner alten Orte, Wien u. a. 1982, S. 156–159. Christiane Feuerstein, Altern im Stadtquartier. Formen und Räume im Wandel, Wien 2008, S. 43 f. Administrationsbericht 1867–1870, Wien 1871, S. 559 f. Instruction für die Verwaltungsbeamten der Versorgungsanstalten der Stadt Wien, in: Die ArmenPflege in den Versorgungshäusern (wie Anm. 11), S. 19–53. Neben der Instruktion für die Verwaltungsbeamten, für die Ärzte, die Hausseelsorger, die Hausaufseher, Hauswächter, Hausdiener, Krankenwärterinnen gab es auch Anweisungen für die Zimmervorsteher (auf den Zimmern der gesunden Pfründner) und die Zimmervorsteher für die Krankenund Siechenzimmer, siehe Die Armen-Pflege in den Versorgungshäusern (wie Anm. 11), S. 19–96. Ebd., S. 11.

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21 Ebd., S. 12. 22 Ebd., S. 15; siehe Hugo von Zellenberg, Das Wiener städtische Versorgungshaus in St. Andrä a. d. Traisen, in: Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien IX (1910), S. 77–80, hier S. 77: Die Verwendung der Pfleglinge zur Hausarbeit ist analog wie in den anderen Versorgungshäusern geordnet. 44 (34 Männer und 10 Frauen) finden Verwendung als spezielle Hausarbeiter und -Arbeiterinnen (Abort-, Stiegen-, Zimmerreinigung, Wassertragen), Anstreicher, Badefrau und Badeheizer, Bedienerinnen, Briefträger, Gartenarbeiter, Gartenarbeiterinnen, Hausmeister, Heizer (Öfen), Holz- und Kohlenträger, Kaninchenzüchter, Kreuzträger, Leichenträger, Maurer, Medizinträger, Mesner, Näherinnen, Ordinationsdiener, Saaldiener, Schneider, Schuster, Sektionsdiener, Träger, Tischler, Todtengräber, Tapezierer, Uhrmacher und Wäschearbeiterinnen, 4 als Wächter, 4 als Schreiber, 13 als Zimmervorsteher und 14 als Gehilfen und Gehilfinnen, in Summa 79, das sind 26 % des gegenwärtigen Pfleglingstandes. Zum Altersbild der „Friedlosen“, der stopfenden alten Frauen, etwa in der naturalistischen Kunst Domenica Tölle, Altern in Deutschland 1815–1933. Eine Kulturgeschichte (Marburger Forum zur Gerontologie 2), Grafschaft 1996, S. 115–130. 23 Administrationsbericht 1865 und 1866 [1865], Wien 1867, S. 85 f. 24 Administrationsbericht 1883, Wien 1884, S. 202. 25 Administrationsbericht 1894–1896, Wien 1898, S. 498 f. 26 Administrationsbericht 1889–1893, Wien 1895, S. 545. 27 Fahringer, „Alten und Elenden“ (wie Anm. 7), S. 41. 28 Kunar, Die Pflege (wie Anm. 8), S. 64. 29 Administrationsbericht 1874 bis 1876, Wien 1878. 30 Die Gemeindeverwaltung der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien in den Jahren 1871 bis 1873, Wien 1874, S. 743. 31 Zum Begriff und zur Entwicklung des Pensionssystems (ausgehend von den Beamten) Josef Ehmer, Sozialgeschichte des Alters (edition suhrkamp 1541), Frankfurt 1990, S. 40–63; ders., Alter, Arbeit, Ruhestand. Zur Dissoziation von Alter und Arbeit in historischer Perspektive, in: Ursula Klingenböck, Meta Niederkorn-Bruck, Martin Scheutz (Hg.), Alter(n) hat Zukunft. Alterskonzepte (Querschnitte 26), Innsbruck-Wien-Bozen 2009, S. 114–140. 32 So wies das Bürgerversorgungshaus 1874 223 Männer und 300 Frauen auf, die als Gewerbsleute ausgewiesen waren. Am häufigsten waren vertreten: Schneider, Schuster, Viktualienhändler, Tischler, Gastwirte, Schlosser, Trödler und Weber. Bei den „Gewerbsleuten“ des Versorgungshauses Alserbach waren bezeichnenderweise die Schneider und Schuhmacher am stärksten vertreten, gefolgt von Band- und Zeugmachern, Schlossern und Tischlern. 33 Martin Scheutz, „Totale Institutionen“ – missgeleiteter Bruder oder notwendiger Begleiter der Moderne? Eine skizzenhafte Einführung, in: Ders. (Hg.), Totale Institutionen. Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2008) H. 1, S. 3–19, hier S. 12. 34 Sieglinde Fuchs, Die in Niederösterreich unter Josef II. aufgehobenen Klöster im Hinblick auf ihre Weiterverwendung. Dissertation, Wien 1967, S. 23–29; Karl Fahringer, „Eine so gute Gelegenheit“. Die Aufhebung der Kartause Mauerbach. Ein „Tagebuch“ (Mauerbacher Beiträge 3–4), Mauerbach 1994. 35 Fahringer, „Alten und Elenden“ (wie Anm. 7), S. 13. 36 Dies wird im Administrationsbericht 1894 (im Vergleich zu den übrigen der Stadt Wien unterstehenden Versorgungshäusern) betont, Administrationsbericht für das Jahr 1894–1896, Wien 1898, S. 497. 37 A llgemein dazu Fuchs, Die aufgehobenen Klöster (wie Anm. 34). Eine systematische Erfassung der divergierenden nachjosephinischen Nachnutzungskonzepte (das gilt auch für den nationalsozialistischen Klostersturm) fehlt bislang – ein Forschungsdesiderat! Zu St. Andrä S. 172–175. 38 Christine Oppitz, Archiv und Bibliothek des Augustiner-Chorherren Stiftes St. Andrä an der Traisen, in: Thomas Aigner, Ralph Andraschek-Holzer (Hg.), Abgekommene Stifte und Klöster in Niederösterreich (Beiträge zur Kirchengeschichte Niederösterreichs 6), St. Pölten 2001, S. 270–284; dies., Festschrift 850 Jahre Augustiner-Chorherrenstift St. Andrä an der Traisen 1148–1998, St. Andrä 1998, o. S.; Hugo von Zellenberg, Das Wiener städtische Versorgungshaus in St. Andrä a. d.

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Traisen, in: Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien IX (1910), S. 61–64; Anton Fank, Predigt zur feyerlichen Eröffnung des neuen kaiserl. königl. Versorgungshause zu St. Andrä an der Traisen am 6. July 1828, Wien 1828. Hahn, Das Wiener Versorgungshaus St. Andrä (wie Anm. 5), S. 133; Weiss, Geschichte der öffentlichen Anstalten Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 259–261. Franz Schweickhardt, Darstellung des Erzherzogthums Oesterreich unter der Ens, durch umfassende Beschreibung aller Burgen, Schlösser, Herrschaften, Städte, Märkte, Dörfer, Rotten etc. etc. Bd. 4, Wien 1836, S. 70. Fuchs, Die aufgehobenen Klöster (wie Anm. 34), S. 163–168. Haidinger, Das wohlthätige und gemeinnützige Wien (wie Anm. 12), S. 502; Weiss, Geschichte der öffentlichen Anstalten Bd. 1 (wie Anm. 39), S. 255–263; Kratochwill, Die Armenpflege (wie Anm. 14), S. 264; Jakob Dont, Das Wiener Versorgungsheim. Eine Gedenkschrift zur Eröffnung im Auftrage der Gemeinde Wien verfaßt, Wien 1904, S. 8 f. Franz Schweickhardt, Darstellung des Erzherzogthums Oesterreich unter der Ens, durch umfassende Beschreibung aller Burgen, Schlösser, Herrschaften, Städte, Märkte, Dörfer, Rotten etc. etc. Bd. 11, Wien 1838, S. 160 f. Weiss, Geschichte der öffentlichen Anstalten Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 264 f. Administrationsbericht des Bürgermeisters der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien für das Jahr 1864, Wien 1864, S. 47. Die Armen-Pflege in den Versorgungshäusern (wie Anm. 11), S. 3. Fuchs, Die aufgehobenen Klöster (wie Anm. 34), S. 140–144; Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien Bd. 4, Wien 1995, S. 62 f. Die Armen-Pflege in den Versorgungshäusern (wie Anm. 11), S. 16 f. A ls Beispiel aus dem 20. Jahrhundert siehe Hugo Zeller von Zellenberg, Ein Beitrag zum Ausbau des Versorgungshauses St. Andrä a. d. Traisen, in: Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien X (1911), S. 185–187 (mit Parkprojekt und Gemüsegartenprojekt). Carl Endlicher, Einige Bemerkungen bezüglich einer Reform in den Versorgungsanstalten der Stadt Wien, Wien 1861, S. 4. Zum Reformprozess (22 Punkte umfassende Regulierung der Versorgungshäuser) Gertrud Maria Hahnkamper, Der Wiener Gemeinderat zwischen 1861 und 1864 Bd. 1. Dissertation, Wien 1973, S. 293–295. Administrations-Bericht des Bürgermeisters der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien für die Jahre 1861 und 1862, Wien 1863, S. 41. Löwy, Öffentliche Armenpflege (wie Anm. 10), S. 285. Stephan Sedlaczek, Die Armenpflege im Wiener Armenbezirke in den Jahren 1863–1882, Wien 1884, S. 74. Geburtsort Wien (unten den Pfründnern): 1863–1872 44,3 %; 1873–1881 41,9 %; vor der Aufnahme in die Versorgung in Wien wohnhaft: 1863–1872 81,9 %; 1873–1881 73,2 %. Administrations-Bericht für das Jahr 1871 bis 1873, Wien 1874, S. 735. Zit. nach Florian Benjamin Part, Das Versorgungshaus Mauerbach – eine Armenversorgungsinstitution im 19. Jahrhundert. „Die Versorgten haben daher den ihnen vorgesetzten Beamten, den Hausärzten und dem Benefiziaten mit der gebührenden Achtung zu beachten.“ Dissertation, Wien 2006, S. 108. Fahringer, „Alten und Elenden“ (wie Anm. 7), S. 82. Zit. nach ebd., S. 83. Administrations-Bericht für das Jahr 1899, Wien 1902, S. 288. Die weiteren Zitate in der Folge sind aus diesem Bericht. Stekl, Armenversorgung im liberalen Wien (wie Anm. 1), S. 439 f.; Gerhard Melinz, Susan Zimmermann, Über die Grenzen der Armenhilfe. Kommunale und staatliche Sozialpolitik in Wien und Budapest in der Doppelmonarchie (Materialen zur Arbeiterbewegung 60), Wien-Zürich 1991, S. 158; Zellenberg, Wiener Versorgungshaus (wie Anm. 22), S. 79: […] ist St. Andrä für relativ gesund und ruhige, nicht geisteskranke, verträgliche Personen berechnet. […] Geisteskranke und Renitente können in St. Andrä nicht gepflegt werden, da dieses Versorgungshaus weder über ein gesperrtes Zimmer für

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Martin Scheutz

unruhige Geistessieche noch über eine Korrektionsabteilung oder ein Arrestlokal verfügt. Einst bestanden solche Räume. Seit das Versorgungshaus Ybbs für die Geistessiechen und Epileptiker und Mauerbach für die Alkoholiker Spezialanstalten wurden, sind die obgenannten Separationslokale aufgelassen worden. Abteilung XIb des Wiener Magistrats, Das Wiener Versorgungsheim. Zu seinem zehnjährigen Bestand, in: Blätter für das Armenwesen der Stadt Wien XIII (1914), S. 109–129; Arias, Horn, Hubenstorf, In der Versorgung (wie Anm. 9). Administrationsbericht für das Jahr 1886, Wien 1888, S. 282; siehe auch Administrationsbericht für das Jahr 1885, Wien 1886, S. 310. Melinz, Zimmermann, Über die Grenzen (wie Anm. 59), S. 157. A mtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 1, Wien 1892, S. 2820 (25. November 1892). Parallel dazu erfolgten die Auflassung der Vorortespitäler und die Übernahme in den Wiener Krankenanstaltenfonds Martha Steffal [Helmle], Die Tätigkeit des Wiener Gemeinderates. Dissertation, Wien 1974, S. 90–93. A mtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 2, Wien 1893, S. 348 (10. Februar 1893): Für solche Pfründner, welche sich bereits in den städtischen Humanitätsanstalten befinden und welche sich zum Austritte gegen höhere Pfründenbezüge bereit erklären, werden bei nachgewiesener gänzlicher Erwerbs-, rücksichtlich Arbeitsunfähigkeit Pfründen, rücksichtlich Erhaltungsbeiträge von monatlich 10 fl. und eventuell, wenn nothwendig, von monatlich 12 fl. versuchsweise eingeführt. Siehe ebd. S. 406–408 (2. Februar 1893). Fahringer, „Alten und Elenden“ (wie Anm. 7), S. 62. Zitate in der Folge aus diesem Bericht. Administrationsbericht für das Jahr 1861 und 1862, Wien 1863, S. 42. Administrationsbericht für das Jahr 1863, Wien 1864, S. 48. Fahringer, „Alten und Elenden“ (wie Anm. 7), S. 61. Die Armen-Pflege in den Versorgungshäusern (wie Anm. 11), S. 15. Administrationsbericht für die Jahre 1877 bis 1879, Wien 1881, S. 902. Zum Strafsystem Part, Das Versorgungshaus Mauerbach (wie Anm. 55), S. 161–163. Fahringer, „Alten und Elenden“ (wie Anm. 7), S. 45. Ebd., S. 58 f. Ebd., S. 60. Ebd., S. 68. Zur Diskussion der späten 1870er-Jahre um Verköstigung, Arbeitseinsatz der Pfründner und die Neubearbeitung der Hausordnung Stekl, Armenversorgung im liberalen Wien (wie Anm. 1), S. 443–448. Kunar, Die Pflege (wie Anm. 8), S. 65. Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt 6, Wien 1897, S. 1353 (15. Juni 1897). A mtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt 8, Wien 1899, S. 2167 (6. September 1899). Die Einführung des Kaffees (im November 1898) wird übrigens als Verbesserung hinsichtlich der Erkrankungen des Verdauungsapparates gewertet. Siegfried Mattl, Das wirkliche Leben. Elend als Stimulationskraft der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zu den Werken Max Winters und Emil Klägers, in: Werner Michael Schwarz, Margarethe Szeless, Lisa Wögenstein (Hg.), Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien u. a. 2007, S. 113–117. Leopold Wittelshöfer, Die Versorgungshäuser der Stadt Wien, Wien 1862, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. A  mtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 8, Wien 1899, S. 2169 (6. September 1899). Zusammenfassend Gerd Göckenjan, Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1446), Frankfurt 2000, S. 298–361. A ls Beispiel dafür etwa Heiko Stoff, „Firnisschichten auf verfaultem Holz“. Eine Geschichte des Alters zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Torsten Junge, Imke Schmincke (Hg.), Marginalisierte Kör-

Transfer städtischer Wiener Altersarmut

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per. Zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers, Münster 2007, S. 97–116. 87 S usannah R. Ottaway, The Decline of Life. Old Age in Eighteenth-Century England, Cambridge 2004, S. 266–276. Zur Medikalisierung des Alters (behandelte Konzepte wie etwa „Lebenskurve“, „Lebenskraft“, „Erschöpfung“) Hans-Joachim von Kondratowitz, „Alter“ und „Krankheit“. Die Dynamik der Diskurse und der Wandel ihrer historischen Aushandlungsformen, in: Josef Ehmer, Peter Gutschner (Hg.), Das Alter im Spiel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien-Köln-Wien 2000, S. 109–155, hier S. 129–147. 88 A ls konzise Zusammenfassung hierfür siehe immer noch Hannes Stekl, Vorformen geschlossener Altenhilfe in Österreich. Ihre Entwicklung von Joseph II. bis zur Ersten Republik, in: Helmut Konrad (Hg.), Der alte Mensch in der Geschichte, Wien 1982, S. 122–147. 89 A mtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 11, Wien 1902, S. 912 (13. Mai 1902). 90 Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien Bd. 1, Wien 1992, S. 355. 91 Schwarz, Szeless, Wögenstein, Ganz unten (wie Anm. 80). 92 Michael John, Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – Einst und Jetzt, Wien 21990, S. 13–17. 93 Werner Telesko, Zur Ikonographie der Armut in der europäischen Kunst der Neuzeit in: Hannes Etzelsdorfer (Hg.), Armut. Katalog, Wien 2002, S. 81–91. 94 Wolfgang Greif, Wider die gefährlichen Classen. Zum zeitgenössischen Blick auf die plebejische Kultur im Wiener Vormärz, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2 (1991), S. 59–80; ders., Hinter den Kulissen des Biedermeier. Der zeitgenössische Blick auf die vorproletarischen Unterschichten im Wiener Vormärz, in: Ders. (Hg.), Volkskultur im Wiener Vormärz. Das andere Wien zur Biedermeierzeit (Historisch-anthropologische Studien 6), Frankfurt u. a. 1998, S. 47–66. 95 Zellenberg, Wiener Versorgungshaus (wie Anm. 22), S. 79: Die Hauptmasse der Zuwächse erhält die Anstalt durch Transporte aus Lainz […]. Den Pfleglingen im Versorgungshaus Lainz wird zugleich mit der Aufforderung, sich freiwillig zu melden, bekannt gegeben, daß ein Tranport nach St. Andrä in Aussicht steht. Da die Zahl der sich freiwillig Meldenden viel zu gering ist, bestimmt die Verwaltung eine größere Anzahl. Dabei wird auf Privatverhältnisse Rücksicht genommen. Die Transportliste kommt jetzt zu den Ärzten, die die Tauglichkeit und Transportfähigkeit für St. Andrä feststellen.

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis

Abt. = Abteilung Anm. = Anmerkung AVA = Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv (Wien) Bd./Bde. = Band/Bände Beih. = Beiheft bes. = besonders BPr. = Befragungsprotokoll ders., dies. = derselbe, dieselbe/n ebd. = ebenda ERO = Essex Record Office Fasz. = Faszikel f., ff. = folgende fl. = Gulden fol. = Folio H. = Heft Ha = Herrschaftsarchiv Hg. = Herausgeber HKa = Hofkanzlei HKo = Hofkommission hs = handschriftlich HS = Handschrift KLA = Kärntner Landesarchiv (Klagenfurt) KP = Kriminalprozesse kr. = Kreuzer Kt. = Karton LASH = Landesarchiv Schleswig-Holstein LgK = Landgericht Kufstein MIÖG = Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Nr. = Nummer o. D. = ohne Datumsangabe OJ = oberste Justiz

o. O. = ohne Ortsangabe OÖLA = Oberösterreichisches Landesarchiv (Linz) o. S. = ohne Seitenangabe p. = pagina r = recto S. = Seite Sach = Sachgruppe Sch. = Schuber SLA = Salzburger Landesarchiv (Salzburg) Sp. = Spalte SSt = Sammelsteckbrief StA = Stadtarchiv StaFiLA Bz = Staatsfilialarchiv Bautzen Ste = Steckbriefe StLA = Steiermärkisches Landesarchiv (Graz) Tab. = Tabelle TLA = Tiroler Landesarchiv (Innsbruck) unpag. = unpaginiert v = verso vgl. = vergleiche VPr = Verhörprotokoll

Verzeichnis der Mitarbeiter/innen

Gerhard Ammerer, Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, [email protected] Helmut Bräuer, Leipzig, Historiker, [email protected] Martin Scheutz, Universität Wien, Institut für Österreichische Geschichtsforschung und Institut für Geschichte, [email protected] Elke Schlenkrich, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Mittelalterliche Geschichte Mitteleuropas und regionale Kulturgeschichte, [email protected] Sebastian Schmidt, Universität Trier, Sonderforschungsbereich 600 „Fremdheit und Armut“, [email protected] Otto Ulbricht, Universität Kiel, Historisches Seminar, [email protected] Sabine Veits-Falk, Stadtarchiv Salzburg und Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, [email protected] Christina Vanja, Leiterin des Fachbereichs Archiv, Gedenkstätten, Historische Sammlungen des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen und Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Geschichte, [email protected] Alfred Stefan Weiß, Universität Salzburg, Fachbereich Geschichte, [email protected]