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German Pages 297 Year 2018
E THIK UND R ECHT Band 6
Armut als Gegenstand der Ethik Eine Rechte- und Pflichtenanalyse
Von
Tanja Munk
Duncker & Humblot · Berlin
TANJA MUNK
Armut als Gegenstand der Ethik
Ethik und Recht Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Silja Vöneky
Band 6
Armut als Gegenstand der Ethik Eine Rechte- und Pflichtenanalyse
Von
Tanja Munk
Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D 82 (Diss. RWTH Aachen University, 2015) Alle Rechte vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2363-6807 ISBN 978-3-428-15075-5 (Print) ISBN 978-3-428-55075-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85075-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Philosophischen Institut der RWTH Aachen und dem Philosophischen Seminar der Universität zu Köln. Sie wurde im November 2015 von der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen als Dissertation angenommen. Die Erstellung und Überarbeitung des Manuskripts wäre jedoch zu einem schlechteren Ende gelangt, wären da nicht Menschen gewesen, die mich „in guten wie in schlechten Zeiten“ unterstützt hätten und denen ich Dank schulde. Zuvorderst möchte ich den beiden Betreuern und Gutachtern der Arbeit – Prof. Dr. Markus Stepanians und Prof. Dr. Wulf Kellerwessel – danken. Beide haben die Entstehung der Arbeit von Anfang an begleitet und mir die Gelegenheit gegeben, Teile davon in Doktorandenkolloquien und individuellen Betreuungsgesprächen zu diskutieren. Auch für die zügige Erstellung der Gutachten im August 2015 möchte ich ihnen an dieser Stelle noch einmal herzlich danken. Dank schulde ich überdies Wilfried Hinsch und Markus Stepanians für kontroverse, aber stets konstruktive und hilfreiche Diskussionen über die Themenstellung und einzelne Teile der Arbeit. Wilfried Hinsch möchte ich zudem für wertvolle Hinweise und kritische Anmerkungen in Bezug auf das fertige Manuskript danken. Danken möchte ich auch Dr. Daniel Eggers für das gute kollegiale und menschliche Miteinander in den vergangenen Jahren. Für ihre Unterstützung als wissenschaftliche Hilfskraft in den beiden letzten Jahren wie auch für die Durchsicht einer der letzten Fassungen des hier veröffentlichten Manuskripts mit Blick auf die Rechtschreibung danke ich Franziska Lutz. Für den letzten Motivationsschub, die nötige Abwechslung und die allgemein-menschliche Unterstützung haben in den vergangenen Jahren vor allem Astrid und Lutz Riebel, Markus Munk, Dr. Frank Esken und – besonders in der Endphase – Julia Oelgart, Yvonne Müther und Maren Blumenstock gesorgt. Auch ihnen möchte ich danken. Wilfried Hinsch, Markus Stepanians, Wulf Kellerwessel und Daniel Eggers schulde ich für ihre menschliche Unterstützung ebenfalls Dank. Alexandra Quitsch danke ich für eine langjährige Freundschaft auch über größere geografische Distanzen hinweg. Last but not least gilt mein Dank Christine Hauck, die in meiner Jugend das Interesse an sozialpolitischen Themen und Fragestellungen in mir geweckt hat, ohne welches diese Arbeit nicht entstanden wäre. Köln, im Dezember 2017
Tanja Munk
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 A.
Die offene Frage im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 I.
Das „Grundrecht“ auf ein menschenwürdiges soziales Minimum . . . . . . . . 20
II.
Verfassungsrechtliche Kriterien zu der inhaltlichen Ausgestaltungeines menschenwürdigen sozialen Minimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
B. Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 I.
Subjektives und objektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
II.
Juridische und moralische Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
III. „Recht“ als generischer Begriff und „Recht“ im strikten Wortsinn . . . . . . . 30 IV. Ansprüche und Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 V.
Privilegien, Kompetenzen und Immunitäten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
VI. Komplexe und atomare Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 VII. Negative und positive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 VIII. Begünstigten- vs. Entscheidungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 C.
Zwei grundlegende Unterscheidungen in der Armutsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I.
Absolute und relative Armut .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
II.
1. Armutsschwellen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Dimensionen der Armut .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Subjektive und objektive Armut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Vorzüge subjektiver Armutsverständnisse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Nachteile subjektiver Armutsverständnisse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
D.
Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern 76 I.
Was ist ein Kind? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
II.
Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
III. Die Grenzen der Selbstbestimmung Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 IV. Sollen Kinder stärker in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werden als Erwachsene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 V. E.
Förderung und Einschränkung der Selbstbestimmung von Kindern . . . . . . 90
Ressourcenorientierte Armutsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 I.
Armut als Mangel an Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Inhaltsverzeichnis
8
II.
Armut als Mangel an Grundgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorzüge des Grundgüteransatzes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Problematische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rawls’ erster Vorschlag zu der Bestimmung eines sozialen Minimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mangelnde Berücksichtigung individueller Unterschiede in der Lebenslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Problem der Parteilichkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rawls’ zweiter Vorschlag zu der Bestimmung eines sozialen Minimums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
F.
107 109 111 113
Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I.
Armut als mangelnde Befriedigung von Grundbedürfnissen . . . . . . . . . . . . . 117
II.
1. Vorzüge der Grundbedürfnisansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Problematische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Armut als Capability-Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Die Grundzüge des Capability-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Notwendigkeit einer objektiven Bestimmung der Komponenten des Wohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bestimmung der Komponenten des Wohls in Sens Konzeption . . 4. Kritik an Sens Vorgehensweise .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Ausgestaltung des Capability-Ansatzes bei Nussbaum . . . . . . . . . . . 6. Das Auffinden der Komponenten des menschlichen Wohls in Nussbaums Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die wesentlichen Merkmale des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Menschsein und menschliches Wohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Vorzüge des Capability-Ansatzes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
G.
104 107 107
125 133 135 138 141 148 150 155 157
Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 I.
Wahl und Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls– ein Alternativvorschlag zu Sen und Nussbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Der moralische Anspruch auf bzw. die Pflicht zu der Förderung des menschlichen Wohls in Nussbaums Ansatz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Unzulänglichkeiten bei der Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls und der Festlegung der institutionellen Rahmen bedingungen in Nussbaums Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Unzulänglichkeiten der Nussbaum’schen Vorgehensweise bei der Auswahl der Komponenten des Wohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4. Modifikationen in Nussbaums späteren Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5. Kritik an Nussbaums modifizierter Variante des Capability-Ansatzes 177 6. Die Komponenten des menschlichen Wohls in dem Ansatz von Finnis, Boyle Jr. und Grisez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
Inhaltsverzeichnis
II.
7. Welche Probleme der Nussbaum’schen Konzeption lassen sich mithilfe des Ansatzes von Finnis (et al.) vermeiden? .. . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Beseitigung von Streitigkeiten über die Komponenten des menschlichen Wohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Notwendigkeit der Ergänzung um eine moralische Perspektive . . . Eine Möglichkeit zu der Beseitigung des Paternalismus-Problems .. . . . . . .
9
184 186 187 190
III. Übertragung auf den Fall der Kinderarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 IV. Armut und individuelle Verantwortung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 H.
Pflichten zur Armutsbekämpfung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 I.
Aus Armut resultierende Ansprüche und Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
II.
Der bedarfsbezogene Anspruch auf ein Leben frei von Armut .. . . . . . . . . . . 216
III. Armutsbekämpfung und Pflichtenallokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Die Möglichkeit der Pflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Das Ausmaß der Pflichten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3. Belastbarkeits- und Fairnesseinwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4. Einige Gründe gegen das Bestehen internationaler Hilfspflichten . . . . 245 5. Internationale Hilfspflichten und das Problem der Überbevölkerung . 249 6. Entgegnung auf das Problem der Überbevölkerung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 7. Zwischenbilanz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 8. Probleme der Pflichtenallokation im vorinstitutionellen Zustand . . . . . 256 9. Institutionalisierungspflichten als gemeinsame Pflichten .. . . . . . . . . . . . 261 a) Voraussetzungen gemeinsamen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Unterschiede zwischen individuellen und gemeinsamen Pflichten . 263 c) Der Beitrag zu der Erfüllung gemeinsamer Pflichten . . . . . . . . . . . . . . 264 d) Die Pflicht, andere zu der Erfüllung gemeinsamer Pflichten zu bewegen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 e) Gemeinsame Pflichten und die Bekämpfung von Armut . . . . . . . . . . . 266 f) Gibt es ein vorinstitutionelles „Recht“ auf die geforderten Institutionen? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 g) Ist die Erfüllung aller korrespondierenden Pflichten möglich? . . . . . 270 I. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Einleitung Einleitung
Deutschland ist weithin bekannt für seine umfassende Sozialstaatlichkeit. Zu dieser gehört auch die Gewährleistung eines menschenwürdigen soziokulturellen Minimums, auf welches all jene einen Anspruch haben, die sich nicht selbst versorgen können. Und auch auf internationaler politischer Ebene wird – z. B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)1 – seit Langem gefordert, allen Menschen ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zuzugestehen.2 Trotz vielfältiger Bemühungen der Bekämpfung von Armut durch staatliche, nicht-staatliche und überstaatliche Akteure und Institutionen besteht die weltweite Armut jedoch weiter fort, auch wenn sich ein Rückgang derselben gleichwohl verzeichnen lässt: So ist UN-Angaben zufolge der Anteil der Menschen, die in den Entwicklungsländern von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben, seit dem Jahr 1990 von fast 50 Prozent auf circa 14 Prozent im Jahr 2015 zurückgegangen.3 Und während im Jahr 1990 noch knapp vier von zehn Menschen mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag auskommen mussten, war dies im Jahr 2013 laut Erhebungen der Weltbank „nur noch“ für einen von zehn Menschen der Fall.4 Das Ziel dieser Arbeit besteht nun nicht darin, sozialwissenschaftliche Erhebungen zu der Frage nach der Entwicklung des Ausmaßes nationaler oder internationaler Armut auszuwerten oder gar eigene Untersuchungen dieser Art vorzustellen. Ebenso wenig soll hier ein Beitrag zu der Frage nach den strukturellen Ursachen oder den effizientesten Strategien zu der Beseitigung von Armut geleistet werden; Fragen dieser Art fallen in den Gegenstandsbereich der Ökonomie sowie der Poli1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, URL: http://www. un.org/depts/german/gv/fs_gv_zwischenseite.html, unter A/RES/217 A (III), letzter Zugriff: 17. 08. 2017. 2 Vgl. etwa Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen, URL: http://www.un.org/ Depts/german/wirtsozentw/fs_wirtsoz.html, unter A/RES/55/2, letzter Zugriff: 22. 07. 2015; Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, URL: http://www.unric.org/html/ german/mdg/index.html, letzter Zugriff: 02. 12. 2016; Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, URL: http://www.un.org/depts/german/gv-70/ a70-l1.pdf, letzter Zugriff: 06. 11. 2017. 3 Insgesamt lebten damit im Jahr 2015 weltweit immer noch rund 836 Millionen Menschen in extremer Armut. Vgl. Millenniums-Entwicklungsziele. Bericht 2015, 4, URL: http:// www.bmz.de/de/mediathek/publikationen/reihen/infobroschueren_f lyer/infobroschueren/Materialie267_Millenniums_Entwicklungsziele_Bericht_2015.pdf, letzter Zugriff: 18. 08. 2017. 4 Insgesamt leben damit den Angaben der Weltbank zufolge immer noch mehr als 767 Millionen Menschen in extremer Armut. Vgl. Weltbank – Understanding Poverty, URL: http://www.worldbank.org/en/understanding-poverty, letzter Zugriff: 18. 08. 2017.
12
Einleitung
tik- und Sozialwissenschaften.5 In dieser Arbeit, die aus dem Blickwinkel der Philosophie verfasst wurde, wird vielmehr zunächst die Frage untersucht, welches die Kriterien und Anforderungen sind, denen jedwede Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums gerecht werden muss. Als „menschenwürdig“ wird hier eine grundlegende Versorgung verstanden, von der wir aus einer moralischen oder unparteiischen Perspektive annehmen würden, dass sie jedem Hilfsbedürftigen zugänglich sein sollte. Es wird angenommen, dass durch die Bereitstellung eines derart beschaffenen sozialen Minimums diejenigen Formen des Mangels beseitigt werden, die nicht aus irgendwelchen, sondern aus moralischen Gründen als ein nicht hinnehmbares Übel betrachtet werden, und auf deren Beseitigung jeder Hilfsbedürftige unabhängig von Herkunft, Alter, Staatsangehörigkeit, sexueller Orientierung, Geschlecht oder ethnischer und religiöser Zugehörigkeit prima facie einen individuellen Anspruch besitzt, welcher es begründet erscheinen lässt, anderen entsprechende Hilfspflichten aufzuerlegen. Formen des Mangels, für die dies gilt, können auch als „moralisch relevante Armut“ bezeichnet werden. Die Frage nach den moralischen Kriterien und Anforderungen für die Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums soll in dieser Arbeit nicht bloß – wie dies häufig geschieht – pauschal für den Menschen diskutiert werden, wobei mit „Mensch“ üblicherweise der erwachsene Mensch gemeint ist. Es soll vielmehr auch der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern die Kriterien und Anforderungen, die an eine grundlegende Versorgung gestellt werden müssen, zu modifizieren sind, wenn es sich bei einem Hilfsbedürftigen nicht um einen Erwachsenen, sondern um ein Kind handelt. Anhand der entwickelten ethischen Kriterien und Anforderungen sollte es dann am Ende der Arbeit möglich sein, zu beurteilen, inwieweit ein in der Sozialpolitik und -gesetzgebung oder in der empirischen Sozialforschung verwendetes Armutsverständnis einer kritischen moralischen Überprüfung standhält oder sich als korrektur- und ergänzungsbedürftig erweist. Der Versuch einer solchen Überprüfung soll am Ende der Arbeit in einer schematischen und exemplarischen Weise mit Blick auf diejenigen Kriterien und Anforderungen erfolgen, die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem grundlegenden Urteil vom 09. Februar 2010 – zum Teil aus vorangehenden gerichtlichen Entscheidungen stammend – zusammengetragen hat und denen jedwede konkrete Ausgestaltung des Rechts auf ein menschenwürdiges soziales Minimum durch den Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland gerecht werden muss.6 Ein weiterer Gegenstand dieser Arbeit ist die Frage, was es eigentlich heißt, dass einem Akteur der Zugang zu einem menschenwürdigen sozialen Minimum in der 5 Vgl. zu den Grenzen der Beiträge der Philosophie bzw. der Ethik und Politischen Philosophie zu dem Thema der Armutsbekämpfung auch Hinsch (2003). Vgl. zu der Frage nach effizienten Strategien zu der Bewältigung von Armut auf der Grundlage ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse etwa Sachs (2007); Banerjee/Duflo (2011); Duflo (2013). 6 Vgl. BVerG NJW 2010, 505 ff.
Einleitung
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Form eines „moralischen“ oder „juridischen Rechts“ zugestanden wird. Die in diesem Zusammenhang angestellten rechtsphilosophischen bzw. -theoretischen Erörterungen sollen nicht nur dazu dienen, eine größere begriffliche Klarheit in Bezug auf den Rechtsbegriff im Allgemeinen zu erlangen, sondern sie sollen auch eine Antwort auf die Frage ermöglichen, ob und in welchen Kontexten es überhaupt sinnvoll erscheint, soziale Leistungen als Gegenstand moralischer oder juridischer Rechte zu betrachten. Im letzten Teil dieser Arbeit wird es dann um die Frage gehen, welche Arten von Pflichten dem Recht auf ein menschenwürdiges soziales Minimum korrespondieren, wenn der Gegenstand dieses Rechts den in den vorangehenden Teilen dieser Arbeit entwickelten ethischen Kriterien und Anforderungen genügt. Auch wird dort die Frage diskutiert, welchen Akteuren diese Pflichten zur Bekämpfung von Armut als obliegend betrachtet werden müssen. Der Aufbau der Arbeit im Einzelnen Im deutschen Grundgesetz (GG) wird kein explizites soziales Recht auf ein menschenwürdiges soziales Minimum genannt. Dennoch muss der Anspruch auf ein soziales Minimum der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge in Deutschland als verfassungsrechtlich garantiert gelten, wie in Kapitel A. dargelegt wird.7 Es wird dort überdies die Auffassung vertreten, dass diese Interpretation des GG zu begrüßen ist, da die üblicherweise in der Staatsrechtslehre angeführten Gründe, die gegen eine verfassungsrechtliche Garantie eines menschenwürdigen sozialen Minimums sprechen, nicht zu überzeugen vermögen. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in einem Urteil vom 09. Februar 2010 grundlegende Verfahrensrichtlinien und inhaltliche Kriterien benannt, der jedwede Ausgestaltung des sozialen Minimums durch den Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland genügen muss.8 Die in dem Urteil benannten Vorgaben werden in Kapitel A. nachgezeichnet. In Kapitel B. wird erläutert, was es heißt, ein „Recht“ – sei es auf ein menschenwürdiges Minimum oder auf irgendein anderes Gut – zu besitzen. In Anlehnung an Wesley Hohfeld und Joel Feinberg werden vier grundlegende Typen von Rechten sowie „einfache“ und „komplexe“ Rechte voneinander unterschieden. Auch werden weitere Bedingungen entwickelt, die erfüllt sein müssen, damit man von einem Akteur sagen kann, dass er ein Recht besitzt. Im Zug der Entwicklung des in dieser Arbeit verwendeten Rechtsverständnisses wird überdies entlang der Ansätze von David Lyons und Herbert Hart exemplarisch die in der Rechtsphilosophie bzw. -theorie übliche Unterscheidung zwischen der Begünstigten- und der Entscheidungstheorie des Rechts vorgestellt und diskutiert. Es wird die These vertreten, dass sich die Bedeutung dessen, was es heißt, „ein Recht zu besitzen“, besser mithilfe der Entscheidungstheorie erfassen lässt. Des Weiteren zuletzt wird 7 8
Vgl. z. B. BVerG NJW 2010, 505 . Vgl. ebd., 505 ff.
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Einleitung
es sich als nötig erweisen, weitere grundlegende rechtsphilosophische Begrifflichkeiten und Unterscheidungen einzuführen und zu diskutieren, wie beispielsweise diejenige zwischen „moralischen“ und „juridischen“ oder diejenige zwischen „positiven“ und „negativen“ Rechten. Die Kapitel C. bis G. widmen sich der Frage, welche Kriterien und Anforderungen jedwede Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums aus einer moralphilosophischen Perspektive erfüllen muss. Es geht dort – anders gesagt – also um die Frage nach der moralisch oder ethisch angemessenen Explikation des Armutsbegriffs. Eine der Fragen, die sich hinsichtlich dieser Explikation stellt, ist die, ob „Armut“ in einer „absoluten“ oder in einer „relativen“ Weise verstanden werden sollte. In Kapitel C. I. wird mit Blick auf Überlegungen von Adam Smith, Peter Townsend, Amartya Sen und Martha Nussbaum zunächst gezeigt, dass sich die Unterscheidung zwischen „absoluten“ und „relativen“ Armutsverständnissen nicht so einfach gestaltet, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es wird des Weiteren die These vertreten, dass ein moralisch angemessenes Armutsverständnis sowohl „absolute“ als auch „relative“ Komponenten aufweisen muss. In Kapitel C. II. geht es dann um die Frage, ob moralisch relevante Armut mithilfe eines „subjektiven“ oder eines „objektiven“ Maßstabs ermittelt werden sollte. Es wird deutlich werden, dass ein ethisch angemessenes Armutsverständnis kein subjektives – und damit kein an den faktischen Wünschen und Präferenzen bzw. dem „Armutsempfinden“ der einzelnen Menschen orientiertes – sein sollte. In Kapitel D. wird dargelegt, inwiefern der in moralischer Hinsicht wesentliche – und für die Armutsdebatte relevante – Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen in deren unterschiedlich entwickelter Autonomie- resp. Selbstbestimmungsfähigkeit besteht. Dieser Unterschied lässt es, wie allgemein angenommen wird, gerechtfertigt oder sogar geboten erscheinen, die Selbstbestimmung von Kindern in höherem Maß einzuschränken als diejenige Erwachsener. Einer Argumentationslinie von John Stuart Mill und Joel Feinberg folgend, wird die Auffassung vertreten, dass die Selbstbestimmung Erwachsener nur eingeschränkt werden darf, wenn deren Autonomie- bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit beeinträchtigt ist oder das Wohl Dritter auf dem Spiel steht; in allen anderen Fällen sollte deren Selbstbestimmung in möglichst großem Umfang gewahrt werden. In Anlehnung an Feinberg wird zudem die Auffassung vertreten, dass die Selbstbestimmung von Kindern ebenfalls in möglichst großem Umfang gewahrt werden sollte. Dabei zeigt sich, dass dies im Fall von Kindern – anders als im Fall Erwachsener – bestimmte Formen paternalistischer Eingriffe nicht ausschließt. In Kapitel G. III. wird deutlich, inwiefern diese gebotene unterschiedliche Behandlungsweise von Kindern und Erwachsenen in der Konsequenz auch dazu führt, dass die sozialen Minima für beide Personengruppen in einer unterschiedlichen Weise ausgestaltet werden sollten. Eine weitere Frage, die sich hinsichtlich einer ethisch angemessenen Explikation des Armutsbegriffs stellt, ist die, anhand welches objektiven Maßstabs – die Verwendung subjektiver Maßstäbe wird ja bereits in Kapitel C. II. ausgeschlossen
Einleitung
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– ermittelt werden sollte, ob „Armut“ im Leben eines Menschen vorliegt. In den Kapiteln E. und F. werden die in der Philosophie gängigen Antworten auf diese Frage vorgestellt und diskutiert. Die Diskussion in Kapitel E. führt zu dem Ergebnis, dass ressourcenorientierte Armutsverständnisse nicht dazu geeignet sind, den Armutsbegriff in einer ethisch angemessenen Weise zu explizieren. Dies wird in Kapitel E. I. mit Blick auf die ausschließlich am Einkommen orientierten Armutskonzepte und in Kapitel E. II. mit Blick auf ein mithilfe von John Rawls’ Grundgüterliste expliziertes Armutsverständnis verdeutlicht. Es zeigt sich, dass ein moralisch angemessenes Armutskonzept stattdessen auf eine objektive Vorstellung des minimalen menschlichen Wohls zurückgreifen muss. Dieser Forderung entsprechen sowohl der Grundbedürfnisansatz, wie er z. B. von Frances Stewart vertreten wird, als auch der von Amartya Sen und Martha Nussbaum vertretene Capability-Ansatz. Die drei genannten Positionen sollen in Kapitel F. exemplarisch für an dem minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse diskutiert werden. Die Diskussion von Stewarts Grundbedürfnisansatz zeigt in Kapitel F. I., dass der Ansatz – trotz seiner Vorzüge gegenüber ressourcenorientierten Ansätzen – nicht vollkommen angemessen zu der Erfassung moralisch relevanter Armut ist. Eine ethisch angemessene Explikation des Armutsbegriffs sollte vielmehr, wie in Kapitel F. II. deutlich werden wird, mithilfe des Capability-Ansatzes erfolgen, da ein solches Armutsverständnis – zumindest auf den ersten Blick – die mit den anderen Ansätzen einhergehenden Probleme weitgehend vermeidet. Da sich Sens Armutsverständnis als inhaltlich unterbestimmt erweist (siehe Kap. F. II. 3. und F. II. 4.), konzentriert sich die Auseinandersetzung im weiteren Verlauf in den Kapiteln F. und G. vornehmlich auf die von Nussbaum vertretene Variante des Capability-Ansatzes. In Kapitel G. wird Nussbaums Konzeption einer grundlegenden Kritik unterzogen. Als nicht überzeugend erweist sich vor allem, wie in Kapitel G. I. deutlich werden wird, die von Nussbaum vorgeschlagene Vorgehensweise zum Ausfindigmachen der Komponenten des minimalen objektiven Wohls. Um einige der damit verbundenen Unzulänglichkeiten zu vermeiden, wird – aufbauend auf Überlegungen von Sabina Alkire und Rufus Black – der Vorschlag unterbreitet, Nussbaums Vorgehensweise zu der Bestimmung der Elemente des menschlichen Wohls durch eine von John Finnis, Joseph Boyle Jr. und Germain Grisez vorgeschlagene Vorgehensweise zu ersetzen. Es erweist sich dabei allerdings als notwendig, die Ideen von Finnis et al. durch eine Variante des „Schleiers des Nichtwissens“, wie er sich in John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie findet, zu ergänzen, um zu einem auch aus moralischer Perspektive befriedigenden Ergebnis zu gelangen. In Kapitel G. II. wird kritisch hinterfragt, ob ein an Nussbaums Ansatz orientiertes Armutsverständnis – anders als diese dies selbst annimmt – mit einem Paternalismus-Problem konfrontiert ist, was zumindest dann problematisch erscheint, wenn wir es mit erwachsenen Hilfsbedürftigen zu tun haben. Um dieses Problem zu vermeiden, wird auch in dieser Hinsicht ein Vorschlag zur Modifikation des Nussbaum’schen Ansatzes unterbreitet.
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Einleitung
Kapitel G. III. zeigt, dass der Capability-Ansatz überdies einen geeigneten Ansatz zu der Erfassung von Kinderarmut darstellt, da er mit den in Kapitel D. herausgearbeiteten Annahmen über den angemessenen Umgang mit Kindern in Einklang steht: Zum einen liegt dem Ansatz die Forderung zugrunde, die Selbstbestimmung der Menschen möglichst zu wahren. Zum anderen liefert er eine objektive Vorstellung des minimalen menschlichen Wohls, zu deren Verwirklichung jeder Mensch mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter in der Lage sein sollte, und gibt uns damit ein Kriterium an die Hand, mit dessen Hilfe sich entscheiden lässt, welche stark paternalistischen Eingriffe in das Verhalten von Kindern gerechtfertigt oder sogar erforderlich erscheinen. In Kapitel G. IV. wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit es bei dem Zugeständnis eines Rechts auf ein soziales Minimum eine Rolle spielen sollte, auf welche Weise ein hilfsbedürftiger Mensch in Armut hineingeraten ist (retrospektiver Aspekt der Armut), und welche Optionen ihm offenstehen, um sich selbst wieder aus dieser Notlage zu befreien (prospektiver Aspekt der Armut). Der Capability-Ansatz selbst liefert auf diese Frage keine befriedigende Antwort und bedarf in dieser Hinsicht ebenfalls der Ergänzung. In Kapitel H. wird zunächst dargelegt, welche Arten von Pflichten dem Recht auf ein soziales Minimum korrespondieren, wenn dessen Ausgestaltung den in den Kapiteln C. bis G. entwickelten ethischen Kriterien und Anforderungen genügt (siehe Kapitel H. I.). In Kapitel H. II. wird anknüpfend an Wilfried Hinsch die These vertreten, dass der Anspruch auf die Bereitstellung materieller Hilfeleistungen, aus denen sich das Recht auf ein soziales Minimum u. a. zusammensetzt, als „bedarfsbezogener Anspruch“ verstanden werden sollte: Ansprüche dieser Art lassen es prinzipiell gerechtfertigt erscheinen, die ihnen korrespondierenden natürlichen Pflichten allen Akteuren aufzuerlegen, denen ihre Erfüllung möglich und zumutbar ist. Die Frage, welchen Akteuren die Erfüllung derartiger Pflichten möglich und zumutbar ist, wird dann Gegenstand von Kapitel H. III. sein. In Anlehnung an Peter Singer wird die Auffassung vertreten, dass wir sowohl in einem institutionellen als auch in einem vorinstitutionellen Zustand bei dem Vorliegen sehr schlimmer Übel, wie dem der Armut, im Zweifelsfall dazu verpflichtet sind, solange Hilfeleistungen bereitzustellen, bis wir durch das Erbringen weiterer Leistungen selbst Gefahr laufen würden, in moralisch relevante Armut in dem in dieser Arbeit dargelegten Sinn zu geraten. Unter einem „vorinstitutionellen Zustand“ wird hier ein Zustand verstanden, in dem eine positiv-rechtliche Garantie der infrage stehenden Ansprüche durch entsprechende Institutionen (noch) nicht gewährleistet ist; ein Zustand, in dem derartige Institutionen existieren, wird entsprechend als „institutioneller Zustand“ bezeichnet. In Kapitel H. III. werden Einwände diskutiert – und soweit wie möglich entkräftet –, die sich gegen das Bestehen umfangreicher Hilfspflichten erheben lassen. Des Weiteren wird deutlich werden, dass es – u. a. um Fairness-Probleme unter den Pflichtenträgern zu vermeiden – geboten erscheint, die Erfüllung des Rechts auf
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ein Leben frei von Armut zumindest teilweise durch Institutionen positiv-rechtlich zu schützen. Nicht zuletzt wird die Auffassung vertreten, dass die in dieser Arbeit u. a. postulierte Pflicht, diejenigen Institutionen aufzubauen und zu erhalten, die zu der Verwirklichung und Durchsetzung des Rechts auf ein menschenwürdiges soziales Minimum insgesamt vonnöten sind – und von denen angenommen wird, dass sie dem Recht auf ein soziales Minimum ebenfalls korrespondieren – als „gemeinsame“ Pflichten in einem von Stephan Schlothfeldt vorgeschlagenen Sinn verstanden werden sollten. In dem abschließenden Kapitel I. werden die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst. Im Zug dessen soll auch aufgezeigt werden, wie sich mithilfe der in den Kapiteln C. bis G. entwickelten Kriterien und Anforderungen überprüfen lässt, ob ein z. B. in der Sozialgesetzgebung verwendetes Armutsverständnis einer kritischen moralischen Überprüfung standhält oder sich als korrektur- und ergänzungsbedürftig erweist. Eine solche Überprüfung soll, wie eingangs angekündigt, in einer schematischen und exemplarischen Weise für die in Kapitel A. zusammengefassten Vorgaben erfolgen, die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 09. Februar 2010 zusammengestellt hat und denen jedwede Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums durch den Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland genügen muss.9
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Vgl. BVerG NJW 2010, 505 ff.
A. Die offene Frage im Grundgesetz A. Die offene Frage im Grundgesetz
Der Frage nach der Explikation des Armutsbegriffs kommt in Deutschland im juridischen Recht eine große Bedeutung zu, denn im Grundgesetz (GG) werden keine sozialen Rechte – nicht einmal ein soziales Recht auf ein (menschenwürdiges) Minimum – genannt. Allein Art. 20 Abs. 1 verweist im GG direkt auf die Sozialstaatlichkeit des deutschen Staats; der Artikel wird auch als „Sozialstaatsprinzip“ bezeichnet und besagt: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Im Gegensatz zu anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien finden sich für dieses Prinzip im GG praktisch keinerlei Artikel, die man als Ausführungsbestimmungen dieses Prinzips verstehen könnte, und die zu einer klaren Auslegung und Anwendung dieses Prinzips führen würden.1 Der einzige Verfassungsartikel, der als Leitlinie zur Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips verstanden werden kann und verstanden wird, aber seinem Inhalt nach selbst sehr abstrakt ist, ist Art. 1 Abs. 1 des GG, der besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“2 Für den Umstand, dass sich in der deutschen Verfassung nur das vage formulierte Sozialstaatsprinzip findet, lassen sich verschiedene Gründe anführen. Ein erster Grund muss (i) in der Genese des GG gesehen werden: Das abstrakt gehaltene Sozialstaatsprinzip stellte den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, auf den sich die Vertreter des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee unter Rückgriff auf verschiedene Traditionen und Weltanschauungen im Jahr 1948 und im Anschluss daran der Parlamentarische Rat, der diesen Verfassungsvorschlag weiterbearbeitete und am 08. Mai 1949 zu verabschieden hatte, hatten einigen können. In der Abstraktheit der Formulierung des Sozialstaatsprinzips muss demnach einer der
1 Vgl. Herzog (2010b), 304. So findet sich in der Verfassung beispielsweise keine Forderung nach dem Aufbau von Institutionen, die Hilfeleistungen für Arbeitslose und sonstige Hilfsbedürftige koordinieren und bereitstellen. Ebenso wenig werden Kriterien genannt, anhand derer ein soziokulturelles Minimum für Hilfsbedürftige auszugestalten wäre. 2 Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Verfassung stellt prinzipiell eine weitere Hilfe zur Interpretation und Ausgestaltung von Prinzipien und Rechten des GG dar. Diesem Grundsatz zufolge muss die Interpretation und Ausgestaltung aller Rechte und Prinzipien mit den sonstigen Prinzipien und Rechten der Verfassung in Einklang stehen (vgl. ebd., 312; ders. (2010a), 18). Dieser Grundsatz kann jedoch bei der Beantwortung der Frage, wie ein sozial garantiertes Minimum auszugestalten wäre, kaum weiterhelfen. Vielmehr erscheint es schwierig, durch eine der genannten Weisen einen materiellen Inhalt aus dem verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip herzuleiten (vgl. ders. (2010b), 313 f.).
A. Die offene Frage im Grundgesetz
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Gründe gesehen werden, weshalb die Sozialstaatlichkeit, wenn auch nur in sehr vager Form, überhaupt Aufnahme in die deutsche Verfassung fand.3 Ein anderer Grund, der für das Fehlen sozialer Rechte und näherer Ausführungsbestimmungen des Sozialstaatsprinzips in der Verfassung angeführt werden kann, besteht (ii) darin, dass die Sozialpolitik häufig bloß als ein Reagieren auf sich stetig ändernde Problemsituationen wahrgenommen wurde: Im 19. Jahrhundert wurde die Sozialpolitik als eine Reaktion auf die Verelendung der Arbeiterschaft, die gegen die wichtigsten Ursachen sozialer Unsicherheit abgesichert werden sollte, gesehen; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand eine der Hauptaufgaben der Sozialpolitik darin, die Lasten des Kriegs möglichst gleichmäßig auf die gesamte Bevölkerung zu verteilen. Und in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wurde es zu einer Hauptaufgabe, die Versorgung der Erwerbslosen abzusichern und diesen möglichst bald wieder eine Erwerbstätigkeit zu vermitteln. Ein vage gehaltenes Sozialstaatsprinzip räumt, so könnte man also sagen, dem Gesetzgeber den nötigen Freiraum ein, um auf unterschiedliche Problemlagen mit unterschiedlichen Maßnahmen zu reagieren.4 Ein weiterer Grund (iii) für die bloß vagen Ausführungen zu der Sozialstaatlichkeit im GG findet sich in der Staatsrechtslehre: Der fraglichen Auffassung zufolge impliziert die in der Verfassung verankerte Forderung, eine freiheitliche Demokratie als Staatsform einzurichten, dass die Verfassung selbst neutral gegenüber der Frage, wie das „Gemeinwohl“ durch die Sozialpolitik zu fördern sei, bleiben müsse. Überdies sei unklar, ob es überhaupt ein als richtig zu erkennendes „Gemeinwohl“ gebe, das es dann nur noch zu verwirklichen gelte.5 Eine zu „kompakte“ Auslegung des Sozialstaatsprinzips durch den Verfassungsgeber wird des Weiteren auch deshalb als unzulässig betrachtet, weil er dadurch zu einem Schiedsrichter zwischen bestehenden politischen Strömungen würde; die Aufgabe des Verfassungsgebers bestehe aber in einer pluralen und freiheitlichen Gesellschaft darin, verschiedene politische Strömungen möglichst auf der Grundlage eines gemeinsamen Wertegefüges zusammenzuführen.6 Aus diesem Grund solle die Sozialpolitik vor allem als eine Ermessensentscheidung des Gesetzgebers betrachtet werden und nicht als vornehmliche Aufgabe des Verfassungsvollzugs. Die „gängige Formel“, auf die die Aufgabe des Verfassungsgebers in der verfassungsrechtlichen Literatur gebracht wird, ist dann auch die, dass dieser bloß sicherstellen soll, dass keine „unsoziale Politik“ vonseiten des Gesetzgebers betrieben wird;7 in Bezug auf die Bereitstellung eines menschenwürdigen sozialen Minimums obliegt dem Bundesverfassungsgericht entsprechend die Aufgabe, zu überprüfen, ob die bereitgestell-
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Vgl. ebd., 308 f. Vgl. ebd., 305 ff. 5 Vgl. ders. (2010a), 19 f. 6 Vgl. ders. (2010b), 308 f. 7 Vgl. ebd., 311 f.; aber z. B. auch BVerG NJW 2010, 505 . 4
A. Die offene Frage im Grundgesetz
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ten Hilfeleistungen „evident unzureichend“ sind.8 Einem solchen Bedürfnis der Verfassung nach Offenheit in Bezug auf das durch die Sozialpolitik geförderte „Gemeinwohl“ entspricht das weitgehende Fehlen von Ausführungsbestimmungen zur Umsetzung des Sozialstaatsprinzips im GG.9 Die fehlende Vorhersehbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg muss (iv) als weiterer Grund dafür angesehen werden, dass die Sozialstaatlichkeit bloß in vager Form Aufnahme in die Verfassung fand: Denn geht man davon aus, dass die Realisierung von Sozialstaatlichkeit – im Gegensatz zur Garantie der im Grundrechtskatalog angeführten Rechte – stets mit hohen personellen und finanziellen Aufwendungen verbunden ist, können soziale Rechte nicht unter allen Umständen garantiert werden.10 Oder anders ausgedrückt: Während sich der Staat bei den verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten im Zweifelsfall darauf zurückziehen kann, staatliche Übergriffe zu unterlassen und die infrage stehenden Rechte in diesem Sinn zu garantieren, hängt die Garantie der sozialen Rechte, so die Annahme, vom Wohlstand der Gesellschaft und damit von der ungewissen Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands ab. Da die Einklagbarkeit der Grundrechte jedoch garantiert werden soll, stellen soziale Rechte keine geeigneten Kandidaten für die Aufnahme ins GG dar.11
I. Das „Grundrecht“ auf ein menschenwürdiges soziales Minimum Die angeführten Gründe sind nun zwar insofern überzeugend, als sie tatsächlich deutlich machen, dass nicht alle Ziele, die durch die Sozialpolitik verfolgt werden, bereits in der Verfassung festgeschrieben werden sollten. Sie zeigen jedoch nicht, wie in den folgenden Abschnitten deutlich werden wird, dass auch das Recht auf ein menschenwürdiges soziales Minimum oder, wie ich es im Folgenden auch nennen werde, das Recht auf ein Leben frei von Armut keinerlei verfassungsrechtlichen Schutz genießen sollte. Ad (i): Zunächst einmal folgt aus dem Umstand, dass man sich auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat nur auf das vage gehaltene Sozialstaatsprinzip einigen konnte, nicht, dass die verfassungsrechtliche Garantie eines Lebens frei von Armut oder die Garantie sonstiger sozialer Ansprüche nicht dennoch aus sachlich-moralischen Gründen geboten erscheinen mag. Ad (ii): Des Weiteren ist es zwar richtig, dass die Sozialstaatspolitik stets auf neue Problemstellungen zu reagieren hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Aspekte der Sozialstaatlichkeit in der Verfassung völlig unbestimmt bleiben müssen. Denn es gibt offenbar dauerhaft erkennbare soziale Probleme: So besteht in markt8
Vgl. etwa ebd. Herzog (2010b), 308 f. 10 Vgl. ebd., 309. 11 Vgl. ebd., 310 f., 320. 9 Vgl.
I. Das „Grundrecht“ auf ein menschenwürdiges soziales Minimum
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wirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaften stets eine mehr oder weniger große Gefahr, aufgrund von Erwerbslosigkeit in individuelle Armut zu geraten; und auch in planwirtschaftlichen Gesellschaften sind Menschen bekanntermaßen vor dieser Gefahr nicht völlig gefeit. Unabhängig davon, welches wirtschaftliche System in einer Gesellschaft vorherrscht, sind zudem stets diejenigen in erhöhtem Maß von Armut bedroht, denen die nötigen Fähigkeiten fehlen, sich selbst zu versorgen, wie z. B. alte, sehr junge, kranke sowie körperlich oder geistig schwer beeinträchtigte Menschen. Das mögliche Auftreten von Armut stellt somit ein Problemfeld dar, dem sich jedwede Sozialpolitik zuwenden muss. Ad (iii): Eine konkretere Ausgestaltung der Sozialstaatlichkeit pauschal mit dem Verweis auf die gebotene weltanschauliche Neutralität des Staats zu begründen, erscheint ebenfalls nicht überzeugend. Zunächst einmal gilt: Ein Staat, der in seiner Grundausrichtung freiheitlich und demokratisch ist, kann nicht neutral gegenüber allen möglichen Konzeptionen des Gemeinwohls sein, da er die Verwirklichung aller nicht-freiheitlichen und nicht-demokratischen Vorstellungen des Gemeinwohls auf seinem Territorium von vorneherein ausschließen muss. Überdies gilt, dass man die Garantie derjenigen Rechte und Freiheiten, die den Menschen in Deutschland derzeit durch den Grundrechtskatalog zugesichert werden und die den Staat erst zu einem „freiheitlichen“ machen, auch so verstehen kann, dass ihre Garantie die Garantie derjenigen materiellen Voraussetzungen impliziert, die ein Mensch zum physischen Überleben braucht. Denn zweifellos ist das physische Überleben eine Voraussetzung für die Ausübung aller „klassischen“ Grundrechte und -freiheiten; aber auch andere materielle Ansprüche lassen sich auf diese rechts- bzw. freiheitsfunktionale Weise im Prinzip rechtfertigen.12 Zum Teil findet sich eine derartige Verständnisweise der im GG garantierten Grundrechte auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wieder. Aufseiten der Staatsrechtslehre stößt eine derartige „Umdeutung“ der Grundrechte – zumindest, wenn sie prinzipiell sein soll, und erst recht, wenn mit ihr die Grundrechte als „soziale Teilhaberechte“ umgedeutet werden sollen – jedoch teilweise auf Ablehnung:13 Abgesehen von dem bereits genannten Grund, dass soziale Rechte als problematisch betrachtet werden, weil ihre Einklagbarkeit nicht immer garantiert werden kann, wird gegen eine solche Interpretation ins Feld geführt, dass die westlichen Grundrechtskataloge historisch gesehen nicht als Prioritätenkataloge für eine staatliche Verteilungspolitik, sondern als Antwort auf staatliche Übergriffe in die Freiheitssphäre der Bürger verstanden worden seien; eine möglichst gerechte Gesellschaftsverfassung und eine möglichst gerechte Sozialpolitik zu erzwingen sei dagegen nicht ihr Ziel ge-
12 Vgl. zu einer philosophischen Position, in der mit einiger Detailliertheit darlegt wird, weshalb es unhaltbar erscheint, davon zu sprechen, dass einem Menschen irgendwelche Rechte garantiert werden, wenn man ihm nicht auch gleichzeitig ein Recht auf die zur Subsistenz nötigen Mittel zugesteht, z. B. Henry Shues Buch Basic Rights (vgl. Shue (1996), Kap. 1 bis 3). 13 Vgl. Herzog (2010b), 319.
A. Die offene Frage im Grundgesetz
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wesen.14 In welcher Weise verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte historisch verstanden wurden, erscheint allerdings aus moralischer Sicht völlig irrelevant. Vielmehr gilt, dass, wenn sich ein Verständnis von Grundrechten in moralischer Hinsicht als unangemessen erweist, dieses Verständnis revidiert werden muss.15 Ad (iv): Das Argument, für soziale Rechte könne die für die Grundrechte des GG wesentliche Einklagbarkeit nicht stets gewährleistet werden, da ihr Schutz vom gesellschaftlichen Wohlstand abhänge, erweist sich bei näherer Betrachtung ebenfalls als weniger überzeugend als häufig angenommen, denn es setzt mindestens zwei Prämissen voraus, die sich bestreiten lassen: Erstens ist nicht ausgemacht, dass es bei den sozialen Rechten niemals möglich ist, sie zumindest in einem gewissen Umfang allein durch das Unterlassen bestimmter Handlungsweisen zu gewährleisten, wie dies oben für die Abwehrrechte angenommen wurde.16 Zweitens lässt sich bestreiten, dass die durch das GG gewährten „nicht-sozialen“ Grundrechte – wie beispielsweise die grundlegenden Freiheitsrechte – bereits dann angemessen geschützt sind, wenn sie von Staats wegen nicht verletzt werden. Denn staatlicher Rechtsschutz bedeutet ja nicht nur, dass es nicht zu staatlichen Übergriffen kommt, sondern auch, dass ein Anspruch auf Schutz vor allen möglichen Arten von Bedrohungen besteht. Da effektiver Rechtsschutz nur im Rahmen des praktisch Möglichen und oft nur mit einem erheblichen Aufwand und großen Kosten zu verwirklichen ist, muss festgestellt werden, gegen welche Arten von Bedrohungen ein staatlicher Rechtsschutz möglich ist und ob die damit gegebenenfalls verbun14
Vgl. ebd., 320. hat beispielsweise Ernst Tugendhat zu zeigen versucht, dass Menschen- bzw. Grundrechte ausschließlich als Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt zu verstehen, historisch zwar den ersten Entwicklungsschritt hin zu unserem heutigen Verständnis dieser Rechte darstellt, ein solches Verständnis jedoch in den heutigen liberalen Demokratien nicht mehr moralisch angemessen erscheint (vgl. Tugendhat (1998), 50). Den Kerngedanken, der hinter Argumentationen wie derjenigen Tugendhats üblicherweise steht, bringt eine Passage in einem Zeitungsartikel des Historikers Heinrich August Winkler gut zum Ausdruck, in welcher es heißt: „Unter den Verfassern der ersten Menschenrechtserklärung, der Virginia Declaration of Rights und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, waren Sklavenbesitzer. Zu den Hervorbringungen des Westens gehören die kapitalistische Ausbeutung, Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus. Die Geschichte des Westens lässt sich zu einem erheblichen Teil mithin auch als Geschichte der Abweichungen von den hehren Versprechungen des späten 18. Jahrhunderts lesen. Auf diese Versprechungen konnten sich aber auch all jene berufen, denen die Menschen- und Bürgerrechte ganz oder teilweise vorenthalten wurden: die Ureinwohner der USA, die Sklaven, die Arbeiter, die Frauen, Menschen, die durch ihre sexuelle Orientierung von der jeweiligen ,Norm‘ abwichen. Das Projekt war klüger als seine Schöpfer. Seine Geschichte ist auch eine der permanenten Selbstkorrektur oder produktiver Selbstkritik, und als solche ist sie bis heute nicht abgeschlossen“ (Winkler (2014), 8). 16 Für die Auffassung, dass Armut durch das Unterlassen bestimmter Handlungsweisen vermieden werden soll, machen sich beispielsweise Thomas Pogge (vgl. z. B. Pogge (2011), dort insbes. die Einleitung und Kap. 8), aber auch Henry Shue (vgl. Shue (1996), 40 ff. sowie 51 ff.) stark. 15 So
I. Das „Grundrecht“ auf ein menschenwürdiges soziales Minimum
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denen Kosten akzeptabel erscheinen. Henry Shue spricht in seiner Theorie der Grundrechte (basic rights) in diesem Zusammenhang auch von den „Standardbedrohungen“ (standard threats) eines Rechts.17 So sind beispielsweise gewalttätige Übergriffe durch andere Menschen eine typische Bedrohung des Rechts auf Leben, vor denen uns kostspielige staatliche Einrichtungen wie Gerichte und die Polizei schützen sollen. Bei dem heimischen Fensterputzen die Leiter herunterzufallen, stellt ebenfalls eine Gefahr für Leib und Leben dar; diese kann allerdings nicht zu akzeptablen Kosten durch staatliche Schutzmaßnahmen vermieden werden und bleibt als allgemeines Lebensrisiko bestehen. Welche Umstände und Handlungen als Standardbedrohungen zu betrachten sind, muss stets aufs Neue diskutiert werden, da sich die praktischen Möglichkeiten, Rechte zu verletzen beispielsweise durch technische Neuerungen ebenso ändern können wie die praktischen Möglichkeiten, sie zu schützen. Sobald wir „staatlichen Rechtsschutz“ als Schutz vor Standardbedrohungen verstehen, und dieser mehr umfassen soll als staatliche Übergriffe, erweist sich das Argument der problematischen Kosten sozialer Rechte als nicht mehr haltbar. Der staatliche Schutz des klassischen (und nicht-sozialen) Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit vor Übergriffen durch andere Menschen wäre dann ebenso wie der Schutz des Rechts auf ein soziales Minimum mit hohen finanziellen und personellen Kosten verbunden, da ein funktionierender Polizeiapparat, Gerichte, Gefängnisse und dergleichen mehr eingerichtet und unterhalten werden müssten. Bei genauer Betrachtung zeigt sich also, dass die staatliche Garantie vieler, wenn nicht sogar aller, derzeit verfassungsrechtlich garantierter Grundrechte ebenso von der wirtschaftlichen Entwicklung einer Gesellschaft abhängt wie der Schutz des Rechts auf ein Leben frei von Armut.18 Im Licht dieser Diskussion erscheint gut nachvollziehbar, warum sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung – trotz der genannten entgegenstehenden Gründe – letztendlich dazu entschieden hat, die Forderung des Sozialstaatsprinzips in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG so auszulegen, dass sich aus ihm die Forderung nach der Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt.19 Und auch in der Staatsrechtslehre wird anerkannt, dass es sich 17
Vgl. ebd., 32 ff. Vgl. ebd., 37 f.; Pogge (2011), 91. 19 Vgl. etwa BVerG NJW 2010, 505 . In jenem Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts heißt es überdies, dass dem Grundrecht auf ein soziales Minimum eigenständige Bedeutung zukommt. Es ist demnach also kein Recht, dass einem Menschen nur deshalb oder insoweit gewährt werden muss, als dadurch die Ausübung anderer Grundrechte in einem bestimmten Umfang gesichert wird. Vielmehr wird in dem Urteil explizit ausgeführt, dass andere Grundrechte für die Frage der Ausgestaltung des menschenwürdigen sozialen Minimums im Sozialrecht keine Rolle spielen. Ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Minimum kommt demzufolge jedem Menschen neben der Garantie aller sonstigen Grundrechte zu. Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Minimum wird dem Grunde nach als unverfügbar betrachtet und muss eingelöst werden (vgl. ebd., 505 ). 18
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zumindest bei den Forderungen nach der Bekämpfung von Armut und der Absicherung der Arbeiter gegen die schlimmsten Ursachen sozialer Unsicherheit und Proletarisierung um Forderungen handelt, die ein Staat erfüllen muss, will er dem Sozialstaatsprinzip gerecht werden.20 Sowohl die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch die Staatsrechtslehre erkennen damit aber letztendlich an, dass es mit der Vermeidung resp. Beseitigung von Armut wenigstens ein Ziel der Förderung des „Gemeinwohls“ gibt, welches auch in einem demokratischen und freiheitlichen Staat „erkannt“ werden kann und dessen Verwirklichung durch die Sozialpolitik angestrebt werden muss. Geltend machen können Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges soziales Minimum der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge, wenn sie sich insofern in einer Notlage befinden, als sie die zu der Sicherung ihrer Existenz notwendigen Mittel weder durch ihre Erwerbstätigkeit noch durch den Zugriff auf ihr Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erlangen können.21
II. Verfassungsrechtliche Kriterien zu der inhaltlichen Ausgestaltungeines menschenwürdigen sozialen Minimums Die Frage, wie ein menschenwürdiges soziales Minimum ausgestaltet werden soll, ist damit freilich noch offen. Wie wir bereits im Vorangehenden gesehen haben, wird die inhaltliche Ausgestaltung der Sozialstaatlichkeit – und damit auch die inhaltliche Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums – sowohl vonseiten der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch vonseiten der Staatsrechtslehre in Deutschland als eine Aufgabe des Gesetzgebers resp. der Regierung betrachtet. Dem Bundesverfassungsgericht wird dagegen, wie gesehen, nur die „negative“ Aufgabe zugeschrieben, im Zweifelsfall zu kontrollieren, ob es sich bei einer sozialpolitischen Maßnahme um eine „unsoziale“ Politik handelt, die als Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) oder den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verstanden werden muss. Doch auch zu der Erfüllung dieser bloß „negativen“ Aufgabe braucht es Kriterien, anhand derer bewertet werden kann, ob eine konkrete Ausgestaltung des sozialen Minimums menschenwürdig ist oder nicht. Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit erwähnt wurde, hat sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem grundlegenden Urteil vom 09. Februar 2010 in einer ausführlichen und systematischen Weise zu dieser Frage geäußert und Kriterien und Verfahrensrichtlinien zusammengestellt, die zum Teil auch bereits aus früheren Urteilen stammen. Die darin genannten Kriterien und Verfahrensrichtlinien muss der Gesetzgeber bei der konkreten Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums in der Bundesrepublik Deutschland stets beachten; sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: 20 Vgl. 21
Herzog (2010b), 305 f. Vgl. BVerG NJW 2010, 505 .
II. Verfassungsrechtliche Kriterien zu der inhaltlichen Ausgestaltung
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– Ein menschenwürdiges Minimum muss die zur physischen Existenz nötigen Güter, wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, wie auch diejenigen Mittel und Möglichkeiten umfassen, die eine Voraussetzung zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe sind; die beiden letzteren Ziele werden benannt, weil der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiere.22 Überdies müssen dauerhaft bestehende, besondere und unabweisbare Bedarfsarten – durch die Möglichkeit des Stellens von Härtefallanträgen – Berücksichtigung finden.23 – Die Arten des Bedarfs und die zu deren Befriedigung bereitgestellten Mittel müssen in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, in Abhängigkeit von der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen wie auch in Abhängigkeit von den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten der Gesellschaft bestimmt werden. Oder anders ausgedrückt: Es muss die soziale Wirklichkeit der Hilfsbedürftigen zeit- und realitätsgerecht ermittelt werden.24 Die zu erbringenden Leistungen sind also stets an den Entwicklungsstand der Gesellschaft und die bestehenden Lebensbedingungen – wie zum Beispiel Preissteigerungen oder die Erhöhung von Verbrauchssteuern – anzupassen. Die Ausgestaltung des sozialen Minimums bedarf deshalb der stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber.25 – Dem Gesetzgeber obliegt die Ermittlung der einzelnen Bedarfsarten – d. h. der einzelnen Komponenten des sozialen Minimums, soweit diese nicht schon durch die oben genannten Vorgaben festgelegt sind – wie auch der jeweils zu der hinreichenden Befriedigung dieser einzelnen Bedarfe aufzuwendenden Mittel. Auf der Basis der Ergebnisse dieser Ermittlung muss dann die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmt werden. Das GG schreibt dafür keine bestimmte Methode vor; vielmehr darf der Gesetzgeber die dazu verwendete Vorgehensweise selbst wählen. Diese muss allerdings tauglich und sachgerecht sein.26 Die Bestimmung des sozialen Minimums muss zudem auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein. Um die nötige Nachprüfbarkeit der Ausgestaltung des sozialen Minimums durch das Bundesverfassungsgericht zu gewährleisten, muss die gewählte Vorgehensweise überdies nachvollziehbar sein und offengelegt werden. Abweichungen von der bisher gewählten Vorgehensweise muss der Gesetzgeber sachlich rechtfertigen.27 22
Vgl. ebd., 505 . Vgl. ebd., 505 . 24 Vgl. ebd., 505 . 25 Vgl. ebd., 505 . 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd., 505 . 23
A. Die offene Frage im Grundgesetz
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– Dem Gesetzgeber wird es zudem freigestellt, ob er einem Menschen die zu der Sicherung des Minimums nötigen Leistungen in Form von Geld-, Sach- oder Dienstleistungen zur Verfügung stellt.28 – Das für die Belange von Kindern und Jugendlichen zur Verfügung gestellte soziale Minimum muss überdies kinderspezifischen existenziellen Bedarfslagen gerecht werden.29 In Bezug auf das soziale Minimum von schulpflichtigen Kindern bedeutet dies, dass sichergestellt werden muss, dass ausreichend Mittel zur Verfügung stehen, um ihnen die Erfüllung ihrer schulischen Pflichten und einen erfolgreichen Schulabschluss zu ermöglichen. Dadurch sollen sie dazu in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt später aus eigenen Kräften bestreiten zu können; auch soll auf diese Weise sichergestellt werden, dass sie nicht vorzeitig von bestimmten Lebenschancen ausgeschlossen werden.30 – Darüber hinaus muss die Ausgestaltung des sozialen Minimums von Kindern und Jugendlichen die besonderen, durch deren Entwicklung und Heranwachsen entstehenden Bedarfe berücksichtigen.31 Sie muss sich an den kindlichen Entwicklungsphasen ausrichten, wie sie auch die Möglichkeit der Persönlichkeitsentfaltung des Kindes sicherstellen muss.32 Die durch das Bundesverfassungsgericht in jenem Urteil benannten Kriterien sind bei genauer Betrachtung also keine bloßen Verfahrenskriterien zu der inhaltlichen Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums; vielmehr werden in dem Urteil auch inhaltliche Komponenten benannt, die ein solches Minimum stets zu umfassen hat. Die Ausführungen in den Kapiteln C. bis G. zu der Explikation des Armutsbegriffs stellen einen Versuch dar, allgemeingültige Kriterien und Anforderungen zu entwickeln, die jedwede Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums aus einer moralischen Perspektive zu erfüllen hat. Nur anhand solcher Kriterien und Grundsätze lässt sich beurteilen, inwieweit die in der Sozialpolitik und -gesetzgebung oder auch die in dem angeführten Urteil vorgegebenen Rahmenbedingungen zu der Ausgestaltung eines sozialen Minimums einer kritischen moralischen Überprüfung standhalten oder sich als korrektur- oder ergänzungsbedürftig erweisen. Am Ende dieser Arbeit soll eine solche Überprüfung prinzipiell möglich sein; zumindest schematisch und exemplarisch soll eine solche in Kapitel I. für die in diesem Abschnitt zusammengefassten Kriterien und Verfahrensrichtlinien des Bundesverfassungsgerichts vorgenommen werden.
28
Vgl. ebd., 505 . Vgl. ebd., 505 . 30 Vgl. ebd., 505 . 31 Vgl. ebd., 505 . 32 Vgl. ebd., 505 . 29
B. Rechte In Kapitel A. war durchgängig von einem menschenwürdigen sozialen Minimum als Gegenstand eines Rechts die Rede. Bevor es im Folgenden um die Frage gehen soll, welche Kriterien ein menschenwürdiges soziales Minimum erfüllen muss, um einer kritischen moralischen Überprüfung standzuhalten, soll es in diesem Kapitel zunächst noch um die Frage gehen, was eigentlich unter einem „Recht“ zu verstehen ist und inwieweit es im Fall sozialer Leistungen sinnvoll erscheint, sie als Gegenstand von Rechten zu betrachten. Wie in Kapitel H. noch deutlich werden wird, stellt sich diese Frage insbesondere in Situationen, in denen die Durchsetzbarkeit von Rechten nicht bereits durch staatliche oder überstaatliche Institutionen garantiert wird.
I. Subjektives und objektives Recht Der deutsche Ausdruck „Recht“ weist eine Ambiguität auf, die sich ebenso im lateinischen „ius“, im italienischen „diritto“, im spanischen „derecho“ und im französischen „droit“ findet.1 Diese besteht darin, dass mit „Recht“ zum einen eine Rechtsordnung und deren Gesetze und zum anderen das „Recht“ eines Subjekts gemeint sein kann, wie beispielsweise das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.2 In diesem zweite Sinn wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Rechtsphilosophie auch von „subjektiven“ Rechten gesprochen, was dazu geführt hat, dass einige Autoren mit Blick auf Rechtsordnungen und Gesetze von „objektiven“ Rechten zu sprechen begannen. Diese Gegenüberstellung bringt die Gefahr mit sich, dass sie leicht mit der Gegenüberstellung von subjektiven Geschmacksurteilen und objektiven Tatsachen verwechselt werden kann. Subjektive juridische Rechte zeichnen sich jedoch gerade dadurch aus, dass sie sich aus den Regeln und Prinzipien einer (objektiven) Rechtsordnung ergeben. Und auch subjektive moralische Rechte sind keine bloße Meinungssache, da ihnen moralische Prinzipien der positiven Moral oder eines „aufgeklärten Gewissens“ resp. einer „kritischen Moral“ zugrunde liegen.3 Um sprachliche Verwirrung zu vermeiden, ist es deshalb hilfreich, statt von „subjektiven“ von „individuellen“ Rechten zu
1 Der englische Ausdruck „right“ weist diese Ambiguität nicht auf; mit ihm werden ausschließlich subjektive resp. individuelle Rechte bezeichnet; die „Rechtsordnung“ und das „Gesetz“ werden dagegen als „law“ bezeichnet. 2 Vgl. zu diesem Absatz Stepanians (2007), 9. 3 Vgl. Feinberg (2007), 198; vgl. eingehender zur Unterscheidung zwischen moralischen und juridischen Rechten Kapitel B. II.
B. Rechte
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sprechen.4 Wenn im weiteren Verlauf dieser Arbeit von „Rechten“ die Rede ist, sind damit stets „individuelle Rechte“ gemeint.
II. Juridische und moralische Rechte Positive Rechte, mit denen in aller Regel juridische Rechte gemeint sind,5 unterscheiden sich von moralischen in verschiedenen Hinsichten, und zwar hinsichtlich ihrer sozialen Realität, ihrer Institutionalisierung und ihrer Sanktionierung. Juridische Rechte besitzen soziale Realität in dem folgenden Sinn: Sie werden von den Mitgliedern einer Gesellschaft weithin, wenn auch nicht durchgängig, als Grund berechtigter Forderungen gegeneinander anerkannt und ihre Verletzung zieht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit soziale Sanktionen in der einen oder anderen Form nach sich. Juridische Rechte beruhen zudem als Teil eines institutionalisierten Rechtssystems auf in diesem System anerkannten Rechtsquellen wie Verträgen, Gewohnheiten, Gerichtsurteilen oder Gesetzen. Feinberg betrachtet die juridischen Rechte auch als diejenigen „gültigen“ Ansprüche, deren Anerkennung von den herrschenden Regeln einer etablierten Rechtsordnung verlangt wird.6 Aber auch moralischen Rechten kommt soziale Realität zu, sofern sie Bestandteile der Common-Sense-Moral bzw. der positiven Moral oder der Tradition einer Gemeinschaft sind und auf den in einer Gemeinschaft allgemein anerkannten moralischen Prinzipien (z. B. Versprechen halten, Notleidenden helfen, gleiche Fälle gleich behandeln o. ä.) beruhen. Sie können aber auch ein Bestandteil einer „kritischen Moral“ sein,7 welche nicht allgemein anerkannt und befolgt wird und in diesem Sinn keine soziale Realität besitzt, sondern lediglich die Existenzweise eines „überpositiven“ ideellen Standards richtigen Handelns hat, wie er bei der kritischen Überprüfung gesellschaftlich etablierter Moral- und Rechtsvorstellungen zum Tragen kommt. In Fällen dieser Art stellt die Rede von „moralischen“ Rechten häufig eine Basis dar, um bestehende juridische Regelungen als unzulänglich zu kritisieren resp. fehlende juridische Regelungen anzumahnen. Bisher nicht anerkannte Rechte einer kritischen Moral können freilich im Lauf der Zeit allgemeine Anerkennung finden und zu einem Bestandteil der Common-Sense-Moral oder auch der Rechtsordnung einer Gesellschaft werden.
4 Vgl.
Stepanians (2007), 9. den juridischen Rechten gibt es zwei weitere Arten von positiven Rechten: Zum einen sind dies die Rechte der „positiven“ Moral, d. h. diejenigen Rechte, die Teil der in einer Gesellschaft allgemein anerkannten Moralvorstellungen sind. Zum anderen die „quasi-juridischen“ Rechte, zu denen z. B. das Recht des Torwarts, den Ball mit den Händen zu greifen, das sich aus den Regeln des Fußballs ergibt wie auch all jene Rechte, die sich aus Vereins- oder Hausordnungen ergeben, gehören (Hart (1955), 182; Stepanians (2007), 10, Fn. 7). 6 Vgl. Feinberg (2007), 198. 7 Vgl. ebd.; Koller (2007), 87. 5 Neben
II. Juridische und moralische Rechte
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Juridische und moralische Rechte unterscheiden sich des Weiteren hinsichtlich ihrer Institutionalisierung: Juridische Rechte werden als Teil einer bestehenden Rechtsordnung von eigens dafür autorisierten Institutionen und Personen festgelegt, nach förmlich festgelegten Prozeduren in allgemein verbindlicher Weise ausgelegt und nötigenfalls auch durchgesetzt. An der Identifikation, Auslegung und Durchsetzung moralischer Rechte kann sich dagegen im Prinzip jedes Mitglied einer Gesellschaft beteiligen, ohne dass durch förmliche Regelungen festgelegt wäre, wie dabei vorzugehen ist und wie etwaige Meinungsverschiedenheiten allgemein verbindlich aufzulösen wären.8 Juridische Rechte und Normen werden überdies in der Regel, aber nicht immer durch Sanktionen und Zwangsmaßnahmen geschützt.9 Ihre Verletzung wird zudem von einem eigens autorisierten staatlichen Stab von Personen (z. B. Richter, Polizisten usw.) ermittelt, wie die entsprechenden Strafen und Zwangsmaßnahmen auch von einem solchen verhängt und durchgesetzt werden.10 Die Verletzung nicht-juridischer moralischer Rechte zieht dagegen keine staatlich institutionalisierten Formen der Verfolgung und Bestrafung nach sich und findet nicht in einer stabsmäßig organisierten Weise statt. Vielmehr kann sich an der Sanktionierung dieser Rechte im Prinzip jeder beteiligen. Für die Rechte und Grundsätze der kritischen Moral gilt, dass ihre Verletzung nur in dem Maß soziale Missbilligung oder andere Sanktionen nach sich zieht, in dem sie selbst Eingang in die positive Moral einer Gesellschaft oder in deren Rechtsordnung gefunden haben.11 Wenn im Folgenden von „moralischen Rechten“ die Rede ist, sind damit stets moralische Rechte gemeint, deren Schutz aus der Perspektive einer kritischen Moral geboten erscheint. Für all diese Rechte gilt, dass sie als Teil der positiven Moral einer Gesellschaft anerkannt und geschützt werden sollten, selbst wenn nicht alle faktisch in einer Gesellschaft anerkannten Moralvorstellungen mit ihnen übereinstimmen. Für zahlreiche, aber nicht für alle Rechte einer kritischen Moral (z. B. für viele Menschenrechte) gilt überdies, dass sie zu juridischen Rechten werden sollten.12 8 Letzteres gilt sowohl für moralische Rechte, die Gegenstand der positiven wie auch der kritischen Moral sind. 9 Man denke an das rechtliche Abtreibungsverbot in Deutschland: Hier besteht eine juridische Unterlassungspflicht; die Nichterfüllung dieser Pflicht ist aber innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate dennoch nicht mit Sanktionen belegt. 10 Vgl. ebd. 11 Es gilt hier noch anzumerken, dass sich die zuvor gemachten Überlegungen zur Unterscheidung zwischen juridischen und moralischen Rechten analog auch auf die Unterscheidung zwischen juridischen und moralischen Pflichten übertragen lassen; die Unterscheidung zwischen moralischen und juridischen Pflichten wird im Folgenden dann auch in eben jener Weise verstanden. 12 Eine solche Forderung existiert nicht für alle Rechte: So wird üblicherweise nicht gefordert, dass das moralische Recht auf die Einhaltung von Versprechen vollumfänglich in positives Recht umgewandelt wird, sodass die Einhaltung aller Versprechen vor Gericht eingeklagt werden könnte.
30
B. Rechte
III. „Recht“ als generischer Begriff und „Recht“ im strikten Wortsinn Der amerikanische Jurist Wesley Hohfeld hat in Einige Grundbegriffe des Rechts, wie sie in rechtlichen Überlegungen Anwendung finden eine Ambiguität für den Ausdruck „right“ festgestellt, welche für den deutschen Ausdruck „Recht“ ebenfalls kennzeichnend ist.13 Hohfelds Rechtsanalyse bezieht sich auf juridische Rechte; es spricht jedoch nichts dagegen, diese auch auf moralische Rechte anzuwenden.14 Einer ersten Verwendungsweise zufolge ist der Ausdruck „Recht“ für Hohfeld ein Sammelbegriff oder generischer Begriff, der eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsbeziehungen bzw. -typen umfasst. In dieser Verwendungsweise werden als „Recht“ gleichermaßen Privilegien/Freiheiten (privileges/liberties), Kompetenzen (powers), Immunitäten (immunities) und Ansprüche (claims) bezeichnet.15 In einer zweiten Verwendungsweise werden laut Hohfeld mit dem Ausdruck „Recht“ ausschließlich Ansprüche (claims) bezeichnet. Diese zeichnen sich Hohfeld zufolge dadurch aus, dass ihnen Pflichten als „unveränderliches Korrelat“ gegenüberstehen.16 Es ist diese Verwendungsweise des Ausdrucks „Recht“, die uns Hohfeld zufolge vorschwebt, wenn wir im „strikten Wortsinn“ von „Rechten“ sprechen:17 „[…][E]s ist sicher, dass selbst diejenigen, die das Wort und den Begriff ,Recht‘ im weitest möglichen Sinn verwenden, daran gewöhnt sind, ,Pflicht‘ als dessen unveränderliches Korrelat anzusehen. […] [W]enn X gegenüber Y ein Recht darauf hat, dass dieser sein Grundstück nicht betritt, so besteht das Korrelat (und Äquivalent) darin, dass Y gegenüber X verpflichtet ist, das Grundstück nicht zu betreten. Wenn wir, wie dies wünschenswert wäre, ein Synonym für den Ausdruck ,Recht‘ in dieser begrenzten und eigentlichen Bedeutung suchten, so erwiese sich vielleicht der Ausdruck ,claim‘ im Sinne von ,Anspruch‘ als der geeignetste.“18 13 Im Folgenden wird deshalb statt des Ausdrucks „right“ auch durchgängig der deutsche Ausdruck „Recht“ verwendet. 14 Vgl. Koller (2007), 87. 15 Vgl. Hohfeld (2007), 62 f., 67. 16 Es sollte an dieser Stelle angemerkt werden, dass, wenn hier und im Folgenden davon die Rede ist, dass eine „Pflicht“ oder eine „Verpflichtung“ besteht (die beiden Ausdrücke werden hier synonym verwendet), damit nichts anderes gemeint ist, als dass etwas getan werden sollte oder getan werden muss. Dies gilt ganz unabhängig davon, ob eine Pflicht ein Korrelat eines Rechts ist oder nicht. Typische Beispiele für Pflichten ohne korrelierte Rechte sind Pflichten gegen sich selbst (vgl. dazu Hart (1955), 180 f.), aber auch moralische Pflichten der Wohltätigkeit oder der Barmherzigkeit (vgl. z. B. Feinberg (2007), 185 f.; Hinsch/Stepanians (2006), 120). Onora O’Neill betrachtet nicht-institutionalisierte, moralische Hilfspflichten gegenüber in Armut lebenden Menschen ebenfalls als Pflichten ohne korrespondierende Rechte (O’Neill (1999), 223 ff.). 17 Vgl. Hohfeld (2007), 62 f. 18 Ebd., 63.
IV. Ansprüche und Rechte
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Es sind Rechte mit dieser Struktur, auf welche die sogenannte „Korrelativitätsthese“ zutrifft; der Rechtswissenschaftler Paul Sieghart hat diese einem verbreiteten Verständnis folgend so formuliert: „In all legal theory and practice, rights and duties are symmetrical […] if I have a right, someone else must have a correlative duty; if I have a duty, someone else must have a corresponding right.“19 Siegharts Formulierung legt jedoch eine zugleich zu enge und zu weite Bestimmung des Geltungsbereichs der Korrelativitätsthese nahe: eine zu enge, weil die behauptete Korrelativität nicht nur für juridische, sondern auch für moralische Rechte gilt; eine zu weite, weil sie nicht für alle (Hohfeld’schen) Rechtstypen, sondern lediglich für Rechte von der Struktur Hohfeld’scher Ansprüche gilt, denn nur diesen korrespondieren Pflichten, wie im Folgenden noch deutlich werden wird.20
IV. Ansprüche und Rechte Ansprüche der Hohfeld’schen Form dienen dem Schutz oder der Förderung von Werten oder Interessen, wie etwa dem Wert des „Lebens“ oder dem Interesse an einem „Leben frei von Armut“. Es sind Werte oder Interessen, auf denen individuelle Ansprüche gründen, denen Pflichten korrespondieren, den jeweiligen Anspruchsträger nicht von der Realisierung des infrage stehenden Werts oder Interesses abzuhalten resp. ihn aktiv bei deren Realisierung zu unterstützen.21 Rechte im Sinn Hohfeld’scher Ansprüche weisen somit stets die folgenden Elemente auf:
Abbildung 1: Elemente eines Hohfeld’schen Anspruchs bzw. eines Rechts im Hohfeld’schen „strikten Wortsinn“
Wie im Vorangehenden bereits erwähnt wurde sind mit Ansprüchen und deren Korrelaten bei Hohfeld stets juridische Ansprüche und Pflichten gemeint. Dies gilt entsprechend für die noch zu erläuternden anderen Hohfeld’schen Rechtstypen – die Privilegien, die Immunitäten und die Kompetenzen –; auch mit diesen hat Hohfeld stets juridische Rechte im Sinn. Es spricht jedoch, wie eingangs bereits er19
Sieghart (1985), 43; zitiert nach Hinsch/Stepanians (2006), 119. Bereits in der Analyse des Rechtsbegriffs von Jeremy Bentham, die als eine der ersten angesehen werden kann, in denen dem Ausdruck des „(individuellen juridischen) Rechts“ eine klare Bedeutung gegeben wurde (vgl. Maine (1891); wiedergegeben nach Hart (2007), 136), findet sich eine Unterscheidung zwischen Rechten, die sich durch die Abwesenheit von Pflichten auszeichnen und Rechten, die sich aus dem Bestehen einer gesetzlichen Pflicht ergeben: Der zuerst genannte Typus von (juridischen) Rechten sind Rechte darauf, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen; der zweite Typus sind Rechte auf Unterlassungen oder Handlungen vonseiten anderer (vgl. ebd., 138). 21 Vgl. Hinsch/Stepanians (2006), 121. 20
B. Rechte
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wähnt wurde, nichts dagegen, die Hohfeld’sche Terminologie auch zu der Analyse moralischer Rechte heranzuziehen. Im Folgenden soll die Hohfeld’sche Terminologie in eben dieser Weise erweitert werden. In welchem Verhältnis stehen nun Ansprüche und Rechte zueinander? Folgt man den Ausführungen in Kapitel B. III. zu der Hohfeld’schen Analyse des Rechtsbegriffs, bedeutet einen „Anspruch zu besitzen“ nichts anderes als ein „Recht in dem Hohfeld’schen strikten Wortsinn zu besitzen“. Durch eine solche Gleichsetzung von „Ansprüchen“ und „Rechten“ wird jedoch nicht in adäquater Weise beschrieben, wie wir das Verhältnis zwischen Ansprüchen und Rechten gemeinhin verstehen. Denn offenbar besitzen wir nicht immer dann, wenn wir einen Anspruch besitzen, auch ein Recht. Der Besitz eines Rechts verleiht uns vielmehr häufig eine stärkere Form von Berechtigung als viele Formen von Ansprüchen dies tun. Ein wenig präziser fassen lässt sich dieser Unterschied mit Blick auf einige Überlegungen, die Joel Feinberg und Onora O’Neill zum Rechtsbegriff angestellt haben. Mit Blick auf diese Überlegungen wird im Folgenden gezeigt, dass nur Ansprüche, die ganz bestimmte Kriterien erfüllen, als „Rechte“ betrachtet werden sollten. Feinberg zufolge kommen „Ansprüche“ auf dreierlei Weise ins Spiel, wenn von „Rechten“ die Rede ist:22 Erstens kann davon die Rede sein, dass ein Anspruch auf etwas geltend gemacht wird (making claim to). Macht jemand einen Anspruch auf etwas geltend, so bedeutet dies für Feinberg, aufgrund eines unterstellten Rechts etwas Geschuldetes einzufordern, z. B. die Rückgabe einer ausgeliehenen Sache oder die Bezahlung einer Rechnung. Wer einen Anspruch auf etwas geltend macht, fordert den Gegenstand des infrage stehenden Rechts ein, und dies kann nur jemand tun, der dieses Recht bereits besitzt. Oft wird in einem solchen Fall ein Titel (verstanden im Sinn eines verbrieften Rechts) vorgewiesen, wie etwa eine Quittung, Rechnung oder ein Schuldschein.23 Aufgrund eines Rechts einen Anspruch auf etwas geltend zu machen bedeutet überdies, einen Rechtsakt mit direkten Rechtsfolgen auszuführen: Das Geltendmachen des Anspruchs auf etwas kann selbst (normativ) etwas bewirken; Feinberg spricht deshalb auch von der „performativen Bedeutung“ (performative claiming) des Geltendmachens. Sie ist ihm zufolge für den Begriff des Rechts wesentlich.24 Zweitens kann von Ansprüchen im Zusammenhang mit Rechten die Rede sein, wenn ein Anspruch darauf geltend gemacht wird, dass… (claiming that):25 Einen Anspruch geltend machen, dass… bedeutet deutlich zu machen oder klarzustellen, 22 Vgl.
Feinberg (2007), 193. Vgl. ebd. Der Gegenstand eines Anspruchs, der geltend gemacht wird, kann Feinberg zufolge auch ein anderes Recht sein. Dies geschieht beispielsweise dann, wenn man einen Titel – verstanden im Sinn eines verbrieften Rechts – beantragt, in dem man nachweist, dass man die „Bedingungen für den Besitz des Titels erfüllt hat, wie sie durch eine Regel festgelegt worden sind“ (ebd.). Dies geschieht beispielsweise, wenn ein Erzsucher den Anspruch auf Schürfrechte oder ein Erfinder den Anspruch auf ein Patent geltend macht (vgl. ebd.). 24 Vgl. ebd.; siehe für eine entgegengesetzte Ansicht z. B. Lyons (2007). 25 Vgl. dazu Feinberg (2007), 193 f. 23
IV. Ansprüche und Rechte
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dass man selbst oder eine andere Person ein bestimmtes Recht besitzt. Wesentlich ist dabei die Art und Weise, in der dies geschieht: Es wird nicht lediglich behauptet, dass etwas der Fall ist, ganz gleich, ob jemand zuhört oder nicht. Der Effekt des Geltendmachens besteht vielmehr darin, sicherzustellen, dass zugehört und der Sachverhalt angemessen zur Kenntnis genommen wird. Feinberg bezeichnet diese Art des Geltendmachens als „propositionales Geltendmachen“ (propositional claiming). Allerdings ist diese Art des Geltendmachens ohne jegliche Rechtskraft und stellt damit bloß einen deskriptiven Kommentar dar. In dieser zuletzt genannten Weise können im Übrigen nicht nur Rechte, sondern kann alles Mögliche geltend gemacht werden, so beispielsweise auch, dass die Erde eine Scheibe ist.26 Drittens können Ansprüche im Zusammenhang mit Rechten ins Spiel kommen, indem von jemandem gesagt wird, dass er einen Anspruch hat oder besitzt (having a claim):27 Für jemanden, der einen Anspruch hat, gilt laut Feinberg, dass er sowohl im performativen Sinn einen Anspruch auf etwas geltend machen kann (making claim to) als auch zu Recht in dem genannten propositionalen Sinn geltend machen kann, dass er ein bestimmtes Recht besitzt (claiming that). Einen Anspruch in diesem Sinn kann man besitzen, ohne jemals das geltend zu machen, wozu er berechtigt, oder auch ohne überhaupt zu wissen, dass man ihn besitzt.28 Einen Anspruch zu haben (having a claim) ist für Feinberg allerdings nicht mit dem Besitz eines Rechts gleichzusetzen: Einen Anspruch im Sinn eines Rechts besitzt für ihn nur derjenige, der einen „gültigen“ Anspruch besitzt. Damit, dass ein Anspruch „gültig“ ist – und mit dieser Verständnisweise folge ich abermals Feinberg –, ist nicht gemeint, dass derjenige, der den Anspruch erhebt, diesen als „gültig“ im Sinn von „berechtigt“ betrachtet. Denn in diesem Sinn „gültig“ ist jeder erhobene Anspruch; wäre dem nicht so, würde von dem Betreffenden kein Anspruch erhoben, sondern lediglich eine Forderung gestellt: Der Bankräuber erhebt auf das Geld der Bank keinen Anspruch. Solange er nicht glaubt, dass ihm das Geld rechtmäßig zusteht, fordert er lediglich die Herausgabe des Geldes. Dennoch ist die Rede von „gültigen“ und „ungültigen“ Ansprüchen nicht redundant, denn nicht jeder Anspruch, der von jemandem für gültig gehalten wird, muss auch gültig sein.29 Feinberg zufolge können sich Ansprüche in zweierlei Hinsicht als „gültig“ erweisen: Zum einen in dem Sinn, dass sie in bestimmter Weise begründet sind, und zum anderen in dem Sinn, dass es einen Adressaten gibt, an den sich der Anspruch als Pflichtenträger richtet. In dem zuerst genannten Sinn „gültig“ erscheint ein Anspruch laut Feinberg, wenn dessen offizielle Anerkennung von den herrschenden juridischen Regeln verlangt wird – und der Anspruch insofern rechtlich begründet erscheint – oder „dessen Anerkennung […] von moralischen Prinzipien verlangt 26 Vgl.
ebd. Vgl. ebd., 193, 195. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. ebd., 195 f. 27
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B. Rechte
wird, oder von den Prinzipien eines aufgeklärten Gewissens“.30 In dem zweiten genannten Sinn „gültig“ sind Ansprüche dagegen dann, wenn es jemanden gibt, dem die Pflicht obliegt, den fraglichen Anspruch zu erfüllen. Ansprüche, die in der ersten Hinsicht gültig, in der zuletzt genannten Hinsicht jedoch ungültig sind, bezeichnet Feinberg auch als „Manifest-Rechte“. Er wählt diese Bezeichnung, weil man Ansprüche dieser Art häufig in Manifesten oder Deklarationen findet; in diesen werden Ansprüche oft als „Rechte“ bezeichnet, obgleich sie Feinberg zufolge im strengen Sinn keine „Rechte“ sind.31 Ein Beispiel für einen in dem zuletzt genannten Sinn „ungültigen“ Anspruch findet sich für Feinberg im Völkerrecht seiner Zeit.32 Es ist dies der Anspruch derer, die unter den Folgen extremer Ressourcenknappheit leiden: „Staatsmänner sehen manchmal die Notwendigkeit, von ‚Ansprüchen’ zu reden, wenn es um die natürlichen Bedürfnisse benachteiligter Menschen geht, die unter Bedingungen der Ressourcenknappheit leben. Junge Waisenkinder bedürfen einer guten Erziehung, einer ausgewogenen Ernährung, Bildung und technischer Ausbildung; doch unglücklicherweise sind diese Güter an vielen Orten so knapp, dass es unmöglich ist, sie allen Bedürftigen zukommen zu lassen. Wenn wir nichtsdestoweniger weiter davon sprechen, dass diese Bedürfnisse Rechte konstituieren und nicht bloß Ansprüche, so sind wir auf eine Konzeption festgelegt, derzufolge ein Recht eine Berechtigung zu einem bestimmten Gut darstellt, nicht jedoch einen gültigen Anspruch gegenüber einer bestimmten Person; denn unter Bedingungen der Ressourcenknappheit gibt es unter Umständen keine bestimmten Individuen, denen man plausiblerweise die Pflicht zuschreiben kann, die fehlenden Güter für diejenigen zu beschaffen, die sie benötigen.“33
Der zitierten Passage zufolge betrachtet Feinberg die Ansprüche Bedürftiger auf Hilfeleistungen als Ansprüche, deren Erfüllung nur den eigenen Landsleuten, nicht aber Menschen in anderen Regionen der Welt obliegt: Sind die eigenen Landsleute nicht zu der Bereitstellung von Hilfeleistungen in der Lage, bestehen die fraglichen Ansprüche der Hilfsbedürftigen zwar fort, allerdings nur in Form von Manifest-Rechten. Die Wohlhabenden in anderen Ländern geraten für ihn als Pflichtenträger offenbar gar nicht in den Blick, obwohl diesen die Bereitstellung von Hilfeleistungen – anders als den Landsleuten der Hilfsbedürftigen in dem genannten Beispiel – im Prinzip möglich wäre. Für Feinberg wäre es unter derartigen
30 Vgl. ebd., 198. Dieses Kriterium erfüllen die Hohfeld’schen Ansprüche, da es sich bei ihnen, wie gesehen, um juridische Ansprüche handelt. 31 Vgl. ebd., 197 f. Der Grund dafür, dass derartige Ansprüche in Manifesten oder Deklarationen dennoch als „Rechte“ bezeichnet werden, besteht für Feinberg darin, dass damit dem Umstand Ausdruck verliehen werden soll, dass diese Ansprüche das Auferlegen von Pflichten gerechtfertigt erscheinen lassen und Staaten diese Ansprüche deshalb als Rechte anerkennen sollten; Ansprüche dieser Art stellen Feinberg zufolge somit ein ständiges Potenzial für Rechte dar (vgl. ebd.). 32 Feinbergs Aufsatz Das Wesen und der Wert von Rechten, aus dem das folgende Beispiel stammt, erschien im englischen Original bereits im Jahr 1970. 33 Ebd., 197.
IV. Ansprüche und Rechte
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Umständen eine „Anomalie“, Mitgliedern „industriell unterentwickelter Staaten“ wirtschaftliche und soziale Rechte zuzuschreiben.34 Aufzeigen lassen sich anhand dieses Beispiels zwei Kriterien, die von einem Akteur erfüllt werden müssen, um als Träger einer Pflicht infrage zu kommen: Zum einen muss es einem Akteur aufgrund des „Sollen-impliziert-Können“-Prinzips, z. B. hinsichtlich seiner körperlichen oder geistigen Fähigkeiten oder hinsichtlich seiner Ressourcenausstattung, möglich sein, die fragliche Pflicht zu erfüllen. So obliegen den Landsleuten der Hilfsbedürftigen in dem von Feinberg genannten Beispiel offenbar deshalb keine Pflichten zur Hilfe, weil sie aufgrund ihrer spärlichen materiellen Ressourcenausstattung gar nicht zu deren Erfüllung in der Lage sind. Zum anderen muss einem Akteur, damit er als Pflichtenträger infrage kommt, die Erfüllung einer Pflicht auch zumutbar sein. So kann man etwa sagen, dass es prinzipiell zwar möglich ist, sich in einer Notlage unter Einsatz des eigenen Lebens für andere Menschen einzusetzen; allerdings halten wir es gemeinhin nicht für zumutbar, Menschen zu einem solchen Verhalten als verpflichtet zu betrachten. Ob es den Wohlhabenden zumutbar ist, hilfsbedürftigen Menschen in anderen Ländern zu helfen, ist dagegen umstritten. Feinberg geht in der zitierten Passage offenbar nicht davon aus, dass derartige Pflichten bestehen, denn er zieht die Wohlhabenden anderer Gesellschaften nicht als Träger der fraglichen Hilfspflichten in Betracht. Wir werden in Kapitel H. auf diese Frage zurückkommen. Die Beantwortung der Frage, ob ein „Anspruch“ ein „Recht“ oder ein bloßes „Manifest-Recht“ darstellt, ist demnach von der Frage abhängig, unter welchen Bedingungen wir es für möglich und zumutbar halten, dass andere Menschen einen Beitrag zu der Erfüllung einer infrage stehenden Pflicht leisten können. Von der Beantwortung dieser Frage hängt es dann wiederum ab, ob es Menschen gibt, die als Pflichtenträger des fraglichen Anspruchs infrage kommen. Ein Anspruch muss, um als „Recht“ zu gelten, aber offenbar noch in einer dritten, von Feinberg nicht diskutierten Verständnisweise gültig sein, und zwar insofern, als auch klar sein muss, gegenüber welchen konkreten Akteuren, denen die Erfüllung der fraglichen Pflicht prinzipiell möglich und zumutbar ist, der fragliche Anspruch geltend gemacht werden kann resp. an welche potentiellen Pflichtenträger sich der Anspruch im Speziellen richtet. Und nicht immer fällt die Antwort auf diese Frage eindeutig aus: So können Situationen auftreten, in denen sehr viele Anspruchsträger sehr vielen potenziellen Pflichtenträgern gegenüberstehen. Die fragliche Pflicht kann dann aber womöglich nicht von jedem potenziellen Pflichtenträger gegenüber jedem Anspruchsträger auch erfüllt werden. In dieser Weise gestaltet sich etwa die gegenwärtige Situation mit Blick auf das Problem der weltweiten Armut: Es stehen viele Millionen Anspruchsberechtigte vielen Millionen Wohlhabenden gegenüber, von denen wir, wie in Kapitel H. noch eingehender diskutiert werden wird, annehmen dürfen, dass ihnen die Bereitstellung von Hilfeleistungen im Prinzip möglich und zumutbar ist. In einer solchen Situation stellt sich 34 Vgl.
ebd.
B. Rechte
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die Frage, welcher Wohlhabende welchen konkreten Hilfsbedürftigen gegenüber in welchem Ausmaß zur Hilfe verpflichtet ist: Denn, so wollen wir annehmen, nicht jeder Wohlhabende kann allen Hilfsbedürftigen helfen und nicht jeder Hilfsbedürftige benötigt umgekehrt die Hilfe aller Wohlhabenden, um aus seiner Notlage befreit zu werden. Ist in einer Situation die Antwort auf die Frage nach der Auf- bzw. Zuteilung der Pflichten offen (Problem der Pflichtenallokation), hat dies auch Auswirkungen auf die Seite der Anspruchsträger: Denn unter derartigen Umständen gilt, dass sich keine bestimmten Akteure benennen lassen, denen die Erfüllung ihrer Ansprüche obliegt, und denen gegenüber sie ihre Ansprüche geltend machen können. Ein Recht zu besitzen bedeutet aber auch – und dies hat O’Neill wiederholt hervorgehoben –, dass klar benannt werden kann, wem gegenüber man seinen Anspruch gegebenenfalls geltend machen kann resp. wer einem die Erfüllung der korrespondierenden Pflichten schuldet: „Rights are seen as one side of a normative relationship between right-holders and obligation-bearers. We normally regard supposed claims or entitlements that nobody is obliged to respect or honour as null and void, indeed undefined.“35 „Nur wenn die Träger der Pflichten von den Inhabern der Rechte ermittelt werden können, sind Rechtsansprüche mehr als bloße Rhetorik. Denn nichts kann beansprucht, preisgegeben oder durchgesetzt werden, wenn nicht feststeht, wo der Anspruch angemeldet werden soll, bei wem darauf verzichtet werden kann oder bei wem er sich durchsetzen lässt.“36
Insofern es auf diese Frage für einen Anspruch keine Antwort gibt, wird er hier ebenfalls als „ungültiger“ Anspruch verstanden, der bloß ein Manifest-Recht, aber kein Recht im eigentlichen Sinn darstellt, da es ihm letztendlich an entsprechend benennbaren Pflichtenträgern mangelt. Im Folgenden wird angenommen, dass es sich bei einem Anspruch nur dann um ein Recht und nicht bloß um ein Manifest-Recht handelt, wenn es ein in all den drei genannten Hinsichten „gültiger“ Anspruch ist.
V. Privilegien, Kompetenzen und Immunitäten Neben den Ansprüchen macht Hohfeld im Rahmen seiner Rechtsanalyse noch drei weitere Formen von Rechten ausfindig, und zwar Immunitäten, Privilegien und Kompetenzen. Ein Privileg (privilege/liberty) ist Hohfeld zufolge eine Erlaubnis oder Freiheit, nach eigenem Gutdünken etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen, beispielsweise in einem öffentlichen Park spazieren zu gehen oder die eigene Meinung frei zu äußern. Privilegien korrespondieren keine Pflichten, sondern sogenannte „Nicht-Rechte“ (no-rights): Dass ein Privileg vorliegt bedeutet, dass andere kein Anspruchsrecht darauf haben, dass der Träger des Privilegs eine 35 36
O’Neill (2005), 430. Dies. (1996), 170; vgl. ähnlich dies. (1999), 205.
V. Privilegien, Kompetenzen und Immunitäten
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bestimmte Handlung ausführt resp. unterlässt. Andere dürfen den Träger des Privilegs jedoch innerhalb gewisser Grenzen durchaus davon abhalten, das Privileg auszuüben.37 Was unter „Privilegien“ und den korrespondierenden „Nicht-Rechten“ zu verstehen ist, erläutert Herbert Hart in anschaulicher Weise auch wie folgt: „Aus dem Umstand, dass eine Person ein Recht darauf besitzt, über ihren Gartenzaun hinweg ihren Nachbarn anzusehen, folgt nicht, dass der Nachbar eine korrelative Pflicht hat, sich ansehen zu lassen oder eine Behinderung der Ausübung dieses spezifischen Freiheitsrechts zu unterlassen. So könnte er sich beispielsweise auf seiner Seite des Zauns mit Hilfe eines Sichtschutzes abschirmen. Doch auch wenn ein Nachbar das tun kann, wenn er es möchte, und er somit selbst das Freiheitsrecht […] hat, einen solchen Sichtschutz aufzustellen oder auch nicht, so sind ihm in den meisten Ländern bestimmte andere Maßnahmen, um sich vor seinem Peiniger zu schützen, rechtlich untersagt. Er hat nämlich bestimmte zivil- und/oder strafrechtliche Pflichten, die einige (wenn auch nicht alle) Formen der Behinderung ausschließen, und diese schützen in der Praxis auf mehr oder minder angemessene Weise die Ausübung des Freiheitsrechts. So kann er nicht in den benachbarten Garten eindringen und seinen Peiniger zusammenschlagen, denn dies käme einer Verletzung bestimmter Pflichten gleich, die zwar nicht mit dem Freiheitsrecht seines Peinigers, ihn anzusehen, korrelieren, aber – zumindest im Falle zivilrechtlicher Pflichten – mit bestimmten anderen Rechten, die sein Peiniger hat und die keine bloßen Freiheiten darstellen. Es handelt sich dabei um das Recht des Peinigers, nicht körperlich verletzt zu werden sowie um sein Recht darauf, dass niemand seinen Grund ohne seine Erlaubnis betritt. Dies sind Rechte, die korrelativ sind zu Pflichten.“38
Ein weiterer Typus von Rechten ist Hohfeld zufolge die Kompetenz (power). Unter einer Kompetenz versteht er die Fähigkeit, die Verteilung der Rechte und Pflichten in einer Gemeinschaft zu verändern, z. B. durch Gesetzgebung oder durch die Anwendung von Gesetzen in Gerichten. Auch die (normative) Fähigkeit, rechtsverbindliche Verträge zu schließen (Geschäftsfähigkeit), ist eine Kompetenz; Letztere kann allerdings nur einverständlich von mindestens zwei Personen gemeinsam ausgeübt werden. Das Rechtskorrelat einer Kompetenz bezeichnet Hohfeld als „Subjektion“ (liability):39 Einer Subjektion unterworfen ist eine Person, wenn sie keinen Einfluss darauf hat, ob und in welcher Weise der Inhaber einer 37 Vgl. Hohfeld (2007), 64 ff. Hohfeld möchte nur Privilegien als „Freiheitsrechte“ verstanden wissen (vgl. ebd., 67). Man könnte jedoch im Prinzip auch die Zusicherung eines „Anspruchsrechts“ als Zusicherung einer „Freiheit“ auffassen, und zwar dann, wenn die korrespondierenden Pflichten den Rechtsträger vor bestimmten Arten von Beeinträchtigungen schützen. Vgl. zu diesem Punkt z. B. Stepanians: „Man kann im ersten Sinne [im Sinn einer Erlaubnis/eines Privilegs, TM] normativ frei sein, ohne es im zweiten [also im Sinne des Freiseins von Behinderungen, TM] zu sein, und umgekehrt. Beispielsweise könnte es A erlaubt sein, ihr Auto vor dem Haus zu parken, obgleich andere Autofahrer ihr dabei zuvorkommen dürfen. A’s Freiheit, vor dem Haus zu parken, ist in diesem Sinne kompatibel mit der Freiheit anderer, sie daran zu hindern. Umgekehrt gilt: Sollte es anderen verboten sein, A am Parken vor dem Haus zu hindern, dann wäre A (vielleicht nicht faktisch aber normativ) frei von Behinderungen“ (Stepanians (2007), 11). 38 Hart (2007), 140. 39 Hohfeld (2007), 61.
B. Rechte
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Kompetenz diese nutzt. So kann eine Person beispielsweise nichts gegen die durch den Träger der Kompetenz vorgenommenen Veränderungen der Rechtsverhältnisse unternehmen. Der vierte Rechtstypus, den Hohfeld im Zug seiner Analyse des Rechtsbegriffs ausfindig macht, ist der der Immunität (immunity). Eine Immunität schützt ihren Träger vor bestimmten Veränderungen seiner Rechtslage durch andere, deren Kompetenzen durch die bestehende Immunität eingeschränkt werden. Eine Immunität ist also die Freiheit vor der Kontrolle einer bestimmten Rechtsbeziehung durch eine andere Person.40 Ihr Rechtskorrelat ist die Unfähigkeit (disability) oder, wie es bei Hart heißt, die „Nicht-Kompetenz“41, bestimmte Veränderungen der Rechtslage des Inhabers der Immunität herbeizuführen.42 Hart weist zu Recht darauf hin, dass genau genommen allerdings nur dann von jemandem gesagt wird, dass er eine Immunität besitzt, wenn dies bedeutet, dass er dadurch vor nachteiligen Veränderungen seines rechtlichen Status durch andere geschützt wird:43 „Ganz offensichtlich wird aber der Ausdruck ,Recht‘ [in diesem Zitat wird unter ,Recht‘ eine ,Immunität‘ verstanden, TM] nicht dazu verwendet, die Tatsache zu bezeichnen, dass eine Person auf diese Weise gegen eine vorteilhafte Veränderung immun ist. Aus der Tatsache, dass der Stadtrat mir rechtlich keine Rente zuteilen kann, d. h. eine Nicht-Kompetenz dazu besitzt, und mein Nachbar mich nicht von meiner Steuerzahlungspflicht befreien kann, erwachsen mir keine juridischen Rechte. Die Immunität einer Person gegenüber rechtlichen Veränderungen durch andere wird nur dann als Recht bezeichnet und verstanden, wenn die betreffende Veränderung für die betreffende Person von Nachteil ist, d. h. wenn ihr dadurch juridische Rechte anderer Art (Freiheitsrechte, Kompetenzen, mit Pflichten korrelierte Rechte) oder gesetzlich verbürgte Begünstigungen entzogen würden.“44
Wichtige Beispiele für Immunitäten sind verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte: Diese heben die Kompetenz des Gesetzgebers auf, grundrechtswidrigen Gesetzen, die z. B. die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in einer unzulässigen Weise einschränken, Rechtsgültigkeit zu verleihen.45 Auch das Recht auf Eigentum wird typischerweise so verstanden, dass es Eigentümer im Sinn einer Immunität davor schützt, dass andere ihnen bestimmte Rechte, die sie in Bezug auf ihr Eigentum besitzen, durch die Ausübung einer normativen Kompetenz nehmen können.46 40
Vgl. ebd., 82. Hart (2007), 160. 42 Vgl. Hohfeld (2007), 61. 43 Vgl. Hart (2007), 160. Hart versteht unter „Immunitäten“ ebenso wie Hohfeld nur diejenigen Immunitäten, die die Form eines juridischen Rechts haben (vgl. ebd.). 44 Ebd. 45 Vgl. ebd., 159 f. 46 Vgl. Hohfeld (2007), 82. Was unter einer „Immunität“ und dem damit verbundenen Rechtskorrelat, der „Unfähigkeit“, zu verstehen ist, verdeutlicht Hohfeld auch anhand des folgenden Beispiels: „Der Grundstücksbesitzer X hat […][wenn er ein Recht auf Eigentum besitzt, TM] die Kompetenz, sein Grundstück an Y oder an irgendeine andere gewöhnliche 41
V. Privilegien, Kompetenzen und Immunitäten
39
Hohfeld zufolge lassen sich somit vier Typen von Rechten samt ihrer Korrelate voneinander unterscheiden: Tabelle 1
Rechtstypen nach Hohfeld Recht:
Korrelat:
Anspruchsrecht
Pflicht
Privileg
Nicht-Recht
Kompetenz
Subjektion
Immunität
Unfähigkeit/Nicht-Kompetenz
Es muss hier noch angemerkt werden, dass Hohfeld die verschiedenen Rechtstypen so versteht, dass sie jeweils eine Rechtsbeziehung zwischen zwei natürlichen Personen zum Ausdruck bringen:47 Tabelle 2
Natürliche Personen als Rechtsträger und Rechtsadressat Rechtsträger:
Rechtsadressat:
As Anspruchsrecht
Bs Pflicht
As Privileg
Bs Nicht-Recht
As Kompetenz
Bs Subjektion
As Immunität
Bs Unfähigkeit/Nicht-Kompetenz
Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen sollen, wie Ansprüche auch, im Weiteren nur dann als „Rechte“ bezeichnet werden, wenn sie in dem Sinn „gültig“ sind, als ihre Anerkennung von den herrschenden juridischen Regeln oder von den Prinzipien der positiven oder der kritischen Moral verlangt wird.48 Was im Folgenden unter „Ansprüchen“, „Privilegien“, „Kompetenzen“ und „Immunitäten“ verstanden wird, weicht somit zum einen insofern von der HohPartei zu veräußern. Auf der anderen Seite besitzt X auch zahlreiche Immunitäten Y und anderen gewöhnlichen Parteien gegenüber. Denn auf Seiten Ys besteht die Unfähigkeit (d. h. er hat nicht die Kompetenz) hinsichtlich einer Umverteilung des juridischen Interesses zu seinen eigenen Gunsten oder auch denen einer anderen Partei; und was für Y gilt, gilt gleichermaßen für jeden, der nicht […] eine Kompetenz erlangt hat, das Eigentum von X zu veräußern“ (ebd.). 47 Vgl. Stepanians (2007), 17. 48 Anders als Ansprüche können Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen dagegen nicht „gültig“ oder „ungültig“ im Sinn der in Kapitel B. IV. dargelegten Kriterien zwei und drei sein, da ihnen keine Pflichten korrespondieren; beide Kriterien können für die Frage, ob es sich bei einem Privileg, einer Kompetenz oder einer Immunität um ein „Recht“ handelt, also keine Rolle spielen.
B. Rechte
40
feld’schen Verständnisweise ab, als es sich bei den fraglichen Rechtstypen nicht nur um juridische, sondern auch um moralische Rechte handeln kann. Zum anderen werden Ansprüche, Privilegien, Kompetenzen und Immunitäten nur dann als „Rechte“ bezeichnet, wenn sie „gültig“ in dem im Vorangehenden dargelegten Sinn sind (siehe zur „Gültigkeit“ resp. „Ungültigkeit“ von Ansprüchen Kap. B. IV.).
VI. Komplexe und atomare Rechte In Anlehnung an Hohfeld lassen sich demnach zwei Verständnisweisen des Ausdrucks „Recht“ voneinander unterscheiden: Zum einen kann „Recht“ als Sammelbegriff oder generischer Begriff verstanden werden, unter welchen gleichermaßen Privilegien, Kompetenzen, Immunitäten und Ansprüche (in dem zuvor dargelegten Sinn) fallen. Zum anderen sind mit „Rechten“ häufig auch Rechte im Sinn von „Ansprüchen“ gemeint, denen Pflichten als Korrelat gegenüberstehen. Anhand der Ausführungen Hohfelds zum Rechtsbegriffs lässt sich jedoch noch eine weitere Verwendungsweise aufzeigen, in der der Ausdruck „Recht“ verwendet wird: Denn das, was wir als „Recht“ bezeichnen, stellt häufig einen Komplex bestehend aus verschiedenen Rechtstypen – und damit bestehend aus verschiedenen Ansprüchen, Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen – dar.49 So bestehen etwa Eigentumsrechte aus allen der vier zuvor genannten Typen von Rechten: Sie bestehen aus Kompetenzen, da der Träger eines Eigentumsrechts die Verteilung der Rechte und Pflichten in der Gemeinschaft durch den Verkauf oder den Verleih des Gegenstands, an dem er dieses Recht besitzt, verändern kann. Sie bestehen aus Privilegien, da man mit seinem Eigentum innerhalb bestimmter Grenzen tun und lassen kann, was man möchte. Und sie stellen Immunitäten dar, da ein Eigentumsrecht zu besitzen auch bedeutet, vor bestimmten rechtlichen Veränderungen durch andere geschützt zu sein: So sind andere unfähig, die durch das Recht insgesamt zugesicherten Rechtsbeziehungen von sich aus zu verändern, also z. B. den Verkauf des infrage stehenden Gegenstands zu erzwingen. Nicht zuletzt schließt ein Eigentumsrecht auch Anspruchsrechte ein, denn es erlegt anderen Unterlassungspflichten in Bezug auf die Nutzung fremden Eigentums auf. „Rechte“ können demnach insofern als „komplexe Rechte“ verstanden werden, als sie aus einer Verbindung mehrerer der in den vorangehenden Abschnitten genannten Rechtstypen bestehen. Da diese vier Rechtstypen die kleinste Einheit darstellen, aus denen sich komplexe Rechte zusammensetzen, kann man diese entsprechend auch als „atomare“50 oder „einfache“51 Rechte bezeichnen. Rechte im geläufigen Sinn können jedoch auch deshalb als komplexe Rechte betrachtet werden, weil die elementaren Arten von Rechtsbeziehungen, aus denen sie bestehen, in der Regel nicht nur zwischen zwei, sondern zwischen mehreren Personen bestehen: Ein Eigentumsrecht zu haben bedeutet nicht nur, ein Anspruchsrecht 49 Vgl.
Koller (2007), 94. Stepanians (2007), 17. 51 Hinsch/Stepanians (2005), 303. 50
VI. Komplexe und atomare Rechte
41
Abbildung 2: Verhältnis komplexe und atomare Rechte am Beispiel des (komplexen) Rechts auf Eigentum
auf Unterlassung der Beschädigung, Entwendung usw. des fraglichen Gegenstands gegenüber einer natürlichen Person A zu haben, wie Hohfeld dies für die grundlegenden Rechtsformen annimmt, sondern es bedeutet auch, dieses gegenüber B, C, …, und N zu haben („N“ soll hier und im Folgenden für die Gesamtzahl der Pflichtenträger stehen). Mit komplexen Rechten dieser Art haben wir es auch dann zu tun, wenn in der Moral- und Rechtsphilosophie von „Rechten in personam“ (auch „Personenrechte“, „spezielle Rechte“; „nicht-generelle Rechte“) und „Rechten in rem“ (auch „Sachenrechte“, „generelle Rechte“) die Rede ist. Als „Rechte in rem“ werden Rechte bezeichnet, die allen moralischen Akteuren die mit einem Recht korrespondierende Pflicht auferlegen. Ein Beispiel für ein Recht in rem wäre das Recht As auf Leben und körperliche Unversehrtheit; ein solches Recht wird üblicherweise so verstanden, dass es allen moralischen Akteuren die Pflicht auferlegt, den Rechtsträger nicht zu töten oder zu verletzen. Ein solches Recht besteht somit der Hohfeld’schen Terminologie zufolge aus einem Komplex aus einfachen (Anspruchs-)Rechten As gegenüber B, gegenüber C, …, gegenüber N darauf, die fragliche Handlung zu unterlassen. „Rechte in personam“ sind dagegen Rechte, die nur einigen oder einem moralischen Akteur die korrespondierende Pflicht auferlegen. Sofern sie einigen Adressaten Pflichten auferlegen, handelt es sich auch bei diesen Rechten um komplexe Rechte in dem eben dargelegten Sinn. Abbildung 2 veranschaulicht, in welchem Verhältnis komplexe und atomare Rechte zueinander stehen können.52 52 In der rechtsphilosophischen Literatur findet sich neben der gerade genannten Unterscheidung zwischen „Rechten in rem“ und „Rechten in personam“ noch eine zweite Ver-
42
B. Rechte
Rechte unterscheiden sich nun aber nicht nur mit Blick darauf, welchen Adressatenkreis sie haben, sondern auch mit Blick auf den Kreis der Rechtsträger. Sind alle Menschen Träger eines Rechts, so ist auch von „universalen“ oder „universellen“ Rechten die Rede; kommt ein Recht dagegen nur einem oder einigen Menschen zu, so handelt es sich um ein „nicht-universales“ oder „nicht-universelles“ Recht. Mit Blick sowohl auf den Kreis der Rechtsträger als auch auf den Kreis der Rechtsadressaten lassen sich somit abermals vier Typen von Rechten unterscheiden: – nicht-universale Rechte in personam – nicht-universale Rechte in rem – universale Rechte in rem – universale Rechte in personam. Universale und nicht-universale Anspruchsrechte in rem zeichnen sich dadurch aus, dass alle moralischen Akteure die mit dem Recht korrespondierende Pflicht erfüllen müssen, soll der infrage stehende Anspruch gewahrt werden. Ein Beispiel ist das komplexe Anspruchsrecht auf Leben: Es ist nur dann gewahrt, wenn alle moralischen Akteure der korrespondierenden Pflicht nachkommen, den Rechtsträger nicht zu töten. Rechte in rem können deshalb auch als „konjunktive Rechte“ bezeichnet werden (A ˄ B ˄ C, …, ˄ N müssen das fragliche Recht erfüllen). Dagegen können universale Anspruchsrechte in personam, wie das Recht des Kindes, aufgezogen und versorgt zu werden, in aller Regel auch dann gewahrt werden, wenn nicht alle moralischen Akteure dem korrespondierenden Rechtskorrelat nachkommen; Rechte dieser Art können auch als „disjunktive“ Rechte bezeichnet werden (A ˅ B ˅ C ˅ AB ˅ BC ˅ CA usw. müssen die fragliche Pflicht erfüllen).53 Es sind Rechte dieser Art, in Bezug auf welche das bereits erwähnte Problem der Pflichtenallokation auftritt, da für diese Rechte festgelegt werden muss, welchem Personenkreis die korrespondierenden Pflichten in welchem Ausmaß obliegen. In eben dieser Weise beschaffen ist das in dieser Arbeit zentrale Recht auf ein Leben frei von Armut bzw. auf ein soziales Minimum, denn es erscheint nicht ohne Weiteres klar zu sein, wem die korrespondierenden Pflichten obliegen. Die Diskussion der Frage, wer die entsprechenden Pflichtenträger sind, wird Gegenstand von Kapitel H. sein. ständnisweise dieser Unterscheidung. Dieser zweiten Verständnisweise zufolge bezieht sich der Unterschied zwischen „Rechten in rem“ und „Rechten in personam“ auf die Frage, ob ein Recht entweder die Beziehung zwischen Personen oder zwischen Personen und Gegenständen regelt: Rechte der ersten Art werden dann als „Rechte in personam“, Rechte der zweiten Art als „Rechte in rem“ bezeichnet (vgl. Stepanians (2007), 12). Als Beispiel für ein Recht in personam wird dieser Verwendungsweise zufolge das Recht von Arbeitgebern auf das Erbringen einer bestimmten Wochenarbeitsleistung vonseiten der Angestellten betrachtet. Ein Recht in rem wäre dieser Verwendungsweise zufolge dagegen etwa das Recht auf Eigentum, da es das Verhältnis eines Rechtsträgers zu einer Sache oder einem Ding (res), d. h. zu dem durch das Recht geschützten Gegenstand, regelt (vgl. für eine solche Verständnisweise der Unterscheidung zwischen Rechten in rem und Rechten in personam z. B. McCloskey (1965), 118; vgl. kritisch zu dieser Unterscheidung Feinberg (2007), 199). 53 Vgl. Hinsch/Stepanians (2005), 303.
VII. Negative und positive Rechte
43
VII. Negative und positive Rechte Eine weitere gängige, rechtsphilosophische bzw. -theoretische Unterscheidung, die an dieser Stelle Erwähnung finden muss, ist die zwischen „negativen“ und „positiven“ Rechten; sie bezieht sich auf Rechte, die die Struktur von Anspruchsrechten besitzen. Als „negative“ Rechte werden Rechte bezeichnet, denen negative Pflichten korrespondieren, d. h. Pflichten, die die Unterlassung bestimmter Handlungen gebieten. „Positiven“ Rechten korrespondieren dagegen ausschließlich positive Pflichten, d. h. Pflichten, die ein bestimmtes Tun erfordern.54 Die Unterscheidung zwischen negativen und positiven Rechten resp. Pflichten spielt in der Diskussion über soziale Rechte, zu denen auch das Recht auf ein Leben frei von Armut bzw. auf ein soziales Minimum gehört, eine besondere (auch) rhetorische Rolle: Häufig wird angenommen, dass die Erfüllung grundlegender negativer Rechte und Pflichten wichtiger sei als diejenige positiver Rechte und Pflichten, weshalb der Erfüllung Ersterer zumindest Vorrang eingeräumt werden müsse.55 Begründet wird diese Differenz u. a. damit, dass es für das menschliche Zusammenleben wichtiger sei, Dinge wie Mord, Raub oder Betrug zu unterlassen als anderen Wohltaten zu erweisen. Diese These erscheint jedoch insofern zweifelhaft, als eine fehlende grundlegende soziale Absicherung der Beseitigung von Mord-, Raub- und Betrugsdelikten nicht unbedingt förderlich ist. Vielmehr lässt sich das negative Recht auf körperliche Unversehrtheit besser schützen, wenn allen Menschen auch ein positives Recht 54 Die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Pflichten in der genannten Weise „handlungstheoretisch“ (Mieth (2012), 95) zu verstehen, ist weitverbreitet. Es gibt jedoch noch andere Verständnisweisen dieser Unterscheidung: Corinna Mieth zufolge lässt sich von der handlungstheoretischen die konsequentialistische, die normative und die gütertheoretische Verständnisweise abgrenzen (vgl. ebd., 95 ff.). Die konsequentialistische Unterscheidung ist Mieth zufolge wie folgt zu verstehen: „Positive Pflichten sind Pflichten, deren Erfüllung dazu beiträgt, dass jemand besser gestellt wird. Negative Pflichten sind Pflichten, deren Erfüllung dazu beiträgt, dass jemand nicht schlechter gestellt wird“ (ebd., 100). Die normative Unterscheidung besagt: „Positive Pflichten sind Pflichten, die Situation anderer zu verbessern. Negative Pflichten sind Pflichten, andere nicht zu schädigen. […] Da Schädigen moralisch verwerflicher ist als unterlassenes Wohltun, haben negative Pflichten Vorrang vor positiven Pflichten“ (ebd., 101; vgl. z. B. Pogge (2011), 165). Die vierte Möglichkeit der Unterscheidung zwischen „positiven“ und „negativen“ Pflichten ist die gütertheoretische, die sich Mieth zufolge wie folgt fassen lässt: „Negative Pflichten dienen dazu, grundlegende Güter zu erhalten. Positive Pflichten dienen dazu, weitere Güter bereitzustellen“ (Mieth (2012), 110). Ich werde die drei zuletzt genannten, weniger geläufigen Unterscheidungsmöglichkeiten im Folgenden nicht diskutieren, sondern mich auf die Diskussion der weitverbreiteten, handlungstheoretischen Unterscheidung konzentrieren. Eine eingehendere Diskussion aller vier Verständnisweisen findet sich in Mieth (2012); Mieth zeigt dort überdies, dass die handlungstheoretische Unterscheidung zwischen „positiven“ und „negativen“ Pflichten auch die plausibelste Form dieser vier Unterscheidungsmöglichkeiten ist (vgl. ebd., 95 ff.). Im Folgenden werde ich ebenfalls der handlungstheoretischen Verständnisweise dieser Unterscheidung folgen. 55 Vgl. z. B. Shue (1996), 35 f.; Rawls (1975), 136.
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B. Rechte
auf Subsistenz gewährt wird und niemand materielle Not leiden muss. Unabhängig davon gilt, dass es für die Sicherung des Lebens generell nicht nur nötig ist, Menschen vor physischen Übergriffen anderer, sondern auch vor einem Mangel an Subsistenzgütern zu schützen, da dieser das Leben und die körperliche Integrität ebenso bedrohen kann wie physische Übergriffe durch andere.56 Eine weitere Begründung dafür, der Erfüllung negativer Rechte Vorrang vor derjenigen positiver Rechte einzuräumen, besteht in der Annahme, dass wir negative Rechte mit weniger Aufwand erfüllen können, da ihnen „nur“ negative Pflichten korrespondieren, die das Unterlassen bestimmter Handlungen erfordern. Die Wahrung positiver Rechte wird dagegen als schwieriger und aufwendiger betrachtet, weil sie das Erbringen positiver Leistungen nötig macht, wie beispielsweise die Bereitstellung finanzieller Mittel, und in dem Sinn nicht „kostenlos“ möglich ist.57 Es erscheint somit einfacher, die allgemeine Anerkennung eines Rechts zu erreichen, wenn man dieses als „negatives“ deklariert: Die Erfüllung negativer Rechte ist, so die Annahme, offenbar mit keinem besonderen Aufwand verbunden und kann deshalb jedem zugemutet werden,58 wohingegen die Erfüllung positiver Rechte häufig als überfordernd und dem Akteur nicht zumutbar betrachtet wird (siehe dazu Kap. H. III.). In eine ähnliche Richtung weist auch jenes Argument, das im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Debatte über die sozialen Rechte und das Sozialstaatsprinzip in Kapitel A. genannt wurde: Diesem Argument zufolge kann das Recht auf ein soziales Minimum – anders als die anderen Grundrechte – nicht stets gewährleistet werden, da für dieses Recht gilt, dass die dazu nötigen finanziellen Mittel in Abhängigkeit vom Wirtschaftsstand einer Gesellschaft womöglich nicht immer in ausreichendem Maß vorhanden sind. Wie bereits in Kapitel A. deutlich wurde, ist die Annahme, dass den durch das GG direkt garantierten Rechten lediglich negative Pflichten korrespondieren, keinesfalls plausibel. Denn, so lässt sich der im Vorangehenden entwickelten Terminologie folgend sagen, bei dem, was wir gemeinhin als „Rechte“ bezeichnen, handelt es sich in aller Regel um komplexe Rechte: So stellt das „Recht auf Leben“ einen Komplex bestehend aus verschiedenen Typen von Anspruchsrechten dar, wozu nicht nur das negative (Anspruchs-)Recht darauf gehört, dass andere es unterlassen müssen, dem Rechtsträger nach dem Leben zu trachten. Wenn die Garantie eines Rechts im Schutz vor Standardbedrohungen besteht, so erfordert dies, wie ebenfalls in Kapitel A. dargelegt wurde, auch den Aufbau und Erhalt bestimmter Institutionen, die dafür Sorge tragen, dass andere ihren negativen Pflichten tatsächlich 56 Vgl. Shue (1996), 24 f. Shue weist überdies darauf hin, dass man sogar annehmen kann, dass der Schutz des (vermeintlich) positiven Rechts auf Subsistenzmittel noch dringlicher ist als der Schutz vor physischen Übergriffen: „People who lack protection against violations of their physical security can, if they are free, fight back against their attackers or flee, but people who lack essentials, such as food, because of forces beyond their control, often can do nothing and are on their own utterly helpless“ (ebd., 25). 57 Vgl. z. B. ebd., 37. 58 Vgl. z. B. Koller (2007), 91.
VII. Negative und positive Rechte
45
nachkommen. Aufbau und Erhalt dieser Institutionen sind aber mit erheblichem finanziellen und personellen Aufwand verbunden und keinesfalls „kostenfrei“.59 Sobald also Rechte (im geläufigen Sinn) als komplexe Rechte verstanden werden und die Bedeutung darin gesehen wird, dem Rechtsträger einen Schutz vor gewissen Standardbedrohungen zu bieten, wird es häufig nicht sinnvoll sein, (komplexe) Rechte abhängig von den ihnen korrespondierenden Pflichten in negative und positive einzuteilen, da ihnen in der Regel sowohl negative als auch positive Pflichten korrespondieren werden. Doch selbst wenn man einfache bzw. atomare Rechte in den Blick nimmt, ist die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Rechten und Pflichten nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: So können vermeintliche negative Unterlassungspflichten häufig nur dadurch erfüllt werden, dass etwas Bestimmtes getan wird. Beispielsweise bin ich verpflichtet, die Bremse zu betätigen, wenn ich mein Fahrzeug nur auf diese Weise vor einer roten Ampel zum Stehen bringen kann und dadurch die negative Pflicht erfülle, nicht über rote Ampeln zu fahren. Umgekehrt gilt für alle Pflichten, die ein „positives“ Tun gebieten, dass ihre Erfüllung immer auch Unterlassungen erforderlich macht, zu denen wir dann ebenfalls verpflichtet sind: Wenn ich verpflichtet bin, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, habe ich auch die Pflicht, alles zu unterlassen, was die Rettung des Kindes verhindern oder verzögern würde. Nicht selten ist die Unterscheidung zwischen vermeintlich negativen und vermeintlich positiven Pflichten lediglich eine Frage der sprachlichen Formulierung: Sagen wir „Unternehmer sind verpflichtet, Arbeiter nicht zu entlassen“, scheint eine negative Pflicht vorzuliegen; sagen wir dagegen „Arbeitgeber sind verpflichtet, einmal angestellte Arbeiter dauerhaft weiter zu beschäftigen und zu entlohnen“, scheint eine positive Pflicht vorzuliegen. Damit gilt aber: „Wenn man die […] Unterscheidung irgendwie gehaltvoll treffen will, darf man nicht zulassen, dass einfache Reformulierungen möglich sind. ‚Negative Pflichten sind Pflichten, die ein Unterlassen fordern’ darf also nicht so verstanden werden, dass negative Pflichten fordern, dass man es unterlässt, sie zu erfüllen. Die Pflicht der Hilfeleistung könnte dann die Unterlassung der unterlassenen Hilfeleistung fordern usf.“60
Dass die Erfüllung positiver Rechte und Pflichten für den Leistungsträger nicht immer „kostspieliger“ sein muss als die Erfüllung negativer Rechte und Pflichten, lässt sich überdies anhand des folgenden Beispiels illustrieren: Nehmen wir an, Menschen hätten ein Recht auf Arbeit und es sei Unternehmern verboten, Arbeitnehmer zu entlassen, selbst wenn diese im Unternehmen nicht mehr benötigt werden. Dieses Verbot erlegte Unternehmern dem üblichen Sprachgebrauch folgend eine negative Pflicht auf. Die Erfüllung dieser Pflicht wäre jedoch recht kostspielig und könnte Unternehmen sogar in den Ruin treiben. Umgekehrt erlegte ein rechtliches Gebot, sich mit einem halben Prozent des eigenen Einkommens an der 59 Vgl. 60
Shue (1996), 37 ff. Mieth (2012), 96, Fn. 26.
46
B. Rechte
Bekämpfung der weltweiten Armut zu beteiligen, dem üblichen Sprachgebrauch zufolge den Menschen eine positive, aber im Vergleich viel weniger kostspielige Pflicht auf. Sobald wir überdies nicht mehr die objektiven „Kosten“ der Pflichterfüllung, sondern die subjektiven Bewertungen in Betracht ziehen, verflüchtigt sich diese Unterscheidung zwischen positiven und negativen Rechten vollends: So mag es für jemanden im Licht seiner persönlichen Neigungen subjektiv kein Problem sein, zehn Prozent seines Einkommens abzugeben, um seiner (positiven) Pflicht zur Hilfeleistung nachzukommen, aber womöglich sieht er es als ein großes Opfer an, auf denselben Betrag zu verzichten, um seiner (negativen) Pflicht, Geschäftspartner nicht zu übervorteilen, nachzukommen. Zusammenfassend erweist sich die gängige Unterscheidung zwischen negativen und positiven Rechten und Pflichten somit als wenig hilfreich und sinnvoll, wenn wir einmal von ihrem bereits erwähnten fragwürdigen rhetorischen Nutzen absehen, der darin besteht, die Sicherung klassischer (negativer) Abwehrrechte gegen Übergriffe durch den Staat problemloser erscheinen zu lassen als die Anerkennung (positiver) sozialer Rechte. Es erscheint deshalb hilfreich, die übliche Unterscheidung zwischen negativen und positiven Pflichten aufzugeben, und stattdessen mithilfe eines anderen Kriteriums zwischen zwei Arten von Pflichten zu unterscheiden, welche ich als „Basis-“ und „Zusatzpflichten“ bezeichnen möchte. Unter „Basispflichten“ verstehe ich Pflichten, von denen wir annehmen, dass jeder Mensch mit den für einen moralischen Akteur notwendigen Fähigkeiten und Eigenschaften sie auch erfüllen kann. Als Pflichten dieser Art werden üblicherweise die klassischen (negativen) Unterlassungspflichten, u. a. nicht morden, nicht rauben, nicht betrügen, aber auch Pflichten zu kleineren Hilfeleistungen, deren Erfüllung keine besonderen Ressourcen und Fähigkeiten voraussetzt, verstanden. „Zusatzpflichten“ zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass zu ihrer Erfüllung der Besitz von Fähigkeiten, Eigenschaften oder Ressourcen notwendig ist, die nicht jeder moralische Akteur mitbringt: So verfügt nicht jeder moralische Akteur über ausreichend materielle Güter, um anderen Menschen aus einem Leben in Armut zu helfen.61 Die Zusatzpflichten fallen in weiten Teilen, wenn auch nicht vollständig, mit den Pflichten zusammen, die üblicherweise als „positive Pflichten“ bezeichnet werden; die Pflichten, die ich als „Basispflichten“ bezeichne, decken sich dagegen weitgehend mit den üblicherweise als „negativ“ bezeichneten Pflichten. Während wir die Erfüllung von Basispflichten von allen moralischen Akteuren erwarten, obliegen Zusatzpflichten nur denjenigen moralischen Akteuren, die auch über die zusätzlichen Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, die zu deren Erfüllung not61 Es ist im Übrigen nicht tautologisch, von einer generellen Basispflicht zu sprechen: Eine Basispflicht zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Prinzip von jedem erwachsenen moralischen Akteur erfüllt werden kann. Das muss aber nicht heißen, dass jedem dieser Akteure auch jede Basispflicht obliegen muss. So würden wir etwa sagen, dass jeder Akteur zunächst einmal dazu verpflichtet ist, sein Kind zu erziehen. Aber nicht jedem erwachsenen moralischen Akteur obliegt diese Basispflicht, sondern die Voraussetzung für das Bestehen einer solchen Pflicht ist das Bestehen einer besonderen Art von Beziehung, in der er zu dem Kind steht.
VIII. Begünstigten- vs. Entscheidungstheorie
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wendig sind, die aber keine Voraussetzungen der allgemeinen Handlungsfähigkeit eines moralischen Akteurs darstellen.62
VIII. Begünstigten- vs. Entscheidungstheorie Zwei konkurrierende Antworten auf die Frage, was es heißt, Träger eines Rechts zu sein, liefern die Begünstigten- und die Entscheidungstheorie.63 Die Antwort der Begünstigtentheorie auf diese Frage lautet, dass der Träger eines Rechts zu sein nichts anderes bedeutet als der Begünstigte einer Pflicht zu sein; es ist dieser Umstand, der das Haben von Rechten dieser Auffassung zufolge so wertvoll macht.64 Die Entscheidungstheorie geht dagegen davon aus, dass ein (juridisches) Recht zu haben bedeutet, die Möglichkeit einer (gesetzlich respektierten) Entscheidung zu haben.65 Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Entscheidungstheorie besser geeignet ist zu beschreiben, was es heißt, ein Recht zu besitzen, als die Begünstigtentheorie. Der Kerngedanke der Begünstigtentheorie findet sich David Lyons zufolge bereits in Jeremy Benthams Rechtsphilosophie. Der Theorie liegt der Gedanke zugrunde, dass aus dem Umstand, dass B eine Pflicht obliegt, A in bestimmter Weise zu behandeln, nicht ohne Weiteres folgt, dass A auch ein korrespondierendes Recht besitzt, in entsprechender Weise behandelt zu werden, denn wir würden kaum sagen, dass wenn B beispielsweise dazu verpflichtet ist, A ins Gefängnis zu sperren, A ein korrespondierendes Recht besitzt, ins Gefängnis gesperrt zu werden. Pflichten generieren Bentham zufolge, so Lyons weiter, vielmehr nur dann ein korrespondierendes Recht, wenn die infrage stehende Pflicht auch dazu dient, ein Gut im Leben eines Individuums zu sichern. „Ein Recht zu haben“ heißt deshalb im Wesentlichen, der Begünstigte einer Pflicht eines anderen zu sein.66 62 Vgl. eingehender zu dem hier verwendeten Verständnis „voll handlungsfähiger moralischer Akteure“ bzw. „erwachsener Personen“ Kapitel D. 63 Statt von „Begünstigtentheorie“ ist in der Literatur manchmal alternativ auch die Rede von der „Begünstigungstheorie“ oder der „Interessentheorie“ (interest theory); die Entscheidungstheorie wird alternativ auch als „Willenstheorie“ (will theory), „Anspruchsberechtigtentheorie“ (claimant theory) oder „Wahltheorie“ (choice theory) bezeichnet. 64 Vgl. Lyons (2007), 113. 65 Vgl. Hart (2007), 158. 66 Vgl. Lyons (2007), 113 ff. Ein „Begünstigter“ im hier relevanten Sinn zu sein, bedeutet nicht notwendigerweise, dass man auch von der Existenz der korrespondierenden Pflicht profitiert. So ist es Lyons zufolge (i) möglich, dass die fragliche Pflicht nicht erfüllt wird wie es auch (ii) möglich ist, dass ein Begünstigter durch die Erfüllung der infrage stehenden Pflicht seine Situation verschlechtert, beispielsweise, indem er etwas ihm Geschuldetes für etwas verwendet, das ihn letztendlich schädigt. „Begünstigt“ ist man Bentham zufolge (iii) zudem nicht erst dann, wenn man etwas gewinnt, sondern bereits dann, wenn man nichts verliert, also ein Übel vermieden wird. Auch wenn diese Einschränkungen zutreffen, soll hier von einem „Begünstigten“ einer Pflicht die Rede sein (vgl. ebd., 117). Für die weiteren, rein rechtstheoretischen Überlegungen können wir die Frage offen lassen, was ein „Gut“,
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B. Rechte
Es lassen sich zwei Varianten der Begünstigtentheorie unterscheiden, die sich Lyons zufolge der Sache nach ebenfalls bereits in Benthams Rechtsphilosophie finden,67 und zwar die uneingeschränkte und die eingeschränkte Begünstigtentheorie. Die uneingeschränkte Begünstigtentheorie besagt, dass jeder, der von der Erfüllung einer Pflicht begünstigt wird, auch ein dieser Pflicht korrespondierendes Recht besitzt.68 Dies erklärt jedoch nicht in adäquater Weise, was wir gemeinhin unter dem Besitz eines Rechts verstehen: Denn nicht jedem, der in irgendeiner Weise durch die Erfüllung einer Pflicht begünstigt wird, gestehen wir auch ein dieser Pflicht korrespondierendes Recht zu. Lyons illustriert dies anhand eines einfachen Beispiels: Wenn Bernard Alvin 10 Dollar schuldet, und Alvin beschließt, Charles ein Geschenk zu machen, sobald er die 10 Dollar von Bernard erhalten hat, können wir sagen, dass Charles eine Begünstigung widerfährt, sobald Bernard seine Pflicht erfüllt. Dennoch würden wir nicht sagen, dass Charles aus diesem Grund ein Recht gegenüber Bernard auf die Erfüllung der infrage stehenden Pflicht besitzt oder ihm ein Recht auf den Erhalt eines Geschenks zukommt. Ein Recht besitzt in dieser Situation vielmehr nur Alvin, und zwar darauf, von Bernard 10 Dollar zu erhalten.69 Es erscheint deshalb allenfalls plausibel, die Frage, was es heißt, ein Recht zu besitzen, mithilfe der eingeschränkten Begünstigtentheorie zu beantworten. Dieser Theorie zufolge besitzt nicht jeder durch eine Pflicht Begünstigte ein Recht, sondern nur der durch eine Pflicht vorgesehene Begünstigte, genauer derjenige, der von einer Pflicht unmittelbar begünstigt werden soll. Lyons bezeichnet einen in diesem Sinn Begünstigten auch als einen im „eingeschränkten Sinn Begünstigten“70. In dem oben genannten Beispiel wäre Alvin der von Bernards Pflicht vorgesehene oder in einem eingeschränkten Sinn Begünstigte; nur Alvin käme in der genannten Situation ein Recht gegenüber Bernard zu. Der Entscheidungstheorie zufolge ist es für den Besitz eines Rechts nicht ausschlaggebend, ob ein Mensch durch die Erfüllung einer ihm gegenüber bestehenden Pflicht begünstigt wird oder nicht. Ein Recht wird einem Menschen, wie es bei Herbert Hart heißt, vielmehr dann gewährt, wenn er die Möglichkeit einer das durch ein Recht geschützt werden soll, eigentlich auszeichnet. Im Prinzip sind darauf verschiedene Antworten möglich, und zwar abhängig davon, welche Ethik man einem solchen Rechtsverständnis zugrunde legt: So könnte der Schutz eines „Guts“ in einer vom Hedonismus ausgehenden utilitaristischen Theorie, wie sie z. B. Bentham vertreten hat, im Schutz von Handlungen gesehen werden, die die größtmöglichen Lustempfindungen für die größtmögliche Anzahl an Gesellschaftsmitgliedern hervorbringen. Es könnte aber ebenso gut, wie dies beispielsweise im Capability-Ansatz der Fall ist, eine Palette an Gütern ausgewählt werden, die als intrinsisch wertvoll betrachtet wird, und deren Verwirklichung resp. Nutzung im Leben eines jeden Rechtsträgers geschützt werden sollte (siehe zu den Grundzügen des Capability-Ansatzes Kap. F. II. 1.). 67 Vgl. ebd., 113, Fn. 1, 114. 68 Vgl. ebd., 118. 69 Vgl. ebd. 70 Ebd., 118 f.
VIII. Begünstigten- vs. Entscheidungstheorie
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gesetzlich respektierten Entscheidung besitzt.71 Eine solch gesetzlich respektierte Entscheidung besteht in Bezug auf Anspruchsrechte darin, dass man als Rechtsträger die Wahl hat, auf die Erfüllung der einem solchen Recht korrespondierenden Pflicht zu drängen oder aber auf deren Erfüllung zu verzichten. Man könnte alternativ auch sagen: Eine gesetzlich respektierte Entscheidung zu haben, bedeutet mit Blick auf Anspruchsrechte, eine mehr oder weniger große (rechtliche) Kontrolle über die Pflichten und die Pflichterfüllung einer anderen Person zu haben.72 Hart unterscheidet drei Arten der Kontrolle, die man über die Pflichten einer anderen Person haben kann: „(i) [D]er Rechtsträger kann auf die Erfüllung der Pflicht verzichten, sie aufheben oder sie bestehen lassen; (ii) bei Verletzung der Pflicht oder auch nur angedrohter Pflichtverletzung kann er darauf verzichten, sie zu ‚erzwingen’, oder er kann sie gerichtlich ‚erzwingen’, indem er Schadensersatz, oder in manchen Fällen sogar eine einstweilige Verfügung oder einen richterlichen Unterlassungsbefehl verlangt, um eine fortgesetzte oder erneute Pflichtverletzung zu verhindern; (iii) er kann auf die Erfüllung der Pflicht zur Zahlung von Schadenersatz, die auf die Pflichtverletzung folgt, verzichten oder diese aufheben.“73
Ein „Höchstmaß“ an Kontrolle über die Pflicht einer anderen Person besitzt man, wenn man aufgrund seiner rechtlichen Kompetenzen in Bezug auf ein Recht alle drei Arten von Kontrolle ausüben kann.74 Der eingeschränkten Begünstigtentheorie zufolge ist es dagegen eine notwendige und hinreichende Bedingung, ein eingeschränkt Begünstigter einer Pflicht zu sein: Wenn die Erfüllung einer Pflicht dazu dient, jemanden zu begünstigen, d. h., ein Gut oder ein Interesse im Leben eines Menschen zu schützen, dann kommt dem Menschen, der in dieser Weise begünstigt wird, auch ein Recht zu; der Umstand, dass man der vorgesehene Begünstigte einer Pflicht ist, ist somit eine hinreichende Bedingung für den Besitz eines Rechts. Diese Annahme stimmt Lyons zufolge nicht nur mit einem weitverbreiteten Sprachgebrauch vor allem von Nicht-Juristen überein, sondern auch Juristen, so Lyons weiter, verstehen „Rechte“ zumindest dann in der genannten Weise, wenn es einen privaten Anspruchsberechtigten gibt, der auf die Erfüllung der infrage stehenden Pflicht verzichten oder Anklage erheben kann.75 Im Strafrecht, in dem diese Kompetenz üblicherweise fehlt, vermeiden es Juristen zwar, in einem strengen Sinn von „Rechten“ zu sprechen. Aber auch in diesem Zusammenhang, so Hart, kann in einem erweiterten Sinn von „Rechten“ gesprochen werden, sofern ein Element des strengen Sinns von Rechten beibehalten wird, und zwar dasjenige, dass die infrage stehende Pflicht darauf abzielt, die Schädigung eines bestimmten Individuums zu vermeiden, was im Strafrecht eben71 Vgl.
Hart (2007), 158. ders. (1955), 180. 73 Ders. (2007), 154. 74 Ebd. 75 Vgl. Lyons (2007), 120 f. 72 Vgl.
B. Rechte
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falls bei vielen Pflichten der Fall sei.76 Der eingeschränkten Begünstigtentheorie zufolge können überdies Tieren und Kindern problemlos Rechte zugeschrieben werden, was – zumindest in dem Fall von Kindern – ebenfalls mit einem weithin verbreiteten Sprachgebrauch übereinstimmt. Wie wir bereits gesehen haben, folgt der eingeschränkten Begünstigtentheorie zufolge aus dem Umstand, dass B eine Pflicht obliegt, A in bestimmter Weise zu behandeln, noch nicht ohne Weiteres, dass A auch ein korrespondierendes Recht besitzt, in entsprechender Weise behandelt zu werden: Ist B dazu verpflichtet, A ins Gefängnis zu sperren, würden wir kaum sagen, so die Argumentation, dass A ein damit korrespondierendes Recht besitzt, ins Gefängnis gesperrt zu werden. Und wären Kinder dazu verpflichtet, den Behörden aufrührerische Aktivitäten ihrer Eltern anzuzeigen, würden wir zögern zu sagen, die Eltern hätten ein Recht darauf, von ihren Kindern angezeigt zu werden.77 Der vorgesehene Begünstigte einer Pflicht zu sein wird deshalb in der Begünstigtentheorie überdies als eine notwendige Bedingung für den Besitz eines Rechts betrachtet. Dass dem so ist, zeigt sich Lyons zufolge auch an Rechten, die aus Verträgen, Verabredungen oder Versprechen resultieren: Ein Versprechen, das für denjenigen, dem das Versprechen gegeben wurde, kein Gut sichern oder diesen sogar schädigen würde, wird üblicherweise nicht als bindendes Versprechen betrachtet, aus dem Rechte und Pflichten erwachsen.78 Vertreter der Entscheidungstheorie lehnen die Annahme, dass es notwendig und hinreichend für die Zuschreibung eines Rechts ist, der vorgesehene Begünstigte einer Pflicht zu sein, dagegen ab. Dass dem so ist, lässt sich Hart zufolge mithilfe des folgenden Beispiels verdeutlichen:79 X verspricht Y während Ys Abwesenheit nach dessen alter Mutter zu sehen. Ys Mutter wäre somit eine (unmittelbar vorgesehene) Begünstigte der Pflicht von X. Trotzdem habe in diesem Fall, so Hart, nur Y ein Recht darauf, dass X nach seiner Mutter sieht und allein ihm werde die Erfüllung der infrage stehenden Pflicht geschuldet. Auch könne nur Y, nicht aber dessen Mutter, die Erfüllung der Pflicht durch X einfordern oder auf deren Erfüllung verzichten. Zwar könne der Freund die Mutter durch die Nicht-Erfüllung seiner Pflicht schädigen, er könne ihr aber kein Unrecht antun. Wenn dies zutrifft, ist es für den Besitz eines Rechts aber nicht hinreichend, der unmittelbar vorgesehene Begünstigte einer Pflicht zu sein: Denn obgleich die Mutter die im eingeschränkten Sinn vorgesehene Begünstigte der genannten Pflicht ist, besitzt sie kein Recht. Umgekehrt zeigt der Fall des Sohnes, dass es für den Besitz eines Rechts offenbar nicht notwendig ist, der unmittelbar vorgesehene Begünstigte einer Pflicht zu sein. Jedenfalls können wir dies durch das genannte Beispiel dann als erwiesen betrachten, wenn wir es für möglich halten, dass der Sohn selbst von der Erfüllung 76 Vgl.
Hart (1962), 315; wiedergegeben nach Lyons (2007), 121. Vgl. ebd., 116. 78 Vgl. ebd., 129 f. 79 Vgl. dazu Hart (1955), 180. 77
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der Pflicht seines Freundes in keiner Weise profitiert.80 Harts Analyse des Drittbegünstigten-Beispiels stimmt damit sowohl mit dem üblichen Sprachgebrauch in der Rechtswissenschaft als auch mit demjenigen im Feld der Moral recht gut überein, demzufolge wir in einer solchen Situation wohl nur demjenigen ein Recht zuschreiben würden, dem das Versprechen gegeben wurde, nicht aber einer dritten Person, die die vorgesehene Begünstigte des Versprechens ist. Entgegenhalten lässt sich Harts Ausführungen, dass prinzipiell nichts dagegen spricht, in dem analysierten Beispielfall auch der Mutter ein Recht zuzuschreiben: Denn, so Lyons, diese sei nicht nur die unmittelbar vorgesehene Begünstigte der Pflicht des Freundes, sondern auch der Hauptgrund, dafür zu sagen, der Freund verletze seine Pflicht, wenn er nicht für sie sorgt. Die Mutter könne, so Lyons weiter, berechtigterweise auf die Einhaltung des Versprechens durch den Freund pochen – zumindest wenn sie von dem Versprechen weiß – oder diesen aus seiner Verpflichtung entlassen.81 Auch sieht Lyons es durch Harts Beispiel nicht als widerlegt an, dass es für den Besitz eines Rechts notwendig ist, der unmittelbar vorgesehene Begünstigte einer Pflicht zu sein: Wenn der Sohn in Harts Beispiel ein Interesse daran hat, dass sein Freund sein Versprechen einhält und nach der Mutter sieht, so ist auch er – und nicht nur die Mutter – ein unmittelbar vorgesehener Begünstigter der fraglichen Pflicht.82 Wenn er dagegen keinerlei Interesse an der Pflichterfüllung hat, ist nach Lyons unklar, ob überhaupt ein Versprechen im üblichen Sinn gegeben wurde. Denn ein solches setze voraus, so Lyons, dass derjenige, dem das Versprechen gegeben wird, auch tatsächlich ein Interesse an dem Versprochenen hat. Ist dem nicht so, dann folgt daraus, dass der Sohn ebenfalls kein Recht auf die Erfüllung der Pflicht des Freundes hat. Womöglich könnte man, so Lyons weiter, allerdings auch in diesem zuletzt genannten Fall daran festhalten, dass ein Versprechen abgegeben wurde: Denn es gibt ja jemanden, nämlich die Mutter, die von der infrage stehenden Pflicht in einem eingeschränkten Sinn begünstigt wird. Man könnte demnach also sagen, dass die Mutter, nicht aber der Sohn ein Recht durch das Versprechen erworben hat, das der Freund dem Sohn gegeben hat.83 Die Ausführungen im letzten Abschnitt machen sicherlich deutlich, dass es lohnenswert wäre, Harts Drittbegünstigten-Beispiel noch einmal eingehender zu diskutieren. Dennoch erscheint die Entscheidungstheorie des Rechts im Licht der hier angestellten Überlegungen alles in allem überzeugender als die von Lyons verteidigte, eingeschränkte Begünstigtentheorie: Zum einen stimmt die Entscheidungstheorie besser mit dem allgemeinen Sprachgebrauch überein und kann besser erklären, was „ein Recht haben“ im Vergleich zu „ein Bedürfnis haben“ bzw. „ein Interesse haben“ heißt. Auch stimmt Harts Analyse des Drittbegünstigten-Beispiels besser mit dem allgemeinen Sprachgebrauch überein als die Begünstigten80 Vgl.
Lyons (2007), 131 f. Vgl. ebd., 127 ff. 82 Vgl. ebd., 131. 83 Vgl. ebd., 129 ff. 81
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theorie, denn wir würden der Mutter wohl kaum ein Recht auf die Sorge durch den Freund des Sohnes einräumen. Anders als in der Begünstigtentheorie wird der Begriff des „Rechts“ im Sinn eines Anspruchsrechts in der Entscheidungstheorie zudem in einer nicht-redundanten Weise verwendet: Der Begünstigtentheorie zufolge bedeutet ein Anspruchsrecht zu haben unter Umständen nichts anderes, als dass irgendjemandem eine Pflicht obliegt, eine Person in einer bestimmten Weise zu begünstigen; dies kann auch dann der Fall sein, wenn die betreffende Person keinerlei (normative) Kontrolle über die infrage stehende Pflicht im Sinn von Hart hat. Kindern und Tieren gegenüber müssen bestimmte Rechtspflichten üblicherweise einfach erfüllt werden, ganz gleich, ob dies das Tier oder das Kind selbst „möchte“. Die Zuschreibung von „Rechten“ läuft in diesen Fällen somit darauf hinaus, festzustellen, dass eine Pflicht zu einer bestimmten Art von Begünstigung gegenüber einem Wesen besteht. Um festzustellen, dass eine Pflicht besteht, jemanden zu begünstigen, ganz gleich, was dieser selbst möchte, ist die Rede von „Rechten“ jedoch nicht nötig.84 In solchen Fällen scheint es dem üblichen Sprachgebrauch vielmehr sogar zuwiderzulaufen, wenn man davon spricht, dass einem in dieser Weise „Begünstigten“ ein Recht zukommt. Dem allgemeinen Sprachgebrauch widerspricht die Entscheidungstheorie allerdings offenbar im Fall von Anspruchsrechten Erwachsener, denen begünstigende Pflichten korrespondieren, über deren Erfüllung die Begünstigten keinerlei normative Kontrolle haben, wie es z. B. bei Pflichten des Strafrechts der Fall ist. Derartigen Pflichten würden der Entscheidungstheorie zufolge keine Rechte korrespondieren, da die Voraussetzung für den Besitz eines Rechts der Besitz einer der genannten Formen von normativer Kontrolle über die fragliche Pflicht ist. Wie gesehen, kann Hart zufolge in diesen Fällen allenfalls von „Rechten“ in einem übertragenen Sinn gesprochen werden. Dennoch folgt aus der Entscheidungstheorie des Rechts deshalb nicht, dass nur zivilrechtlichen Pflichten Rechte korrelieren: Vielmehr sind Vertreter des Staats vor allem in sozialstaatlichen Funktionen häufig dazu verpflichtet, Personen bestimmte Begünstigungen zuteilwerden zu lassen; zumindest in diesen Fällen können den vorgesehenen Begünstigten auch „Rechte“ zugeschrieben werden, da üblicherweise eine bestimmte normative Kontrolle über den Erhalt der fraglichen Sozialleistungen von deren Seite besteht.85 Da das für die Entscheidungstheorie wesentliche Element von Rechten das Zugeständnis einer gesetzlich respektierten individuellen Entscheidung ist, stimmt Harts Theorie überdies mit dem juristischen Sprachgebrauch überein, demzufolge es nur dann üblich ist, von Rechten zu sprechen, wenn ein Mensch einen Anspruch geltend machen oder auf diesen verzichten kann, und für dessen Geltendmachen die Fähigkeiten eines Juristen in Anspruch genommen werden können.86 Die Entscheidungstheorie liefert jedoch nicht nur eine Erklärung dafür, was alle Rechte, 84 Vgl.
Hart (2007), 152. Vgl. ebd., 155 f. 86 Vgl. ebd., 161. 85
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die mit Pflichten korreliert sind – und damit alle Anspruchsrechte – gemeinsam haben, sondern sie kann auch erklären, was den Immunitäten, Kompetenzen und Privilegien gemeinsam ist, und damit denjenigen Formen von Rechten, denen keine Pflichten korrespondieren. Denn, wie gesehen, versteht die Entscheidungstheorie ein Recht als ein Zugeständnis einer gesetzlich respektierten Entscheidungsmöglichkeit. Eine solche kann einem Menschen jedoch nicht nur insofern zugesichert werden, als ihm die Kontrolle über die Pflicht eines anderen zugestanden wird. Auch durch die Zusicherung einer Kompetenz, wie etwa derjenigen, die mit Veräußerungsrechten einhergeht, wird Menschen Hart zufolge eine gesetzlich respektierte Entscheidungsmöglichkeit zugestanden, nämlich die, die infrage stehende Kompetenz entweder zu nutzen oder nicht zu nutzen. Auch Rechte, die einem Menschen die Erlaubnis oder das Privileg erteilen, eine bestimmte Art von Handlung entweder auszuführen oder zu unterlassen, gewähren dem Träger die Möglichkeit einer gesetzlich respektierten Entscheidung.87 Immunitätsrechte kann es der Entscheidungstheorie zufolge ebenfalls geben; es handelt sich bei diesen Rechten vornehmlich um diejenigen Rechte, die Menschen als Grundrechte durch die Verfassung garantiert werden und die sich insofern an den Gesetzgeber richten, als sie dessen Kompetenz, einfaches Recht zu setzen, dahingehend einschränken, als die durch die Verfassung garantierten Freiheiten und Begünstigungen nicht negiert werden dürfen, „die heute als wesentliche Bestandteile des Wohls menschlicher Individuen gelten, so z. B. Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Schutz vor willkürlicher Festnahme, Schutz des Lebens und der Person, die Gewährleistung von Erziehung und Bildung sowie Gleichbehandlung in bestimmten Hinsichten“88. Auch diese können Hart zufolge normalerweise geltend gemacht werden, wenn eine gesetzliche Maßnahme gegen sie verstößt.89 Verstehen wir „Rechte“ im Sinn der Entscheidungstheorie, müssen wir allerdings in Kauf nehmen, dass Kindern nur insofern Rechte zugeschrieben werden können, als ihnen selbst oder zumindest ihren Stellvertretern in Bezug auf den durch das Recht geschützten Gegenstand eine gesetzlich respektierte Entscheidung zugestanden wird.90 In den Lebensbereichen, in denen im Leben von Kindern keinerlei Entscheidungsfreiheit besteht, jedoch Pflichten existieren, damit ein bestimmter Gegenstand geschützt wird, können wir, wenn wir der Entscheidungstheorie folgen, nicht sagen, dass Kindern auch korrespondierende Rechte zukommen. Durch den Verzicht der Zuschreibung von Rechten in diesen Lebensbereichen verschlechtert sich der Status von Kindern jedoch nicht, denn wie wir im Vorangehenden gesehen haben, würde die Zuschreibung eines Rechts in einer Situation, in der der Begünstigte keine Wahl hat, ob die fragliche Pflicht ausgeführt wird oder nicht, 87
Vgl. ebd., 158. Ebd., 160. 89 Vgl. ebd., 160 f. 90 Inwieweit Kindern Entscheidungsfreiheit zugestanden werden sollte, wird in den Kapiteln D. und G. III. eingehender erläutert. 88
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sowieso nur eine alternative Ausdrucksweise dafür darstellen, dass die fragliche Pflicht ihm gegenüber besteht und erfüllt werden muss. Gleiches gilt für Tiere. Im Folgenden wird, wenn von „Rechten“ die Rede ist, der von Hart dargelegte Grundgedanke der Entscheidungstheorie übernommen. Hart ging es bei seiner Analyse dessen, was ein Recht ausmacht, wie gesehen, darum, ein besseres Verständnis dessen zu erlangen, was ein juridisches Recht ausmacht. Es spricht jedoch nichts dagegen, die Grundidee der Entscheidungstheorie auch auf moralische Rechte zu übertragen; im Folgenden wird dies geschehen: Demnach sind unter einem „Recht“ nicht allein gesetzlich garantierte Zugeständnisse bestimmter Entscheidungsspielräume zu verstehen, sondern auch Zugeständnisse einer normativen Kontrolle, die aus Sicht der positiven oder der kritischen Moral geboten erscheinen. Es gilt hier noch anzumerken, dass es, um ein „Recht“ im Sinn der Entscheidungstheorie zu besitzen, in der Regel – wenn nicht gar immer – nötig ist, dass einem Menschen zumindest zwei der zuvor genannten grundlegenden Rechtstypen zugestanden werden. Dies kann man gut mit Blick auf die Freiheitsrechte verdeutlichen, die sowohl im Common Sense als auch der Entscheidungstheorie folgend so verstanden werden, dass sie einem Rechtsträger nicht nur erlauben, eine bestimmte Handlungsweise auszuführen, sondern ihm auch erlauben, die fragliche Handlung zu unterlassen, falls er dies möchte. Freiheitsrechte werden also so verstanden, dass sie bestimmte Handlungsalternativen zum Gegenstand haben.91 Der im Vorangehenden eingeführten Terminologie folgend werden dem Akteur damit aber zwei Privilegien – und damit zwei einfache Rechte – zugestanden: Denn einem Akteur ein Privileg zuzugestehen bedeutet ihm entweder die Ausführung oder die Unterlassung einer bestimmten Handlungsweise zu erlauben; jede Erlaubnis wäre ein je unterschiedliches Privileg.92 Und nur wenn ein Freiheitsrecht in diesem Sinn komplex ist, handelt es sich auch um ein „Recht“ im Sinn der Entscheidungstheorie, da einem Akteur nur dann ein bestimmter Entscheidungsspielraum zugestanden wird. Freiheiten, die sowohl das Tun als auch das Unterlassen einer Handlungsweise erlauben, werden auch als „bilaterale Freiheiten“ bezeichnet, in Abgrenzung zu den im Vorangehenden genannten „Privilegien“, die entweder bloß ein Tun oder ein Unterlassen erlauben und entsprechend als „unilaterale Freiheiten“ bezeichnet werden können.93 91 Vgl.
Koller (2007), 92. Hohfeld (2007), 64. 93 Vgl. Hart (2007), 139. Dass unilaterale Freiheiten bzw. reine Privilegien im Hohfeld’schen Sinn nicht dem entsprechen, was wir gemeinhin unter einem Freiheitsrecht verstehen, lässt sich anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen: Nehmen wir an, einer Person X wird die unilaterale Freiheit resp. das Privileg zugestanden, das Grundstück von Y zu betreten. Dies bedeutet nach den vorangehenden Ausführungen nichts anderes, als dass X keine Pflicht hat, das Betreten zu unterlassen (Hohfeld (2007), 64). Wenn X allerdings nur das Privileg hat, Ys Grundstück zu betreten, nicht aber auch das Privileg, es nicht zu betreten, so bedeutet dies letztendlich, dass X dazu verpflichtet ist, Ys Grundstück zu be92 Vgl.
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Einem Menschen die normative Kontrolle in Bezug auf einen Anspruch, ein Privileg, eine Kompetenz oder eine Immunität zuzugestehen, bedeutet nun jedoch noch nicht, dass andere ihn nicht auch an deren Ausübung hindern können. Jedenfalls geht ein solcher Anspruch auf Nicht-Hinderung nicht notwendigerweise mit den oben eingeführten Rechtstypen einher: Schreibt man jemandem beispielsweise ein Privileg in dem oben dargelegten Sinn zu, so bedeutet dies nur, dass einem Akteur ein bestimmtes Verhalten erlaubt oder ihm dessen Unterlassung nicht untersagt wird. Jemandem ein Privileg (oder auch mehrere Privilegien) zu verleihen, bedeutet aber nicht, dass anderen auch untersagt ist, den Träger an der Ausübung dieser Privilegien zu hindern. Privilegien oder Freiheiten in diesem Sinn können deshalb auch als „unbewehrte Freiheiten“ bezeichnet werden.94 Die normative Kontrolle, die einem Akteur hinsichtlich der Ausübung von Privilegien zugestanden wird, ist für diesen aber nur dann von Wert, wenn anderen auch untersagt ist, ihn an deren Ausübung zu hindern. Es erscheint deshalb geboten, Privilegien oder Freiheiten überdies als das zu verstehen, was Robert Alexy als „bewehrte Freitreten. Die Ausübung eines unilateralen Freiheitsrechts ist damit nicht nur mit der Pflicht zu deren Ausübung kompatibel, sondern eine solche Pflicht würde aus dem Zugeständnis einer unilateralen Freiheit folgen (Hart (2007), 145). Ein solches Verständnis von Freiheitsrechten läuft nicht nur unserem Sprachgebrauch entgegen, es erscheint überdies auch nicht von Nutzen zu sein: „Im Normalfall, in dem das Gesetz allgemeine Verpflichtungen auferlegt, wie z. B. Steuern zu zahlen oder Körperverletzungen und Hausfriedensbruch zu unterlassen, wäre es sinnlos oder sogar verwirrend, die Adressaten der Pflichten als Personen zu beschreiben, die das Recht [verstanden als Freiheitsrecht, TM] haben, Steuern zu zahlen oder Körperverletzungen zu unterlassen. Es gibt jedoch zweifellos besondere Umstände, in denen sich unilaterale Pflichten nachvollziehbar als Rechte auf bestimmte Handlungen bezeichnen lassen, selbst wenn überdies eine Pflicht bestünde, diese Handlung zu vollziehen. Dazu gehören Ausnahmesituationen, in denen Personen nicht nur die Erlaubnis haben, sondern sogar gesetzlich dazu verpflichtet sind, etwas zu tun, was im Allgemeinen verboten ist. So könnte ein Polizist, der angewiesen wurde, eine Person zu verhaften, gefragt werden: ‚Welches Recht haben sie [sic!], diese Person zu verhaften?‘ Er könnte dann seine Anweisung hervorholen, um zu zeigen, dass er dazu verpflichtet ist, die Verhaftung vorzunehmen. Im Allgemeinen enthält die Frage, ‚Welches Recht besitzen Sie, das zu tun?‘, also eine Aufforderung an die angesprochene Person, zu belegen, dass sie darin frei ist, die betreffende Handlung – die prima facie unrechtmäßig, weil im Allgemeinen verboten ist – in diesem besonderen Falle auszuführen“ (ebd., 146). Unilaterale Freiheitsrechte, die einem Menschen erlauben oder verbieten, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, zu dessen Ausführung resp. Unterlassung man gleichzeitig verpflichtet ist, werden auch als „mandatorische Rechte“ bezeichnet. Das klassische Beispiel für ein mandatorisches Recht ist das Recht von Kindern auf Bildung: Kindern wird mit diesem Recht das Privileg erteilt, die Schule zu besuchen, nicht aber auch das Privileg, den Schulbesuch zu unterlassen; vielmehr sind sie zum Schulbesuch verpflichtet. In Fällen wie dem mandatorischen Recht auf Schulbesuch von Kindern sprechen wir Feinberg zufolge deshalb von einem „Recht“, weil wir glauben, „dass einige unserer Pflichten für uns so vorteilhaft sind, dass wir geltend machen können, dass andere uns die Gelegenheit zur Ausübung dieser Pflichten bieten und davon absehen, uns daran zu hindern“ (Feinberg (2007), 202). 94 Vgl. Alexy (1985), 203 ff.
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heiten“95 bezeichnet hat, d. h. als Freiheiten (oder Privilegien) mit denen überdies ein Anspruch einhergeht, dass andere einen nicht gewaltsam an der Ausübung der infrage stehenden Freiheiten bzw. Privilegien hindern: „Eine unbewehrte Freiheit macht noch kein Freiheitsrecht. Denn eine solche Freiheit allein bietet keinen Schutz vor fremdem Zwang. Wenn Freiheitsrechte wirklich die Freiheit verbürgen sollen, gewisse Dinge nach Belieben tun zu können, müssen sie gewährleisten, daß man nicht durch fremde Gewalt daran gehindert werden darf. Den Gegenstand von Freiheitsrechten können darum nur bewehrte Freiheiten bilden, also solche, die mit einem Gewaltverbot verbunden sind.“96
All dies lässt sich analog aber auch für die anderen grundlegenden Rechtsbeziehungen, d. h. für die Ansprüche, Kompetenzen und Immunitäten, feststellen: Auch in Bezug auf diese gilt, dass die Ausübung der damit verbundenen normativen Kontrolle für den Akteur letztendlich nur dann einen Wert hat, wenn damit der Anspruch einhergeht, dass andere einen nicht an deren Ausübung hindern dürfen. Wenn wir von „Rechten“ sprechen, sollten wir diese somit nicht nur insofern als „komplex“ verstehen, als sie ihrem Träger eine Entscheidungsmöglichkeit – und damit Handlungsalternativen – zugestehen; sie sind vielmehr auch insofern „komplex“, als sie stets mit dem Anspruch auf Nicht-Hinderung bezüglich der fraglichen Entscheidungsfreiheit einhergehen. Diese Nicht-Hinderungspflichten müssen allerdings nicht unter allen Umständen als streng korreliert mit dem fraglichen Anspruch auf Nicht-Hinderung verstanden werden, um als geschützt zu gelten, da es nicht selten so ist, dass diese bereits hinreichend durch einen, wie Herbert Hart sich ausdrückt, bestehenden „Schutzgürtel an allgemeinen Verpflichtungen“ geschützt werden.97 Dass ein Schutzgürtel auch diese Pflichten „hinreichend abdeckt“ soll heißen, dass der Schutzgürtel keine Lücken aufweist, die dazu führen, dass die fraglichen Nicht-Hinderungspflichten letztlich doch nicht ausreichend geschützt sind. Wie ein solcher Schutzgürtel funktioniert, und was es heißt, dass er Lücken aufweisen kann, verdeutlicht Hart an dem Beispiel des freilich eher nebensächlichen Freiheitsrechts, sich am Kopf zu kratzen: „So ist, um ein triviales Beispiel anzuführen, mein Recht, mich am Kopf zu kratzen, geschützt – zwar nicht durch die korrelierende Pflicht anderer, meine Ausübung einer Handlung dieses speziellen Typs nicht zu behindern, sondern durch die Tatsache, dass die Pflicht, Körperverletzungen und Übergriffe auf meine Person zu unterlassen, Behinderungen solcher Handlungen im Allgemeinen wirkungsvoll ausschließen wird. In den meisten Fällen wird dieser Schutzgürtel aus Pflichten meine Freiheit angemessen schützen, dennoch kann es sein, dass er nicht lückenlos ist: wenn andere mich daran hindern könnten, mich an meinem Kopf zu kratzen, ohne diese Pflichten zu verletzen – etwa, in dem sie mich hypnotisieren –, so dürfen sie dies tun. Dies verdeutlicht den Unterschied zwischen einem Freiheitsrecht, das durch strikt korrelative Nichthinderungspflichten
95
Ebd., 208 ff. Koller (2007), 92. 97 Vgl. Hart (2007), 143. 96
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anderer geschützt ist, und einem Freiheitsrecht, das nur von einem gewöhnlich ausreichenden Schutzgürtel allgemeiner Verpflichtungen umgeben ist.“98
Ein Recht zu besitzen würde demnach nicht nur bedeuten, einem Akteur normative Kontrolle in Form eines Entscheidungsspielraums hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandsbereichs zuzugestehen, sondern es würde auch bedeuten, ihm darüber hinaus einen Anspruch darauf zuzugestehen, nicht an der Ausübung der fraglichen normativen Kontrolle über den jeweiligen Gegenstand gehindert zu werden. Dass Akteuren Nicht-Hinderungspflichten oder auch andere Arten von Pflichten obliegen, bedeutet nicht, dass diese Pflichten auch stets aus freien Stücken befolgt werden. Im Gegenteil steht zu befürchten, dass viele Pflichtenträger dies nicht freiwillig tun werden und Pflichtverletzungen für die Wahrung von Ansprüchen das darstellen, was wir in Kapitel A. als „Standardbedrohung“ bezeichnet haben. Um einen Anspruch möglichst effektiv zu schützen, sollten die Ansprüche auf Nicht-Hinderung, sofern dies möglich und sinnvoll erscheint, deshalb überdies als mit dem Anspruch einhergehend betrachtet werden, positiv-rechtlich geschützt zu werden: D. h., sie sollten als mit dem Anspruch darauf einhergehend betrachtet werden, dass Institutionen geschaffen und erhalten werden, die dafür Sorge tragen, dass die fraglichen Pflichten möglichst von jedermann erfüllt werden. Es ist der so verstandene positiv-rechtliche oder gesellschaftlich garantierte Schutz von Ansprüchen, so beispielsweise Shue, an dem Anspruchsträger letztendlich ein Interesse haben. Und ein derart geschützter Anspruch ist es auch, so Shue weiter, den wir im Sinn haben, wenn wir davon reden, dass jemand ein „Recht“ besitzt. Anschaulich drückt er diesen Gedanken auch für den Anspruch resp. das Recht auf Sicherheit vor tätlichen Übergriffen aus: „In the case of rights to physical security, it may be possible to avoid violating some one’s rights to physical security yourself by merely refraining from acting in any of the ways that would constitute violations. But it is impossible to protect anyone’s rights to physical security without taking, or making payments toward the taking of, a wide range of positive actions. For example, at the very least the protection of rights to physical security necessitates police forces; criminal courts; penitentiaries; schools for training police, lawyers, and guards; and taxes to support an enormous system for the prevention, detection, and punishment of violations of personal security. […] All these activities and institutions are attempts at providing social guarantees for individuals’ security so that they are not left to face alone forces that they cannot handle on their own. […] What people want and need […] is the protection of their rights. […] A demand for physical security is not normally a demand simply to be left alone, but a demand to be protected against harm. […] It is a demand for positive action, or, in the words of our initial account of a right, a demand for social guarantees against at least standard threats. […] In any imperfect society enjoyment of a right will depend to some extent upon protection against those who do not choose not to violate it.“99 98 Ebd. 99 Shue (1996), 37 ff. Ähnlich beispielsweise auch Mill, bei dem es in Der Utilitarismus heißt: „Wenn wir von dem Recht einer Person sprechen, meinen wir damit, daß die Person
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Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein Recht in sehr vielen Fällen für den Akteur am effektivsten dadurch geschützt wird, dass man es positiv-rechtlich mithilfe des Aufbaus und Erhalts bestimmter Institutionen schützt. Die Annahme, die ich hier machen möchte, ist jedoch eine schwächere, und zwar die, dass es für den Besitz eines Rechts ausschlaggebend ist, dass wir einem Menschen damit auch den Anspruch zugestehen, dass der Gegenstand des fraglichen Rechts, sofern dies möglich und sinnvoll erscheint, positiv-rechtlich durch entsprechende Institutionen geschützt werden sollte. Einen faktisch bestehenden, positiv-rechtlichen Schutz dieses Anspruchs nicht als eine Voraussetzung für den Besitz eines Rechts zu betrachten, wie beispielsweise Shue dies tut, wird der grundlegenden Intuition gerecht, dass wir von einem Menschen auch dann noch sagen würden, dass er ein Recht besitzt, wenn eine Institution, die mit dessen Schutz beauftragt ist, bei der Gewährleistung desselben, z. B. aufgrund eines Korruptionsproblems, versagt hat: In einem solchen Fall würden wir sagen, dass die entsprechende Institution das fragliche Recht nicht ausreichend geschützt oder es womöglich sogar selbst verletzt hat, aber nicht, dass dem fraglichen Menschen kein entsprechendes Recht zukommt. Und auch dann, wenn entsprechende Institutionen noch gar nicht geschaffen sind, ist häufig im Sinn eines kritischen normativen Maßstabs die Rede davon, dass Menschen ein Recht besitzen, auch wenn dieses gegenwärtig noch keinen positiv-rechtlichen Schutz durch entsprechende Institutionen genießt. Auch dieser Umstand kann mithilfe des hier dargelegten Rechtsverständnisses gefasst werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Mensch der hier vertretenen Auffassung zufolge dann ein Recht besitzt, wenn er einen Anspruch, eine Immunität, ein Privileg oder eine Kompetenz besitzt, der/die/das überdies in den oben angeführten Hinsichten gültig ist. Des Weiteren muss einem Akteur ein Entscheidungsspielraum in Bezug auf den durch das Recht geschützten Gegenstand zugestanden werden. Überdies heißt, ein Recht zu haben, einen Anspruch darauf zu besitzen, dass Institutionen geschaffen und erhalten werden, die für einen effektiven und positiv-rechtlichen Schutz des fraglichen Rechts sorgen, sofern dies möglich und nötig erscheint. Ein faktisch bestehender positiv-rechtlicher Schutz ist dagegen keine Voraussetzung für den Besitz eines Rechts. Wir werden in Kapitel H. noch sehen, dass es für einen effektiven Schutz des Rechts auf ein Leben frei von Armut zum Teil ebenfalls erforderlich sein wird, entsprechende Institutionen aufzubauen resp. zu erhalten.
von der Gesellschaft verlangen darf, im Besitz dieses Rechts durch gesetzliche Gewalt resp. durch den Einfluß der Erziehung und der öffentlichen Meinung geschützt zu werden. Hat jemand (aus welchen Gründen auch immer) einen unserer Ansicht nach begründeten Anspruch darauf, daß ihm die Gesellschaft ein bestimmtes Gut verbürgt, dann sagen wir, daß er ein Recht darauf hat. […] Ein Recht zu haben bedeutet demnach, etwas zu haben, das mir die Gesellschaft schützen sollte, während ich es besitze“ (Mill (1985), 92 f.).
C. Zwei grundlegende Unterscheidungen in der Armutsdebatte Nachdem wir uns in Kapitel B. mit der Frage befasst haben, was es heißt, ein „Recht“ zu haben, soll es in den Kapiteln C. bis G. nun um die Frage gehen, welchen Kriterien und Anforderungen jedwede Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums aus einer moralischen Perspektive genügen muss. Eine grundlegende Frage, die sich bezüglich der ethisch angemessenen Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums stellt, ist die, ob diese in einer subjektiven oder in einer objektiven Weise erfolgen sollte. Auf welche Weise sich „subjektive“ und „objektive“ Armutsverständnisse voneinander unterscheiden, ist Gegenstand von Kapitel C. II. Es wird dort überdies gezeigt, dass ein moralisch angemessenes Armutsverständnis kein „subjektives“ – und damit kein an den tatsächlich bestehenden Wünschen und Präferenzen der Individuen ausgerichtetes – sein sollte. Gegenstand der Kapitel E. bis G. wird dementsprechend nur noch die Diskussion „objektiver“ Armutsverständnisse sein. Eine weitere grundlegende Unterscheidung in der Armutsdebatte ist die Unterscheidung zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut. In Kapitel C. I. wird diese Unterscheidung mit Blick auf die Armutsverständnisse von Amartya Sen, Peter Townsend, Adam Smith und Martha Nussbaum herausgearbeitet. Dabei wird sich zeigen, dass die fragliche Unterscheidung bei genauer Betrachtung nicht so einfach zu treffen ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es wird die These vertreten, dass ein moralisch angemessenes Armutsverständnis sowohl absolute als auch relative Komponenten aufweisen muss.
I. Absolute und relative Armut Zur Explikation des Armutsbegriffs sind zwei normative Festlegungen unumgänglich: Festgelegt werden muss erstens, welche Formen des Mangels für die Erfassung von Armut als relevant zu betrachten sind. Man könnte mit Amartya Sen auch sagen, dass ein „Bewertungsraum“ (evaluative space) mit denjenigen Elementen festgelegt werden muss, die für die Erfassung von Armut als relevant zu betrachten sind, wobei die Dimensionen dieses Raums Variablen sind, in Bezug auf die es Menschen vergleichsweise besser oder schlechter gehen kann.1 Der Human Development Index (HDI) des United Nations Development Programme (UNDP), der weltweit zu der „Messung“ der Lebensqualität in verschiedenen Ländern herangezogen wird, beruht beispielsweise auf einem dreidimensionalen Bewertungsraum mit den Variablen „Bildung“, „Gesundheit“ und „Lebensstan1 Vgl.
Sen (1992), 20.
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C. Zwei grundlegende Unterscheidungen in der Armutsdebatte
Abbildung 3: Mehrdimensionaler Bewertungsraum zu der Erfassung von Armut
dard“.2 Das „Ausmaß“ der erreichten „Bildung“ könnte dann beispielsweise anhand der durchschnittlich erwarteten Schulbesuchsdauer, „Gesundheit“ anhand der durchschnittlichen Lebenserwartung bei der Geburt und der „Lebensstandard“ anhand des kaufkraftbereinigten Bruttonationaleinkommens pro Kopf (gemessen in US-Dollar) ermittelt werden (siehe Abb. 3). Bewertungsräume sind der Form nach Vektorräume, die sich freilich auch aus anderen als den genannten Dimensionen des HDI zusammensetzen können. Auch muss ein Bewertungsraum zu der Erfassung von Armut nicht mehrdimensional sein; vielmehr lässt sich auch die These vertreten, dass dieser Bewertungsraum eindimensional sein sollte, wie dies z. B. in rein am Einkommen orientierten Armutsverständnissen der Fall ist (siehe Kap. E. I.). Die zweite normative Festlegung, die unumgänglich für die Explikation eines politisch relevanten Armutsbegriffs ist, ist die Festlegung der Armutsschwelle bzw. -grenze für jede „Dimension der Armut“. Mithilfe einer solchen wird festgelegt, in welchem Ausmaß ein Mensch über die für die Armutsbestimmung als relevant betrachteten Güter jeweils verfügen muss, um nicht als „arm“ zu gelten. Die Unterscheidung zwischen „Dimensionen der Armut“ und „Armutsschwellen“ wird auch bei der Beantwortung der Frage hilfreich sein, was es mit der Unterscheidung zwischen „absoluten“ und „relativen“ Armutsverständnissen auf sich hat. 2 Vgl. Human Development Index, URL: http://hdr.undp.org/en/content/humandevelopment-index-hdi, letzter Zugriff: 17. 11. 2017.
I. Absolute und relative Armut
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Abbildung 4: Mehrdimensionaler Bewertungsraum mit Armutsschwellen
1. Armutsschwellen Wenn von „absoluter“ und „relativer“ Armut die Rede ist, denken viele zunächst an die Frage, ob die jeweilige Armutsschwelle eine „absolute“ oder eine „relative“ ist. Bei einer relativen Armutsschwelle gilt eine Person als „arm“, wenn der Wert, den sie in Bezug auf eine der Dimensionen der Armut erreicht, relativ zum Wert einer ausgewählten Vergleichsgruppe eine bestimmte Größe unterschreitet, etwa eine bestimmte Einkommenshöhe nicht erreicht wird. In einem so verstandenen relativen Armutskonzept ist es für die Beantwortung der Frage, ob ein Mensch „arm“ ist oder nicht, also ausschlaggebend, ob er relativ bzw. in einem bestimmten Verhältnis schlechter gestellt ist als andere. Bei der offiziellen Armutsschwelle der Europäischen Union handelt es sich um eine solche relative Schwelle: Ihr zufolge leidet an Armut, wer ein Nettoäquivalenzeinkommen von 60 Prozent des Medianeinkommens des jeweiligen Mitgliedsstaats unterschreitet, wie es in dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) herausgegebenen dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung heißt.3 Relative Armut wird häufig als ein Problem betrachtet, das ausschließlich in wohlhabenderen Ländern auftritt, in denen extreme Formen der Armut bereits beseitigt sind. Aufgekommen ist die Vorstellung von relativer Armut vor allem in der 3 Vgl.
BMAS (2008), 285.
C. Zwei grundlegende Unterscheidungen in der Armutsdebatte
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Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich der allgemeine Wohlstand in einigen Ländern so weit entwickelt hatte, dass die Beseitigung der schlimmsten Formen des Mangels, z. B. an Nahrung, Bekleidung, Obdach und grundlegender Gesundheitsversorgung, möglich war. Man ging davon aus, dass mit dem gestiegenen allgemeinen Wohlstand aber neue Formen des Mangels entstünden, an denen zu leiden Menschen ebenfalls nicht zugemutet werden könnte.4 Absolute Armutsschwellen sollen gewährleisten, dass jedem Hilfsbedürftigen die für das Vorliegen von Armut als relevant betrachteten Güter bis zu einem bestimmten absoluten Wert – z. B. zwei US-Dollar pro Tag – zur Verfügung stehen. Es spielt bei der Bestimmung eines solchen Werts keine Rolle, ob und wie gut andere Menschen in Bezug auf die zur Erfassung von Armut als relevant betrachteten Güter gestellt sind. „Absolute“ Armut wird häufig auch mit „extremer“ Armut gleichgesetzt, bei der das physische Überleben durch den Mangel an Subsistenzgütern unmittelbar bedroht wird;5 in Bezug auf diese Form der Armut wird angenommen, dass sie vor allem in weniger wohlhabenden Ländern besteht. Es liegt nun nahe, anzunehmen, dass die Antwort auf die Frage, ob man eine absolute oder eine relative Armutsschwelle wählen sollte, schlichtweg von dem jeweiligen Kontext abhängt, in dem das fragliche Armutsverständnis Anwendung findet: Absolute Armutsschwellen, so könnte man annehmen, sollten in Ländern Verwendung finden, in denen extreme Formen des Mangels bestehen, wohingegen relative Armutskonzepte in wohlhabenderen Ländern Verwendung finden sollten, um dort das Bestehen unzumutbarer Ungleichheiten in der Gesellschaft über das Existenzminimum hinaus zu verhindern oder zu beseitigen.6 Implizit liegt dieser Idee die Annahme zugrunde, dass absolute Minima sich auf einem vergleichsweise niedrigen und relative Minima sich auf einem vergleichsweise hohen Niveau bewegen, bei dem es dann nicht mehr nur um die Sicherung des physischen Überlebens, sondern auch um die Bereitstellung bestimmter Konsumgüter – wie beispielsweise eines Fernsehers oder eines Internetzugangs – geht.7 Diese Betrachtungsweise greift jedoch zu kurz: Auch mithilfe absoluter Armutsschwellen können der gesellschaftliche Entwicklungsstand wie auch Wohlstandsveränderungen innerhalb der Gesellschaft berücksichtigt werden. So wäre die Armutsschwelle hinsichtlich des Guts des „physischen Überlebens“ beispielsweise nicht nur dann eine absolute, wenn sie die Sicherung des Überlebens „von Tag zu Tag“ bezeichnete, sondern auch dann, wenn sie die Sicherung des physischen Überlebens im Sinn der Sicherung einer bestimmten Lebenserwartung über einen längeren Zeitraum hinweg, sagen wir über einen Zeitraum von 75 Jahren, zum Gegenstand haben würde. Was mit „physischem Überleben“ im Sinn einer 4 Vgl.
Sen (1983), 154 f. McNamara (1978), iii; Müller/Neuhäuser (2011), 160. 6 Vgl. z. B. Sarlo (1996), 2. 7 Vgl. für eine solche Verständnisweise der Unterscheidung zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut exemplarisch ebd. 5 Vgl.
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absoluten Armutsschwelle gemeint ist, bedarf also der Spezifizierung und dabei kann und sollte der Entwicklungsstand einer Gesellschaft ebenfalls Berücksichtigung finden. Inwiefern sich absolute und relative Armutskonzepte in dieser ersten Verständnisweise voneinander unterscheiden, bringt Amartya Sen in seinem Aufsatz Poor, relatively speaking mit Blick auf die menschlichen Grundbedürfnisse auf den Punkt: „[…] [A]bsoluteness of needs is not the same thing as their fixity over time. The relativist approach sees deprivation in terms of a person or a household being able to achieve less than others in that society do, and this relativeness is not to be confused with variation over time. So the fact that ,necessities of life are not fixed‘ is neither here nor there, as far as the competing claims of the absolutist and relativist views are concerned. Even under an absolutist approach, the poverty line will be a function of some variables, and there is no a priori reason why these variables might not change over time.“8
Es können nun aber nicht nur absolute Armutsschwellen, die den gestiegenen gesellschaftlichen Wohlstand reflektieren, im Prinzip sehr „hoch“ ausfallen. Umgekehrt gilt auch, dass ein anhand einer relativen Armutsschwelle bestimmtes Minimum bei niedrigem gesellschaftlichen Wohlstand entsprechend niedrig ausfallen kann, und zwar im Grunde so niedrig, dass mit dem auf diese Weise bestimmten Minimum nicht einmal mehr das unmittelbare physische Überleben gesichert werden kann.9 Bei sehr „hoch“ angesiedelten Armutsschwellen stellt sich aber ganz allgemein die Frage, ob man die Gewährleistung des mit ihrer Hilfe bestimmten „Minimums“ überhaupt noch als Forderung der Armutsbekämpfung verstehen sollte. In Sens Worten ausgedrückt: „It would be absurd to call someone poor just because he had the means to buy only one Cadillac a day when others in that community could buy two of these cars each day.“10 Das Problem zu „hoher“ Armutsschwellen erlangt besondere moralische Relevanz, wenn es sich um innergesellschaftlich definierte Armutsschwellen handelt. Denn es erscheint ethisch inakzeptabel bei steigendem Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft den eigenen Landsleuten ein immer höheres Minimum zuzugestehen, während Menschen in anderen Ländern nicht einmal vor dem Hungertod gefeit sind. In einer derartigen Situation müsste vielmehr zunächst grundsätzlicher geklärt werden, inwieweit die Mitglieder einer solchen Gesellschaft moralisch verpflichtet sind, auch zur Bekämpfung von Armut in anderen Gesellschaften beizutragen. Die Frage, ob derartige internationale Hilfspflichten zur Bekämpfung von Armut bestehen, wird Gegenstand von Kapitel H. sein. Ein bekanntes Problem, das entsteht, wenn man ein „relatives“ Armutsverständnis in dem hier dargelegten Sinn verwendet, besteht überdies darin, dass die Beseitigung von Armut nur schwer erreichbar, wenn nicht gar unmöglich sein wird: Bedeutet „relativ“ arm zu sein beispielsweise, in Bezug auf bestimmte Güter zu 8
Sen (1983), 155. Vgl. ebd., 157. 10 Ebd., 159; vgl. ähnlich z. B. Sarlo (1996), 2. 9
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der am schlechtesten gestellten Gruppe einer Gesellschaft zu gehören, so besteht in einer Gesellschaft stets Armut, es sei denn, es gelingt, eine Gleichverteilung der fraglichen Güter zu erreichen. Dieses Problem stellt sich allerdings nicht für alle relativen Armutskonzepte: So wäre es ohne eine vollkommene Gleichverteilung von Einkommen möglich, relative Armut zu beseitigen, wenn wir beispielsweise als „relativ“ arm jene verstehen, die über weniger als 60 % des Medianeinkommens verfügen. Eine weitere Schwierigkeit, die mit der Verwendung relativer Armutsschwellen einhergeht, besteht darin, dass deren „Höhe“ mit steigendem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand steigt, und es dann möglich ist, dass unter die neu bestimmte Armutsschwelle genauso viele oder sogar noch mehr Menschen fallen als zuvor unter die vergleichsweise niedrigere Armutsschwelle. Und dies kann der Fall sein, obgleich es vielen (oder sogar allen) „absolut“ gesehen besser geht als zuvor. Bei genauer Betrachtung können diese Probleme jedoch auch mit der Verwendung absoluter Armutsschwellen einhergehen. Zumindest kann dies der Fall sein, wenn wir davon ausgehen, dass auch absolute Armutsschwellen mit Blick auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand einer Gesellschaft festgelegt werden sollten, sodass sie bei steigendem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand ebenfalls angehoben werden müssten. Auch in dem Fall kann es also passieren, dass die Armut in einer Gesellschaft durch die Anhebung ansteigt oder gleich bleibt, obgleich es den Menschen objektiv betrachtet besser geht als zuvor. Das stetige Anheben der absoluten Armutsschwelle kann überdies ebenfalls dazu führen, dass die Armut nie vollständig beseitigt wird. Mit den im Vorangehenden genannten Problemen können somit sowohl absolute als auch relative Armutsverständnisse konfrontiert sein. Auch lässt sich die Frage, ob wir eine absolute oder eine relative Armutsschwelle verwenden sollten, nicht mit Blick auf das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft entscheiden, denn im Prinzip können sowohl relative als auch absolute Armutsschwellen in ärmeren wie auch in wohlhabenderen Ländern Verwendung finden. Festhalten lässt sich aber, dass die Verwendung einer absoluten Armutsschwelle zumindest in Bezug auf die Bereitstellung der Subsistenzgüter unverzichtbar erscheint, da die Verwendung einer relativen Schwelle zu absurden Ergebnissen führen könnte. In den Worten von Sen ausgedrückt: „There is, I would argue, an irreducible absolutist core in the idea of poverty. […] If there is starvation and hunger, then – no matter what the relative picture looks like – there clearly is poverty. In this sense the relative picture – if relevant – has to take a back seat behind the possibly dominating absolutist consideration.“11
Zumindest die Bereitstellung eines Kernbestands an Gütern muss also bis zu einem bestimmten absoluten Schwellenwert in einem ethisch relevanten Armutsverständnis gewährleistet werden.
11
Sen (1983), 159.
I. Absolute und relative Armut
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Die „Relativität“ und „Absolutheit“ von Armutsschwellen können darüber h inaus noch in einer anderen Weise verstanden werden. Denn „relativ“ kann eine Armutsschwelle nicht nur insofern sein, als ihre „Höhe“ davon abhängig gemacht wird, wie gut andere in Bezug auf das infrage stehende Gut gestellt sind. Die Höhe einer Armutsschwelle kann vielmehr auch „relativ“ zu den besonderen äußeren Lebensumständen und persönlichen Eigenschaften eines Menschen festgelegt werden. So benötigt eine körperlich beeinträchtigte Person mehr Einkommen als eine körperlich nicht-beeinträchtigte, um zu den gleichen Dingen befähigt zu sein.12 Ebenso variiert die Menge an Nahrungsmitteln, die ein Mensch benötigt, um angemessen ernährt zu sein, in Abhängigkeit von dessen Metabolismus: Eine Schwangere oder ein Kind benötigt womöglich mehr oder weniger Nahrungsmittel als ein nicht-schwangerer Erwachsener. Als „absolut“ in diesem zweiten Sinn muss eine Armutsschwelle dagegen betrachtet werden, wenn sie für alle Hilfsbedürftigen unabhängig von deren besonderen Lebensumständen und persönlichen Eigenschaften in der gleichen Höhe festgesetzt wird, also beispielsweise angenommen wird, dass jedem Menschen ein minimales Einkommen von einem US-Dollar pro Tag zur Verfügung gestellt werden sollte. Es erscheint aber aus einer unparteiischen Perspektive fraglos unangemessen, wenn unterschiedlich umfangreiche Bedürfnisse nach bestimmten Gütern bzw. bestimmte spezielle Bedarfsarten bei der Erfassung von Armut keine Berücksichtigung finden. Eine Armutskonzeption muss deshalb auch relative Elemente in diesem zweiten Sinn aufweisen (siehe dazu eingehender Kap. E. und F.). Zumindest muss dies gelten, wenn das soziale Minimum nicht bereits so hoch angesiedelt ist, dass damit sowieso problemlos spezielle Bedürfnisse – wie sie aufgrund von Erkrankungen, speziellen Ernährungsbedürfnissen oder aufgrund von geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen auftreten – abgedeckt werden können, was üblicherweise nicht der Fall sein wird. 2. Dimensionen der Armut Die Unterscheidung zwischen „absoluten“ und „relativen“ Armutsverständnissen muss sich aber nicht notwendigerweise auf die Armutsschwellen, sondern kann sich auch auf die zur Erfassung von Armut als relevant betrachteten Güter, und damit auf die als relevant betrachteten Dimensionen der Armut, beziehen. „Relativ“ in diesem Sinn ist ein Armutsverständnis dann, wenn die Beantwortung der Frage, welche Güter zur Erfassung von Armut relevant sind, relativ zu oder in Abhängigkeit von den besonderen äußeren Umständen eines Menschen – wie z. B. von den spezifischen gesellschaftlichen Begebenheiten, in denen er lebt, oder den persönlichen Eigenschaften, die er besitzt – abhängig gemacht wird. „Absolut“ in diesem Sinn ist ein Armutsverständnis dagegen, wenn die Güter, die jeder Hilfsbedürftige (in bestimmtem Umfang) verwirklichen können sollte, unabhängig von den besonderen äußeren Umständen und den persönlichen Eigenschaften eines Menschen 12 Vgl.
ders. (1992), 19 f.
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C. Zwei grundlegende Unterscheidungen in der Armutsdebatte
festgelegt werden.13 Zu den absoluten Gütern in diesem Sinn muss zumindest das physische Überleben gezählt werden und insofern es dieses zu sichern gilt, muss offenbar jedes ethisch angemessene Armutskonzept auch ein absolutes Element in dem hier infrage stehenden Sinn aufweisen. Doch auch ein in diesem Sinn relatives Element sollte jedes moralisch angemessene Armutskonzept beinhalten (siehe zu dieser Frage eingehender Kap. E. bis G.): Denn selbst wenn man davon ausginge, dass es das ausschließliche Ziel der Armutsbekämpfung wäre, jedem Hilfsbedürftigen möglichst das physische Überleben zu sichern, wäre dazu eine „Relativität“ auf der Ebene der dazu nötigen Ressourcen nötig, und zwar in Abhängigkeit von den besonderen persönlichen Eigenschaften eines Menschen. Wie bereits oben erwähnt, benötigen beispielsweise körperlich beeinträchtigte Menschen häufig andere als die üblichen Hilfsmittel, um sich angemessen fortbewegen zu können; andere benötigen aufgrund einer Erkrankung spezielle Nahrungsmittel. Aber auch mit Blick auf die besonderen gesellschaftlichen Umstände ist womöglich eine „Relativität“ hinsichtlich der bereitgestellten Ressourcen nötig. Sen verdeutlicht diesen Umstand anhand einer Untersuchung aus den 1970er Jahren, die gezeigt hat, dass Kinder in Westeuropa und Nordamerika dem Schulunterricht häufig nicht recht folgen konnten, wenn sie keinen Zugang zu einem Fernsehgerät besaßen, wohingegen dieser Zusammenhang in Tansania nicht bestand; heute ließe sich dieser Zusammenhang sicherlich hinsichtlich des Zugangs zum Internet für viele Regionen nachweisen.14 Das wohl berühmteste Beispiel für die „Relativität“ von Armutskonzeptionen in diesem Sinn findet sich in Adam Smiths Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1895. Smith zufolge soll jeder Mensch das eigene Überleben sichern und ein „anständiges“ Mitglied der eigenen Gesellschaft sein können. Letzteres setzt für Smith den Besitz derjenigen Ressourcen voraus, die nötig sind, um ohne Scham in die Öffentlichkeit zu treten.15 Das minimale Wohl eines Men13 Vgl. zu einer solchen Unterscheidung zwischen „absoluter“ und „relativer“ Armut z. B. Townsend (1979), 17 f. Wörtlich heißt es bei Townsend: „Any rigorous conceptualisa tion of the social determination of need dissolves the idea of ,absolute‘ need. And a thorough going relativity applies to time as well as place. […] The necessities of life are not fixed. They are continuously being adapted and augmented as changes take place in a society and in its products. Increasing stratification and a developing division of labour, as well as the growth of powerful new organisations, create, as well as reconstitute, ,need‘“ (ebd.). 14 Vgl. Sen (1983), 162. In Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Umständen kann selbst der Besitz eines Autos ein notwendiges Mittel darstellen, um ein Leben frei von Armut zu führen, beispielsweise dann, wenn es, wie es in ländlichen Regionen in den USA zum Teil der Fall ist, keinerlei öffentliche Verkehrsanbindungen gibt und man ohne Auto praktisch nicht an bestimmte grundlegende Güter gelangen kann (vgl. Müller/Neuhäuser (2011), 163). Vgl. anders z. B. das Bundesverfassungsgericht in dem in Kapitel A. in Grundzügen dargelegten Urteil, welchem zufolge es sich um eine vertretbare Wertung handelt, den Besitz eines Kraftfahrzeugs nicht als zu der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums erforderlich zu betrachten (vgl. BVerG NJW 2010, 505 ). Zumindest für ländliche Räume erscheint diese Wertung zumindest bedenkenswert. 15 Vgl. Smith (1895), 691.
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schen besteht für Smith somit aus zwei absoluten Gütern: dem physischen Überleben und einer bestimmten Art von sozialer Teilhabe. Diese Güter sind in dem Sinn „absolut“, als jeder Mensch dazu in der Lage sein sollte, sie zu verwirklichen, und zwar unabhängig davon, in welcher Gesellschaft er lebt. Die zur Verwirklichung dieser absoluten Güter instrumentell nötigen Ressourcen sind dagegen – zumindest was das Gut, ein anständiges Mitglied der Gesellschaft sein zu können, angeht – „relativ“ in dem hier infrage stehenden Sinn, denn sie variieren Smith zufolge in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Lebensumständen eines Menschen.16 In der Inquiry erläutert er seine Position selbst auch wie folgt: „By necessaries I understand, not only the commodities which are indispensably necessary for the support of life, but whatever the custom of the country renders it indecent for creditable people, even of the lowest order, to be without. A linen shirt for example is strictly speaking not a necessary of life. The Greeks and Romans lived, I suppose, very comfortably though they had no linen. But in the present times, through the greater part of Europe, a creditable day-labourer would be ashamed to appear in public without linen shirt, the want of which would be supposed to denote that disgraceful degree of poverty, which, it is presumed, nobody can well fall into without extreme bad conduct. Custom, in the same manner, has rendered leather shoes a necessary of life in England. The poorest creditable person of either sex would be ashamed to appear in public without them. In Scotland, custom has rendered them a necessary of life to the lowest order of men; but not to the same order of women, who may, without any discredit, walk about barefooted. In France, they are necessaries neither to men nor to women; the lowest rank of both sexes appearing there publicly, without any discredit, sometimes in wooden shoes and sometimes barefooted. Under necessaries therefore, I comprehend, not only those things which nature, but those things which the established rules of decency, have rendered necessary to the lowest rank of people. All other things I call luxuries; without meaning by this appellation to throw the smallest degree of reproach upon the temperate use of them. Beer and ale, for example, in Great Britain, and wine, even in the wine countries, I call luxuries. A man of any rank may, without any reproach, abstain totally from tasting any such liquors. Nature does not render them necessary for the support of live, and custom nowhere renders it indecent for people to live without them.“17
Die Relativität der zur Verwirklichung eines Guts benötigten Ressourcen kann zuletzt auch noch durch einen weiteren Umstand begründet sein. Denn selbst wenn man, wie Martha Nussbaum dies tut, davon ausgeht, dass jeder Mensch zu der Verwirklichung bestimmter „absoluter“ Güter in der Lage sein sollte, braucht es in aller Regel insofern Raum für kulturellen Pluralismus, als die abstrakt beschriebenen Elemente, aus denen sich das minimale Wohl zusammensetzt, womöglich bis zu einem gewissen Grad von verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich konstruiert werden resp. durch unterschiedliche Ressourcen und Verhaltensweisen instanziiert werden:18
16 Vgl.
ebd. Ebd., 691, Hervorhebungen TM. 18 Vgl. Nussbaum (1999c), 212 f. 17
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„Die Angst vor dem Tod, die Liebe zum Spiel, Freundschaften und Beziehungen zu anderen Menschen und sogar die Erfahrung von körperlicher Lust treten niemals in [einer] […] unbestimmten und allgemeinen Form auf […], sondern immer in einer spezifisch historisch-kulturellen Ausformung.“19
In den Kapiteln E. bis G. wird sich zeigen, dass in einem ethisch und politisch relevanten Armutsverständnis die Elemente des minimalen menschlichen Wohls in einer absoluten (allgemeingültigen) Weise festlegt werden sollten. Sowohl bei der Instanziierung dieser Elemente als auch bei der Bestimmung der Ressourcen, die zu deren Verwirklichung nötig sind, sollte es aber möglich sein, Unterschiede in Relation zu den äußeren Umständen und den persönlichen Eigenschaften eines Menschen zuzulassen; insofern sollte jedes Armutsverständnis auch relative Elemente in dem hier zuletzt genannten Sinn aufweisen.
II. Subjektive und objektive Armut Eine weitere grundlegende begriffliche Unterscheidung in der Armutsdebatte ist die zwischen „subjektiven“ und „objektiven“ Armutsverständnissen. „Subjektive“ Armutsverständnisse sind Armutsverständnisse, in denen das, was „Armut“ ausmacht, allein von den faktischen Wünschen und Präferenzen der Betroffenen abhängig gemacht wird: Allein mit Blick auf die faktischen Wünsche und Präferenzen der Menschen wird entschieden, ob ein unzumutbarer Mangel an Gütern und Ressourcen in deren Leben vorliegt oder nicht. In objektiven Armutsverständnissen wird dagegen die Frage, ob ein Mensch an Armut leidet oder nicht, mit Blick auf das Vorliegen bestimmter „objektiver“ Merkmale ermittelt. Unter „objektiven“ Merkmalen werden hier Merkmale der menschlichen Lebenslage verstanden, die unabhängig von den Wünschen und Präferenzen des einzelnen von Armut Betroffenen als relevant für die Erfassung von Armut betrachtet werden und die für alle Menschen mit den gleichen moralisch relevanten Merkmalen – wie z. B. für alle Kinder – die gleichen sind. Unter der „Lebenslage“ eines Menschen soll hier und im Folgenden die Gesamtheit der äußeren Umstände und persönlichen Eigenschaften eines Menschen verstanden werden;20 Beispiele für objektive Merkmale der 19
Ebd., 212. sozialethischer Terminus geht der Ausdruck „Lebenslage“ auf den Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Weisser zurück (vgl. Weisser (1956)). Für Weisser umfasst die „Lebenslage“ allerdings nur bestimmte äußere Lebensumstände von Menschen und nicht auch deren persönliche Eigenschaften, wie dies in dieser Arbeit angenommen wird. Als relevant werden von Weisser vor allem die Lebensbereiche Wohnung, Wohnumfeld, soziale Netzwerke, Freizeit und Kultur betrachtet (vgl. Butterwegge et al. (2004), 42). Eine „Lebenslage“ ist für diesen jener „Spielraum, den einem Menschen (einer Gruppe von Menschen) die äußeren Umstände nachhaltig für die Befriedigung der Interessen bieten, die den Sinn seines Lebens bestimmen“ (Weisser (1956), 986; zitiert nach Butterwegge et al. (2004), 43). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird Weissers Lebenslagenansatz nicht weiter zur Sprache kommen. Vgl. ausführlich zu den Gemeinsamkeiten, die zwischen dem später noch zu diskutierenden Capability-Ansatz (siehe Kap. F. II. und G.) und dem Lebensla20 Als
II. Subjektive und objektive Armut
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Lebenslage eines Menschen, die für die Erfassung von Armut relevant sind, sind der Ernährungs- oder Gesundheitszustand, der Bildungsstand oder die Höhe des Einkommens.21 In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass ein moralisch akzeptables Armutsverständnis aufgrund der damit einhergehenden problematischen Aspekte kein subjektives sein sollte, auch wenn es gleichwohl von sozialwissenschaftlichem Interesse sein kann, die Armutsvorstellungen und das Armutsempfinden der Menschen zu erforschen.22 Subjektive Armutsverständnisse weisen jedoch auch einige Vorzüge im Vergleich zu manch objektivem Armutsverständnis auf; diese sollen zunächst zur Sprache kommen, bevor wir uns dann den problematischen Aspekten dieser Armutsverständnisse zuwenden. gen-Ansatz von Weisser bestehen, wie auch zu den bestehenden Unterschieden zwischen beiden Ansätzen Leßmann (2006) und (2007). 21 Ein Beispiel für eine Position, in der das Armutsverständnis zwischen einem subjektiven und einem objektiven changiert, findet sich z. B. in Harry Frankfurts Aufsatz Equality as a Moral Ideal. Dem dort vorgeschlagenen Armutsverständnis zufolge sollen wir uns bei der Frage, ob ein Mensch „arm“ ist oder nicht, an der Zufriedenheit der Menschen orientieren, wobei Frankfurt annimmt, dass die zur Überwindung der so verstandenen Form von Armut nötigen Hilfeleistungen stets in Form von Geldmitteln zur Verfügung gestellt werden sollten. In Bezug auf das Ausmaß an Geldmitteln, welches einem Menschen minimal zur Verfügung stehen sollte, heißt es dann bei Frankfurt: „What does it mean […] for a person to have enough? […] To say that a person has enough money means that he is content, or that it is reasonable for him to be content, with having no more money than he has. And to say this is, in turn, to say something like the following: the person does not (or cannot reasonably) regard whatever (if anything) is unsatisfying or distressing about his life as due to his having too little money. […] In other words, if a person is (or ought reasonably to be) content with the amount of money […] he does not (or cannot reasonably) suppose that money would – ei ther as a sufficient or as a necessary condition – enable him to become (or have reason to be) significantly less unhappy with it“ (Frankfurt (1987), 37 f.). Wie die Passage zeigt, schwankt Frankfurt zwischen einer Orientierung daran, was einen Menschen tatsächlich zufriedenstellt, und daran, was ihn tatsächlich zufriedenstellen sollte, wenn ihm ein entsprechender Betrag an Geldmitteln zur Verfügung stünde. 22 Vgl. zu einer internationalen Studie, die auf einem subjektiven Armutsverständnis beruht, z. B. Narayan et al. (2000a) und (2000b). Eines der Ergebnisse dieser Studien bestand darin, dass die folgenden Formen des Mangels von den Menschen als relevant für das Vorliegen von „Armut“ betrachtet wurden: „Material Well-Being: having not enough food, assets, work; bodily well-being: being and appearing well, health, appearances, physical environment; social well-being: being able to care for, bring up, marry, and settle children, self-respect and dignity, peace, harmony, good relations in the family/community; security: civil peace, a physically safe and secure environment, personal physical security, lawfulness and access to justice, security in old age, confidence in the future; psychological well-being: peace of mind, happiness, harmony (including a spiritual life and religious observance); freedom of choice and action“ (vgl. Narayan et al. 2000b: 25 ff.; wiedergegeben nach Alkire (2002), 64). Eine empirische Untersuchung der Frage, das Erreichen welcher Ziele resp. die Entwicklung welcher Fähigkeiten Kinder als grundlegend in ihrem Leben betrachten, findet sich z. B. in Biggeri (2007).
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1. Vorzüge subjektiver Armutsverständnisse Ein Vorzug subjektiver Armutsverständnisse besteht darin, dass diese in größtmöglicher Weise dem gerecht werden, was im weiteren Verlauf der Arbeit – in Anlehnung an einen Ausdruck von John Harsanyi – auch als das „Prinzip der Präferenzautonomie“ bezeichnet wird. Dieses Prinzip besagt, dass die Frage, was gut und was schlecht für eine Person ist, letztendlich anhand von deren Wünschen und Präferenzen entschieden werden sollte.23 Wie wir in Kapitel D. noch sehen werden, sollten wir die Präferenzautonomie eines Menschen möglichst wahren. Ein Armutsverständnis, bei dem die Frage, worin Armut besteht, mit Blick auf die Wünsche und Präferenzen der betroffenen Individuen beantwortet wird, würde diesem Anspruch in hohem Maß gerecht werden, da in diesem Fall jeder Mensch selbst zu entscheiden hätte, worin ein unzumutbarer Mangel für ihn besteht: Einem subjektiven Armutsverständnis zufolge hätte ein Mensch einen Anspruch auf diejenigen Hilfeleistungen, die er benötigte, um die von ihm für unzumutbar gehaltenen Mängel in seinem Leben zu beseitigen. Die Verwendung eines subjektiven Armutsverständnisses in der Sozialpolitik könnte zudem dazu führen, dass die Stigmatisierung von Menschen, die in bestimmten Mangelsituationen leben, abgeschwächt würde. Denn in subjektiven Armutsverständnissen wird, anders als in objektiven, keine Form des Mangels von vorneherein als ein zu beseitigendes Defizit bzw. Übel betrachtet; vielmehr können 23 Vgl. Harsanyi (1982), 55. Harsanyi bezieht sich mit seinem Prinzip der Präferenzautonomie genau genommen allerdings nicht, wie ich dies im Folgenden tun werde, auf die manifesten oder faktischen Präferenzen einer Person, sondern auf deren „aufgeklärte“ oder „wahre“ Präferenzen. Die Unterscheidung zwischen beiden Arten von Präferenzen versteht Harsanyi wie folgt: „[A person’s] manifest preferences are his actual preferences as manifested by his observed behavior, including preferences possibly based on erroneous factual beliefs, or on careless rational choice. In contrast, a person’s true preferences are the preferences he would have if he had all the relevant factual information, always reasoned with the greatest possible care, and were in a state of mind most conducive to rational choice“ (ebd.; vgl. zu der Idee aufgeklärter Präferenzen ähnlich auch die Konzeption der „kognitiven Psychotherapie“ in Brandt (1979)). Bei der Erfassung des individuellen Wohls nur „wahre“ Präferenzen anzuerkennen, trägt allerdings ein objektivierendes Element in Harsanyis Konzeption der Präferenzautonomie hinein. Eine weitere Objektivierung stellt bei ihm der Ausschluss „antisozialer“ Präferenzen (Sadismus, Neid, Ressentiment und Böswilligkeit) dar (vgl. Harsanyi (1982), 56). Nichtsdestotrotz sind auch aufgeklärte Präferenzen im Sinn Harsanyis ein Ausdruck subjektiver Konzeptionen des Wohls, die abhängig von den konkreten Bedürfnissen, Wünschen und Überzeugungen der Menschen variieren. Im Licht ihrer aufgeklärten Präferenzen wird dementsprechend auch variieren, worin sie für sich selbst ein Leben frei von Armut sehen. Die im Folgenden erörterten Probleme subjektiver Armutskonzeptionen betreffen insofern also auch Konzeptionen des Wohls, die von aufgeklärten Präferenzen ausgehen. Der Grund dafür, das Prinzip der Präferenzautonomie, wie ich es tue, auf faktische Präferenzen zu beziehen (die je nachdem aufgeklärt oder unaufgeklärt sein können), liegt darin, dass in einem gewissen Umfang auch unaufgeklärte Präferenzen und unvernünftige Konzeptionen in Bezug auf das eigene Wohl geschützt werden sollten (siehe dazu Kap. D.).
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bei der Verwendung eines solchen Armutsverständnisses ganz unterschiedliche Formen des Mangels für unzumutbar gehalten werden. Nicht zuletzt werden in subjektiven Armutsverständnissen Unterschiede in der individuellen Lebenslage der Menschen berücksichtigt. Diese Berücksichtigung erscheint, wie bereits in Kapitel C. I. deutlich wurde, aber in bestimmtem Umfang geboten, weil derartige Unterschiede bedingen können, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Arten von Gütern oder auch die gleiche Art von Gütern in unterschiedlichem Umfang benötigen, um beispielsweise gleichermaßen gut ernährt, gebildet oder vor Erkrankungen geschützt zu sein.24 2. Nachteile subjektiver Armutsverständnisse Mit subjektiven Armutsverständnissen sind jedoch auch gravierende Probleme verbunden, aufgrund derer ihre Verwendung – z. B. in der Sozialpolitik – aus moralischer Sicht nicht akzeptabel erscheint. Ein mit solchen Armutsverständnissen verbundenes Problem ist das sogenannte „Problem der adaptiven Präferenzen“ (adaptive preferences/conditioned expectations problem).25 Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen die Neigung haben, Wünsche und Präferenzen auszubilden, deren Realisierung ihnen im Licht ihrer persönlichen Fähigkeiten und äußeren Umstände mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit auch möglich ist: Lebt man etwa über einen längeren Zeitraum hinweg in kärglichen Verhältnissen und besteht in absehbarer Zukunft keine Aussicht auf eine Verbesserung der eigenen Lage, ist es ein Gebot der Klugheit, sich keine allzu anspruchsvollen Ziele zu setzen, will man Frustrationen und Enttäuschungen vermeiden. Entsprechend spielen auch Anpassungen an ungünstige sozioökonomische Bedingungen bei der Entwicklung von Lebensplänen – insbesondere auch in beruflicher Hinsicht – bei Kindern und Jugendlichen eine große Rolle.26 Im Extremfall können Anpassungen an ungünstige Umstände sogar dann erfolgen, wenn ein Mangel an so grundlegenden Dingen wie einer angemessenen Ernährung, einer adäquaten Behausung und Bekleidung oder einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung besteht.27 Wir passen unsere Wünsche und Präferenzen allerdings nicht nur an vorgegebene materielle Lebensumstände, sondern auch an gesellschaftlich etablierte Wertvorstellungen und Gepflogenheiten an. Ein Beispiel für eine derartige Anpassung nennt Martha Nussbaum in Nicht-relative Tugenden.28 Darin bezieht sie sich auf
24 Insbesondere Amartya Sen hat auf den Punkt, dass ein Armutsverständnis derartige individuelle Unterschiede berücksichtigen muss, wiederholt hingewiesen (vgl. z. B. Sen (1992), 112 f.). Er selbst verficht, wie wir im Folgenden noch sehen werden, allerdings kein subjektives, sondern ein objektives Armutsverständnis (siehe Kap. F. II.). 25 Vgl. ausführlicher zum Problem der adaptiven Präferenzen z. B. Elster (1985). 26 Vgl. z. B. Burchardt (2009), 9 ff. 27 Vgl. Kynch/Sen (1983); Sen (1992), 55; ders. (2009), 282 ff. 28 Nussbaum (1999d), 250 ff.; vgl. ähnlich auch dies. (1999c), 210 f.
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die Schilderung eines Entwicklungshilfeprojekts zur Alphabetisierung von Frauen im ländlichen Bangladesch in Martha Chens Buch A Quiet Revolution:29 „Dem Projekt [zur Alphabetisierung von Frauen, TM] lag die Überzeugung zugrunde, daß Lesen und Schreiben wichtig sind, wenn diese Frauen in die Lage versetzt werden sollen, ihr Leben zu verbessern. Sie [die Lese- und Schreibfähigkeiten, TM] wurden in engem Zusammenhang mit anderen westlichen Werten wie wirtschaftliche Entwicklung, Selbstständigkeit und Selbstachtung gesehen. […] Da die Entwicklungshelfer jedoch nicht mit dem Kontext vertraut waren, in dem die Frauen lebten, war es […] für sie unmöglich, Erfolge zu erzielen. Die Frauen fanden das Unterrichtsmaterial langweilig und für ihr Leben unwichtig. Sie sahen nicht ein, daß Lesen und Schreiben ihnen helfen würden; sie wehrten sich auch gegen die begleitende berufliche Ausbildung, da diese das Hauptgewicht auf Fertigkeiten legte, die in diesem Gebiet nur wenig gefragt waren.“30
Hätte man die Frauen gefragt, hätten sie die fehlende Lese- und Schreibfertigkeit also wohl kaum als einen unzumutbaren Mangel in ihrem Leben beschrieben. Einem subjektiven Armutsverständnis folgend bestünde dann aber auch kein moralischer Anspruch auf Hilfeleistungen zu der Beseitigung dieses Mangels: „Ein wunschorientierter Ansatz […] nimmt an, daß es für die Regierung keinen Grund gibt, sich mit dieser Frage [der Alphabetisierung der Frauen, TM] zu befassen, wenn die Frauen nicht mehr Bildung und eine höhere Alphabetisierungsquote fordern. Es werden Umfragen gemacht; die Frauen äußern Zufriedenheit mit dem Stand ihrer Bildung; es werden keine weiteren Anstrengungen unternommen.“31
Die Verwendung eines subjektiven Armutsverständnisses bringt demnach die Gefahr mit sich, dass objektiv bestehende Notlagen gar nicht als solche in Erscheinung treten: „The extent of a person’s deprivation […] may not all show up in the metric of desire-fulfilment, even though he or she may be quite unable to be adequately nourished, decently clothed, minimally educated, and properly shel tered.“32 Es kann somit nicht richtig sein, bereits aus dem fehlenden Wunsch eines Menschen, seine Situation zu verbessern, abzuleiten, dass ihm auch kein Anspruch auf entsprechende Hilfeleistungen zukommen sollte. An dieser Stelle muss jedoch angemerkt werden, dass empirische Studien zeigen, dass Menschen sich nicht an alle Umständen gleichermaßen anpassen: So gewöhnen sich Menschen beispielsweise zwar recht schnell an die Bedingungen eines Gefängnisaufenthalts oder an ein gestiegenes Einkommen. Mit dem Tod eines geliebten Menschen können wir uns jedoch in aller Regel nur sehr schwer und sehr langsam abfinden und eine Gewöhnung an Lärm findet praktisch niemals statt.33 29 Vgl.
Chen (1986). Nussbaum (1999d), 250 f. 31 Dies. (1999a), 43. Dieses Problem der deformierten Wünsche findet sich bereits bei Karl Marx, wenn bei diesem von Arbeitern die Rede ist, die unter miserablen Arbeitsbedingungen arbeiten und denen die Energie fehlt, den Wunsch nach einem besseren Leben überhaupt zu entwickeln (vgl. ebd., 42). 32 Sen (1992), 55. 33 Vgl. Frederick/Loewenstein (1999), 311 ff. 30
II. Subjektive und objektive Armut
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Eine natürliche Grenze findet die Anpassung an ungünstige Umstände sicherlich auch dann, wenn es um akuten Hunger und Durst geht: „I believe […] that the human personality has a structure that is at least to some extent independent of culture, powerfully though culture shapes it at every stage. As the Greek philosopher Sextus Empiricus wrote, ,In the person burdened by hunger and thirst, it is impossible to produce by argument the conviction that he is not so burdened.‘ Desires for food, for mobility, for security, for health, and for the use of reason – these seem to be relatively permanent features of our makeup as humans, which culture can blunt, but cannot altogether remove.“34
In einer neueren in Äthiopien und Südafrika durchgeführten Studie hat David Clark überdies Belege dafür gefunden, dass Menschen sich auch an schlechte Bedingungen im Gesundheitsbereich nicht beliebig anpassen.35 Das Problem der adaptiven Präferenzen kann also zwar in der zuvor genannten Weise auftreten, darf aber, gerade wenn es um die Anpassung von Präferenzen und Wünschen an sehr schlechte Bedingungen geht, in seinem Ausmaß auch nicht überschätzt werden, worauf Clark abermals unter Verweis auf empirische Studien aufmerksam macht: „My own fieldwork in South Africa suggests that while the poor and disadvantaged often report high levels of happiness and satisfaction (implying high levels of adaption in terms of subjective well-being), they are typically capable of imagining, articulating and demanding a better form of life (see also Møller 1996). Indeed, […] [Bina Agarwal] makes a related point. Bina Agarwal (2008) argues that the way in which women in traditional societies perceive their interests have more to do with ,structural inequalities‘ than ,false perceptions‘. She draws on a range of anthropological studies to show that women in South Asia have devised all sorts of covert ways of expressing dissatisfaction, resisting household inequalities and dealing with violence and injustice.“36
Menschen passen ihre Wünsche und Präferenzen aber nicht nur ungünstigen oder kärglichen, sondern auch üppigen Verhältnissen an. Aus diesem Grund geht mit subjektiven Armutsverständnissen noch ein weiteres Problem einher: Wer in besseren Verhältnissen lebt, entwickelt in der Regel kostspieligere Wünsche als Menschen aus kärglicheren Verhältnissen. Werden diese höheren Erwartungen nun plötzlich enttäuscht, kann dies ebenfalls als unzumutbarer Mangel im eigenen Leben empfunden werden. Ganz gleich, worin diese Wünsche und Ansprüche 34 Nussbaum (2000a), 155. Vgl. ähnlich kritisch zu einer umfassenden Anpassung an ungünstige gesellschaftliche Umstände selbst den Kommunitaristen Michael Walzer in seinem Vorwort zu der 2006 erschienen deutschen Neuauflage seines Buches Spheres of Justice, in dem es heißt: „Unterdrückerische Praktiken werden von den Unterdrückten keineswegs allgemein akzeptiert: dies glaube ich nicht nur, es ist auch mein Verständnis von menschlicher Geschichte. Das falsche Bewusstsein von Sklaven ist die Illusion ihrer Herren. Liberale und linksgerichtete Kritiker hätten die Idee, Sklaven lernten ihr Sklaven-Dasein lieben, niemals passieren lassen dürfen“ (Walzer (2006), IV). 35 Vgl. Clark (2013), 181; ders. (2012), Kap. 5 und 7; vgl. ebenfalls kritisch zu der Annahme, dass Menschen ihre Wünsche und Präferenzen nahezu uneingeschränkt an ungünstige oder ungerechte Umstände anpassen, ders. (2009). 36 Ders. (2013), 181.
C. Zwei grundlegende Unterscheidungen in der Armutsdebatte
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bestehen, müssten sie dem subjektiven Armutsverständnis zufolge jedoch erfüllt werden, sobald die betreffende Person eine Nicht-Erfüllung als unzumutbaren Mangel empfindet (expensive tastes problem).37 Der Umstand, dass ein Mensch seine Lage subjektiv für unzumutbar hält, obwohl es ihm objektiv vergleichsweise gut oder sogar sehr gut geht, begründet allein aber noch keinen moralischen Anspruch auf Hilfeleistungen; einen solchen Anspruch besitzt ein Mensch offenbar nur dann, wenn er in bestimmten, objektiv als wichtig erachteten Hinsichten in einem bestimmten Ausmaß Mangel leidet. James Griffin bringt dies pointiert auf den Punkt, wenn er schreibt: „Why should I accept that your desires make a claim on me? You may […] want champagne, but if you do not need it, why should my obligations to you be at all engaged?“38 Dass die objektive Armut im Leben eines Menschen beseitigt ist, schließt freilich nicht aus, dass dieser sich subjektiv immer noch als „arm“ empfindet. Problematisch an subjektiven Armutsverständnissen erscheint des Weiteren, dass sich die tatsächlichen Wünsche und Präferenzen eines Menschen unter Umständen nur schwer ermitteln lassen: Drohen bei der Äußerung eines Wunschs oder einer Präferenz rechtliche oder soziale Sanktionen, etwa weil dies als ungebührliche Regimekritik in einem Staat gewertet wird, werden Menschen ihre wahren Wünsche und Präferenzen kaum frei mitteilen. Aber auch mangelndes Wissen und kultureller Druck können nicht nur dazu, dass bestimmte Wünsche gar nicht erst entwickelt werden, sondern auch dazu, dass sie, obgleich sie bestehen, nicht geäußert werden.39 Aus epistemischen Gründen lässt sich ein subjektives Armutsverständnis also offenbar allenfalls in pluralistischen und nicht-repressiven Gesellschaften adäquat anwenden. Mit subjektiven Armutsverständnissen geht überdies eine Missbrauchsgefahr einher: Denn schließlich können Menschen bei der Verwendung eines solchen Armutsverständnisses schlichtweg behaupten, dass sie bestimmte Mangelzustände in ihrem Leben als unzumutbar ansehen, um auf diese Weise einen Anspruch auf mehr Hilfeleistungen zu erhalten. Nicht zuletzt ist es möglich, dass die Behebung einiger Formen des Mangels, die Menschen selbst für unzumutbar halten, einen Verstoß gegen die moralischen Ansprüche anderer darstellen könnte; auch insofern erscheint ein rein subjektives Armutsverständnis nicht angemessen. Ein Problem, das rein pragmatischer Natur ist, besteht zudem darin, dass man bei der Verwendung eines subjektiven Armutsverständnisses für jeden Menschen, z. B. durch Befragungen, immer wieder aufs Neue ermitteln müssten, die Nicht-Erfüllung welcher Wünsche er für unzumutbar hält, was ein extrem kostenintensives Verfahren zur Erfassung von Armut darstellen würde. Auch müsste ein subjektives Armutsverständnis um ein Kriterium ergänzt werden, mit dessen Hilfe sich bei einer bestehenden Ressourcenknappheit entscheiden ließe, der Beseitigung welcher 37 Vgl.
R. Dworkin (2000), 48 ff. Griffin (1986), 40. 39 Vgl. Nussbaum (1999a), 43. 38
II. Subjektive und objektive Armut
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Mängel im Zweifelsfall Vorrang einzuräumen wäre. Es bedürfte somit eines objektiven Kriteriums dafür, was einen Wunsch als wichtiger oder dringlicher erscheinen lässt als einen anderen, wie beispielsweise das in hedonistisch-utilitaristischen Theorien herangezogene Prinzip, dass gegebenenfalls der Erfüllung desjenigen Wunschs Vorrang einzuräumen wäre, dessen Erfüllung voraussichtlich die Summe des Lustempfindens in einer Gesellschaft maximieren würde. Die genannten Vorzüge und Schwierigkeiten bleiben im Wesentlichen auch dann bestehen, wenn es sich bei den fraglichen Hilfsbedürftigen nicht um Erwachsene, sondern um Kinder handelt. Da die subjektive Bestimmung von Armut, wie in diesem Abschnitt deutlich wurde, jedoch ganz allgemein mit so großen Problemen behaftet ist, dass sich der Versuch einer objektiven Bestimmung von Armut empfiehlt, werde ich darauf verzichten, herauszuarbeiten, welche speziellen Probleme sich aus einer Übertragung subjektiver Armutsverständnisse auf den Fall der Kinderarmut ergeben könnten. (So kann ein solches Armutsverständnis z. B. nichts darüber aussagen, was „Armut“ im Leben von sehr kleinen Kindern ausmacht, da diese noch über keinerlei Wünsche und Präferenzen verfügen.)
D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern Wie in Kapitel C. deutlich wurde, sollte die Ausgestaltung des Armutsbegriffs in einer objektiven Weise erfolgen. Das bedeutet, dass die Festlegung der Merkmale, die für die Erfassung von Armut relevant sind, unabhängig von den faktischen Wünschen und Präferenzen des jeweils einzelnen von Armut Betroffenen vonstattengehen sollte (siehe Kap. C. II.). Dieser Forderung widerspricht nicht, dass es dennoch moralisch geboten sein kann, verschiedenen Personengruppen unterschiedliche soziale Minima zur Verfügung zu stellen, sofern zwischen beiden Gruppen entsprechende moralisch relevante Unterschiede bestehen. Der Frage, ob derartige Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen bestehen, wie es mutmaßlich der Fall ist, soll in diesem Kapitel nachgegangen werden.1
I. Was ist ein Kind? Ganz allgemein zeichnen sich Kinder dadurch aus, dass sie bestimmte für das Erwachsensein konstitutive Eigenschaften noch nicht (in hinreichendem) Maß entwickelt und diese auch in der Vergangenheit noch nicht (in hinreichendem Maß) besessen haben.2 Sie sind zudem üblicherweise dazu in der Lage, diese Eigenschaften (bei geeigneter Förderung) zu entwickeln.3 Auch in der Praktischen Philoso1 Diese Frage erübrigt sich, wenn man ein subjektives Armutsverständnis für angemessen hält: Ob gruppenspezifische Unterschiede zwischen den Menschen bestehen oder nicht, gerät bei einem subjektiven Armutsverständnis nicht in den Blick; was bei einem solchen Armutsverständnis allein von Relevanz ist, ist der Blick auf die faktischen Wünsche und Präferenzen des einzelnen Individuums (siehe Kap. C. II.). 2 Das Merkmal (ii) grenzt Kinder von Menschen ab, die bereits als „erwachsen“ galten, aber die für das „Erwachsensein“ als relevant betrachteten Eigenschaften beispielsweise aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls wieder verloren haben. 3 Kinder sind üblicher-, aber nicht notwendigerweise dazu in der Lage, diese Eigenschaften zu entwickeln. Die besondere Problematik von Kindern, die in der Entwicklung der für das Erwachsensein konstitutiven Eigenschaften „beeinträchtigt“ sind, wie auch die Problematik dauerhaft beeinträchtigter Erwachsener, wird in dieser Arbeit ausgeklammert. Dies bedeutet nicht, dass es unwichtig wäre, die Frage zu diskutieren, welchen speziellen Anforderungen die Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums genügen muss, wenn es schwerwiegend und dauerhaft beeinträchtigten Erwachsenen und Kindern zur Verfügung gestellt wird. Im Gegenteil sollte Menschen mit Beeinträchtigungen im ethischen Diskurs über Armut und soziale Gerechtigkeit mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden (Ausnahmen in Bezug auf die Beschäftigung mit diesen Personengruppen stellen z. B. Nussbaum (2010), insbes. Kap. 2 und 3 oder Terzi (2010) sowie die dort angegebene weiterführende Literatur dar); dies gilt jedoch auch für die Gruppe der Kinder im Allgemeinen.
I. Was ist ein Kind?
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phie werden Kinder in aller Regel als unfertige, defizitäre, nicht voll entwickelte Erwachsene bzw. als sogenannte „Proto-Erwachsene“ verstanden.4 Die Mängel, die als charakteristisch für das „Kindsein“ angesehen werden, variieren allerdings:5 So kann man Kinder und Erwachsene anhand ihres körperlichen Entwicklungsstands voneinander unterscheiden; eine Grenze zwischen Erwachsenen und Kindern kann man in dem Fall im Erreichen der Geschlechtsreife oder der Beendigung der Wachstumsphase sehen.6 Der wesentliche Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen kann aber auch darin gesehen werden, dass Erstere in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu Letzteren stehen: So wurden etwa in Frankreich bis ins 17. Jahrhundert hinein ökonomisch abhängige Menschen von „niedrigem sozialen Stand“ (z. B. Lakaien und Gesellen) als „Kinder“ betrachtet.7 Diese Art der Unterscheidung wirkt bis heute nach, wenn Eltern ihre aus rechtlicher Sicht bereits „erwachsenen“ Kinder in bestimmten Hinsichten dennoch „wie Kinder“ behandeln, sofern diese noch nicht dazu in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. In der rechtlichen und politischen Praxis wie auch in der Moral wird die Frage, ob ein Mensch ein Erwachsener oder ein Kind ist, dagegen in aller Regel mit Blick auf das erreichte Lebensalter beantwortet, wobei einem Menschen der Erwachsenenstatus heutzutage typischerweise mit der Vollendung des 18. Lebensjahrs zugestanden wird. Das Lebensalter dient in diesen Kontexten Die in dieser Arbeit angestellten Überlegungen zur Kinderarmut können aber im Idealfall auch als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Frage nach der Ausgestaltung eines ethisch angemessenen sozialen Minimums für Menschen mit Beeinträchtigung dienen. 4 Vgl. Archard (2001), 43; Archard/Macleod (2002), 1; vgl. kritisch zu der Ansicht, Kinder vornehmlich als „Mängelwesen“ zu verstehen, z. B. auch Matthews (1995). Angemerkt werden muss an dieser Stelle noch, dass ich im Folgenden nur zwischen zwei Lebensphasen unterscheide, und zwar zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter. Freilich ließe sich auch eine feingliedrigere Einteilung treffen, z. B. in eine Kleinkind-, Schulkind- und Jugendphase sowie in eine „mittlere Lebensphase“ und das „Alter“. In anderen Zusammenhängen mag eine solche Aufteilung auch durchaus sinnvoll sein; für unsere Zwecke reicht eine Einteilung in zwei Lebensphasen aus. 5 Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung verschiedener Vorstellungen dessen, was ein „Kind“ in der Rechtsordnung, in der Literatur, in der Philosophie oder in der Soziologie ausmacht, z. B. Fionda (2001). Vgl. zu der These, dass die Unterscheidung zwischen „Kindern“ und „Erwachsenen“ eine „Erfindung“ ist, die erst in Gesellschaften ab dem späten 17. Jahrhundert aufkam, Ariès (2011). Eine kritische Auseinandersetzung mit Ariès berühmter These findet sich etwa in Archard (2004), 19 ff. 6 Darauf, dass der Umstand, dass die Größe eines Erwachsenen als „Standard“ und die Kleinheit von Kindern als „Defizit“ betrachtet wird, durchaus Auswirkungen auf das Leben und Erleben von Kindern haben kann, weist beispielsweise Gareth Matthews hin: So passe vieles in der Umgebung von Kindern nicht zu deren Größe, wodurch ihnen unmissverständlich das Gefühl vermittelt werde, (noch) kein vollständiges Mitglied der Gesellschaft zu sein (vgl. Matthews (1995), 41). Auch sollen Kinder, so Matthews weiter, wachsen. Kinder, die nicht oder nicht im „richtigen“ Tempo wachsen, werde das Gefühl vermittelt, dass mit ihnen „etwas nicht stimmt“ (ebd., 42). 7 Vgl. Ariès (2011), 83.
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
als Indikator dafür, dass man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen darf, dass dieser Mensch eine ausreichend entwickelte Autonomie- bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit resp. eine hinreichend entwickelte Fähigkeit zu praktisch vernünftigem Handeln besitzt. Der (angenommene) Entwicklungsgrad dieser Fähigkeit ist es, der als ausschlaggebend dafür betrachtet wird, welche juridischen und moralischen Rechte und Pflichten bzw. welchen normativen Status wir einem Menschen zugestehen.8
II. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung Für eine vernünftige Selbstbestimmung ist der Besitz zweier grundlegender Fähigkeiten notwendig, die in einem Mindestmaß entwickelt sein müssen, soll einem Menschen der normative Status eines Erwachsenen zuteilwerden: Erstens muss ein Mensch zu einer einigermaßen rationalen Entwicklung, Verfolgung und gegebenenfalls auch Änderung seiner subjektiven Konzeption des eigenen Wohls in der Lage sein. Mit „rational“ ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass die Entwicklung, Verfolgung und Revision der subjektiven Konzeption des Wohls mit Blick auf die persönlichen Eigenschaften und Lebensumstände resp. mit Blick auf die „Lebenslage“ eines Menschen nachvollziehbar erscheint. Zu der subjektiven Konzeption des Wohls gehören bei Erwachsenen üblicherweise auch längerfristige Wünsche und Präferenzen; diese können alternativ auch als deren „Lebensplan“ bezeichnet werden. Ein Mensch muss zweitens fähig sein, in seinem Handeln die Interessen anderer zu berücksichtigen und ihre moralischen und (berechtigten) ju8 Das erreichte Lebensalter garantiert freilich nicht, dass ein Mensch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung tatsächlich in dem benötigten Maß besitzt. Dennoch erscheint der Rückgriff auf das Alter als Indikator in der politischen und rechtlichen Praxis gerechtfertigt. Zumindest gilt dies dann, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (i) Es ist sehr aufwendig und kostenintensiv, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Fähigkeit zur Selbstbestimmung bereits vor dem Erreichen des als relevant betrachteten Alters in hinreichendem Maß vorliegt bzw. umgekehrt auch mit dem Erreichen dieses Alters noch nicht hinreichend entwickelt ist (vgl. auch Archard (2004), 90; Schickhardt (2012), 217 f.). (Auch sollte die Beantwortung der Frage, ob einem (dem Alter nach) Erwachsenen der Status eines Erwachsenen zugestanden wird, nicht vom Bestehen eines „Tests“ seiner Selbstbestimmungsfähigkeit abhängig gemacht werden, da damit unvermeidlich große Missbrauchsmöglichkeiten einhergehen würden (vgl. Archard (2004), 90 f.; Schickhardt (2012), 216).) Des Weiteren gilt für die gewählte Altersgrenze, dass durch ihre Anwendung (ii) nicht zu vielen Menschen über lange Zeiträume hinweg Rechte vorenthalten werden, die ihnen aufgrund ihres Entwicklungsstands eigentlich schon zugestanden werden sollten (vgl. auch Archard (2001), 51, ders. (2004), 89 f.). Umgekehrt führt (iii) die Verwendung der gewählten Altersgrenze nicht dazu, dass es in sehr vielen Fällen zu Verletzungen der moralischen und juridischen Rechte anderer Menschen kommt, weil dadurch zu vielen Menschen die Rechte eines Erwachsenen zu früh zugestanden werden, und die mit diesem Status einhergehenden Pflichten nicht eingehalten werden. (iv) Es gibt zudem auch keinen alternativen Indikator, auf den man zurückgreifen könnte und der bei akzeptablem Aufwand treffsicherer wäre.
II. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung
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ridischen Rechte zu achten; ich werde dies auch als die „Moralfähigkeit“ eines Menschen bezeichnen.9 Der Besitz der beiden genannten Eigenschaften setzt den Besitz weiterer Fähigkeiten voraus: So muss ein Mensch, der im genannten Sinn autonomie- bzw. selbstbestimmungsfähig ist, dazu in der Lage sein, Impulsen, Bedürfnissen, Gelüsten oder Emotionen nicht stets nachzugeben. Auch muss er die Folgen seines Handelns in hinreichendem Maß vorhersehen und bewerten können, wie er auch die Präferenzen, Wünsche, Neigungen, Fähigkeiten, Kenntnisse, Emotionen, Einstellungen usw. anderer Menschen ausreichend in Rechnung stellen und bei seinen Entscheidungen berücksichtigen können muss. Er muss die äußeren Rahmenbedingungen des eigenen Handelns, d. h. etwa die institutionellen, sozialen, materiellen und natürlichen Rahmenbedingungen, ausreichend überblicken und einschätzen können. Zudem braucht es die Fähigkeit, Regeln und Kausalzusammenhänge verstehen und bei den eigenen Entscheidungen berücksichtigen zu können, wie man auch dazu in der Lage sein muss, sich die für das Treffen einer Entscheidung relevanten Informationen zu beschaffen, sie zu verstehen und zu bewerten. Nicht zuletzt müssen offenstehende Handlungsalternativen als solche erkannt und die mit diesen Alternativen jeweils voraussichtlich einhergehenden „Kosten“ und Vorzüge für sich und andere hinreichend eingeschätzt werden können.10 Der Blick auf unsere alltäglichen Erfahrungen reicht aus, um zu erkennen, dass Kinder bereits ab einem sehr frühen Zeitpunkt über die genannten Eigenschaften zur Selbstbestimmung verfügen: So können sie schon in frühen Jahren
9 Was hier unter einem „Erwachsenen“ verstanden wird, ähnelt der „moralischen Person“ im Rawls’schen Sinn. Diese verfügt über zwei grundlegende „moralische Vermögen“: einen Gerechtigkeitssinn (sense of justice) und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten. Über einen Gerechtigkeitssinn zu verfügen, bedeutet Rawls zufolge, fähig und bereit zu sein, Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, anzuwenden und im Handeln zu beachten (vgl. Rawls (1975), 36 f., 66, 548 f.). Die Befähigung zu einer Konzeption des Guten ist die Fähigkeit, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu verfolgen, sie kritisch zu überprüfen und nötigenfalls zu revidieren. Rawls setzt voraus, dass es sich bei diesen „Vorstellungen des Guten“ um vernünftige, langfristige Pläne handelt (ebd., 151). Nur wer sowohl die Befähigung zu einer Konzeption des Guten als auch einen Gerechtigkeitssinn besitzt und diese in hinreichendem Maß entwickelt hat, gilt für Rawls als uneingeschränkt kooperationsfähiges Gesellschaftsmitglied (Hinsch (1992), 17). Auch Purdy sieht die Fähigkeit, einen Lebensplan entwickeln und umsetzen zu können wie auch die Entwicklung von Moralfähigkeit als Voraussetzung dafür, einem Menschen den Erwachsenenstatus zuzugestehen (vgl. Purdy (1992), 30 ff., 113). Anders gelagerte Vorschläge zu der Ausgestaltung des Autonomie- resp. Selbstbestimmungsbegriffs, die ebenfalls im Kontext der Frage nach der Rechtfertigung unterschiedlicher Behandlungsweisen von Kindern und Erwachsenen ausgearbeitet wurden, finden sich z. B. in Giesinger (2007), 52 ff. oder Schickhardt (2012), 164 ff., 193. 10 Ähnliche Voraussetzungen wie die hier genannten zur Entwicklung eines eigenen Lebensplans bzw. zur Entwicklung von Moralfähigkeit nennt z. B. auch Purdy (1992), 30 ff., 113; auch John Stuart Mill führt ähnliche Voraussetzungen für die selbstständige Entwicklung eines Lebensplans an (vgl. Mill (1988), 81).
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
Entscheidungen treffen, Ziele verfolgen und diese auch kommunizieren. Oder wie Samantha Brennan es ausdrückt: „It cannot be that children are unable to make choices. This is true with infants and very young toddlers but children beyond age 2 not only make choices but are able to communicate very loudly just what those choices are. (,I want to wear the dirty dinosaur t-shirt inside out.‘ […]).“11
Ebenso können Kinder ab einem sehr frühen Zeitpunkt Entscheidungen revidieren oder hinauszögern. Man denke etwa an sehr kleine Kinder, die Verbotenes tun wollen und mit ihrer „Tat“ so lange warten, bis sie sich nicht mehr im Blickfeld der Aufsichtsperson befinden. Auch können schon sehr kleine Kinder hart an der Umsetzung „längerfristiger Ziele“ arbeiten, etwa dann, wenn sie ein bestimmtes Spielzeug in ihren Besitz bringen oder ein bestimmtes Hobby erlernen möchten. Unzählige weitere Beispiele ließen sich anführen. Die Fähigkeiten, die eine Voraussetzung für die Autonomie- bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit darstellen, entwickeln sich fraglos graduell. Bei der Beantwortung der Frage, wann genau diese Fähigkeiten in hinreichendem Maß entwickelt sind, um einem Menschen den Status eines „Erwachsenen“ zuzuerkennen, wird man deshalb um eine gewisse Willkür kaum umhinkommen.12 Wir können allerdings darauf achten, dass diese Grenzziehung, wenn auch nicht völlig frei von Willkür, so doch zumindest möglichst fair sowohl aus der Perspektive der Erwachsenen als auch aus der Perspektive der Kinder erscheint. Dies kann beispielsweise dadurch gewährleistet werden, dass Erwachsene bei der Grenzziehung möglichst aufrichtig die Perspektive von Kindern berücksichtigen oder empirische Untersuchungen über die Entwicklung der genannten Eigenschaften bei Kindern miteinbezogen werden. Angemerkt werden muss an dieser Stelle noch, dass ein Verständnis von „Erwachsensein“, welches an der Autonomie- bzw. Selbstbestimmungsfähigkeit festgemacht wird, nicht mit der Annahme einhergehen muss, dass Erwachsene ihre Autonomiefähigkeit auch stets nutzen. Angenommen wird allerdings, dass Erwachsene im Gegensatz zu Kindern im Prinzip sowohl eine vernünftige subjektive Vorstellung des Wohls entwickeln, verfolgen und gegebenenfalls revidieren als auch die Interessen und Rechte anderer in moralisch gebotener Weise in ihrem Entscheiden und Handeln berücksichtigen können. Aus diesem Grund verliert ein Mensch den Status eines Erwachsenen auch nicht schon deshalb, weil er eine unmoralische oder irrationale Entscheidung trifft, sondern allenfalls dann, wenn er starke kognitive, geistige oder emotionale Beeinträchtigungen aufweist und nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass er in dem benötigen Mindestmaß dazu in der Lage ist, moralisch und rational angemessene Entscheidungen zu treffen.13 Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen besteht, anders gesagt, also 11
Brennan (2002), 59. So etwa auch Feinberg (1980), 121. 13 Vgl. ähnlich Schickhardt (2012), 216. 12
III. Die Grenzen der Selbstbestimmung Erwachsener
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nicht darin, dass Kinder stets unmoralisch und unvernünftig in Bezug auf ihr eigenes wie auch in Bezug auf das Wohl anderer handeln, während Erwachsene dies nie tun. Der Unterschied besteht vielmehr ab einem sehr frühen Zeitpunkt allein in dem Entwicklungsgrad der Fähigkeit, in dem fraglichen Sinn autonom bzw. selbstbestimmt handeln zu können.14 Inwiefern dürfen und sollen Kinder nun aber mit ihrer geringer ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstbestimmung anders behandelt werden als Erwachsene? Im Common Sense sind offenbar die folgenden Annahmen weitverbreitet: Aufgrund der besonderen Abhängigkeit und Verletzlichkeit, die vor allem aus der weniger entwickelten Fähigkeit zur Selbstbestimmung von Kindern resultieren, erscheint es gerechtfertigt, ihre Selbstbestimmung in einem höheren Maß einzuschränken als diejenige Erwachsener. Dennoch darf auch der „Wille“ von Kindern nicht völlig willkürlich eingeschränkt werden oder (vollkommen) unberücksichtigt bleiben, wie wir auch annehmen, dass wir Kindern mit zunehmendem Alter größeren Raum für die Umsetzung ihrer eigenen Entscheidungen geben sollten. Denn auch wenn Kinder noch nicht (in hinreichendem Maß) zu einem selbstbestimmten Leben in der Lage sind, so verfügen sie doch von Anbeginn ihres Lebens über bestimmte Bedürfnisse und Neigungen, emotionale, geistige, körperliche und psychische Dispositionen und Fähigkeiten, wie sie auch ab einem bestimmten Zeitpunkt (längerfristige) Wünsche und Präferenzen besitzen, denen sie, so man ihnen die Möglichkeit dazu gibt, in sprachlicher oder nicht-sprachlicher Form Ausdruck verleihen können. Lassen sich diese weitverbreiteten Annahmen noch weiter präzisieren und begründen bzw. lässt sich noch ein wenig genauer fassen, was aus diesen Annahmen für unseren Umgang mit Kindern folgt? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, wollen wir uns zunächst ansehen, welche Eingriffe in die Selbstbestimmung von Erwachsenen gerechtfertigt erscheinen. Die Beantwortung dieser Frage wird uns nicht nur die Antwort auf die Frage erleichtern, inwiefern Eingriffe in die Selbstbestimmung von Kindern erlaubt sind. Wie wir im Folgenden sehen werden, wird es uns auch dabei helfen, genauer zu präzisieren, wie ein moralisch akzeptables Armutsverständnis sowohl für Kinder als auch für Erwachsene auszugestalten wäre.
III. Die Grenzen der Selbstbestimmung Erwachsener Als unkontrovers darf in Bezug auf die angemessene Behandlung Erwachsener sicherlich die Annahme betrachtet werden, dass Eingriffe in deren Selbstbestimmung zumindest dann in bestimmtem Ausmaß gerechtfertigt sind, wenn die Wahrung berechtigter moralischer oder juridischer Rechte und Interessen anderer auf dem Spiel steht. Die Ansicht, dass ausschließlich Eingriffe dieser Art in das Leben
14
Vgl. z. B. auch Brennan (2002), 59.
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
Erwachsener gerechtfertigt sind, findet ihren prominenten Ausdruck auch in John Stuart Mills Schadensprinzip (harm principle):15 „Dies Prinzip [das Schadensprinzip, TM] lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.“16
Umstritten ist allerdings, inwieweit Einschränkungen der Selbstbestimmung Erwachsener gerechtfertigt erscheinen, wenn sie dem Schutz des Wohls der betroffenen Person selbst dienen. Eingriffe dieser Art werden auch als „paternalistische“ Eingriffe bezeichnet. Dem Kern nach lassen sich unter derartigen Eingriffen diejenigen Eingriffe in das Leben von Menschen vonseiten des Staats oder einer anderen Person verstehen, die mit einer Sanktionsdrohung oder Zwang einhergehen, unabhängig von der Zustimmung des Betroffenen erfolgen, und darauf abzielen, diesen von einer Handlung abzuhalten, deren Ausführung oder Unterlassung einen Nachteil für diesen bedeuten würde.17 In Bezug auf die Frage, ob paternalistische Eingriffe in das Leben Erwachsener gerechtfertigt oder sogar moralisch gefordert sind, existieren nun offenbar zwei einander widerstreitende Intuitionen: Auf der einen Seite sehen wir es in der Regel 15 Vgl.
Mill (1988), 16. Das Schadensprinzip gilt Mill zufolge nicht für Kinder und Jugendliche. Den Grund dafür sieht er darin, dass zu Beginn des Lebens die Schwierigkeiten, die bestehen, um sich aus freien Stücken fortzuentwickeln, so groß sind, dass man die Wahl der Mittel, um sie zu überwinden, nur selten den jungen Menschen selbst überlassen kann (vgl. ebd., 17 f.). Die Frage, welche Eingriffe in die Selbstbestimmung von Kindern gerechtfertigt oder sogar geboten erscheinen, wird in diesem Kapitel in den Abschnitten IV. und V. sowie in Kapitel G. III. erörtert. Vgl. zu der Frage, inwieweit das Schadensprinzip überhaupt mit Mills utilitaristischer Ethik vereinbar ist, z. B. G. Dworkin (1972). 17 Vgl. ähnlich ebd., 65, ders. (2014), 1; Feinberg (1971), 105. Die Frage, ob Maßnahmen, die Menschen zu einem bestimmten „richtigen“ Verhalten anstoßen sollen (nudge), bereits als eine Form von „Zwang“ betrachtet werden sollten, klammere ich hier aus (vgl. eingehender zu dieser Frage Sunstein/Thaler (2003) und (2008); Sunstein (2014) und die dort angegebene Literatur). Ein Beispiel für Maßnahmen dieser Art sind Produktplatzierungen, die es wahrscheinlicher machen sollen, dass Menschen gesunde statt ungesunde Lebensmittel kaufen. Der „Zwang“ könnte im Fall eines derartigen Vorgehens darin gesehen werden, dass Menschen zu bestimmten Handlungen manipuliert werden, und dadurch ihre Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird (vgl. weiterführend zu der Frage der „Manipulation“ z. B. Coons/Weber (2014)). Eine weitere Frage in der Paternalismus-Debatte ist die, inwieweit die Schaffung von Anreizen, beispielsweise durch Besteuerung oder Verbote, ebenfalls als paternalistischer Eingriff verstanden werden muss. Auch dieser Frage werde ich im Folgenden nicht nachgehen (vgl. eingehender zu dieser Frage z. B. Deneulin (2002); Sugden (2006), dies. (2008a), dies. (2008b); Qizilbash (2009), ders. (2011a), ders. (2011b); sie alle diskutieren diese Frage mit Blick auf den noch zu diskutierenden Capability-Ansatz (siehe Kap. F. II. und G.); vgl. weiterführend zur Paternalismus-Debatte im Allgemeinen z. B. Kleinig (1983); Sartorius (1983); Conly (2012); Coons/Weber (2013)). 16 Ebd.
III. Die Grenzen der Selbstbestimmung Erwachsener
83
nicht als gerechtfertigt an, einem Erwachsenen ungesunde Ernährung, den Konsum von Alkohol und Zigaretten, das Ausgehen am Abend oder die Wahl eines bestimmten Partners zu verbieten. Auf der anderen Seite sehen wir es sehr wohl als gerechtfertigt an, Erwachsene davon abzuhalten, sich das Leben zu nehmen oder sich zu verstümmeln, sich in die Sklaverei zu verkaufen, starke Drogen wie Kokain oder Heroin zu konsumieren oder am Strand oder im Schwimmbad zu schwimmen, wenn kein Bademeister anwesend ist. Der ersten Intuition liegt anscheinend die weitverbreite Annahme zugrunde, dass Erwachsene selbst entscheiden sollten, was in Bezug auf ihr eigenes Wohl und Wehe gut und richtig ist. Die Annahme, dass diese Frage mit Blick auf deren eigene Wünsche und Präferenzen entschieden werden sollte, wurde in Kapitel C. II. 1. in Anlehnung an Harsanyi auch als das „Prinzip der Präferenzautonomie“ bezeichnet. Zugunsten dieses Prinzips lassen sich verschiedene Gründe anführen. Ein erster Grund besteht darin, dass wir davon ausgehen, dass erwachsene Personen in aller Regel schlicht selbst am besten wissen, was gut bzw. was schlecht für ihr eigenes Wohl ist, und zwar sowohl mit Blick auf die letzten Ziele ihres Handelns als auch mit Blick auf die zur Erlangung dieser Ziele nötigen Mittel. Für andere Menschen lässt sich dagegen nur in Ausnahmefällen – etwa im Fall uns nahestehender Personen – mit großer Sicherheit und im Detail sagen, auf welche Weise ihrem subjektiven Wohl am besten gedient wäre.18 Zu Recht hat James Stephen bereits im Jahr 1874 darauf hingewiesen, dass der Beweis allerdings noch aussteht, dass „mass of adults are so well acquainted with their own interests and so much disposed to pursue them that no compulsion or restraint put upon them by any others for the purpose of promoting their interest can really promote them“19. Dieses Argument hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren. Dennoch wird dadurch nicht gezeigt, dass es alles in allem falsch wäre, die Präferenzautonomie Erwachsener möglichst zu wahren; vielmehr sprechen noch weitere Gründe für eine Wahrung der Präferenzautonomie. So ist das Treffen eigener Entscheidungen hinsichtlich des eigenen Wohls – auch wenn dies manchmal mit Nachteilen für den Entscheidenden selbst verbunden sein mag – untrennbar mit der Entwicklung und Erhaltung des Vermögens zu einem selbstbestimmten Leben verbunden. Die Präferenzautonomie resp. Selbstbestimmung von Erwachsenen zu wahren ist also auch wichtig, um in Bezug auf die Fähigkeit zum praktischen Urteilen und Entscheiden in „Übung“ zu bleiben, und nicht wieder „Kind“ zu werden.20 Des Weiteren wird die Möglichkeit aufgrund von Fehleinschätzungen und Fehlschlüssen zu handeln selbst als ein Aspekt der Selbstbestimmung Erwachsener betrachtet: Die Selbstbestimmung wird also, auch wenn sie nicht immer zur optimalen Förderung des 18 Vgl.
Mill (1988), 105; Feinberg (1980), 115. Stephen (1993), 18; vgl. ähnlich Hart (1963), 32 f. 20 Vgl. Mill (1988), 81; Feinberg (1971), 105. Auch diese Art der Begründung für das Treffen eigener Entscheidungen zeigt jedoch nicht, dass alle Formen paternalistischer Eingriffe ungerechtfertigt sind, sondern nur, dass Erwachsene ausreichend viele Entscheidungen selbst treffen müssen, um die fragliche Fähigkeit aufrechtzuerhalten. 19
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
subjektiven Wohls führt, als ein Wert an sich betrachtet.21 Nicht zuletzt kann man davon ausgehen, dass ein Erwachsener in aller Regel selbst ein größeres Interesse an der bestmöglichen Förderung seines subjektiven Wohls hat als jeder andere. Erlaubte man anderen in diesen Hinsichten für uns zu entscheiden, bestünde zudem die Gefahr, dass diese ihre Macht nutzten, um uns im Zweifelsfall dazu zu zwingen, nicht unsere eigenen Lebensvorstellungen, sondern die ihrigen zu verwirklichen.22 Es existiert nun, wie gesehen, allerdings nicht nur die Intuition, dass Erwachsene selbst entscheiden sollten, was gut und richtig für sie ist, sondern es besteht auch die Intuition, dass paternalistische Eingriffe in das Leben Erwachsener manchmal gerechtfertigt erscheinen, beispielsweise in dem Fall, in dem es um das Verbot der Einnahme harter Drogen geht. Eine Antwort auf die Frage, unter welchen Umständen paternalistische Eingriffe in das Leben Erwachsener gerechtfertigt oder sogar geboten erscheinen, lässt sich entlang der vertrauten Unterscheidung zwischen schwach und stark paternalistischen Eingriffen entwickeln: Schwach paternalistische Eingriffe zielen auf die Förderung des subjektiven Wohls einer Person ab, wohingegen stark paternalistische Eingriffe die Wahrung einer Konzeption des Wohls zum Ziel haben, die von der subjektiven Vorstellung des Wohls des Betroffenen abweicht und für die eine „objektive“ Geltung reklamiert wird.23 Ein Grund, den man zugunsten stark paternalistischer Eingriffe anführen könnte, wäre der, dass man der Auffassung ist, dass es zumindest für bestimmte Teilbereiche des Lebens nur eine „richtige“ Art zu leben gibt, man also etwa nur einer bestimmten Weltanschauung oder Religion entsprechend leben sollte, und man deshalb im Zweifelsfall andere dazu zwingen darf, in eben dieser Weise zu leben. Gegen Eingriffe dieser Art sprechen jedoch zum einen die oben bereits angeführten Gründe dafür, die Präferenzautonomie Erwachsener möglichst zu wahren und sie in allen Belangen, die nur sie selbst betreffen, selbst entscheiden zu lassen. Zum anderen besteht für Verfechter stark paternalistischer Eingriffe das Problem, dass es keine guten Gründe gibt, eine (moralisch akzeptable) Lebensweise als alternativlos richtig und allgemein durchsetzbar zu erweisen. Vielmehr kann es rational nicht auflösbare Meinungsverschiedenheiten darüber geben, welche moralisch angemessene Vorstellung des Wohls ein Mensch verwirklichen sollte. John Rawls hat die Unmöglichkeit, eine moralisch akzeptable Lebensform als die „einzig richtige“ zu erweisen, auch als das Problem der „Bürden des Urteilens“ (burdens of judgment) bezeichnet und benennt sechs Gründe dafür, weshalb Bürger auch bei bestem Willen und uneingeschränktem Gebrauch ihrer Vernunft in vielen politischen und moralischen Fragen zu unterschiedlichen Antworten gelangen können. Dies sind: (i) die Widersprüchlichkeit und Vieldeutigkeit empirischer Befunde, (ii) die Möglichkeit, Befunde hinsichtlich ihrer Konsequenzen unterschiedlich zu ge21
Vgl. auch Mill (1988), 93; Feinberg (1980), 115 f. Mill (1988), 106. 23 Vgl. Feinberg (1971), 113, 124. 22
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wichten, (iii) die offenen Grenzen des korrekten Gebrauchs von Begriffen, (iv) die Abhängigkeit der Beurteilung und Gewichtung von Sachverhalten von dem jeweils besonderen individuellen Erfahrungshintergrund, (v) die Schwierigkeit, zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen, wenn für jede Alternative gewichtige, aber miteinander inkommensurable moralische Gründe angeführt werden sowie (vi) die Tatsache, dass aufgrund des begrenzten gesellschaftlichen Raums kein System von Institutionen alle moralischen und politischen Werte uneingeschränkt verwirklichen kann.24 Aufgrund dieser „Bürden“ ist es möglich, dass sich eine Reihe womöglich zum Teil widersprechender Lebensvorstellungen gleichermaßen als „vernünftig“ erweisen lassen. In diesen Fällen gibt es keine rationalen Argumente mehr, mit deren Hilfe alle davon überzeugt werden könnten, dass ausschließlich eine einzige dieser Vorstellungen verfolgt werden sollte. Unsere argumentativen Ressourcen sind also insofern begrenzt, als sie zwar (womöglich) dazu ausreichen, „unsere eigene Konzeption des Guten als in sich vernünftig und begründet darzustellen, aber nicht, um alle Alternativen zu eliminieren“25. Man kommt dann allerdings nicht umhin, alle in dieser Weise als „vernünftig“ zu betrachtenden Lebensauffassungen gleichermaßen als schützenswert und förderungswürdig anzusehen. Dies zu tun bedeutet nicht notwendigerweise, dass man seine Ansichten verleugnen muss: Die geforderte Akzeptanz anderer Lebensvorstellungen muss nicht ausschließen, dass man seiner Missbilligung innerhalb bestimmter Grenzen Ausdruck verleihen darf, indem man z. B. den persönlichen Umgang mit den infrage stehenden Personen meidet oder sie durch Belehrung, Beratung oder Überredung dazu zu bewegen versucht, die aus eigener Sicht als richtig erachtete Lebensform ebenfalls zu übernehmen.26 Alle moralisch akzeptablen Lebensvorstellungen sollten wir auch dann gleichermaßen billigen, wenn wir in einer Gesellschaft leben möchten, in der möglichst niemand fürchten muss, in Zukunft selbst aufgrund seiner Lebensvorstellungen zum Opfer von Verfolgungen zu werden.27 Stark paternalistische Eingriffe in das Leben Erwachsener erscheinen somit nicht gerechtfertigt. Wie sieht es aber mit schwach paternalistischen Eingriffen aus? Eingriffe dieser Art als gerechtfertigt zu betrachten, erscheint insofern einleuchtend, als sie darauf abzielen, Menschen bei der Verwirklichung ihrer eigenen subjektiven Konzeption des Wohls zu unterstützen. Allerdings haben wir zuvor auch gesehen, dass es offenbar zu unserem Verständnis „Erwachsener“ gehört, dass sie Entscheidungen treffen dürfen, die ihr eigenes Wohl nicht oder nicht optimal fördern. Unter welchen Umständen erscheint es also gerechtfertigt, Menschen von Handlungen abzuhalten, die gegen ihr subjektives Wohl verstoßen? Ein einleuchtendes Beispiel für eine Situation, in der ein schwach paternalistischer Eingriff gerechtfertigt erscheint, stellt Mills bekanntes „Brücken-Beispiel“ 24
Vgl. z. B. Rawls (1992), 336 ff.; vgl. Hinsch (1992), 24 f. Ebd., 25. 26 Vgl. Mill (1988), 107. 27 Vgl. ähnlich ebd., 119. 25
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dar:28 In diesem schildert er eine Situation, in der ein Mensch eine Brücke passiert, die allerdings unsicher ist, da Passanten von ihr ins Wasser hinabfallen können. Beobachten wir ein solches Szenario dürfen wir die Passanten Mill zufolge nicht nur vor der bestehenden Gefahr warnen, sondern sie auch – sofern keine Zeit für eine mündliche Warnung bleibt – festhalten und auf diese Weise zunächst vom Überqueren der Brücke abhalten. Der Grund, ein solches Eingreifen für gerechtfertigt zu halten, besteht für Mill darin, dass der potentielle Passant ja schließlich selbst nicht ins Wasser fallen wolle.29 Dieses Wollen resp. dieser Wunsch wäre demnach also ein Teil oder wenigstens eine Voraussetzung der „subjektiven Konzeption des Wohls“ des infrage stehenden Passanten. Des Weiteren zeichnet sich die beschriebene Situation dadurch aus, dass der von dem paternalistischen Eingriff Betroffene temporär in seiner Selbstbestimmungs- bzw. Autonomiefähigkeit eingeschränkt ist:30 Im Fall von Mills Brücken-Beispiel besteht diese Einschränkung darin, dass dem Betroffenen relevante Informationen für seine fragliche Handlungsentscheidung fehlen.31 Aber auch Drogen- oder Alkoholeinfluss, Schocks, emotionale Aufwallungen wie auch starke psychische oder kognitive Beeinträchtigungen können schwach paternalistische Eingriffe in das Leben Erwachsener gerechtfertigt erscheinen lassen.32 Allerdings rechtfertigt das Vorliegen derartiger Einschränkungen der Autonomiefähigkeit allein offenbar noch nicht, dass wir in jeder Hinsicht in einer schwach paternalistischen Weise eingreifen dürfen: So stellen wir es Erwachsenen frei, sich dafür zu entscheiden, ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung, z. B. durch den Konsum von Alkohol, temporär einzuschränken oder aufzuheben und dann womöglich Dinge zu tun, die im Licht ihrer eigenen Konzeption des Wohls selbstschädigend sind. Denn wir unterstellen, dass sie wissen, welche Auswirkungen der Alkoholkonsum hat, und dass sie diese billigend in Kauf nehmen oder womöglich sogar als eine temporäre „Befreiung“ von üblichen Verhaltenszwängen gutheißen. Wir schreiben ihnen deshalb auch Verantwortung für Dinge zu, die sie in alkoholisier28 Mill selbst unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen „schwach“ und „stark“ paternalistischen Eingriffen. 29 Ebd., 132. 30 Erwachsene, die nicht bloß temporär, sondern dauerhaft in ihrer Selbstbestimmungsbzw. Autonomiefähigkeit eingeschränkt sind, haben wir bereits im Vorangehenden aus unseren Überlegungen ausgeschlossen. 31 Zu dem „Mangel an relevanten Informationen“, die eine temporäre Einschränkung der Autonomiefähigkeit darstellen, zähle ich auch die mangelnde Fähigkeit, sich in einer Situation angemessen in die Konsequenzen einer Handlung einfühlen zu können. Gerald Dworkin nennt als Beispiel für eine solche Entscheidung, beim Autofahren keinen Sicherheitsgurt anzulegen: „A plausible explanation for this deplorable habit is that although I know in some intellectual sense what the probabilities and risks are I do not fully appreciate them in an emotionally genuine manner“ (G. Dworkin (1972), 79). Besteht Grund zu der Annahme, dass eine solche Situation vorliegt, kann ein schwach paternalistischer Eingriff ebenfalls gerechtfertigt erscheinen. 32 Vgl. ähnlich Feinberg (1971), 110 ff.
III. Die Grenzen der Selbstbestimmung Erwachsener
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tem Zustand tun. In Legal Paternalism vertritt Joel Feinberg die Auffassung, dass wir Erwachsene im Fall temporär eingeschränkter Autonomiefähigkeit von denjenigen Handlungen abhalten sollten, von denen wir wissen, dass Erwachsene ohne Einschränkung ihrer Fähigkeit zu autonomem Handeln sie normalerweise nicht ausführen würden. Er nennt als Beispiele Selbstmord oder Selbstverstümmelung.33 Wörtlich genommen bietet diese Antwort allerdings noch kein befriedigendes Kriterium für die Zulässigkeit schwach paternalistischer Eingriffe. Sonst müssten alle Arten von Handlungen, die von der Mehrheit einer Gesellschaft nicht ausgeführt werden – wie etwa bestimmte riskante sexuelle Praktiken oder idiosynkratische Betätigungen –, wenn sie beispielsweise unter Alkoholeinfluss oder begleitet von starken emotionalen Aufwallungen stattfinden, per se paternalistische Eingriffe rechtfertigen, sofern die Mehrheit einer Gesellschaft diese Handlungen als selbstschädigend einstuft. Plausibler erscheint es, Menschen mit temporär eingeschränkter Fähigkeit zur Selbstbestimmung von denjenigen Handlungen abzuhalten, die zu irreversiblen Schädigungen in Bezug auf Dinge führen würden, die zu schützen wir gegenüber allen Menschen aus einer moralischen Perspektive verpflichtet sind, wie etwa zum Schutz des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit. Dies scheint letztendlich auch die Grundidee von Feinberg zu sein. Um zu entscheiden, welche Arten schwach paternalistischer Eingriffe in derartigen Situation gerechtfertigt sind, braucht es also eine Antwort auf die Frage, welche Güter jeder Mensch aus einer moralischen Perspektive zu verwirklichen in der Lage sein sollte. Ein Problem, das sich bei dieser Verständnisweise gerechtfertigter schwach paternalistischer Eingriffe ergibt, besteht allerdings darin, dass solange wir die subjektive Konzeption des Wohls eines Menschen nicht kennen, wir streng genommen nicht mit Sicherheit sagen können, ob es sich bei einem Eingriff letztendlich um einen zulässigen schwachen oder um einen unzulässigen starken paternalistischen Eingriff handelt. Denn es besteht stets die Möglichkeit, dass ein von außen betrachtet vermeintlich selbstschädigendes Verhalten des Betroffenen gar nicht selbstschädigend, sondern vielmehr Ergebnis oder Ausdruck der Selbstbestimmung des Betroffenen ist: So hat sich eine Person, die sich betrunken von der Brücke stürzen will, womöglich vorher Mut angetrunken, um einen zuvor im Licht ihrer subjektiven Konzeption des Wohls bewusst gefassten Entschluss zu verwirklichen.34 Dies gilt auch für Mills Brücken-Beispiel: Dass die infrage stehende Person nicht ins Wasser fallen will, wie Mill behauptet, darf vermutet werden, muss aber nicht wahr sein. Da es jedoch um sehr wichtige und grundlegende Güter geht, die im Leben eines jeden Menschen zunächst einmal schützenswert erscheinen, besteht in derartigen Situationen eine Präsumption zugunsten eines (schwach) paternalistischen Eingreifens und es erscheint geboten, die Person in Mills Brücken-Beispiel zumindest solange festzuhalten, bis sichergestellt ist, dass die angestrebte Handlung
33 34
Ebd., 113 f. Vgl. ebd., 113.
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
tatsächlich in ihrem Sinn ist.35 Es kann sich somit im Nachhinein zeigen, dass ein solcher Eingriff tatsächlich ein unzulässiger stark paternalistischer Eingriff war. Dieses Problem ist allerdings prinzipieller Natur und in gewissem Maß unvermeidlich. Wenn sichergestellt ist, dass eine fragliche Handlung im Sinn der Person ist, gibt es meines Erachtens keine weitere Rechtfertigung mehr dafür, sie von ihrem Tun abzuhalten, und zwar auch dann nicht, wenn die Mehrheit der Menschen dieses Verhalten missbilligt.36
IV. Sollen Kinder stärker in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werdenals Erwachsene? IV. Sollen Kinder stärker in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werden ?
Menschen verfügen, wie gesehen, bereits ab einem sehr frühen Zeitpunkt über die zur Selbstbestimmung konstitutiven Fähigkeiten. Es stellt sich somit die Frage, ob Menschen nicht ab diesem Zeitpunkt auch den Status eines Erwachsenen erhalten und Eingriffe in ihre Selbstbestimmung nur noch in dem Maß erlaubt sein sollten, wie sie es im Fall Erwachsener sind. Im Folgenden wird die im Common Sense weitverbreitete These vertreten, dass dies zu tun falsch wäre. Denn aus dem zuvor bereits genannten Umstand, dass sich unsere Fähigkeit zur Selbstbestimmung graduell entwickelt und sich die „Schwelle“, ab der man jemanden als Erwachsenen betrachten sollte, nicht völlig frei von Willkür bestimmen lässt, folgt nicht, dass wir jeden Menschen, sobald er die zur Selbstbestimmung konstitutiven Fähigkeiten rudimentär besitzt, auch wie einen Erwachsenen behandeln sollten. Um die nötige 35 Um herauszufinden, ob eine beabsichtigte Handlung, wie etwa diejenige, sich zu verstümmeln, nicht bloß aufgrund einer Einschränkung der Entscheidungsfähigkeit einer Person zustande gekommen ist, sollten wir, so schlägt Feinberg vor, von der fraglichen Person verlangen, ein eigens eingesetztes Gremium davon zu überzeugen, dass derartige Einschränkungen nicht vorliegen: „It may be that there is no kind of action of which it can be said ,No mentally competent adult in a calm, attentive mood, fully informed, etc. would ever choose (or consent to) that.‘ Nevertheless, there are actions of a kind that create a powerful presumption that any given actor, if he were in his right mind, would not choose them. […] So, for example, if a policeman (or anyone else) sees John Doe about to chop off his hand with an ax, he is perfectly justified in using force to prevent him, because of the presumption that no one could voluntarily choose to do such a thing. The presumption, however, should always be taken as rebuttable in principle; and now it will be up to Doe to prove before an official tribunal that he is calm, competent, and free, and that he still wishes to chop off his hand. Perhaps this is too great a burden to expect Doe himself to ,prove‘, but the tribunal should require that the presumption against voluntariness be overturned by evidence from some source or other. […] The greater the presumption to be overridden, the more elaborate and fastidious should be the legal paraphernalia required, and the stricter the standards of evidence. […] The point of the procedure would not be to evaluate the wisdom or worthiness of a person’s choice, but rather to determine whether the choice really is his“ (Feinberg (1971), 113; vgl. ähnlich G. Dworkin (1972) in Bezug auf sehr grundlegende Entscheidungen, die irreversible Schädigungen hervorrufen, wie im Fall des Suizids). 36 Vgl. zu einer ähnlichen Verständnisweise gerechtfertigter paternalistischer Eingriffe in das Leben Erwachsener ebd.
IV. Sollen Kinder stärker in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt werden ?
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Selbstständigkeit zu erlangen, ist es vielmehr hilfreich, Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg auch dann noch in ihrer Entscheidungs- und Handlungsfreiheit einzuschränken, wenn sie bereits über die zur Selbstbestimmung nötigen Eigenschaften verfügen. Auch wenn diese Annahme den meisten von uns heute richtig erscheint, lässt sie sich doch prinzipiell bestreiten. So gab es immer wieder pädagogische Ansätze, die davon ausgingen, dass man bereits ab einem sehr frühen Zeitpunkt nicht mehr durch Zwang und Autorität in das Leben von Menschen eingreifen sollte. Als Referenzpunkt für eine derartige Auffassung dienten etwa die Ideen Jean-Jacques Rousseaus, welche in der Weise interpretiert wurden, dass das „wahre Naturell“ von Kindern durch die Erziehung unterdrückt werde.37 Aber auch Freuds psychoanalytische Theorie galt einigen als Ausgangspunkt: Jener sah in der durch die Erziehung bewirkten „Unterdrückung“ des Willens des Kindes eine Hauptursache für die Entstehung von Neurosen. Ließe man Kindern, so die Annahme, weitgehend ihren Willen, könne sich dagegen ihr „wahres“ und psychisch gesünderes Selbst entwickeln.38 Der Blick auf zwei sehr radikale Erziehungsexperimente macht deutlich, zu welchen Problemen die Umsetzung dieser Ideen führen kann. Bei dem ersten Experiment handelt es sich um ein privat von Eltern in England durchgeführtes Experiment; diese hatten Rousseaus Ideen so interpretiert, dass man Kindern ab dem zweiten Lebensjahr die volle Entscheidungsfreiheit zugestehen sollte, um so das eigene Selbst besser entwickeln zu können. Da nur sehr wenige Kinder an diesem Experiment teilnahmen, kann es freilich nur als bedingt aussagekräftig betrachtet werden.39 Das Ergebnis, zu dem die Umsetzung dieser Idee führte, fasst Christina Hardyment auch wie folgt zusammen: „Unfortunately, parents and educators rapidly became disillusioned by their experiments with nobly savage children. Richard Lovell Edgeworth’s boy became so unmanageable that he was sent away to boarding school. David Williams described one little child of nature who, aged 13, slept on the floor, spoke ,a jargon he had formed out of the several dialects of the family‘, could neither read nor write, and was ,a little emaciated figure, his countenance betraying marks of premature decay, or depraved passions; his teeth discolored, his hearing almost gone‘.“40
Aber auch umfassendere Erziehungsexperimente in den 1940er Jahren, die an den Prinzipien der sogenannten „psychoanalytischen Pädagogik“ ausgerichtet waren, führten nicht, wie angenommen, dazu, dass jene Kinder im Vergleich zu konventionell erzogenen Kindern besonders kreativ oder psychisch gesund waren.41 37
Vgl. zum Folgenden Purdy (1992), 88 ff. Die These, dass Kinder früher als ihnen dies heute gemeinhin zugestanden wird, eigene Entscheidungen treffen sollten, wird z. B. vertreten in Farson (1975); Holt (1978); Houlgate (1979); Palmeri (1980); Aviram (1990) und ders. (1991). Vgl. zu einem Überblick und einer Kritik an der Idee, Kinder möglichst früh wie Erwachsene zu behandeln, z. B. Archard (2004), Kap. 5 sowie ausführlich Purdy (1992). 39 Ebd., 90 f. 40 Hardyment (1983), 19; zitiert nach Purdy (1992), 90 f. 41 Vgl. zu diesem Abschnitt ebd., 94 ff. 38
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
Vielmehr führte der Verzicht auf die Ausübung autoritärer erzieherischer Eingriffe dazu, dass die Kinder kaum Interesse an ihrer Umwelt zeigten und lieber Tagträumen nachhingen; sie waren des Weiteren unkonzentriert, wirkten egozentrisch und Gemeinschaftsinteressen berührten sie kaum. Auf Anforderungen vonseiten anderer, wie die Einhaltung von Zeitplänen, Tischmanieren oder Hygienevorstellungen, reagierten sie unduldsam. Auch waren sie in unerwartetem Maß reizbar und besaßen einen Hang zu Obsessionen und Depressionen. Für einige dieser Besonderheiten war die Ursache, wie sich in der anschließenden psychoanalytischen Behandlung zeigte, das Vorliegen von Angst, die diese Lebensform in den Kindern hervorgerufen hatte.42 Es ist damit freilich nicht „bewiesen“, dass eine Erziehung ohne Zwang und Autorität immer fehlgehen muss. Ein solcher Beweis sollte und kann hier auch nicht erbracht werden. Dennoch machen bereits diese knappen Ausführungen die weitverbreitete Annahme, dass ein Aufwachsen völlig frei von Zwang und Autorität von großem Nachteil für die Entwicklung von Kindern ist – und von deren Richtigkeit ich im Folgenden ebenfalls ausgehen werde –, weiter plausibel.43
V. Förderung und Einschränkung der Selbstbestimmung von Kindern Die Selbstbestimmung von Kindern in einem größeren Ausmaß einzuschränken als diejenige Erwachsener erscheint mit Blick auf die Ausführungen des vorangehenden Abschnitts also durchaus gerechtfertigt. In diesem Abschnitt soll der Versuch unternommen werden, ein wenig genauer zu fassen, in welchem Umfang derartige Einschränkungen erfolgen dürfen und in welchen Hinsichten wir Kindern ihren Willen lassen oder diesen zumindest berücksichtigen sollten. Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass wir Kinder in denjenigen Lebensbereichen, in denen sie bereits in dem gleichen Ausmaß autonomie- bzw. selbstbestimmungsfähig sind wie Erwachsene, auch wie Erwachsene behandeln sollten, und zwar unabhängig davon, ob bei der infrage stehenden Handlungsentscheidung das Wohl anderer oder das Wohl des Kindes selbst auf dem Spiel steht. Denn es erscheint nicht rechtfertigbar, Kinder nicht dem erreichten Entwicklungsstand gemäß zu behandeln;44 Kinder in diesen Hinsichten unbegründeter Weise anders zu behandeln als Erwachsene, würde vielmehr jeglicher Idee von einer angemessenen Gleichbehandlung der Menschen widersprechen.45 Sofern wir Kinder dem Ent42
Vgl. ebd., 95; Purdy stützt sich dort ihrerseits weitgehend auf Hoffer (1945). Weitere Evidenzen, die dafür sprechen, dass eine möglichst „freie“ Entwicklung von Kindern der Entwicklung der Fähigkeit zur vernünftigen Lebensplanung und -führung eher ab- als zuträglich ist, finden sich z. B. in Purdy (1992), 44 ff., 102 ff. 44 Vgl. Feinberg (1980), 113. 45 Die Forderung, Kinder stets ihrem Entwicklungsstand entsprechend zu behandeln, findet sich prominent auch in der Convention on the Rights of the Child der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1989. In Art. 5 heißt es: „States Parties shall respect the responsibilities, rights and duties of parents or, where applicable, the members of the extended family or 43
V. Förderung und Einschränkung der Selbstbestimmung von Kindern
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wicklungsstand ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit entsprechend behandeln, werde ich in Anlehnung an eine Ausdrucksweise von Hugh LaFollette im Folgenden auch sagen, dass wir sie ihrer „deskriptiven Autonomie“ entsprechend behandeln.46 Gerechtfertigt erscheinen Einschränkungen der Selbstbestimmung von Kindern, wenn wir davon ausgehen müssen, dass ein Kind noch nicht dazu in der Lage ist, die moralischen und juridischen Rechte und Interessen anderer zu wahren; ein Eingriff, der auf den Schutz derselben abzielt, erscheint vielmehr erlaubt oder sogar moralisch geboten. Wenn wir des Weiteren annehmen, dass jedes Kind ein Interesse daran hat bzw. haben sollte, den vollen normativen Status eines Erwachsenen zu erhalten, um auf diese Weise in Zukunft in eine Position zu geraten, in der es möglichst selbstbestimmt leben kann, ergibt sich daraus überdies für diejenigen, die die Verantwortung für die Aufzucht des Kindes haben, die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass es die zu einer vernünftigen Selbstbestimmung nötigen Fähigkeiten in entsprechendem Maß entwickelt. Wie gesehen gehört dazu neben einer hinreichend entwickelten Moralfähigkeit auch die Fähigkeit, einen rationalen Lebensplan entwickeln, verfolgen und gegebenenfalls revidieren zu können.47 Um die dazu nötigen Entscheidungs- und Handlungskompetenzen zu entwickeln, ist es überdies erforderlich, Kindern ausreichend Gelegenheit für das Treffen eigener Entscheidungen zu geben.48 Gerade mit Blick auf die Entwicklung der Fähigkeit, einen vernünftigen Lebensplan entwickeln, verfolgen und gegebecommunity as provided for by local custom, legal guardians or other persons legally responsible for the child, to provide, in a manner consistent with the evolving capacities of the child, appropriate direction and guidance in the exercise by the child of the rights recogniz ed in the present Convention“ (Hervorhebungen TM). 46 Vgl. LaFollette (1999), 139. 47 Hier und im Folgenden ist in der Regel von „den Erziehungsberechtigten“ die Rede, die im Leben von Kindern unter Umständen unter Zuhilfenahme von materiellen oder institutionellen Unterstützungsleistungen Sorge dafür zu tragen haben, dass das (minimale) Wohl eines Kindes gewahrt wird. „Erziehungsberechtigte“ können im Prinzip sowohl die biologischen Eltern, die Pflege- oder die Adoptiveltern als auch staatliche Institutionen resp. deren Vertreter sein. Die Frage, wer diese Aufgabe in welchen Lebensbereichen besser erfüllen kann resp. erfüllen sollte, wird in dieser Arbeit ausgeklammert. Allerdings darf man davon ausgehen, dass selbst wenn eine solche Untersuchung zeigen sollte, dass diese Aufgabe in aller Regel am besten die Eltern – und nicht staatliche Institutionen – übernehmen sollten, sollten staatliche Kontrollinstanzen existieren, um zu überprüfen, ob die Fürsorge der Eltern auch tatsächlich in jedem Einzelfall funktioniert. Dies erscheint aufgrund der besonderen Machtstellung, die die Eltern im Leben ihrer Kinder innehaben, wie auch aufgrund der besonderen Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Kindern geboten. Der Frage, wie diese Kontrollinstanzen sich gestalten sollten und inwieweit diese die Rechte der Eltern gegebenenfalls einschränken oder aufheben können sollten, ist ebenfalls kein Gegenstand dieser Arbeit. Vgl. zu einer eingehenderen philosophischen Diskussion der Frage, welche Pflichten gegenüber Kindern den Eltern und welche dem Staat bzw. staatlichen Vertretern als obliegend betrachtet werden sollten, z. B. Brennan/Noggle (2007) und die dort angegebene Literatur. 48 Vgl. z. B. auch Brennan (2002), 61.
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
nenfalls revidieren zu können, erscheint dies wichtig, denn Kinder müssen erst lernen, angemessen einzuschätzen, welche Ziele im Licht der eigenen Anlagen, Fähigkeiten, Emotionen usw., aber auch im Licht der eigenen äußeren Umstände erreichbar und passend sind, und auf welche Weise sich diese Ziele im Licht der eigenen Entwicklungspotenziale und äußeren Umstände am besten erreichen lassen. Das Zugeständnis, unter Aufsicht und Vorbehalt eigene Entscheidungen in einem Lebensbereich treffen zu können, werde ich im Folgenden – abermals in Anlehnung an eine Ausdrucksweise von LaFollette – auch als das Zugeständnis von „normativer Autonomie“ bezeichnen.49 Normative Autonomie kann im Fall von Kindern – je nachdem, wie weit die deskriptive Autonomie im jeweiligen Lebensbereich entwickelt ist – von „verwalteter Autonomie“, bei der die Erziehungsoder Aufsichtsberechtigten noch jederzeit bereit sind, einzuschreiten, bis hin zu einer nur noch „minimal eingeschränkten Autonomie“ reichen, bei der die Eltern nur noch unregelmäßig einschreiten und gewillt sind, Kindern zu erlauben, auch ernsthaftere Fehler zu begehen und mit deren Konsequenzen zu leben.50 Anhand welcher Kriterien sollten Erziehungsberechtigte aber entscheiden, welche Eingriffen in die normative Autonomie des Kindes gerechtfertigt erscheinen? Sofern die infrage stehenden Entscheidungen die berechtigten Interessen und Rechte anderer betreffen, lässt sich diese Frage einfach beantworten: Die Erziehungsberechtigten sollten darauf hinwirken, dass die Kinder lernen, die Rechte und Interessen anderer zu wahren bzw. den ihnen obliegenden Pflichten nachzukommen. Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung dieser Frage, wenn es um Handlungen geht, bei denen das Wohl und Wehe des Kindes selbst auf dem Spiel steht. Es ist dies, anders gesagt, die Frage, ob und inwiefern paternalistische Eingriffe in die normative Autonomie von Kindern gerechtfertigt oder sogar gefordert erscheinen. Zunächst einmal gilt, dass in dem Fall, in dem Kinder noch über keinerlei Fähigkeit zur Selbstbestimmung verfügen, man freilich nicht umhin kommt, dass andere für sie entscheiden oder sogar handeln müssen. Doch, wie gesehen, sind Kinder bereits ab einem sehr frühen Zeitpunkt zumindest in einigen Hinsichten durchaus dazu in der Lage, Entscheidungen in Bezug auf ihr eigenes Wohl zu treffen, auch wenn sie noch nicht zu einer hinreichend vernünftigen Entwicklung, Verfolgung und gegebenenfalls Revision einer subjektiven Konzeption des Wohls in der Lage sind. Welche Konzeption des Wohls sollte dann aber als Maßstab für Eingriffe in die normative Autonomie von Kindern in diesen Lebensbereichen dienen? Es könnte naheliegend erscheinen, anzunehmen, dass die jeweiligen Erziehungsberechtigten ihre eigenen Lebensvorstellungen als Maßstab für derartige Eingriffe heranziehen sollten. Dies würde jedoch die Gefahr mit sich bringen, dass Kinder in erster Linie durch das geprägt würden, was ihre Erziehungsberechtigten für gut und richtig hielten. Eine solch einseitige Bestimmung durch die Erzie49 Vgl. 50
LaFollette (1999), 139. Vgl. ebd., 149.
V. Förderung und Einschränkung der Selbstbestimmung von Kindern
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hungsberechtigten erscheint jedoch weder nötig noch richtig. Aus welchem Grund eine derart einseitige Bestimmung des Wohls durch die Lebensvorstellungen der Erziehungsberechtigten nicht nötig ist, wird im weiteren Verlauf dieses Abschnitts noch deutlich werden. Richtig erscheint ein solches Vorgehen deshalb nicht, weil, wie gesehen, paternalistische Eingriffe allenfalls dann gerechtfertigt sind, wenn sie auf den Schutz des subjektiven Wohls des Paternalisierten, in dem Fall also auf den Schutz des subjektiven Wohls des Kindes, abzielen. Dies ist aber nicht gewährleistet, wenn die Lebensvorstellungen der Erziehungsberechtigten als Maßstab für derartige Eingriffe dienen, denn diese müssen nicht mit der subjektiven Konzeption des Wohls des Kindes übereinstimmen. Doch wurde nicht zuvor gesagt, dass Kinder sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie noch über keine subjektive Konzeption des Wohls verfügen? Einen ersten Ansatzpunkt zur Lösung dieses scheinbaren Paradoxons liefert Gerald Dworkin in seinem Aufsatz Paternalism. Darin geht dieser davon aus, dass paternalistische Eingriffe in das Leben von Kindern gerechtfertigt erscheinen, sofern wir annehmen dürfen, dass diese den unternommenen Eingriffen in Zukunft und bei voll entwickelter Selbstbestimmungsfähigkeit zustimmen würden: „What justifies us in interfering with children? The fact that they lack some of the emotional and cognitive capacities required in order to make fully rational decisions. […] Giv en these deficiencies and given the very real and permanent dangers that may befall the child it becomes not only permissible but even a duty of the parent to restrict the child’s freedom in various ways. There is however an important moral limitation on the exercise of such parental power which is provided by the notion of the child eventually coming to see the correctness of his parent’s interventions. Parental paternalism may be thought of as a wager by the parent on the child’s subsequent recognition of the wisdom of the restrictions. There is an emphasis on what could be called future-oriented consent – on what the child will come to welcome, rather than on what he does welcome.“51
Folgen wir diesem Ansatz, benötigen wir jedoch eine Antwort auf die Frage, was es heißt, dass Erziehungsberechtigte in einer Weise in die Selbstbestimmung von Kindern eingreifen, der diese selbst in Zukunft möglichst zustimmen könnten. Die folgenden Ausführungen stellen den Versuch einer solchen Antwort dar. Wie wir bereits gesehen haben, soll ein Kind mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter dazu in der Lage sein, eine eigene subjektive Konzeption des Wohls entwickeln, verfolgen und gegebenenfalls revidieren zu können, welche im Licht seiner persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände nachvollziehbar erscheint. Die Entwicklung und Umsetzung einer solchen Konzeption, wie auch die Entwicklung der dazu nötigen Voraussetzungen, kann jedoch nicht erst beginnen bzw. eingeübt werden, wenn ein Mensch bereits in hinreichendem Maß autonomiefähig – und 51 G. Dworkin (1972), 77. Dworkin selbst geht auf die Frage, welche paternalistischen Eingriffe ein Kind im Rückblick (als Erwachsener) als gerechtfertigt betrachten würde, in Paternalism nicht weiter ein; worum es ihm im weiteren Verlauf des Texts geht, ist die Klärung der Frage, ob es bestimmte paternalistische Eingriffe gibt, die im Leben Erwachsener gerechtfertigt erscheinen.
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
in dem Sinn „erwachsen“ – ist.52 Soll die subjektive Konzeption des Wohls eines Menschen beim Eintritt in das Erwachsenenalter möglichst zu dessen persönlichen Eigenschaften und äußeren Umständen passen, wie es bei einer rationalen Lebensplanung der Fall sein soll, müssen wir ihm vielmehr – so schlägt etwa Feinberg vor – bereits im Kindesalter und zu einem möglichst frühen Zeitpunkt ausreichend Gelegenheit geben, zu zeigen, worin seine Fähigkeiten, Neigungen, Talente, Wünsche und Präferenzen bestehen; die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse müssten dann in der weiteren Erziehung des Kindes berücksichtigt werden. Eine derartige Erziehung bietet, so Feinberg weiter, Kindern die Möglichkeit, die subjektive Konzeption des Wohls, über die sie später an dem willkürlich festgesetzten Punkt des Erwachsenseins verfügen, „mitzubestimmen“, wobei diese Mitbestimmung in einem umso größeren Maß erfolgen kann, umso entwickelter das Kind ist.53 In seinen eigenen Worten beschreibt Feinberg das vorgeschlagene Vorgehen auch wie folgt: „[…] [T]he parents who raise their child in such a way as to promote his self-fulfillment most effectively will at every stage try to strengthen the basic tendencies of the child as manifested at that stage. They will give him opportunities to develop his strongest talents, for instance, after having enjoyed opportunities to discover by various experiments just what those talents are. And they will steer the child toward the type of career that requires the kind of temperament the child already has rather than a temperament that is alien to him by his very nature. […]. The child will even have very basic tendencies toward various kinds of attitudes from an early stage, at least insofar as they grow naturally out of his inherited temperamental propensities. He may be the naturally gregarious, outgoing sort, or the kind of person who will naturally come to treasure his privacy and to keep his own counsels; he may appreciate order and structure more or less than spontaneity and freedom; he may be inclined, ceteris paribus, to respect or to challenge authority. […] The discerning parent will see all of these things ever more clearly as the child grows older, and insofar as he steers the child at all, it will be in the child’s own preferred directions. At the very least he will not try to turn him upstream and make him struggle against his own deepest currents.“54
Eine Mitbestimmung dessen, was das eigene Wohl ausmacht, ist, so Feinberg weiter, demnach auch dann möglich, wenn es noch kein vollständig geformtes „Selbst“ gibt. Selbst wenn wir nicht annehmen – wie Feinberg dies offenbar tut –, dass eine solche „Mitbestimmung“ bezüglich der eigenen Konzeption des Wohls praktisch ab der Geburt möglich ist,55 so lässt sich doch nicht bestreiten, dass eine solche ab einem sehr frühen Zeitpunkt zumindest in einem gewissen Umfang machbar erscheint, sofern man Kindern die Gelegenheit gibt, ihren Neigungen, Talente, Wünschen und Präferenzen Ausdruck zu verleihen. Die Aufgabe der Erziehungsberechtigten bestünde dann darin, diese durch aufmerksame, redliche und unvoreingenommene Beobachtung der Äußerungen und des Verhaltens des Kindes ausfindig zu machen, um auf diese Weise zumindest in groben Zügen die subjekti52
Vgl. ähnlich Feinberg (1980), 119. Vgl. ebd., 119 ff. 54 Ebd., 121 f. 55 Vgl. ebd., 120. 53
V. Förderung und Einschränkung der Selbstbestimmung von Kindern
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ve Konzeption des Wohls des Kindes rekonstruieren zu können. Handelt ein Kind dann in einer Situation aufgrund seiner noch mangelhaft ausgeprägten Fähigkeit zur Selbstbestimmung gegen sein so verstandenes, subjektives Wohl, erscheinen schwach paternalistische Eingriffe der Erziehungsberechtigten in die normative Autonomie des Kindes erlaubt oder sogar gefordert; die paternalistischen Eingriffe stellen in einem solchen Fall eine Hilfestellung für das Kind dar, seine eigene subjektive Konzeption des Wohls zu entwickeln und zu verfolgen. Dass ein Kind noch nicht dazu in der Lage ist, seine subjektive Konzeption des Wohls in allen Lebensbereichen in hinreichendem Maß selbst zu bestimmen, bedeutet also nicht, dass sich eine subjektive Konzeption des Wohls in diesen Lebensbereichen nicht im Prinzip ermitteln ließe. In den Lebensbereichen, in denen das Kind „normative Autonomie“, aber keine „deskriptive Autonomie“ im Sinn LaFollettes besitzt, erscheinen schwach paternalistische Eingriffe deshalb prima facie nur insoweit erlaubt, wie sie der Förderung des so verstandenen subjektiven Wohls des Kindes dienen. Es ist unter dieser Voraussetzung somit möglich, die Präferenzautonomie eines Kindes zu wahren, ohne dabei den Umstand zu vernachlässigen, dass Kinder selbst noch nicht über eine hinreichend entwickelte Autonomiefähigkeit verfügen und deshalb auf Hilfestellungen und Anleitungen bei der Umsetzung ihrer Entscheidungen angewiesen sind. Der im Vorangehenden entwickelte Vorschlag in Bezug auf die Wahrung der Selbstbestimmung von Kindern ist jedoch noch mit Problemen behaftet: Zum einen ist es so, dass, wenn wir die subjektive Konzeption des Wohls des Kindes in der genannten Weise ausfindig machen, sich zeigen könnte, dass diese selbstzerstörerische Elemente enthält. Auch könnte es sein, dass ein Kind in derart ungünstigen äußeren Umständen aufwächst, dass eine Anpassung an eben diese Umstände dazu führt, dass es nur in sehr minimalem Umfang überhaupt Wünsche, Fähigkeiten, Neigungen usw. entwickelt und seine subjektive Konzeption des Wohls dementsprechend kärglich ausfällt. Es bedarf hier also einer Grenzziehung der Entscheidungsfreiheit von Kindern in Bezug darauf, welche subjektiven Konzeptionen des Wohls sie verfolgen dürfen resp. es bedarf einer Liste an Gütern, zu deren Verwirklichung Kinder mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter minimal in die Lage versetzt werden sollten, ganz gleich, welche subjektive Konzeption des Wohls sie selbst verwirklichen möchten. Paternalistische Eingriffe, die diesem Ziel dienen, müssen dementsprechend ebenfalls als gerechtfertigt bzw. moralisch geboten betrachtet werden. Soll der Schutz dieser Güter tatsächlich ein Korrektiv zu der „selbstständig“ gewählten Entwicklung des Kindes darstellen, muss allerdings gelten, dass dem Schutz dieser Güter resp. dem Schutz der zu der Verwirklichung dieser Güter nötigen Voraussetzungen im Zweifelsfall Vorrang vor der Verwirklichung der subjektiven Konzeption des Kindes bzw. der Entwicklung der dazu nötigen Voraussetzungen eingeräumt wird. Eines Korrektivs der genannten Art bedarf es überdies aus einem weiteren Grund: Ein Kind soll, wenn es das Erwachsenenalter erreicht, nicht nur zu einer rationalen Entwicklung und Verfolgung einer subjektiven Konzeption des
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D. Die Grenzen der Selbstbestimmung im Leben von Erwachsenen und Kindern
Wohls in der Lage sein, sondern es soll auch dazu in der Lage sein, diesen Plan gegebenenfalls noch einmal revidieren zu können. Lassen wir Kinder aber völlig frei wählen, welche Ziele sie verwirklichen können, könnte dies dazu führen, dass wesentliche Änderungen in Bezug auf die subjektive Konzeption des Wohls bei ihrem Eintritt in das Erwachsenenalter nicht mehr oder nur noch unter sehr großem Aufwand möglich wären, etwa, weil durch bestimmte Entscheidungen des Kindes grundlegende physische, kognitive oder emotionale Fähigkeiten nachhaltig geschädigt würden, die eine Voraussetzung zur Verwirklichung nahezu aller Lebenspläne darstellen. Ein letzter Grund für die Notwendigkeit eines derartigen Korrektivs besteht darin, dass die vorgeschlagene Form der Erziehung stets mit der Gefahr einhergeht, dass die Erziehungsberechtigten – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Fehler bei der „Rekonstruktion“ der subjektiven Konzeption des Wohls des Kindes machen und es damit womöglich in seiner Entwicklung in die „falsche“ Richtung lenken. Auch aus diesem Grund müssen Kindern mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter noch hinreichend viele Revisionsmöglichkeiten in Bezug auf die eigenen Lebenspläne offenstehen.56
56 Es sollte hier noch angemerkt werden, dass sich streng genommen auch im Fall von Kindern bei paternalistischen Eingriffen erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Sicherheit entscheiden lässt, ob es sich bei ihnen um einen schwach oder einen stark paternalistischen Eingriff gehandelt hat, und zwar im Fall von Kindern erst zu dem Zeitpunkt, zu dem sie hinreichend autonomiefähig sind und selbst entscheiden dürfen, worin ihr Wohl und Wehe besteht. Wie im Fall Erwachsener erscheint dieses Problem auch im Fall von Kindern unvermeidlich zu sein, stellt aber ein kleineres Übel dar als dasjenige, das in aller Regel entsteht, wenn wir Kindern von klein auf ihren Willen lassen oder Erziehungsberechtigte Kindern durchgängig ihren eigenen Willen aufzwingen könnten.
E. Ressourcenorientierte Armutsverständnisse Die grundlegende These dieses Kapitels lautet, dass sich der Armutsbegriff mithilfe ressourcenorientierter Ansätze nicht in einer ethisch angemessenen Weise explizieren lässt. Ressourcenorientierte Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die Frage, ob jemand „arm“ ist oder nicht, allein mit Blick auf die verfügbare Güter- bzw. Ressourcenausstattung entschieden wird. Ihnen stehen Ansätze gegenüber, die vom intrinsischen Wert des menschlichen Wohls ausgehen und im Folgenden auch als „am minimalen Wohl orientierte Ansätze“ bezeichnet werden (siehe Kap. F. und G.). Bei beiden Typen von Ansätzen handelt es sich um „objektive“ Armutsverständnisse in dem in Kapitel C. II. dargelegten Sinn. In diesem Kapitel werden zwei ressourcenorientierte Armutsverständnisse exemplarisch diskutiert: die ausschließlich am Einkommen orientierten Armutsverständnisse sowie das an John Rawls’ Grundgüterliste orientierte Armutsverständnis. Die Diskussion dieser Armutsverständnisse erfolgt in diesem wie auch in den beiden nächsten Kapiteln allein mit Blick auf erwachsene Hilfsbedürftige. Denn die Probleme, die in diesen Armutskonzeptionen in Bezug auf erwachsene Hilfsbedürftige zutage treten, sind so gravierend, dass sich die Frage nach einer möglichen Übertragung auf den Fall der Kinderarmut von vorneherein erübrigt.
I. Armut als Mangel an Einkommen Wird ein Mensch oder ein privater Haushalt als „arm“ bezeichnet, so wird damit häufig dem Umstand Ausdruck verliehen, dass es diesem an Einkommen mangelt, wobei mit „Einkommen“ in diesen Fällen üblicherweise das „Geldeinkommen“ gemeint ist.1 Auch in der politischen Praxis und in den quantitativen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ist dieses Armutsverständnis aus Gründen der Praktikabilität bis heute weitverbreitet.2 1 Mit dem „Einkommen“ muss im Prinzip nicht das „Geldeinkommen“, sondern es kann damit auch die Gesamtheit aller Güter (inklusive Geldmittel) gemeint sein, die einer Person oder einem privaten Haushalt in einem bestimmten Zeitraum aus unterschiedlichen Quellen zufließen. Bei diesen Gütern kann es sich neben Geldmitteln auch um Sach- und Dienstleistungen handeln, wie die Bereitstellung einer Unterkunft, von Bekleidung, Nahrungsmitteln, Gesundheitsleistungen, eines Firmenwagens o. ä. Derartige Sach- und Dienstleistungen werden auch als „Naturaleinkommen“ bezeichnet (Woll (1996), 149). 2 Vgl. Butterwegge et al. (2004), 17 f.; Klasen (2006), 3. So heißt es beispielsweise bei Stephan Klasen: „Armut ist ein vielschichtiges Phänomen, das viele Aspekte der Lebensqualität berührt und sich nicht nur am Einkommen festmachen lässt. […] Zur Vereinfachung möchte ich das Einkommen als zentrale Größe zur Messung der Armut heranziehen, obschon das die Realität der Armut nur unzureichend widerspiegelt […]. Der schon
98
E. Ressourcenorientierte Armutsverständnisse
Ebenfalls aus Gründen der Praktikabilität ist es bei Armutserhebungen, denen ein einkommenszentriertes Armutsverständnis zugrunde liegt, gebräuchlich, bei Mehrpersonenhaushalten lediglich auf das Gesamteinkommen eines Haushalts zu blicken und nicht darauf, welcher Einkommensanteil auf die einzelnen Haushaltsmitglieder entfällt. Dies geschieht zumindest dann, wenn man davon ausgehen kann, dass unter den Haushaltsmitgliedern Unterhaltsverpflichtungen bestehen. Ob ein Haushalt unter Einkommensarmut leidet oder nicht, wird dann entweder mit Blick auf das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen oder auf das Äquivalenzeinkommen der Haushaltsmitglieder ermittelt. In dem zuerst genannten Fall gilt ein Haushalt als „arm“, wenn das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen unterhalb eines bestimmten Werts liegt. In dem zweiten Fall muss das Äquivalenz einkommen für jedes Haushaltsmitglied berechnet werden; ein Haushalt gilt nach diesem Armutsverständnis als „arm“, wenn nicht jedem Haushaltsmitglied ein Äquivalenzeinkommen in Höhe des jeweils als relevant betrachteten Minimums zukommt. Als „Äquivalenzeinkommen“ werden fiktive Pro-Kopf-Einkommen der Mitglieder eines Haushalts bezeichnet, die dem Einkommen entsprechen, das sie als Alleinlebende beziehen müssten, um denselben Lebensstandard zu haben wie als Mitglied in einem Mehrpersonenhaushalt. Es kann aber auch das Einkommen sein, das für die Belange eines Kindes zur Verfügung stehen sollte, will man ihm im Licht seiner speziellen Bedürfnisse den gleichen Lebensstandard ermöglichen wie einem Erwachsenen. Die Verwendung von Äquivalenzeinkommen zur Armutsmessung kann also zum einen dazu dienen, zu berücksichtigen, dass Menschen, die in einem Mehrpersonenhaushalt leben, durch geteilten Wohnraum, gemeinsame Anschaffungen und Einkäufe etc. Einsparungen erreichen können (economies of scale). Zum anderen kann deren Verwendung aber auch dazu dienen, (angenommene) unterschiedlich kostspielige Bedürfnislagen, wie sie häufig für Kinder und Erwachsene angenommen werden, abzubilden. Beides findet im Äquivalenzeinkommen in der Weise Berücksichtigung, als jedem Haushaltsmitglied ein Gewichtungsfaktor zugewiesen wird, der dem angenommenen Einspareffekt resp. der weniger kostspieligen Bedürfnislage des Haushaltsmitglieds Ausdruck eingangs erwähnte 1$-Pro-Kopf-Tag-Indikator, der von der Weltbank regelmäßig gemessen wird, wird heute allgemein als der zentrale Indikator für absolute Einkommensarmut in Entwicklungsländern angesehen und ist auch die zentrale Kennzahl beim ersten Millenniumsziel“ (ebd., 3). (Seit dem Erscheinen des Artikels von Klasen hat die Weltbank die Armutsschwelle aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten zwei Mal angehoben: Im Jahr 2008 auf 1,25 US-Dollar Kaufkraftparität pro Jahr und im Jahr 2015 auf 1,90 US-Dollar Kaufkraftparität pro Tag (vgl. Weltbank – FAQs: Global Poverty Line Update, URL: http://www.worldbank.org/en/topic/poverty/brief/global-poverty-line-faq, letzter Zugriff: 02. 12. 2016).) Und auch in dem ersten der Millenniums-Entwicklungsziele spielt das Einkommen eine zentrale Rolle; darin heißt es: „Die Zahl der Menschen, die von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben, soll um die Hälfte gesenkt werden“ (vgl. Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, URL: http://www.unric.org/html/german/mdg/index.html, letzter Zugriff: 02. 12. 2016; vgl. zu der Messung von Einkommensarmut durch die Weltbank überdies die Website der Weltbank, URL: http://www.worldbank.org, letzter Zugriff: 02. 12. 2016).
I. Armut als Mangel an Einkommen
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verleiht. Das Äquivalenzeinkommen eines Haushaltsmitglieds ergibt sich dadurch, dass man das Gesamteinkommen eines Haushalts durch die gewichtete Summe der Anzahl der Haushaltsmitglieder teilt. Je geringer der Gewichtungsfaktor für ein Haushaltsmitglied ausfällt, desto höher ist der angenommene Einspareffekt und entsprechend höher fällt das Äquivalenzeinkommen der einzelnen Haushaltsmitglieder aus. Die Zuordnung der Gewichtungsfaktoren zu bestimmten Haushaltsmitgliedern erfolgt durch die sogenannten „Äquivalenzskalen“: In jeder Äquivalenzskala wird einer allein lebenden Person der Gewichtungsfaktor 1 zugewiesen, da diese keine Einspareffekte durch gemeinsames Wirtschaften erzielen kann. Welcher Gewichtungsfaktor weiteren Haushaltsmitgliedern zugewiesen wird, variiert in unterschiedlichen Skalen: In der sogenannten „alten OECD-Skala“ oder „Oxford-Skala“ (Oxford-Scale) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD)) wird etwa jeder weiteren Person im Haushalt, die über 14 Jahre alt ist, der Faktor 0,7 zugewiesen.3 Es wird also angenommen, dass zwei erwachsene Personen, die ihren Haushalt und ihr Einkommen miteinander teilen, nicht das Zweifache, sondern aufgrund der angenommenen möglichen Einspareffekte bloß das 1,7-fache der Geldmittel einer allein lebenden Person benötigen, um das gleiche Güterbündel zu erwerben.4 Bei der Berechnung von Äquivalenzeinkommen können, wie gesehen, nicht nur Einspareffekte durch gemeinsames Haushalten berücksichtigt werden, sondern auch Unterschiede in den Bedürfnissen der Haushaltsmitglieder. Wenn etwa angenommen wird, dass Kinder weniger kostspielige Bedürfnisse haben als Erwachsene, variieren die in den Äquivalenzskalen angegebenen Gewichtungsfaktoren nicht nur in Abhängigkeit von der Anzahl der Haushaltsmitglieder, sondern auch 3 Vgl. OECD-Äquivalenzskalen, URL: http://www.oecd.org/eco/growth/OECD- NoteEquivalenceScales.pdf., letzter Zugriff: 02. 12. 2016. Eine weitere Äquivalenzskala ist die in den späten 1990er Jahren von der OECD verwendete „modifizierte“ oder „neue OECD-Skala“ (OECD-modified scale), in der dem zweiten wie auch allen weiteren erwachsenen Haushaltsmitgliedern jeweils ein Gewichtungsfaktor von 0,5 zugewiesen wird. Seit dem Jahr 2008 wird von der OECD des Weiteren die „Quadratwurzel-Skala“ (square root scale) verwendet, in der sich die gewichtete Summe der Haushaltsmitglieder dadurch ergibt, dass man die Wurzel aus der Summe der Anzahl der Haushaltsmitglieder zieht (vgl. ebd.). Die Einspareffekte, die durch das Zusammenleben in einem Mehrpersonenhaushalt möglich sind, werden damit als noch größer eingeschätzt als dies in den vorherigen OECD-Skalen der Fall war (siehe dazu Tab. 3). 4 Wie die Berechnung und der interpersonelle Vergleich von Äquivalenzeinkommen funktioniert, kann man sich leicht mithilfe des folgenden Beispiels vor Augen führen: Der alten OECD-Skala zufolge gelten zwei erwachsene Menschen, die ihren Haushalt und ihr Einkommen in einer Höhe von 1700 Euro miteinander teilen, als genauso gut gestellt wie ein Alleinlebender, der über ein monatliches Einkommen von 1000 Euro verfügt. Denn 1700 Euro (Summe des Haushaltseinkommens) geteilt durch die Summe der Gewichtungsfaktoren, die den einzelnen Haushaltsmitgliedern zugewiesen werden, also 1 (für Person 1) und 0,7 (für Person 2), ergibt ein Äquivalenzeinkommen für jedes Haushaltsmitglied von 1000 Euro (1700 Euro : 1,7 = 1000 Euro).
E. Ressourcenorientierte Armutsverständnisse
100
in Abhängigkeit von deren Alter. In der Oxford-Skala wird so jedem Kind bis zu 13 Jahren der Gewichtungsfaktor 0,5 zugewiesen, und zwar ganz unabhängig davon, wie viele Kinder insgesamt in dem infrage stehenden Haushalt leben; weiteren erwachsenen Haushaltsmitgliedern wird dagegen ein Gewichtungsfaktor von 0,7 zugewiesen. In der „modifizierten“ oder „neuen OECD-Skala“ werden Kinder bis zu 13 Jahren mit einem Faktor von 0,3 gewichtet.5 Tabelle 3
Pro-Kopf-Einkommen und Äquivalenzeinkommen im Vergleich
Zusammen setzung des Haushalts
1 Erwachsener 2 Erwachsene 2 Erwachsene, 1 Kind 2 Erwachsene, 2 Kinder 2 Erwachsene, 3 Kinder
Berechnung des Pro-Kopf- bzw. Äquivalenzeinkommens (nach den verschiedenen OECD-Äquivalenzskalen) und darunter jeweils das entsprechende Pro-Kopf- bzw. Äquivalenzeinkommen bei einem Haushaltseinkommen von insgesamt 1000 € Pro-KopfEinkommen
alte OECDSkala oder Oxford-Skala
neue oder modifizierte OECD-Skala
QuadratwurzelSkala
1
1
1
1
1.000 €
1.000 €
1.000 €
1.000 €
2
1,7
1,5
1,4
500 €
588,20 €
666,67 €
714,29 €
3
2,2
1,8
1,7
333,33 €
454,55 €
555,56 €
588,24 €
4
2,7
2,1
2
250 €
370,37 €
476,19 €
485,91 €
5
3,2
2,4
2,2
200 €
312,50 €
416,67 €
454,55 €
Tabelle 3 veranschaulicht, wie groß die Unterschiede zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Äquivalenzeinkommen bei verschiedenen Haushaltszusammensetzungen und Altersgruppen ausfallen können, wenn man verschiedene Äquivalenzskalen zugrunde legt:6 So wird deutlich, dass die Äquivalenzeinkommen von Haushaltsmitgliedern stets höher ausfallen als das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen. Davon ausgenommen sind Ein-Personen-Haushalte, da in diesen keine Einsparungen durch gemeinsames Haushalten erreicht werden und keine unterschiedlichen Bedürfnislagen Berücksichtigung finden. Der Blick auf den in Tabel5 Vgl.
ebd. Siehe zu den Gewichtungsfaktoren der „modifizierten OECD-Skala“ und der „Quadratwurzel-Skala“ die vorangehenden Absätze in diesem Kapitel. 6
I. Armut als Mangel an Einkommen
101
le 3 wiedergegebenen chronologischen Ablauf der Veränderungen der OECD-Skalen veranschaulicht überdies, wie leicht es ist, Haushalte hinsichtlich ihres Äquivalenzeinkommens durch geringfügige Veränderungen der Äquivalenzskalen reicher oder ärmer zu „rechnen“: Die Entwicklung von der Oxford-Skala über die modifizierte OECD-Skala hin zur Quadratwurzelskala hat dazu geführt, dass das Äquivalenzeinkommen der Mitglieder von Mehrpersonenhaushalten mit jeder vorgenommenen Veränderung der Gewichtungsfaktoren im Vergleich zu der jeweils zuvor verwendeten Skala gestiegen ist. Wie sehr das Äquivalenzeinkommen durch die Veränderung der zugrunde liegenden Äquivalenzskalen schwanken kann, zeigt sich in der letzten Zeile von Tabelle 3 besonders deutlich: Die Haushaltsmitglieder einer fünfköpfigen Familie gelten in Bezug auf ihr Einkommen mehr als doppelt so gut gestellt, wenn man statt auf das Pro-Kopf-Einkommen auf ihr auf der Grundlage der Quadratwurzelskala berechnetes Äquivalenzeinkommen blickt. Wenn wir in Armutserhebungen auf das Einkommen von Menschen sehen, müssen wir also sehr genau hinsehen, mit welcher Art von Einkommen wir es jeweils zu tun haben.7 „Armut“ als Mangel an monetärem Einkommen zu verstehen, ist nun nicht nur einfach und praktisch, sondern auch aus zwei weiteren Gründen sachlich naheliegend. Geld ist heute das am weitesten verbreitete Tauschmittel und dient nicht nur der Erlangung käuflicher Güter wie Nahrung oder Kleidung, sondern ist auch ein Mittel zu der Verwirklichung unzähliger nicht-käuflicher Güter, die für das menschliche Wohl wesentlich und häufig ohne Geld nicht zu erlangen sind: Wer anderen nie ein Geburtstagsgeschenk kaufen kann und kein Geld hat, um mit ihnen ins Kino zu gehen, wird es schwer haben, Werte wie Freundschaft und soziale Teilhabe zu verwirklichen. Weil Geld ein allgemein-dienliches Mittel für die Verwirklichung zahlloser Wertvorstellungen und Lebenspläne ist, legt seine Bereitstellung zudem niemanden auf die Verwirklichung einer bestimmten Konzeption des Wohls fest. Vielmehr steht es jedem frei, das zur Verfügung gestellte Geld nach eigenem Gutdünken zu verwenden. Einkommensorientierte Armutskonzeptionen werden somit in hohem Maß dem Prinzip der Präferenzautonomie gerecht (siehe Kap. C. II. 1.). Ein ausschließlich am monetären Einkommen orientiertes Armutsverständnis greift allerdings insofern zu kurz, als es für die Frage, wie gut ein Mensch gestellt 7 Eine weitere wichtige Unterscheidung von Einkommensarten in der Armutsdebatte ist die zwischen „Nominal-“ und „Realeinkommen“. Nominaleinkommen geben an, wie viele Einheiten einer Währung einem Menschen in einer bestimmten Zeit zufließen. Für die tatsächlich mit einem Einkommen verbundene Kaufkraft ist dagegen entscheidend, über welches Realeinkommen ein Mensch verfügt, d. h., welchen Warenkorb jemand mit seinem Nominaleinkommen in einer Gesellschaft tatsächlich erwerben kann. Wenn jemand über ein Nominaleinkommen verfügt, das hoch genug ist, um damit einen Warenkorb zu kaufen, der in den Vereinigten Staaten einen Wert von einem US-Dollar besitzt, so wird gesagt, dass diese Person über ein Realeinkommen von einem US-Dollar verfügt resp. eine Kaufkraftparität (KKP) von einem US-Dollar besitzt. Des Weiteren müssen wir darauf sehen, ob es bei der Erfassung von Armut um die Höhe des Brutto- oder des Nettoeinkommens eines Menschen geht.
102
E. Ressourcenorientierte Armutsverständnisse
ist, nicht nur relevant ist, wie viel Geldeinkommen er bezieht, sondern auch, über wie viel Sach- und Geldvermögen er darüber hinaus verfügt und welche Zugänge er zu kostenlosen Gütern und Dienstleistungen besitzt.8 Bezieht man dies mit ein, kann sich die tatsächliche materielle Lebenssituation eines Menschen im Vergleich zu einer ausschließlich an dem Geldeinkommen orientierten als besser oder schlechter darstellen. Bei einem ausschließlich am Geldeinkommen orientierten Armutsverständnis gerät überdies nicht in den Blick, welchen Wert die zur Verfügung gestellten Geldmittel mit Blick auf das Wohl einer Person tatsächlich haben: Denn abhängig von deren Zugang zu anderen Gütern und Ressourcen kann dieser Wert sehr unterschiedlich ausfallen. So kann eine von Armut bedrohte Person mit dem ihr zur Verfügung gestellten Geld nur dann Nahrungsmittel erwerben, wenn zugleich ein Zugang zu einem Markt besteht, auf dem sie diese zu einem erschwinglichen Preis erwerben kann, eine funktionierende und sichere Infrastruktur existiert usw. Was bei einem solchen Armutsverständnis nicht in den Blick gerät, sind, anders gesagt, also die äußeren Lebensumstände, in denen ein Mensch lebt, und die für dessen Wohlbefinden ebenfalls ausschlaggebend sind.9 Des Weiteren erweist sich die mit Blick auf die allgemeine Anwendbarkeit und die Wahrung der Präferenzautonomie wünschenswerte Offenheit des Geldes bei genauer Betrachtung als fatale Schwäche: Da in einkommensorientierten Ansätzen die Vermeidung von Armut gerade nicht darin gesehen wird, dass Menschen eine bestimmte Konzeption des Wohls verwirklichen resp. verwirklichen können, bleibt offen, mit Blick worauf die Höhe des zur Vermeidung von Armut nötigen Einkommens eigentlich festgelegt werden sollte. In der Praxis kommt es deswegen häufig zu mehr oder weniger willkürlichen politischen Festlegungen in absoluter oder relativer Weise.10 Ohne die Benennung einer Konzeption des minimalen Wohls kann bei der Festlegung einer monetären Armutsgrenze überdies nicht berücksichtigt werden, dass Menschen in Abhängigkeit von ihren persönlichen Eigenschaften und äußeren Lebensumständen unter Umständen unterschiedlich viel Geld benötigen, um dieselben Ziele zu verwirklichen, wie etwa angemessen ernährt oder hinreichend mobil zu sein.11 Dieser Einwand betrifft auch die Berechnung von Äquivalenzeinkommen, denn Äquivalenzskalen können nur dann „sachgerecht“ und „nachvollziehbar“ berechnet werden, wenn wir wissen, wozu das bereitgestellte Geldein8 Vgl.
Sen (1992), 28. ebd. 10 Die Weltbank legt diese Schwelle beispielsweise seit Oktober 2015 (absolut) bei 1,90 US-Dollar Kaufkraftparität pro Tag fest (vgl. Weltbank – FAQs: Global Poverty Line Update, URL: http://www.worldbank.org/en/topic/poverty/brief/global-poverty-line-faq, letzter Zugriff: 02. 12. 2016). Von der Europäischen Union und im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird sie dagegen in relativer Weise festgelegt: Als „arm“ in Bezug auf das Einkommen gilt dort, wer über weniger als ein Nettoäquivalenzeinkommen von 60 % des Medianeinkommens seiner eigenen Gesellschaft verfügt (BMAS (2008), 285). 11 Vgl. Sen (1992), 28. 9 Vgl.
I. Armut als Mangel an Einkommen
103
kommen letztlich dienen soll. Ohne dies zu wissen, können weder vermeintliche Einspareffekte durch gemeinsames Wirtschaften noch Kostenunterschiede durch unterschiedliche Bedürfnislagen (z. B. von Kindern) wie sie in den angeführten Äquivalenzskalen unterstellt werden, verlässlich eingeschätzt werden. Auf der Basis einer ausschließlich am Einkommen orientierten Armutskonzeption lassen sich diese Ziele nicht bestimmen. Mit Blick auf diese Überlegungen erscheint es nur folgerichtig, dass der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in dem bereits mehrfach erwähnten Urteil vom 09. Februar 2010 (siehe Kap. A.) die genannten OECD-Skalen als Basis für die Ermittlung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen verworfen und ihre Verwendung zu diesem Zweck im deutschen Sozialrecht als verfassungswidrig bewertet hat. Wörtlich heißt es dort: „Über den Bedarf von Kindern unterschiedlicher Altersstufen gibt die OECD-Skala […] keine Auskunft. Sie sagt nichts darüber aus, welche Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums eines Kindes erforderlich sind […].“12
In der OECD selbst ist man sich der fehlenden Begründung für die Festlegung der Äquivalenzskalen durchaus bewusst, wie die folgenden Ausführungen auf deren Website zeigen: „In general, there is no accepted method for determining equivalence scales, and no equivalence scale is recommended by the OECD for general use. […] The choice of a particular equivalence scale depends on technical assumptions about economies of scale in consumption as well as on value judgments about the priority assigned to the needs of different individuals such as children or the elderly. These judgements will affect values.“13
Die „Werte“ (values) resp. „Güter“, die man mithilfe des fraglichen Äquivalenz einkommens verwirklichen können soll, werden jedoch nicht benannt, sodass der Vorwurf der Willkürlichkeit bestehen bleibt. Auch in dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2017 wird eingeräumt, dass die Höhe des äquivalenzgewichteten Einkommens nichts über die individuelle Bedürftigkeit einer Person aussagt.14 Wenn die Ausgestaltung des sozialen Minimums, wie es der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in dem in Kapitel A. skizzierten Urteil fordert, „nachvollziehbar“ und „sachgerecht“ sein soll,15 erscheint es somit unumgänglich, anzugeben, welche Güter und Ziele es sind, die mithilfe eines garantierten minimalen Einkommens von den Hilfsbedürftigen verwirklicht werden können sollen. Es erscheint also, anders gesagt, erforderlich, eine objektive Konzeption des minimalen Wohls zu benennen, die jeder Hilfsbedürftige zu verwirklichen in der Lage sein sollte. Nur wenn dies der Fall ist, lässt sich im Prinzip auch in nachvollziehbarer und sachgerechter Weise ermitteln, welche Einspareffekte sich in Bezug auf die 12
BVerG NJW 2010, 505 . OECD-Äquivalenzskalen, URL: http://www.oecd.org/eco/growth/OECD-Note-EquivalenceScales.pdf, letzter Zugriff: 02. 12. 2016. 14 Vgl. BMAS (2017). 15 Vgl. BVerG NJW 2010, 505 . 13
104
E. Ressourcenorientierte Armutsverständnisse
Verwirklichbarkeit dieser Ziele durch ein gemeinsames Zusammenleben erzielen lassen. In dieser Weise ermittelte Einspareffekte dürften dann dem genannten Bundesverfassungsgerichtsurteil zufolge bei der Bemessung des Umfangs der Hilfeleistungen auch berücksichtigt werden.16
II. Armut als Mangel an Grundgütern Eine weitere Möglichkeit, den Armutsbegriff in einer ressourcenorientierten Weise zu explizieren, besteht darin, die Palette derjenigen Güter und Ressourcen, die als relevant zu der Erfassung von Armut angesehen werden, über das persönliche Einkommen hinaus zu erweitern. Eine Güterpalette, die man in dieser Weise verstehen kann, ist John Rawls’ Liste der sogenannten „Grundgüter“ (primary goods). 1. Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption Der Ausdruck „Grundgüter“ bezeichnet bei Rawls allgemein-dienliche Güter, die Menschen für die Entwicklung und Verfolgung eines weiten Spektrums an Lebensplänen benötigen. Zu den Grundgütern zählt er grundlegende Rechte und Freiheiten, soziale Chancen, Einkommen und Vermögen sowie, mit einer besonderen Stellung, die Selbstachtung resp. die sozialen Grundlagen der Selbstachtung.17 Rawls versteht Grundgüter nicht lediglich als Güter, die für die Verwirklichung vernünftiger Konzeptionen des menschlichen Wohls nützlich sind, sondern auch als Güter, die Menschen brauchen, um ihre grundlegenden moralischen Vermögen – den Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten – entwickeln und ausüben zu können. Die Rawls’schen Grundgüter sind „gesellschaftliche“ und keine „natürlichen“ Güter, wie Gesundheit, Lebenskraft oder Intelligenz, denn ihre Verteilung wird in einer Gesellschaft mehr oder weniger direkt durch deren institutionelle Grundstruktur (basic structure) bestimmt.18 Zu dieser Grundstruktur zählen grundlegende Einrichtungen wie die politische Verfassung und die Wirtschaftsordnung einer Gesellschaft, aber auch die Institution der Familie oder das Schulsystem. Die Grundstruktur legt fest, welche Rechte und Pflichten die Menschen in einer Gesellschaft haben, und sie hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie Einkommen und Vermögen, aber auch die Lebenschancen in ihr verteilt sind. Weil die Grundstruktur über die Verteilung gesellschaftlicher Grundgüter entscheidet, hat sie einen umfassenden und tiefgreifenden Einfluss auf das Leben aller Gesellschaftsmitglieder und es ist nach Rawls deshalb die wichtigste Aufgabe oder „erste Tugend“ einer Gerechtigkeitstheorie, Grundsätze zu finden, welche die durch die Grundstruktur bedingte und je nachdem gleiche oder ungleiche Verteilung von Grundgütern regulieren.19 16
Vgl. ebd., 505 . Vgl. u. a. Rawls (1975), 83, 112, 434, 472. 18 Vgl. ebd., 83. 19 Vgl. ebd., 23 f. 17
II. Armut als Mangel an Grundgütern
105
Der Leitgedanke der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie besteht darin, dass die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft von freien und gleichen Personen Gerechtigkeitsgrundsätzen genügen müssen, die von diesen unter fairen Bedingungen selbst gewählt würden. Daher bezeichnet er seine eigene Gerechtigkeitskonzeption auch als Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness.20 Die Idee fairer Bedingungen für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen wird mithilfe des Gedankenexperiments des Urzustands (original position) ausgeführt, den Rawls durch eine Reihe von Informationsbeschränkungen charakterisiert: Die Mitglieder einer Gesellschaft begeben sich für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen hypothetisch hinter einen „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance), hinter welchem sie nicht wissen, welche soziale Stellung sie einnehmen, über welche Fähigkeiten und psychologischen Neigungen sie verfügen und welche Auffassung vom menschlichen Wohl sie besitzen. Auch wissen die Gesellschaftsmitglieder im Urzustand nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie sich mit bestimmten Fähigkeiten und Neigungen in einer bestimmten sozialen Position befinden. Die Informationsbeschränkungen im Urzustand sollen sicherstellen, dass keine Gerechtigkeitsgrundsätze gewählt werden, die auf die besonderen Lebensumstände und Interessenlagen einzelner gesellschaftlicher Gruppen zugeschnitten und in dem Sinn parteiisch sind.21 Die Entscheidungssituation des Urzustands zeichnet sich aber nicht nur durch bestimmte Informationsbeschränkungen aus, denen die Gesellschaftsmitglieder unterliegen. Vielmehr werden auch die Gesellschaftsmitglieder selbst in einer ganz bestimmten Weise charakterisiert: So sind sie rational in dem Sinn, als sie zur Erreichung ihrer Ziele die jeweils wirksamsten Mittel wählen. Des Weiteren nehmen sie im Urzustand kein Interesse aneinander und gehen davon aus, dass sie nach der Lüftung des „Schleiers des Nichtwissens“ womöglich entgegengesetzte Ziele verfolgen werden.22 Die Parteien im Urzustand werden zudem insofern als „Gleiche“ angesehen, als allen gleichermaßen das Recht zukommt, sich an der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze zu beteiligen und Gründe für oder gegen bestimmte Grundsätze vorzubringen.23 Dieser Gleichheit bei der Wahl der Grundsätze liegt die Annahme zugrunde, dass alle Parteien im Urzustand gleichermaßen als „moralische Personen“ resp. „moralische Subjekte“ anzusehen sind. Eine „moralische Person“ zeichnet sich für Rawls dadurch aus, dass sie eine mehr oder weniger klar und umfassend artikulierte Konzeption des Guten besitzt und über zwei „moralische Vermögen“ verfügt, den Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu der Entwicklung einer Konzeption des Guten.24 Über einen Gerechtigkeitssinn zu verfügen, bedeutet für Rawls, fähig und bereit zu sein, Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, 20
Vgl. ebd., 29. ebd. 22 Vgl. ebd., 30 f. 23 Vgl. ebd., 36. 24 Vgl. ebd., 36 f., 548. 21 Vgl.
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E. Ressourcenorientierte Armutsverständnisse
anzuwenden und im Handeln zu beachten.25 Zu der Entwicklung einer Konzeption des Guten befähigt zu sein, bedeutet, dass ein Mensch in der Lage ist, eine Konzeption des Guten zu entwickeln, zu verfolgen und, wenn nötig, abzuändern. Nur wer die beiden moralischen Vermögen hinreichend entwickelt hat, gilt als moralische Person und als uneingeschränkt kooperationsfähiges Gesellschaftsmitglied.26 Menschen mit schweren geistigen und „moralischen“ Beeinträchtigungen wären demnach aus dem Kreis der uneingeschränkt Kooperationsfähigen ausgeschlossen.27 Laut Rawls würden sich die Parteien unter den fairen Bedingungen des Urzustands auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einigen. In Politischer Liberalismus (PL) formuliert er diese wie folgt: „1. Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten, das mit demselben System für alle vereinbar ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert der gleichen politischen (und nur der politischen) Freiheiten garantiert. 2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.“28
Dem zweiten Teil des zweiten Grundsatzes, dem sogenannten „Unterschieds-“ oder „Differenzprinzip“ (difference principle), liegt die Vorstellung zugrunde, dass materielle Ungleichheiten gerechterweise zulässig sind, wenn sie sich zum Vorteil der am wenigsten Begünstigten auswirken; dies ist z. B. dann der Fall, wenn Einkommensungleichheiten zu produktivitätssteigernden Leistungsanreizen führen, von denen alle Gesellschaftsmitglieder profitieren können, sodass alle – 25
Vgl. ebd., 37, 548. ebd., 548 ff. Rawls’ Konzeption der moralischen Person ähnelt damit, wie bereits erwähnt, der in dieser Arbeit verwendeten Konzeption des „Erwachsenen“ (siehe Kap. D. I.). 27 Vgl. Nussbaum (1999a), 37. 28 Rawls (1998), 69 f. In Eine Theorie der Gerechtigkeit bezeichnet Rawls die folgenden Grundfreiheiten als wichtig für seine Gerechtigkeitsgrundsätze: die politische Freiheit (das Recht, zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden), die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, die persönliche Freiheit (zu ihr gehört der Schutz vor psychologischer Unterdrückung und körperlicher Misshandlung und Verstümmelung (Unverletzlichkeit der Person)), das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft (vgl. ders. (1975), 82). Die beiden Grundsätze stehen Rawls zufolge in einer „lexikographischen“ oder „lexikalischen“ Ordnung, der zufolge die gleichen Grundfreiheiten niemals eingeschränkt werden dürfen, um Forderungen des zweiten Grundsatzes zu erfüllen, und innerhalb des zweiten Grundsatzes haben die Forderungen der fairen Chancengleichheit Vorrang gegenüber der Forderung größtmöglicher Vorteile für die am wenigsten Begünstigten (vgl. ebd., 62 ff., 83; nähere Ausführungen zum Vorrang der Freiheit finden sich auch in ebd., 274 ff.; Rawls schwächt den Vorrang der Freiheiten allerdings später wieder ab (vgl. ders. (1993))). 26 Vgl.
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einschließlich der am wenigsten Begünstigten – mehr erhalten als bei einer gleichen Einkommensverteilung.29 2. Vorzüge des Grundgüteransatzes Ein an Rawls’ Grundgüterliste orientiertes Armutsverständnis stellt insofern eine Verbesserung zu einem ausschließlich an dem Einkommen orientierten Ansatz dar, als darin neben dem Einkommen auch weitere wichtige Güter zur Erfassung von Armut als relevant betrachtet werden (siehe Kap. E. I.): Wie bereits aufgezeigt wurde, ist es für die Beantwortung der Frage, wie gut jemand materiell gestellt ist, nicht nur wichtig, welches Einkommen er bezieht, sondern auch, welches Vermögen er besitzt, und dies findet in Rawls’ Liste Berücksichtigung. Es wurde überdies deutlich, dass es dafür, was jemand mit den ihm verfügbaren Mitteln tun und erreichen kann, auch wichtig ist, zu erfahren, welche Rechte er besitzt: So kann ein Mensch unter Umständen nicht oder nur unter großen Risiken Nahrungsmittel erwerben, wenn ihm kein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugesichert wird oder er kein Recht auf Bewegungsfreiheit besitzt. Die Umsetzung eines an Rawls’ Grundgüterliste orientiertem Armutsverständnis würde sicherstellen, dass jedem Menschen zumindest grundlegende Rechte und Freiheiten garantiert würden. Auch hätte jeder die gleiche faire Chance, im Lauf seines Lebens erstrebenswerte Ämter und Positionen einzunehmen. Da eine häufige Ursache für Hilfsbedürftigkeit eine mangelhafte oder fehlende Ausbildung ist, ist auch dieses Element der Rawls’schen Konzeption von Belang für die Armutsbekämpfung. Denn aus ihm ergibt sich die Forderung, ein Schul- und Ausbildungssystem zu schaffen, das jedem Menschen eine seinen Anlagen und Fähigkeiten entsprechende Ausbildung ermöglicht und die dafür nötigen äußeren Umstände geschaffen werden. Ein auf der Rawls’schen Grundgüterliste basierendes Armutsverständnis würde überdies die Präferenzautonomie von Hilfsbedürftigen in hohem Maß wahren, da die bereitzustellenden Güter zur Verwirklichung vieler subjektiver Konzeptionen des Wohls hilfreich sind und niemanden auf die Verwirklichung einer ganz bestimmten Konzeption des Wohls festlegen. 3. Problematische Aspekte a) Rawls’ erster Vorschlag zu der Bestimmung eines sozialen Minimums Wenn Rawls die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft als ersten und wichtigsten Gegenstand der Gerechtigkeit betrachtet, liegt die Erwartung nahe, dass seine Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness auch etwas darüber sagt, was unter „Armut“ zu verstehen ist, und welche gerechten Ansprüche Menschen in Armut in Bezug auf die Grundstruktur haben, denn Armut ist ein gesellschaft29 Vgl.
ders. (1975), 95 ff.
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liches Übel, das nur durch eine geeignete Einrichtung der Grundstruktur beseitigt werden kann. Tatsächlich wird diese Erwartung jedoch enttäuscht und es finden sich nur wenige Bemerkungen zum Thema „Armut“ in Rawls’ Werk. Der Ausdruck „Armut“ (poverty) resp. „arm“ (poor) taucht im Text von Eine Theorie der Gerechtigkeit (TG) nur zweimal auf:30 In dem einen Fall geht es um den Verweis darauf, dass der Wert, den die Freiheiten für die Verwirklichung der Lebenspläne der Menschen haben, durch fehlende materielle Mittel, aber auch durch Unwissenheit oder einen Mangel an Fähigkeiten geschmälert wird. In dem anderen Fall findet die Armut lediglich im Zusammenhang mit einer Erläuterung einer bestimmten Glaubensvorstellung Erwähnung. Allerdings spricht Rawls in TG das Problem der Festsetzung eines sozialen Minimums mehrfach an.31 In TG heißt es: „[…] [E]s ist vernünftig, sich und seine Nachkommen gegen […] Marktschwankungen zu sichern. Das fordert auch das Unterschiedsprinzip. Doch wenn einmal ein angemessenes Existenzminimum durch Umverteilung gesichert ist, kann es völlig fair sein, daß der übrige Teil des Gesamteinkommens durch das Preissystem bestimmt wird, falls es einigermaßen optimal und frei von monopolistischen Einschränkungen sowie von unangemessenen externen Wirkungen ist.“32
An einer späteren Stelle in TG erläutert Rawls dann, wie er sich die Bestimmung dieses Existenzminimums vorstellt: „Bisher habe ich nichts darüber gesagt, wie großzügig das Existenzminimum angesetzt werden sollte. Der gemeine Verstand könnte sich damit begnügen, es hänge vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand des Landes ab und sollte unter sonst gleichen Umständen mit diesem steigen. Oder man könnte sagen, die richtige Höhe werde durch die üblichen Erwartungen bestimmt. Doch diese Antworten sind unbefriedigend. Die erste ist nicht genau genug, da sie nicht angibt, wie das Existenzminimum vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand abhängen soll, und andere wichtige Gesichtspunkte wie die Verteilung außer acht läßt; die zweite gibt keinen Maßstab dafür an, wann die üblichen Erwartungen ihrerseits vernünftig sind. Wird aber das Unterschiedsprinzip zugrunde gelegt, so ist das Existenzminimum so anzusetzen, daß unter Berücksichtigung der Löhne die Aussichten der am wenigsten bevorzugten Gruppe maximiert werden. Mittels der Umverteilung (etwa der Einkommensbeihilfen) lassen sich dann die Aussichten der Benachteiligten verändern: ihre Grundgüter (gemessen anhand der Löhne und Subventionen) können auf die gewünschte Höhe gebracht werden.“33 30
Vgl. ebd., 232, 600. Vgl. ebd., 118 f., 310 f., 320 f., 337 f., 351 ff. 32 Ebd., 311. 33 Ebd., 319. Bei der Bestimmung der am wenigsten begünstigten Gruppe lasse sich, so Rawls in TG, eine gewisse Willkür nicht vermeiden. Als eine Möglichkeit der Bestimmung der am wenigsten begünstigten Position schlägt er die Auswahl einer bestimmten gesellschaftlichen Position, wie etwa der eines ungelernten Arbeiters vor, um dann all jene als in einer solchen Position befindlich zu betrachten, die höchstens das Einkommen und Vermögen dieser Position haben. Eine andere Möglichkeit, die er vorschlägt, ist die, all jene Personen zu der am schlechtesten gestellten Gruppe zu zählen, die über weniger als den halben Medianwert verfügen. Er geht davon aus, dass jedes dieser Kriterien einen Maßstab dafür 31
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Rawls geht in TG offenbar davon aus, dass aufgrund des Differenzprinzips keine eigenständige Herleitung eines sozialen Minimums vonnöten ist. Das Minimum mithilfe des Differenzprinzips zu bestimmen, erweist sich jedoch in verschiedenen Hinsichten als problematisch. Zum einen fordert das Differenzprinzip genau genommen nicht, dass die Umverteilung von Einkommen und Vermögen dazu führen muss, dass die materielle Stellung der am wenigsten Begünstigten zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens möglichst maximiert wird, sondern es fordert die maximale Verbesserung der Lebenschancen (life prospects) oder -aussichten (expectations) in diesen Hinsichten über die gesamte Lebenszeit hinweg.34 Es ist empirisch aber nicht von vorneherein ausgemacht, dass die am wenigsten Begünstigten bei maximal guten Lebenschancen und -aussichten dann auch stets über ihre gesamte Lebensdauer hinweg ein Leben frei von Armut führen können. Dies ist vielmehr abhängig vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand einer Gesellschaft. Unter ungünstigen Umständen ist es denkbar, dass die wirtschaftlich realisierbaren (maximalen) Einkommen oder Vermögenswerte für die am wenigsten Begünstigten unter der Schwelle bleiben, die erreicht werden müsste, um auch nur für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zu sorgen. Umgekehrt leuchtet unter den günstigen Umständen einer sehr wohlhabenden Gesellschaft nicht ein, dass ein Leben frei von Armut erst dann möglich sein sollte, wenn die Lebenschancen und -aussichten der am wenigsten Begünstigten maximal gut sind. Ein „zu hohes“ Minimum kann zudem zu einem Problem werden, wenn wir annehmen, dass auch internationale Hilfspflichten bestehen: Ein hohes Minimum weist auf einen hohen gesellschaftlichen Wohlstand hin und wirft die Frage auf, ob der vorhandene Wohlstand womöglich nicht zunächst genutzt werden muss, um akutere Formen der Armut in anderen Gesellschaften zu bekämpfen (siehe auch Kap. C. I.). Mithilfe des Differenzprinzips lässt sich demnach kein angemessenes Minimum an Einkommen und Vermögen bestimmen. Vielmehr machen auch diese Überlegungen deutlich, dass wir nicht umhinkommen, bestimmte Wohlergehensziele zu benennen, die ein hilfsbedürftiger Mensch mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln insgesamt zu erreichen in der Lage sein sollte. b) Mangelnde Berücksichtigung individueller Unterschiede in der Lebenslage Ein weiterer Einwand, den man gegen Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption erheben könnte, besteht darin, dass sie nichts darüber aussagt, was wir nicht-kooperaabgäbe, wie ein vernünftiges Minimum bezüglich Einkommen und Vermögen festzusetzen wäre (vgl. ebd., 118 f.). Weshalb gerade diese beiden Kriterien dazu geeignet wären, ein Minimum in vernünftiger Weise zu bestimmen, lässt sich Rawls zufolge mit philosophischen Argumenten nicht mehr begründen: „Jedes Verfahren ist notwendig in gewissem Maße ad hoc. Doch an irgendeinem Punkt darf man praktische Erwägungen ins Spiel bringen, denn früher oder später kann man mit philosophischen Argumenten einfach keine feineren Unterscheidungen mehr machen“ (ebd., 119). 34 Vgl. ebd., 98 f.
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tionsfähigen Menschen, zu denen körperlich oder geistig schwer beeinträchtigte Menschen gezählt werden müssen, schulden.35 Denn die Rawls’schen Gerechtigkeitsgrundsätze werden nicht nur von den kooperationsfähigen Mitgliedern einer Gesellschaft ausgewählt, sondern diese sind auch die alleinigen Adressaten der Grundsätze: Sie wählen diese Grundsätze, um eine gerechte Regelung zur Verteilung der Vor- und Nachteile ihrer Zusammenarbeit zu finden.36 Die aus den beiden Rawls’schen Grundsätzen erwachsenden individuellen Ansprüche sind deshalb Ansprüche, die die Beteiligung an den entsprechenden Kooperationsbeziehungen voraussetzen.37 Nicht-kooperationsfähigen Mitgliedern einer Gesellschaft erwachsen aus diesen Grundsätzen dagegen zunächst einmal keine Ansprüche. Dies wirft die Frage auf, weshalb sich aus den ersten Grundsätzen der distributiven Gerechtigkeit gerade für diejenigen Menschen keine individuellen Ansprüche auf spezifische Grundgüterzuteilungen ableiten lassen, die aufgrund ihrer erhöhten Verletzlichkeit am dringendsten auf die Sicherung grundlegender Rechte und auf besondere soziale Unterstützung angewiesen sind.38 Rawls hat die moralischen Ansprüche von bloß eingeschränkt kooperationsfähigen Menschen nun nicht einfach übersehen. Die Frage, die er mit seiner Gerechtigkeitskonzeption beantworten wollte, war schlicht eine andere als diejenige nach aus besonderen Formen der Bedürftigkeit wie Behinderungen oder chronischen Erkrankungen erwachsenden Ansprüchen. Rawls geht es in TG lediglich um die Frage, welche Verteilung von Grundgütern kooperationsfähige Personen in einer fairen Ausgangssituation wählen würden, um die Vor- und Nachteile sozialer Kooperation untereinander aufzuteilen.39 Auch Rawls selbst gesteht zu, dass es mithilfe seiner Gerechtigkeitskonzeption nur schwer oder womöglich gar nicht zu beantworten sei, was wir bloß eingeschränkt kooperationsfähigen Gesellschaftsmitgliedern schulden.40 Mit Blick auf die besondere Aufgabenstellung der Rawls’schen Gerechtigkeitskonzeption sind somit alle Einwände gegenstandslos, die darauf abheben, dass 35 Vgl.
Kittay (1999), 88 ff.; Nussbaum (1999a), 37; dies. (2010), 45 ff. Rawls (1975), 548. 37 Vgl. ebd., 118. 38 Vgl. zu den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption in einer Weise zu modifizieren, dass sie nicht-kooperationsfähige Menschen mit einschließt Nussbaum (2010), insbes. Kap. 2 und 3. 39 Vgl. z. B. Rawls (1975), 118, 548. Wörtlich heißt es dort: „Ich nehme nun an, daß jeder körperliche Bedürfnisse und psychische Fähigkeiten innerhalb des normalen Bereichs hat, so daß sich keine Probleme besonderer Gesundheitsfürsorge und der Behandlung von Schwachsinnigen ergeben. […] Das erste Problem der Gerechtigkeit betrifft die Beziehungen zwischen denen, die im Alltagsleben volle und aktive Glieder der Gesellschaft sind und während ihres ganzen Lebens unmittelbar oder mittelbar miteinander verbunden sind. Das Unterschiedsprinzip soll sich also auf Bürger beziehen, die gesellschaftlich zusammenarbeiten“ (ebd., 118). 40 Vgl. ders. (1998), 87 f., 278. 36 Vgl.
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awls die Frage nach einer angemessenen Ausgestaltung eines sozialen Minimums R für nicht vollständig kooperationsfähige Menschen nicht angemessenen beantwortet habe, da es ausdrücklich nicht sein Ziel war, dies zu tun. Ein Vorwurf, den man Rawls allerdings nicht ersparen kann, ist, dass sein in TG erhobener Anspruch, die erste und wichtigste Aufgabe einer Theorie distributiver Gerechtigkeit zu bearbeiten,41 nicht erfüllt wird, da Aussagen über die adäquate Ausgestaltung eines sozialen Minimums sowohl für kooperationsfähige als auch für nicht vollständig kooperationsfähige Hilfsbedürftige in seiner Theorie fehlen resp. sich als nicht befriedigend erweisen. In einem moralisch angemessenen Armutsverständnis kommt man, wie gesehen, nicht umhin, Wohlergehensziele zu benennen, die sowohl kooperationsfähige als auch nicht vollständig kooperationsfähige Gesellschaftsmitglieder mit den ihnen bereitgestellten Ressourcen zu verwirklichen in der Lage sein sollten. Eine solche Benennung findet in Rawls’ Konzeption allerdings nicht statt. Werden derartige Ziele nicht benannt, findet jedoch der bereits genannte Umstand, dass Menschen mit unterschiedlichen persönlichen Eigenschaften und in unterschiedlichen äußeren Umständen womöglich mehr oder weniger Ressourcen benötigen als andere, um die fraglichen Wohlergehensziele gleichermaßen erreichen zu können, keine adäquate Berücksichtigung. Überdies ist denkbar, dass einigen Menschen zu diesem Zweck neben den von Rawls genannten auch weitere Güter zur Verfügung gestellt werden müssten. Mit Sen, der diesen Punkt in der aktuellen Diskussion wiederholt hervorgehoben hat, lässt sich deshalb abschließend sagen: „The conversion of primary goods into the capability to do various things that a person may value doing can vary enormously with differing inborn characteristics (for example, propensities to suffer from some inherited diseases), as well as disparate acquired fea tures or the divergent effects of varying environmental surroundings (for example, living in a neighbourhood with endemic presence or frequent outbreaks, of infectious diseases). There is, thus, a strong case for moving from focusing on primary goods to actual assessment of freedoms and capabilities.“42
c) Das Problem der Parteilichkeit Eine weitere Frage, die sich in Bezug auf Rawls’ Konzeption stellt, ist die, ob die von diesem vorgeschlagene Grundgüterliste gegenüber verschiedenen und teilweise konträren Auffassungen des menschlichen Wohls tatsächlich hinreichend unparteiisch ist, oder ob sie nicht doch bestimmte subjektive Konzeptionen des Wohls bevorzugt. Der Grund dafür, dass die auf der Liste befindlichen Güter möglichst zur Verwirklichung vieler vernünftiger Lebenspläne dienlich sein sollen, besteht in Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption darin, dass die Parteien bei der Wahl der Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand selbst nicht wissen, welche besondere Konzeption des Guten sie verfolgen. Gleichzeitig sollen sie jedoch Gerechtig41 Vgl. 42
ders. (1975), 23 f. Sen (2009), 66.
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keitsgrundsätze wählen, die sie auch dann noch für gerecht halten, wenn sie ihre besondere Konzeption des Guten nach der Lüftung des „Schleiers des Nichtwissens“ kennen. Wenn dies gelingen soll, müssen die Grundgüter aber möglichst so beschaffen sein, dass durch ihre Bereitstellung nicht bestimmte Konzeptionen des Guten bevorzugt werden. Thomas Nagel hat darauf hingewiesen, dass die Rawls’sche Grundgüterliste insofern parteiisch ist, als sie „liberale“ und „individualistische“ Konzeptionen des Guten bevorzuge.43 Ist dieser Vorwurf zutreffend? Zunächst einmal gilt, dass die Bereitstellung der fraglichen Grundgüter niemanden daran hindert, Lebenspläne zu verwirklichen, die gemeinhin nicht als „liberal“ resp. „individualistisch“ angesehen werden: „Sowenig das Grundrecht der freien Religionszugehörigkeit jemanden verpflichtet, den Glauben seiner Eltern aufzugeben oder auch nur zu überdenken, sowenig schließt die Anerkennung von Einkommen und Besitz als Grundgut aus, daß zumindest einige auf privaten materiellen Besitz um anderer Ziele willen verzichten.“44
Zugstanden werden muss allerdings, dass die Grundgüter nicht zu der Verfolgung aller Konzeptionen des Guten gleichermaßen nützlich sind: Wer niemals mit dem Gedanken spielt, seine Religion zu wechseln, der macht in dem Sinn auch keinen Gebrauch von seiner Religionsfreiheit. Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass ein Mensch gegenüber anderen Menschen benachteiligt wird: Als „benachteiligt“ kann man einen Menschen in dieser Hinsicht nur dann betrachten, wenn es andere für ihn brauchbare gesellschaftliche Güter gibt, die er zur Verwirklichung seines Lebensplans benötigt, die ihm aber vorenthalten werden. Wilfried Hinsch geht davon aus, dass man dieses Problem durch eine Erweiterung der Liste lösen kann, um auf diese Weise bisher vernachlässigten Konzeptionen des Guten die gebührende gesellschaftliche Unterstützung zukommen zu lassen.45 Bei genauer Betrachtung stellt der Vorschlag von Hinsch jedoch keine befriedigende Lösung des Parteilichkeitsproblems dar: Wenn man eine Erweiterung der Liste um jedes Gut zulässt, das von irgendeinem Gesellschaftsmitglied zu der Verwirklichung seines jeweils besonderen Lebensplans benötigt wird, verwandelt man Rawls’ ursprüngliche Gerechtigkeitskonzeption in einen wunschorientierten – und damit subjektiven – Ansatz. Für die Beantwortung der Frage, welche Güter jemandem zugestanden werden sollen, wäre dann nämlich ausschlaggebend, welche konkreten Lebenspläne jemand verfolgt. Mit dem Rawls’schen Selbstverständnis wäre eine solche Konsequenz jedoch nicht vereinbar, denn Rawls selbst hat seine Gerechtigkeitskonzeption gerade als einen Gegenentwurf zu wunschorientierten, utilitaristischen Ansätzen verstanden. Aus welchen Gründen subjektive bzw. an den faktischen Wünschen und Präferenzen der Menschen orientierte Ansätze zu 43 Vgl. Nagel (1973), 9 f.; vgl. zu den Überlegungen in diesem Abschnitt Hinsch (1992), 36 ff. 44 Ebd., 39. 45 Vgl. ebd.
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der Erfassung moralisch relevanter Armut ungeeignet sind, wurde bereits in Kapitel C. II. deutlich. Da eine Erweiterung der Grundgüterliste keinen gangbaren Weg zur Auflösung des Problems der Parteilichkeit darstellt, bleibt das Fazit, dass die Verwendung von Rawls’ Liste mutmaßlich die Verwirklichung einiger subjektiver Konzeptionen des Wohls erschweren bzw. unmöglich machen würde. Das bedeutet aber: Will man Rawls’ Grundgüterliste zur Explikation des Armutsbegriffs verwenden, muss man zeigen, dass diese Art der Parteilichkeit aus einer moralischen Perspektive gerechtfertigt oder sogar geboten erscheint. Die Rawls’sche Grundgüterliste ist aber noch in einer weiteren Hinsicht parteiisch zugunsten liberaler und individualistischer Lebenspläne. Denn sie benachteiligt all jene Konzeptionen des Guten, die darauf angewiesen sind, dass die von Rawls genannten Grundgüter gerade nicht allen Menschen zur Verfügung gestellt werden. Eine so verstandene „Parteilichkeit“ der Liste besteht allerdings nicht nur bei den Rawls’schen Grundgütern, sie ist prinzipieller Natur und insofern unvermeidlich: Unabhängig davon, welche Güter in einer Liste enthalten sind, gilt, dass es immer jemanden geben kann, der eine besondere Konzeption des Guten verfolgt, zu deren Zielen es gehört, dass einigen oder allen Menschen bestimmte Güter vorenthalten werden.46 Auch ein auf der Rawls’schen Grundgüterliste basierendes Armutsverständnis wäre in dem genannten Sinn „parteiisch“ zugunsten liberaler und individualistischer Konzeptionen des Wohls: Denn die allgemeine Garantie eines Mindestanteils an diesen Gütern würde offensichtlich subjektive Konzeptionen des Wohls bevorzugen, die mit den grundlegenden Rechten und Freiheiten anderer Gesellschaftsmitglieder vereinbar sind und die anerkennen, dass alle die ihnen verfügbaren Güter und Ressourcen im Rahmen dieser Rechte den eigenen Vorstellungen entsprechend verwenden dürfen. Diese Forderung der Garantie grundlegender Rechte und Freiheiten entspricht, wie in Kapitel A. deutlich wurde, auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die positiv-rechtliche Ausgestaltung eines menschenwürdigen sozialen Minimums in Deutschland, denn dieses muss so ausgestaltet werden, dass es mit der Wahrung der durch das GG garantierten grundlegenden Rechte und Freiheiten vereinbar ist. Auch das in Deutschland verfassungsrechtlich garantierte soziale Minimum muss demnach in eben dem Sinn parteiisch sein wie es ein an Rawls’ Grundgüterliste orientiertes Armutsverständnis wäre. d) Rawls’ zweiter Vorschlag zu der Bestimmung eines sozialen Minimums In PL bringt Rawls das Thema „Armut“ – wie schon in TG – zum einen dann zur Sprache, wenn er den Unterschied zwischen den Grundfreiheiten als solchen und dem „Wert“ derselben erläutert, welcher durch Unwissenheit und Armut gemindert werde.47 Zum anderen finden sich in PL ebenfalls Ausführungen zu der 46
Vgl. ebd., 39 ff. Rawls (1998), 483.
47 Vgl.
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Frage der Bestimmung des Minimums. In TG vertritt Rawls, wie gesehen, die Auffassung, dass das soziale Minimum mithilfe des Differenzprinzips zu bestimmen sei; diese Idee wurde in Kapitel E. II. 3. a) als nicht überzeugend verworfen. In PL vertritt Rawls die Auffassung, dass die Garantie eines bedarfsbezogenen sozialen Minimums klar von der Forderung des Differenzprinzips zu unterscheiden sei und, anders als das Differenzprinzip, einen wesentlichen Verfassungsinhalt (constitut ional essential) darstelle: „Und ebenso gehört zwar ein soziales Minimum zur Befriedigung von Grundbedürfnissen der Bürger zu den Wesensgehalten [der Verfassung, TM], nicht jedoch das von mir so genannte ,Differenzprinzip‘, das mehr fordert.“48
Damit ist aber noch nicht beantwortet, wie die Schwelle des sozialen Minimums genauer zu bestimmen ist, wenn sie unterhalb des vom Differenzprinzip Geforderten liegt. Die Beantwortung dieser Frage erscheint umso dringlicher, wenn man – wie Rawls oder auch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland (siehe Kap. A.) – das soziale Minimum als einen rechtsstaatlich zu garantierenden Verfassungsinhalt betrachtet; denn die genauere inhaltliche Bestimmung eines wesentlichen Verfassungsinhalts darf sicherlich nicht als Frage richterlichen Gutdünkens verstanden werden. Rawls selbst liefert allerdings auch in PL keine unabhängige Antwort auf diese Frage. Die in PL von Rawls vorgebrachte Idee, dass ein soziales Minimum unabhängig vom Differenzprinzip verfassungsrechtlich jedem Gesellschaftsmitglied garantiert werden soll, stimmt mit einer von Hinsch vertretenen Interpretation der Rawls’schen Gerechtigkeitskonzeption überein. Hinsch zufolge setzt diese selbst voraus, dass in einer gerechten Gesellschaft alle Einkommen oberhalb eines subsistenzsichernden „moralischen Existenzminimums“ liegen müssen; die Aufgabe der Rawls’schen Gerechtigkeitsgrundsätze bestehe deshalb nur noch darin, die Frage zu beantworten, wie eine gerechte Verteilung oberhalb dieses Minimums auszusehen hätte.49 Der Grund dafür liegt für ihn darin, dass die Herleitung des Differenzprinzips mithilfe des Urzustands unter den sogenannten „Anwendungsverhältnissen der Gerechtigkeit“ stattfindet.50 Diesen zufolge muss eine gerechte 48
Ebd., 330 f. Hinsch (2001), 66; ders. (2002), 95 f. 50 Die „Anwendungsbedingungen/-verhältnisse der Gerechtigkeit“ fasst Rawls in TG selbst wie folgt zusammen: „Eine Interessenharmonie besteht, weil die gesellschaftliche Zusammenarbeit allen ein besseres Leben ermöglicht, als wenn jeder nur auf seine eigenen Anstrengungen angewiesen wäre. Interessenkonflikte entstehen dadurch, daß es den Menschen nicht gleichgültig ist, wie die Früchte dieser Zusammenarbeit verteilt werden, denn zur Verfolgung seiner Ziele möchte jeder lieber einen größeren als einen kleineren Anteil haben. Man braucht also Grundsätze, um zwischen den verschiedenen Gesellschaftsordnungen zu entscheiden, die diese Verteilung der Güter bestimmen, und um eine Übereinkunft über die richtigen Anteile zustande zu bringen. Diese Forderungen bestimmen die Rolle der Gerechtigkeit. Die Rahmenbedingungen, die dazu Anlaß geben, sind die Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit“ (Rawls (1975), 149). Rawls selbst verweist darauf, dass 49 Vgl.
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Güterverteilung unter Bedingungen mäßiger und nicht extremer Knappheit (moderate scarcity) gefunden werden. „Mäßige Knappheit“ bedeutet, dass Bedingungen vorliegen, unter denen ein kooperatives und gerechtes Handeln wechselseitig vorteilhaft ist, und eben dies wäre zweifelhaft, wenn aufgrund widriger Umstände selbst bei bestem Willen und maximalen Anstrengungen aller Beteiligten nicht für alle Gesellschaftsmitglieder subsistenzsichernde Einkommen erreicht werden könnten.51 Diejenigen, die unterhalb der Subsistenzschwelle leben, hätten dann keinen vernünftigen Grund, durchgängig gemeinsamen Regeln sozialer Kooperation und Gerechtigkeitsgrundsätzen zu folgen, wenn sie gegebenenfalls nur durch deren Missachtung ihre eigene Subsistenz sichern und sich von einem Leben in Armut befreien könnten. Wir müssen deshalb, so Hinsch weiter, annehmen, dass gesellschaftliche Güter- und Einkommensverteilungen, die dem Differenzprinzip genügen, mindestens auch subsistenzsichernd sind, und dass in einer nach den Rawls’schen Grundsätzen gerechten Gesellschaftsordnung niemand in moralisch inakzeptabler Armut leben muss.52 Gegen Rawls’ zweiten Vorschlag zu der Sicherung eines sozialen Minimums lassen sich die zuvor genannten Einwände zwar nicht mehr vorbringen. Allerdings bleibt vollständig offen, wie eine Ausgestaltung des sozialen Minimums zu erfolgen hätte. Als eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte man eine weitere Äußerung zur Garantie eines sozialen Minimums verstehen, die sich ebenfalls in PL findet und als eine Präzisierung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes verstanden werden muss: „Insbesondere kann dem ersten Grundsatz, der die gleichen Grundrechte und Freiheiten betrifft, ohne weiteres ein lexikalisch vorrangiger Grundsatz vorangestellt werden, der fordert, daß die Grundbedürfnisse von Bürgern befriedigt werden, jedenfalls insoweit dies eine Bedingung dafür ist, daß Bürger diese Rechte und Freiheiten verstehen und nutzbringend ausüben können. Gewiß müssen wir irgendeinen Grundsatz dieser Art bei der Anwendung des ersten Grundsatzes voraussetzen. […] Ich werde diese und andere Fragen hier jedoch nicht weiter verfolgen.“53
Es erscheint aber nicht ausreichend, das Minimum allein in einer freiheitsfunktionalen Weise zu bestimmen bzw. es erscheint zumindest weiter begründungsbedürftig, weshalb das, was wir allen Menschen in Not schulden, sich allein auf diejenigen Ressourcen und Leistungen belaufen sollte, die es braucht, er sich mit seiner Vorstellung der Anwendungsverhältnisse der Gerechtigkeit an diejenigen David Humes anlehnt (vgl. ebd., 150; vgl. z. B. Hume (1929), Abschn. 3). 51 Vgl. Rawls (1975), 148 ff. Was er unter „mäßiger Knappheit“ versteht, beschreibt Rawls in TG auch wie folgt: „Natürliche und andere Hilfsmittel sind nicht so im Überfluß vorhanden, daß planvolle Zusammenarbeit nicht notwendig wäre; andererseits sind die Bedingungen nicht so hart, daß jede Unternehmung fruchtlos bleiben müßte. Es sind zwar allseitig vorteilhafte Regelungen möglich, doch ihre Früchte bleiben hinter den menschlichen Ansprüchen zurück“ (ebd., 149). 52 Vgl. Hinsch (2001), 66; ders. (2002), 95 f. 53 Rawls (1998), 71 f.
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um die grundlegenden politischen und bürgerlichen Freiheiten auszuüben. Wie in Kapitel A. I. deutlich wurde, hat sich eine solch freiheitsfunktionale Begründung eines menschenwürdigen sozialen Minimums auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bzw. in der deutschen Staatsrechtslehre nicht durchgesetzt.54
54 Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits angemerkt, dass die Diskussion der Frage nach der Übertragbarkeit der hier diskutierten Armutsverständnisse auf den Fall der Kinderarmut ausschließlich für das am Capability-Ansatz ausgerichtete Armutsverständnis erfolgen soll. Denn die Probleme, die mit den in diesem Kapitel diskutierten Ansätzen einhergehen, erscheinen so gravierend, dass sich die Frage nach einer möglichen Übertragbarkeit auf den Fall der Kinderarmut von vorneherein erübrigt. Zwei Probleme, die sich durch eine Übertragung eines an Grundgütern orientierten Armutsverständnisses ergeben würden, sollen hier aber zumindest kurz genannt werden: Es ist dies zum einen das Problem, dass die Rawls’schen Grundgüter, wie z. B. die Grundfreiheiten, von Kindern nicht oder nur in sehr bedingtem Maß genutzt werden können. Zum anderen benötigen Kinder für ein gedeihliches Heranwachsen auch andere Dinge als die von Rawls genannten Güter, wie z. B. liebevolle familiäre Bindungen (vgl. dazu eingehender Macleod (2010), 179 ff.).
F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse Die Diskussion ressourcenorientierter Ansätze in Kapitel E. hat gezeigt, dass man, soll die Explikation des Armutsbegriffs in einer ethisch bzw. moralisch angemessenen Weise erfolgen, offenbar nicht umhin kommt, eine minimale objektive Vorstellung des menschlichen Wohls zu benennen, die zu verwirklichen jeder Hilfsbedürftige in der Lage sein sollte. Armutskonzeptionen, in denen dies geschieht, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: zum einen in diejenigen Konzeptionen, in denen die relevante Größe zu der Erfassung von Armut das tatsächlich verwirklichte Wohl einer Person ist, und zum anderen in diejenigen Konzeptionen, in denen ausschlaggebend ist, ob eine Person dazu befähigt oder in der Lage ist, eine solche Vorstellung des Wohls zu verwirklichen. Der Grundbedürfnisansatz (basic needs approach), wie er etwa von Frances Stewart vertreten wird, ist ein Beispiel für die erste, der von Amartya Sen und Martha Nussbaum vertretene Capability-Ansatz dagegen ein Beispiel für die zweite Art von an dem minimalen Wohl orientierten Ansätzen. In Abschnitt F. I. sollen anhand von Stewarts Ansatz exemplarisch die Stärken und Schwächen von Grundbedürfnisansätzen diskutiert werden.1 In Abschnitt F. II. wenden wir uns dann dem Capability-Ansatz in den Varianten von Sen und Nussbaum zu. Es wird sich zeigen, dass sich aus einer moralischen Perspektive betrachtet der Armutsbegriff am besten mithilfe des Capability-Ansatzes explizieren lässt, da ein an dem Capability-Ansatz orientiertes Armutsverständnis die Vorzüge der zuvor diskutierten Ansätze ebenfalls aufweist, aber deren Probleme zu weiten Teilen vermeidet.
I. Armut als mangelnde Befriedigung von Grundbedürfnissen An den Grundbedürfnissen orientierte Armutsverständnisse sind ebenso wie am Einkommen ausgerichtete Ansätze im Common Sense weitverbreitet. Dies erscheint nur allzu verständlich, denn was – so könnte man fragen – sollte das Vorliegen von Armut anzeigen, wenn nicht die mangelnde Befriedigung von menschlichen Grundbedürfnissen? Auch in der politischen Praxis spielen und spielten Grundbedürfnisansätze eine bedeutende Rolle. Ihren Ausgang nahm die Verbreitung derartiger Armutsverständnisse vor allem durch die Arbeit der International Labour Organization (ILO): Bereits im Jahr 1962 deutete die ILO in der Social 1 Weitere Grundbedürfnisansätze finden sich z. B. in Streeten (1979); ders. (1984); Thomson (1987); Reader (2006a); dies. (2006b); dies. (2007); Wiggins (1998) sowie Streeten et al. (1981).
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F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
Policy (Basic Aims and Standards) Convention den minimalen Lebensstandard, den jeder Mensch erlangen können sollte, im Licht eines Grundbedürfnisansatzes aus.2 Globale Aufmerksamkeit in der Entwicklungsarbeit erhielt der Ansatz auch durch die World Employment Conference der ILO im Jahr 1976 wie auch durch das in diesem Zusammenhang erarbeitete Dokument Employment, Growth and Basic Needs: A One-World Problem, in dem die internationale Strategie zu der Bekämpfung chronischer Armut der ILO auf der Grundlage eines an den Grundbedürfnissen orientierten Armutsverständnisses vorgestellt wurde.3 Die Stärken und Schwächen eines solchen Armutsverständnisses werden im Folgenden anhand des Grundbedürfnisansatzes der Philosophin und Entwicklungsökonomin Frances Stewart exemplarisch diskutiert. Stewart zufolge gilt ein Mensch dann als „arm“, wenn dessen Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind.4 Um eine Befriedigung der Grundbedürfnisse zu erreichen, müssen Menschen bestimmte Grundbedürfnisgüter und -leistungen (basic needs goods and services) zugänglich gemacht werden. Ein Leben, in dem die Grundbedürfnisse Befriedigung gefunden haben, wird von Stewart auch als ein in „minimaler Hinsicht befriedigendes Leben“ (minimally defined satisfactory life) oder „erfülltes Leben“ ( full life) bezeichnet.5 Zu den Grundbedürfnisgütern und -leistungen – im Folgenden werden diese auch abkürzend als „Grundbedürfnisgüter“ bezeichnet – zählt Stewart Nahrungsmittel, den Schutz vor äußeren Einflüssen durch angemessene Bekleidung und Behausung, Wasser, Gesundheitsleistungen sowie den Zugang zu Bildungseinrichtungen. Manchmal werden zu diesen Gütern darüber hinaus auch der Zugang zu Arbeit, politische Partizipation, politische Freiheiten oder die Teilhabe an dem kulturellen Leben gezählt.6 Den Grundbedürfnisgütern kommt, so Stewart weiter, jedoch nur ein instrumenteller Wert zu, und zwar deshalb, weil das, wonach die Menschen letztlich strebten, nicht der Besitz dieser Güter, sondern die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sei: „For example, what is wanted is health, not access to doctors; education, not access to schools; good nutrition, not access to certain quantities of food, while commodities are valued only insofar as particular levels of consumption are necessary for the achievement of the fundamental objective of improving human life. However, if for some reason certain goods were wanted in themselves and not only for their contribution to the full life, they would be objectives too […]. But in the interpretation of the full life adopted here, the basic needs goods are regarded as instrumental for the achievement of a full life.“7 2 Vgl. Social Policy (Basic Aims and Standards) Convention (C117) der International Labour Organization (ILO), URL: http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO:12100:P12100_ILO_CODE:C117, letzter Zugriff: 10. 12. 2016. 3 Vgl. UN Intellectual History Project – Briefing Note Number 8, July 2009, URL: http://www.unhistory.org/briefing/8HumDev.pdf, letzter Zugriff: 10. 12. 2016. 4 Vgl. für das Folgende Stewart (1985) und dies. (1989). 5 Vgl. ebd., 352. 6 Vgl. dies. (1985), 1; dies. (1989), 348. 7 Ebd., 352, 356.
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Die Beziehung zwischen den lediglich instrumentell wertvollen Grundbedürfnisgütern und dem erfüllten Leben, dessen Verwirklichung sie dienen, wird von Stewart mithilfe der sogenannten „Metaproduktionsfunktion“ (metaproduction function) abgebildet: FL = f (f, h, e, s, w …). „FL“ stellt in dieser Funktion den Maßstab für ein „erfülltes Leben“ dar; das „Ausmaß“ eines „erfüllten Lebens“ kann beispielsweise anhand der erreichten Lebenserwartung ermittelt werden. Welche Lebenserwartung vorliegt, wird dann mit Blick auf die Zugänglichkeit der als relevant betrachteten Grundbedürfnisgüter entschieden, wie etwa mit Blick auf den erlangten Schutz vor äußeren Einflüssen (s = shelter), den erreichten Grad der Lese- und Schreibfertigkeit (e = education) oder die Zugänglichkeit von Nahrungsmitteln (f = food), Wasser (w = water) und Gesundheitsleistungen (h = health). Die einzelnen Werte der Metaproduktionsfunktion können zudem auf verschiedenen Aggregationsebenen liegen: So kann mit der „Lebenserwartung“, anhand derer das erreichte Ausmaß an „erfülltem Leben“ ermittelt wird, im Prinzip sowohl die durchschnittlich erreichte Lebenserwartung in einer Gesellschaft als auch die Lebenserwartung eines Individuums gemeint sein. Entsprechend können mit den genannten „Grundbedürfnisgütern“ sowohl die insgesamt in einer Gesellschaft zugänglichen Grundbedürfnisgüter – wie etwa alle in einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Gesundheitsleistungen – als auch die einem einzelnen Individuum oder Haushalt zugänglichen Grundbedürfnisgüter gemeint sein.8 1. Vorzüge der Grundbedürfnisansätze Stewart wendet sich mit ihrem Ansatz gegen ressourcenorientierte Armutsverständnisse, wie sie im vorangegangenen Kapitel E. diskutiert wurden. Sie lehnt diese Ansätze ab, weil sie unberücksichtigt lassen, ob und inwieweit die bereitgestellten Güter und Leistungen den Menschen tatsächlich zu einem erfüllten Leben verhelfen.9 Ein weiteres Problem ressourcenorientierter Ansätze sieht Stewart des Weiteren darin, dass durch die Fokussierung auf Ressourcen leicht aus dem Blick geraten kann, welchen Einfluss die Verteilung der Grundbedürfnisgüter in einer Gesellschaft oder in einem Haushalt auf das Wohlergehen ihrer Mitglieder hat: Womöglich ist die Gesamtversorgung mit Grundbedürfnisgütern in einem Haushalt angemessen, das Wohlergehen der Frauen und Kinder aber beeinträchtigt, weil ihnen aufgrund einer ungünstigen Güterverteilung innerhalb des Haushalts zu wenige Güter zur Verfügung stehen.10 Ein spezifischer Einwand gegen ressourcenorientierte Ansätze ergibt sich aus dem zuletzt genannten Umstand allerdings nicht: Zum einen kann das genannte Problem in ressourcenorientierten Ansätzen vermieden werden, wenn sie mit Grundsätzen einer gerechten Güterverteilung einhergehen. Zum anderen kann das fragliche Problem auch in Grundbedürfnisansätzen auftreten; dies ist immer dann 8 Vgl.
dies. (1985), 5; dies. (1989), 352. dies. (1985), 5; dies. (1989), 354. 10 Vgl. ebd., 355. 9 Vgl.
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der Fall, wenn sich die Variablen für Grundbedürfnisgüter in der Metaproduktionsfunktion und der Index des erfüllten Lebens nicht auf Einzelpersonen, sondern auf aggregierte Größen wie die durchschnittliche Lebenserwartung einer Gesellschaft beziehen. Ein wichtiger Vorzug der an Grundbedürfnissen orientierten Armutskonzeptionen besteht darin, dass sie, anders als ressourcenorientierte Ansätze, den Umstand berücksichtigen, dass individuelle Unterschiede in den persönlichen Eigenschaften und den äußeren Lebensumständen Einfluss darauf haben können, inwieweit eine Person die ihr zugänglichen Ressourcen auch zu der Förderung ihres Wohls – in dem Fall also zu der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse – nutzen kann: Denn welche Güter und Leistungen ein Mensch zu der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse benötigt, kann abhängig von den individuellen Gegebenheiten variieren. Die Metaproduktionsfunktion bringt genau diese Abhängigkeit der Bedürfnisbefriedigung von individuellen Faktoren wie Alter, Geschlecht, körperlicher Verfassung, Bildungsstand oder unterschiedlichen äußeren Lebensumständen zum Ausdruck.11 Des Weiteren gilt, dass die Ermöglichung eines „erfüllten Lebens“ in unterschiedlich effizienter Weise erfolgen kann, und zwar in Abhängigkeit davon, welche Kombinationen von Gütern und Leistungen man Menschen als Hilfeleistungen zur Verfügung stellt: So hat sich gezeigt, dass eine Erhöhung des Bildungsniveaus der Menschen in der Regel zu einer effektiveren Förderung ihrer Gesundheit führt als die bloße Bereitstellung weiterer Mengen an sauberem Trinkwasser. Auch kann sich der durchschnittliche Gesundheitszustand der Menschen in einem Land durch die Einführung von „Barfußärzten“ in einem höheren Maß verbessern als durch die Anstellung weiterer, vergleichsweise teurer „westlicher“ Ärzte.12 Ebenso führt die Bereitstellung von Nahrungsmitteln zu einem besseren Ernährungszustand, wenn gleichzeitig ausreichend sauberes Trinkwasser zugänglich ist, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit von Durchfallerkrankungen verringert wird.13 Blickt man also allein auf die Zugänglichkeit einzelner Güter, wie dies in ressourcenorientierten Ansätzen der Fall ist, gerät die unterschiedliche Effizienz verschiedener Güterkombinationen nicht in den Blick; wird das erreichte Wohlergehen jedoch mithilfe einer Funktion wie der Metaproduktionsfunktion abgebildet, lässt sich die unterschiedliche Effizienz verschiedener Güterkombinationen, die als Hilfeleistungen bereitgestellt werden, in systematischer Weise erfassen. Die zu erbringenden Hilfeleistungen möglichst effizient zu gestalten, erscheint aus zwei Gründen wichtig: Zum einen kann durch die Bereitstellung effizienterer und damit kostengünstigerer Hilfeleistungen bei gleichbleibenden Kosten einer größeren Anzahl an Menschen aus der Armut geholfen werden. Zum anderen ist eine kostengünstige Befriedigung der Grundbedürfnisse wichtig, weil den Pflichtenträgern fairerweise nicht mehr 11
Vgl. ebd., 361 f. Vgl. ebd., 355. 13 Vgl. ebd., 362. 12
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Kosten als nötig auferlegt werden sollten. Über ein Armutsverständnis zu verfügen, in dem die Effizienz von Hilfeleistungen systematisch berücksichtigt werden kann, stellt somit einen weiteren Vorzug von Stewarts Ansatz dar. Nicht zuletzt stellt es einen Vorzug von Grundbedürfnisansätzen dar, dass mit der Vorstellung eines „Bedürfnisses“ (need) gemeinhin eine besondere Dringlichkeit und auch Unumgänglichkeit der Erfüllung eben dieses Bedürfnisses in Verbindung gebracht wird. Der Grund dafür ist, dass Bedürfnisse etwas sind, was wir befriedigen müssen, wenn wir bestimmte Arten von Schädigungen vermeiden möchten.14 Sabina Alkire illustriert dieses Charakteristikum von Bedürfnissen auch anhand des folgenden Beispiels: „A strong sense of need […] seems to refer to things which are required precisely despite what one chooses, and however hard one struggles against the need ([…][for example] Thomás keenly desired to subsist on the pineapples he was picking and send his entire wages home, but then he became very ill. The other pickers told him to buy real food from the canteen or he would be too weak to work at all).“15
2. Problematische Aspekte Eine allgemeine Schwierigkeit von Grundbedürfnisansätzen besteht darin, anzugeben, was ein menschliches Bedürfnis zu einem Grundbedürfnis macht:16 Gehören dazu ausschließlich unsere physischen Bedürfnisse oder auch Dinge wie z. B. das Bedürfnis nach sozialer und kultureller Teilhabe oder nach psychischem Wohlbefinden? Neben dieser qualitativen Frage, welche Bedürfnisse „Grundbedürfnisse“ sind, stellt sich auch die quantitative Frage, in welchem Umfang oder Ausmaß die Befriedigung eines Bedürfnisses noch als die Befriedigung eines „Grundbedürfnisses“ verstanden werden sollte: Eine Mindestausstattung mit Nahrung und Kleidung befriedigt zweifellos menschliche Grundbedürfnisse, aber nicht jede Verbesserung der Ernährung oder Bekleidung einer Person stellt noch eine Befriedigung von Grundbedürfnissen dar. Des Weiteren gilt: Selbst wenn Einigkeit darüber besteht, dass zu den menschlichen Grundbedürfnissen zumindest diejenigen Bedürfnisse gezählt werden müssen, deren Befriedigung für das physische Überleben unerlässlich und damit lebensnotwendig ist,17 bleibt doch in hohem Maß interpretationsbedürftig, was unter der Sicherung des „physischen Überlebens“ verstanden werden sollte. Denn mit dem „physischen Überleben“ kann im Prinzip ebenso das „nackte“ Überleben von Tag zu Tag wie auch das (wahrscheinliche) Erreichen eines bestimmten Lebensalters gemeint sein. Abhängig davon, wie diese Antwort ausfällt, wird aber stark variieren, welche Güter und Leistungen in welchem Umfang als Grundbedürfnisgüter zu betrachten sind: Während es in dem einen Fall womöglich ausreicht, einem Menschen minderwertige Nahrungsmittel 14 Vgl.
Wiggins (1998), 4 ff. Alkire (2002), 163. 16 Vgl. zu dieser Frage z. B. Wiggins (1998). 17 Vgl. Stewart (1989), 348. 15
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zur Verfügung zu stellen, und ihm auf diese Weise die täglich benötige Kalorienzufuhr zugänglich zu machen, wird in dem anderen Fall, wenn beispielsweise eine Lebenserwartung von 70 Jahren angestrebt wird, in aller Regel nicht nur die Bereitstellung einer ausgewogenen Ernährung, sondern auch die Bereitstellung zahlreicher anderer Dinge vonnöten sein. Es stellt sich überdies die Frage, ob es sich beim physischen Überleben tatsächlich um ein an sich erstrebenswertes Gut handelt, wie Stewart und andere dies offenbar annehmen. Zwar ist das physische Überleben eine notwendige Voraussetzung und insofern ein unverzichtbares Mittel zu der Verwirklichung der allermeisten Konzeptionen des menschlichen Wohls, aber damit ist es noch kein an sich erstrebenswertes Gut. Vielmehr erscheint fraglich, ob man es auch dann für erstrebenswert halten würde, am Leben zu bleiben, wenn das Leben dauerhaft nur aus dem schieren Überleben und einem „vor sich hin vegetieren“ bestünde. Auch das Erreichen einer bestimmten Lebenserwartung erscheint nicht um ihrer selbst willen, sondern bloß als Mittel erstrebenswert, um eine möglichst große Zeitspanne zur Verfügung zu haben, in der man seine eigenen Ziele verwirklichen kann. Wäre dies unmöglich, erschiene es fraglich, ob das Erreichen einer bestimmten Lebensdauer noch als erstrebenswertes Ziel betrachtet würde. Versteht man die Befriedigung von Grundbedürfnissen im Sinn der Sicherung des physischen Überlebens und akzeptiert man weiter, dass es sich bei dem physischen Überleben nicht schon um ein als solches erstrebenswertes Ziel handelt, ist der Grundbedürfnisansatz allerdings mit einem Problem konfrontiert, das sich bereits für die ressourcenorientierten Ansätze ergeben hat: Es werden dann keine um ihrer selbst willen erstrebenswerten Ziele mehr benannt, zu deren Verwirklichung jeder Mensch in der Lage sein sollte. Nur im Licht derartiger Ziele, so haben wir bereits in Kapitel E. gesehen, lässt sich aber in einer „sachgerechten“ und „nachvollziehbaren“ Weise entscheiden, welche Güter und Ressourcen einem Menschen als Hilfeleistungen zur Verfügung gestellt werden sollten. Ein weiterer problematischer Aspekt von Stewarts Ansatz ist der folgende: Laut Stewart sollen wir, wenn wir herauszufinden möchten, ob im Leben eines Menschen „Armut“ vorliegt, nicht allein darauf sehen, ob ihm bestimmte lebenswichtige Güter und Leistungen zugänglich sind und er somit dazu in der Lage ist, für sein eigenes Wohl zu sorgen, sondern wir sollen darauf sehen, ob seine Grundbedürfnisse tatsächlich befriedigt sind. Das eigentliche Ziel der Armutsbekämpfung besteht für Stewart somit nicht in der Bereitstellung der für ein in minimaler Hinsicht befriedigendes Leben nötigen Mittel, sondern in der Verwirklichung einer bestimmten Form von Leben: „The objective is a state of life, not the instrumentalities by which this state is realized. Therefore, state-of-life indicators should be the measure of achievement or failure.“18 Die Vorstellung, es gehe in der Armutsbekämpfung darum, sicherzustellen, dass eine bestimmte Art von Leben geführt wird, zieht allerdings ein Problem nach 18
Ebd., 368.
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sich. Denn man könnte den Grundbedürfnisansatz demzufolge als einen Ansatz verstehen, der es im Zweifelsfall erlaubt oder sogar geboten erscheinen lässt, Hilfsbedürftige gegen ihren Willen zu der Verwirklichung bestimmter Wohlergehensziele zu bringen. Oder anders ausgedrückt: Die Frage, ob die Erfüllung der Grundbedürfnisse durch Zwang erreicht wurde oder Menschen ihre Grundbedürfnisse aus freien Stücken befriedigt haben, gerät im Grundbedürfnisansatz nicht in den Blick. Alkire hat dieses Problem auch wie folgt formuliert: „But if we took literally the goal only of ,meeting basic needs‘ and if our objective was to meet needs relating to health, education, sanitation, and shelter, and if country A had higher increases of health, education, sanitation, and shelter than country B, then we would say with utter certainty that the progress in A was better than B. If A had achieved these indicators by oppressive policies (outlawing fasting), we would still have to say that A was better than B (because A had come closer to our objective than B). In order to revise our conclusion consistently, we would need to change our objective.“19
Ein solches Vorgehen würde jedoch bei autonomiefähigen Erwachsenen einen stark paternalistischen und somit ungerechtfertigten Eingriff in deren Leben darstellen. Stewart selbst ist sich darüber im Klaren, dass man zu der Erfassung von Armut statt auf das erreichte Wohl – verstanden als Befriedigung von Grundbedürfnissen – auch darauf sehen könnte, inwieweit jemand in der Lage ist, sein Wohl zu befördern, so wie es in einem an dem Capability-Ansatz orientierten Armutsverständnis der Fall ist (siehe Kap. F. II.).20 Sie entscheidet sich jedoch bewusst dafür, das Ziel der Armutsbekämpfung in dem tatsächlich erreichten Wohl eines Menschen zu sehen, da sie bezweifelt, dass der Vorzug, der sich aus der Erfassung von Armut mithilfe der Capability-Perspektive ergäbe, den damit einhergehenden Mehraufwand bei der Erfassung von Armut aufwiegen würde: „Sen’s ,functioning‘ describes people’s performance with respect to health, nutrition, and so on. […] It is therefore the same as the full life. But […] Sen places prime attention on capabilities – the capability of functioning – rather than functioning itself. […] This is an important difference compared with the basic needs approach which is concerned with what actually happens to people rather than with their capabilities. The metaproduction approach omits the capability step altogether, while for Sen this is the prime objective. The metaproduction function thus relates commodities directly to functioning being the same as the achievement of a full life (health, nutrition, etc.). The intermediary steps of […] capabilities could be incorporated. Whether it is desirable to do so depends on whether the enrichment this would represent would outweigh the additional complexity involved.“21 19
Alkire (2002), 171. Vgl. zur Gemeinsamkeit des Grundbedürfnis- und des Capability-Ansatzes ebenfalls Stewarts Einschätzung: „[…] [W]hat is important is the conclusion – common to both ap proaches – that it is not the commodities which are the objective but their effects on human life […]. Consequently, any review of achievements should not only look at the commodities to which people have access, but must also look at the effects these have on the achievement of a full life“ (Stewart (1989), 354). 21 Ebd., 354. 20
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Das infrage stehende Paternalismus-Problem lässt sich jedoch vermeiden, wenn man die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Frage, ob ein fragliches Grundbedürfnis befriedigt werden sollte oder nicht, ebenfalls als ein „Grundbedürfnis“ betrachtet bzw. diese Freiheit als einen Teil der Befriedigung der Grundbedürfnisse ansieht. Man darf davon ausgehen, dass die meisten Vertreter von Grundbedürfnis ansätzen implizit angenommen haben, dass niemand zu der Verwirklichung der Grundbedürfnisse gezwungen werden sollte. Dennoch zeigen die oben gemachten Ausführungen, dass, solange diese Annahme nicht explizit gemacht wird, in dieser Hinsicht die Gefahr einer Fehlinterpretation des Ansatzes besteht.22 Ändert man den Ansatz in dieser Weise ab, fällt er jedoch strukturell mit dem Capability-Ansatz (siehe Kap. F. II.) zusammen.23 Ein letztes Problem in Bezug auf Stewarts Ansatz besteht in der ungenügenden Berücksichtigung des Unterschieds zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut: Denn Stewart zufolge muss ein Mensch, der die minimale Konzeption des Wohls nicht verwirklicht, als „arm“ gelten, auch wenn er aufgrund seiner Güterund Ressourcenausstattung dazu in der Lage ist, die Konzeption des minimalen Wohls zu verwirklichen. Ein Mensch, der in einer solchen Situation aber darauf verzichtet, ein minimal gutes Leben zu führen, leidet allenfalls an freiwilliger Armut. Der Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Armut kommt in Stewarts Ansatz demnach nicht zum Tragen. Diesen abzubilden erscheint jedoch insofern wichtig, als aus einer moralischen Perspektive im Fall unfreiwilliger Armut weiterer Handlungsbedarf besteht, im Fall freiwilliger Armut dagegen nicht (siehe auch Kap. G. IV.). Nach der zuvor vorgeschlagenen Lesart des Grundbedürfnisansatzes könnte man annehmen, dass diese Unterscheidung deshalb nicht abgebildet wird, weil davon ausgegangen wird, dass derjenige, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigt, im Zweifelsfall dazu gezwungen werden muss, dies zu tun; die Möglichkeit eines Lebens in freiwilliger Armut bestünde demnach nicht. Diese Lesart des Grundbedürfnisansatzes führte aber, wie gesehen, zu dem Problem, dass der Grundbedürfnisansatz gegebenenfalls nicht gerechtfertigte, stark paternalistische Eingriffe erlauben resp. erforderlich machen würde.
II. Armut als Capability-Einschränkung Eine in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen viel diskutierte Explikation des Armutsbegriffs ist der ursprünglich auf den Philosophen und Ökonomen Amartya Sen zurückgehende Capability-Ansatz. Diesem Ansatz zufolge gilt jemand dann als „arm“, wenn er nicht dazu in der Lage bzw. befähigt ist, eine bestimmte Konzeption des minimalen (objektiven) Wohls zu verwirklichen. Ob jemand die minimale Kon22 Vgl.
Alkire (2002), 171 f. für einen Vergleich des Capability-Ansatzes mit Grundbedürfnisansätzen mit einer Wahl zugunsten des Letzteren z. B. Reader (2006b). Ein Versuch einer Verbindung des Grundbedürfnisansatzes von Wiggins (vgl. Wiggins (1998)) und dem Capability-Ansatz findet sich in Alkire (2002), Kap. 5. 23 Vgl.
II. Armut als Capability-Einschränkung
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zeption des Wohls tatsächlich verwirklicht oder nicht, spielt dagegen keine Rolle. Angewendet bzw. weiterentwickelt wird der Capability-Ansatz in der Ökonomie, in der Philosophie, in der Soziologie, in den Politik- und Erziehungswissenschaften sowie in der politischen Praxis. In Letzterer wird er beispielsweise im Human Development Report des UNDP zur Erfassung der Lebensqualität in verschiedenen Ländern genutzt;24 auch in den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung fand der Capability-Ansatz zum Teil bereits Verwendung. In diesem Kapitel werden zum einen die Grundzüge des Capability-Ansatzes dargelegt. Zum anderen wird deutlich werden, dass ein am Capability-Ansatz orientiertes Armutsverständnis die Vorzüge der bisher diskutierten Konzeptionen im Wesentlichen beibehält, deren Probleme aber zu weiten Teilen vermeidet. In seinen Grundzügen vorgestellt und diskutiert wird der Ansatz exemplarisch mit Blick auf die Ansätze von Amartya Sen und Martha Nussbaum, die dessen bekannteste Vertreterinnen darstellen.25 1. Die Grundzüge des Capability-Ansatzes Der Capability-Ansatz ist seinem Kern nach nichts anderes als eine Reihe normativer Annahmen darüber, mithilfe welcher Grundbegrifflichkeiten die Lebensqualität von Personen beschrieben und bewertet werden soll. Die grundlegende normative Annahme des Ansatzes besagt, dass Ungleichheiten hinsichtlich der Lebensqualität, die aus Gründen der Humanität oder Gerechtigkeit beseitigt werden sollen, mit Blick auf das Capability-Set von Personen erfasst werden sollten.26 Unter einem „Capability-Set“ versteht Sen die Menge von „Functioningkombinationen“, die ein Mensch im Licht seiner persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände zu verwirklichen in der Lage ist, wobei unter „Functionings“ Tätigkeiten (doings) und Eigenschaften (beings) zu verstehen sind, die erstrebenswert und für die Lebensqualität eines Menschen wesentlich sind.27 Bei den infrage stehenden Eigenschaften (beings) kann es sich sowohl um manifeste persönliche Eigenschaften (z. B. wohlgenährt oder angemessen gekleidet sein) als auch um Dispositionen (z. B. mutig oder psychisch resistent sein) wie auch um bestimmte Fähigkeiten (z. B. die Lese- und Schreibfähigkeit) einer Person handeln. Bei24 Vgl. Human Development Reports – United Nations Development Programme (UNDP), Human Development Index (HDI), URL: http://hdr.undp.org/en/statistics/hdi/, letzter Zugriff: 22. 07. 2015. 25 Der Frage, ob und inwiefern der Capability-Ansatz über bestehende Konzepte zu der Erfassung von Armut in anderen Disziplinen wie in der Soziologie oder der Ökonomie hinausgeht, wird in dieser Arbeit nicht nachgegangen. Eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Soziologie und Capability-Ansatz findet sich in Robeyns (2006), 370 f.; eine verständliche Einführung zu der Frage, inwiefern der Capability-Ansatz eine Neuerung in der Ökonomie darstellt, findet sich in Neuhäuser (2013). Ein Vergleich zwischen dem auf den Sozialwissenschaftler Gerhard Weisser zurückgehenden „Lebenslagenansatz“ und dem Capability-Ansatz findet sich in Leßmann (2006) und (2007). 26 Vgl. Sen (1985), 208. 27 Vgl. ebd., 197 f., ders. (1992), 39 f., ders. (1993), 36 f.
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spiele für Tätigkeiten (doings) sind Spazierengehen, Eis essen, das Waschpulver „Bloppo“ verwenden, Basketball spielen oder die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Jeder Mensch realisiert zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz unzählig viele Functionings resp. eine bestimmte Functioningkombination. Als Übersetzung für „Functioning“ finden sich in deutschen Texten Ausdrücke wie „Funktion“28, „Tätigkeit“ oder „Tätigsein“29. Die beiden zuletzt genannten Übersetzungen erscheinen insofern problematisch als Functionings nicht ausschließlich Tätigkeiten sind, sondern es sich dabei auch um persönliche Fähigkeiten und Dispositionen sowie ganz allgemein um jegliche Art von Merkmalen einer Person handeln kann. Aber auch „Funktion“ erscheint als Übersetzung unglücklich, weil das, was Sen als „Functioning“ bezeichnet, keine Funktion im mathematischen Sinn ist. Allenfalls können Functionings als Wert einer Funktion oder als Ergebnis der Aktualisierung einer Funktionsweise verstanden werden. Die Übersetzung von „Functioning“ durch „Funktion“, „Funktionieren“, „Funktionsfähigkeit“ oder auch „Arbeitsweise“ erscheint ebenfalls unbefriedigend, da dies die Vermutung nahelegt, es gehe im Capability-Ansatz letztendlich darum, wie gut ein Mensch in der Lage ist, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, zu arbeiten oder zu „funktionieren“. Im Deutschen verwenden wir diese Ausdrücke aber üblicherweise nur in Kontexten, in denen es um die Arbeitswelt geht, oder dann, wenn die Rede von Maschinen, nicht aber von Menschen ist. Sabina Alkire und Rufus Black bemängeln aus ähnlichem Grund Sens englischen Ausdruck „Functioning“: „[…] ,functioning‘ suggests an unduly mechanistic account of the human person“30. Sie schlagen deshalb vor, statt von „Functionings“ von „Dimensions of Human Flourishing“ zu sprechen.31 Aus Ermangelung einer geeigneteren Übersetzung als den zuvor genannten wird der Ausdruck „Functioning“ im Folgenden weiterhin im englischen Original verwendet. Nicht alles, was wir als „Functioning“ bezeichnen können, ist nun auch ein konstitutives Element des menschlichen Wohls oder des menschlichen Gedeihens (human flourishing) und für die Erfassung sozialer Ungleichheiten von Relevanz. Darauf haben Charles Beitz und Bernard Williams bereits in den 1980er Jahren hingewiesen: So sei es für die Erfassung sozialer Ungleichheiten etwa nicht von Belang, ob jemand Basketball spiele32 oder zum Waschen seiner Wäsche das Waschpulver „Bloppo“33 verwende; beide Tätigkeiten können jedoch der Sen’schen Terminologie zufolge als „Functioning“ bezeichnet werden. Sen streitet dies auch nicht ab, sondern hat selbst darauf verwiesen, dass für jeden theoretischen Kontext eigens festgestellt werden müsse, welche Functionings jeweils als relevant zu betrachten seien. Überdies stelle die Notwendigkeit, diesbezüglich eine Auswahl zu treffen, kein Problem dar, mit dem nur der Capability-Ansatz konfrontiert sei: 28
Heinrichs (2006); Leßmann (2007). Nussbaum (2010), übers. v. Celikates/Engels. 30 Alkire/Black (1997), 268. 31 Vgl. ebd.; Alkire (2002), 52. 32 Vgl. Beitz (1986), 287. 33 Vgl. Williams (1987), 98 ff. 29
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„The need for selection and discrimination is neither an embarrassment, nor a unique difficulty, for the conceptualization of functionings […].“34 „Some functionings may be easy to describe, but of no great interest in most contexts (e.g. using a particular washing powder – like other washing powders […]).“35 „In the context of some types of welfare analysis, e. g. in dealing with extreme poverty in developing economies, we may be able to go a fairly long distance in terms of a relatively small number of centrally important functionings […]. In other contexts, including more general problems of economic development, the list may have to be much longer and much more diverse […].“36
Nicht jedes „Functioning“ stellt also eine „Dimension des menschlichen Gedeihens“ bzw. ein „Element des menschlichen Wohls“ dar. Dennoch gilt Sen zufolge umgekehrt, dass es für die Frage, wie gut ein Mensch hinsichtlich seines Wohls gestellt ist, stets ausschlaggebend ist, welche Tätigkeiten er ausübt und über welche Eigenschaften er verfügt. Es sind also stets Functionings, die konstitutiv für das menschliche Wohl sind: „The well-being of a person can be seen in terms of the quality (the ,well-ness‘, as it were) of the person’s being. Living may be seen as consisting of a set of interrelated ,functionings‘, consisting of beings and doings. A person’s achievement in this respect can be seen as the vector of his or her functionings. […] The claim is that functionings are constitutive of a person’s being, and an evaluation of well-being has to take the form of an assessment of these constituent elements.“37
Sen und andere Vertreter des Capability-Ansatzes betrachten es als einen Vorzug des Ansatzes, dass er bei der Beschreibung und der Messung von Wohlergehen nicht bei den für das menschliche Wohl instrumentell nötigen äußeren Gütern und Ressourcen stehen bleibt, sondern die Functionings, die für dieses Wohl konstitutiv und intrinsisch wertvoll sind, ins Zentrum stellt: „It is easy to see that the well-being of a person must be thoroughly dependent on the nature of his or her being i. e. on the functionings achieved. Whether a person is well-nourished, in good health, etc. must be intrinsically important for the wellness of that person’s being.“38
Ein weiterer zentraler Ausdruck des Capability-Ansatzes, den es näher zu erläutern gilt, ist der der „Capability“ selbst. Eine „Capability“ besitzt ein Mensch diesem Ansatz zufolge, wenn er im Licht seiner persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände zu der Verwirklichung eines Functionings bzw. einer oder mehrerer Functioningkombinationen in der Lage ist. „Capability“ lässt sich im Deutschen am besten mit „Befähigung“ übersetzen. Die Ausdrücke „(Verwirklichungs-)Mög34
Sen (1992), 44.
35 Ebd. 36
Ebd., 44 f. 39. 38 Ebd., 40, Hervorhebungen TM; vgl. auch Nussbaum (2000a), 74, 149. 37 Ebd.,
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lichkeit“39 oder „(Funktions-)Fähigkeit“40 sind dagegen ungeeignet: „Fähigkeit“ rekurriert nur auf die persönlichen Eigenschaften eines Menschen, während der Ausdruck „Möglichkeit“ nur auf dessen äußere Umstände verweist. Der Ausdruck „Befähigung“41 umfasst dagegen beide Aspekte.42 Es wurde gesagt, dass ein Mensch eine Capability besitzt, wenn er im Licht seiner persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände entweder zu der Verwirklichung eines Functionings oder einer resp. mehrerer Functioningkombinationen in der Lage ist. Es gibt demnach also zwei Verwendungsweisen, in denen der Ausdruck „Capability“ verwendet wird: In der einen Verwendungsweise ist eine Capability nur auf ein einzelnes Functioning (z. B. „gut ernährt zu sein“) gerichtet; die entsprechende Capability zu besitzen bedeutet dann, über die nötigen persönlichen Eigenschaften wie auch über die nötigen äußeren Umstände zu verfügen, um ein fragliches Functioning zu realisieren.43 Ob ein Mensch zur Verwirklichung eines einzelnen Functionings befähigt ist, ist allerdings genau genommen nicht das, worum es im Capability-Ansatz letztendlich geht. Es ist vielmehr die Frage von Interesse, zur Verwirklichung welcher Functioningkombinationen ein 39
Leßmann (2007). Pauer-Studer (1999); Nussbaum (2010), übers. v. Celikates/Engels. 41 Heinrichs (2006), 172. 42 Auch die Übersetzung von Capability als „Verwirklichungschance“ (Volkert (2005)) ist mit dem Problem behaftet, dass damit nur auf die äußeren Möglichkeiten oder Umstände eines Menschen verwiesen wird, um die es im Capability-Ansatz aber nicht alleine geht, wie auch die Übersetzung mit „Vermögen“ (Nussbaum (2002), 45, übers. v. Schulte) abermals einseitig auf die persönlichen Eigenschaften eines Menschen abhebt und die für das Wohlergehen relevanten äußeren Lebensumstände außen vor lässt. An dieser Stelle sollte überdies darauf hingewiesen werden, dass Nussbaum den Ausdruck „Capability“ an einigen Stellen auch in einer etwas anderen Weise als der gerade genannten verwendet und dann drei Arten von „Capabilities“ unterscheidet: „Basic Capabilities“, „Internal Capabilities“ und „Combined Capabilities“. „Basic Capabilities“ sind die Anlagen, um die für das Menschsein relevanten Fähigkeiten und Eigenschaften überhaupt entwickeln zu können. „Internal Capabilities“ sind dagegen die entwickelten „Basic Capabilities“. Einige der für das Menschsein relevanten Eigenschaften und Fähigkeiten entwickeln sich praktisch von allein, wie etwa die Fähigkeit zu sexuellem Kontakt. Die Fähigkeit zu lesen kann dagegen nur durch Unterstützung von außen entwickelt werden. Wieder andere Capabilities, so Nussbaum, sind dagegen praktisch von Geburt an entwickelt, wie eben die Fähigkeit zu sehen. Über eine „Combined Capability“ – in früheren Schriften manchmal auch als „External Capability“ (dies. (1999b), 106 ff.) bezeichnet – zu verfügen, bedeutet wiederum, über eine infrage stehende „Internal Capability“ wie auch über die zu deren Ausübung nötigen äußeren Umstände zu verfügen (vgl. dies. (2000a), 84 f.). Im Folgenden werde ich diese Unterscheidungen von Nussbaum außer Acht lassen. Wenn im Folgenden von einer „Capability“ die Rede ist, dann nur in dem oben beschriebenen Sinn, dem die „Combined Capability“ entspricht. 43 Ein Beispiel für die Verwendung von „Capability“ in diesem ersten Sinn bietet beispielsweise die folgende Passage aus Sens Inequality Reexamined: „There is no escape from the problem of evaluation in selecting a class of functionings – and in the corresponding description of capabilities“ (Sen (1992), 44). Jedem einzelnen „Functioning“ korrespondiert diesem Zitat zufolge offenkundig eine „Capability“. 40
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Mensch in der Lage ist und ob darunter diejenige Functioningkombination ist, die in dem jeweiligen Kontext als relevant für das menschliche Wohl betrachtet wird. Denn das menschliche Wohl wird im Capability-Ansatz stets als etwas angesehen, das nicht nur aus einem einzelnen, sondern aus mehreren Functionings besteht. Verfügt jemand über eine „Capability“ in diesem zweiten Sinn, ist damit also gemeint, dass ein Mensch über die nötigen persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände verfügt, um eine (oder auch mehrere) Functioningkombinationen zu verwirklichen.44 In dem Fall, in dem man mit „Capability“ die Menge aller Func tioningkombinationen bezeichnet, die ein Mensch zu verwirklichen in der Lage ist, fällt „Capability“ mit dem zusammen, was wir eingangs als „Capability-Set“ bezeichnet haben. Wie gut jemand für sich resp. im Vergleich zu anderen gestellt ist, wird im Capability-Ansatz also mit Blick darauf entschieden, ob und inwieweit die für das Wohl eines Menschen als relevant betrachtete Functioningkombination ein Bestandteil des Capability-Sets dieses Menschen ist bzw. – wie man alternativ auch sagen könnte – mit Blick darauf, ob er die Capability besitzt, die als relevant betrachtete Functioningkombination zu realisieren. Die Unterscheidung zwischen „Capability“ im Sinn einer Befähigung zu der Verwirklichung eines einzelnen Functionings und „Capability“ im Sinn einer Befähigung zu der Verwirklichung von Functioningkombinationen ist keine formale Spitzfindigkeit, sondern sowohl theoretisch als auch praktisch bedeutsam. Jemand mag mit Blick auf seine Ressourcen in der Lage sein, sich ausreichend zu ernähren und er mag alternativ ebenfalls in der Lage sein, sich angemessen zu kleiden. Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass seine Ressourcen auch ausreichen, um beides zu tun. Praktisch ist dies für die Armutserfassung und die Armutsbekämpfung gleichermaßen von Bedeutung: Denn freilich benötigen wir weniger Ressourcen, wenn wir einen Menschen lediglich in die Lage versetzen wollen, jeweils eines oder einige der als relevant betrachteten Functionings zu verwirklichen, als wenn wir ihn dazu befähigen wollen, alle Functionings, die für das Wohl eines Menschen in dem fraglichen Kontext relevant sind, gleichermaßen zu verwirklichen. Im Folgenden werde ich „Befähigung“ oder „Capability“ in beiden Verwendungsweisen nutzen; man sollte den Unterschied jedoch stets im Sinn behalten.45 44 Vgl. ders. (2009), 233, Fn.*. Wörtlich heißt es dort: „Even though it is often convenient to talk about individual capabilities (seen in terms of the ability to achieve the correspond ing individual functioning), it is important to bear in mind that the capability approach is ultimately concerned with the ability to achieve combinations of valued functionings. There may be, for example, a trade-off between a person’s capability to be well nourished and her capability to be well sheltered (poverty may make such difficult choices inescapable), and we have to see the person’s overall capability in terms of combined achievements that are open to her. And yet it is often convenient to talk about individual capabilities (with some implicit assumption about the fulfillment of other demands), and I shall do that from time to time, for the simplicity of presentation, in what follows“ (ebd., Fn.*). 45 Sen spricht manchmal statt von „Capability“ auch von der „positiven Freiheit“ (positive freedom), der „tatsächlichen Möglichkeit“ (real opportunity), oder der „substanziellen Freiheit“ (substantive freedom), etwas zu tun und zu sein (ders. (1984), 78 ff.; ders. (1997b),
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Wie zuvor gesehen, geht es im Capability-Ansatz darum, intrinsisch wertvolle Komponenten des menschlichen Wohls zu benennen, wobei in verschiedenen Kontexten verschiedene Elemente von Belang sein können. Nicht alles, was wir als „Functioning“ bezeichnen können, ist aber – wie gesehen – um seiner selbst willen erstrebenswert. Dennoch spielen auch instrumentell wertvolle Functionings im Capability-Ansatz eine Rolle, sofern ihre Verwirklichung ein Mittel zur Förderung eines oder mehrerer an sich wertvoller Functionings darstellt: So ist etwa die Wasseraufnahme in der Terminologie des Capability-Ansatzes ein Functioning. Die Verwirklichung dieses Functionings stellt ein notwendiges Mittel dar, um am Leben zu bleiben, was wiederum die Voraussetzung für die Verwirklichung aller anderen instrumentell oder an sich wertvollen Functionings ist.46 Umgekehrt können diejenigen Functionings, die um ihrer selbst willen erstrebenswert und konstitutiv für das menschliche Wohl sind, gleichzeitig Mittel zur Verwirklichung anderer – intrinsisch oder bloß instrumentell wertvoller – Functionings sein: So mag man Gesundheit vielleicht als an sich erstrebenswertes Functioning betrachten; Gesundheit stellt jedoch zweifelsohne auch ein Mittel zur Verwirklichung vieler anderer Functionings dar.47 Generell gilt, dass eine Capability zur Verwirklichung eines oder mehrerer Functionings stets nur dadurch zustande kommt, dass bereits ein oder mehrere andere Functionings verwirklicht sind.48 Auf wie vielfältige Weise die Verwirklichung verschiedener Functionings miteinander im Zusammenhang stehen kann, illustriert Nussbaum auch anhand des folgenden Beispiels: „At the same time, the items on the list are related to one another in many complex ways. One of the most effective ways of promoting women’s control over their environment, and their effective right of political participation, is to promote women’s literacy. Women who can seek employment outside the home have exit options that help them protect their bodily integrity from assaults within it. Reproductive health is related in many complex 393, 395; ders. (2009), 19). Mit Blick auf die Capability, das eigene Wohlergehen zu befördern, verwendet er auch den Ausdruck „Well-Being Freedom“ (ders. (2006), 91). In der deutschsprachigen Diskussion wird dieser Ausdruck auch übersetzt mit „Wohlfahrtschancen“ (Hinsch (2002)), „Freiheit, Wohlergehen anzustreben“ (Heinrichs (2006)) oder „Freiheit zu Wohlergehen“ (Leßmann (2007)). „Wohlfahrtschance“ erscheint insofern nicht ganz treffend, als auch hier gilt, dass der Ausdruck „Chance“ allein auf die äußeren Umstände für die Verwirklichung von etwas rekurriert. Auch „Freiheit, Wohlergehen anzustreben“ stellt keine ganz glückliche Übersetzung dar. Denn wenn wir im Deutschen sagen, dass ein Mensch die Freiheit besitzt, etwas zu tun, denken wir vor allem daran, dass es der Person erlaubt ist, eine bestimmte Sache zu tun oder zu unterlassen, nicht aber daran, dass er auch über die zu der Verwirklichung dieser erlaubten Sache nötigen Fähigkeiten und äußeren Umstände verfügt. Dieses Problem besteht allerdings auch für den englischen Ausdruck „Well-Being-Freedom“ selbst. Um dieses Problem zu vermeiden, erscheint Sens Rede von „positiver Freiheit“ (positive freedom) hilfreich zu sein, die er gerade in dem Sinn versteht, dass ein Mensch im Licht seiner persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände dazu in der Lage ist, die infrage stehende erlaubte Sache auch zu tun. 46 Vgl. Clark (2005), 1349 f., 1360 f. 47 Vgl. Robeyns (2005a), 95. 48 Vgl. Wolff/de-Shalit (2013), 162.
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ways to practical reason and bodily integrity. This gives us still more reason to avoid promoting one at the expense of the others.“49
Abschließend lässt sich die Kernaussage des Capability-Ansatzes in Sens Worten demnach auch wie folgt zusammenfassen; Sen zufolge ist der Ansatz: „[…][A] particular approach to well-being and advantage in terms of a person’s ability to do valuable acts or reach valuable states of being. […] The approach is based on a view of living as a combination of various ,doings and beings‘, with quality of life to be assessed in terms of the capability to achieve valuable functionings.“50
Oder noch einmal anders ausgedrückt: Wie gut ein Mensch gestellt ist, wird im Capability-Ansatz mit Blick darauf entschieden, inwieweit dessen Capability-Set die für das menschliche Wohl als relevant betrachtete Kombination an Functionings enthält. Eine Schwierigkeit, die sich bei der praktischen Anwendung des Ansatzes stellt, besteht darin, dass Capability-Sets als Mengen realisierbarer Functioningkombinationen nicht direkt beobachtbar sind. Welche Functioningkombinationen zu dem Capability-Set einer Person gehören, muss vielmehr aus den persönlichen Merkmalen der fraglichen Person (ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und Dispositionen) sowie deren äußeren Lebensumständen erschlossen werden: „In fact, the capability set is not directly observable, and has to be constructed on the basis of presumptions (just as the ,budget set‘ in consumer analysis is also so constructed on the basis of data regarding income, prices and the presumed possibilities of exchange).“51
Gleiches gilt für die einzelnen Capabilities. Sen gesteht zu, dass wir aufgrund dieser Schwierigkeit bei der Beantwortung der Frage, wie gut ein Mensch gestellt ist, manchmal der Einfachheit halber nicht auf das Capability-Set, sondern auf die tatsächlich verwirklichten Functionings einer Person blicken werden.52
49
Nussbaum (2000a), 81. Sen (1993), 30 f. 51 Ders. (1992), 52. 52 Ebd. Wörtlich heißt es bei Sen beispielsweise: „[…] [W]e must distinguish between what becomes acceptable on grounds of practical difficulties of data availability, and what would be the right procedure had one not been so limited in terms of information. In arguing for the importance of the capability set in the analysis of achieved well-being, we are not closing our eyes to the practical problems of informational availability, nor to the value of the second-best analysis that we can do even with limited data. But it is also important to be quite clear as to what data, in principle, can be relevant and useful, even though in many cases we might not be able to get them. Practical compromises have to be based with an eye both to (1) the range of our ultimate interests, and (2) the contingent circumstances of informational availability“ (ebd., 52 f.). Vgl. weiterführend zu der Frage, wie sich Capabilities resp. Functionings in der Praxis „messen“ resp. sich der Capability-Ansatz umsetzen lässt z. B. Kuklys (2005); Comim et al. (2008). Praktisch angewendet wurde der Capability-Ansatz zudem von Alkire zu der Erfassung von Fortschritten in der Entwicklungshilfearbeit (vgl. Alkire (2002)). Ein Überblick über weitere Studien, die die praktische Umsetzung 50
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Soll der Capability-Ansatz praktische Anwendung finden, sind des Weiteren präzise Angaben darüber vonnöten, unter welchen Umständen wir von einer Person sagen können, dass sie über eine bestimmte Capability verfügt. Dass dies unter Umständen nicht so einfach ist und es manchmal sogar problematisch erscheint, eine klare Abgrenzung zwischen dem Besitz einer „Capability“ und der Verwirklichung eines „Functionings“ vorzunehmen, verdeutlichen Jonathan Wolff und Avner de-Shalit anhand des folgenden Beispiels: „[…] [W]hen do I have a capability for affiliation, for example? Suppose I move on my own to a new town, but there are many opportunities for meeting new people. There is a community centre, evening classes, hobby clubs, political meetings, support groups, and so on. But I have not done anything to take advantage of these opportunities and I spend my free time alone. Do I have the capability for affiliation or not? I do in the sense that I could achieve it if I chose, and worked at it for a while. Or suppose I live in a town where there are none of these things, but I could easily move to the town with the facilities just mentioned. Do I still have the capability? Or, on the contrary, do we want to say that actually I only have the capability when I do in fact have a social network? If so, then the distinction between capability and functioning appears to have collapsed […]. If we deny this identification then we need to say at what point the opportunity is too remote to constitute a capability. The more remote, the less valuable an unrealized capability; the less remote, the less we can insist on a clear distinction.“53
Im Folgenden werde ich nicht versuchen, eine solche Präzisierung vorzunehmen; es soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass es einer solchen bedarf, will man den Capability-Ansatz praktisch anwenden. Um in der Sozialpolitik Anwendung zu finden, muss der Capability-Ansatz überdies um weitere Elemente ergänzt werden, da er für sich genommen keine vollständige Gerechtigkeitstheorie und auch keine vollständige Armutskonzeption darstellt. Er ist vielmehr ein Modul, das sich mit den nötigen Anpassungen und Ergänzungen in verschiedene normative Theorien und Konzeptionen integrieren lässt: „First, the capability approach points to an informational focus in judging and compar ing overall individual advantages, and does not, on its own, propose any specific formula about how that information may be used. Indeed, different uses may emerge depending on the nature of the questions that are being addressed (for example, policies dealing respectively with poverty, or disability, or cultural freedom) and, more practically, on the availability of data and of informative material that can be used. The capability approach is a general approach, focusing on information on individual advantages, judged in terms of opportunity rather than a specific ,design‘ for how a society should be organized. A number of very distinguished contributions have been made by Martha Nussbaum and others in recent years on matters of social assessment and policy through powerful use of the capability approach. The fullness and definitive achievements of these contributions have to be distinguished from the informational perspective on which they are based. des Capability-Ansatzes zum Gegenstand haben, findet sich etwa in Robeyns (2000) und (2006). 53 Wolff/de-Shalit (2013), 162.
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The capability perspective does point to the central relevance of the inequality of capabilities in the assessment of social disparities, but it does not, on its own, propose any specific formula for policy decisions.“54
In der Ethik kann der Capability-Ansatz beispielsweise zur Charakterisierung des „höchsten Guts“, nach dessen Verwirklichung alle Menschen streben sollen, in Theorien der Verteilungsgerechtigkeit als Grundlage für interpersonelle Vergleiche und in Armutskonzeptionen zur Explikation unserer Vorstellungen von einem Leben frei von Armut genutzt werden. Als Modul in einer normativen Armutskonzeption läuft der Capability-Ansatz seinem Kern nach darauf hinaus, dass derjenige als „arm“ zu betrachten ist, der nicht zu der Verwirklichung der für das minimale menschliche Wohl konstitutiven Kombination an Functionings befähigt ist. Ein Mensch, der zur Verwirklichung des minimalen Wohls in der Lage ist, gilt dem Capability-Ansatz zufolge auch dann nicht als „arm“, wenn er diese Konzeption des Wohls nicht verwirklicht.55 2. Die Notwendigkeit einer objektiven Bestimmung der Komponenten des Wohls Damit der Capability-Ansatz in der Sozialpolitik Anwendung finden kann, braucht es des Weiteren eine Antwort auf die Frage, welche konkreten Functionings in einer Armutskonzeption oder auch in einer Theorie der Gerechtigkeit im weiteren Sinn als konstitutive Bestandteile des Wohls betrachtet werden sollen. Ein Charakteristikum des Ansatzes, so wie ihn Sen und Nussbaum verstehen, besteht darin, dass die Bestimmung dieser Functionings in einer Weise erfolgen muss, die wir in Kapitel C. II. als „objektiv“ bezeichnet haben: „In that sense, Sen’s capability approach is an objective theory of the good, since quality of life evaluation implies a substantive judgement of what makes life better […] Things or states of affairs, like being able to be healthy or being able to pursue knowledge, have intrinsic value, independently of whether they affect people’s subjective preferences. […] Things are not good because they are desired but because they are part of an objective conception of human flourishing.“56
54
Sen (2009), 232; vgl. ähnlich Robeyns (2005a), 94. Capability-Ansatz als begrifflichen Rahmen zu der Messung von Wohlergehen zu verstehen, hat Qizilbash auch als die „dünne“ oder „schwache“ (thin) Verständnisweise des Capability-Ansatzes bezeichnet. Um eine starke (thick) Verständnisweise des „Capability-Ansatzes“ handelt es sich Qizilbash zufolge dagegen dann, wenn wir damit eine spezielle Ausformung des Ansatzes bezeichnen, in der nicht nur die dem Ansatz eigene Metrik zu der Erfassung von Wohlergehen verwendet wird, sondern weitere Elemente hinzugefügt werden, wie beispielsweise eine spezielle Vorgehensweise, um die Elemente des Wohls ausfindig zu machen (vgl. Qizilbash (2007), 170; ders. (2011a), 28 ff.). Sowohl Nussbaum als auch Sen haben solche Erweiterungen zu einer „starken“ Konzeption des Capability-Ansatzes vorgenommen (vgl. dazu den weiteren Verlauf dieses Kapitels). 56 Deneulin (2002), 500. 55 Den
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Der Grund dafür besteht darin, dass der Capability-Ansatz – darauf haben Sen und Nussbaum wiederholt hingewiesen – das Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen der subjektiven Armutsverständnisse (siehe Kap. C. II. 2.) vermeiden soll.57 Dieses Problem lässt sich aber offenbar nur durch eine objektive Bestimmung der Elemente des menschlichen Wohls umgehen.58 Dies bedeutet wiederum, dass das, was das minimale menschliche Wohl ausmacht, den Menschen in einem an dem Capability-Ansatz orientierten Armutsverständnis durch andere vorgegeben wird. Nussbaum zufolge ist der Ansatz allerdings dennoch nicht mit einem Paternalismus-Problem konfrontiert:59 Schließlich werde niemand gezwungen, die fragliche objektive Konzeption des Wohls auch zu verwirklichen; worum es im Capability-Ansatz allein gehe, sei, die Menschen dazu zu befähigen, eine bestimmte Art von Leben zu führen. Solange die Ansprüche anderer nicht verletzt werden, stehe es den Menschen – so Nussbaum weiter – vielmehr frei, ihren eigenen Wünschen und Präferenzen gemäß zu leben, und zwar selbst dann, wenn diese unklug oder unvernünftig seien:60 „The political conception makes room for […] inadequate desires and respects them, and choices motivated by them, by protecting spheres of choice and aiming at capability rather than functioning. In these ways, it aims to avoid the charge of paternalism, and to respect persons even when they are not wise.“61
Dafür, dass man in dieser Weise verfahren sollte, führt Nussbaum zwei Gründe an: „The reason for proceeding in this way is, quite simply, the respect we have for people and their choices. Even when we feel confident that we know what a flourishing life is, and that a particular function plays an important role in it, we do not respect people when we dragoon them into this functioning. We set the stage and, as fellow citizens, present whatever arguments we have in favor of a given choice; then the choice is up to them. A subsidiary argument can also be made, suggested by my remark about celibacy. If people do not have choices, and do what they do because of requirements, their actions may no longer have the same worth, and may in effect be different functions. […] This is a supporting argument; the primary argument is the argument from respect for persons.“62
57 Vgl.
Nussbaum (2000a), 8, 149; Sen (1980), 214 f.; ders. (1992), 55. Nussbaum (1988), 176; dies. (1999b), 120 f.; dies. (2000a), 114. 59 Wörtlich heißt es in Women and Human Development: „I shall argue that the problem of preference-deformation makes a welfarist approach unacceptable as the basis for a normative theory of political principles; we need a substantive account of central political goods, of the sort the capabilities approach gives us. Recognizing the phenomenon of adaptive preferences-formation does not entail an unacceptable type of paternalism, if this recognition is combined with a version of political liberalism and a focus on capabilities (not actual functions) as political goals“ (dies. (2000a), 8). 60 Vgl. dies. (1998a), 336; dies. (2000a), 154, 160 f. 61 Dies. (2000a), 161. 62 Ebd., 88. 58 Vgl.
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Damit eine Gesellschaft minimal gerecht ist, muss also nicht gewährleistet werden, dass jeder Mensch die fragliche Functioningkombination auch tatsächlich verwirklicht; was in einer gerechten Gesellschaft sichergestellt werden muss, ist Nussbaum zufolge, dass die Menschen über die relevanten Befähigungen verfügen.63 Die Frage, ob der Capability-Ansatz tatsächlich frei von jeglichem Paternalismus-Vorwurf ist, wie Nussbaum dies annimmt, wird in Kapitel G. II. diskutiert. 3. Die Bestimmung der Komponenten des Wohls in Sens Konzeption Anders als Nussbaum hat Sen stets darauf verzichtet, eine Liste mit Functionings zu benennen, die als relevant für die Erfassung des Wohls eines Menschen betrachtet werden sollten, was vielfach bedauert und bemängelt wurde.64 In hohem Maß zugespitzt formuliert auch Nussbaum diesen „Unbestimmtheitseinwand“ (indeterminacy objection65) gegen Sens Variante des Capability-Ansatzes, wenn sie schreibt: „One cannot have a conception of social justice that says, simply, ,All citizens are entitled to freedom understood as capability‘.“66 Was wir den Vertretern dieses Einwands zufolge tun müssen, ist, eine Kombination an Functionings zu benennen, zu deren Verwirklichung jeder Mensch befähigt werden sollte, soll eine Gesellschaft sozial gerecht sein. Nun ist es zwar richtig, dass Sen es – im Übrigen absichtlich – unterlassen hat, eine Liste mit relevanten Functionings zu der Erfassung sozialer Ungerechtigkeiten zu benennen.67 Was er allerdings vorschlägt, ist eine Prozedur, mit deren Hilfe die objektive Bestimmung der relevanten Functionings erfolgen soll; diese besteht für ihn aus der Durchführung eines öffentlichen Diskurses und einer sich daran anschließenden demokratischen Abstimmung (deliberative Demokratie).68 Sen ist sich im Klaren darüber, dass die deliberative Demokratie nicht ohne Weiteres zu 63 Vgl.
dies. (2010), 394. Vgl. z. B. Saith (2001), 12 f.; Stewart/Deneulin (2002), 63 ff.; Nussbaum (1999b); dies. (2003); Fabre/Miller (2003), 7 f., 12; Robeyns (2005b), 192. Vgl. zu Nussbaums Vorgehensweise zu der Bestimmung der Elemente des menschlichen Wohls die Kapitel F. II. 6. und G. I. 3. 65 Vgl. Crocker (2007), 444. 66 Nussbaum (2003), 46. 67 Sen benennt auch keine Liste mit Functionings, die für die Erfassung von Armut als relevant betrachtet werden müsste. Er führt nur Beispiele für Functionings an, die auf einer solchen Liste wohl stets enthalten sein müssten (Sen (2005), 159), wie etwa „angemessen ernährt sein“, „bei angemessener Gesundheit sein“, „das Vermeiden des Eintritts eines zu frühen und vermeidbaren Todes“, „angemessen bekleidet und behaust sein“ oder auch die „Teilnahme am sozialen Leben in der Gemeinschaft“. Die diesen grundlegenden Function ings korrespondierenden Befähigungen bezeichnet er manchmal auch als „Basic Capabilities“ (vgl. ders. (1980), 218; ders. (1992), 39). 68 Ders. (1999), 146 ff., ders. (2009), insbes. Kap. 15. Vgl. eingehender zu der Idee der „deliberativen Demokratie“ z. B. Bohman (1996); Gutmann/Thompson (1996); dies. (2004); Bohman/Rehg (1997); Elster (1998); Richardson (2002). 64
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moralisch wünschenswerten Ergebnissen führt.69 Um dieses Problem zu verringern, schlägt er bestimmte Kriterien vor, denen der öffentliche Diskurs genügen soll: So sollen etwa allen Beteiligten des öffentlichen Diskurses hinreichend viele Informationen über den zu debattierenden Gegenstand zur Verfügung stehen; auch wird angenommen, dass diese Informationen bei der Entscheidungsfindung möglichst genutzt werden.70 Um zumindest eine gewisse Unparteilichkeit bei der Wahl der relevanten Functionings zu gewährleisten, sollen des Weiteren möglichst viele Stimmen, und zwar auch aus anderen Gesellschaften, in dem Diskurs gehört werden, und dies auch dann, wenn es um die Entscheidung von Fragen von bloß nationaler Relevanz geht.71 Die Durchführung eines öffentlichen Diskurses, der alle einbezieht, trägt Sen zufolge überdies dazu bei, dass möglichst alle potenziell relevanten Komponenten des Wohls tatsächlich in den Diskurs eingebracht werden. Des Weiteren kann man, so Sen, durch die Einbeziehung möglichst aller Menschen in die Debatte viel darüber erfahren, welche Relevanz und Reichweite die Verwirklichung verschiedener Functioning(s)(kombinationen) in unterschiedlichen Gesellschaften im Leben der Menschen tatsächlich besitzt.72 Möglichst viele Stimmen, und zwar auch aus anderen Gesellschaften, zu hören, ist Sen zufolge auch deshalb wichtig, weil wir dadurch die Gefahr verringern, dass wir negative Auswirkung unserer Entscheidungen auf andere Menschen – und zwar auch auf Menschen außerhalb der eigenen Gesellschaft – übersehen oder unterschätzen.73 Auch ist ein solch gesellschaftsübergreifender Dialog, so Sen weiter, heutzutage möglich, und zwar nicht nur durch Institutionen wie die Vereinten Nationen oder die WTO, sondern auch durch die Medien, durch politische Agitation, das Engagement von Bürgerbewegungen, NGOs oder Gewerkschafts- und Menschenrechtsbewegung.74 Die von anderen in die öffentliche Debatte eingebrachten Perspektiven müssen überdies bei dem Treffen der eigenen Entscheidung ernsthaft berücksichtigt werden. Auch soll die gefällte Entscheidung begründet sein, und zwar möglichst in einer Weise, die von anderen vernünftigerweise nicht zurückgewiesen werden kann.75 Jede auf diese Weise gewonnene Ansicht muss sich dann gegen andere auf diese Weise gewonnene Ansichten im öffentlichen Diskurs behaupten.76 Sen geht davon aus, dass bestehende Vorurteile wie auch ungerechtfertigte Ungleichheiten, deren Bestehen sich bloß einer unreflektierten Adaption von Wünschen und Präferenzen
69 Vgl.
Sen (2006), 89. ders. (2005), 160; ders. (2009), 180. 71 Vgl. ders. (2005), 161; ders. (2009), 44 ff., 402 ff. 72 Vgl. ders. (2005), 160; ders. (2009), 131, 242. 73 Vgl. ebd., 44, 129 f., 138 f., 402 f. 74 Vgl. ebd., 151, 409. 75 Vgl. ebd., 4 ff., 180, 197, 394 ff. sowie Kap. 1. Bei dieser zuletzt genannten Idee bezieht sich Sen seinen eigenen Angaben zufolge auf Thomas Scanlons What we owe to each other (vgl. Scanlon (1999), 5; vgl. Sen (2009), 197). 76 Vgl. ders. (2005), 160; ders. (2009), 180. 70 Vgl.
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an ungerechte oder ungünstige Bedingungen verdankt, durch das Führen eines solchen Diskurses aufgedeckt und überwunden werden können.77 Sen nimmt allerdings nicht an, dass sich auf diese Weise eine allgemeingültige Liste mit Elementen des Wohls erstellen lässt, die für alle Zeiten, für alle Gesellschaften und für alle theoretischen Kontexte von Belang ist. Vielmehr müsse in Abhängigkeit von diesen drei Aspekten jeweils neu entschieden werden, welche Komponenten des Wohls als relevant für die Erfassung und den Vergleich gesellschaftlicher Positionen zu betrachten sind und welches Gewicht der Förderung einer bestimmten Komponente in einer konkreten Situation jeweils beigelegt werden sollte.78 Diese Aufgabe bewältigt man Sen zufolge aber offenbar am besten durch einen öffentlichen Diskurs der besagten Art und eine sich daran anschließende demokratische Abstimmung. Um einen solchen Diskurs und eine demokratische Abstimmung zu ermöglichen, sollten den Menschen demokratische Partizipationsmöglichkeiten wie auch politische Freiheiten und Bürgerrechte wie beispielsweise das Recht auf persönliche Freiheit der Lebensführung (personal liberty) oder Redefreiheit zugestanden werden; grundlegend sei zudem die Garantie der Pressefreiheit.79 Die Garantie einiger für das persönliche Leben der Menschen sehr grundlegender Freiheiten soll überdies unabhängig von dem Ausgang des öffentlichen Diskurses und der demokratischen Abstimmung erfolgen, auch wenn der Garantie dieser Freiheiten nicht notwendigerweise Vorrang vor der Verwirklichung anderer gesellschaftlicher Ziele eingeräumt werden muss. Eine solche Freiheit ist für Sen die Freiheit, sein Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben.80 Sen hält es, wie gesehen, jedoch für möglich, dass eine in dieser Weise ausgestaltete deliberative Demokratie auch darüber hinaus zu aus moralischer Sicht befriedigenden Ergebnissen führen kann, wie etwa zur Garantie von Menschenrechten, zur Beseitigung von Geschlechterdiskriminierungen oder der Garantie von Minderheitenrechten, deren Schutz durch eine rein an der Mehrheit orientierte demokratische Abstimmung prinzipiell zunächst gefährdet erscheint.81 Auch eine gleichere Verteilung des ökonomischen Wohlstands betrachtet er als mögliches Ergebnis einer derart gestalteten deliberativen demokratischen Abstimmung.82 77 Vgl.
ebd., 162, 167, 275, 403 ff. ders. (2005), 158 ff. 79 Vgl. ders. (1999), 187 f.; ders. (2007), 9; ders. (2009), 63, 335. 80 Vgl. ders. (2006), 89; ders. (2009), 63, 299 f. 81 Vgl. ders. (2005), 160 f.; ders. (2007), 9; ders. (2009), 242, 352 ff. Im Widerspruch zu The Idea of Justice (2009) gehören Sen zufolge zu den stets zu garantierenden Rechten in Reason, Freedom and Well-Being (2006) auch Minderheitenrechte (vgl. ders. (2006), 89; ders. (2009), 352 ff.). 82 Vgl. ders. (2009), 345 ff. Sen geht, wie auch Nussbaum, davon aus, dass ein kulturübergreifender Konsens über die für das menschliche Wohl konstitutiven Functionings leichter zu erreichen ist, wenn die Formulierung dieser Functionings recht allgemein ausfällt: „[…] [T]here is likely to be more intercultural – and also interpersonal – agreement on the importance of having the capability to avoid acute hunger or severe undernourishment, than on the significance of having an adequate supply of particular food items (e.g. some specific types 78 Vgl.
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Sen geht davon aus, dass sich keine Liste mit den für die Erfassung von sozialen Ungleichheiten relevanten Functionings erstellen lässt, die für alle Zeiten, für alle Gesellschaften und für alle theoretischen Kontexte Gültigkeit besitzt. Auch nimmt er offenbar an, dass es keine Möglichkeit gibt, die Frage nach den relevanten Func tionings auf anderem Weg als durch eine deliberative Abstimmung der genannten Art in legitimer Weise zu bestimmen. Wie sich im Folgenden zeigen wird, erscheint die von Sen vorgeschlagene Form der Abstimmung in moralischer Hinsicht jedoch unbefriedigend. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels sowie in Kapitel G. werden wir mit Blick auf die ethischen Theorien von Martha Nussbaum sowie von John Finnis, Joseph Boyle Jr. und Germain Grisez zwei alternative Vorgehensweisen zu der Bestimmung der Komponenten des menschlichen Wohls kennenlernen, die ebenfalls mit den Grundannahmen des Capability-Ansatzes vereinbar sind, mit denen sich aber einige Probleme vermeiden lassen, die mit Sens Ansatz verbunden sind. 4. Kritik an Sens Vorgehensweise 83 Zu Sens Argumentation lässt sich zunächst sagen, dass aus dem von ihm konstatierten Umstand, dass für unterschiedliche theoretische Kontexte unterschiedliche Functionings als relevant betrachtet werden sollen und eine Liste mit Functionings möglichst sensibel für unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte sein sollte, nicht folgt, dass die Bestimmung der relevanten Functionings durch einen deliberativen Diskurs mit einer anschließenden demokratischen Abstimmung erfolgen muss. Denn auch ein Ansatz, der die als relevant betrachteten Functionings in einer anderen Weise ausfindig macht, kann Unterschieden in den gesellschaftlichen Umständen Rechnung tragen, wie dies beispielsweise in dem ethischen Ansatz von Nussbaum der Fall ist (siehe Kap. F. II. 5. und F. II. 6.). Auch muss man Sens Überlegungen zwar insofern zustimmen, als es tatsächlich nicht sinnvoll erscheint, eine universale Liste mit relevanten Functionings zu erstellen, die zur Erfassung sozialer Ungleichheiten in allen möglichen theoretischen Kontext angemessen erscheint. Aus diesem Umstand folgt aber nicht, dass es nicht dennoch möglich und wünschenswert erscheinen kann, zumindest für bestimmte theoretische Kontexte eine universale Liste zu entwickeln – wie etwa hinsichtlich der Frage, was es heißt, ein minimal gutes bzw. menschenwürdiges Leben führen zu können.84 Den Versuch, eine universale Antwort auf eben diese Frage zu finden, unternimmt ebenfalls Nussbaum (siehe Kap. F. II. 5. bis G. I. 4.). of meat or fish or grains or pulses) to serve those functionings. To take another type of examples, there may be more agreement on the need to be entertained, or to have the capability to take part in the life of the community, than on the form that entertainment must take, or on the particular way the life of the community may be shared“ (ders. (1992), 108 f.). 83 Vgl. zu einer Verteidigung von Sens Vorgehensweise z. B. Crocker (2007), 444 ff.; weitere Kritikpunkte als die im Folgenden genannten finden sich z. B. in Clare/Horn (2010). 84 Vgl. ähnlich Claassen (2011), 493.
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Erklärungsbedürftig erscheint des Weiteren, weshalb Sen davon ausgeht, dass sich einige Fragen der sozialen Gerechtigkeit, wie beispielsweise die Frage nach der besten Metrik zu der Erfassung sozialer Ungleichheiten, allein mithilfe philosophischer bzw. wissenschaftlicher Reflexion entscheiden lassen, er eine solche Möglichkeit aber offenbar ablehnt, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, welche Functionings in einem bestimmten Kontext als relevant für die Erfassung sozialer Ungleichheiten betrachtet werden sollten.85 Denn die zuletzt genannte Frage gilt es seines Erachtens – wie gesehen – mithilfe eines öffentlichen Diskurses und einer sich daran anschließenden Abstimmung zu entscheiden. Ein weiteres Problem des Ansatzes von Sen besteht überdies darin, dass die von ihm vorgeschlagene Vorgehensweise zum Auffinden der relevanten Functionings nicht sicherstellen kann, dass sie stets zu aus moralischer Sicht befriedigenden Ergebnissen führt. Dies lässt sich leicht anhand eines Beispiels verdeutlichen: Nehmen wir an, dass in nahezu allen Gesellschaften bestimmte Formen der Unterdrückung oder Ungleichbehandlung von Frauen für unproblematisch gehalten werden – Frauen beispielsweise ein geringerer Lohn für die gleiche Arbeit gezahlt wird als Männern. Nehmen wir weiter an, dass sich Frauen wie Männer aufgrund einer Adaption ihrer Präferenzen auch nicht über diesen Zustand beklagen, sondern diesen für „normal“ halten. Wenn dem so ist, so gerät diese Form der Ungerechtigkeit mithilfe von Sens prozeduralem Ansatz aber gar nicht als „Ungerechtigkeit“ in den Blick. Und selbst dort, wo dies geschieht, müssen sich diejenigen, die diese Ungerechtigkeit „erkennen“ im Zweifelsfall der Mehrheit unterordnen, sofern diese den Umstand nicht für veränderungswürdig hält. Das altbekannte Problem der „Tyrannei der Mehrheit“ kann durch Sens Ansatz also zumindest nicht vollständig ausgeschlossen werden und es ist dadurch nicht sichergestellt, dass der Ansatz stets zu aus einer moralischen Perspektive wünschenswerten Ergebnissen führt, z. B. allen das Recht auf gleiche Entlohnung für gleiche Arbeit oder das Recht auf den Erhalt bestimmter Formen von Sozialleistungen86 zugestanden wird. Auch lässt sich mithilfe von Sens Ansatz nicht entscheiden, ob sich die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt in die „richtige Richtung“ bewegt, da dieser keinen von der faktischen Mehrheitsmeinung unabhängigen, kritischen objektiven Maßstab für diese Form der Beurteilung liefert. Die einzige Form von Kritik, die Sen offensteht, um kollektive Entscheidungen als ungerecht zu kritisieren, besteht darin, prozedurale Gesichtspunkte bei der Entscheidungsfindung zu bemängeln.87 Damit Ungerechtigkeiten nicht übersehen werden, braucht es aber offenbar eines solch objektiven Maßstabs; ohne einen solchen kann auch nicht sichergestellt werden, dass alle Formen von Ungerechtigkeiten, deren Bestehen sich womöglich einer Adaption an ungünstige oder ungerechte Bedingun85
Ebd., 497 f. Deneulin (2005), 82 f.; vgl. ähnlich Stewart/Deneulin (2002), 64. 87 Vgl. Nussbaum (1999c), 303, Fn. 245; Neuhäuser (2013), 113. 86 Vgl.
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gen verdankt und deren Beseitigung angestrebt werden sollte, ausfindig gemacht werden:88 „Sen will […] die Mängel derjenigen Verteilungskonzepte aufzeigen, die auf dem Wunsch und der Wunscherfüllung basieren […]. Mir scheint jedoch, daß der Fähigkeiten-Ansatz ähnliche Mängel aufweisen wird, wenn wir nicht ein objektives Bewertungsverfahren entwickeln, mit dem die Werturteile der Menschen kritisiert werden können, die unter den Bedingungen von Diskriminierung und Benachteiligung aufgewachsen sind. Sen scheint anzunehmen, wir könnten das Problem dadurch ausräumen, daß wir von der utilitaristischen Betonung des Wunsches zu seinem eigenen Ansatz übergehen, der das Hauptgewicht auf die Bewertung von Fähigkeiten legt. Aber das Verfahren, mit dem Fähigkeiten bewertet werden, scheint, zumindest wenn es nicht näher beschrieben wird, ebensowenig gegen Verzerrungen gefeit zu sein wie der Wunsch selbst […]. Wie mir scheint, muß Sen seine Kritik an der utilitaristischen Auffassung des Wohlergehens radikaler formulieren, als er es bisher getan hat, indem er eine objektive normative Konzeption der menschlichen Tätigkeiten einführt und ein objektives Bewertungsverfahren beschreibt, durch das die Tätigkeiten hinsichtlich ihres Beitrages zu einem guten menschlichen Leben beurteilt werden können.“89
Eine weitere Frage, die Sens Ansatz aufwirft, ist die Frage, wie er sich die Umsetzung seines Vorschlags vorstellt: Denn die von ihm geforderte Form des öffentlichen Diskurses soll ja einerseits durchaus gewisse „idealistische“90 Bedingungen erfüllen. Andererseits geht es ihm aber um die faktische Durchführung eines öffentlichen Diskurses. In einem solchen bestehen jedoch in aller Regel große Unterschiede zwischen den Menschen beispielsweise hinsichtlich des politischen Einflusses, der Macht, den ökonomischen Interessen und der ökonomischen Potenz. Ebenso streben viele Menschen danach, die eigenen Interessen durchzusetzen. Es ist deshalb fraglich, ob die Menschen, wenn sie so unterschiedliche Ausgangspositionen innehaben, überhaupt gleichermaßen dazu bereit sind, sich an einem Diskurs wie dem von Sen vorgeschlagenen zu beteiligen:91 „Doch natürlich richtet sich nicht jedermann auch danach [gemeint sind die von Sen angeführten Bedingungen eines öffentlichen Diskurses, TM]. Wer es nicht nötig hat, sich an Prozessen des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu beteiligen, um zu kollektiven Entscheidungen zu kommen, tut das vielleicht einfach nicht. Mächtige Akteure können ihre Interessen auch anders durchsetzen.“92 88 Vgl.
Nussbaum (1988), 176; dies. (2000a), 114; Stewart (2001) 1192; Robeyns (2000), 16; dies. (2005b), 204 f.; Sumner (2006), 8 ff.; Burchardt (2009), 7 f.; Carter (2014), 78 f. 89 Nussbaum (1999b), 120 f. 90 Vgl. Stewart/Deneulin (2002), 64; Neuhäuser (2013), 108. 91 Vgl. Stewart/Deneulin (2002), 64; Neuhäuser (2013), 108, 113. 92 Ebd., 108. Sen selbst formuliert einen ganz ähnlichen Einwand, den man gegen seinen Ansatz vorbringen könnte, entkräftet diesen aber nicht in überzeugender Weise: „One of the issues to consider is the possibility that the critics of relying on reason are influenced by the fact that some people are easily over-convinced by their own reasoning, and ignore counter-arguments and other grounds that may yield the opposite conclusion. […] But the difficulty here surely comes from precipitate and badly reasoned certitude, rather than from
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Auch ist bei derart unterschiedlichen Ausgangsbedingungen nicht sichergestellt, dass selbst dann, wenn alle bereit wären, sich an einem in dieser Weise beschaffenen öffentlichen Diskurs zu beteiligen, sich darin auch alle gleichermaßen gut durchsetzen könnten. Einen Vorschlag, um dieses Problem zu vermeiden, hat Sharath Srinivasan unterbreitet: Grundlegend für den „idealisierten“ Diskurs Sens ist, wie gesehen, dass den Diskursteilnehmern bestimmte politische Freiheiten, wie das aktive und passive Wahlrecht oder Meinungsfreiheit, zugestanden werden. Wenn wir diese Freiheiten, so Srinivasan im Anschluss an eine Idee James Bohmans, jedoch ebenfalls als Capabilities verstehen, ließe sich das Problem, dass nicht jeder dazu in der Lage ist, sich adäquat in den Diskurs einzubringen, vermeiden. Denn, so die Idee, werden diese Freiheiten als Befähigungen (capabilities) verstanden, muss sichergestellt werden, dass es auch jedem tatsächlich gleichermaßen möglich ist, die infrage stehenden Freiheiten effektiv zu nutzen.93 Doch selbst wenn dadurch tatsächlich sichergestellt werden könnte, dass dies der Fall ist, bestünden die oben genannten Probleme weiterhin fort. 5. Die Ausgestaltung des Capability-Ansatzes bei Nussbaum Nussbaum verwendet den begrifflichen Rahmen des Capability-Ansatzes, wie bereits erwähnt, in einem ganz speziellen theoretischen Kontext, und zwar, um zu beschreiben und zu bewerten, welche Art von Leben jeder Mensch in einer minimal gerechten Gesellschaft wenigstens zu führen in der Lage sein sollte:94 „Mir […] geht es um die philosophischen Grundlagen einer Theorie grundlegender menschlicher Ansprüche, die von allen Regierungen als von der Menschenwürde gefordertes absolutes Minimum geachtet und umgesetzt werden sollten.“95
Sind die Menschen nicht dazu in der Lage, dieses Minimum zu verwirklichen, so stellt dies für Nussbaum eine Ungerechtigkeit dar: making use of reason. The remedy for bad reasoning lies in better reasoning, and it is indeed the job of reasoned scrutiny to move from the former to the latter“ (Sen (2009), 48 f.). Es gibt jedoch keine Garantie, dass eine weiter andauernde Debatte dazu führt, dass diejenigen, die in einer „schlechten“ Weise argumentieren, von anderen Diskursteilnehmern davon überzeugt werden, sich ebenfalls auf eine „idealisierte“ Form des Argumentierens einzulassen. Sens Gerechtigkeitsidee widerspricht damit überdies einem von ihm selbst an Gerechtigkeitskonzeptionen gestellten Anspruch, und zwar dem, dass diese nicht so beschaffen sein dürfen, dass sie ein Verhalten der Menschen voraussetzen, das „unrealistisch“ ist, denn dies sei der Gerechtigkeit, so Sen, nicht förderlich; Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption betrachtet Sen als in eben dieser Weise beschaffen und bringt ihr folgenden Vorwurf entgegen: „Demanding more from behaviour today than could be expected to be fulfilled would not be a good way of advancing the cause of justice“ (ebd., 81). Wenn Sen aber fordert, dass eine verwirklichbare Gerechtigkeitstheorie von Menschen kein Verhalten verlangen darf, das diese nicht sowieso bereits an den Tag legen, erscheint den vorangehenden Überlegungen zufolge seine eigene Gerechtigkeitstheorie ebenfalls nicht verwirklichbar und „unrealistisch“. 93 Vgl. Srinivasan (2007), 469 ff.; Bohman (1997), 321 ff. 94 Vgl. Nussbaum (2011), 28. 95 Dies. (2010), 104.
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„If people are systematically falling below the threshold in any of these core areas, this should be seen as a situation both unjust and tragic, in need of urgent attention – even if in other respects things are going well.“96
Nussbaum geht es in ihrer Theorie somit um die Frage nach der Bestimmung eines sozialen Minimums, das jeder Mensch verwirklichen können sollte, wobei sie annimmt, dass die inhaltliche Ausgestaltung dieses Minimums mithilfe des Capability-Ansatzes erfolgen sollte. Mit dem Capability-Ansatz einher geht – wie gesehen – die Forderung der objektiven Bestimmung der minimalen Functioningkombination resp. der minimalen Konzeption des menschlichen Wohls.97 Bei Nussbaums Variante des Capability-Ansatzes handelt es sich des Weiteren bloß um eine partielle und keine vollständige Theorie der sozialen Gerechtigkeit, da sie nichts darüber aussagt, ob und unter welchen Umständen ein gesellschaftlicher Zustand gerecht ist, sofern alle bereits zu der Verwirklichung des sozialen Minimums befähigt sind: „Der Fähigkeitenansatz [in der Variante Nussbaums, TM] ist nicht als umfassende Theorie der Gerechtigkeit gedacht. So sagt er beispielsweise nichts darüber, was die Gerechtigkeit in bezug auf Ungleichheiten oberhalb des Schwellenwertes fordert. (So gesehen beantwortet er bestimmte Fragen nicht, die Rawls’ Theorie behandelt). Er stellt uns eine Konzeption der minimalen und zentralen sozialen Ansprüche zur Verfügung und ist mit verschiedenen Ansichten darüber vereinbar, wie Fragen der Gerechtigkeit und der Verteilung zu handhaben sind, sobald alle Bürgerinnen und Bürger oberhalb des Schwellenwertes angesiedelt sind. Der Fähigkeitenansatz besteht auch nicht darauf, daß die Liste der Ansprüche eine erschöpfende Theorie der politischen Gerechtigkeit darstellt; es mag weitere wichtige politische Werte geben, die in engem Zusammenhang mit der Gerechtigkeit stehen, von ihr aber nicht abgedeckt werden.“98 96
Ebd., 71; vgl. ähnlich dies. (1999c), 197 ff.; dies. (2010), 105. selbst spricht nicht von einer „minimalen Konzeption des Wohls“; neben dem schon genannten Ausdruck „Minimum“ ist bei ihr auch von einem „(basalen) sozialen Minimum“ (ebd., 104), von einem „(im vollen Sinne) guten menschlichen Leben“ (dies. (1999d), 260 f.) oder von einem der „Menschenwürde gemäßen Leben“ (dies. (2010), 105) die Rede. In Nussbaum (1999a) spricht sie überdies davon, dass es ihr in ihrem Ansatz um die Suche nach einer „Minimaltheorie des Guten“ gehe (dies. (1999a), 58). Der Sache nach handelt es sich bei all dem jedoch um nichts anderes als um das, was von mir als „minimale Konzeption des Wohls“ bzw. „Wohlergehens“ bezeichnet wird. 98 Dies. (2010), 111 f.; vgl. ähnlich dies. (1999c), 203 ff.; dies. (2000a), 75; dies. (2010), 111, 247. Vgl. für eine Argumentation dafür, dass Ansätze der sozialen Gerechtigkeit, die nur etwas darüber aussagen, welches soziale Minimum jeder zu erreichen in der Lage sein sollte, noch keine vollständigen Theorien der sozialen Gerechtigkeit sind, die Argumente Sens (zusammengefasst und diskutiert in Vallentyne (2010)). Die Auffassung, dass wir der sozialen Gerechtigkeit bereits Genüge getan haben, wenn wir jedem ein soziales Minimum bereitstellen, findet sich dagegen z. B. bei Frankfurt: „Economic equality is not, as such, of particular moral importance. With respect to the distribution of economic assets, what is important from the point of view of morality is not that everyone should have the same but that each should have enough. If everyone had enough, it would be of no moral consequence whether some had more than others. I shall refer to this alternative to egalitarianism […] as ,the doctrine of sufficiency‘“ (Frankfurt (1987), 21 f.). 97 Nussbaum
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Die Festsetzung des Schwellenwerts des sozialen Minimums soll Nussbaum zufolge durch die Praxis der Rechtsprechung erfolgen.99 Dieser Wert kann sich, so Nussbaum, im Lauf der Zeit verschieben und in unterschiedlichen Gesellschaften „innerhalb bestimmter Grenzen unter Berücksichtigung ihrer Geschichte und ihrer spezifischen Umstände unterschiedlich festgesetzt werden“100. Nussbaum geht davon aus, dass sich im Prinzip ein kulturübergreifender Konsens über die Elemente des minimalen Wohls erreichen lässt, zu denen jeder Mensch befähigt werden sollte.101 In den vergangenen Jahrzehnten hat sie verschiedene Listen mit den aus ihrer Sicht konstitutiven Elementen des menschlichen Wohls und den jeweiligen Konkretisierungen dieser Elemente aufgestellt. Die folgenden Abschnitte bieten eine Synopsis verschiedener Listen, deren einzelne Elemente – in Anlehnung an Nussbaums eigene Einteilungen – elf Bereichen zugeordnet werden. Die Zusammenstellung ist ausreichend, um im Folgenden die wichtigsten Vorzüge und problematischen Aspekte von Nussbaums Ansatz zu erörtern. Als konstitutiv für das minimale menschliche Wohl müssen mit Blick auf Nussbaums unterschiedliche Listen die folgenden Elemente bzw. Bereiche betrachtet werden:102 (i) Lebenserwartung, (ii)
Körperliche Gesundheit und Integrität,
(iii)
Sinnliche Wahrnehmung, Imagination und Denken,
(iv) Emotionalität, (v) Sozialität, (vi)
Gestaltung der Umwelt,
(vii)
Freud und Leid,
(viii)
Erholsame Tätigkeiten,
(ix)
Persönliche Freiräume,
(x)
Tiere und Natur,
(xi)
Praktische Vernunft.
Ad (i) Lebenserwartung: Hierbei geht es Nussbaum um die Befähigung, ein Leben von „gewöhnlicher“ Länge zu führen, das weder durch Gewalt noch durch gesundheitliche Beeinträchtigungen ein vermeidbar frühzeitiges Ende findet.103 Was es mit der „gewöhnlichen Länge“ eines Lebens auf sich hat, führt Nussbaum wie folgt aus:
99 Vgl.
Nussbaum (2010), 244 f.; dies. (2011), 40 ff. Dies. (2010), 250. 101 Vgl. dies. (1999c) 190; dies. (2000a), 72 ff. 102 Vgl. zu der folgenden Zusammenstellung die Listen in dies. (1999a); dies. (1999c); dies. (2000a); dies. (2010) und (2011). 103 Vgl. dies. (1999a), 57; dies. (1999c), 200; dies. (2000a), 78; dies. (2010), 112; dies. (2011), 33. 100
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„Obwohl die ,gewöhnliche Länge‘ eindeutig auf die heutigen menschlichen Möglichkeiten bezogen ist und aus praktischen Gründen vielleicht bis zu einem gewissen Grad im Hinblick auf lokale Bedingungen relativiert werden muß, scheint es wichtig zu sein, sie – zumindest zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt – als eine universelle und komparative Größe zu verstehen. So verfährt der Human Development Report, um Kritik an einem Land üben zu können, das bei einigen Indikatoren für Lebensqualität gut, bei der Lebenserwartung aber schlecht abschneidet. Trotz der verschiedenen genetischen Möglichkeiten verschiedener Gruppen […] sollte man nicht zu dem vorschnellen Schluß kommen, dass Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen – zum Beispiel die wachsende Ungleichheit in der Lebenserwartung von Weißen und Schwarzen in den USA – schlicht und einfach durch genetische Unterschiede bedingt sind und nichts mit sozialer Ungerechtigkeit zu tun haben.“104
Ad (ii) Körperliche Gesundheit und Integrität: In diesen Bereich fallen das allgemeine gesundheitliche Befinden, aber auch die Gesundheit im Bereich der Fortpflanzung (reproductive health)105 sowie Ernährung,106 Obdach,107 Gelegenheiten zur sexuellen Befriedigung, Entscheidungsfreiheit in dem Bereich der Fortpflanzung, Bewegungsfreiheit, die Sicherheit vor körperlichen Angriffen einschließlich sexueller Übergriffe, des Kindesmissbrauchs und der häuslichen Gewalt.108 Nussbaum betont, dass die Gesundheit in einer komplexen Wechselbeziehung mit Wohnverhältnissen, mit Bildung und Ausbildung sowie mit der Würde des Menschen steht. Im Fall von Gesundheit und Ernährung sei überdies umstritten, ob die relevante Stufe universell oder im Verhältnis zu der lokalen Gemeinschaft und deren Tradition bestimmt werden müsse: So könne man sich beispielsweise fragen, ob eine durch Ernährungsgewohnheiten bedingte geringe Körpergröße als „entwicklungshemmend“ oder eher als gelungene Anpassung an eine Mangelsituation anzusehen sei.109
104
Dies. (1999c), 305, Fn. 249. dies. (1999a), 57; dies. (1999c) 200; dies. (2000a), 78; dies. (2010), 112; dies. (2011), 33. 106 Vgl. dies. (1999a), 57; dies. (1999c), 200; dies. (2000a), 78; dies. (2010), 112; (2011), 33. In manchen Listen ist die angemessene Ernährung ein eigenständiger Aspekt des menschlichen Wohls, manchmal bloß ein Bestandteil der Gesundheit (z. B. dies. (2000a), 78; dies. (2011), 33). 107 Vgl. dies. (1999a), 57; dies. (1999c), 200; dies. (2000a), 78; dies. (2010), 112; dies. (2011), 33. Obdach (shelter) wird bei Nussbaum manchmal sowohl als ein eigenständiger Aspekt des minimalen Wohls als auch als ein Bestandteil der körperlichen Gesundheit genannt (dies. (2000a), 33; dies. (2011), 78). „Shelter“ bedeutet „Schutz“, „Zuflucht“, „Obdach“ und kann sich sowohl auf die Wohnsituation eines Menschen als auch allgemeiner auf den Schutz vor äußeren Einwirkungen, wie etwa den Schutz vor den Witterungseinflüssen durch angemessene Kleidung, aber auch auf die Abschirmung von anderen Menschen beziehen. 108 Vgl. dies. (1999a), 57; dies. (1999c), 200; dies. (2000a), 78; dies. (2010), 11, 112; dies. (2011), 33. 109 Vgl. dies. (1999c), 305, Fn. 250. 105 Vgl.
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Ihre Verständnisweise von „reproduktiver Gesundheit“ entspricht ihren eigenen Angaben zufolge derjenigen, die im Jahr 1994 auf der International Conference on Population and Development von 180 Ländern verabschiedet wurde, und wie folgt lautet:110 „Reproductive health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease of infirmity, in all matter relating to the reproductive system and its processes. Reproductive health therefore implies that people are able to have a satisfying and safe sex life and that they have the capability to reproduce and the freedom to decide if, when, and how often to do so.“111
Nicht zuletzt gehört zu dieser Verständnisweise reproduktiver Gesundheit, die Freiheit vor sexuellem Zwang und Infektionen.112 Ad (iii) Sinnliche Wahrnehmung, Imagination und Denken: Zu diesem Bereich gehören der Gebrauch der fünf Sinne, Imagination sowie das Denken und Urteilen. Zur Imagination und zum Denken befähigt zu sein, heißt für Nussbaum zum einen, diese Fähigkeiten in einer durch eine „angemessene Erziehung“ geleiteten Weise nutzen zu können. Gegenstand einer solchen Erziehung sollen neben der Erlernung des Lesens und Schreibens auch die Vermittlung mathematischer Grundkenntnisse und eine wissenschaftliche Grundausbildung sein. Fantasie und Denkvermögen sollen des Weiteren so genutzt werden können, dass man mit ihnen sowohl zum Erleben als auch zur Hervorbringung von geistig bereichernden Werken und Ereignissen der eigenen Wahl im Bereich der Literatur, der Religion, der Musik usw. in der Lage ist. Um all dies sicherzustellen, bedarf es Nussbaum zufolge nicht nur der Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten, sondern auch gesetzlicher Garantien der Religionsfreiheit sowie der politischen und künstlerischen Meinungsfreiheit.113 Auch auf eigene Weise nach dem Sinn des Lebens zu suchen, ordnet Nussbaum diesem Lebensbereich zu.114 Die Förderung der Imagination ist im Kontext der Armutsbekämpfung insofern wichtig, als Menschen dadurch dazu befähigt werden, sich ein Leben frei von Armut wie auch die Wege dorthin vorzustellen. Gerade Kindern und Jugendlichen aus armen Verhältnissen erscheint es häufig unausweichlich, wenn nicht gar schicksalhaft, dass sie auch in Zukunft ein Leben in Armut führen müssen. Es fehlt ihnen schlicht die Imagination, sich vorzustellen, wie ein anderes Leben aussehen und sich anfühlen würde, und erst recht, wie sie aus ihren Umständen heraus in
110 Vgl.
dies. (2000a), 78, Fn. 83. Tsui et al. (1997), 13. 112 Vgl. Nussbaum (2000a), 78, Fn. 83; vgl. Tsui et al. (1997), 13. 113 Vgl. Nussbaum (1999a) 57; dies. (1999c), 200 f.; dies. (2000a), 78 f.; dies. (2010), 112 f.; dies. (2011), 33. 114 Vgl. dies. (2000a), 79. Manchmal zählt Nussbaum zu diesem Aspekt des minimalen Wohls bzw. des minimal guten Lebens auch die Freiheit von unnötigen Schmerzen sowie die Möglichkeit, lustvolle Erlebnisse zu haben (vgl. ebd., 79; dies. (2010), 113; dies. (2011), 33). 111
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ein solches Leben gelangen könnten.115 Nussbaums eigene Ausführungen deuten auf eine solche Stellung der Imagination im Leben hilfsbedürftiger Menschen hin, wenn sie hervorhebt, dass man dazu in der Lage sein muss, alte Gewohnheiten abzulegen, neue Ziele wertzuschätzen und neue Fähigkeiten zu erwerben: „Vielleicht waren die Erfolge [in einem Alphabetisierungsprojekt mit Frauen in Bangladesch, TM] auch deswegen möglich, weil sich die Frauen nicht so sehr mit ihrer gegenwärtigen Lebensweise identifizierten und die Herausforderung annahmen, sich etwas anderes vorzustellen. Auf diese Weise unterstützten und verstärkten sich Unzufriedenheit und Reflexion wechselseitig.“116
Und an anderer Stelle heißt es: „In fast allen Teilen der Welt haben die Frauen das Leben, das sie führen, nicht gewählt, da sie häufig keine Vorstellung oder eine unzureichende Vorstellung von Alternativen und nur begrenzte Möglichkeiten haben.“117
Ad (iv) Emotionalität: Dazu gehören die Bindung zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst und die Liebe zu denjenigen, die uns lieben und für uns sorgen; allgemein Liebe, Kummer, Sehnsucht, Dankbarkeit und gerechtfertigter Ärger sowie eine emotionale Entwicklung, die nicht durch überwältigende Furcht und Sorge oder durch traumatische Erlebnisse des Missbrauchs oder der Vernachlässigung gestört wird. Eine Voraussetzung für all dies ist Nussbaum zufolge auch der Schutz bestimmter Formen von Vereinigungen, womit ihr offenbar der Schutz von Institutionen wie der Familie o. ä. vorschweben.118 Ad (v) Sozialität: Zu diesem Bereich gehört, für andere und auf andere bezogen zu leben, Verbundenheit mit anderen Menschen zu erkennen und zu zeigen, die Pflege verschiedener sozialer Kontakte, das Verstehen anderer Menschen und die Anteilnahme an deren Leben, das Hineinversetzen in die Situation anderer und das Aufbringen von Mitgefühl für diese Situation, die Ausübung von Gerechtigkeit, die Pflege von Freundschaften, die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und der Nicht-Demütigung sowie die Grundlagen dafür, als ein Wesen mit der gleichen Würde wie andere behandelt zu werden.119 Überdies gehört zu diesem Bereich, dass man einer Arbeit nachgehen kann, bei der man seine praktische Vernunft gebrauchen und in respektvolle Arbeitsbeziehungen mit anderen treten kann.120 Eine Voraussetzung dafür, diese Formen der Sozialität leben zu können, besteht für Nussbaum 115
Vgl. z. B. Burchardt (2009), 9 ff. Nussbaum (1999a), 76. 117 Ebd., 78. 118 Vgl. dies. (1999a), 57 f., 79; dies. (1999c), 201; dies. (2000a), 79; dies. (2010), 113; dies. (2011), 33 f. 119 Vgl. dies. (1999a), 58; dies. (1999c), 201; dies. (2000a), 79 f.; dies. (2010), 112 ff.; dies. (2011), 34. 120 Vgl. dies. (2000a), 79 f. In Nussbaum (2011) wird dieser zuletzt genannte Aspekt auch dem Bereich der Gestaltung und Kontrolle der eigenen Umwelt zugerechnet (vgl. dies. (2011), 34). 116
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darin, dass die dazu nötigen Formen des Miteinanders – z. B. Freundschafts- oder Familienbeziehungen – sowie die Versammlungs- und die politische Redefreiheit geschützt werden. Auch müssen minimale Vorkehrungen gegen Diskriminierungen aufgrund von Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit, Schichtzugehörigkeit, Religion oder nationaler Herkunft getroffen werden.121 Ad (vi) Gestaltung der Umwelt: Zu diesem Bereich gehören die Teilnahme an politischen Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen, der Besitz des Rechts auf politische Partizipation, der Schutz der Rede- und Versammlungsfreiheit, aber auch die Kontrolle über die eigene materielle Umgebung, die beispielsweise durch die Zusicherung des Rechts auf Eigentum sowohl an Land als auch an beweglichen Gütern gewährleistet werden soll, wobei für den Besitz von Eigentumsrechten gelte, dass ihre Garantie für jedermann auf der gleichen Basis erfolgen müsse. Des Weiteren müsse jedem das Recht zugestanden werden, auf der gleichen Basis wie jeder andere nach einer beruflichen Beschäftigung zu suchen. Auch der Besitz der Freiheit vor ungerechtfertigten Durchsuchungen und Beschlagnahmungen soll die materielle Kontrolle über die eigene Umgebung gewährleisten.122 Ad (vii) Freud und Leid: Zu diesem Bereich gehören die Vermeidung unnötiger Schmerzen sowie die Gelegenheit zu freudvollen Erlebnissen. Ad (viii) Erholsame Tätigkeiten: Gemeint ist damit die Gelegenheit, zu lachen, zu spielen und sonstigen erholsamen Tätigkeiten nachzugehen. Ad (ix) Persönliche Freiräume: In diesem Bereich geht es um die Sicherung des Schutzes vor Eingriffen „in besonders persönlichkeitsbestimmende Entscheidungen wie Heiraten, Gebären, sexuelle Präferenzen, Sprache und Arbeit“ 123. Ad (x) Tiere und Natur: Ein weiterer Bereich, der für das menschliche Wohl relevant ist, ist Nussbaum zufolge der Bereich, in dem es darum geht, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der gesamten Natur zu leben und pfleglich mit diesen umzugehen. Ad (xi) Praktische Vernunft: Nussbaum zählt hierzu die Entwicklung einer eigenen Vorstellung vom Guten wie auch die Möglichkeit der kritischen Reflexion derselben. Des Weiteren gehört ihres Erachtens zu diesem Bereich heutzutage die Möglichkeit, sich im Zug der eigenen Lebensplanung für eine berufliche Tätigkeit außer Haus wie auch für eine Teilnahme am politischen Leben zu entscheiden. Eine Voraussetzung dafür sieht Nussbaum im Schutz der Gewissens- und der Religionsfreiheit.124 121 Vgl.
dies. (1999c), 201; dies. (2000a), 79; dies. (2010), 113 f.; dies. (2011), 34. dies. (2000a), 80; dies. (2010), 114; dies. (2011), 34. Unter den Punkt der materiellen Kontrolle über die eigene Umgebung subsumiert Nussbaum manchmal auch den bereits oben genannten Aspekt, einer Arbeit nachgehen zu können, bei der man seine praktische Vernunft gebrauchen und in respekt- und belangvolle Arbeitsbeziehungen zu seinen Kollegen treten kann (dies. (2010), 114; dies. (2011), 34). 123 Dies. (1999a), 58; vgl. dies. (1999c), 201. 124 Vgl. dies. (1999a), 57 f.; dies. (1999c), 200 f.; dies. (2000a), 79 f.; dies. (2010), 113 f.; dies. (2011), 34. 122 Vgl.
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6. Das Auffinden der Komponenten des menschlichen Wohls in Nussbaums Ansatz Nussbaum verändert ihre Antwort auf die Frage, welches die relevanten Komponenten des menschlichen Wohls sind, in ihren Schriften im Lauf der Jahre nur geringfügig. Was sich jedoch ändert, ist das Vorgehen, das sie vorschlägt, um diese Komponenten ausfindig zu machen. In den folgenden Abschnitten wird zunächst nachgezeichnet, wie sie sich dieses Vorgehen in ihren früheren Schriften zum Capability-Ansatz – die im englischen Original in den 1980er Jahren und bis in die 1990er Jahre hinein erschienen sind – vorstellt. Die in ihren späteren Schriften vorgenommenen Veränderungen des Ansatzes – vor allem hinsichtlich der Vorgehensweise zu der Bestimmung der Komponenten des menschlichen Wohls – sind dann Gegenstand von Kapitel G. I. 4. In Kapitel G. I. 5. wird sich allerdings zeigen, dass die meisten Probleme, die mit der von ihr zunächst vertretenen Variante des Capability-Ansatzes einhergehen, sich auch durch die in ihren späteren Schriften vorgenommenen Modifikationen und Weiterentwicklungen nicht vermeiden lassen. In der von Nussbaum zuerst vertretenen Variante des Capability-Ansatzes geht diese davon aus, dass der Beantwortung der Frage, welches die relevanten Komponenten des Wohls sind, die Beantwortung der Frage vorangehen muss, welches die für das Menschsein grundlegenden Erfahrungs- bzw. Lebensbereiche sind. Als „grundlegend“ betrachtet sie dabei Erfahrungs- oder Lebensbereiche, deren Vorliegen unerlässlich dafür ist, dass andere Menschen ein Wesen über die Grenzen von Raum, Zeit und unterschiedlichen Lebensweisen hinweg als einen Menschen erkennen. Sie zählt dazu beispielsweise die Erfahrungen von Sterblichkeit, Hunger, Durst, Schutzbedürftigkeit, Freude und Leid (siehe eingehender dazu Kap. F. II. 7.). Ermitteln lassen sich diese Erfahrungsbereiche laut Nussbaum, indem man auf die Selbstinterpretation der Menschen blickt. Diese offenbare sich beispielsweise in Mythen und Geschichten, in denen zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten Freunden und Fremden erklärt werde, welche Erfahrungen für das Menschsein unerlässlich sind. Das Fehlen dieser Erfahrungen würde, so Nussbaum weiter, selbst bei anthropomorph erscheinenden Wesen dazu führen, dass sie nicht im vollen Sinn als Menschen betrachtet würden.125 Besonders hilfreich seien dabei diejenigen Mythen und Geschichten, in denen den Menschen ein Platz zwischen den Tieren und den Göttern zugewiesen werde: „Die Grundidee […] ist, daß wir uns Geschichten von der allgemeinen Form oder Struktur des menschlichen Lebens erzählen. Wir stellen und beantworten die Frage: Was bedeutet es, als ein Wesen zu leben, das sozusagen zwischen den Tieren und den Göttern angesiedelt ist, das bestimmte Fähigkeiten hat, die uns von der übrigen Natur unterscheiden, und das dennoch bestimmte Grenzen aufweist, die durch unsere Zugehörigkeit zur Natur bedingt sind? Die Idee ist, daß wir eine vage Vorstellung davon teilen, was es bedeutet, als Mensch in der Welt zu leben, und daß der Übergang in eine ,höhere‘ 125 Vgl.
dies. (1999a), 46 f.; dies. (1999c), 188; dies. (2000a), 71 f.
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oder ,niedere‘ Sphäre uns zu Wesen machen würde, die keine menschlichen mehr sind […]. Diese Vorstellung ist häufig in Mythen beschrieben (und verewigt), insbesondere in Mythen von nicht-menschlichen, anthropomorphen Geschöpfen, die entweder tier- oder gottähnlich sind […].“126
So würden wir beispielsweise Wesen, die unsterblich wären oder denen keine körperlichen Verletzungen zugefügt werden könnten, nicht als Wesen unserer Art ansehen, da ihnen eine für das Menschsein unerlässliche Erfahrung fehlte. Und auch Wesen wie die in den griechischen Mythen beschriebenen Zyklopen, die fernab und isoliert von der Gemeinschaft leben, die unempfänglich für die Bedürfnisse anderer sind und denen jeglicher Sinn für Gemeinschaft und menschliche Bindungen fehlt, würden wir als unmenschliche Ungeheuer betrachten, selbst wenn sie äußerlich die Gestalt von Menschen hätten. Nussbaum nimmt an, dass die systematische Untersuchung derartiger Geschichten und Mythen über die Epochen und Kulturen hinweg eine große Übereinstimmung in Bezug auf die wesentlichen Elemente des Menschseins zutage fördern würde:127 „Diese Geschichten [über das Menschsein, TM] legen den Gedanken nahe, daß sich die Menschen in vielen verschiedenen Gesellschaften über die allgemeinen Umrisse einer solchen Konzeption einig sind. Das ist nicht überraschend, da sie sich gegenseitig als Mitglieder derselben Art erkennen […], heiraten, Kinder miteinander haben und so weiter – und sich nicht zuletzt solche Geschichten ohne große Vermittlungsschwierigkeiten erzählen können. Diese Konvergenz gibt uns Grund zu der optimistischen Annahme, daß wir, wenn wir so verfahren und unsere Phantasie spielen lassen, am Ende eine Theorie haben werden, die nicht bloß die Projektion lokaler Präferenzen, sondern im vollen Sinne international ist und eine Grundlage für eine kulturübergreifende Verständigung darstellt.“128
Die Hoffnung, dass eine auf diese Weise ausfindig gemachte Konzeption des Menschseins womöglich die Grundlage für eine kulturübergreifende Verständnisweise des Menschseins liefern könnte, wird Nussbaum zufolge auch dadurch bestärkt, dass ihre „Methode“ keiner bestimmten metaphysischen oder religiösen Tradition verhaftet ist.129 Vielmehr fordert ihre Vorgehensweise ja gerade, Mythen und Geschichten aus verschiedenen Epochen und Kulturen einzubeziehen. Die wesentlichen Elemente des Menschseins sollen Nussbaum zufolge aber nicht ausschließlich durch eine Analyse von Mythen und Geschichten ausfindig gemacht werden. Es ist darüber hinaus in ihren Schriften davon die Rede, dass diese Elemente durch eine „evaluative“ und „in einem weiten Sinne ethische“ Vorgehensweise bestimmt werden sollen. Mithilfe dieser Vorgehensweise gelangt man dann, so Nussbaum, zu einer normativen – und weder auf Biologie noch auf Metaphysik reduzierbaren – Konzeption des Menschseins. Es müsse, anders gesagt, also bewertet und ausgewählt werden, welche Merkmale des Menschseins als so 126
Dies. (1999a), 47; vgl. ähnlich (1999c), 187 f. dies. (1999a), 48. 128 Dies. (1999c), 188. 129 Vgl. dies. (1999a), 46. 127 Vgl.
150
F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
wichtig zu erachten sind, dass wir bei ihrer Abwesenheit nicht mehr von einem menschlichen Leben reden könnten:130 „Die Konzeption ist weder biologisch noch metaphysisch begründet. (Daher habe ich den Begriff ,menschliche Natur‘ vermieden, der normalerweise mit Versuchen verbunden ist, den Menschen entweder vom Standpunkt einer angeblich wertfreien Wissenschaft oder vom Standpunkt einer normativen, oftmals telelogischen Metaphysik aus zu beschreiben.) Die Untersuchung schenkt der Biologie durchaus Beachtung, aber nur, insofern sie ein Teil der menschlichen Erfahrung ist und diese prägt. Es handelt sich um eine evaluative und im weiten Sinne ethische Untersuchung. Sie fordert uns auf, die Komponenten des menschlichen Lebens zu bewerten und zu fragen, welche so wichtig sind, daß wir ein Leben, dem sie fehlen, nicht als ein menschliches bezeichnen würden. Das Ergebnis dieser Untersuchung besteht also nicht in der Erstellung einer Liste wertneutraler Fakten, sondern in der Entwicklung einer normativen Konzeption.“131
So liegt Nussbaum zufolge dem Urteil, dass wir einen Menschen, der einen Arm verloren hat, als Menschen betrachten, während wir das womöglich nicht mehr tun, wenn er sein Denk- oder Erinnerungsvermögen oder die Fähigkeit zum Führen emotionaler Beziehungen verloren hat, eine evaluative Entscheidung darüber zugrunde, welche Merkmale wir als konstitutiv für das Menschsein ansehen.132 7. Die wesentlichen Merkmale des Menschseins Nussbaum selbst unterbreitet einen Vorschlag, welches die einschlägigen Merkmale des Menschseins sein könnten; sie nimmt an, dass dieser Vorschlag auch kulturübergreifend Anerkennung finden könnten. Sie möchte diesen Vorschlag allerdings nicht als das Ergebnis einer systematischen philosophischen Untersuchung verstanden wissen. Vielmehr handele es sich dabei um eine intuitive Zusammenstellung, die als Ausgangspunkt für eine ethische Debatte über die Frage nach den konstitutiven Elementen des Menschseins dienen könne.133 Ebenso wie die bereits genannten Listen mit den Elementen des minimalen Wohls variieren auch Nussbaums Listen mit den für das Menschsein wesentlichen Erfahrungsbereichen in ihren Schriften in geringfügiger Weise. In Der Aristotelische Sozialdemokratismus schlägt Nussbaum vor, die folgenden Erfahrungsbereiche als wesentlich für das menschliche Dasein zu betrachten:134 Sterblichkeit: „Alle Menschen haben den Tod vor sich und wissen ab einem bestimmten Alter, daß sie ihn vor sich haben. Diese Tatsache prägt mehr oder weniger jedes andere Element des menschlichen Lebens. Außerdem haben alle Menschen eine Abneigung gegen den Tod. Obwohl es viele (von Mensch zu Mensch und von Kultur zu Kultur unterschiedliche) Umstände gibt, in denen der Tod den vorhan130
Vgl. ebd., 56; dies. (1999c), 189; dies. (1999d), 262; dies. (2011), 28. Dies. (1999c), 189. 132 Vgl. ebd., 199. 133 Vgl. dies. (1999a), 48 f., 56; dies. (1999d), 257. 134 Eine leicht abweichende Liste findet sich z. B. in ebd., 257 ff. 131
II. Armut als Capability-Einschränkung
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denen Alternativen vorgezogen wird, trifft es dennoch zu, daß die Menschen im allgemeinen leben möchten […]. Wenn wir einem unsterblichen anthropomorphen Wesen begegnen würden, wäre dessen Lebensform so anders als unsere eigene, daß wir es kaum als einen Teil unserer Art betrachten könnten. Das gleiche würde zutreffen, wenn wir ein sterbliches Wesen treffen würden, das nicht die Neigung hätte, den Tod zu vermeiden oder nach Weiterleben zu streben.“135 Der menschliche Körper: „Wir leben unser gesamtes Leben in einem bestimmten Körper, dessen Möglichkeiten und Verletzbarkeiten als solche einer menschlichen Gesellschaft nicht mehr eignen als einer anderen. In diesen Körpern, die […] mehr Ähnlichkeiten als Unähnlichkeiten aufweisen, sind wir sozusagen beheimatet, und sie eröffnen uns bestimmte Möglichkeiten und versagen uns andere. Wir sind dermaßen an unseren Körper gewöhnt, daß wir leicht vergessen, wie sehr er sich von anderen Körpern und denkbaren Körpern (und von dem Zustand der Körperlosigkeit) unterscheidet, wie weitgehend und tiefgehend er unsere Möglichkeiten bestimmt. […] Die Körpererfahrung ist kulturell geprägt; aber der Körper selbst, dessen Erfordernisse nicht kulturbedingt sind, setzt den möglichen Erfahrungen Grenzen und sorgt für viele Überschneidungen.“136 Hunger und Durst: „Alle Menschen brauchen zum Leben Essen und Trinken; und alle bedürfen einer vergleichbaren Ernährung, auch wenn diese unterschiedliche Formen hat. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur ändert nichts am menschlichen Stoffwechsel. Außerdem haben alle Menschen Gelüste, die auf Bedürfnisse verweisen. Die Empfindung von Gelüsten ist bis zu einem gewissen Grad kulturell bedingt; und manchmal entsprechen sie nicht dem, was der Körper wirklich braucht. Aber trotzdem entdecken wir starke Ähnlichkeiten und Überschneidungen. Überdies wollen die Menschen im allgemeinen weder Hunger noch Durst leiden (wenngleich sie sich vielleicht aus irgendeinem Grund für das Fasten entscheiden).“137 Schutzbedürftigkeit: „Ein häufig wiederkehrendes Thema in den Mythen ist die Nacktheit des Menschen, seine relative Anfälligkeit und Empfindlichkeit gegenüber Hitze, Kälte und den Elementen generell. Die Geschichten, die den Unterschied zwischen unseren Bedürfnissen und denen von Wesen untersuchen, die mit einem Fell oder einem Panzer ausgestattet oder anderweitig geschützt sind, erinnern uns daran, wie sehr unser Leben durch das Bedürfnis bestimmt wird, uns vor Kälte oder übermäßiger Hitze, vor Regen, Wind, Schnee und Frost zu schützen.“138 Sexualität: „Obwohl das sexuelle Verlangen ein weniger starkes Bedürfnis als das nach Essen, Trinken und Schutz ist, ist es mehr oder weniger ein Merkmal eines jeden menschlichen Lebens. Aristoteles zählt es zu den Bedürfnissen, deren völliges Fehlen darauf verweisen würde, daß ein Wesen weit vom Menschsein ent135
Dies. (1999a), 49. Ebd., 50. 137 Ebd., 50 f. 138 Ebd., 51. 136
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fernt ist. Es war und ist ein sehr starker Grund dafür, daß wir andere, die sich von uns unterscheiden, als Menschen erkennen.“139 Mobilität: Wir sind Wesen, „deren Lebensform teilweise in der Fähigkeit besteht, sich auf bestimmte Weise von einem Ort zu einem anderen zu bewegen, und zwar nicht nur mithilfe der von uns hergestellten Hilfsmittel, sondern auch mit unserem eigenen Körper. Menschen bewegen sich gerne und sind nicht gerne ihrer Mobilität beraubt. Ein anthropomorphes Wesen, das, ohne behindert zu sein, beschließen würde, sich von der Geburt bis zum Tod nicht zu bewegen, würde kaum als ein menschliches Wesen betrachtet; und ein Leben ohne jede Mobilität scheint nicht ein im vollen Sinne menschliches Leben zu sein.“140 Freud und Leid: „Das Erleben von Schmerz und Freude ist allen Menschen gemeinsam – auch wenn seine kulturellen Ausdrucksformen und bis zu einem gewissen Grad das Erleben selbst unterschiedlich sind. Außerdem ist die Abneigung gegen den Schmerz als ein Grundübel ein naturwüchsiger und anscheinend nicht erlernter Teil des Menschen. Eine Gesellschaft, deren Mitgliedern diese Abneigung gänzlich fehlen würde, würde sicherlich als eine betrachtet, die außerhalb der menschlichen Grenzen steht.“141 Wahrnehmen, Vorstellen, Denken: „Alle Menschen haben eine Sinneswahrnehmung, die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, zu denken, Entscheidungen zu treffen; sie ,streben nach Wissen‘, wie es in dem berühmten Satz des Aristoteles heißt (Metaphysik I.I). […] Es ist eine offene Frage, welche Art von Unfällen oder Behinderungen, die Menschen in diesen Bereichen zustoßen können, uns zu dem Schluß gelangen lassen, daß ihre Lebensform nicht mehr eine menschliche ist. Aber wir können mit Sicherheit sagen, daß wir uns eine Gesellschaft, deren Mitgliedern die Sinneswahrnehmung, das Vorstellungsvermögen oder das Denkvermögen gänzlich fremd wäre, nicht als eine menschliche Gesellschaft vorstellen würden, wie immer sie auch aussähe.“142 Frühkindliche Abhängigkeit: „Alle Menschen beginnen ihr Leben als bedürftige Säuglinge, die ihre eigene Hilflosigkeit empfinden und abwechselnd Nähe und Distanz zu dem- oder denjenigen erfahren, von denen sie abhängig sind. Diese gemeinsame Struktur des Lebensanfangs – die in verschiedenen gesellschaftlichen Formationen sehr unterschiedlich ausgeformt ist – führt zu vielen sich überschneidenden Erfahrungen und Erlebnissen, die für die Herausbildung von Wünschen und Gefühlen von großer Bedeutung und ein wichtiger Grund dafür sind, daß wir uns in den emotionalen Erlebnissen derjenigen wieder erkennen, deren Leben sich ansonsten von dem unsrigen sehr unterscheidet. Über die Vorzüge der einen oder anderen psychoanalytischen Theorie über die frühe Kindheit läßt sich streiten; daß es eine allgemeine und gemeinsame Struktur von tiefer Bedeutung gibt, ist 139 Ebd. 140 Ebd. 141
Ebd., 52.
142 Ebd.
II. Armut als Capability-Einschränkung
153
jedoch unbestreitbar. Die Arbeiten von Freud über frühkindliche Bedürfnisse und von Melanie Klein über Schmerz, Verlust und andere Gefühle konnten, trotz einiger kulturspezifischer Unterschiede des untersuchten Materials, einen Teil des Terrains unseres gemeinsamen Menschseins abstecken. Wenn wir einer Gruppe menschlich wirkender Wesen begegnen würden und dann entdecken würden, daß sie niemals Säuglinge waren und folglich nie die Erfahrung von extremer Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Zuwendung gemacht hätten, würden wir wohl zu dem Schluß kommen, daß ihre Lebensform sich so sehr von der unsrigen unterscheidet, daß sie nicht als Angehörige unserer Art betrachtet werden könnten.“143 Praktische Vernunft: „Alle Menschen planen und führen ihr Leben (oder versuchen es zumindest), indem sie Fragen nach dem Guten und dem erstrebenswerten Leben stellen und beantworten. Außerdem möchten sie in ihrem Leben ihre Gedanken verwirklichen – also fähig sein, Entscheidungen zu treffen, Bewertungen vorzunehmen und entsprechend zu handeln. Diese allgemeine Fähigkeit hat viele konkrete Formen und ist auf komplexe Art und Weise mit anderen emotionalen, imaginativen und intellektuellen Fähigkeiten verbunden. Aber ein Wesen, dem all dies völlig fehlen würde, würde in keiner Kultur als ein im vollen Sinne menschliches Wesen betrachtet.“144 Verbundenheit mit anderen Menschen: „Wie Aristoteles behauptete, erkennen und empfinden alle Menschen eine Verbundenheit mit anderen Menschen. […] Überdies schätzen wir die Lebensform, die durch dieses Erkennen und diese Verbundenheit gekennzeichnet ist – wir leben mit anderen und auf andere bezogen und betrachten ein Leben, das ohne Bindungen zu anderen gelebt wird, nicht als lebenswert.“145 Verbundenheit mit anderen Arten und der Natur: „Die Menschen erkennen, daß sie nicht die einzigen Lebewesen in der Welt sind: Sie sind Wesen, die mit anderen Wesen und mit Pflanzen in einem Universum leben, das ein auf komplexe Weise vernetztes System ist und sie sowohl trägt als auch begrenzt. Von diesem System sind wir auf unzählige Weisen abhängig, und wir haben das Gefühl, daß wir ihm einen gewissen Respekt und eine pflegliche Behandlung schuldig sind, auch wenn wir Meinungsverschiedenheiten darüber haben, was genau wir wem aus welchen Gründen schuldig sind. Ein Wesen, das Tiere wie Steine behandeln würde und nicht zu der Einsicht fähig wäre, daß zwischen beidem ein Unterschied besteht, wäre uns wahrscheinlich zu fremd, um wirklich als ein Mensch zu gelten. Gleiches würde für ein Wesen zutreffen, das keinerlei Sinn für die Wunder und Schönheiten der Natur hätte. (Hier beobachten wir möglicherweise, daß ein Teil unserer Art sich gegenwärtig zu etwas anderem entwickelt, als gewöhnlich für menschlich gehalten wurde: Vielleicht müssen wir eines Tages entweder unsere Vorstellung vom
143
Ebd., 53.
144 Ebd. 145 Ebd.
154
F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
Menschsein ändern oder eine tiefe Kluft zwischen den menschlichen Lebensformen anerkennen).“146 Humor und Spiel: „Menschliches Leben, wo immer es gelebt wird, hat Raum für Erholung und Lachen. Die Formen, die das Spiel annimmt, sind äußerst verschieden, und dennoch erkennen wir andere Menschen über viele unterschiedliche Barrieren hinweg als Wesen, die lachen. Lachen und Spielen gehören häufig zu den tiefsten und ersten Momenten unseres wechselseitigen Erkennens. Die Unfähigkeit, zu spielen oder zu lachen, wird bei einem Kind berechtigterweise als ein Zeichen für eine tiefe Störung gedeutet; wenn diese anhält, werden wir bezweifeln, ob das Kind fähig sein wird, ein im vollen Sinne menschliches Leben zu führen. Eine ganze Gesellschaft, der diese Fähigkeit fehlen würde, würde uns äußerst fremd und erschreckend erscheinen. Wir möchten sicherlich kein Leben ohne dieses Element; und insgesamt wünschen wir uns mehr davon, als die Umstände zulassen.“147 Getrenntsein: „Wie sehr wir auch mit anderen und für andere leben, jeder von uns ist ,Eines‘ und geht von der Geburt bis zum Tod seinen eigenen Weg durch die Welt. Jeder Mensch empfindet nur seinen eigenen Schmerz und nicht den von jemand anderem. Jeder Mensch stirbt allein. Wenn ein Mensch durch den Raum geht, folgt ihm nicht automatisch ein anderer. Wenn wir die Menschen in einem Raum zählen, fällt es uns nicht schwer, festzustellen, wo der eine anfängt und der andere aufhört. Diese offenkundigen Tatsachen müssen noch einmal erwähnt werden, denn sie hätten auch anders sein können; sie sollten uns gegenwärtig sein, wenn wir hören, daß es in manchen Gesellschaften keinen Individualismus gibt. Selbst die intensivsten Formen des menschlichen Zusammenseins, zum Beispiel sexuelle Erlebnisse, sind Erlebnisse der Wechselseitigkeit und nicht der Verschmelzung. […] Und dies ist so, wie sehr sich eine Gesellschaft auch bemühen mag, die Menschen zusammenzuhalten.“148 Starkes Getrenntsein: „Aufgrund des Getrenntseins hat jedes menschliche Leben sozusagen seinen eigenen Raum und seine eigene Umgebung – Gegenstände, Orte, die man aufsucht und an denen man lebt, eine Geschichte, bestimmte Freundschaften, sexuelle Beziehungen –, die nicht dieselben wie die von irgend jemand anderem sind und durch die sich der Mensch bis zu einem gewissen Grad selbst identifiziert. Obwohl sich die Gesellschaften sehr dadurch unterscheiden, in welchem Maße sie ein starkes Getrenntsein zulassen und fördern, gibt es kein Leben – ausgenommen ein Leben in totaler Gefangenschaft, und vielleicht nicht einmal ein solches Leben –, das nicht die Worte ,mein‘ und ,nicht mein‘ in einer abgrenzenden Weise verwendet. Was ich berühre, gebrauche, liebe, worauf ich reagiere, das berühre, gebrauche, liebe und darauf reagiere ich von meinem eigenen Standpunkt aus. Die Dinge, die ich ,meine‘ nenne, sind nicht genau dieselben wie die, die von anderen so genannt werden. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Menschen sich als 146
Ebd., 54. Ebd., 54 f. 148 Ebd., 55. 147
II. Armut als Capability-Einschränkung
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Wesen erkennen, die die Möglichkeit haben möchten, für sich zu sein, die einen kleinen Raum haben möchten, in dem sie sich bewegen können, und die einige Dinge haben möchten, die sie gebrauchen, behalten und lieben können.“149 Die Liste der für das Menschsein konstitutiven Erfahrungsbereiche muss nach Nussbaum eine offene und vorläufige sein, denn es muss möglich sein, neue Merkmale hinzuzufügen und Merkmale zu entfernen, etwa dann, wenn sich unsere Handlungsmöglichkeiten grundlegend ändern, oder wenn wir durch die Begegnung mit anderen menschlichen Gesellschaften erkennen müssen, dass andere Merkmale als bisher angenommen wesentlich sind.150 Die vorgeschlagene Liste der für das Menschsein konstitutiven Erfahrungsbereiche ist, so Nussbaum, überdies heterogen, da sie zum einen Fähigkeiten enthält, nach deren Entfaltung Menschen streben, und zum anderen Grenzen nennt, gegen die Menschen ankämpfen.151 Zu den Grenzen zählt Nussbaum beispielsweise die Sterblichkeit und bestimmte körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Durst und das Bedürfnis nach Schutz. Zu den Fähigkeiten gehören für sie z. B. die Fähigkeit zur Mobilität, kognitive Fähigkeiten, praktische Vernunft oder die Fähigkeit, Verbundenheit mit anderen Menschen, Tieren und der Natur zu entwickeln.152 8. Menschsein und menschliches Wohl Worin besteht nun aber der Zusammenhang zwischen der resp. den Liste(n) mit den konstitutiven Elementen des Menschseins auf der einen und den Komponenten des menschlichen Wohls auf der anderen Seite? Der Zusammenhang besteht für Nussbaum darin, dass die Liste mit den Komponenten des Wohls jeweils eine Antwort auf die Frage gibt, was es heißt, sich in einem für das Menschsein wesentlichen Erfahrungsbereich in einer dem Menschen angemessenen Weise zu entwickeln und zu verhalten. In einer minimal gerechten Gesellschaft sollte Nussbaum zufolge möglichst jeder Mensch zu einer solch angemessenen Entwicklung bzw. Verhaltensweise in der Lage sein.153 Für die Grenzen, die zu den konstitutiven Er149
Ebd., 55 f. Vgl. ebd., 48; dies. (1999c), 189. 151 Vgl. dies. (1999a), 49, 56; dies. (1999c), 190. 152 Vgl. dies. (1999a), 49 ff. 153 Vgl. dies. (2000a), 72. Sowohl Sens als auch Nussbaums Ansatz weisen demnach gewisse Parallelen zur aristotelischen Ethik auf. So verstehen Sen und Nussbaum das Wohlergehen eines Menschen ähnlich wie Aristoteles das „menschliche Glück“ (eudaimonia), denn für Aristoteles bedeutet „eudaimonia“, dass ein Mensch „gut lebt“ (eu zën) und „gut handelt“ (eu prattein) (vgl. NE, 1095a; Sen (1992), 39, Fn. 3; Nussbaum (1999a), 35). Nussbaum sieht für ihren Ansatz darüber hinaus eine Übereinstimmung in der Methodik: Aristoteles gehe in der Nikomachischen Ethik bei der Aufstellung des Tugendkatalogs in ähnlicher Weise vor wie sie selbst bei der Bestimmung der Elemente des minimalen Wohls. Denn Aristoteles greift, so Nussbaum, zunächst „einen menschlichen Erfahrungsbereich heraus, der mehr oder weniger zu jedem menschlichen Leben gehört und in dem jeder Mensch mehr oder weniger irgendwelche Entscheidungen treffen und sich in irgendeiner Weise verhalten muß. 150
156
F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
fahrungsbereichen gehören, gilt zudem, dass der angemessene Umgang mit ihnen in aller Regel nicht in deren vollständiger Überwindung gesehen wird. Zumindest werde man sich Nussbaum zufolge nicht ohne Weiteres für deren Überwindung entscheiden, wenn das stetige Ankämpfen gegen diese Grenzen als wesentlich für das menschliche Leben betrachtet wird und deren Überwindung einen Übergang in eine andere Lebensform bedeuten würde: „Die Menschen wollen nicht hungrig sein, Entbehrungen oder Schmerz erleiden, sterben. […] Und dennoch sollten wir nicht annehmen, daß daraus die evaluative Schlußfolgerung zu ziehen ist, uns möglichst ganz von unseren Grenzen zu befreien. Es ist charakteristisch für das menschliche Leben, wiederkehrenden Hunger und Essen einem Leben ohne Hunger und Essen vorzuziehen, ebenso dem sexuellen Verlangen und seiner Befriedigung einem Leben ohne Verlangen und Befriedigung den Vorrang zu geben. Und selbst bei der Frage des Todes möchten die Menschen, wenn sie richtig darüber nachdenken, ihre Endlichkeit wahrscheinlich nicht ganz verlieren; und wenn sie es doch möchten, wäre der Preis dafür ein Übergang zu einer gänzlich anderen Lebensform mit anderen Werten und Zielen […]. Folglich muß die evaluative Schlußfolgerung in bezug auf eine menschlich gute Art des Umgangs mit diesen Grenzen sehr vorsichtig formuliert werden.“154
Nussbaum ist sich darüber im Klaren, dass mit einem solchen Ansatz die Gefahr einhergeht, dass Menschen anderen Menschen durch diese Vorgehensweise das Menschsein willkürlich aberkennen können: „Es gibt also eine empirische Grundlage für die Feststellung, daß ein bestimmter Mensch zu denjenigen Menschen gehört, für die unsere normative Konzeption und die aus ihr resultierenden Verpflichtungen gelten. […] Es gibt natürlich enorme Mißbrauchsmöglichkeiten, wenn es darum geht, festzustellen, wer die Grundfähigkeiten hat.“155
Dies gelte, so Nussbaum, jedoch für jede ethische Konzeption, die von einem bestimmten Menschenbild ausgehe, und bei jeder derartigen Konzeption könne es in der praktischen Anwendung zu Fehlanwendungen kommen. Dennoch müsse die infrage stehende Konzeption deshalb nicht als solche falsch sein. Um einem missbräuchlichen Absprechen des Menschseins möglichst vorzubeugen, könne […] Dann fragt sich Aristoteles, was es bedeutet, in diesem Bereich richtig zu entscheiden und zu handeln; und was es bedeutet, falsch zu handeln“ (dies. (1999d), 231 f.). Bei Aristoteles entspricht jedem Erfahrungsbereich eine ethische Tugend und es ist die Entwicklung und Ausübung aller Tugenden zusammengenommen, die ein gutes oder gelungenes menschliches Leben ausmachen. Für die von Nussbaum benannten Erfahrungsbereiche gilt entsprechend, dass jeder Mensch in diesen Bereichen Entscheidungen treffen muss und sich dabei – analog der Aristotelischen Tugendlehre – angemessen oder unangemessen verhalten kann. Und zu einem „angemessenen“ Verhalten in all diesen Erfahrungsbereichen in der Lage zu sein, bedeutet für Nussbaum dann wiederum nichts anderes, als zu der Verwirklichung der entsprechenden, minimalen objektiven Konzeption des Wohls befähigt zu sein (weitere Ausführungen zu den Parallelen zwischen der Konzeption Nussbaums und Aristoteles’ Tugendethik finden sich auch in dies. (1993); dies. (1999a); dies. (1999b); dies. (1999d)). 154 Dies. (1999a), 56 f. 155 Ebd., 206 f.
II. Armut als Capability-Einschränkung
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man etwa allen Wesen, die von menschlichen Eltern abstammen, das Menschsein zugestehen, es sei denn, lange Erfahrung überzeugte einen, dass die Verfassung des infrage stehenden Individuums so beeinträchtigt sei, dass es auch bei allergrößtem Aufwand von Hilfsmitteln nicht möglich sei, ihm die Entwicklung und Ausübung derjenigen Fähigkeiten zu ermöglichen, die es braucht, um sich in den für das Menschsein konstitutiven Erfahrungs- bzw. Lebensbereichen in einer dem Menschen angemessenen Weise zu entwickeln resp. zu verhalten.156 Dies könne etwa für Schwerkranke sowie für geistig und körperlich schwer beeinträchtigte Menschen gelten. Ihnen müsste das Menschsein in einem normativen Sinn zumindest Nussbaums früheren Schriften folgend womöglich abgesprochen werden.157 Nussbaum weist jedoch ausdrücklich darauf hin, dass dieser Umstand noch nichts darüber aussagt, was wir diesen Wesen in moralischer Hinsicht schulden.158 9. Vorzüge des Capability-Ansatzes Ein Vorzug des Capability-Ansatzes besteht darin, dass er Raum für die naheliegende Annahme lässt, dass das minimale menschliche Wohl multidimensional resp. als aus mehreren Komponenten bestehend verstanden werden sollte: „The approach is resolutely pluralist about value: it holds that the capability achievements that are central for people are different in quality, not just in quantity; that they cannot without distortion be reduced to a single numerical scale; and that a fundamental part of understanding and producing them is understanding the specific nature of each.“159
Ob es sich bei den als relevant betrachteten Functionings um befriedigte Grundbedürfnisse oder um etwas anderes für das menschliche Wohl Wesentliches handelt, bleibt im Capability-Ansatz – anders als im Grundbedürfnisansatz – offen und kann abhängig vom jeweiligen theoretischen Kontext aufgrund inhaltlicher Erwägungen festgelegt werden.160 Allerdings haben wir in Kapitel F. I. 1. gesehen, dass denjenigen Ansprüchen, die die Befriedigung von Grundbedürfnissen (basic needs) zum Gegenstand haben, eine besonders große Dringlichkeit zugeschrieben wird, da ihre Erfüllung unumgänglich erscheint, wenn großes Leid im Leben der 156 Vgl.
dies. (1993), 345; dies. (1999c), 206 f., 303, Fn. 242. anders dagegen Nussbaum (2010), wo es heißt: „Als erstes ist das Problem der Gerechtigkeit gegenüber Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu nennen. Niemand spricht diesen Menschen heute ab, zur Menschheit zu gehören, aber in unseren Gesellschaften sind sie noch immer nicht als Bürgerinnen und Bürger anerkannt, für die das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit gilt“ (dies. (2010), 14). 158 Vgl. dies. (1999c), 199. In den bisherigen Ausführungen offen geblieben ist die Frage, in welchem Zusammenhang die epochen- und kulturübergreifende Untersuchung von Mythen und Geschichten, die evaluative Vorgehensweise zum Ausfindigmachen der Elemente des Wohls sowie die von Nussbaum selbst vorgeschlagenen Listen eigentlich stehen. Diese Fragen werden Gegenstand von Kapitel G. I. 2. sein. 159 Dies. (2011), 18 f. 160 Vgl. ähnlich Stewart/Deneulin (2002), 64. 157 Vgl.
158
F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
Menschen vermieden werden soll. Mit der Terminologie des Capability-Ansatzes geht diese Vorstellung von Dringlichkeit und Unumgänglichkeit nicht zwingend einher;161 vielmehr liegt die Betonung auf der freien Wahl des Akteurs. Sabina Alkire hat deshalb vorgeschlagen, dass man die Terminologie des Capability-Ansatzes, wenn sie zu der Erfassung von Armut verwendet wird, mit der Terminologie der Grundbedürfnisansätze verbinden könnte: Die zu der Erfassung von Armut relevanten Befähigungen könnten demnach verstanden werden als „a capability to enjoy a functioning that […] refers to a basic need, in other words a capability to meet a basic need (a capability to avoid malnourishment; a capability to be educated, and so on)“162. Eine solche Verknüpfung hat allerdings den Preis, dass der Capability-Ansatz dann auch mit dem Problem der Grundbedürfnisansätze konfrontiert ist, klären zu müssen, was ein „Grundbedürfnis“ ausmacht.163 Der eigentliche Grund, die von Alkire vorgeschlagene Verknüpfung zu unterlassen, besteht meines Erachtens jedoch nicht darin, die besagte terminologische Schwierigkeit möglichst zu umgehen, sondern darin, dass eine solche Verknüpfung sozusagen dem „Geist“ des Capability-Ansatzes zuwiderläuft. Denn mit der starken Betonung der Entscheidungsfreiheit des Akteurs im Capability-Ansatz geht unvermeidlich eine Relativierung der Übel einher, zu deren Beseitigung jeder Mensch befähigt werden sollte: Ob und wie dringlich die Beseitigung eines fraglichen „Übels“ ist, muss im Capability-Ansatz letztendlich der Akteur entscheiden. Den Grundbedürfnisansätzen ist eine solche Relativierung dagegen nicht inhärent. Ein anderer ebenso entscheidender Grund dafür, beide Ansätze terminologisch nicht miteinander zu verknüpfen, besteht darin, dass es dem Capability-Ansatz bei der Bekämpfung von Armut gerade nicht darum geht, den Menschen nur das „Nötigste“ zu geben. Dies ist jedoch die Stoßrichtung der Grundbedürfnisansätze; sie ist es, die die mit ihnen einhergehenden Forderungen so dringlich erscheinen lässt. Dem Capability-Ansatz geht es dagegen bei der Bekämpfung von Armut darum, intrinsisch wertvolle Ziele ausfindig zu machen, die jeder Mensch in seinem Leben verwirklichen können sollte. Eine Verknüpfung mit einer wie auch immer gearteten Idee von „Grundbedürfnissen“ würde den Capability-Ansatz, wenn er zu der Erfassung von Armut verwendet wird, in dieser Hinsicht von vorneherein unnötig einengen. Durch die objektive Bestimmung des minimalen Wohls wird in einem auf dem Capability-Ansatz beruhenden Armutsverständnis zudem das „Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen“ (siehe Kap. C. II. 2.), welches mit subjektiven Armutskonzeptionen verbunden ist, vermieden. Auch Unterschiede in der individuellen Lebenslage finden Berücksichtigung im Capability-Ansatz: Die Bereitstellung welcher Hilfeleistungen in welchem Umfang nötig ist, um einen Menschen zu der Verwirklichung des minimalen objektiven Wohls zu befähigen, soll in diesem 161 Vgl.
Alkire (2002), 169 f. 163. 163 Alkire selbst möchte diese Frage mithilfe von Wiggins Grundbedürfnisansatz beantworten (vgl. ebd., 162 f.; Wiggins (1998)). 162 Ebd.,
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Ansatz ja gerade mit Blick auf die persönlichen Eigenschaften und die äußeren Umstände eines Menschen entschieden werden.164 Ein weiterer Vorzug eines am Capability-Ansatz orientierten Armutsverständnisses besteht darin, dass in ihm prinzipiell berücksichtigt werden kann, wie effizient die Bereitstellung verschiedener Kombinationen an Gütern und Leistungen jeweils ist, um die Überwindung von Armut zu erreichen.165 Um diese Frage zu untersuchen, kann man im Capability-Ansatz freilich nur auf diejenigen Hilfsbedürftigen blicken, die die ihnen zur Verfügung gestellten Hilfeleistungen auch zu der Verwirklichung des minimalen Wohls genutzt haben. Ob dies geschieht oder nicht, bleibt den Menschen im Capability-Ansatz, wie gesehen, ausdrücklich selbst überlassen. Aufgrund des zuletzt genannten Umstands hat Nussbaum wiederholt hervorgehoben, dass der Capability-Ansatz nicht mit einem Paternalismus-Problem behaftet sei.166 Die Fokussierung auf die bloße Befähigung zum Wohlergehen, und nicht auf dessen Verwirklichung, sei, wie ebenfalls gesehen, Ausdruck des Respekts, den wir vor den Entscheidungen der Individuen haben bzw. haben sollten.167 Man könnte somit auch sagen, dass dem Prinzip der Präferenzautonomie 164 Man könnte geneigt sein, anzunehmen, dass man alle Hilfeleistungen auch im Capability-Ansatz allein in Form von Geldmitteln bereitstellen könnte, um die Menschen auf diese Weise zu der Verwirklichung des minimalen Wohls zu befähigen. Und wie wir im Folgenden noch sehen werden, impliziert der Capability-Ansatz auch tatsächlich, dass möglichst viele Hilfeleistungen in Form allgemein-dienlicher Tauschmittel bereitgestellt werden, jedenfalls dann, wenn es sich um erwachsene Hilfsbedürftige handelt. Dennoch ist es nicht plausibel, anzunehmen, dass man durch die Bereitstellung von Geldmitteln das Vorliegen aller Befähigungen gewährleisten kann. Nussbaum illustriert dies am Beispiel von Rollstuhlfahrern. In Bezug auf diese könnte man annehmen, so Nussbaum, dass man ihnen nur genügend Geld geben müsse, um sie in die Lage zu versetzen, sich angemessen fortzubewegen. Nussbaum weist darauf hin, dass diese Antwort jedoch zu kurz greift: „Wir können einem Menschen, der einen Rollstuhl benötigt, sehr viel Geld geben, und doch wird er keinen Zugang zum öffentlichen Raum bekommen, solange dieser nicht umstrukturiert wird. Vielleicht könnte sich ein sehr wohlhabender Mensch einen Vollzeit-Chauffeur und einige Träger leisten, die ihn in Gebäuden ohne Rampen die Treppen hinauftragen. Selbst wenn es ein vernünftiges politisches Ziel wäre, Menschen mit Beeinträchtigungen zu so viel Wohlstand zu verhelfen (was nicht der Fall ist), wären wir trotzdem nicht zur Wurzel des Problems vorgedrungen: Dieser Mensch sollte einfach nicht auf einen Chauffeur oder eine Reihe von Trägern angewiesen sein. Es sollte Rollstuhlzugänge zu Bussen und Gehwegen geben, und alle Gebäude sollten Rampen und rollstuhlkompatible Fahrstühle haben. Eine derartige Umgestaltung des öffentlichen Raums ist für die Würde und die Selbstachtung von Menschen mit Beeinträchtigungen wesentlich“ (Nussbaum (2010), 234). 165 In ihren neueren Schriften fordert Nussbaum – unter Verweis auf die Arbeiten von Wolff und de-Shalit (2007) – ausdrücklich, dass wir möglichst diejenigen Functionings (resp. Capabilities) im Leben von Menschen ausfindig machen sollen, deren Vorliegen die Verwirklichung möglichst vieler anderer grundlegender Capabilities fördert und deren Beförderung der Bekämpfung von Armut damit in einer besonders effizienten Weise dient (vgl. Nussbaum (2011), 44 f.; Dixon/Nussbaum (2012), 580 f.). 166 Vgl. z. B. dies. (2000a), 8. 167 Vgl. ebd., 88.
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F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
im Capability-Ansatz insofern Genüge getan wird, als niemand dazu gezwungen wird, eine bestimmte Konzeption des Wohls in seinem Leben zu verwirklichen, und die faktischen Wünsche und Präferenzen der Menschen auch in diesem Ansatz Berücksichtigung finden: „We respect the importance of desire and preference by building into the most basic level of the account the option to pursue the goal or not.“168 Die Fokussierung auf Befähigungen und nicht auf Verwirklichungen geht zudem mit dem Vorzug einher, dass dadurch die Eigenverantwortlichkeit der Menschen für ihr eigenes Wohl mitberücksichtigt werden kann: „Freedom to choose gives us the opportunity to decide what we should do, but with that opportunity comes the responsibility for what we do – to the extent that they are chosen actions.“169 Auf den Fall der Armut übertragen heißt dies: Menschen werden dem Capability-Ansatz zufolge nur dann als „arm“ betrachtet, wenn sie nicht dazu befähigt sind, die minimale Konzeption des Wohls zu verwirklichen. Oder anders ausgedrückt: Besitzt ein Mensch die „positive Freiheit“, um die minimale Konzeption des Wohls zu verwirklichen, nutzt diese aber zu der Verwirklichung anderer Ziele, so liegt dies in seiner eigenen Verantwortung. Einen weiteren Vorzug ihrer Konzeption sieht Nussbaum, wie gesehen, darin, dass die konstitutiven Elemente des Wohls bewusst in einer recht abstrakten und vagen Form beschrieben werden, und dadurch Raum für individuell oder kulturell unterschiedliche Spezifizierungen bzw. Instanziierungen dieser Elemente bleibt:170 Da jedes Element des minimalen Wohls im Prinzip unterschiedliche „lokale Spezifikationen“ zulässt, sieht Nussbaum ihre ethische Konzeption als mit verschiedenen Kulturen vereinbar an;171 sie sieht ihren Ansatz deshalb vor dem Vorwurf gefeit, kulturimperialistisch oder, wie sie sich auch ausdrückt, „paternalistisch“ zu sein. Ganz generell gehe mit der Annahme ihrer Konzeption nicht schon die Übernahme einer speziellen Lebensweise – wie etwa der westlichen – einher: „[D]er […] Ansatz ist kein paternalistischer […] [172], der Menschen in weit entfernten Ländern einfach sagt, was ,Klugheit‘ gebietet. Er ist eine Aufforderung, an einem intellektuellen Abenteuer teilzunehmen. […] Die Beteiligten werden mit einem Katalog von Möglichkeiten bekannt gemacht und zu einem Dialog darüber aufgefordert – und nach
168
Ebd., 154. Sen (2009), 19. 170 Vgl. Nussbaum (1999a), 46; dies. (1999c), 212 f.; dies. (2000a), 8, 77; dies. (2010), 111, 235, Fn. 8; dies. (2011), 40, 107 ff. Man denke etwa an das Beispiel der Freundschaft, die in unterschiedlichen Gesellschaften womöglich in einer jeweils etwas unterschiedlichen Weise verstanden wird, aber dennoch stets eine mögliche Instanziierung des Functionings der „Sozialität“ darstellt (vgl. dies. (1999a), 74; dies. (1999d), 248). 171 Vgl. dies. (1999a), 74 f. 172 Vgl. zu Paternalismus-Einwänden gegen den Capability-Ansatz auch Stewart (2001), 1192; Deneulin (2002); Sugden (2006) und ders. (2008a) sowie Carter (2014); siehe eingehender zum „Paternalismus-Einwand“ in dieser Arbeit Kapitel G. II. 169
II. Armut als Capability-Einschränkung
161
einem kreativen Prozeß des Nachdenkens werden sie gefragt, wofür sie sich entscheiden würden.“173
Dennoch sollen bestehende Traditionen einer Gesellschaft, so Nussbaum weiter, nicht unkritisch übernommen werden, sondern sie sollen, wenn nötig, in einer Weise korrigiert werden, die dazu führt, dass jeder Mensch zu der Verwirklichung der „vagen“ minimalen Konzeption des Wohls befähigt wird. Diese Veränderungen sollen allerdings in einer Weise vonstatten gehen, die mit den bestehenden Bedingungen und der Geschichte der fraglichen Gesellschaft soweit wie möglich in Einklang steht.174 Nussbaum ist sich im Klaren, dass in Gesellschaften, in denen Diskriminierung und Ungleichbehandlung vorherrschend sind, nicht ohne Weiteres ein Interesse an der Diskussion oder Anerkennung selbst dieser vagen Konzeption des Guten bestehen wird.175 Raum für individuellen Pluralismus bleibt in Nussbaums Variante des Capability-Ansatzes aufgrund des bereits genannten Umstands, dass jeder selbst entscheiden kann, ob er die bereitgestellten Hilfeleistungen auch zur Verwirklichung des minimalen Wohls nutzt oder nicht. Es gilt hier allerdings anzumerken, dass es fast schon zynisch erscheint, den von Nussbaum angeführten Umstand, dass man frei wählen kann, ob man die minimale Konzeption des Wohls verwirklicht oder nicht, als eine Ermöglichung von „individuellem Pluralismus“ zu verstehen. Denn eine gehaltvolle Form von „individuellem Pluralismus“ wird den Menschen nur dann eröffnet, wenn sie nicht nur die Wahl haben, die objektive minimale Konzeption des Wohls zu verwirklichen oder nicht zu verwirklichen, sondern wenn ihnen überdies die Möglichkeit offensteht, davon abweichende Konzeptionen des Wohls zu realisieren. Um dies zu gewährleisten, sollten wir deshalb in einem auf dem Capability-Ansatz basierenden Armutsverständnis auch sicherstellen, dass jedem Menschen unterschiedliche Möglichkeiten hinsichtlich der Instanziierung der Elemente des menschlichen Wohls eröffnet werden und jedermann im Licht seiner subjektiven Konzeption des Wohls wählen kann, welche Instanziierungen dieser Elemente er umsetzt. Dadurch wäre allerdings immer noch nicht gewährleistet, dass Menschen neben den Elementen des minimalen objektiven Wohls auch andere Ziele mit den bereitgestellten Hilfeleistungen verfolgen könnten, sofern sie dies möchten. Dass derartige Möglichkeiten ebenfalls möglichst existieren sollten, erscheint aber durch die in Kapitel D. gemachten Ausführungen geboten. Denn wir haben dort gesehen, dass die Präferenzautonomie der Menschen in möglichst großem Umfang gewahrt werden sollte. Möglichst wenig schränkt man die Präferenzautonomie Hilfsbedürftiger aber dadurch ein, dass man ihnen Hilfeleistungen möglichst nicht in Form von Sach- und Dienstleistungen, sondern in Form allgemein-dienlicher Mittel – typischerweise also in Form von finanziellen Mitteln – zur Verfügung stellt. Durch die Bereitstellung solcher Mittel wird nicht nur gewährleistet, dass Trade-Offs und 173
Nussbaum (1999a), 76. Vgl. ebd., 75. 175 Vgl. ebd. 174
162
F. Am minimalen Wohl orientierte Armutsverständnisse
unterschiedliche Instanziierungen hinsichtlich der Verwirklichung der Komponenten des minimalen objektiven Wohls möglich sind, sondern es wird auch sichergestellt, dass Hilfsbedürftige im Prinzip auch Ziele verwirklichen können, die kein Bestandteil der objektiven Konzeption des minimalen Wohls sind. Die Bereitstellung möglichst allgemein-dienlicher Mittel stellt also ein hilfreiches Mittel dar, um dem individuellen Pluralismus möglichst viel Raum einzuräumen.176 Wir sollten Hilfsbedürftigen somit möglichst viele Hilfeleistungen in Form allgemein-dienlicher Mittel zur Verfügung stellen; jedenfalls ergibt sich diese Forderung dann, wenn den Hilfsbedürftigen die Hilfeleistungen ebenso gut in Form von Geld wie in Form von Sach- oder Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden können, ohne dass dies eine wesentliche Kostenerhöhung aufseiten der Pflichtenträger zur Folge hätte.177
176
Vgl. ähnlich Carter (2014), 96 f. Die Situation des Hilfsbedürftigen muss dann freilich so beschaffen sein, dass man mit den allgemein-dienlichen Mitteln auch tatsächlich die minimale Konzeption des Wohls verwirklichen kann. In Situationen extremen Mangels, wie Hungers- oder Naturkatastrophen, in denen „der Markt“ zusammenbricht, und wichtige Güter mithilfe finanzieller Mittel nicht mehr erworben werden können, ist dies unter Umständen nicht der Fall. In einer solchen Ausnahmesituation erscheint es dann freilich nötig, den Menschen stattdessen Sach- und Dienstleistungen als Hilfeleistungen zur Verfügung zu stellen. 177
G. Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes In Kapitel F. II. wurde deutlich, dass ein am Capability-Ansatz orientiertes Armutsverständnis die mit den anderen Ansätzen verbundenen Probleme vermeidet, ohne jedoch deren Vorzüge aufzugeben. Dennoch ist auch der Capability-Ansatz bei genauer Betrachtung mit einer ganzen Reihe von Problemen behaftet, die in den folgenden Abschnitten diskutiert werden sollen. Es wird sich zeigen, dass der Ansatz auch in der Variante Nussbaums, soll er zu einer aus einer moralischen Perspektive angemessenen Explikation des Armutsbegriffs führen, in einigen Hinsichten präzisiert, ergänzt oder modifiziert werden muss, und zwar sowohl, wenn wir ihn zur Explikation von Armut im Leben Erwachsener als auch im Leben von Kindern verwenden.
I. Wahl und Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls– ein Alternativvorschlag zu Sen und Nussbaum Wenden wir uns zunächst der Frage zu, mit welchen Problemen der CapabilityAnsatz in der Variante Nussbaums verbunden ist, und inwiefern die von ihr vorgeschlagene Vorgehensweise zu der Bestimmung der Komponenten des minimalen Wohls unzureichend ist. Im Anschluss daran soll dann – ausgehend von den Ideen von John Finnis, John Boyle Jr. und Germain Grisez – ein Alternativvorschlag zu der Bestimmung der Komponenten des menschlichen Wohls unterbreitet werden. 1. Der moralische Anspruch auf bzw. die Pflicht zu der Förderung des menschlichen Wohls in Nussbaums Ansatz Jeder Mensch hat Nussbaum zufolge einen Anspruch darauf, die objektive Konzeption des menschlichen Wohls in minimalem Umfang verwirklichen zu können. Dass ein solcher Anspruch besteht, wird von Nussbaum nicht eigens gerechtfertigt. Vielmehr verweist sie auf die Intuition, dass das Vorliegen der grundlegenden menschlichen Fähigkeiten selbst schon der Ausdruck eines moralischen Anspruchs sei, den die Politik zu befriedigen helfen müsse, und zwar der Ausdruck eines Anspruchs darauf, die Lücke zwischen dem potenziellen Menschsein und dessen Realisierung in einem zumindest minimalen Umfang zu schließen: „Der Fähigkeiten-Ansatz geht von der grundlegenden Intuition aus, daß das Vorhandensein der menschlichen Fähigkeiten den moralischen Anspruch auf Entfaltung begründet. Die Menschen sind so beschaffen, bei entsprechender pädagogischer und materieller Unterstützung befähigt zu werden, die wichtigsten menschlichen Tätigkeiten auszuüben […]. […] Die Grundfähigkeiten der Menschen verlangen nach Betätigung, und daraus ergeben sich die entsprechenden politischen Verpflichtungen. […] Es ist die Kluft zwi-
164
G. Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes
schen den potentiellen menschlichen Fähigkeiten und ihrer vollen Entfaltung, die einen moralischen Anspruch begründet.“1
Der moralische Anspruch ergibt sich für Nussbaum also aus dem Vorliegen der konstitutiven Elemente des Menschseins. Doch selbst wenn man dies hinnimmt, stellt sich die Frage, weshalb einigen Menschen die Pflicht obliegen sollte, das Wohl der anderen in der genannten Weise zu fördern und sie dieser Förderung in bestimmtem Umfang sogar Vorrang vor der Förderung des eigenen Wohls einräumen sollten: „What I find lacking in the Aristotelian account of human capabilities is the space, both in theory and in practice, which allows one’s understanding of the ,human condition‘ in Aristotelian terms to be translated into actively generated moral insight on the part of human actors.“2
2. Unzulänglichkeiten bei der Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls und der Festlegung der institutionellen Rahmenbedingungen in Nussbaums Ansatz Unterbestimmt erscheint der Ansatz Nussbaums auch insofern, als kein Kriterium benannt wird, mit dessen Hilfe sich entscheiden ließe, welche Spezifikationen der Komponenten des Wohls zulässig sind; das gleiche gilt für die institutionellen Rahmenbedingungen und Ressourcen, die als Voraussetzungen bzw. Mittel zu der Befähigung des minimalen Wohls geschaffen bzw. bereitgestellt werden müssen. Obgleich Nussbaum uns die Antwort auf diese Fragen schuldig bleibt, unterbreitet sie sehr konkrete Vorschläge sowohl in Bezug auf die Spezifikationen der Komponenten des Wohls als auch in Bezug auf die institutionellen Rahmenbedingungen und Ressourcen, die als Mittel zur Verwirklichung der minimalen objektiven Konzeption des Wohls dienen sollen. So gehört Nussbaum zufolge zu einer angemessenen Entwicklung der Denkfähigkeit nicht nur die Aneignung von Lese- und Schreibfertigkeiten sowie mathematischer Grundkenntnisse, sondern auch eine „wissenschaftliche Grundausbildung“. Zum Gebrauch der eigenen Fantasie und des Denkvermögens befähigt zu sein, bedeutet für sie, geistig bereichernde Werke und Ereignisse der eigenen Wahl in dem Bereich der Literatur, der Religion, der Musik usw. hervorbringen zu können;3 zu der Befähigung des Gebrauchs der praktischen Vernunft gehört ferner, einer beruflichen Tätigkeit außer Haus nachgehen und am politischen Leben teilnehmen zu können.4 Auch nennt Nussbaum institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen, die ihres Erachtens gewährleistet sein müssen, um von einem Menschen sagen zu können, dass er zu der Verwirklichung einer bestimmten Komponente des Wohls befähigt ist:5 So sei es etwa zu der Entwicklung 1
Nussbaum (1999c), 205 f.; vgl. ähnlich dies. (1993), 345; dies. (2000a), 83. Benhabib (1995), 255. 3 Vgl. Nussbaum (1999c), 200 f.; dies. (2000a), 78 f.; dies. (2010), 112 f.; dies. (2011), 33. 4 Vgl. dies. (1999c), 201. 5 Vgl. Alkire/Black (1997), 266. 2
I. Wahl und Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls
165
der Vorstellungsfähigkeit und des Denkvermögens nötig, die politische und künstlerische Meinungs- resp. Religionsfreiheit gesetzlich zu garantieren.6 Weitere von ihr genannte Rahmendbedingungen sind der Schutz von Institutionen zu der Förderung der Sozialität, die Versammlungsfreiheit, das Recht auf politische Partizipation, Eigentumsrechte für alle auf gleicher Basis, die Freiheit vor ungerechtfertigten Durchsuchungen und Beschlagnahmungen oder die Freiheit vor Eingriffen in besonders persönliche Entscheidungen wie Heirat, Arbeit, Sprache usf. (siehe Kap. F. II.). Empfehlungen sowohl in Bezug auf die Spezifizierung der vergleichsweise abstrakt formulierten Komponenten des Wohls als auch in Bezug auf die zu deren Verwirklichung nötigen institutionellen Voraussetzungen zu erteilen, erscheint mit Blick auf die praktische Umsetzung eines am Capability-Ansatz orientierten Armutsverständnisses zwar wünschenswert. Dennoch benötigt man Kriterien, um zu entscheiden, ob eine bestimmte Spezifikation des menschlichen Wohls oder die genannten institutionellen Voraussetzungen und Ressourcen aus einer ethischen Perspektive angemessen erscheinen. Nussbaum selbst ist sich im Klaren darüber, dass ihr Ansatz diesbezüglich einer Ergänzung bedarf.7 Des Weiteren stehen die zum Teil sehr detaillierten Spezifikationen der Elemente des Wohls wie auch die angegebenen institutionellen Rahmenbedingungen in einem Spannungsverhältnis zu dem von Nussbaum selbst erhobenen Anspruch, dass ihre Konzeption aufgrund ihrer Vagheit viel Raum für kulturellen und individuellen Pluralismus lasse. Betrachtet Nussbaum die von ihr vorgeschlagenen rechtlichen Rahmenbedingungen aber als wesentliche Bestandteile ihrer Konzeption, dann gilt, dass sie ebenso wie die Rawls’sche letztendlich nur in liberalen Demokratien Anwendung finden kann: Um Nussbaums Konzeption zu übernehmen, müssten Gesellschaften bereit sein, „westliche“ Vorstellungen im Bereich der Bildung und der Arbeitswelt (z. B. die Möglichkeit der Arbeitssuche für alle, die Möglichkeit außer Haus tätig zu sein, die Möglichkeit, eine grundlegende wissenschaftliche Ausbildung zu erhalten) zu akzeptieren. Auch werden die Versammlungsfreiheit, das Recht auf politische Partizipation, Eigentumsrechte für alle auf gleicher Basis, die Freiheit vor ungerechtfertigten Durchsuchungen und Beschlagnahmungen sowie die Freiheit vor Eingriffen in besonders persönliche Lebensentscheidungen wie Heirat, Arbeit, Sprache usw. nicht in allen Gesellschaften gleichermaßen akzeptiert.8 Nussbaum hat sich aus diesem Grund auch den Vorwurf einer „Überspezifikation“ (overspecification) ihres Ansatzes eingehandelt.9 6 Vgl.
Nussbaum (1999c), 200 f.; dies. (2000a), 78 f.; dies. (2010), 112 f.; dies. (2011), 33. dies. (1999d), 247. 8 Nussbaum sieht die Garantie grundlegender Rechte und Freiheiten als einen notwendigen Bestandteil ihrer Konzeption an: „The political liberties have a central importance in making well-being human. A society that aims at well-being while overriding these has delivered to its members an incompletely human level of satisfaction“ (dies. (2000a), 96). Auch kommt grundlegenden Rechten und Freiheiten Nussbaum zufolge nicht nur ein instrumenteller, sondern auch ein intrinsischer Wert zu (vgl. ebd., 96). 9 Vgl. Sen (1993), 47; Gasper (1997), 296. 7 Vgl.
G. Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes
166
3. Unzulänglichkeiten der Nussbaum’schen Vorgehensweise bei der Auswahl der Komponenten des Wohls Präzisierungsbedarf besteht überdies hinsichtlich der von Nussbaum in ihren früheren Schriften vorgeschlagenen Vorgehensweise zur Bestimmung der Komponenten des minimalen objektiven Wohls.10 Wie in Kapitel F. II. 6. deutlich wurde, schlägt sie zum einen vor, die für das Menschsein relevanten Merkmale durch die Betrachtung von Mythen und Geschichten aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Kulturen ausfindig zu machen, und zwar vor allem mit Blick auf diejenigen Mythen und Geschichten, in denen beschrieben wird, inwiefern Menschen sich von Tieren und Göttern unterscheiden: Aus dieser Unterscheidung lasse sich dann, so Nussbaum weiter, ersehen, welche Erfahrungen für das Menschsein konstitutiv sind, und welche Eigenschaften uns, wenn wir sie denn hätten, zu Göttern machen würden. Nussbaum zufolge erscheint es möglich, dass die so ausfindig gemachten Merkmale des Menschseins uns zu einem universalen Menschenbild führen könnten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob gerade ein solches Vorgehen geeignet ist, um dieses Ziel zu erreichen. Denn über die Vorstellungen von Göttern bestehen stark divergierende Meinungen, bezüglich derer die Menschen zudem häufig nur wenig kompromissbereit sind.11 Auch ist unklar, welchen Stellenwert eine Unterscheidung zwischen Göttern und Tieren auf der einen und Menschen auf der anderen Seite bei der Ermittlung der relevanten Komponenten des menschlichen Wohls haben sollte: „[…] [P]ractical reflection does not set out to create a theory of human distinctiveness. It may well be that no other beast or god share this set of dimensions of flourishing, that these are indeed uniquely characteristic of human being, but that is not how the question is put, for comparative questions are theoretical even metaphysical, not internalist, questions.“12
Es stellt sich in diesem Zusammenhang zudem die Frage, ob die von Nussbaum gewählte Vorgehensweise nicht unnötig kompliziert ist: Denn ihrem Ansatz zufol10 Vgl.
Alkire (2002), 39. Vgl. ähnlich Alkire/Black (1997), 265. 12 Vgl. ähnlich ebd., 267. „Internalist“ verwendet Alkire hier in Anlehnung an Nussbaums Ausdruck „internal essentialism“ (Nussbaum (1992)); mit diesem Ausdruck bezeichnet Letztere ihr eigenes Vorgehen beim Ausfindigmachen der für das Menschsein konstitutiven Merkmale. Dass dieses „internalistisch“ ist, bedeutet Nussbaum zufolge nichts anderes, als dass die Wahl der für das Menschsein konstitutiven Elemente in einer mit Blick auf das menschliche Selbstverständnis „evaluativen“ Weise erfolgen soll (vgl. ebd., 208). Mit „Essentialismus“ ist gemeint, dass angenommen wird, dass es Elemente des Menschseins gibt, die über kulturelle Grenzen hinweg als konstitutiv für das Menschsein angesehen werden können. Anti-Essentialisten gehen dagegen davon aus, dass zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten jeweils andere Merkmale für das Menschsein als konstitutiv betrachtet werden. Für Nussbaum sind Anti-Essentialisten deshalb „[…] people, who […] are taking up positions of reaction, oppression, and sexism. Under the banner of their radical and politically correct ,antiessentialism‘ march ancient religious taboos, the luxury of the pampered husband, ill health, ignorance, and death“ (ebd., 204). 11
I. Wahl und Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls
167
ge soll in einem ersten Schritt festgelegt werden, welches die für das Menschsein konstitutiven Erfahrungsbereiche sind, bevor dann in einem zweiten Schritt die Frage beantwortet wird, was es heißt, sich in den jeweiligen Bereichen in einer dem Menschen angemessenen Weise zu entwickeln und zu verhalten.13 Offen bleibt überdies die Frage, weshalb das, was das minimale objektive Wohl ausmacht, überhaupt so beschaffen sein sollte, dass es einen Menschen in denjenigen Erfahrungsbereichen, die für das Menschsein konstitutiv sind, zu einem bestimmten Verhalten und zur Entwicklung bestimmter Eigenschaften in die Lage versetzt. Warum kann, wozu wir minimal befähigt werden sollen, nicht etwas anderes sein als die Befähigung zu einem richtigen Leben und Handeln in den diesen Erfahrungsbereichen? Bisher wurde auch nicht geklärt, in welchem Zusammenhang die von Nussbaum vorgeschlagenen Listen mit den konstitutiven Elementen des Menschseins und des menschlichen Wohls, die kultur- und epochenübergreifende Untersuchung menschlicher Selbstverständnisse in Geschichten und Mythen sowie die vorgeschlagene evaluative Vorgehensweise zum Ausfindigmachen der Komponenten der beiden Arten von Listen eigentlich stehen. Versteht man die epochen- und kulturübergreifende Untersuchung von Mythen und Geschichten und die ethische Debatte als zwei eigenständige Vorgehensweisen zu der Auswahl der Elemente der Listen, so ist nicht gewährleistet, dass beide Vorgehensweisen zu übereinstimmenden Listen führen. Ebenso wenig ist gewährleistet, dass diese Listen mit den von Nussbaum vorgeschlagenen übereinstimmen. Es stellt sich in dem Fall aber die Frage, welcher Liste wir gegebenenfalls Vorrang einräumen sollten resp. auf welche Weise vollständig oder teilweise divergierende Elemente auf den Listen miteinander zu vermitteln wären.14 Auch bleibt unterbestimmt, auf welche Weise sowohl die ethische Debatte als auch die epochen- und kulturübergreifende Untersuchung von Mythen und Geschichten konkret umzusetzen wäre. Hinsichtlich der ethischen bzw. evaluativen Vorgehensweise zu der Auswahl der Komponenten des Wohls erfährt man in Nussbaums früheren Schriften nur, dass es sich um ein „vernünftiges“ Verfahren handeln solle,15 wobei sie die „Vernünftigkeit“ eines solchen Verfahrens nicht schon durch das Vorliegen demokratischer Entscheidungsprozeduren als gewährleistet sieht: „Erstens habe ich den Eindruck, daß die demokratischen Verfahrensweisen, wie sie tatsächlich praktiziert werden, keineswegs immer Vernünftigkeit verkörpern; um also zu beschreiben, was ein demokratisches Verfahren vernünftig macht, müssen wir einen Begriff des Vernünftigen haben, der zumindest bis zu einem gewissen Grad vom Begriff ,Demokratie‘ unabhängig ist. Wenn wir zweitens die Demokratie von Anfang an in die Grundstruktur des Menschenbegriffs einarbeiten, hindert uns dies daran, später die Frage zu stellen, welches politische System am besten geeignet ist, den Bürgern unter sehr verschiedenen Lebensumständen die Entfaltung der menschlichen Grundfähigkeiten zu ermöglichen. Es kann sich herausstellen, daß die Antwort immer ,Demokratie‘ lauten 13 Vgl.
Alkire/Black (1997), 266. Vgl. ähnlich ebd., 265; Alkire (2002), 36. 15 Vgl. Nussbaum (1999c), 190, 303, Fn. 245. 14
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G. Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes
wird. Aber auch dann wird es sich meiner Ansicht nach kaum um eine reine Demokratie handeln […] Kein moderner demokratischer Staat ist eine reine Demokratie, und es sollte an diesem Punkt offenbleiben, welche Rolle relativ undemokratische Institutionen wie etwa der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten bei der Förderung der Fähigkeiten der Bürger spielen sollten.“16
Die Frage, wie sich ein solch „vernünftiger Prozess“ gestalten sollte, bleibt aber in ihren früheren Schriften ebenso offen wie die Frage, auf welche Weise die kultur- und epochenübergreifende Untersuchung von Mythen und Geschichten erfolgen sollte. So stellt sich hinsichtlich der Untersuchung der Mythen und Geschichten etwa die Frage, ob wir diejenigen Komponenten als konstitutiv für das menschliche Selbstverständnis resp. das menschliche Wohl betrachten sollten, die in den meisten Kulturen und den meisten Epochen genannt wurden. Oder gibt es ein bestimmtes Kriterium der Gewichtung? Oder sieht Nussbaum die Untersuchung von Geschichten und Mythen gar nicht als eigenständige Vorgehensweise zur Herleitung eines universalen menschlichen Selbstverständnisses resp. einer Konzeption des Wohls an und unterlässt es deshalb, weitere Angaben zu diesem Verfahren zu machen? Analysiert man Nussbaums ethische Konzeption genauer, zeigt sich, dass sie die Betrachtung von Mythen und Geschichten tatsächlich nicht als eigenständige Vorgehensweise betrachtet. Denn sie ist sich im Klaren darüber, dass eine bestimmte Erfahrung, die in Geschichten und Mythen immer wieder auftaucht, nicht per se als konstitutiv für das Menschsein angesehen werden sollte, da nicht jeder prominente Erfahrungsbereich auch erhaltenswert ist: Auch grundlegende Erfahrungen können Ausdruck schlechter Lebensumstände sein und die entsprechende Befähigung, in einem solchen Erfahrungsbereich angemessen zu handeln, würde eine bloße Anpassung an diese schlechten Umstände darstellen. Für das wirklich gute Leben würde also gelten, dass es weder die infrage stehende Unzulänglichkeit bzw. grundlegende Erfahrung noch die Befähigung zu deren Überwindung beinhaltet.17 Die Frage, ob wir eine Erfahrung als konstitutiv für das Menschsein oder als zu überwindende Unzulänglichkeit betrachten sollten, muss Nussbaum zufolge deshalb mit Blick darauf beantwortet werden, ob deren Erhaltung dem menschlichen Guten insgesamt eher zu- oder eher abträglich ist: So muss man Nussbaum zufolge beispielsweise 16 Ebd. 17 Vgl. Nussbaum (1999d), 246. Ein Beispiel bieten womöglich Rauschzustände: Es ist anzunehmen, dass sich in einer epochen- und kulturübergreifenden Untersuchung zeigen würde, dass viele Menschen in vielen Kulturen eine Neigung haben, Rauschzustände in mehr oder weniger großen Abständen bewusst herbeizuführen. Man kann sich jedoch die Frage stellen, ob diese Erfahrung deshalb eine ist, die als für das Menschsein konstitutiv betrachtet werden sollte, oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um eine Erfahrung handelt, die wir im Leben von Menschen zumindest dann, wenn es um stark gesundheitsschädliche und/oder schnell abhängig machende Drogen geht, möglichst beseitigen sollten. Auch Fähigkeiten und Eigenschaften wie Listenreichtum, Machtstreben, Religiosität, Konkurrenzdenken oder geschlechtsspezifische Unterschiede in der Behandlung von Menschen tauchen in Mythen und Geschichten immer wieder auf; auch für diese Erfahrungen lässt sich fragen, ob sie als Bestandteil der menschlichen Grundbefähigungen betrachtet werden sollten (vgl. Kellerwessel (2012)).
I. Wahl und Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls
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bedenken, dass die Abschaffung der „Erfahrung“ von Privateigentum – selbst wenn sie in mancherlei Hinsicht wünschenswert erscheinen mag – womöglich auch zu einem Verlust an Entscheidungsfreiheit des Einzelnen führen könnte.18 Um zu entscheiden, ob eine Erfahrung als eine für das Menschsein grundlegende angesehen werden sollte oder nicht, bedarf es somit einer Vorstellung der gedeihlichen menschlichen Entwicklung oder des minimalen Wohls, die von den in Mythen und Geschichten ausgedrückten Ideen unabhängig ist. Nur mithilfe einer solchen Vorstellung lässt sich angemessen entscheiden, ob es sich bei einer menschlichen Erfahrung um eine handelt, die weiterhin als konstitutives Element für das Menschsein betrachtet werden sollte, oder ob es sich um eine „behebbare Unzulänglichkeit“ handelt, die, wenn möglich, beseitigt resp. dauerhaft überwunden werden sollte.19 Um zu einer solch unabhängigen Konzeption des Wohls zu gelangen, bedarf es dann aber offenbar einer ethischen Debatte, in der die Komponenten des Wohls in einer evaluativen Weise bestimmt werden.20 Die epochen- und kulturübergreifende Untersuchung von Mythen und Geschichten stellt demnach also kein eigenständiges Verfahren dar, um die relevanten Elemente des Menschseins oder des menschlichen Wohls zu ermitteln. Vielmehr ist ihre Aufgabe wohl darin zu sehen, mögliche menschliche Selbstverständnisse, wie auch mögliche Verhaltensweisen in den grundlegenden Erfahrungsbereichen, zutage zu fördern, die dann als Ausgangspunkt einer ethischen Debatte dienen können. Und auch die von Nussbaum selbst vorgeschlagenen Listen sind in dieser Weise zu verstehen, und zwar als Vorschläge von denen – wie sie selbst an einigen Stellen schreibt – eine ethische Debatte über die relevanten Aspekte des Menschseins resp. des menschlichen Wohls ihren Ausgang nehmen könnte.21 Ob eine ethische Debatte zu den von Nussbaum vorgeschlagenen Elementen des Menschseins resp. Wohls führen würde, bleibt allerdings eine offene Frage. So erscheint fraglich, ob wir Wesen, die keinerlei sexuelles Verlangen verspüren, die kognitiv in ihrer Denkfähigkeit soweit eingeschränkt sind, dass sie das Lesen und Schreiben nicht erlernen können, oder die kein Bedürfnis danach haben, zu spielen oder pfleglich mit der Natur umzugehen, nicht als „Menschen“ resp. nicht als „zu unserer Art gehörig“ betrachten würden, obgleich sie von menschlichen Eltern abstammen.22 Gelangen wir aber zu dem Schluss, dass wir diese Wesen als zu unserer Art gehörig betrachten, so handelt es sich bei den infrage stehenden Erfahrungsbereichen auch nicht mehr um für das Menschsein konstitutive Elemente, wie wir in diesen Lebensbereichen auch zu nichts mehr befähigt werden müssten. Da die von Nussbaum genannten Elemente des menschlichen Wohls gleichwohl unzweifelhaft von großer Bedeutung für das Leben vieler sind, wäre es womöglich besser, 18 Vgl.
Nussbaum (1999d), 263. Vgl. ebd., 246. 20 Vgl. ebd., 262. 21 Vgl. z. B. Nussbaum (1999a), 56. 22 Vgl. ähnlich Fabre/Miller (2003), 8, 13. 19
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G. Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes
die Komponenten des minimalen Wohls unabhängig von der Frage zu bestimmen, welches die für das Menschsein konstitutiven Merkmale sind. Man kann Nussbaums Vorschlag, eine kultur- und epochenübergreifende Untersuchung über menschliche Selbstverständnisse durchzuführen, auch so verstehen, dass dadurch sichergestellt werden soll, dass der Blickwinkel in dieser Debatte nicht von vorneherein auf ganz bestimmte menschliche Selbstverständnisse verengt wird. Wenn dies das Ziel ist, stellt sich aber die Frage, weshalb nur Mythen und Geschichten und nicht auch andere Vorstellungen über das Menschsein, wie sie sich etwa in der Philosophie, der Psychologie, der Anthropologie, der Soziologie, der Kunst etc. finden, Eingang in diese Debatte finden sollten. Die gleiche Frage stellt sich zudem mit Blick auf die Vorstellungen jedes Einzelnen von uns: Wenn Nussbaum keinen überzeugenden Grund dafür nennt, weshalb nur Geschichten, Mythen und ihre eigenen Vorstellungen in diese Debatte eingehen sollten, kommt sie offenbar nicht umhin, auch alle anderen für diese Frage relevanten und zugänglichen Ideen einzuholen und in die ethische Debatte einzubringen. Es wird dann aber zunehmend unklar, worin Nussbaums eigenständige Vorgehensweise zu der Bestimmung der konstitutiven Merkmale des Menschseins resp. der Elemente des Wohls eigentlich besteht. Auch müsste geklärt werden, auf welche Weise eine ethische Debatte über eine solch große Anzahl von Vorstellungen über das Menschsein und das menschliche Wohl eigentlich zu einem Ergebnis gelangen sollte23 und weshalb dieses Vorgehen besonders geeignet sein sollte, Kontroversen über diese Fragen aufzulösen. Ein konsensfähiges Ergebnis der ethischen Debatte über diese Fragen erschiene allenfalls dann wahrscheinlich, wenn weitere je nachdem sachliche oder prozedurale Kriterien angegeben würden, an denen sich die faktische Diskussion zu orientieren hätte. Dem würde Nussbaum sicherlich nicht widersprechen, denn sie stellt sich, wie gesehen, vor, dass ihre Listen das Ergebnis eines „vernünftigen“ Prozesses und nicht lediglich einer faktischen Konsensbildung sein sollten.24 Doch auch wenn Nussbaum davon ausgeht, dass die konstitutiven Elemente des Menschseins und des menschlichen Wohls durch einen „vernünftigen“ Prozess ausfindig gemacht werden könnten und sollten, bleibt sie uns die Darlegung eines solchen Prozesses in ihren frühen Schriften zum Capability-Ansatz gleichwohl schuldig. 4. Modifikationen in Nussbaums späteren Schriften 25 In Nussbaums späteren Schriften tritt ihre ursprüngliche Idee, dass es in ihrem Ansatz darum gehen soll, jeden dazu zu befähigen, sich in den für das Menschsein konstitutiven Lebensbereichen in einer dem Menschen angemessenen Weise zu verhalten resp. zu entwickeln, in den Hintergrund.26 Sie verzichtet nun darauf, die 23 Vgl.
Alkire/Black (1997), 266. Nussbaum (1999c), 190. 25 Vgl. zu einer kurzen Zusammenfassung von Veränderungen, die Nussbaum in ihren späteren Schriften zu dem Capability-Ansatz vorgenommen hat, auch Deneulin (2002), 507 ff. 26 Vgl. Nussbaum (2000a); dies. (2010) und (2011). 24 Vgl.
I. Wahl und Spezifikation der Komponenten des minimalen Wohls
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für das „Menschsein“ konstitutiven Lebensbereiche zu benennen bzw. in der oben beschriebenen Weise ausfindig zu machen. Gleichwohl scheint die ursprüngliche Idee ihres Ansatzes, Menschen dazu zu befähigen, sich in bestimmten zentralen Lebensbereichen in einer dem Menschen angemessenen Weise entwickeln und verhalten zu können, an verschiedenen Stellen noch auf. So heißt es beispielsweise in Women and Human Development: „The intuitive idea behind the approach is twofold: first, that certain functions are particularly central in human life, in the sense that their presence or absence is typically understood to be a mark of the presence or absence of human life; […] and second […] that there is something that it is to do these functions in a truly human way, not a merely animal way.“27
Auch wenn die in ihren früheren Schriften vorgeschlagene Vorgehensweise zu der Bestimmung der Elemente der Listen keine Erwähnung mehr findet, werden gleichwohl weitere Listen mit Elementen des menschlichen Wohls benannt, zu deren Verwirklichung möglichst jeder Mensch befähigt werden sollte, um ein würdiges Leben führen zu können. Die Elemente, die sie auf diesen Listen anführt, bleiben nahezu die gleichen wie auf ihren früheren Listen (siehe Kap. F. II. 5.). Als „Menschen“ gelten in Nussbaums späteren Schriften – anders als in ihren früheren Schriften – nun nicht mehr nur diejenigen Lebewesen, die über alle auf den Listen genannten Befähigungen verfügen resp. diese bei geeigneter Förderung entwickeln können. Als „Menschen“ gelten jetzt vielmehr alle Lebewesen, die von menschlichen Eltern abstammen, es sei denn, es würde sich zeigen, dass ein Wesen in extremem Ausmaß dauerhaft in seinen kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt ist, so wie dies beispielsweise im Fall schwer Demenzkranker, bei Personen, die im Wachkomma liegen oder bei Kindern, die an Anenzephalie leiden, der Fall ist.28 Gegen Nussbaums modifizierten Ansatz lässt sich somit nicht mehr vorbringen, dass er zu dem wenig überzeugenden Schluss führt, dass menschliche Wesen, denen etwa das Verlangen zu spielen oder nach dem „pfleglichen“ Umgang mit der Natur fehlt, nicht als „Menschen“ zu gelten hätten, da ihnen eine für das Menschsein konstitutive Fähigkeit fehlt.29 Auch verringert diese breitere Verständnisweise 27
Dies. (2000a), 71 f.; vgl. ähnlich ebd., 76, 101; dies. (2010), 251. dies. (2000a), 73; dies. (2010), 64, 251 f., 260; dies. (2011), 24. Nussbaum ist sich darüber im Klaren, dass wir auch Wesen, die unter Einschränkungen der genannten Art leiden, im Alltag häufig als „Menschen“ bezeichnen. Den Grund dafür sieht sie darin, dass diese Wesen ebenfalls einen menschlichen Körper haben und von menschlichen Eltern abstammen, weshalb uns unsere moralischen Gefühle dazu motivieren, auch in diesen Fällen von „Menschen“ zu sprechen. Die Rede von „Menschen“ sollte, so Nussbaum, in diesen Fällen jedoch bloß als eine metaphorische Redeweise verstanden werden (vgl. dies. (2010), 261). 29 Vgl. ebd., 252, Fn. 18. Nussbaums neuerer Konzeption zufolge sind also Nachfahren menschlicher Abkommen nur bei sehr starken kognitiven Beeinträchtigungen nicht mehr als Menschen zu betrachten; Menschen mit Down-Syndrom gehören Nussbaum zufolge etwa zu der Gruppe der Menschen im vollen Sinn. Es stellt sich allerdings die Frage, ob tatsächlich alle Menschen, die in diesem Sinn als Menschen zu verstehen sind, auch bis zu 28 Vgl.
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G. Kritik und Modifikation des Capability-Ansatzes
des „Menschseins“ die von Nussbaum in früheren Schriften selbst erwähnte Gefahr, dass Menschen das „Menschsein“ willkürlich aberkannt und ihnen die mit diesem Status einhergehenden Ansprüche vorenthalten werden könnten. Dreh- und Angelpunkt ihrer späteren Schriften zum Capability-Ansatz ist die Frage, was ein der Würde des Menschen entsprechendes resp. menschenwürdiges Leben ausmacht, welches jeder Mensch zu führen in der Lage sein sollte.30 Die in diesen Schriften vorgeschlagenen Listen mit Elementen des Wohls stellen Vorschläge zur Konkretisierung eines solchen Lebens dar: Ein menschenwürdiges Leben führt, wer in minimalem Ausmaß zu der Verwirklichung der angeführten Elemente des Wohls – und damit zu der Verwirklichung der von Nussbaum vorgeschlagenen Konzeption des sozialen Minimums – befähigt ist.31 Um ein menschenwürdiges Leben zu führen, muss man diese Komponenten des Wohls jedoch nicht verwirklichen; es reicht die entsprechende Befähigung aus.32 Sie weist des Weiteren darauf hin, dass es sich bei der gesuchten resp. der von ihr vorgeschlagenen minimalen Konzeption des Wohls um eine bloß partielle und nicht um eine umfassende (comprehensive) Vorstellung des guten Lebens handelt resp. handeln sollte. Genau genommen soll es sich bei der gesuchten resp. vorgeschlagenen partiellen Konzeption des Wohls um eine „liberale“ oder „politische“ Konzeption handeln. D. h., sie soll so beschaffen sein, dass Menschen mit ganz dem fraglichen Schwellenwert hin die zu einem menschenwürdigen Leben nötigen Befähigungen entwickeln können. Und falls dem nicht so ist, wäre es dann nicht sinnvoller, für verschiedene Personengruppen verschiedene Listen für ein menschenwürdiges Leben zu entwickeln? Nussbaum verneint dies. Der Grund dafür liegt für sie darin, dass eine starke Tendenz besteht, die Potenziale und die Möglichkeiten zu übersehen resp. erst gar nicht zu erforschen, die Menschen mit Beeinträchtigungen ein im vollen Sinn menschliches Leben ermöglichen würden (vgl. ebd., 261 ff.). Die Forderung der Nussbaum’schen Konzeption besteht deshalb darin, dass alle Menschen die Möglichkeit haben sollten, „in dem Maße, wie ihr Zustand es erlaubt, das volle Spektrum der menschlichen Vermögen auszubilden und die ihnen mögliche Art der Freiheit und Unabhängigkeit zu genießen“ (ebd., 303). 30 Vgl. dies. (2000a), 71 ff., 148; dies. (2010), 104 f., 219, 226, 232 f.; dies. (2011), 29. Nussbaum zufolge kommt zumindest einigen Tieren ebenfalls eine Würde zu, der die Gesellschaft gerecht werden muss. Auf die Frage, welcher Umgang mit Tieren der moralisch richtige ist, werde ich hier nicht eingehen. Vgl. zu Nussbaums Ideen zu dieser Frage im Besonderen dies. (2010), Kap. 6. 31 Vgl. dies. (2000a), 73 f.; dies. (2010), 104 f., 219, 226, 243. 32 Wörtlich heißt es bei Nussbaum: „A person may prefer to work with an intense dedication that precludes recreation and play. Am I declaring, by my very use of the list, that such lives are not worthy of the dignity of the human being? And am I instructing government to nudge or push people into functioning of the requisite sort, no matter what they prefer? It is important that the answer to this question is no. Where adult citizens are concerned, capability, not functioning, is the appropriate political goal. […] It is perfectly true that functionings, not simply capabilities, are what render a life fully human, in the sense that if there were no functioning of any kind in a life, we could hardly applaud it, no matter what opportunities it contained. Nonetheless, for political purposes it is appropriate that we shoot for capabilities, and those alone“ (dies. (2000a), 87).
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unterschiedlichen Lebensvorstellungen sie als eine anerkennen können, zu deren Verwirklichung jeder Mensch befähigt werden soll resp. auf deren Verwirklichung jeder Mensch einen Anspruch hat.33 Nussbaum geht davon aus, dass einem solchen Anspruch eine entsprechende Pflicht korrespondiert, deren Erfüllung primär der jeweiligen Gesellschaft resp. deren Angehörigen obliegt. Falls die primären Pflichtenträger ihrer Pflicht nicht nachkommen, obliegt den Angehörigen der wohlhabenden Staaten eine sekundäre Pflicht, die nötigen Hilfen bereitzustellen.34 Die gesuchte minimale Konzeption des Wohls muss demnach nicht nur so beschaffen sein, dass Menschen mit unterschiedlichen, umfassenden Lebensvorstellungen jedem anderen einen individuellen Anspruch auf die Befähigung zu deren Verwirklichung zugestehen. Sie muss auch so beschaffen sein, dass Menschen mit unterschiedlichen Lebensvorstellungen anerkennen, dass sie gegebenenfalls einen Beitrag zu der Erfüllung dieser Ansprüche leisten müssen. Der Anspruch auf ein soziales Minimum sollte Nussbaum zufolge zudem die Form eines juridischen und verfassungsrechtlich geschützten Rechts annehmen, um so sicherzustellen, dass der infrage stehende Anspruch tatsächlich erfüllt wird und – durch den verfassungsrechtlichen Schutz – nicht leichthin wieder aberkannt werden kann.35 Ihre modifizierte Vorgehensweise zur Erstellung der Liste mit den Elementen des menschlichen Wohls versteht Nussbaum als „ergebnisorientiert“. Das bedeutet für sie, dass es zunächst die Elemente des minimalen Wohls zu benennen gilt. Wir erhalten diese Elemente, indem wir uns fragen, von welchen Formen des Wohls wir intuitiv annehmen würden, dass sie für ein menschenwürdiges Leben relevant sind.36 Dieses „Vorgehen“ ist aus Nussbaums Sicht jedoch mit verschiedenen Schwierigkeiten behaftet und bedarf deshalb der Erweiterung: So könnte es beispielsweise sein, dass uns nicht alle Komponenten des Wohls „einfallen“, deren Zugänglichkeit zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens als relevant betrachtet werden sollte. Um dies möglichst zu vermeiden, sollen wir uns bereits 33
Vgl. ebd., 74 ff., 96, 148; dies. (2010), 104 f., 228; dies. (2011), 19, 76, 90, 169. Nussbaum (2011), 121, 169. Dass sie ihren Ansatz in ihren neueren Schriften als „liberalen Ansatz“ versteht, der eine bloß partielle Konzeption des Wohls beinhaltet, macht Nussbaum erstmals in Nussbaum (1998a) explizit (vgl. zu dieser neuen Denkweise aber auch dies. (1998b); dies. (1999e)); ihren eigenen Angaben zufolge trägt sie ihren modifizierten Ansatz mündlich erstmals bereits im Jahr 1994 vor (vgl. dies. (2000b), 102). Eine eingehendere Erörterung der Frage, inwiefern Nussbaums späterer Ansatz tatsächlich als „liberaler Ansatz“ wie derjenige Rawls’ verstanden werden sollte, wie diese in ihren neueren Schriften selbst immer wieder betont, findet sich z. B. in Barclay (2003). 35 Vgl. dies. (2000a), 74; dies. (2010), 394 ff.; dies. (2011), 35 f.; dies. (2011), 42 ff., 73 ff. Auf die Anforderung, dass Menschen nicht fürchten müssen sollten, ein einmal verwirklichtes Functioning wieder zu verlieren, haben Wolff und de-Shalit hingewiesen. Die Idee, dass die Verwirklichung eines Functionings einem Menschen möglichst dauerhaft garantiert werden soll, firmiert bei ihnen auch unter dem Schlagwort der „secure functionings“ (vgl. Wolff/de-Shalit (2013), 161). Vgl. kritisch zu Nussbaums Forderung, die grundlegenden Befähigungen verfassungsrechtlich zu garantieren, z. B. Crocker (2008), 356 ff. 36 Vgl. Nussbaum (2010), 219, 242 f. 34 Vgl.
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existierende, miteinander konkurrierende Positionen zu der angemessenen Ausgestaltung eines sozialen Minimums wie auch die Vorstellungen anderer Personen zu dieser Frage vergegenwärtigen.37 Doch auch wenn wir die zuletzt genannte Erweiterung vornehmen, gelangen wir hinsichtlich der Frage nach der angemessenen Ausgestaltung eines sozialen Minimums resp. der Konzeption des minimalen menschlichen Wohls nicht unbedingt zu einer in moralischer Hinsicht befriedigenden Antwort. Um zu einer solchen zu gelangen, müssen wir Nussbaum zufolge überdies überprüfen, ob ein „Überlegungsgleichgewicht“ zwischen unserer so erlangten Vorstellung eines sozialen Minimums und unseren wohlüberlegten moralischen Urteilen besteht; sofern dies nicht der Fall ist, muss ein solches hergestellt werden.38 Als Beispiel für wohlüberlegte moralische Urteile nennt Nussbaum etwa die weithin geteilte Annahme, dass jedem ein Recht auf körperliche Unversehrtheit zugestanden werden sollte, sowie die Auffassung, dass Vergewaltigung und häusliche Gewalt die Menschenwürde verletzen würden.39 Dass ein Überlegungsgleichgewicht zwischen unseren Intuitionen über die angemessene Ausgestaltung eines sozialen Minimums und unseren wohlüberlegten moralischen Urteilen besteht, bedeutet, dass beides konsistent nebeneinander Bestand haben kann: Ein Überlegungsgleichgewicht herzustellen heißt, bestehende Inkonsistenzen zu beseitigen, indem wir entweder unsere wohlüberlegten moralischen Urteile oder unsere Vorstellungen hinsichtlich des minimalen Wohls korrigieren. Dies müssen wir solange tun, bis unsere Vorstellungen über das minimale Wohl und unsere – gegebenenfalls modifizierten – wohlüberlegten moralischen Urteile miteinander in Einklang stehen.40 Nussbaum geht davon aus, dass Menschen mit verschiedenen umfassenden Lebensentwürfen mithilfe dieser Vorgehensweise zu einem „überlappenden Konsens“ hinsichtlich der Frage gelangen könnten, zu welcher Art von sozialem Minimum alle Menschen einen Zugang haben sollten.41 Die Komponenten des sozialen Minimums werden ihrer Auffassung zufolge dann in etwa mit den von ihr selbst vorgeschlagenen Komponenten übereinstimmen.42 Dass überdies ein kulturübergreifender Konsens über die so ausfindig gemachten Elemente erreicht werden könne, so Nussbaum weiter, zeige der Blick in verschiedene Gesellschaften; dieser erweise, dass häufig die gleichen Formen des Mangels als tragisch betrachtet würden:43 37 Vgl.
dies. (2000a), 102; dies. (2000b), 116 f. dies. (2000a), 101 f.; dies. (2000b), 116 f.; dies. (2010), 242 f. 39 Vgl. dies. (2000a), 77, 101; dies. (2000b), 116 f. 40 Vgl. dies. (2000a), 101 f.; dies. (2000b), 116 f.; dies. (2011), 78 ff. 41 Was sie mit einem „überlappenden Konsens“ meint, beschreibt sie wie folgt: „By ,overlapping consensus‘ I mean what John Rawls means: that people may sign on to this conception as the freestanding moral core of a political conception, without accepting any particular metaphysical view of the world, any particular comprehensive ethical or religious view, or even any particular view of the person or human nature“ (dies. (2000a), 76). 42 Vgl. ebd., 76 f., 101 f., 148; dies. (2000b), 124; dies. (2011), 79, 91. 43 Vgl. dies. (2000a) 74; dies. (2011), 123 ff. 38 Vgl.
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„I believe that we can arrive at an enumeration of central elements of truly human functioning that can command a broad cross-cultural consensus. (One way of seeing this is to think about the ways in which tragic plots cross cultural boundaries: certain deprivations are understood to be terrible, despite differences in metaphysical understandings of the world.“44
Der Blick auf die Gepflogenheiten verschiedener Kulturen wird in Creating Capabilities aber auch deshalb als wichtig erachtet, weil er uns dabei hilft, herauszufinden, welche Functionings in einer Gesellschaft jeweils besonders „ergiebig“ resp. „fruchtbar“ ( fertile) sind, um möglichst viele für das menschenwürdige Leben relevante Functionings in effizienter Weise zu fördern. Nussbaum nennt als Beispiel für ein solch „fruchtbares Functioning“ die Kreditaufnahme von Frauen in Indien: „Fertile functionings are of many types, and which functionings […] are fertile may vary from context to context. In Vasanti’s story, we can see that access to credit is a fertile capability, for the loan enabled her to protect her bodily integrity (not returning to her abusive husband), to have employment options, to participate in politics, to have a sense of emotional well-being, to form valuable affiliations, and to enjoy enhanced self-respect.“45
Weitere Beispiele für Functionings dieser Art sind Bildung, Sozialität oder – abhängig vom Kontext – auch Landbesitz.46 Das Konzept der „fruchtbaren Func tionings“ ( fertile functionings) übernimmt Nussbaum ebenso wie das Konzept der „zersetzenden Nachteile“ (corrosive disadvantages) von Wolff und de-Shalit.47 Unter Letzterem verstehen diese das Vorliegen oder Fehlen von Functionings, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu negativen Effekten in vielen Lebensbereichen führen würden, wie dies beispielsweise bei dem Bestehen einer Drogenabhängigkeit oder dem Vorliegen von Obdachlosigkeit der Fall ist.48 Da die Förderung von „fruchtbaren Functionings“ resp. die Beseitigung „zersetzender Nachteile“ so große Auswirkungen auf wichtige andere Befähigungen von Menschen hat, müssen diese ausfindig gemacht und ihrer Förderung resp. Beseitigung muss in der Politik Priorität eingeräumt werden.49 Welchen Functionings eine solche Wichtigkeit zu44
Dies. (2000a), 74. Dies. (2011), 44. 46 Vgl. ebd., 44. 47 Vgl. Wolff/de-Shalit (2007). 48 Das Vorliegen bestimmter Deprivationen oder Probleme macht es allerdings nur wahrscheinlicher, dass bestimmte andere Deprivationen oder Probleme auftreten; sie führen aber in aller Regel nicht notwendigerweise zu negativen Auswirkungen. Die Resilienzforschung beschäftigt sich mit der Frage, woran es liegt, dass einige Menschen es schaffen, diese mit einer Deprivation üblicherweise einhergehenden negativen Konsequenzen zu vermeiden. Ich werde auf das Phänomen der Resilienz im weiteren Verlauf nicht eingehen. Vgl. zum Phänomen der Resilienz in verschiedenen Lebensspannen z. B. Rönnau-Böse/ Fröhlich-Gildhoff (2015); vgl. zur Resilienz im Erwachsenenalter z. B. Leipold (2015); vgl. speziell zur Resilienz von Kindern in Armut z. B. Zander (2010) und (2013). 49 Vgl. Wolff/de-Shalit (2013), 161; Nussbaum (2011), 45. 45
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kommt, kann von Gesellschaft zu Gesellschaft und – so muss hier ergänzt werden – von Personengruppen zu Personengruppe variieren.50 Nussbaum nimmt weiter an, dass die Menschen längerfristig aufgeklärte Präferenzen entwickeln können, deren vordringlicher Gegenstand es ist, jedem Menschen einen Anspruch auf ein derart ausgestaltetes Minimum zuzugestehen. „Aufgeklärt“ sind die Präferenzen resp. Wünsche der Menschen Nussbaum zufolge dann, wenn sie unter Bedingungen ausgebildet werden, die der kritischen Reflexion traditioneller Werte und Praxen förderlich sind. Derartige Bedingungen liegen ihres Erachtens vor, wenn Menschen keine Angst vor Einschüchterungen haben müssen, sie keine relevanten Wissensdefizite haben, sie frei von bitterer Not sind und sie anderen als Gleiche begegnen können. Urteile, zu denen Menschen unter derartigen Bedingungen gelangen, sind, so Nussbaum, verlässlicher als diejenigen, die in Unwissenheit, Angst und bitterer Not getroffen werden, und stellen deshalb auch eine solide Grundlage für einen politischen Konsens über die Frage dar, auf welche Form von Minimum jeder Mensch einen Anspruch haben sollte. Um zu zeigen, dass es im Prinzip möglich ist, dass Menschen kulturübergreifend zu einem solchen Konsens gelangen können, führt sie den Umstand an, dass Menschen, denen unter den genannten Bedingungen die Möglichkeit gegeben wird, etwa Lesen und Schreiben zu lernen, sich angemessen um ihre Gesundheit zu kümmern oder sich gegen häusliche Gewalt zu wehren, in der Regel kein Leben mehr möchten, in dem sie diese Möglichkeiten nicht haben. Allerdings geht sie auch davon aus, dass eine allgemeine und kulturübergreifende Zustimmung zu der von ihr vorgeschlagenen Konzeption minimaler sozialer Gerechtigkeit in vielen Gesellschaften nur längerfristig zu erreichen sein wird. Den Grund dafür sieht sie darin, dass die allgemeine Garantie eines sozialen Minimums für einige Gesellschaftsmitglieder eine Verschlechterung ihrer eigenen Position darstellen würde: So mag es beispielsweise in männerdominierten Gesellschaften zunächst auf Ablehnung stoßen, wenn Frauen ihren Lebenspartner frei wählen oder diesen nach eigenem Gutdünken wieder verlassen dürfen oder ihnen durch außerhäusliche Tätigkeiten die Möglichkeit gegeben wird, ökonomische Freiheit zu erlangen. Dennoch erscheint es Nussbaum 50 Nussbaum ist sich – anders als Wolff und de-Shalit – genau genommen jedoch nicht sicher, ob „Fertile Functionings“ oder „Fertile Capabilities“ die relevante Größe sind, die es hier ausfindig zu machen gilt (vgl. dies. (2011), 44 f.). Zu Recht weisen Wolff und de-Shalit darauf hin, dass nur verwirklichte „Functionings“ tatsächlich „fruchtbar“ oder „ergiebig“ für die Verwirklichung anderer Functionings sein können. Wolff und de-Shalit drücken diesen Gedanken auch wie folgt aus: „But then, how can an unrealized capability be fertile? Only, presumably, if it can instantly be realized, but then it is the functioning that is doing the work. Take the example of affiliation as a fertile advantage. How might it be so? An example comes from work in India where it has been shown that ,empowering women‘s groups’ has beneficial effects for the mental health of new mothers, among other significant benefits (Tripathy et al. (2010)). How so? Presumably because women learn from each other; they are stronger together; they support each other in times of need and hardship; and become more confident individually. The unrealized capability for affiliation will have none of these effects“ (Wolff/ de-Shalit (2013), 164). Ich folge in diesem Punkt Wolff und de-Shalit und spreche im Text entsprechend nur von „Fertile Functionings“ bzw. „fruchtbaren Functionings“.
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zufolge prinzipiell möglich, dass ihre Konzeption – zumindest längerfristig – mit den aufgeklärten Wünschen und Präferenzen der Menschen übereinstimmt. Da die aufgeklärten Wünsche und Präferenzen besonders stabil bzw. verlässlich sind, kann sich, so Nussbaum weiter, ihre Konzeption der minimalen sozialen Gerechtigkeit – sofern die fraglichen äußeren Bedingungen vorliegen – überdies als sehr stabil erweisen.51 Ein Blick auf die aufgeklärten Wünsche und Präferenzen erscheint Nussbaum zufolge auch deshalb nötig, weil dadurch offenbar wird, was die Menschen tatsächlich wollen. Und darauf zu sehen, was die Menschen tatsächlich wollen, sei wiederum eine Frage des Respekts, den wir den Menschen schuldeten.52 Auch helfe die Betrachtung der aufgeklärten Wünsche und Präferenzen der Menschen dabei, festzustellen, ob bei der Ausgestaltung des sozialen Minimums Elemente des menschlichen Wohls übersehen worden seien resp. bestimmten Elementen nicht genügend Gewicht beigelegt worden sei.53 Mit dem zuletzt genannten Punkt stellt Nussbaum damit in einer weiteren Variante die Forderung auf, dass wir möglichst viele Vorstellungen über das menschliche Wohl bei der Ausgestaltung eines sozialen Minimums in Betracht ziehen sollten.54 5. Kritik an Nussbaums modifizierter Variante des Capability-Ansatzes In ihren späteren Schriften entwickelt Nussbaum ihren Ansatz somit vor allem in zwei Hinsichten weiter: Zum einen gibt sie eine Antwort auf die Frage, wie sich ein „vernünftiges“ Verfahren zum Ausfindigmachen der konstitutiven Elemente des minimalen Wohls gestalten sollte; dieses Verfahren ersetzt offenbar die in ihren früheren Schriften vorgeschlagene Vorgehensweise zu der Bestimmung der Elemente des minimalen Wohls. Zum anderen versucht sie in ihren späteren Schriften zu zeigen, dass es möglich ist, dass der Anspruch auf ein so ausfindig gemachtes Minimum zumindest längerfristig breite und kulturübergreifende Anerkennung findet. Wie sich in den folgenden Abschnitten zeigen wird, erscheinen jedoch beide Weiterentwicklungen ihres Ansatzes nicht überzeugend. Den Ausführungen in Kapitel G. I. 4. folgend sollen die Elemente des minimalen Wohls in Nussbaums späteren Schriften wie folgt ausfindig gemacht werden: In einem ersten Schritt soll man sich mit möglichst vielen unterschiedlichen Vorstellungen des menschlichen Wohls vertraut machen. Im Anschluss daran soll eine 51 Vgl.
Nussbaum (2000a), 151 ff., 161 ff.; dies. (2000b), 117 f. dies. (2000a), 154; vgl. ähnlich dies. (2000b), 118. 53 Vgl. dies. (2000a), 151. 54 Zu einer ein wenig anders gelagerten Interpretation von Nussbaums Vorgehensweise zum Ausfindigmachen der relevanten Capabilities in ihren neueren Schriften vgl. z. B. Okin (2003); Jaggar (2006). Die von diesen vorgebrachten Kritikpunkte an Nussbaums Vorgehensweise sind dementsprechend ebenfalls anders gelagert als die im folgenden Abschnitt von mir vorgebrachten. Eine Erwiderung vonseiten Nussbaums auf Okins Einwände findet sich in Nussbaum (2004). 52 Vgl.
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intuitive Antwort auf die Frage gegeben werden, welche Konzeption des Wohls jeder Mensch verwirklichen können sollte, damit von ihm gesagt werden kann, dass er zu dem Führen eines menschenwürdigen Lebens befähigt ist. Diese Vorstellung soll dann wiederum mit unseren wohlüberlegten moralischen Urteilen in Einklang gebracht werden. Wie gesehen, nimmt Nussbaum an, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen umfassenden Lebensvorstellungen durch dieses Vorgehen zu einer einheitlichen Vorstellung eines sozialen Minimums gelangen könnten bzw. ein „überlappender Konsens“ bezüglich dieser Frage erreicht werden könnte. Bei genauer Betrachtung erscheint Letzteres jedoch unwahrscheinlich: Zunächst einmal haben Menschen sehr unterschiedliche Intuitionen darüber, wie ein soziales Minimum beschaffen sein sollte – beispielsweise abhängig davon, ob sie annehmen, dass sie sich selbst dauerhaft eher in der Position des Pflichtenträgers oder des Hilfsempfängers befinden werden. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass Präferenzen und Überzeugungen, die sich einer Anpassung an ungünstige oder ungerechte Umstände verdanken, in das geforderte Überlegungsgleichgewicht eingehen und am Ende ausschlaggebend sind. Nussbaum weist zwar wiederholt darauf hin, dass sie mit ihrem Ansatz vermeiden möchte, dass solche Präferenzen und Überzeugungen die Grundlage unserer Gerechtigkeitstheorie bilden; bei dem von ihr genannten Vorgehen ist dies jedoch nicht ausgeschlossen.55 Überdies ändert sich an dem Umstand, dass Menschen zu unterschiedlichen Vorstellungen über die angemessene Ausgestaltung eines sozialen Minimums gelangen können, auch nicht notwendigerweise dadurch etwas, dass die Menschen sich mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen des minimalen Wohls auseinandersetzen, wie Nussbaum dies vorschlägt. Und divergierende Vorstellungen in Bezug auf diese Frage sind auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Menschen ihre so gewonnene Vorstellung des minimalen Wohls im Anschluss in ein Überlegungsgleichgewicht mit ihren wohlüberlegten moralischen Urteilen bringen. Der Grund für Letzteres besteht zum einen darin, dass Nussbaum nicht näher ausführt, was unter „wohlüberlegten moralischen Urteilen“ zu verstehen ist; sie nennt vielmehr nur Beispiele für derartige Urteile.56 Ohne eine solche Erläuterung bleibt aber unklar, welche Urteile bei der Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts überhaupt in Betracht gezogen werden sollten. Man könnte Nussbaums Konzeption freilich auch so verstehen, dass jedem selbst überlassen bleibt, welche Urteile er als „wohlüberlegte moralische Urteile“ betrachtet. Dies wird die Wahrscheinlichkeit, auf dem genannten Weg zu einem einheitlichen Urteil über die richtige Ausgestaltung eines sozialen Minimums zu gelangen, jedoch noch weiter verringern.
55 Vgl.
Jaggar (2006), 318; Clark (2013), 176. Anders als Nussbaum erläutert Rawls eingehender, was er unter einem „Überlegungsgleichgewicht“ wie auch unter „wohlüberlegten Urteilen“ versteht. Vgl. einführend zu der Darstellung dieser Ideen bei Rawls wie auch zu den damit verbundenen Problemen Munk (2010); eine eingehendere Analyse und Kritik des Rawls’schen „Überlegungsgleichgewichts“ findet sich z. B. in Hahn (2000). 56
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Des Weiteren gilt: Selbst wenn wir einmal annehmen, dass es Klarheit darüber gäbe, welches die in diesem Kontext in Betracht zu ziehenden wohlüberlegten moralischen Urteile sind, wäre damit noch nicht sichergestellt, dass alle durch die Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts zu einer einheitlichen Vorstellung über die angemessene Ausgestaltung des sozialen Minimums gelangen würden. Denn schließlich bleibt dieser Vorgehensweise zufolge jedem selbst überlassen, ob er dadurch zu einem Überlegungsgleichgewicht gelangt, dass er seine Vorstellung des sozialen Minimums oder seine wohlüberlegten moralischen Urteile abändert; auch können diese Veränderungen auf jeweils ganz unterschiedliche Weise und in ganz unterschiedlichen Kombinationen erfolgen. Wenn die von Nussbaum vorgeschlagene Vorgehensweise aber zu unterschiedlichen Vorstellungen über eine angemessene Ausgestaltung des sozialen Minimums führen kann, bleibt unklar, welche Vorstellung des sozialen Minimums im Zweifelsfall zu wählen wäre; die von ihr dargelegte Form der Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts gibt uns darüber keine Auskunft.57 Nicht zuletzt stellt die Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts allein nicht sicher – wie Nussbaum dies offenbar annimmt –, dass man zu einer Ausgestaltung des sozialen Minimums gelangt, die in moralischer Hinsicht befriedigend erscheint: So sind beispielsweise viele Ausgestaltungen sozialer Minima denkbar, die nicht gegen die weitverbreitete moralische Annahme, dass jedem ein Recht auf Leben garantiert werden soll, verstoßen. Dass verschiedene Ausgestaltungen sozialer Minima nicht gegen grundlegende moralische Annahmen wie diese verstoßen, bedeutet jedoch noch nicht, dass sie aus einer moralischen Perspektive betrachtet alle gleichermaßen angemessen erscheinen. Nussbaum führt demnach auch in ihren späteren Schriften keine überzeugende Vorgehensweise an, um zu einer moralisch angemessenen Ausgestaltung eines sozialen Minimums zu gelangen. Ebenso wenig überzeugend erscheinen die Argumente, die sie anführt, um zu zeigen, dass die von ihr vorgeschlagene Vorstellung des Wohls eine ist, die tatsächlich kulturübergreifend Zustimmung finden könnte. Sie verweist, um dies plausibel zu machen, etwa darauf, dass in vielen Gesellschaften bestimmte Deprivationen gleichermaßen als tragisch betrachtet würden. Derart pauschale Verweise reichen jedoch nicht aus, um zu zeigen, dass auch hinsichtlich all jener Deprivationen, die Nussbaum als relevant für das Vorliegen von Armut betrachtet, ein kulturübergreifender Konsens wahrscheinlich ist. Vielmehr werden viele der von Nussbaum genannten Deprivationen in vielen Gesellschaften gerade nicht als „tragisch“, sondern im Gegenteil sogar als wünschenswert betrachtet, wie beispielsweise die Abwesenheit von Meinungs- und Religionsfreiheit, die freie Wahl des Lebenspartners oder das Recht auf politische Partizipation.58 Dieser Umstand erübrigt sich auch nicht dadurch – wie Nussbaum offenbar annimmt –, dass ihre Konzeption ja „nur“ fordert, Menschen zur Verwirklichung bestimmter
57 Vgl. 58
Jaggar (2006), 315 f. Vgl. ähnlich Stewart (2001), 1191 f.; Fabre/Miller (2003), 8; Robeyns (2005b), 207.
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Functionings zu befähigen:59 Wer das infrage stehende Functioning zutiefst ablehnt, wird auch die Garantie der bloßen Befähigung zur Verwirklichung dieses Functionings ablehnen. Des Weiteren gilt: Selbst wenn sich für all die von ihr als relevant betrachteten Deprivationen zeigen ließe, dass sie in vielen oder allen Gesellschaften faktisch als ein Übel betrachtet werden, ist damit noch nicht gezeigt, was Nussbaum zufolge gezeigt werden müsste, und zwar, dass die fraglichen Deprivationen überdies als ein Übel betrachtet werden, auf dessen Beseitigung alle Menschen einen Anspruch haben, der noch dazu verfassungsrechtlich garantiert werden sollte, und für den gilt, dass die mit ihm korrespondierenden Pflichten anerkannt werden. Auch der von Nussbaum vorgeschlagene Blick auf die aufgeklärten Wünsche und Präferenzen der Menschen erscheint nicht ausreichend, um die Anerkennung der von ihr vorgeschlagenen Konzeption des minimalen Wohls zu rechtfertigen: Zwar mag es richtig sein, dass unter den von Nussbaum skizzierten Umständen (siehe Kap. G. I. 4.) viele Menschen zumindest längerfristig wünschen würden, bestimmte der von ihr genannten Befähigungen auszubilden und zu erhalten. Doch auch wenn sich viele Beispiele finden ließen, in denen es sich so verhielte, wäre damit noch nicht gezeigt, dass dies unter den oben skizzierten Bedingungen auch tatsächlich mehrheitlich der Fall sein würde; erst recht ist nicht klar, dass sich dies für alle von Nussbaum für relevant gehaltenen Komponenten des minimalen Wohls zeigen würde. Dies gilt umso mehr für diejenigen Personengruppen, die die allgemeine Durchsetzung eines solchen Anspruchs subjektiv als Nachteil betrachten würden. 6. Die Komponenten des menschlichen Wohls in dem Ansatz von Finnis, Boyle Jr. und Grisez In den beiden vorangehenden Abschnitten wurde gezeigt, in welchem Zusammenhang die verschiedenen Vorgehensweisen zu der Bestimmung der Komponenten des minimalen Wohls in Nussbaums früheren Schriften zueinander stehen, und in welcher Weise sie ihren Ansatz in ihren späteren Schriften modifiziert hat. Es stellte sich heraus, dass weder die in ihren früheren noch die in ihren späteren Schriften vorgeschlagenen Vorgehensweisen zu der Ausgestaltung eines sozialen Minimums in moralischer Hinsicht befriedigend erscheinen. In diesem Abschnitt soll deshalb eine alternative Vorgehensweise zu der Bestimmung der Komponenten des minimalen Wohls unterbreitet werden, welche den Ideen Nussbaums sehr nahe kommt, und die sich gut in den Capability-Ansatz integrieren lässt. Entwickelt wurde diese Vorgehensweise von John Finnis und – zu bestimmten Teilen – auch von John Boyle Jr. und Germain Grisez.60 59 Vgl.
Nussbaum (2010), 255 ff. Die grundlegende Idee, die Elemente des menschlichen Wohls im Capability-Ansatz statt in der von Nussbaum vorgeschlagenen Weise mithilfe des von John Finnis et al. entwickelten Ansatzes ausfindig zu machen, übernehme ich von Alkire/Black (1997) und Alkire (2002). 60
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Die Komponenten des menschlichen Wohls werden von Finnis et al. als „menschliche Grundgüter“ (basic (human) goods61) bezeichnet.62 Bei den Elementen des menschlichen Wohls handelt es sich für sie um Güter, die um ihrer selbst willen erstrebenswert sind.63 Sie bezeichnen all jene Dinge als „Güter“, die zum Gegenstand des Wunsches eines Menschen werden können.64 Ganz allgemein können Güter um ihrer selbst willen oder als bloße Mittel erstrebenswert sein. Als Beispiel für ein bloß als Mittel nützliches Gut nennen Finnis et al. etwa die politischen Freiheiten: Die Menschen wollten diese Freiheiten nicht um ihrer selbst willen, sondern um sich Wissen aneignen, ihre Religion ausüben oder in Freundschaft miteinander leben zu können.65 Bei Gütern könne es sich zudem sowohl um konkrete Dinge, beispielsweise um einen bestimmten Apfel oder die Freundschaft zu einer bestimmten Person, als auch um abstrakte Dinge, wie z. B. Freundschaft oder Wissen, handeln.66 Güter mit abstrakten Gegenständen werden von Finnis auch als „Werte“ (values) bezeichnet. Werte zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets durch konkretere Güter instanziiert werden müssen: So kann man das Gut der Freundschaft im Sinn eines Werts nicht als solchen realisieren, sondern nur daran „partizipieren“, indem man ein konkreteres Gut verwirklicht und diesem Wert auf diese Weise im eigenen Leben Ausdruck verleiht.67 Beispielsweise wird der Wert der Freundschaft dadurch instanziiert, dass man eine freundschaftliche Beziehung zu jemandem pflegt. Werte können zudem auf verschiedene Weisen instanziiert werden: So kann der Wert des „Wissens“ seinen Ausdruck Finnis zufolge ebenso gut in Form der Mathematik, der Philosophie, der Architektur, in Zeitungserzeugnissen und Detektivgeschichten wie auch in Form von Nachforschungen in Bezug auf den Wahrheitsgehalt eines Gerüchts finden.68 Zu den intrinsisch wertvollen Gütern, die das menschliche Wohl ausmachen, zählt Finnis in Natural Law and Natural Rights die folgenden menschlichen Grundg üter:69 61 Alternativ auch „basic (human) values“ (Finnis (1980), 59, 105), „(basic) (forms of) human goods“ (ebd., 84 f.), „basic human purposes“ (ebd., 86), „basic components in our flourishing“ (ebd., 87), „basic aspects of human well-being“ (ebd., 102) und „basic forms of human excellence“ (ebd., 105). 62 Vgl. ebd., 88; ders. et al. (1987a), 277; dies. (1987b), 103. 63 Vgl. dies. (1987a), 277 f. 64 „‘Good’, in the widest sense in which it is applied to human actions and their prin ciples, refers to anything a person can in any way desire. ,Good is any object of any interest‘“ (ebd., 277). 65 Vgl. ebd., 278. 66 Vgl. Finnis (1980), 61. 67 Vgl. ebd., 61; ders. et al. (1987a), 277 f. 68 Vgl. Finnis (1980), 85. 69 Vgl. ebd., 86 ff. Wie Nussbaum haben auch Finnis bzw. Finnis et al. ihre Liste im Lauf der Jahre immer wieder leicht verändert (vgl. für eine weitere Liste z. B. Finnis et al. (1987b), 107; eine Auflistung verschiedener Listen von Finnis (et al.) findet sich in Alkire (2002), 48).
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– Life, – Knowledge, – Play, – Aesthetic experience, – Sociability (friendship), – Practical Reasonableness, – Religion.70 Alle anderen Güter sind für Finnis dagegen bloß Modi oder Kombinationen von Modi, die eines oder mehrere der menschlichen Grundgüter instanziieren.71 Welches die grundlegenden Elemente des menschlichen Wohls sind, zeigt sich Finnis zufolge nicht mit Blick auf die Ergebnisse der deskriptiven Psychologie oder der Anthropologie. Die Ergebnisse dieser Disziplinen wie auch der Blick in andere Kulturen könne uns, so Finnis weiter, lediglich als Inspiration dienen, um praktische Überlegungen darüber anzustellen, welches die an sich erstrebenswer70 Finnis erläutert die menschlichen Grundgüter auch wie folgt (vgl. eingehender dazu Finnis (1980), 86 ff.): Life: „The term ,life‘ here signifies every aspect of the vitality (vita, life) which puts a human being in good shape for self-determination“ (ebd., 86). Knowledge: „The second basic value I have already discussed: it is knowledge, considered as desirable for its own sake, not merely instrumentally“ (ebd., 87). Play: „The third aspect of human well-being is play. […] More importantly, each one of us can see the point of engaging in performances which have no point beyond the performance itself, enjoyed for its own sake. The performance may be solitary or social, intellectual or physical, strenuous or relaxed, highly structured or relatively informal, conventional or ad hoc in its pattern …“ (ebd.). A esthetic experience: „The fourth basic component in our flourishing is aesthetic experience. Many forms of play, such as dance or song or football, are the matrix or occasion of aesthetic experience. […] Aesthetic experience, unlike play, need not involve an action of one’s own; what is sought after and valued for its own sake may simply be the beautiful form ,outside‘ one, and the ,inner‘ experience of appreciation of its beauty. But often enough the valued experience is found in the creation and/or active appreciation of some work of significant and satisfying form“ (ebd., 87 f.). Sociability (friendship): „Fifthly, there is the value of that sociability which in its weakest form is realized by a minimum of peace and harmony amongst men, and which ranges through the forms of human community to its strongest form in the flowering of full friendship“ (ebd., 88). Practical Reasonableness: „Sixthly, there is the basic good of being able to bring one’s own intelligence to bear effectively (in practical reasoning that issues in action) on the problems of choosing one’s actions and life style and shaping one’s own character. Negatively, this involves that one has a measure of effective freedom; positively, it involves that one seeks to bring an intelligent and reasonable order into one’s own actions and habits and practical attitudes“ (ebd., 88 f.). Religion: „Seventhly, and finally in this list, there is the value of what, since Cicero, we summarily and lamely call ,religion‘. For, as there is the order of means to ends, and the pursuit of life, truth, play, and aesthetic experience in some individually selected order of priorities and pattern of specialization, and the order that can be brought into human relations through collaboration, community, and friendship, and the order that is to be brought into one’s character and activity through inner integrity and outer authenticity […]“ (ebd., 89). 71 Vgl. ebd., 90.
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ten Güter im menschlichen Leben sind.72 Ausfindig gemacht werden sollten die menschlichen Grundgüter Finnis (et al.) zufolge vielmehr dadurch, dass man sich fragt, welches diejenigen Gründe für unser Handeln sind, die nicht mehr auf weitere Gründe reduzierbar – und in diesem Sinn letzte Handlungsgründe – sind.73 Wir müssen uns also fragen, die Instanziierung welcher Werte Menschen mit ihrem Handeln letztendlich anstreben. Laut Finnis et al. ist es jeder voll entwickelten Person auch möglich, diese letzten Handlungsgründe durch stetiges Fragen danach zu identifizieren, welches die letzten Ziele im menschlichen Leben sind resp. welche Ziele Menschen letztendlich handelnd erreichen wollen.74 Allerdings lässt sich aus den letzten Handlungsgründen, so Finnis, nicht ableiten, durch welche weniger grundlegenden Ziele die Menschen ihre letzten Ziele mittelbar verwirklichen bzw. instanziieren wollen. Motivational möglich werden das Erstreben und die Verwirklichung der so ausfindig gemachten menschlichen Grundgüter für ihn dadurch, dass die Menschen über bestimmte Neigungen und Triebe verfügen, die den grundlegenden Werten bzw. den menschlichen Grundgütern korrespondieren.75 Was es heißt, letzte Ziele im eigenen Leben zu verwirklichen, veranschaulicht Finnis in Natural Law and Natural Rights auch anhand des Werts des „Wissens“. Das menschliche Grundgut des Wissens im eigenen Leben zu verwirklichen, bedeutet demnach zum einen, dass es sich um eine Form von „Wissen“ oder „Wahrheit“ handelt, die um ihrer selbst willen angestrebt wird, und nicht um jene Art von Wissen, welche bloß ein Mittel zu der Verwirklichung eines anderen Zwecks, wie z. B. zu der Erlangung von Macht, Anerkennung oder des physischen Überlebens, darstellt. Es muss sich also um Wissen handeln, das man aus bloßer Neugierde und aus dem Wunsch heraus anstrebt, Ignoranz zu vermeiden.76 Dass man die Wahrheit bzw. Wissen über einen bestimmten Gegenstand anstrebt, soll Finnis zufolge nicht heißen, dass man sich notwendigerweise nur für die Beantwortung einer konkreten Fragestellung interessiert; vielmehr ist der wahre oder letzte Grund für dieses Streben der, dass man solche Fragen um ihrer selbst willen beantworten möchte.77 Mit dem Verweis darauf, dass man Wissen um seiner selbst willen erlangen resp. Unwissenheit vermeiden möchte, kann man, so Finnis weiter, vor sich selbst und vor anderen erklären, weshalb man etwa einen bestimmten Forschungsgegenstand untersucht: Der letzte und nicht weiter begründbare Handlungsgrund, den ein Akteur für eine solche Tätigkeit angeben kann, ist der, dass er Wissen zu erlangen als gut erachtet; dies stellt eine hinreichende Handlungserklärung für die ausgeführte Handlung dar, die keiner weiteren Begründung bedarf. Laut Finnis muss eine Person, die über mehr Wissen verfügt, in diesem Bereich als bessergestellt betrachtet werden als eine Person, die über weniger Wissen verfügt, und zwar nicht 72
Vgl. ebd., 85 f. Finnis et al. (1987a), 278 f. 74 Vgl. dies. (1987b), 106 f. 75 Vgl. Finnis (1980), 91. 76 Vgl. ebd., 59 f. 77 Vgl. ebd., 61. 73 Vgl.
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aufgrund irgendeines Gewinns, den die Person aus dem Wissen zieht, sondern weil das Wissen als solches einen Wert darstellt. Dass Wissen an sich erstrebenswert ist, bedeutet für Finnis allerdings nicht, dass (i) das Herausfinden jeder Wahrheit und jede Form des Lernens gleichermaßen wertvoll sind, dass (ii) für verschiedene Personen die gleiche Art von Wissen gleichermaßen wertvoll ist, oder dass (iii) Wissen ein Wert ist, dem stets Priorität vor anderen grundlegenden Werten eingeräumt werden oder der von jedem zu jeder Zeit und an jedem Ort angestrebt werden sollte. Wissen ist Finnis zufolge (iv) weder der einzige noch der höchste grundlegende Wert und es ist (v) auch kein moralischer Wert. Die Aussage „Wissen ist gut“ dürfe somit nicht als moralische Aussage und die Aussage „Wissen sollte angestrebt werden“ nicht als moralische Verpflichtung, Forderung, Vorschrift oder Empfehlung verstanden werden.78 Zusammengenommen umreißen die menschlichen Grundgüter für Finnis den Horizont der menschlichen Handlungsmöglichkeiten: Es sind diejenigen Güter, nach deren Verwirklichung wir mit allen unseren Handlungen letztlich streben. Offen bleibt damit allerdings, durch die Verwirklichung welcher konkreten Güter die menschlichen Grundgüter im eigenen Leben instanziiert werden sollten. Finnis zufolge sollten die Menschen in der Beantwortung dieser Frage als frei und verantwortlich betrachtet werden; das menschliche Grundgut der praktischen Vernunft hilft ihnen dabei, diese Frage zu beantworten.79 7. Welche Probleme der Nussbaum’schen Konzeption lassen sich mithilfe des Ansatzes von Finnis (et al.) vermeiden? Die Konzeptionen von Nussbaum und Finnis bzw. Finnis et al. weisen zunächst einige Gemeinsamkeiten auf: So nimmt Nussbaum an, dass den konstitutiven Elementen des Wohls charakteristische Fähigkeiten und Eigenschaften korrespondieren. Ganz ähnlich geht Finnis davon aus, dass die Komponenten des Wohls jeweils mit bestimmten menschlichen Neigungen und Trieben verbunden sind, die es den Menschen ermöglichen und die sie motivieren, die infrage stehenden Werte auch zu realisieren.80 Und ebenso wie das Vorgehen Nussbaums soll auch Finnis’ Vorgehen zu einem bestimmten menschlichen Selbstverständnis führen: „Such a course of reflection is, in a way, an attempt to understand one’s own character, or nature.“81 Des Weiteren geht es in beiden Ansätzen um die Bestimmung einer aus verschiedenen intrinsisch wertvollen Gütern bestehenden Konzeption des Wohls. Finnis’ Vorgehensweise ähnelt derjenigen Nussbaums überdies darin, dass die Komponenten des minimalen Wohls nicht a priori und ahistorisch ohne Rücksichtnahme auf das konkrete Leben der Menschen festgelegt werden.82 Der Blick in die 78
Vgl. ebd., 61 f. Vgl. ebd., 100. 80 Vgl. ebd., 91. 81 Ebd., 81. 82 Vgl. Alkire/Black (1997), 267. 79
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Erkenntnisse der Anthropologie und der Psychologie oder in andere Kulturen dient Finnis zufolge allerdings nur als Hilfestellung dafür, unsere letzten Handlungsgründe – und damit die für das menschliche Wohl konstitutiven Komponenten des Wohls – ausfindig zu machen: „The anthropological and psychological studies ought to be regarded as an aid in answer ing our own present question – not, indeed, by way of any ,inference‘ from universality or ,human nature‘ to values (an inference that would be merely fallacious), but by way of an assemblage of reminders of the range of possibly worthwhile activities and orientations open to one.“83
Im Gegensatz zu Nussbaums Konzeption wird in dem Ansatz von Finnis (et al.) die Frage, wie sich Menschen von Göttern unterscheiden resp. inwieweit sie Tieren gleichen, gar nicht erst gestellt. Es war im Zug der vorangegangenen Erörterung der Konzeption Nussbaums ja offen geblieben, inwieweit das Bestehen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Tieren resp. Göttern und Menschen überhaupt als relevant für die Auswahl der Komponenten des menschlichen Wohls betrachtet werden sollte.84 Des Weiteren wird mit der von Finnis (et al.) vorgeschlagenen Vorgehensweise die mit Nussbaums Ansatz einhergehende Komplikation vermieden, dass zunächst eine Antwort auf die Frage gefunden werden muss, welches die für das Menschsein grundlegenden Erfahrungsbereiche sind, um dann im Anschluss daran zu ermitteln, zu der Entwicklung welcher Eigenschaften und zu der Ausübung welcher Tätigkeiten ein Mensch in diesen Erfahrungsbereichen befähigt werden soll. Bei Finnis ergeben sich die Komponenten des menschlichen Wohls dagegen direkt aus der praktischen Vernunft,85 d. h., in dem Fall aus der Untersuchung der Frage, welche letzten Gründe wir für unser Handeln haben. Dies bringt den Vorteil mit sich, dass sich, anders als bei Nussbaum, die Frage, welche Vorstellungen vom Menschsein und vom menschlichen Wohl in der ethischen Debatte Berücksichtigung finden sollten, gar nicht erst stellt, da diese allenfalls als Hilfsmittel dienen, um zu ermitteln, welches die letzten menschlichen Handlungsgründe sind.86 Die Untersuchung der Frage, welches die letzten Gründe des menschlichen Handelns sind, eröffnet zudem die Möglichkeit, zu einem Konsens über die Komponenten des menschlichen Wohls zu gelangen:
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Finnis (1980), 81. wenn Finnis (et al.) nicht vorschlagen, die Frage, worin die Komponenten des menschlichen Wohls bestehen, mit Rekurs darauf zu beantworten, inwiefern sich Menschen und Tiere ähneln, so weisen sie doch darauf hin, dass uns einige Grundgüter zukommen, weil wir auch Tiere sind: Dazu gehören das Leben selbst – seine Erhaltung und seine Weitergabe – sowie Gesundheit und Sicherheit (vgl. ders. et al. (1987a), 279). Einige menschliche Grundgüter kämen den Menschen dagegen zu, weil sie „rationale Wesen“ sind, und andere wiederum, weil sie „tierische und rationale Wesen“ sind (vgl. ebd., 279). 85 Vgl. Alkire/Black (1997), 266. 86 Vgl. ebd., 267. 84 Auch
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„The kind of discussion which generates consensus could lead to an adaption of the list but this would be by reminding people of a reason for acting that they ,recognized‘ to be basic by reference to their experience […]. The act of inner recognition, and not intellectual or political assent, founds the dimensions.“87
Der Ansatz von Finnis (et al.) kann überdies dem individuellen und kulturellen Pluralismus besser gerecht werden als Nussbaums Ansatz, da die Komponenten des menschlichen Wohls in einer abstrakteren – und damit offeneren – Weise beschrieben werden als dies bei Nussbaum der Fall ist. Auch werden in dem Ansatz von Finnis (et al.), anders als bei Nussbaum, keine konkreten institutionellen Rahmenbedingungen oder Fähigkeiten zu der Förderung des menschlichen Wohls benannt.88 8. Die Beseitigung von Streitigkeiten über die Komponenten des menschlichen Wohls Die von Finnis (et al.) vorgeschlagene Vorgehensweise ermöglicht es des Weiteren, eventuell auftretende Streitigkeiten darüber beizulegen, welches die grundlegenden Komponenten des menschlichen Wohls sind:89 Der erste Schritt eines solchen Vorgehens bestünde, wie bereits dargelegt, darin, sich auf der Grundlage der eigenen Erfahrungen und der Erfahrungen anderer zu fragen, welches die letzten Gründe des menschlichen Handelns sind. Der Blick auf unterschiedliche Listen mit Komponenten des menschlichen Wohls könnte dabei insofern hilfreich sein, als man auf diese Weise auf bisher übersehene Komponenten stoßen könnte: So könnte sich herausstellen, dass die in Kapitel F. II. 5. angeführte Liste von Nussbaum um das von Finnis in seiner Liste angeführte Element des Suchens nach Harmonie mit einer übermenschlichen Quelle des Sinns und des Werts erweitert werden sollte. Oder es könnte sich umgekehrt zeigen, dass die Liste von Finnis durch das von Nussbaum vorgeschlagene Element „in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihr umzugehen“ ergänzt werden muss.90 Der zweite Schritt, um Meinungsverschiedenheiten über das menschliche Wohl aufzulösen, besteht nach Finnis et al. darin, jede vorgeschlagene Komponente einer theoretischen, evaluativen Diskussion zu unterziehen, um die Vorschläge entweder als grundlegende Elemente des menschlichen Wohls zu bestätigen oder aber anzufechten. Dazu sind zwei Dinge nötig: Erstens muss jede Komponente daraufhin überprüft werden, ob sie tatsächlich ein intrinsisch wertvolles oder lediglich ein instrumentell wertvolles Gut ist. Wir haben bereits gesehen, dass es sich bei den Rechten, die Nussbaum im Zusammenhang mit ihrer Liste aufzählt, nicht um intrinsisch wertvolle Güter und Komponenten des Wohls, sondern um bloße Mittel 87 Ebd. 88 Vgl.
Alkire (2002), 16, 44, 53. Alkire/Black (1997), 269; Finnis et al. (1987b). 90 Vgl. Alkire/Black (1997), 269. 89 Vgl.
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handelt, von denen sie annimmt, dass sie einem Menschen zur Verfügung gestellt werden müssen, um zu der Verwirklichung der Komponenten des Wohls befähigt zu sein. Zweitens muss überprüft werden, ob es sich bei einer vorgeschlagenen Komponente um eine Spezifikation einer anderen Komponente des menschlichen Wohls handelt oder ob sie ein eigenständiges menschliches Grundgut darstellt.91 So könnte man etwa sagen, dass das Führen einer Ehe eine Instanziierung des menschlichen Grundguts der Geselligkeit resp. der Sozialität darstellt.92 9. Die Notwendigkeit der Ergänzung um eine moralische Perspektive Durch die von Finnis et al. vorgeschlagene Vorgehensweise allein ist nun allerdings noch nicht gewährleistet, dass die so ausfindig gemachten Güter auch aus einer moralischen Perspektive eine angemessene Konzeption des menschlichen Wohls darstellen. So ließe sich etwa einwenden, dass das Zufügen von Schmerzen ebenfalls als ein um seiner selbst willen erstrebenswertes Gut betrachtet werden kann.93 Um das Vorgehen von Finnis und seinen Mitautoren weiter fruchtbar zu 91
Vgl. ebd., 269; Finnis et al. (1987a), 277 ff.; dies. (1987b), 103 ff. Weitere Beispiele dafür, wie eine Vermittlung zwischen verschiedenen Listen mithilfe des Ansatzes von Finnis et al. möglich ist, finden sich in Alkire (2002), 74 f. Ein Beispiel für ein Gut, bei dem die Beantwortung der Frage, ob es sich um ein intrinsisch oder ein instrumentell wertvolles Gut handelt oder nicht, kontrovers ist, ist das Gut der Lust: Von diesem könnte man einerseits annehmen, dass es von Menschen um seiner selbst willen verfolgt wird. Nussbaum vertritt eine solche Auffassung offenbar zumindest in denjenigen Fassungen ihrer Liste, in denen sie das Functioning „angenehme Erfahrungen machen und unnötiges Leid vermeiden“ als konstitutives Element des menschlichen Wohls betrachtet. Die Auffassung, dass Lust um ihrer selbst willen erstrebenswert ist, wird auch im klassischen Utilitarismus von Jeremy Bentham und John Stuart Mill vertreten. Andererseits könnte man die Auffassung vertreten, dass Lust nicht um ihrer selbst willen angestrebt wird, sondern sie bloß einen integralen Bestandteil anderer Güter, die man entweder um ihrer selbst willen oder als Mittel erstrebt, darstellt. Als Grund für eine solche Annahme könnte man anführen, dass Lust stets mit der Verwirklichung eines anderen Guts einhergeht und sich auch jeweils unterschiedlich anfühlt, je nachdem, mit der Verwirklichung welchen Guts sie einhergeht. Die Frage, ob es tatsächlich Handlungen gibt, die letztendlich ausschließlich darauf abzielen, Lust um ihrer selbst willen hervorzubringen, oder ob Lust allenfalls ein integraler Bestandteil der Verwirklichung anderer Güter ist, kann hier nicht weiter erörtert werden. Vgl. klassisch zu der Diskussion der Frage, ob wir Lust auch um ihrer selbst willen anstreben oder nicht, auch Robert Nozicks Gedankenexperiment der „Lustmaschine“ (vgl. Nozick (1974), 42 ff.). 93 Finnis selbst schließt aus, dass es „schlechte“ um ihrer selbst willen erstrebenswerte Grundgüter gibt. Damit möchte er nicht abstreiten, dass Triebe und Neigungen zu Grausamkeit, Egoismus und dergleichen bestehen; diese stünden aber nicht mit der Verwirklichung von etwas evidentermaßen Gutem in Verbindung, wie es beispielsweise bei dem Trieb zur Selbsterhaltung der Fall sei, der mit dem Gut des Lebens in Verbindung stehe: „The point, rather, is that selfishness, cruelty, and the like, simply do not stand to something self-evidently good as the urge to self-preservation stands to the self-evident good of human life“ (Finnis (1980), 91). Bei Trieben und Neigungen zur Grausamkeit oder zum Egoismus han92
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machen, müssen wir jedoch auch gar nicht abstreiten, dass auch „schlechte“ Güter um ihrer selbst willen als erstrebenswert – und in dem Sinn als menschliche Grundgüter – betrachtet werden können. Was wir lediglich bestreiten müssen, ist, dass die Verwirklichung solcher Güter aus einer moralischen Perspektive erlaubt ist. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu bedenken, dass manche Güter in abstracto womöglich unproblematisch erscheinen, obwohl einige ihrer Instanziierungen es keinesfalls sind: So erscheint die Verbundenheit mit anderen zunächst einmal unproblematisch, ihre Instanziierung durch eine Zwangsehe dagegen nicht. Es bedarf deshalb überdies eines Kriteriums dafür, welche Formen von Instanziierungen moralisch zulässig sind. Dies ist ein erster Grund, weshalb die von Finnis et al. vorgeschlagene Vorgehensweise um eine moralische Perspektive ergänzt werden sollte. Ein zweiter Grund besteht darin, dass uns die genannte Vorgehensweise bloß ein Vorgehen an die Hand gibt, um ausfindig zu machen, welche Grundgüter ganz allgemein als Komponenten des menschlichen Wohls zu betrachten sind. Eine der Fragen, die es in dieser Arbeit zu beantworten gilt, ist jedoch die, auf die minimale Verwirklichung welcher Komponenten des menschlichen Wohls jeder Hilfsbedürftige aus einer moralischen Perspektive betrachtet einen Anspruch bzw. ein Recht hat. Durch welche Eigenschaften sollte sich nun aber eine moralische Perspektive auszeichnen, aus der heraus die Komponenten des minimalen menschlichen Wohls bestimmt werden? Eine moralische Perspektive bei der Wahl der Elemente der minimalen Konzeption des Wohls einzunehmen, muss zum einen bedeuten, dass keine potenziellen Elemente von vorneherein bevorzugt werden, zum Beispiel, indem nur Komponenten zur Wahl stehen, die von den meisten Hilfsbedürftigen in einer Gesellschaft für relevant gehalten werden. Die Komponenten des Wohls aus einer moralischen Perspektive festzulegen, sollte somit – ähnlich dem Rawls’schen „Schleier des Nichtwissens“ – bedeuten, dass die Wählenden nicht wissen resp. von ihrem Wissen darüber abstrahieren, welche subjektive Konzeption des Wohls dele es sich häufig um Inversionen oder fehlgeleitete Triebe zur Realisierung eines Grundguts: „[…] [C]ruelty may be found to be an inverted form of pursuit of the value of freedom and self-determination and authenticity: a man may make himself ,feel real‘ to himself by subjecting others to his utter mastery“ (ebd.). Und weiter heißt es: „In the absence of such explanations, and of psychosomatic disease, we find these urges as baffling as persistent illogicality, as opaque and pointless as, say, a demand for a plate of mud for no reason at all“ (ebd.). Den Ausführungen von Finnis (et al.) zu dieser Frage werde ich im Folgenden nicht weiter nachgehen. Auch Nussbaum möchte bestimmte Güter von ihrer Liste ausgeschlossen wissen. So heißt es beispielsweise in Die Grenzen der Gerechtigkeit: „Meine Theorie bezieht sich also auf eine evaluative und ethische Vorstellung des Menschen und der zentralen menschlichen Fähigkeiten. Manche Dinge, zu denen Menschen in der Lage sind (z. B. Grausamkeit), stehen nicht auf der Liste“ (Nussbaum (2010), 253). Und in Women and Human Development heißt es: „Not all actual human capabilities exert a moral claim, only the ones that have been evaluated as valuable from an ethical viewpoint. (The capacity for cruelty, for example, does not figure on the list.)“ (Dies. (2000a), 83, Hervorhebung TM). Eine systematische Antwort auf die Frage, welche Elemente insgesamt von der Liste ausgeschlossen werden sollten, entwickelt Nussbaum jedoch nicht.
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– und damit auch welche minimale subjektive Konzeption des Wohls – sie verfolgen. Bekannt sein sollte lediglich, dass es um das minimale Wohlergehen Hilfsbedürftiger geht, die dazu in der Lage sind, eine moralisch angemessene subjektive Konzeption des Wohls zu entwickeln und zu verfolgen resp. – im Fall von Kindern – in Zukunft zu deren Entwicklung und Verwirklichung in der Lage sein werden. Eine zweite Bedingung, die die Ausgestaltung einer moralischen Perspektive in diesem Zusammenhang erfüllen muss, ist die, dass sie so beschaffen sein muss, dass weder die Interessen der Pflichtenträger noch die Interessen der Hilfsbedürftigen bevorzugt werden. Denn es ist anzunehmen, dass die Pflichtenträger aus Eigeninteresse geneigt wären, das soziale Minimum möglichst gering anzusetzen, während die Hilfsbedürftigen aus Eigeninteresse geneigt wären, es möglichst umfassend zu verstehen. Dies bedeutet aber, dass bei der Wahl der Komponenten des Wohls niemand wissen sollte, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit er sich wie lange in der Position eines Hilfsbedürftigen resp. eines Pflichtenträgers befinden wird. Eine dritte Bedingung, die erfüllt sein muss, damit man sagen kann, die Wahl der Komponenten des minimalen Wohls erfolge aus einer moralischen Perspektive, ist die, dass unterschiedlichen Personengruppen nur dann divergierende soziale Minima zugestanden werden können, wenn dies mit Blick auf deren konkrete Lebenssituation sachlich begründet erscheint. Wenn sich etwa herausstellen sollte, dass dem Spielen im Leben Erwachsener niemals eine sinnvolle Rolle zukommt, wäre dies ein Grund, anzunehmen, dass die Komponente „Spiel“ kein Bestandteil der minimalen objektiven Konzeption des Wohls zumindest von Erwachsenen sein sollte.94 Um Missbrauch und Parteilichkeit in dieser Hinsicht vorzubeugen, sollte aus der moralischen Perspektive überdies irrelevant sein, ob oder mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand einer bestimmten sozialen Gruppe angehört, etwa Mann, Frau, Kind oder Erwachsener ist. Lässt sich unter diesen Wissensbeschränkungen eine Antwort auf die Frage finden, welches die Komponenten des minimalen Wohls sein sollten? Da unter den beschriebenen Voraussetzungen niemand weiß, welche subjektive Konzeption des Wohls er verfolgt, und ob er hilfsbedürftig ist oder nicht, aber bekannt ist, dass die Sicherung des physischen Überlebens eine Voraussetzung nahezu jeder subjektiven Konzeption des Wohls darstellt, erscheint es klug, im Leben jedes Hilfsbedürftigen 94 Man
könnte sich hier fragen, ob zur Illustration dieser Bedingung nicht die Functionings „Bekleidung“ und „Nahrung“ ein naheliegenderes Beispiel darstellen würden: Wenn Kinder etwa weniger Kalorien benötigen, um gleichermaßen gut ernährt zu sein wie Erwachsene, so müssen wir ihnen auch nicht die gleichen Mittel zur Nahrungsaufnahme zur Verfügung stellen wie Erwachsenen; und wenn Kleidungsstücke für Kinder im Schnitt günstiger sind als die für Erwachsene, so erscheint es gerechtfertigt, Kindern weniger Mittel zur Verfügung zu stellen, um angemessen gekleidet zu sein. Diese Beispiele beziehen sich jedoch auf die Relativität der Mittelebene, die, wie gesehen, bei der Festlegung eines sozialen Minimums auch stets Berücksichtigung finden sollte. Im Text geht es an dieser Stelle aber um die Frage nach der Zulässigkeit von Unterschieden in der Zusammensetzung der minimalen objektiven Konzeption des Wohls bei verschiedenen Personengruppen.
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die Sicherung des physischen Überlebens zu gewährleisten. Doch lässt sich darüber hinaus irgendetwas darüber sagen, welche Komponenten des minimalen Wohls gewählt würden, wenn doch bei der Einnahme einer solchen Perspektive niemand wüsste, welche Ziele er tatsächlich verfolgt bzw. wahrscheinlich verfolgen würde? Eben diese Frage nach den relevanten Komponenten des menschlichen Wohls ist es, die sich mithilfe der genannten Vorgehensweise von Finnis et al. beantworten lässt. Doch welche der so ausfindig gemachten Komponenten des menschlichen Wohls sollten auch als Komponenten des minimalen Wohls – und damit als Bestandteile des sozialen Minimums – betrachtet werden? Denn um die Bestimmung dieser Komponenten geht es uns ja letztendlich. Wenn wir nicht wissen, welche subjektive Konzeption des Wohls wir selbst verfolgen bzw. wir von unserem Wissen darüber abstrahieren müssen, wir aber davon ausgehen können, dass Menschen stets danach streben, eines oder mehrere der identifizierten Grundgüter zu verwirklichen, erscheint es unter den genannten Wissensbeschränkungen geboten und klug, jeden Hilfsbedürftigen zu der minimalen Verwirklichung jeder dieser Komponenten des menschlichen Wohls zu befähigen. Jeder Mensch kann dann – im Licht des in dieser Arbeit verfochtenen Armutsverständnisses – im Fall der Hilfsbedürftigkeit selbst entscheiden, welche dieser Güter er mithilfe der bereitgestellten Hilfeleistungen auf welche Weise und in welchem Umfang in seinem Leben verwirklicht. Wenn aber jeder dazu befähigt sein soll, die menschlichen Grundgüter in einem minimalen Umfang zu verwirklichen, erscheint es überdies geboten, allen zu untersagen, andere an der Verwirklichung des minimalen Wohls wie auch an der Entwicklung und dem Erhalt der dazu nötigen persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände zu hindern oder die benötigten Voraussetzungen zu zerstören. Wenigstens diejenigen menschlichen Grundgüter, deren Verwirklichung zu derartigen Behinderungen oder Zerstörungen führen würde, dürften damit nicht verwirklicht resp. müssten auf eine andere Art und Weise instanziiert werden.
II. Eine Möglichkeit zu der Beseitigung des Paternalismus-Problems Wie zuvor gezeigt wurde, soll die Bestimmung der Komponenten des minimalen Wohls im Capability-Ansatz in einer objektiven Weise erfolgen (siehe Kap. F. II. 2.). D. h., welches die zu der Erfassung von Armut relevante Vorstellung des minimalen Wohls ist, soll unabhängig von den Wünschen und Präferenzen des einzelnen Hilfsbedürftigen festgelegt werden (siehe Kap. C. II.). Man könnte somit auch sagen, dass der Capability-Ansatz jedermann „vorschreibt“, worin die Konzeption des minimalen menschlichen Wohls zu sehen ist. Werden Hilfsbedürftige damit aber nicht doch in einer ungerechtfertigten Weise paternalistisch behandelt? Nussbaum verneint diese Frage mit dem Verweis darauf, dass dem Capability-Ansatz zufolge ja niemand dazu gezwungen werden soll, die fragliche objektive Konzeption des minimalen Wohls auch zu verwirklichen. Vielmehr sollten Men-
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schen bloß dazu befähigt werden, eine bestimmte Art von Leben zu führen; es bleibe dann ihnen überlassen, ob und in welcher Weise sie diese Befähigungen auch nutzten (siehe Kap. F. II. 2.). Der Ansatz wahrt in dieser Hinsicht also ebenfalls die Präferenzautonomie der Hilfsbedürftigen;95 er ist Nussbaum zufolge, wie gesehen, deshalb auch vor dem Vorwurf gefeit, dass er Menschen eine bestimmte Art zu leben vorzuschreibe und sie in diesem Sinn paternalisiere. Freilich findet die Autonomie des Einzelnen auch in Nussbaums Ansatz dann eine Grenze, wenn die Verletzung berechtigter Ansprüche anderer auf dem Spiel steht, wozu im Capability-Ansatz vor allem der Anspruch auf den Erhalt der grundlegenden Befähigungen (capabilities) zählt.96 Bei derartigen Beschränkungen der Präferenzautonomie handelt es sich aber, wie gesehen, eben nicht um paternalistische Eingriffe (siehe Kap. D. III.). Es stellt sich allerdings die Frage, ob im Capability-Ansatz nicht an anderer Stelle ein Paternalismus-Problem auftritt. Denn man könnte den Ansatz so verstehen, dass er paternalistische Eingriffe in die Selbstbestimmung Erwachsener zumindest dann als gerechtfertigt betrachten muss, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass sie zur Verwirklichung der minimalen objektiven Konzeption des Wohls befähigt sind. Und dies sicherzustellen, ist den bisherigen Ausführungen zufolge ja offenbar das Ziel eines am Capability-Ansatz orientierten Armutsverständnisses. Inwiefern die Umsetzung dieses Ziels zu einem Paternalismus-Problem führen kann, soll in den folgenden Abschnitten verdeutlicht werden.97 In Kapitel F. II. 1. wurde dargelegt, dass ein Mensch nur dann zur Verwirklichung des minimalen objektiven Wohls befähigt ist, wenn er über die dazu nötigen persönlichen Eigenschaften und äußeren Umstände verfügt. Die zur Verwirklichung des minimalen Wohls erforderlichen persönlichen Eigenschaften sind nun aber nicht alle lediglich instrumentell-praktischer Art: So muss man nicht nur lesen, schreiben oder Nahrung zubereiten können, sondern häufig auch bestimmte Überzeugungen, Wertvorstellungen und Präferenzen haben, um eine bestimmte Komponente des menschlichen Wohls verwirklichen zu können. Oder allgemeiner ausgedrückt: Es ist möglich, dass wir auch unter im Grunde günstigen Umständen nicht in der Lage sind, bestimmte Dinge zu tun, nicht weil es uns an den praktischen oder physischen Voraussetzungen dazu fehlen würde, sondern weil es uns 95
Vgl. ebd., 8. Die Präferenzautonomie Hilfsbedürftiger kann im Grunde auch noch in einer anderen Hinsicht gewahrt werden; dies geschieht in subjektiven Armutskonzeptionen: In diesen wird den Menschen nicht nur freigestellt, welche Ziele sie mit den bereitgestellten Mitteln verwirklichen, sondern sie können auch selbst bestimmen, welche Formen des Mangels ausschlaggebend dafür sind, dass Armut in ihrem Leben vorliegt, und damit überwunden werden sollten. 96 Vgl. Dixon/Nussbaum (2012), 565 f. 97 Etwas anders gelagerte Paternalismus-Einwände gegen den Capability-Ansatz finden sich in Deneulin (2002); Sugden (2006); ders. (2008a) sowie in Carter (2014). Erwiderungen auf die von Sugden vorgebrachten Einwände finden sich in Sen (2006) und Qizilbash (2011a) und (2011b).
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im Licht dessen, was wir für gut und richtig halten, abwegig oder gar undenkbar erscheint, es zu tun: In einer Gesellschaft, in der Frauen aufgrund eines bestimmten Rollenverständnisses von klein auf die Vorstellung vermittelt wird, dass sie die zur Erlernung und Ausübung eines Berufs oder zur eigenständigen Lebensplanung nicht in der Lage sind, werden viele Frauen auch keinerlei Interesse an der Entwicklung der dazu nötigen Fähigkeiten haben und häufig auch selbst davon überzeugt sein, dass sie zur Entwicklung derselben nicht fähig sind. Oder – allgemeiner ausgedrückt – „if social organizers did not also inform persons of the potential value of an input or activity (i. e. clean water, female education) then demand might be low; an activity might fail“98. Ein Beispiel aus der Entwicklungshilfe soll verdeutlichen, dass es für deren Erfolg in der Tat nicht nur ausschlaggebend ist, dass Menschen bestimmte Fertigkeiten vermittelt und bestimmte Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Es zeigt, dass auch entscheidend ist, dass Menschen überhaupt erst einmal den Wert einer Komponente des minimalen Wohls und der zu ihrer Verwirklichung nötigen Mittel kennen und schätzen lernen. Im Jahr 1998 hat die Groupe de Recherches et d‘Echanges Technologiques99 zusammen mit dem Institut de recherche pour le développement100 und der Universität von Antananarivo in Madagaskar ein Projekt zur Entwicklung eines Ernährungsbreis (Koba Aina) ins Leben gerufen, der als Nahrungsmittelergänzung für Babys im Alter zwischen 6 bis 24 Monaten dienen und diese vor den Folgen einer einseitigen Ernährung schützen soll.101 Ausgegeben wird der Brei zu einem erschwinglichen Preis von derzeit fünf Cent pro Portion als abgepacktes Pulver oder fertig angerichtet in eigens dafür eingerichteten Babyrestaurants (Hotelin-Jazakelys). Durch die Herstellung des Breis wird zudem die lokale Wirtschaft gefördert, da er – soweit möglich – aus lokal angebauten und produzierten Nahrungsmitteln besteht und von einem madagassischen Unternehmen hergestellt wird. Der bis heute anhaltende Erfolg des Projekts gründet sich aber nicht nur darauf, dass ein kostengünstiger und weitflächiger Zugang zu Koba Aina geschaffen wurde, sondern auch darauf, dass eigens ausgebildete Helfer die Aufmerksamkeit für Ernährungsfragen bei der Bevölkerung erhöhten und ihnen Kenntnisse über Ernährungsfragen vermittelten. Auch für eine elementare Befähigung wie der, sich resp. die eigenen Kinder ausge98
Alkire (2002), 172. handelt sich hierbei um eine französische Nicht-Regierungsorganisation, die Menschen in armen Ländern Hilfe zur Selbsthilfe bieten will, indem sie beispielsweise kleine Unternehmen vor Ort unterstützt oder Partnerschaften zwischen Unternehmen vor Ort und großen Unternehmen in entwickelten Ländern vermittelt. 100 Hierbei handelt es sich um ein französisches interdisziplinäres Forschungsinstitut, dessen Schwerpunkt die Untersuchung von Mensch-Umwelt-Beziehungen in Afrika, im Mittelmeerraum, in Lateinamerika, Asien und in den französischen Überseegebieten ist. 101 Vgl. zu dem Projekt auch Entwicklungshilfeprojekt „Ernährungsbrei (Koba Aina)“, URL: http://www.gret.org/2012/12/nutrizaza-a-social-business-combating-malnutrition-inmadagascar/?lang=en, letzter Zugriff: 02. 03. 2017. 99 Es
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wogen zu ernähren, spielt die Vermittlung des Werts einer solchen Ernährung eine große Rolle. Sind sich die Menschen dieses Werts nicht bewusst, werden sie von vorneherein wenig Interesse daran haben, die zur Verwirklichung des Functionings „ausgewogen ernährt sein“ nötigen Kenntnisse zu erwerben.102 In welchem Ausmaß moralische, religiöse oder sonstige Überzeugungen Menschen dazu bringen können, sich der Vermittlung bestimmter Kenntnisse oder Wertvorstellungen von vorneherein zu verschließen, mag ein weiteres Beispiel deutlich machen. Es stammt aus einem Bericht der Wochenzeitung DIE ZEIT aus dem Jahr 2014, in dem über die Hintergründe der seinerzeit in Westafrika grassierenden Ebola-Epidemie berichtet wird, und in dem deutlich wird, welche Probleme auftraten, als man versuchte, den von der Epidemie Betroffenen die Notwendigkeit zu vermitteln, ihre eigenen Riten und Überzeugungen zu ändern, um der Epidemie Herr zu werden: „Fünf Tage nach dem Begräbnis der Heilerin wissen die Behörden, das Virus befindet sich in Sierra Leone. Am Morgen darauf bricht im Krankenhaus von Kenema ein Erkundungsteam auf. Zwei Männer in Schutzanzügen und ein Fahrer in einem Ambulanzwagen. Sie sollen die Patientinnen so schnell wie möglich nach Kenema bringen, um sie dort zu isolieren. Der Auftrag lautet, das Virus zu stoppen. Aus medizinischer Sicht handelt es sich um eine Maßnahme der Seuchenbekämpfung. Aus Sicht der Menschen vom Stamm der Kissi um den Angriff einer fremden Macht. In der Krankenstation stehen Suleiman Kanneh Saidu [der Leiter der Krankenstation in Koindu, TM] und seine Kollegen aus Kenema plötzlich unter Belagerung. Die Menschen draußen rufen einander zu, diese Fremden, mit ihren verhüllten Körpern und den unförmigen Gesichtsmasken, wollten ihnen die Kranken entführen. Unser Blut wollen sie, brüllt jemand, daraus wollen sie ein Mittel destillieren, um uns auszurotten. […] Die Hysterie des Mobs treibt das Erkundungsteam aus dem Ort. Suleiman Kanneh Saidu, der Leiter der Krankenstation, bringt noch medizinische Argumente vor. Aber das Virus profitiert nicht nur von der Nähe der Dörfler zum magischen Denken und ihrer Ferne zu Staat, Behörden, Bürokratie. Ihm hilft jetzt auch die Stärke eines Menschen: Eine der acht Patientinnen von Koindu findet wieder zu Kräften. Gestützt auf ihren Ehemann, läuft sie aus der Krankenstation […] Sie wird überleben. Noch Monate später werden ihre Nachbarn sie anschauen, als sei sie ein wandelndes Wunder. Ihnen wurde erzählt, Ebola ende immer tödlich, aber das stimmt nicht. Als die Familien der anderen sehen, wie die Patientin die Krankenstation verlässt, gibt es kein Halten mehr. Sieben todkranke Frauen werden auf dem Rücken ihrer Ehemänner nach Hause getragen. Die Männer stecken sich alle an, und bevor sie sterben, stecken diese Fluchthelfer weitere Menschen an. Das Virus sollte in Koindu gestoppt werden. Jetzt erhält es hier neue Kraft.“103
Können wir in den beschriebenen Situationen tatsächlich sagen, dass die Beteiligten dazu in der Lage oder befähigt waren, die tödliche Erkrankung abzuwen102 Nussbaum hat diesen wichtigen Punkt am Beispiel einer Alphabetisierungskampagne für Frauen im ländlichen Bangladesch illustriert (vgl. Nussbaum (1999d), 250 f.): Der Erfolg der Kampagne hing maßgeblich davon ab, den beteiligten Frauen zunächst den Wert und die Bedeutung des Lesens und Schreibens für ihr eigenes Leben nahezubringen, d. h. eine Veränderung ihrer Wertvorstellungen und Präferenzen zu bewirken. 103 Coen/Henk (2014), 15.
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den? Offenbar nicht, denn ihnen fehlten das nötige Wissen über die Erkrankung und die Möglichkeiten, weitere Ansteckungen zu vermeiden. Zudem hatten sie die Vorstellung, dass die Helfer sie in Wirklichkeit nicht retten, sondern ausrotten und ihr Blut „destillieren“ wollten. Unkenntnis und etablierte Wertvorstellungen führten zusammengenommen dazu, dass die Menschen nicht einmal in Betracht zogen, die für die Wahrung ihrer Gesundheit nötigen Hilfeleistungen anzunehmen bzw. diese sogar als gefährlich einstuften. Die Gründe für die Weigerung, die zu der Eindämmung der Katastrophe nötigen Kenntnisse zu erwerben und den Wert der angebotenen Hilfeleistungen zu schätzen, waren – so zeigt der Bericht – vornehmlich in dem bestehenden Aberglauben, den existierenden Traditionen und einer irrationalen Angst vor „fremden westlichen Mächten“ zu suchen. In dem angeführten Fall waren die Menschen also letztendlich nicht dazu befähigt, die bereitgestellten Hilfeleistungen auch in Anspruch zu nehmen; Krankheit und Tod aufgrund von Ebola zu vermeiden, war kein Element des Capability-Sets dieser Menschen. In Situationen dieser Art sind wir also mit einem Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen konfrontiert, denn wir dürfen annehmen, dass das Festhalten an letztlich irrationalen Überzeugungen und Bewertungen das Resultat einer unreflektierten Anpassung an bestehende gesellschaftliche Umstände war.104 Wie wir in Kapitel F. II. 9. gesehen haben, werten die Vertreter des Capability-Ansatzes es aber als einen Vorzug ihres Ansatzes, dass das Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen vermieden wird, indem man die Menschen zu der Verwirklichung einer objektiven Konzeption des Wohls befähigt und sie dann frei wählen lässt, ob sie diese Konzeption auch tatsächlich verwirklichen oder nicht. Die angeführten Beispiele verdeutlichen jedoch, dass jemand häufig nur dann zu der Verwirklichung einer fraglichen objektiven Konzeption des Wohls befähigt ist, wenn er auch die für die Erkenntnis und Verwirklichung dieser Konzeption des Wohls nötigen Kenntnisse, Wertvorstellungen und Präferenzen besitzt. Verweigern sich Menschen der dafür nötigen Wissensvermittlung und Präferenzänderung, besitzen sie auch nicht ernstlich die Capability, ihr minimales objektives Wohl zu 104 Ein Problem der Adaption von Wünschen und Präferenzen an die äußeren Umstände kann im Capability-Ansatz strukturell auch noch an einer weiteren Stelle zum Tragen kommen, nämlich dann, wenn wir Functionings als relevant für die Erfassung des Wohls betrachten, für die gilt, dass die Frage, unter welchen Bedingungen sie für eine Person als verwirklichbar angesehen werden können, von deren Präferenzen abhängt (vgl. Robeyns (2000), 10 f.). Beispiele für Functionings, bei denen dieses Problem auftreten kann, sind beispielsweise „lustvolle Erfahrungen machen“ oder „Selbstrespekt haben“. Robeyns verdeutlicht dieses Problem auch wie folgt: „A problem arises in the fact that some functionings, such as enjoying social status or psychological well-being, might be preference dependent. […] [E]mployees in most corporations need relatively expensive clothes to work, while most academics or social workers can do their job in relatively cheap clothes, in order to have the functioning of not having to be ashamed when appearing on the work floor. Thus, it seems that the capability approach can handle the expensive taste problem in so far as the expensive taste cannot be justified by environment-dependent functionings, but that the difficult question remains in how far expensive tastes can be justified and should be respected when they impinge upon functionings and capabilities“ (ebd., 11).
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verwirklichen. Und wenn – wie in den angeführten Beispielen – der Grund dafür in einer unreflektierten Adaption der eigenen Einstellungen und Präferenzen an, wie wir annehmen, ungünstige oder ungerechte Umstände liegt, schränkt diese nicht nur ihr faktisch verwirklichtes Wohl ein, sondern auch ihre Befähigung, dieses Wohl zu verwirklichen.105 Angesichts dieser Problemlage stehen uns im Rahmen des Capability-Ansatzes zwei Auswege offen: Zum einen könnte man Menschen nötigenfalls zwingen, an entsprechenden Aufklärungs- und Bildungskampagnen zur Änderung ihrer Wertvorstellungen und Kenntnisse teilzunehmen. Derartige Maßnahmen würden jedoch im Fall Erwachsener stark paternalistische Eingriffe in deren Selbstbestimmung bedeuten,106 welche sich nicht rechtfertigen lassen (siehe Kap. D. III.).107 Zum Anderen bleibt die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Bedingungen so abzuändern, dass man davon ausgehen kann, dass eine unreflektierte Adaption von Einstellungen, Wünschen und Präferenzen an die äußeren Bedingungen möglichst unwahrscheinlich wird. Dazu reicht es aber eben nicht aus, Menschen lediglich einen Zugang zu bestimmten Ressourcen wie auch zu Aufklärungs- und Bildungsmöglichkeiten zu verschaffen. Nach allem, was wir wissen, stellt das beste Mittel, um dies zu erreichen, eine demokratisch und liberal gestaltete Gesellschaft dar, innerhalb derer den Menschen grundlegende politische und bürgerliche Rechte und Freiheiten – wie etwa das Recht auf Religionsfreiheit, auf politische Partizipation, auf Versammlungs-, Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freizügigkeit oder das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung – garantiert werden. Der dadurch typischerweise entstehende Pluralismus an Wertvorstellungen, Meinungen, Erkenntnissen und Lebensplänen wird es zumindest längerfristig begünstigen, dass Menschen ihre Einstellungen, Wünsche und Präferenzen nicht unreflektiert an die bestehenden äußeren Verhältnisse – zu denen eben auch kulturelle Werte und Einstellungen gehören – anpassen, die der Sicherung ihres minimalen Wohls entgegenstehen. Auch gestalten sich die äußeren Umstände in einer solchen Gesellschaft üblicherweise vielfältiger als in einer Gesellschaft, in der solche Rechte und Freiheiten nicht garantiert werden und keine Möglichkeit der demokratischen Mitbestimmung besteht.108 Damit wäre aber auch die in Nussbaums Konzeption fehlende Rechtfertigung dafür gefunden, weshalb den Menschen bestimmte grundlegende liberale Rechte und Freiheiten stets als Mittel zugestanden werden sollten, um sie zu der Verwirklichung des minimalen Wohls zu befähigen: Dieses Zugeständnis erschiene den 105
Vgl. ähnlich Carter (2014), 86 ff. Vgl. ähnlich Claassen (2014). 107 In dem oben angeführten Beispiel des Ebola-Virus erscheinen Eingriffe in die Selbstbestimmung der genannten Menschen per se gerechtfertigt, allerdings nicht, um deren Wohl zu schützen – dies würde einen nicht zu rechtfertigenden stark paternalistischen Eingriff in die Selbstbestimmung Erwachsener bedeuten (siehe Kap. D. III.) –, sondern um das Überleben anderer Menschen, und damit deren Wohl, zu schützen. 108 Vgl. ähnlich Sugden (2006), 41 ff. 106
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gemachten Ausführungen zufolge nötig, um das Problem einer unreflektierten Adaption von Einstellungen, Wünschen und Präferenzen an ungünstige oder ungerechte äußere Umstände mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit zu vermeiden und auf diese Weise so gut wie möglich sicherzustellen, dass Menschen tatsächlich zu der Verwirklichung des minimalen Wohls befähigt werden, und zwar ohne sich dabei eines stark paternalistischen Eingriffs schuldig zu machen. Mit Blick auf die in diesem Abschnitt und in Kapitel F. II. 9. erarbeiteten Ergebnisse lässt sich nun auch konkretisieren, was nötig ist, um jemanden zur Verwirklichung des minimalen objektiven Wohls zu befähigen: – Es muss sichergestellt werden, dass niemand die persönlichen Fähigkeiten und äußeren Umstände, die eine Voraussetzung für die Verwirklichung des minimalen objektiven Wohls sind, zerstört oder ernsthaft beeinträchtigt. Um das Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen möglichst zu vermeiden, sollten sich die äußeren Lebensumstände der Menschen überdies dadurch auszeichnen, dass sie in einer liberalen Demokratie mit garantierten Grundrechten und -freiheiten leben (freiheitlich-rechtlicher Aspekt der Armutsbekämpfung). – Die äußeren Umstände müssen des Weiteren so beschaffen sein, dass den Menschen Bildungseinrichtungen und Aufklärungsmaßnahmen zugänglich sind, die es ihnen ermöglichen, die zu der Verwirklichung des minimalen objektiven Wohls nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben wie auch zu erfahren und zu würdigen, welchen Wert die Komponenten des minimalen objektiven Wohls resp. die zu dessen Verwirklichung nötigen internen und äußeren Bedingungen jeweils haben (Bildungs- und Aufklärungsaspekt der Armutsbekämpfung). – Daneben müssen allen die zur Verwirklichung des minimalen Wohls nötigen materiellen Ressourcen – möglichst in Form allgemein-dienlicher Mittel – zur Verfügung gestellt werden (materieller Aspekt der Armutsbekämpfung). Die Anforderungen an die äußeren Lebensumstände von Menschen stimmen damit zu weiten Teilen mit den Anforderungen an eine gerechte gesellschaftliche Grundstruktur überein, die Rawls in seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness benennt: Garantierte gleiche Grundfreiheiten, Einrichtungen und Maßnahmen im Bildungs- und Ausbildungsbereich – in Rawls’ Konzeption zur Förderung der fairen Chancengleichheit – sowie materielle Ressourcen in Form allgemein-dienlicher Tauschmittel. Wie wir bereits im Zusammenhang mit der Diskussion der Rawls’schen Grundgüterliste gesehen haben, führt die Bereitstellung gleicher grundlegender Freiheiten und Rechte, wenn sie gelingt, allerdings dazu, dass die Verwirklichung bestimmter Konzeptionen des Wohls nicht mehr möglich ist, und zwar all jener Konzeptionen, die darauf abzielen, allen oder zumindest einigen Menschen, wie z. B. Frauen, grundlegende Rechte und Freiheiten vorzuenthalten.109 Wenn ein mithilfe des Capability-Ansatzes konzipiertes Armutsverständnis aber ebenfalls mit der Forderung nach einer derartigen Einrichtung der Gesell109 Vgl.
Hinsch (1992), 39, 43.
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schaft einhergeht, wäre es nicht mehr – wie Nussbaum an verschiedenen Stellen zumindest in ihren früheren Schriften suggeriert – mit vielen verschiedenen Kulturen und Gesellschaftsformen vereinbar, sondern es wäre wie ein anhand der Rawls’schen Grundgüterliste expliziertes Armutsverständnis nur in liberale, demokratische und pluralistische Gesellschaftformen problemlos integrierbar. Mit dieser relativ klar umrissenen Aufzählung dessen, was nötig und moralisch erlaubt ist, um einen Erwachsenen zu der minimalen objektiven Konzeption des Wohls zu befähigen, wird überdies ein weiterer Einwand geschwächt, der gegen die Verwendung des Capability-Ansatzes in der sozialpolitischen Praxis erhoben wurde. Dieser Einwand besagt, dass die Ermittlung der Frage, ob jemand über die Capability verfügt, ein als relevant betrachtetes Functioning zu verwirklichen oder nicht, recht komplex und der Ansatz damit letztendlich nicht praktikabel und zur Erfassung sozialer Ungleichheiten unbrauchbar sei.110 Denn solange man keine Spezifikation auf der Mittelebene vornimmt, kann man gegen den Capability-Ansatz vorbringen, dass beliebig viele Ungleichheiten in den persönlichen Eigenschaften und äußeren Umständen für die Beantwortung dieser Frage in Betracht gezogen werden müssen, was tatsächlich impraktikabel wäre. Eine Konkretisierung der Mittelebene erscheint damit extrem hilfreich, um die Ermittlung der gesellschaftlichen Position eines Menschen mithilfe des Capability-Ansatzes leichter fassbar zu machen; auch die Durchführung interpersoneller Vergleiche würde dadurch erheblich vereinfacht. Durch die vorgeschlagenen Modifikationen wären die Ermittlung der gesellschaftlichen Positionen wie auch die Durchführung interpersoneller Vergleiche auf der Grundlage des Capability-Ansatzes jedoch zumindest im Leben Erwachsener ebenso gut oder leicht durchführbar wie auf der Grundlage der von Rawls vorgeschlagenen Grundgüterliste, nur dass mithilfe des Capability-Ansatzes die mit Rawls’ Ansatz verbundenen Probleme vermieden würden.
III. Übertragung auf den Fall der Kinderarmut Im dritten Teil dieses Kapitels soll es um die Frage gehen, ob ein mithilfe des Capability-Ansatzes expliziertes Armutsverständnis auch einen adäquaten Rahmen zur Erfassung von Kinderarmut bietet.111 Sen und Nussbaum haben bisher keine allgemeine und systematische Antwort auf diese Frage ausgearbeitet.112 Die Frage, ob der Capability-Ansatz auch zur Erfassung von Kinderarmut geeignet ist, stellt sich deshalb, weil jemanden als Träger einer Capability zu betrachten vor110 Vgl.
Stewart (1989), 354; vgl. Rawls (2002), 15 f. muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass mit den folgenden Ausführungen nicht unterstellt werden soll, dass wir Kindern nicht noch mehr schulden als ein Leben frei von Armut in dem dargelegten Sinn. Wie im Fall Erwachsener soll es in dieser Arbeit jedoch nur um die Beantwortung der Frage gehen, was wir hilfsbedürftigen Kindern minimal schulden. 112 Einige Ausführungen zu diesem Thema finden sich aber in Sen (2007) sowie in Nussbaum (2000a), dies. (2010), dies. (2011) und Dixon/Nussbaum (2012). 111 Es
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aussetzt, „that we can consider them endowed with agency and autonomy, able to express their points of view, values und priorities“113. Den Begriff der Kinderarmut mithilfe des Capability-Ansatzes zu explizieren, müsste dementsprechend bedeuten, die Autonomie von Kindern möglichst zu wahren und ihnen auch das Treffen von Entscheidungen, die ihr (minimales) Wohl betreffen, möglichst selbst zu überlassen.114 Wie in Kapitel D. dargelegt wurde, setzt der Anspruch auf eine umfassende Wahrung der Autonomie verstanden als „Entscheidungsfreiheit“ jedoch eine hinreichend entwickelte Autonomiefähigkeit voraus.115 Ist ein Mensch nicht in hinreichendem Maß autonomiefähig, erscheinen dagegen Einschränkungen seiner Autonomie bzw. Selbstbestimmung gerechtfertigt oder sogar gefordert. Kinder sind nicht in hinreichendem Maß autonomie- resp. selbstbestimmungsfähig. Ihre Selbstbestimmung sollte deshalb im Vergleich zu derjenigen Erwachsener eingeschränkt werden resp. kann – sofern sie nicht einmal rudimentär zur Selbstbestimmung in der Lage sind – keinerlei Berücksichtigung finden (siehe Kap. D.). Es stellt sich demnach die Frage, ob der Capability-Ansatz zur Erfassung des Wohls von Kindern geeignet ist: „However, as the issue of choices is central in the CA, it naturally opens up the question of its applicability to children.“116 Wie in Kapitel D. deutlich wurde, müssen wir die Selbstbestimmung von Kindern nun zwar oft – aber nicht immer und häufig auch nur in einem bestimmten Umfang – beschränken. Genau genommen haben wir in Kapitel D. gesehen, dass wir die Autonomie von Kindern ab einem möglichst frühen Zeitpunkt ebenfalls 113
Ballet et al. (2011), 22. Vgl. ähnlich Dixon/Nussbaum (2012), 559 f. Im Jahr 2012 hat auch Nussbaum in einem gemeinsam mit Rosalind Dixon verfassten Aufsatz dem Umstand Ausdruck verliehen, dass eine Übertragung des Capability-Ansatzes auf den Fall von Kindern bedeuten muss, die Autonomie von diesen in möglichst großem Umfang zu wahren. Wörtlich heißt es dort: „This emphasis on agency, under a CA, further means that children should be afforded the maximum scope for decisional, freedom consistent with their actual – or potential – capacity for rational and reasoned forms of choice, or judgment“ (ebd.). Eine Behandlung von Kindern entsprechend ihres Entwicklungsstands fordert, wie gesehen, auch Art. 12 der Convention on the Rights of the Child der UN aus dem Jahr 1989 (siehe Kap. D. V.). Die in den folgenden Abschnitten gemachten Ausführungen können als weitere Präzisierung dieser Ideen verstanden werden. 115 In Kapitel D. wurde die Autonomiefähigkeit bzw. die Fähigkeit zur Selbstbestimmung als Fähigkeit verstanden, eine rationale subjektive Konzeption des Wohls entwickeln, verfolgen und gegebenenfalls revidieren wie auch die berechtigten Rechte und Interessen anderer im eigenen Entscheiden und Handeln berücksichtigen zu können. Der Sache nach findet sich das, was in dieser Arbeit als „Autonomie-“ oder „Selbstbestimmungsfähigkeit“ bezeichnet wird, auch in Nussbaums Konzeption: Auch ihr zufolge soll jeder Mensch dazu in der Lage sein, eine Konzeption des Guten zu entwickeln, über diese zu reflektieren wie auch gerecht zu handeln, wobei die beiden zuerst genannten Fähigkeiten für sie ein zentraler Bestandteil unserer „praktischen Vernunftfähigkeit“ sind (vgl. Nussbaum (2000a), 79). Ebenso wie Finnis betrachtet auch Nussbaum die praktische Vernunft als einen Bestandteil des menschlichen Wohls. 116 Ballet et al. (2011), 23. 114
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in möglichst großem Umfang wahren sollten; allerdings ist diese Forderung im Fall von Kindern in einer anderen Weise zu verstehen als im Fall Erwachsener. Die Übertragung des Capability-Ansatzes auf den Fall der Kinderarmut erscheint deshalb sehr wohl möglich; allerdings bedarf der Ansatz geringfügiger Modifikationen. Wie sich zeigen wird, lässt sich mithilfe des Capability-Ansatzes überdies noch ein wenig genauer fassen, wann Kinder ihre Autonomie bzw. Selbstbestimmung ausleben und wann sie in dieser eingeschränkt werden sollten. Inwiefern soll die Autonomie bzw. die Selbstbestimmung nun also im Leben von Kindern ebenfalls in möglichst großem Umfang gewahrt werden und inwiefern ergeben sich besondere Forderungen, die gegenüber Kindern erfüllt und in den Capability-Ansatz integriert werden müssen? Wie in Kapitel D. deutlich wurde, muss die Selbstbestimmung von Kindern in denjenigen Lebensbereichen, in denen sie ihre Autonomiefähigkeit bereits in dem Ausmaß eines Erwachsenen entwickelt haben, ebenso umfänglich gewahrt werden wie diejenige Erwachsener; alles andere wäre auch im Leben von Kindern ein ungerechtfertigter paternalistischer Eingriff. In Kapitel D. sind wir zudem zu dem Ergebnis gelangt, dass wir Kindern in den Lebensbereichen, in denen sie noch nicht ausreichend autonomiefähig sind, ab einem möglichst frühen Zeitpunkt Raum für das Treffen eigener „überwachter“ Entscheidungen geben sollten, damit sie die Fähigkeit zur Selbstbestimmung auch in diesen Lebensbereichen in hinreichendem Maß entwickeln können (Zugeständnis von normativer Autonomie). Eingriffe in die normative Autonomie sind jedoch erlaubt oder sogar moralisch geboten, wenn es um die Wahrung der berechtigten moralischen Ansprüche anderer geht. Des Weiteren können bzw. müssen Eingriffe in die normative Autonomie erfolgen, wenn sie darauf abzielen, sicherzustellen, dass Kinder die zur eigenständigen Einhaltung moralischer Regeln nötigen Einstellungen und Fähigkeiten entwickeln. Eingriffe dieser Art erscheinen jedenfalls zumindest dann gerechtfertigt bzw. gefordert, wenn wir davon ausgehen, dass Kinder „erwachsen“ im Sinn von „hinreichend autonomiefähig“ werden sollen, wozu eben auch gehört, dass sie moralisch angemessen handeln können. Anders als Erwachsenen müssen wir Kindern deshalb auch eine moralische Erziehung zuteilwerden lassen. Da auch der Capability-Ansatz eine voll entwickelte Autonomiefähigkeit der Akteure voraussetzt, erscheint diese Forderung mit den grundlegenden Annahmen des Ansatzes ebenfalls vereinbar. Analoges gilt für die Fähigkeit, eine rationale subjektive Konzeption des Wohls entwickeln, umzusetzen und gegebenenfalls revidieren zu können; auch diese Fähigkeit stellt eine Voraussetzung für eine voll entwickelte Autonomiefähigkeit dar. Kindern muss dementsprechend überdies eine Erziehung zuteilwerden, die auf die Entwicklung dieser Fähigkeit abzielt.117 117 Im Capability-Ansatz wird offenbar vorausgesetzt, dass „normal entwickelte“ Erwachsene über eine hinreichend entwickelte Autonomie- resp. Selbstbestimmungsfähigkeit verfügen. Entsprechend muss es aus der Perspektive des Capability-Ansatzes ein Ziel der Entwicklung von Kindern sein, dass sie diese in hinreichendem Maß entwickeln. Explizit äußert Nussbaum diese Forderung in dem bereits zitierten neueren Aufsatz zusammen mit
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In Kapitel D. wurde des Weiteren dargelegt, dass die Entwicklung und Umsetzung der subjektiven Konzeption des Wohls – wie auch die Entwicklung der dazu nötigen Voraussetzungen – nicht erst beginnen kann, wenn ein Mensch bereits in hinreichendem Maß autonomiefähig und in dem Sinn „erwachsen“ ist.118 Soll die subjektive Konzeption des Wohls eines Menschen beim Eintritt in das Erwachsenenalter möglichst gut zu dessen eigenen persönlichen Eigenschaften und äußeren Umständen passen, müssen wir diesem vielmehr bereits im Kindesalter ausreichend Gelegenheit geben, eigenständige Entscheidungen bezüglich seines Wohls zu treffen, um so herauszufinden, worin dessen spezielle Eigenschaften – wie etwa Neigungen, Talente und ab einem bestimmten Zeitpunkt auch dessen Wünsche und Präferenzen – eigentlich bestehen.119 Es obliegt, wie gesehen, den Erziehungsberechtigten, aus dem so geäußerten Verhalten die subjektive Konzeption des Wohls des Kindes zu rekonstruieren. Eingriffe, die darauf abzielen, Kinder vor der Ausführung von Handlungen abzuhalten, die gegen die so rekonstruierte subjektive Konzeption des Wohls verstoßen, können ebenfalls erlaubt oder sogar moralisch geboten sein. Damit Kindern ausreichend normative Autonomie zukommt, um ihre Talente, Neigungen, Wünsche etc. auch tatsächlich entwickeln und entdecken zu können, müssen wir überdies dafür sorgen, dass die dazu nötigen materiellen Mittel und Zugänge zu Bildungseinrichtungen in deren Leben vorliegen und sie über ausreichend Mittel verfügen, um entsprechende Interessen entwickeln zu können, die mit ihren persönlichen Eigenschaften und Potentialen in Einklang stehen. Es ist nun möglich, dass die Umsetzung der subjektiven Konzeption des Wohls eines Kindes dazu führen würde, dass seine Autonomiefähigkeit nicht mehr in hinreichendem Maß entwickelt werden könnte resp. grundlegende körperliche, kognitive oder emotionale Fähigkeiten und Anlagen geschädigt würden, die eine Voraussetzung für die Verwirklichung zahlreicher Lebenspläne darstellen. Kinder sollen jedoch, wie gesehen, mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter die Möglichkeit haben, ihre Vorstellung des subjektiven Wohls auch noch einmal zu revidieren. Deshalb müssen wir auch Sorge dafür tragen, dass Kinder diejenigen Handlungen unterlassen, die zur Vereitelung dieser Möglichkeiten führen würden; paternalistische Eingriffe, die diesen Zielen dienen, erscheinen also ebenfalls gefordert.120 Dixon, in dem es in Bezug auf den angemessenen Umgang mit Kindern aus Sicht des Capability-Ansatzes heißt: „The idea of agency has a central role to play in the CA: the CA sees people as striving agents, and in contrast to approaches that aim only at the satisfaction of preferences, it aims at supporting the growth of agency and practical reason“ (Dixon/Nussbaum (2012), 559). 118 Vgl. Feinberg (1980), 119. 119 Vgl. ähnlich ebd., 119 ff. 120 Eine Aussage Sens, welche dieser Madoka Saito zufolge in einem Interview im Jahr 2001 gemacht hat, stimmt mit den hier gemachten Ausführungen zumindest zusammen. Demnach stellt es ein Gebot im Leben von Kindern dar, sicherzustellen, dass diese, wenn sie in das Erwachsenenalter eintreten, über bestimmte Capabilities verfügen – wie etwa die, ein gesundes Leben zu führen. Es gilt aber auch, die Entscheidungen von Kindern soweit ernst zu nehmen, wie ihre Autonomiefähigkeit bereits entwickelt ist: „If the child does not want to
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Eine Frage, die wir uns in Bezug auf diese Art von paternalistischen Eingriffen gestellt haben, ist jedoch die, zur Verwirklichung welcher Lebenspläne ein Kind mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter befähigt sein soll, will man ihm die Möglichkeit der Revision seiner subjektiven Konzeption des Wohls offenhalten. Darauf lässt sich antworten, dass das Mindeste, wozu ein Kind mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter noch in der Lage sein sollte, sicherlich das Führen eines menschenwürdigen Lebens ist. Wie wir im Vorangehenden gesehen haben, gehört zu einem menschenwürdigen Leben aber wenigstens die Befähigung, das soziale Minimum, welches in der vorgeschlagenen Weise mithilfe des Capability-Ansatzes ausgestaltet werden sollte, zu verwirklichen. Im Leben von Kindern müssen wir deshalb auch sicherstellen, dass sie die Befähigung entwickeln, die so ausfindig gemachte minimale objektive Konzeption des menschlichen Wohls zu verwirklichen. Jedem Kind kommt demnach ein Anspruch auf diejenigen Mittel und Zugänge zu Institutionen zu, die eine Voraussetzung zur Herausbildung dieser Befähigung darstellen (siehe Kap. G. I.).121 Die in Kapitel D. aufgestellte Forderung, die Autonomie von Kindern in möglichst großem Umfang zu wahren, stimmt also mit der Grundannahme des Capability-Ansatzes überein. Allerdings haben wir gesehen, dass diese Forderung im Fall von Kindern ein wenig anders zu interpretieren ist als im Fall Erwachsener; es erscheinen in deren Fall größere Einschränkungen der Selbstbestimmung erlaubt als im Fall Erwachsener. Ein in dieser Weise gestaltetes Verständnis von „Kinderarmut“ bietet des Weiteren eine Antwort auf die Frage, welche „speziellen Bedarfsarten“ im Leben von Kindern auftreten und befriedigt werden müssen. Kinbe inoculated, and you nevertheless think it is a good idea for him/her to be inoculated, then the argument may be connected with the freedom that this person will have in the future by having the measles shot now. The child when it grows up must have more freedom. So when you are considering a child, you have to consider not only the child’s freedom now, but also the child’s freedom in the future“ (Saito (2003), 25). Den Prozess der Entwicklung der jeweils für den Eintritt in das Erwachsenalter als relevant betrachteten Capabilities während der Kindheitsphase, bezeichnen Ballet et al. auch als „Evolving Capabilities“ (Ballet et al. (2011), 23). 121 Dass der Capability-Ansatz in der Phase der Kindheit darauf abzielen muss, sicherzustellen, dass Kinder mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter mindestens zu der Verwirklichung der minimalen Konzeption des Wohls in der Lage sind, nimmt offenbar auch Nussbaum an. In Women and Human Development schreibt sie: „If we aim to produce adults who have all the capabilities on the list, this will frequently mean requiring certain types of functioning in children, since, as I have argued, exercising a function in childhood is frequently necessary to produce a mature adult capability. Thus it seems perfectly legitimate to require primary and secondary education, given the role this plays in all the latter choices of an adult life. Similarly, it seems legitimate to insist on the health, emotional well-being, bodily integrity, and dignity of children in a way that does not take their choices into account; some of this insisting will be done by parents, but the state has a legitimate role in preventing abuse and neglect. Again: functioning in childhood is necessary for capability in adulthood. The state’s interest in adult capabilities gives it a very strong interest in any treatment of children that has long-term impact on these capabilities […]“ (Nussbaum (2000a), 89 f.).
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der werden also nicht lediglich als „Proto-Erwachsene“ betrachtet, sondern es wird berücksichtigt, was ein Kind als Kind benötigt wie auch seine besonderen Neigungen und Wünsche in Betracht gezogen werden müssen. Da ein solches Armutsverständnis auf das Erreichen bestimmter Entwicklungsziele im Leben von Kindern gerichtet ist, ergibt sich daraus überdies als Konsequenz für die Sozialpolitik, dass diese ihr Augenmerk nicht allein auf Kinder richten darf, deren Erziehungsberechtigte materiellen Mangel leiden. Denn das, was ein Kind zu einem „armen“ oder „hilfsbedürftigen“ Kind macht, ist die Gefährdung bzw. das Nicht-Erreichen der genannten Entwicklungsziele, wofür der Mangel an materiellen Gütern ein Grund sein kann – und womöglich häufig auch der Hauptgrund ist –, aber nicht sein muss.122
IV. Armut und individuelle Verantwortung Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit der moralisch bzw. ethisch angemessenen Explikation des Armutsbegriffs stellt, ist die, ob und unter welchen Bedingungen Menschen als selbst verantwortlich für das Vorliegen von Armut in ihrem Leben betrachtet werden sollten, und unter welchen Umständen ihnen deshalb kein Anspruch auf Hilfeleistungen zukommen sollte. Der Capability-Ansatz erscheint in dieser Hinsicht ergänzungsbedürftig: Zum einen sagt er nichts darüber aus, ob und inwiefern die Bereitstellung von Hilfeleistungen von der Art und Weise 122 Die hier dargelegte Übertragung des Capability-Ansatzes auf den Fall der Kinderarmut vereinigt damit strukturell drei von Ballet et al. genannte mögliche Verwendungsweisen des Capability-Ansatzes, wenn man ihn zu der Erfassung des Wohls von Kindern in theo retischen Kontexten verwendet (vgl. zum Folgenden Ballet et al. (2011), 25 ff.): Demnach kann man den Capability-Ansatz für die Erfassung des Wohls von Kindern zum einen dann verwenden, wenn man ihn dahingehend modifiziert, dass man den Aspekt der Wahrung der Autonomie im Fall von Kindern vernachlässigt und die Frage nach dem Wohl von Kindern – abweichend von dem Fall der Erwachsenen – nur mit Blick auf die tatsächlich erreichten Functionings entscheidet. Wie gesehen, müssen wir dies bei sehr kleinen Kindern tun, die noch über keinerlei Selbstbestimmungsfähigkeit verfügen. Eine weitere Möglichkeit, den Capability-Ansatz auf den Fall von Kindern zu übertragen, besteht Ballet et al. zufolge zum anderen darin, dass man das oder zumindest ein Ziel, das im Leben von Kindern erreicht werden soll, darin sieht, dass sie mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter über bestimmte Capabilities verfügen (vgl. für eine solche Interpretation des Capability-Ansatzes z. B. Saito (2003)). Gemäß der oben dargelegten Verständnisweise von „Kinderarmut“ erscheint die Erziehung zur Entwicklung derartiger Capabilities ebenfalls gefordert. Zuletzt kann man die Übertragung des Capability-Ansatzes auf den Fall von Kindern Ballet et al. zufolge aber auch so verstehen, dass Kinder, soweit sie bereits entscheidungsfähig sind, die Gelegenheit erhalten sollten, eigene Entscheidungen zu treffen, um auf diese Weise die Möglichkeit zu erhalten, ihre Selbstbestimmungsfähigkeit zu entwickeln. Zumindest sollten sie dies insofern tun können, als dadurch nicht die Entwicklung derjenigen Capabilities unmöglich wird, über die sie bei dem Eintritt in das Erwachsenenalter verfügen sollten. Auch diese dritte Verständnisweise findet sich in dem in dieser Arbeit ausgearbeiteten Vorschlag; sie entspricht dem oben geforderten Zugeständnis von normativer Autonomie und der Forderung nach der Wahrung der deskriptiven Autonomie.
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abhängig gemacht werden sollte, durch die ein Mensch in eine Mangelsituation hineingeraten ist. Dies werde ich im Folgenden auch als die Frage nach dem „retrospektiven Aspekt der Armut“ bezeichnen. Zum anderen liefert er bloß eine unzureichende Antwort auf die Frage, unter welchen Umständen wir in die Zukunft blickend bzw. prospektiv von jemandem sagen sollten, dass er dazu in der Lage ist, sich aus eigener Kraft grundlegend zu versorgen. Dies werde ich im Folgenden auch als die Frage nach dem „prospektiven Aspekt der Armut“ bezeichnen. Dem ersten Anschein nach könnte man nun annehmen, dass sich der Umstand, ob jemand prospektiv dazu in der Lage ist, die relevante Konzeption des Wohls zu realisieren oder nicht, im Capability-Ansatz bereits mithilfe der besagten Metrik der Capability-Sets (siehe Kap. F. II. 1.) abbilden lässt. So lässt sich auf der Grundlage dieser Metrik abbilden, ob jemand hungert oder fastet:123 Hungert ein Mensch, so ist der Zustand, angemessen ernährt zu sein, kein Bestandteil seines Capability-Sets; er ist zu dem gegebenen Zeitpunkt prospektiv nicht in der Lage, sich angemessen zu ernähren. Fastet ein Mensch, so ist er dagegen dazu in der Lage; der Zustand, angemessen ernährt zu sein, ist ein Bestandteil seines CapabilitySets. Dem Capability-Ansatz zufolge wäre ein Mensch nur im Fall des Hungerns als „arm“ zu betrachten. Diese Art der Berücksichtigung des prospektiven Aspekts der Armut erscheint bei genauer Betrachtung jedoch noch zu unpräzise: Wenn ein Hilfsbedürftiger wörtlich genommen zu jedem gegebenen Zeitpunkt t dazu befähigt werden soll, die minimale Konzeption des Wohls zu verwirklichen, müssten wir weitere Hilfeleistungen bereitstellen, sobald ein Hilfsbedürftiger die ihm für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung gestellten Mittel aufgebraucht hat. Dies führte aber dazu, dass Hilfsbedürftige mehr oder weniger dazu eingeladen würden, die ihnen bereitgestellten Hilfeleistungen nicht effizient zu nutzen, da sie jederzeit neue Hilfeleistungen erhalten könnten. Dies zu einem Grundprinzip der Armutsbekämpfung zu machen, ließe sich jedoch gegenüber den Pflichtenträgern kaum rechtfertigen. Denn wie wir in Kapitel D. II. gesehen haben, besteht ein Charakteristikum Erwachsener darin, dass sie dazu in der Lage sind, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln längerfristige Wünsche und Präferenzen zu verwirklichen, so sie dies möchten. Dies gilt freilich auch für erwachsene Hilfsbedürftige. Verwendet ein Hilfsbedürftiger die ihm zur Verfügung gestellten Leistungen für andere Zwecke als zur Verwirklichung der minimalen Konzeption des Wohls, so muss diese Entscheidung also als eine selbst zu verantwortende betrachtet werden, welche von diesem im Licht seiner eigenen Präferenzen getroffen wurde. Es kann den Pflichtenträgern deshalb nicht zugemutet werden, Hilfsbedürftigen in einem solchen Fall abermals unbedingte Hilfeleistungen zur Verfügung zu stellen. Anders verhielte sich dies allenfalls, wenn sich zeigte, dass ein Hilfsbedürftiger zu einem derartigen Wirtschaften nicht in der Lage ist; in einem solchen Fall müsste man in der Konsequenz freilich auch darüber nachdenken, ob diesem Menschen der Status eines (vollen) Erwachsenen nicht (temporär) aberkannt werden und ihm in 123 Vgl.
Sen (1992), 52, 111 f.
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einer anderen als der sonst üblichen Weise Hilfen zur Verfügung gestellt werden müssten. Daraus ergibt sich für den prospektiven Aspekt der Armut, dass ein mithilfe des Capability-Ansatzes expliziertes Armutsverständnis nicht so verstanden werden sollte, dass jeder Hilfsbedürftige zu jedem Zeitpunkt t prospektiv zu der Verwirklichung des minimalen Wohls befähigt werden muss, um nicht als „arm“ zu gelten. Was im Fall hilfsbedürftiger Erwachsener getan werden muss, ist vielmehr, ihnen ein Kontingent an Mitteln zur Verfügung zu stellen, sodass sie für einen bestimmten Zeitraum t prospektiv dazu befähigt sind, die minimale objektive Konzeption des Wohls stetig zu verwirklichen, sofern sie dies wünschen. Ist dies geschehen, gilt ein Mensch nicht mehr als „arm“, ganz gleich, wofür er die ihm bereitgestellten Hilfeleistungen in diesem Zeitraum ausgibt. Moralisch problematisch gestaltet sich diese Regelung freilich in Situationen, in denen die Sicherung des physischen Überlebens auf dem Spiel steht. In derart akuten Notsituation besteht offenbar die Pflicht, dem Hilfsbedürftigen abermals zu helfen, da es moralisch inakzeptabel erscheint, einen Menschen, der unvernünftig gewirtschaftet hat, verhungern oder erfrieren zu lassen. Dennoch kann es den Pflichtenträgern in einem solchen Fall nicht zugemutet werden, die materiellen Hilfeleistungen abermals in einer unbedingten Weise bereitzustellen, denn schließlich muss der Hilfsbedürftige für die so entstandene Notsituation als selbst verantwortlich betrachtet werden.124 Der prospektive Aspekt der Armut bedarf im Capability-Ansatz allerdings noch in einer weiteren Hinsicht der Präzisierung, und zwar in Bezug auf die Frage, unter welchen Bedingungen es überhaupt gefordert erscheint, einen Menschen durch die Bereitstellung von Hilfeleistungen prospektiv zu der Verwirklichung des minimalen Wohls zu befähigen. Denn einen Anspruch auf Hilfeleistungen vonseiten Dritter hat zumindest ein Erwachsener offenbar nur dann, wenn er nicht aus eigener Kraft dazu in der Lage ist, sich selbst zu versorgen; es gibt offenbar keinen guten Grund, weshalb Dritte dazu verpflichtet sein sollten, einem Erwachsenen, der sich selbst helfen kann, Hilfeleistungen zur Verfügung zu stellen. Freilich können Menschen untereinander freiwillig vereinbaren, sich auch dann zu helfen, wenn sie prinzipiell in der Lage wären, sich selbst zu helfen, wie dies beispielsweise bei dem Eingehen einer Ehe der Fall ist. Aber es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass eine solche Verpflichtung per se besteht. Auch darf man davon ausgehen, dass, wenn 124 Man könnte Hilfsbedürftigen in einer solchen Situation beispielsweise die Möglichkeit einräumen, ein Darlehen aufzunehmen, das sie dann in kleinen Raten zurückzahlen müssten. Wenn jemand mit seinen Mitteln immerfort nicht auskommt, muss dagegen ebenfalls in Betracht gezogen werden, dass bei ihm die Fähigkeit zum rationalen Planen und Handeln nicht ausreichend entwickelt ist. Wie bereits erwähnt, könnte es in derartigen Fällen angezeigt erscheinen, der fraglichen Person den (vollen) Status eines Erwachsenen solange abzuerkennen, bis das Vorliegen der nötigen Fähigkeit (wieder) gewährleistet ist. Unterstützungsleistungen könnten in einem solchen Fall für den fraglichen Zeitraum zudem ausschließlich in Form von Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt werden.
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jeder sich an erster Stelle selbst zu versorgen hat, eine vergleichsweise effiziente Versorgung von jedermann erreicht werden kann.125 Die Handlungsoptionen, die Erwachsenen prinzipiell offenstehen, um sich aus eigener Kraft mit denjenigen Gütern zu versorgen, die nötig sind, um das minimale Wohl zu verwirklichen, sind die Folgenden: Ein Mensch kann sich die fraglichen Güter (i) aneignen, indem er sie aus dem Besitz oder Eigentum eines anderen Menschen ohne dessen Zustimmung entwendet, d. h., er einen anderen bestiehlt, beraubt oder betrügt usw. Des Weiteren kann er die Befähigung (ii) zu der Verwirklichung des minimalen Wohls durch die Zugehörigkeit zu einer Versorgungsgemeinschaft – wie etwa einer ehelichen Gemeinschaft – erlangen.126 Weitere Möglichkeiten sind (iii) das Eingehen von Tauschbeziehungen, wozu neben der Erwerbstätigkeit oder dem Unternehmertum resp. der Selbstständigkeit auch das Leben von dem eigenen Vermögen gehört. Eine letzte Option stellt überdies (iv) die Selbstversorgung dar. Für die Beantwortung der Frage, ob einem Erwachsenen ein Anspruch auf Hilfeleistungen vonseiten Dritter zusteht, ist es zudem ausschlaggebend, wie diese einzelnen Optionen jeweils beschaffen sind: Nur dann, wenn sie auch moralisch angemessen und dem infrage stehenden Menschen zumutbar sind, erscheint es angebracht, von einem Menschen zu sagen, dass er dazu in der Lage ist, auch aus eigener Kraft ein Leben frei von Armut zu führen. Der Capability-Ansatz bedarf auch in diesem Punkt einer Ergänzung: Denn eine Befähigung zu der Verwirklichung des minimalen Wohls bestünde dem Capability-Ansatz zufolge auch dann, wenn die einem Menschen offenstehenden Optionen nicht moralisch angemessen und einem Menschen nicht zumutbar erschienen. Auf den ersten Blick erscheint nun Option (i) – Diebstahl, Raub, Betrug usw. – keine moralisch zulässige Option zu sein, um sich ein Leben frei von Armut zu ermöglichen. Einem Menschen, dem nur noch diese Möglichkeit offensteht, sollten wir vielmehr Hilfeleistungen zur Verfügung stellen. Allerdings gilt auch: Werden Menschen in solchen Situationen keine Hilfeleistungen zugänglich gemacht, 125
Vgl. z. B. Smith (1926), 371; Mieth (2012), 175. „Versorgungsgemeinschaft“ oder „-beziehung“ bezeichne ich Beziehungen zu anderen Menschen, aus denen sich ein Anspruch herleitet, von diesen mit den zur Gewährleistung eines Minimums nötigen Gütern versorgt zu werden. Versorgungsbeziehungen müssen keine (juridischen) Rechte zugrunde liegen; es können im Prinzip auch moralische oder konventionelle Ansprüche auf Versorgung bestehen (z. B. „Du hast mir zugesagt, Du würdest Dich um mich kümmern!“). Typischerweise bestehen derartige Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen (Ehe-)Partnern oder im Prinzip auch zwischen Freunden oder sonstigen Personen, die in einer engen persönlichen Bindung zueinander stehen. Je nachdem um welche Form von Versorgungsbeziehung es sich handelt, lassen sich aus ihr womöglich auch darüber hinausgehende Ansprüche und Pflichten ableiten. Eine Versorgungsbeziehung kann so gestaltet sein, dass jeder Beteiligte sich − abhängig von den jeweiligen Lebensumständen − einmal in der Rolle des Pflichtenträgers und einmal in der Rolle des Rechtsträgers befindet. Man denke etwa an die zwischen Ehepartnern bestehenden Unterhaltsrechte und -pflichten. Die Hilfeleistungen, die im Rahmen von Versorgungsbeziehungen erfolgen, sind eine Form der privaten Hilfeleistung. 126 Als
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obgleich dies prinzipiell möglich wäre, und stellen Diebstahl, Raub oder Betrug die einzigen „zumutbaren“ Optionen dar, um das eigene physische Überleben zu sichern, so können diese Optionen zumindest nicht mehr generell als moralisch verboten betrachtet werden. Denn die Wahrung der Institution der Eigentumsrechte kann nur dann als gerechtfertigt betrachtet werden, wenn allen Hilfsbedürftigen zumindest die zum physischen Überleben nötigen Güter zur Verfügung stehen.127 Ist dies nicht der Fall, können sich diejenigen, deren Subsistenz als gesichert gilt – so beispielsweise Henry Shue, dessen Argumenten ich in diesem Abschnitt folge – nicht beschweren, wenn die Hilfsbedürftigen sich ohne die Zustimmung der Wohlhabenden nehmen, was sie zum Überleben benötigen.128 Freilich muss es sich auch Shue zufolge um eine Situation handeln, in der den Menschen keine andere Option als Diebstahl o. ä. mehr offen steht, um ihr Überleben zu sichern: „I am of course not discussing a situation in which lazy bums are declining well-paying jobs in favor of armed robbery. The situation in question is one containing no uncorrupt legal alternative to taking what is needed except doing without.“129
Und des Weiteren heißt es bei Shue: „To try to have no rules about property would be lunatic. But from the fact that the elimination of all rules of property and theft is virtually impossible, it does not follow that even the best set of rules (whatever they are) are acceptable unconditionally.“130
Zu fordern, dass die Hilfsbedürftigen die Eigentumsrechte anderer wahren, obgleich ihre Subsistenz nicht gesichert ist und man diese im Prinzip sichern könnte, ist Shue zufolge schlichtweg unfair. Unfair erscheint ihm diese Forderung, weil wir von Menschen nicht verlangen könnten, Regeln zu befolgen, die allenfalls ein Held oder Heiliger einhalten könnte.131 Genau genommen sei es, so Shue weiter, in einer derartigen Situation auch für jeden Heiligen und Helden eine Beleidigung, zu fordern, aus Respekt vor einer Menge an sozialen Regeln zu sterben, die einen vor die Wahl stellen, entweder zu sterben oder zu stehlen. Auch stelle die Forderung der Einhaltung von Eigentumsrechten unter solchen Bedingungen psychologisch einen völlig unrealistischen Kandidaten für eine allgemeine Regel dar.132 Überdies erscheint es Shue zufolge unfair, die nicht-lebensnotwendigen Interessen der einen auf Kosten der lebenswichtigen Interessen der anderen zu schützen, und dabei noch den Anschein zu erwecken, der Schutz beider Arten von Interessen sei gleichermaßen wichtig resp. der Schutz der Eigentumsrechte sei noch wichtiger als der Schutz der lebenswichtigen Interessen nach Subsistenzgütern.133 Die Wahrung von Eigentumsrechten kann Shue zufolge deshalb nur dann legitimerweise von einem 127
Vgl. z. B. Shue (1996), 124. Vgl. ebd., 130. 129 Ebd., 125 f. 130 Ebd., 124 f. 131 Vgl. ebd., 125. 132 Vgl. ebd. 133 Vgl. ebd., 127. 128
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Menschen verlangt werden, wenn sichergestellt ist, dass dessen physische Existenz nicht durch einen Mangel an Subsistenzgütern bedroht wird: „Under what condition, then, is it fair to have property institutions that prohibit theft even by someone who is in fear of starving, or, more likely, slowly but inexorably deteriorating from nutritional insufficiencies? The answer, I think, is: only if the same set of institutions provides guarantees that the person in question will not in fact degenerate from insufficient consumption. More generally, institutions governing the ownership and transfer of property can be fair only if possession of the commodities required for the satisfaction of subsistence needs is guaranteed to those from whom compliance with the institutions is demanded. The moral acceptability of the enforcement of property rights depends upon the enforcement of subsistence rights.“134
Eine weitere Möglichkeit, um ein Leben frei von Armut zu führen, stellt, wie gesehen, (ii) das Eingehen einer Versorgungsgemeinschaft bzw. -beziehung dar. Das Eingehen einer solchen Beziehung kann einem Erwachsenen allerdings nicht geboten werden, auch dann nicht, wenn dies die einzige Möglichkeit darstellt, um sich vor Armut zu schützen: Einen Menschen vor die Wahl zu stellen, entweder in Armut zu geraten oder mit jemandem eine Beziehung eingehen zu müssen, den man womöglich nicht einmal sympathisch findet, würde letztendlich bedeuten, ihn vor die Wahl zu stellen, entweder seine Liebe, Zuwendung und womöglich auch Sexualität zu verkaufen oder ein Leben in Armut zu führen. Menschen vor eine solche Wahl zu stellen, erscheint jedoch nicht zumutbar. Anders ist die Lage freilich dann, wenn zwei Menschen freiwillig eine einseitige oder wechselseitige Verpflichtung zum Unterhalt füreinander eingegangen sind. Bestehen derartige Versorgungspflichten, so müssen sie Berücksichtigung finden, wenn es darum geht, ob und inwieweit einem Menschen Hilfeleistungen zugestanden werden sollten. Eine zumutbare Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, stellt das Leben vom eigenen Vermögen dar; diese Möglichkeit wurde Option (iii) zugerechnet. Ist es einem Menschen möglich, sich durch die Veräußerung oder die Nutzung des eigenen Vermögens ein Leben frei von Armut zu verschaffen, so besteht dem infrage stehenden Menschen gegenüber keine Verpflichtung zu der Bereitstellung materieller Hilfeleistungen, jedenfalls solange nicht, wie er sich selbst durch die Nutzung oder Veräußerung seines Vermögens ein Leben frei von Armut ermöglichen kann. Denn es gibt prima facie keinen Grund, weshalb andere für jemanden aufkommen sollten, der ausreichend viel besitzt, um sich selbst mit einem sozialen Minimum versorgen zu können.135 134
Ebd., 125. kurzzeitiger Erwerbslosigkeit mag es ein inakzeptables Opfer sein, alles oder nahezu alles zu verlieren, wofür man womöglich lange gearbeitet und gespart hat. Es ist deshalb eine naheliegende Idee, wenn sich Erwerbstätige darauf einigen, eine Arbeitslosenversicherung einzuführen, die ihnen im Fall der Erwerbslosigkeit für einen bestimmten Zeitraum Lohnersatzzahlungen zusichert. So sinnvoll ein sozialrechtlich etablierter Anspruch auf Lohnersatzzahlungen im Fall kurzfristiger Arbeitslosigkeit erscheint, unterscheidet er sich doch von dem moralischen und unbedingten Anspruch auf ein Leben frei von Armut. Wie lange, in welcher Höhe und unter welchen Bedingungen Menschen neben dem mora135 Bei
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Die (iv) vollständige Selbstversorgung, d. h., die vollständig eigenständige Produktion all jener Güter, die zum Führen eines Lebens frei von Armut nötig sind, erscheint dagegen heutzutage keine realistische und zumutbare Option mehr zu sein, zumindest dann nicht, wenn zu einem Leben frei von Armut auch das Erreichen einer heute üblichen resp. heute möglichen Lebenserwartung von 70 oder 75 Jahren gehört: Um eine solche Lebenserwartung zu erreichen, ist in der Regel eine Vielzahl an Gütern nötig, die ein Mensch resp. ein Haushalt in aller Regel gar nicht mehr auf sich allein gestellt produzieren kann. Während sich nun relativ leicht ermitteln lässt, über wie viel Vermögen ein Mensch verfügt und wie viele Mittel ihm durch private Unterstützungsbeziehungen zukommen, erscheint es schwierig, eine Antwort auf die Frage zu geben, unter welchen Umständen wir von einem Menschen sagen können, dass ihm (iii) eine zumutbare Erwerbstätigkeit tatsächlich offensteht und er sich somit ebenfalls aus eigener Kraft mit einem sozialen Minimum versorgen könnte. Zwar ist es heutzutage zumindest in bestimmtem Umfang möglich, zu ermitteln, ob einem Erwerbslosen Stellen offenstehen, für die er im Prinzip qualifiziert ist und deren Annahme ihm – beispielsweise im Licht seiner Religion, seiner physischen und psychischen Beschaffenheit, seiner persönlichen Situation usw. – auch zumutbar ist.136 Es ist jedoch praktisch unmöglich, zu ermitteln, ob ein Mensch, wenn er bei der Bewerbung um eine solche Stelle scheitert, dies mutwillig herbeigeführt oder sich nach besten Kräften bemüht hat. Wenn aber nicht klar zu entscheiden ist, ob einem lischen Anspruch auf ein Leben frei von Armut auch Ansprüche auf andere Formen von Sozialleistungen zukommen sollten, ist jedoch kein Gegenstand dieser Arbeit. 136 In diesem Zusammenhang muss auf einen weiteren Aspekt hingewiesen werden, der sich mithilfe der Metrik des Capability-Ansatzes allein nicht fassen lässt. Dies ist der Umstand, dass wir mit Blick auf das Capability-Set eines Menschen zwar entscheiden können, ob er aufgrund einer bestehenden Erwerbstätigkeit dazu in der Lage ist, die minimale Konzeption des Wohls aus eigener Kraft zu verwirklichen und diese Teil seines Capability-Sets ist oder nicht. Worüber uns diese Metrik jedoch nichts sagt, ist, wie viel eine Person dafür im Vergleich zu einer anderen leisten muss; mit dieser Frage zusammenhängende Fairness-Probleme geraten also gar nicht in den Blick: So wäre es mit Blick auf die Metrik des Capability-Ansatzes beispielsweise gleichgültig, ob eine Person im Vergleich zu einer anderen viel mehr Arbeit der gleichen Art leisten muss, um das gleiche Gehalt zu erhalten. Solange beide dadurch befähigt werden, die minimale Konzeption des Wohls zu verwirklichen, würden auch beide gleichermaßen nicht mehr als „arm“ gelten. Qizilbash hat dieses Problem, das sich auch in anderen Kontexten als dem der Erwerbstätigkeit stellen kann, unter dem Schlagwort der Kompensationsfähigkeiten (compensation abilities) in die Diskussion um den Capability-Ansatz eingebracht: Eine Person muss, etwa um schlechte Lohnbedingungen zu kompensieren, Eigenschaften wie die Fähigkeit zur Erbringung einer größeren Arbeitsleistung entwickeln, um eine Capability in dem gleichen Umfang zu besitzen wie eine andere Person. Wenn es sich bei einer solchen Anpassung wie in dem gerade genannten Beispiel um ungerechte Umstände handelt, hätten wir es also mit einer weiteren Form der Adaption an ungerechte Bedingungen zu tun (vgl. Qizilbash (1997)), welche durch die Berufung auf die Metrik des Capability-Ansatzes allein noch nicht ausgeschlossen wird. Auch in dieser Hinsicht bedarf der Capability-Ansatz also der Ergänzung.
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Menschen die Möglichkeit offensteht, sich durch die Aufnahme oder Beibehaltung einer zumutbaren Erwerbstätigkeit ein Leben frei von Armut zu ermöglichen oder nicht, müssen wir, um niemanden zu Unrecht in Armut zu stürzen, im Zweifelsfall zugunsten des Hilfsbedürftigen entscheiden und diesem Hilfeleistungen bereitstellen. Um dem Missbrauch von Hilfeleistungen vorzubeugen, können jedoch Anreize dafür geschaffen werden, dass zumutbare Erwerbstätigkeiten auch angenommen werden; dies erscheint im Licht der Minimierung der Kosten aufseiten der Pflichtenträger sogar gefordert zu sein.137 Kommen wir nun zu der Frage, inwieweit retrospektive Aspekte der Armut eine Rolle für das Zugeständnis von Hilfeleistungen spielen sollten. Sollte es, anders gesagt, also eine Rolle spielen, wie ein Mensch in eine Mangelsituation hineingeraten ist? Bei der Diskussion dieser Frage gilt es zwei Fälle voneinander zu unterscheiden: Zum einen kann der schon genannte Fall eintreten, dass ein Mensch bereits Bezieher von Hilfeleistungen ist, aber mit diesen nicht „vernünftig“ im Sinn der Verwirklichung der Konzeption des minimalen Wohls wirtschaftet. Wir haben bereits gesehen, dass in einem solchen Fall allenfalls in einem eingeschränkten Sinn weitere Hilfeleistungen bereitgestellt werden müssen. Zum anderen kann der Fall eintreten, dass das Capability-Set eines Menschen die minimale Konzeption des Wohls nicht mehr enthält und unmittelbar zuvor auch keine Hilfeleistungen bezogen wurden, wie beispielsweise in dem Fall, in dem ein Mensch erwerbslos wird und/oder sein Vermögen aufgebraucht ist und ihm auch keine privaten Unterstützungsleistungen mehr zur Verfügung stehen. Der Capability-Ansatz erscheint auch in Bezug auf diesen Fall ergänzungsbedürftig. Allerdings wird sich im Folgenden zeigen, dass dies kein großes Manko darstellt, da der retrospektive Aspekt der Armut in der Praxis bei der Zuerkennung von Hilfeleistungen sowieso weitgehend vernachlässigt werden sollte. 137 Es erscheint aus diesem Grund auch legitim, Erwerbslosen nötigenfalls eine Aufgabe im Dienst des Staats zuzuteilen, für deren Erbringung sie keine zusätzliche bzw. nur eine sehr geringe Entlohnung über die ihnen zugestandenen Hilfeleistungen hinaus erhalten. Zumindest sollte dies dann gelten, wenn diese Aufgaben bestimmte Bedingungen erfüllen: Sie sind so beschaffen, dass sie den Menschen dabei helfen, wieder einen Einstieg in ein reguläres und ihnen zumutbares Beschäftigungsverhältnis zu erlangen und sie ersetzen keine regulären Beschäftigungsverhältnisse. Diese Anforderungen müssen deshalb erfüllt werden, weil sonst die Gefahr bestünde, dass der Staat, aber auch Unternehmen Menschen als „billige“ oder kostenlose Arbeitskräfte schlichtweg ausbeuten und ihnen den Wiedereinstieg in den Beruf womöglich sogar absichtlich verwehren könnten. Auch besteht andernfalls die Gefahr, dass Erwerbslose beispielsweise durch die bewusste Zuteilung möglichst stumpfsinniger oder unpassender Arbeiten von den Angestellten staatlicher Institutionen schikaniert werden. Des Weiteren darf die Zuteilung einer solchen Aufgabe während des Bezugs von Hilfeleistungen nicht dazu führen, dass der Hilfsempfänger letztendlich daran gehindert wird, wieder eine neue, bezahlte Arbeitsstelle in seinem Berufsfeld zu finden: Wenn ein Hilfsbedürftiger von sich aus einen plausiblen und nachvollziehbaren Plan vorlegt, um wieder in eine Erwerbstätigkeit zu gelangen, z. B. durch Weiterbildungen, Praktika oder ähnliches, sollten ihm derartige Arbeitsmaßnahmen nicht zugemutet werden resp. müssen derartige Arbeitsmaßnahmen zumindest zunächst einmal entsprechend eingeschränkt werden.
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Wenden wir uns zunächst der Frage zu, ob es für das Zugeständnis von Hilfeleistungen eine Rolle spielen sollte, ob ein Mensch selbstverschuldet – etwa aufgrund mangelnden Fleißes oder Engagements oder aufgrund einer eigenständigen Kündigung – erwerbslos wird. Für diesen retrospektiven Aspekt der Armut stellt sich das Problem, dass es häufig schwierig sein wird, ihn angemessen zu berücksichtigen. Denn ebenso wie sich nur schwer ermitteln lässt, ob jemandem prospektiv eine zumutbare Erwerbstätigkeit offensteht, wird sich oft kaum oder zumindest nicht zu adäquaten Kosten ermitteln lassen, weshalb ein Mensch seinen Arbeitsplatz verloren hat: So kann ein Arbeitnehmer durch ein sehr subtiles Fehlverhalten absichtlich dazu beitragen, dass ihm sein Arbeitgeber möglichst bei nächster Gelegenheit kündigt, ohne dass dies – zu adäquaten Kosten – nachweisbar wäre. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Situationen auftreten können, in denen Arbeitgeber gegen Arbeitsrechte verstoßen oder Erwerbstätige unter dem Arbeitsklima in einem Unternehmen besonders stark leiden, obgleich sich dies womöglich ebenfalls nicht oder nur schwer nachweisen lässt. Ist die Gesellschaft aber so beschaffen, dass man fürchten muss, dass eine Kündigung einem den Zugang zu Hilfeleistungen unmöglich macht, besteht die Gefahr, dass fragwürdige Praktiken in der Arbeitswelt klaglos ertragen und die Rechte Erwerbstätiger ausgehöhlt werden. Der fragliche retrospektive Aspekt der Armut sollte deshalb für das Zugeständnis des Anspruchs auf Hilfeleistungen keine oder allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Eine weitere Frage, die sich stellt, ist die, ob es für das Zugeständnis von Hilfeleistungen relevant sein sollte, wie ein Mensch vor dem Fall in die Armut mit seinem Vermögen gewirtschaftet hat: So könnte man geneigt sein, anzunehmen, dass diejenigen Erwachsenen keine Hilfeleistungen erhalten sollten, die vor ihrem Fall in die Armut verschwenderisch mit ihren Mitteln umgegangen sind und im Prinzip selbst hätten Vorsorge treffen können. Sollte man den Menschen also nicht zumindest für den Zeitraum Hilfeleistungen vorenthalten, für den sie im Grunde selbst hätten Vorsorge treffen können? Die Frage nach einer retrospektiven Verantwortlichkeit für die eigene Armut stellt sich in dieser Weise überhaupt nur für diejenigen, die immer oder zeitweise über mehr als das Minimum verfügt haben. Doch unter welchen Umständen sollten wir von diesen Menschen sagen, dass sie verschwenderisch gelebt haben und ihre Mittel stattdessen zum Schutz vor einem Fall in die Armut hätten beiseitelegen müssen? Eine radikale Antwort auf diese Frage wäre die, von allen Menschen gleichermaßen zu verlangen, möglichst für ihr gesamtes Leben Vorsorge vor einem Fall in die Armut zu treffen, indem sie alle der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel oberhalb des Minimums zu diesem Zweck aufsparen. Man könnte dann sagen, dass Menschen erst ab einem Zeitpunkt, ab dem sie nicht selbst hätten Vorsorge treffen können, auch wenn sie all ihre Mittel oberhalb des Minimums gespart hätten, einen entsprechenden Anspruch auf Hilfeleistungen erhalten. Das Problem einer solchen Verständnisweise von Eigenverantwortlichkeit besteht allerdings darin, dass eine Gesellschaft, die in dieser Weise das Treffen von
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Vorsorge verlangt, einen erheblichen Spardruck auf die Menschen ausüben und am Ende womöglich zu noch mehr Elend führen würde: Wer sich vor einem eventuellen Fall in die Armut schützen will, ist gezwungen, alle Mittel oberhalb des Minimums beiseitezulegen, zumindest solange, bis er für sein gesamtes Leben eine solche Vorsorge getroffen hat. Gerade die niedrigen und mittleren Einkommensklassen würden dadurch aber über lange Zeiträume hinweg keine Mittel für den Konsum oberhalb des Minimums zur Verfügung haben. Ein solch stark gedrosselter Konsum würde aber freilich die Gefahr mit sich bringen, dass es zu einem Abbau von Arbeitsplätzen käme, und in der Folge noch mehr Menschen als zuvor erwerbslos würden oder gar in Armut gerieten. Auch könnte sich durch ein solches Vorgehen der gesamtgesellschaftliche Wohlstand, der insgesamt für die Bereitstellung von Hilfeleistungen zur Verfügung steht, verringern. Denn nahezu jegliches Einkommen vorsorglich sparen zu müssen, kann zu einer niedrigeren Effizienz vonseiten der Erwerbstätigen führen: Wenn den Menschen trotz Erwerbstätigkeit über sehr lange Zeiträume sowieso nicht mehr zur Verfügung steht als das soziale Minimum, da sie alle Mittel, die ihnen „oberhalb“ desselben zur Verfügung stehen, sparen müssen, sofern sie sich vor einem Fall in die Armut schützen wollen, steht zu befürchten, dass die Motivation, einer Erwerbstätigkeit möglichst gut oder überhaupt nachzugehen, eher gering ausfallen wird. Nicht zuletzt geht mit einem solchen Verständnis retrospektiver Eigenverantwortlichkeit die Gefahr einher, dass die Risikofreudigeren und Unbedachten, sofern kein Zwang zur Vorsorge besteht, keinerlei Vorsorge träfen und, sofern sie erwerbslos würden, es zu einer Verelendung dieser Menschen käme. All diese Konsequenzen erscheinen nicht wünschenswert und sind leicht vermeidbar, wenn man die benötigten Hilfeleistungen durch Steuern oder eine Sozialversicherung finanziert. Da typischerweise nicht alle Menschen gleichzeitig von Armut bedroht werden, reicht es dann in der Regel aus, von allen beispielsweise einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens oder Vermögens zu der Finanzierung der fraglichen Sozialleistungen einzuziehen. Für den retrospektiven Aspekt des Umgangs mit dem eigenen Vermögen lässt sich demnach also festhalten: Wir sollten die Bereitstellung von Hilfeleistungen möglichst durch steuerliche Abgaben oder eine Sozialversicherung finanzieren; wie die Menschen mit ihrem Vermögen vor dem Fall in die Armut umgegangen sind, sollte dagegen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Eine weitere Frage, die man sich bezüglich des retrospektiven Aspekts der Armut stellen kann, ist die, ob der Umstand, dass ein Mensch eine „schlechte“ Berufswahl getroffen hat und aus diesem Grund keine Erwerbsarbeit findet, eine Rolle für das Zugeständnis des Anspruchs auf Hilfeleistungen spielen sollte. Zumindest stellt sich diese Frage in Gesellschaften, in denen Menschen ihre berufliche Ausbildung frei wählen dürfen. Die gleiche Frage stellt sich überdies für Menschen, die über keinerlei Form der beruflichen oder akademischen Ausbildung verfügen. Sollten also Menschen, die sich in einer dieser Weisen „unklug“ verhalten haben, bloß verminderte oder gar keine Hilfeleistungen erhalten, wenn sie in Armut geraten, da sie als selbst verantwortlich für ihre Notlage betrachtet werden müssen?
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Ein erstes Problem, das sich in Bezug auf diesen retrospektiven Aspekt der Armut stellt, besteht darin, dass sich für die meisten Arbeitsfelder nur sehr ungenau vorhersagen lässt, wie groß der ungefähre Bedarf an Absolventen in Zukunft sein wird, zumal, wenn es darum geht, eine solche Vorhersage für die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre zu treffen, die ein Berufsleben umfasst: Arbeitsfelder können verschwinden, schrumpfen, wachsen oder in andere Regionen der Welt verlagert werden; wieder andere Bereiche verändern sich so stark, dass die frühere Ausbildung keinen oder keinen großen Wert mehr besitzt. Auch variiert der Bedarf an Arbeitskräften in vielen Berufsfeldern in Abhängigkeit von der Entwicklung der Bevölkerungszahl und von den in einer Gesellschaft vorgenommenen Wertsetzungen. Doch selbst wenn diese allgemeinen Entwicklungen für einige Berufsfelder besser vorhersehbar wären, könnte man sich als Einzelner allenfalls dann auf diese einstellen – und später für eine „falsche“ Wahl verantwortlich gemacht werden –, wenn sichergestellt wäre, dass die Prognosen über diese Entwicklungen zum Zeitpunkt der Wahl der Ausbildung oder des Studiums auch zugänglich sind. Zu diesen Kenntnissen müsste beispielsweise ein Überblick gehören, wie viele andere Menschen eine solche Ausbildung aufgenommen haben, wie viele davon die Ausbildung voraussichtlich erfolgreich abschließen und wie viele davon im Anschluss auch tatsächlich in dem fraglichen Berufsfeld arbeiten werden. Aufgrund der Komplexität und Vagheit der Fakten, die zum Erstellen einer Prognose hinsichtlich der „richtigen“ Berufswahl – sofern überhaupt zugänglich – ausgewertet werden müssten, kann es dem Einzelnen aber offenbar nicht zugemutet werden, für eine „Fehlentscheidung“ in dieser Hinsicht verantwortlich gemacht zu werden. Als Alternative bliebe noch die staatlich regulierte Vergabe von Ausbildungs- und Studienplätzen; aus planwirtschaftlichen Staaten ist allerdings bekannt, dass eine solch staatliche Regulierung auf Veränderungen des Markts häufig nicht hinreichend schnell reagieren kann. Wenn also – zumindest für das gesamte Arbeitsleben – so wenig vorhersehbar ist, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt, und eine Zuteilung von Ausbildungs- und Studienplätzen durch den Staat nicht wünschenswert erscheint, sollten wir das Zugeständnis von Hilfeleistungen auch nicht von der Frage der zuvor getätigten Berufswahl abhängig machen. Aber auch der Umstand, dass jemand überhaupt keine Ausbildung absolviert hat, sollte für die Bereitstellung von Hilfeleistungen keine Rolle spielen. In diesem Fall sollten wir es vielmehr als Versagen der Gesellschaft betrachten, wenn sie es nicht vermocht hat, einen Menschen dazu zu bringen, ein Interesse für irgendein Arbeitsfeld zu entwickeln, das zu seinen Entwicklungsmöglichkeiten passt und es ihm ermöglicht, sich selbst zu versorgen.138 138 Die Auffassung, dass die Gesellschaft die Kosten zu tragen hat, wenn sie es nicht vermag, einen Menschen zu einer vernünftigen Lebensplanung zu befähigen, vertritt beispielsweise auch Mill. Wörtlich heißt es bei diesem: „Ich kann aber nicht der Argumentation zustimmen, daß die Gemeinschaft kein anderes Mittel hätte, ihre schwächeren Glieder zu dem Durchschnittsstandard vernunftgemäßen Verhaltens zu veranlassen, als abzuwarten, bis sie etwas Unvernünftiges tun und sie dann gesetzlich oder moralisch zu strafen. Die Gemeinschaft hat unumschränkte Gewalt über sie während ihrer ganzen frühen Entwicklungs-
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Die Bedingungen, von denen es abhängig gemacht werden sollte, ob wir einem Erwachsenen Hilfeleistungen zukommen lassen oder nicht, stimmen damit auch mit der Verständnisweise von „Hilfsbedürftigkeit“ überein, die das Bundesverfassungsgericht in Deutschland benannt hat: Geltend machen kann ein Mensch die Bereitstellung eines menschenwürdigen Minimums der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge dann, wenn er sich insofern in einer Notlage befindet, als er die zur Sicherung dieses Minimums notwendigen Mittel weder durch Erwerbstätigkeit noch durch die Veräußerung seines Vermögens noch durch Zuwendungen Dritter erlangen kann.139
periode, sie hat also die ganze Kindheit und frühe Jugend zur Verfügung, um zu versuchen, ob sie sie zu vernünftigem Verhalten im Leben tauglich machen kann. Die gegenwärtige Generation bestimmt sowohl die Erziehung wie auch die ganzen übrigen Umstände der kommenden Generation […]. […] Wenn die Gesellschaft eine beträchtliche Anzahl ihrer Mitglieder zu bloßen Kindern aufwachsen läßt, unfähig, sich durch vernünftige Betrachtung etwas abseits liegender Motive bestimmen zu lassen, dann hat sie sich selbst für die Folgen zu tadeln“ (Mill (1988), 113 f.). 139 Vgl. BVerG NJW 2010, 505 . Es sollte hier noch angemerkt werden, dass im Fall von Kindern diejenigen prospektiven und retrospektiven Aspekte der Armut, die bei Erwachsenen eine Rolle für das Zugeständnis eines Anspruchs auf Hilfeleistungen spielen sollten, unberücksichtigt bleiben können. So stellt sich die Frage nicht, ob Kinder angemessen mit den ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen umgegangen sind oder nicht, da die Erziehungsberechtigten bzw. gegebenenfalls staatliche Vertreter für einen angemessenen Umgang mit diesen Ressourcen zu sorgen haben. Für die Belange von Kindern sind im Fall der Misswirtschaft also weitere Ressourcen zur Verfügung zu stellen, da sie für den Umgang mit diesen letztendlich nicht selbst verantwortlich sind bzw. nicht verantwortlich gemacht werden sollten, da ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung noch nicht hinreichend ausgeprägt ist. Die Versorgungsbeziehungen, in denen Kinder zu ihren Erziehungsberechtigten stehen, zeichnen sich überdies dadurch aus, dass sie diese, anders als im Fall derartiger Beziehungen zwischen Erwachsenen, weder selbst eingehen noch selbst auflösen können. Sind die Erziehungsberechtigten hilfsbedürftig und können dem Kind nicht diejenigen Mittel zuteilwerden lassen, die es für ein Leben frei von Armut benötigt, und wird zudem auch von den Eltern kein Vermögen des Kinds treuhänderisch verwaltet, aus welchem dessen Unterhalt bestritten werden kann, müssen den Erziehungsberechtigten die nötigen Mittel bereitgestellt werden, die erforderlich sind, um einem Kind ein Leben frei von Armut zu ermöglichen. Einer Erwerbstätigkeit sollten Kinder dann nachgehen können, wenn dies der einzige Weg ist, um sich selbst – und womöglich auch ihren Geschwistern – ein Leben frei von Armut zu ermöglichen. (Vgl. zu dem zuletzt genannten Punkt auch Harding (2013)). Ein Recht für Kinder darauf, sich nicht nur in Notlagen, sondern stets beruflich zu betätigen, so sie dies möchten, fordern z. B. Farson und Holt (vgl. Farson (1975), 109 ff.; Holt (1978), 132 ff.). Kindern pauschal ein solches Recht zuzugestehen, halte ich für falsch, da Kinder möglichst die Gelegenheit erhalten sollten, sich in einem geschützten Raum und unter Anleitung auszuprobieren und zu entdecken, worin ihre Fähigkeiten und Neigungen eigentlich bestehen sowie ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung und der Moralfähigkeit zu entwickeln.
H. Pflichten zur Armutsbekämpfung Im letzten Teil dieser Arbeit soll es zunächst um die Frage gehen, welche Arten von Pflichten oder andere Formen von Rechtskorrelaten dem komplexen Recht auf ein soziales Minimum korrespondieren. Diese Frage lässt sich nur dann angemessen beantworten, wenn man vorab eine Vorstellung von dem Gegenstand dieses Rechts entwickelt hat. In den Kapiteln C. bis G. wurde eine solche Vorstellung insofern entwickelt, als dargelegt wurde, welche Kriterien jedwede menschenwürdige Ausgestaltung eines sozialen Minimums erfüllen muss. Welche Pflichten dem Recht auf ein soziales Minimum korrespondieren, wenn seine Ausgestaltung diesen Kriterien genügt, ist Gegenstand von Kapitel H. I. Kapitel H. II. dreht sich dann um die Frage, als welche Art von Anspruch diejenigen Ansprüche, aus denen sich das (komplexe) Recht auf ein soziales Minimum insgesamt zusammensetzt, eigentlich verstanden werden sollten. In Anlehnung an Wilfried Hinsch wird die These vertreten, dass diese Ansprüche als „bedarfsbezogene Ansprüche“ verstanden werden sollten, die prima facie allen moralischen Akteuren Pflichten auferlegen, denen ihre Erfüllung möglich und zumutbar ist.1 Die Frage, wem die Erfüllung dieser Pflichten in welchem Ausmaß möglich und zumutbar ist, ist dann Gegenstand von Kapitel H. III. Dort wird in Anlehnung an Peter Singer die Auffassung vertreten, dass wir in einem vorinstitutionellen Zustand prima facie bei dem Vorliegen sehr schlimmer Übel wie dem der Armut dazu verpflichtet sind, solange Hilfeleistungen bereitzustellen, bis wir durch das Erbringen weiterer Leistungen Gefahr laufen würden, selbst in Armut in dem hier dargelegten Sinn zu geraten. Unter einem „vorinstitutionellen Zustand“ wird ein Zustand verstanden, in dem eine positiv-rechtliche Garantie der infrage stehenden Ansprüche durch entsprechende Institutionen (noch) nicht gewährleistet ist; ein Zustand, in dem derartige Institutionen bereits existieren, wird als „institutioneller Zustand“ bezeichnet. Im Verlauf des Kapitels wird sich zeigen, dass es u. a. um Fairness-Probleme unter den Pflichtenträgern zu vermeiden, geboten erscheint, das Recht auf ein soziales Minimum bzw. auf ein Leben frei von Armut zumindest teilweise positiv-rechtlich zu garantieren. Es werden überdies grundlegende Einwände diskutiert – und soweit wie möglich entkräftet –, die sich gegen die hier vertretene Auffassung vorbringen lassen, dass uns umfangreiche internationale Hilfspflichten zu der Bekämpfung von Armut obliegen. Im letzten Abschnitt des Kapitels wird zudem die These vertreten, dass die diesem Recht korrespondierenden Institutionalisierungspflichten als „gemeinsame“ Pflichten im Sinn Stephan Schlothfeldts verstanden werden sollten.
1 Vgl.
Hinsch (2003).
I. Aus Armut resultierende Ansprüche und Pflichten
215
I. Aus Armut resultierende Ansprüche und Pflichten Das Recht auf ein soziales Minimum umfasst – wenn man bei der Ausgestaltung des Gegenstands dieses Rechts den in den Kapiteln C. bis G. entwickelten Anforderungen gerecht wird – mindestens die folgenden moralischen Teilansprüche und grundlegenden „Rechtsbeziehungen“ (verstanden in dem in Kapitel B. dargelegten Sinn):2 – den Anspruch auf die Bereitstellung derjenigen frei verfügbaren materiellen Mittel, die zu der Verwirklichung der minimalen Konzeption des Wohls nötig sind; – das Privileg, selbst zu entscheiden, welche Ziele mit den zur Verfügung gestellten Hilfsmitteln im Rahmen des moralisch Zulässigen verfolgt werden; – die Kompetenz, die frei verfügbaren materiellen Mittel für Tauschgeschäfte zu nutzen; – die politischen Privilegien und Ansprüche, deren Zugeständnis mit Blick auf das Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen für eine freie Präferenzbildung nötig ist; – den Anspruch auf die Etablierung und den Erhalt von Institutionen (z. B. von Bildungseinrichtungen), die nötig sind, um die genannten Teilansprüche, aus denen sich das komplexe Recht auf ein Leben frei von Armut insgesamt zusammensetzt, zu wahren, sowie auf die zur Erfüllung dieses Anspruchs nötigen materiellen Mittel und Zugänge; – den Anspruch, nicht an der Ausübung der genannten Privilegien, Kompetenzen, Ansprüche und Immunitäten gehindert zu werden; – den Anspruch auf die Etablierung und den Erhalt von Institutionen, die für die positiv-rechtliche Garantie der genannten Ansprüche, Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen sorgen, sofern es eine Standardbedrohung darstellt, dass Menschen Hilfsbedürftige an der Nutzung derselben hindern resp. den korrespondierenden Pflichten nicht nachkommen würden und/oder ein derartig positiv-rechtlicher Schutz aus Effizienz- oder Fairnesserwägungen geboten erscheint; – die Immunität, welche die Unveräußerlichkeit der sonstigen genannten Rechtsbeziehungen, aus denen sich das Recht auf ein Leben frei von Armut zusammensetzt, sicherstellt.3 2 Das Zugeständnis der genannten Ansprüche, Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen muss den Ausführungen in den Kapiteln D. und G. III. folgend gemäß dem Entwicklungsstand der Selbstbestimmungs- bzw. Autonomiefähigkeit der Hilfsbedürftigen erfolgen. Zu den speziellen Ansprüchen von hilfsbedürftigen Kindern siehe Kap. D. 3 Um dem Charakter der Unveräußerlichkeit möglichst weitgehend gerecht zu werden, böte es sich an, der positiv-rechtlichen Garantie dieser Immunität die Form eines Verfassungsrechts zu geben, wie es etwa in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist (siehe Kap. A.). Ausgeklammert wird in dieser Arbeit die Frage, ob und inwiefern der Anspruch
216
H. Pflichten zur Armutsbekämpfung
Das Recht auf ein soziales Minimum ist demnach als ein „komplexes Recht“ in dem in Kapitel B. VI. dargelegten Sinn zu verstehen. Den Ausführungen in Kapitel G. IV. zufolge kommt es Menschen zu, die sich in einer Notlage befinden, und zwar insofern, als es ihnen weder möglich noch zumutbar ist, sich aus eigener Kraft grundlegend zu versorgen; sie sind auf die unmittelbare Hilfe Dritter angewiesen.4 Aus den im Vorangehenden genannten Teilansprüchen – und nur aus ihnen – ergibt sich dann, dass dem komplexen Recht auf ein soziales Minimum mindestens die folgenden drei Typen von Pflichten korrespondieren: – Institutionalisierungspflichten, die den Aufbau und den Erhalt der zur Armutsbekämpfung nötigen Institutionen fordern; – materielle Pflichten zur Bereitstellung materieller Güter, die als direkte Hilfeleistungen oder für den Aufbau und Erhalt der zur Armutsbekämpfung nötigen Institutionen verwendet werden; – Nicht-Hinderungspflichten, andere nicht an der Ausübung der Ansprüche, Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen zu hindern, aus denen sich das komplexe Recht auf ein Leben frei von Armut resp. auf ein soziales Minimum zusammensetzt. Die diesen Pflichten korrespondierenden Typen von Ansprüchen werden im weiteren Verlauf entsprechend auch als „Institutionalisierungsansprüche“, „materielle Ansprüche“ und „Nicht-Hinderungsansprüche“ bezeichnet.
II. Der bedarfsbezogene Anspruch auf ein Leben frei von Armut Für die Beantwortung der Frage, welche Personengruppe als Träger der fraglichen Pflichten infrage kommt, ist es nun u. a. ausschlaggebend, als welche Art von Anspruch man die mit ihnen korrespondierenden Teilansprüche jeweils versteht. Im weiteren Verlauf soll diese Frage exemplarisch für den Anspruch auf direkte materielle Hilfeleistungen erörtert werden. Es wird im Anschluss an Hinsch die Auffassung vertreten, dass dieser Anspruch als bedarfsbezogener Anspruch verstanden werden sollte.5 Ohne dies noch einmal im Einzelnen darzulegen, wird auf ein Leben frei von Armut als ein Menschenrecht verstanden werden sollte (vgl. zu dem Verhältnis zwischen Menschenrechten und dem Capability-Ansatz z. B. Sen (2005); Vizard (2006)). 4 Damit soll nicht bestritten werden, dass Hilfsbedürftige darüber hinaus womöglich einen Anspruch darauf haben, dazu befähigt zu werden, sich möglichst (wieder) aus eigener Kraft zu versorgen. Dafür, dass ein solcher Anspruch besteht, spricht beispielsweise die Forderung, dass wir Dritten nicht mehr Pflichten als nötig auferlegen sollten; auch der Umstand, dass es demütigend sein kann, als Erwachsener von anderen abhängig zu sein, weist in diese Richtung (vgl. Mieth (2012), 206 ff.). Die Frage, ob ein derartiger Anspruch besteht, und welche Pflichten aus diesem gegebenenfalls resultieren, ist jedoch kein Gegenstand dieser Arbeit. 5 Vgl. Hinsch (2003).
II. Der bedarfsbezogene Anspruch auf ein Leben frei von Armut
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davon ausgegangen, dass die Gründe, die diese Auffassung aus meiner Sicht bestätigen, sich analog auch auf die anderen Arten von Ansprüchen, aus denen sich das komplexe Recht auf ein Leben frei von Armut zusammensetzt, übertragen lassen. Es lassen sich fünf Arten von Ansprüchen unterscheiden, die das Auferlegen von Pflichten prinzipiell gerechtfertigt erscheinen lassen: – Ansprüche des Danks – Beziehungsansprüche – Ansprüche der Tauschgerechtigkeit – Ansprüche der distributiven Gerechtigkeit – bedarfsbezogene Ansprüche. Welche Akteure als Pflichtenträger infrage kommen, hängt u. a. auch davon ab, als welche Art von Anspruch man den Anspruch auf die Bereitstellung direkter materieller Hilfeleistungen versteht. Was zeichnet die genannten Anspruchsarten jeweils aus? Ansprüche des Danks entstehen, wenn eine Person gegenüber einer anderen eine Leistung erbringt, zu der sie nicht verpflichtet gewesen wäre, und die darauf abzielt, im Leben der fraglichen Person ein wertvolles Gut zu sichern. Ein solcher Anspruch entsteht beispielsweise dann, wenn eine Person unter Einsatz des eigenen Lebens einer anderen Person das Leben rettet, obgleich sie dazu in der fraglichen Situation nicht – etwa aufgrund einer besonderen Rolle wie der des Feuerwehrmanns oder des Soldaten – verpflichtet gewesen wäre. Im Anschluss an eine solche Leistung erscheint die gerettete Person gegenüber ihrem Retter zu Dank verpflichtet, wie auch umgekehrt aufseiten des Retters ein Anspruch darauf besteht, dass ihm seine Tat gedankt wird. Beziehungsansprüche sind demgegenüber Ansprüche, die sich aus bestimmten engen Formen von persönlichen Beziehungen, wie etwa einer ehelichen Beziehung, ergeben. Die diesen Ansprüchen korrespondierenden „Beziehungspflichten“ obliegen nur den Personen, die in der entsprechenden persönlichen Beziehung zu dem Anspruchsträger stehen.6 Zu den Ansprüchen der Tauschgerechtigkeit gehören zum einen die Ansprüche der kommutativen Gerechtigkeit, die aus freiwilligen Übereinkünften wie z. B. vertraglichen Vereinbarungen hervorgehen. So hat eine Person, die eine vertraglich vereinbarte Vorleistung erbracht hat, einen Anspruch auf die verabredete Gegenleistung. Pacta sunt servanda ist eine solche Norm der kommutativen Gerechtigkeit. Aufgrund des für Ansprüche dieser Art wesentlichen wechselseitigen Bezugs von Kooperationspartnern aufeinander sind Ansprüche der kommutativen Gerechtigkeit stets mit entsprechenden Verpflichtungen anderer verbunden. Es 6 Vgl. Bleisch (2010), 155. Einen Versuch zu beschreiben, wie Pflichten beschaffen sein müssen, deren Bestehen unmittelbar aus dem Vorliegen bestimmter persönlicher Beziehungen oder der Mitgliedschaft in einer bestimmten Form von Gruppe resultiert, unternimmt beispielsweise David Miller (vgl. Miller (2013)).
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kann nicht sein, dass eine Person einen solchen Anspruch hat, ohne dass zugleich mindestens eine andere Person eine entsprechende Verpflichtung hätte. Umgekehrt kann niemand auf diese Weise zu etwas verpflichtet sein, ohne dass bei anderen entsprechende Ansprüche bestehen.7 Das Auferlegen von Pflichten der kommutativen Gerechtigkeit erscheint angesichts der vorangehenden freiwilligen Vereinbarung in Bezug auf ein bestimmtes Tauschgeschäft gerechtfertigt. Eine Vereinbarung kann dann als „freiwillig“ getroffen verstanden werden, wenn sie nicht durch Betrug, Täuschung, Raub, Erpressung oder die Androhung von körperlicher oder seelischer Gewalt zustande gekommen ist. In den klassisch aristotelisch-thomistischen Theorien war es für ein kommutativ gerechtes Tauschgeschäft überdies nötig, dass es sich dabei um einen sogenannten „Äquivalenztausch“ handelte, d. h. um einen Tausch, bei dem dem Wert nach Gleiches miteinander getauscht wurde. Dieses Verständnis von kommutativer Gerechtigkeit setzte voraus, dass der Wert des Getauschten unabhängig von dem konkreten Tauschgeschäft – und in dem Sinn „objektiv“ – ermittelt werden konnte.8 Eine überzeugende Theorie des Äquivalenztauschs ließ sich jedoch nicht finden und aufgrund der mannigfaltigen und divergierenden Bewertungsmöglichkeiten von Gütern hält heute kaum mehr jemand die Erarbeitung einer überzeugenden Theorie dieser Art für möglich. Das moderne Verständnis kommutativer Gerechtigkeit gründet sich vielmehr auf die Idee reziproker Vorteile: Tauschbeziehungen zwischen Personen sind demnach kommutativ gerecht, wenn eine Tauschbeziehung freiwillig eingegangen wurde und sich die daran Beteiligten wechselseitig einen Vorteil von dem fraglichen Tauschgeschäft versprechen.9 Diese Verständnisweise kommutativer Gerechtigkeit bedarf allerdings einer Präzisierung: Der Umstand, dass die zum Vertragsabschluss autorisierten Parteien „freiwillig“ in die Vereinbarung einwilligen, und zwar in dem Sinn, dass die Vereinbarung ohne das Einwirken oder die Androhung unrechtmäßiger Gewalt zustande kam, stellt noch nicht in jedem Fall sicher, dass das Tauschgeschäft auch im Interesse derer ist, in deren Namen gehandelt wird: Ein Vertrag über den Verkauf von Erdöl mag zum Vorteil eines regierenden Autokraten sein, aber nicht zum Vorteil der Bevölkerung, für die eine Regierung eigentlich stellvertretend zu handeln hat. Es ist somit nicht ausreichend, zu sagen, dass ein Tauschgeschäft kommutativ gerecht ist, wenn es für die zum Vertragsabschluss autorisierten Parteien wechselseitig vorteilhaft erscheint. Es muss überdies sichergestellt sein, dass die zum Vertragsabschluss autorisierten Parteien im Interesse derjenigen handeln, für die sie stellvertretend agieren. Nicht alle Tauschbeziehungen zwischen Menschen sind kommutativ gerecht. Betrug oder Täuschung stellen ebenso wie Raub und Erpressung kommutativ ungerechte Transaktionen dar. Welche Arten von Zwangsmaßnahmen, Strafen und 7 Vgl.
Hinsch (2003), 26 f. Vgl. ebd., 27. 9 Vgl. ebd., 27. 8
II. Der bedarfsbezogene Anspruch auf ein Leben frei von Armut
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Entschädigungen angezeigt sind, wenn es zu kommutativ ungerechten Tauschbeziehungen kommt, ergibt sich aus den Regeln der korrektiven Gerechtigkeit. Zusammengenommen regulieren die Regeln der kommutativen und der korrektiven Gerechtigkeit die Austauschbeziehungen zwischen Menschen. In beiden Fällen werden allerdings nur einzelne Tauschbeziehungen in den Blick genommen; die Regeln sagen nichts darüber aus, ob die kumulativen Verteilungsergebnisse, zu denen die einzelnen Tauschaktionen zusammengenommen führen, ebenfalls gerecht sind.10 Letzteres ist vielmehr eine Frage der distributiven Gerechtigkeit: Deren Grundsätze legen fest, welchen Anteil an den gemeinsam durch Tausch- und Produktionsbeziehungen erwirtschafteten Gewinnen die an der sozialen Kooperation Beteiligten jeweils für sich beanspruchen können. Ansprüche und Pflichten der distributiven Gerechtigkeit setzen das Bestehen von sozial geregelten Austauschund Kooperationsbeziehungen zwischen Anspruchs- und Pflichtenträgern voraus.11 Bedarfsbezogene Ansprüche kommen demgegenüber Menschen als Menschen zu und lassen es gerechtfertigt erscheinen, anderen auch dann Pflichten aufzuerlegen, wenn keine vorgängigen Vereinbarungen oder bestimmte Formen von Beziehungen bestehen.12 Man könnte auch sagen, dass sie prima facie all jenen Akteuren die korrespondierenden Pflichten auferlegen, denen ihre Erfüllung möglich und zumutbar erscheint, unabhängig vom Bestehen besonderer vertraglicher, persönlicher oder sonstiger Beziehungen zwischen den Beteiligten. Pflichten dieser Art können auch als „natürliche“ Pflichten bezeichnet werden;13 Rawls beschreibt derartige Pflichten in TG auch wie folgt: „Von den Verpflichtungen unterscheiden sich nun die natürlichen Pflichten dadurch, daß sie unabhängig von irgendwelchen freiwilligen Akten gelten. Sie stehen auch in keinem notwendigen Zusammenhang mit Institutionen oder Gebräuchen; ihr Inhalt ist im allgemeinen nicht durch die Regeln von solchen festgelegt. Wir haben etwa die natürliche Pflicht, nicht grausam zu sein, ebenso die, anderen zu helfen, ob wir uns nun dazu verpflichtet haben oder nicht. […] Die natürlichen Pflichten zeichnen sich weiter dadurch aus, daß sie zwischen Menschen unabhängig von ihren institutionellen Beziehungen gelten; sie gelten zwischen allen als gleichen moralischen Subjekten. In diesem Sinne bestehen die natürlichen Pflichten nicht nur gegenüber bestimmten Menschen, etwa denen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Verhältnis zusammenarbeiten, sondern gegenüber Menschen überhaupt. Gerade das läßt die Bezeichnung natürlich besonders passend erscheinen.“14
Beispiele für natürliche Pflichten sind Rawls zufolge etwa die Pflichten, anderen zu helfen, wenn sie in Not oder Gefahr sind, „wenn dies ohne ungebührliche eigene Gefährdung und Schädigung möglich ist; die Pflicht, einem anderen keinen 10 Vgl.
ebd. Vgl. ebd., 31. 12 Vgl. ebd., 34. 13 Vgl. Rawls (1975), 136. 14 Ebd. 11
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Schaden und kein Unrecht anzutun; die Pflicht, kein unnötiges Leiden hervorzurufen“15. Was unter „bedarfsbezogenen Ansprüchen“ zu verstehen ist, denen solch natürliche Pflichten korrespondieren, wird bei Hinsch dann wie folgt ausgeführt: „Bedarfsbezogene moralische Ansprüche sind subjektive Ansprüche von natürlichen Personen darauf, dass andere sie bei der Verwirklichung bestimmter für ihr Leben wesentlicher Güter unterstützen, und zwar auch dann, wenn dies für die Hilfeleistenden mit Nachteilen verbunden ist. Der Sache nach geht es um die Unterstützung von Personen in bestimmten Arten von gravierenden Notlagen, die ich als ‚öffentlich anzuerkennende Notlage‘ bezeichne. […] Deren definierendes Merkmal ist, dass die von ihnen betroffenen Personen nicht in der Lage sind, sich aus eigener Kraft mit den für ein menschenwürdiges Leben jeweils notwendigen Gütern zu versorgen. Typische Güter dieser Art sind Leben und Gesundheit, elementare Bildung, soziale Integration und Achtung.“16
Der Grund für das Bestehen natürlicher Pflichten liegt in dem Wert des Guts, auf das man einen Anspruch besitzt. Als welche Art von Anspruch sollte nun aber der Anspruch auf die Bereitstellung direkter materieller Hilfeleistungen verstanden werden? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es sich bei den fraglichen materiellen Ansprüchen im Prinzip um jeden der in den vorangehenden Abschnitten genannten Arten von Ansprüchen handeln kann: So kann ein Anspruch auf materielle Unterstützung mit bestimmten engen persönlichen Beziehungen, wie z. B. einer Ehe, einhergehen (Beziehungsanspruch). Auch kann sich ein solcher Anspruch aus einer freiwilligen vertraglichen Übereinkunft ergeben (Anspruch der kommutativen Gerechtigkeit) und unter besonderen Umständen mag die Bereitstellung von Hilfeleistungen auch aus Dank geschuldet sein (Anspruch des Danks). Allerdings handelt es sich bei den korrespondierenden Pflichten des Danks insofern um unvollkommene Pflichten, als es jedem Akteur selbst überlassen bleibt, welchen Weg er wählt, um seinen Dank auszudrücken. Aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit, aber auch aufgrund des Umstands, dass sie in dem Kontext der Armutsbekämpfung keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, werden Pflichten der Dankbarkeit im Folgenden unbeachtet bleiben. Korrespondieren die Pflichten auf die Bereitstellung materieller Hilfen dagegen einem Beziehungsanspruch oder einem Anspruch der kommutativen Gerechtigkeit, so handelt es sich bei diesen Pflichten um Versorgungspflichten, die auf einer privaten oder persönlichen Beziehung zwischen Anspruchs- und Pflichtenträger beruhen. „Hilfsbedürftigkeit“ liegt den in Kapitel G. IV. formulierten Bedingungen zufolge jedoch nur dann vor, wenn ein Mensch sich weder aus eigener Kraft noch durch das Leben in einer privaten Versorgungsbeziehung in einer zumutbaren und moralisch angemessenen Weise mit denjenigen Mitteln versorgen kann, die zum Führen eines Lebens frei von Armut nötig sind. In diesem Zusammenhang ist es also irrelevant, durch welchen der genannten Wege ein Mensch zu einem Leben frei von Armut gelangt, ob genuin aus eigener Kraft 15 Ebd. 16
Hinsch (2003), 33.
II. Der bedarfsbezogene Anspruch auf ein Leben frei von Armut
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oder aufgrund der Erfüllung privater Pflichten: Solange er auf die eine oder andere Weise ein Leben frei von Armut führt, stellt sich die Frage der Hilfsbedürftigkeit, die möglicherweise Pflichten gegenüber Dritten generiert, nicht. Auch stellt sich im Fall der Erfüllung privater Verpflichtungen kein Allokationsproblem: Diese Pflichten obliegen nur jenen Menschen, die in einer entsprechenden privaten Versorgungsbeziehung stehen. Im weiteren Verlauf werde ich deshalb auch auf diese Art von Pflicht nicht weiter eingehen. Der Anspruch auf materielle Hilfeleistungen kann überdies als Anspruch der korrektiven Gerechtigkeit auf Kompensations- oder Entschädigungsleistungen von anderen verstanden werden, denn ob ein Anspruch der korrektiven Gerechtigkeit erfüllt wird oder nicht, kann ausschlaggebend dafür sein, ob ein Mensch in Armut leben muss oder nicht. Vor allem Thomas Pogge hat die Bedeutung der korrektiven Gerechtigkeit für die Bekämpfung weltweiter Armut hervorgehoben.17 Pogge geht von der weitverbreiteten Annahme aus, dass die heute bestehende „radikale Ungleichheit“ zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern nicht bestünde, wenn die Einwohner der Entwicklungsländer in der Vergangenheit nicht Opfer massiver Verbrechen – wie etwa den Ausbeutungen in der Kolonialzeit – geworden wären.18 „Radikale Ungleichheit“ zeichnet sich für Pogge durch folgende Merkmale aus: „(1) Absolut gesehen ist die Situation der Schlechtergestellten sehr schlecht. (2) Auch relativ gesehen ist die Situation der Schlechtergestellten sehr schlecht, weitaus schlechter als die Situation vieler anderer. (3) Die Ungleichheit zwischen Besser- und Schlechtergestellten ist tief verwurzelt: Die Schlechtergestellten können ihre Situation aus eigener Kraft nur schwer oder gar nicht bedeutend verbessern; die Mehrheit der Bessergestellten muss dagegen nie auch nur für ein paar Monate die Erfahrung machen, zu den Schlechtergestellten zu gehören und kann sich daher nicht wirklich vorstellen, was es bedeutet, so zu leben. (4) Die Ungleichheit ist umfassend: Sie betrifft praktisch alle Aspekte des menschlichen Lebens, nicht nur bestimmte wie beispielsweise das Klima, den Zugang zu Naturschönheiten oder zur Hochkultur. (5) Die Ungleichheit ist vermeidbar: Die Bessergestellten könnten die Lebensumstände der Schlechtergestellten verbessern, ohne ihre eigenen Lebensumstände bedeutend zu verschlechtern.“19
Pogges Auffassung hinsichtlich des Bestehens von Ansprüchen und Pflichten, die aus historischem Unrecht resultieren, lässt sich wie folgt zusammenfassen: (i) Die in den Entwicklungsländern bestehende Armut wurde in einem nicht unerheblichen Maß durch historisches Unrecht, z. B. in der Kolonialzeit, verursacht. (ii) Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ausfindig zu machen, ob und welche der heute lebenden Personen für die bestehende Armut konkret moralisch verantwortlich zu machen sind. (iii) Dennoch obliegt den heute in den wohlhabenden 17
Vgl. u. a. Pogge (1995), 191 f.; ders. (2011), 253 f. ders. (1995), 191 f. 19 Ders. (2011), 247; vgl. auch ders. (1995), 185. Pogge erweitert mit dieser Definition seinen eigenen Angaben zufolge eine Definition Nagels (1977) (vgl. Pogge (2011), 356, Fn. 342). 18 Vgl.
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Ländern lebenden Menschen die Pflicht, die in der Historie auf ungerechte Weise zustande gekommene radikale Ungleichheit nicht weiter auf gewaltsame Weise aufrechtzuerhalten. Beseitigt werden soll diese radikale Ungleichheit mithilfe einer Rohstoffdividende, die den Bedürftigen zugute kommen soll. Unter einer „Rohstoffdividende“ versteht Pogge eine anteilige Abgabe desjenigen Gewinns, den Staaten und ihre Regierungen durch die Nutzung und den Verkauf von Rohstoffen erwirtschaften. Als „Dividende“ bezeichnet Pogge diese Abgabe deshalb, weil er davon ausgeht, dass jedem Menschen ein Anteil an allen begrenzten natürlichen Rohstoffen resp. deren Nutzung zusteht. Wie im Fall von Vorzugsaktien berechtige dieser Anteilsanspruch allerdings nicht dazu, bei der Frage der Nutzung der betreffenden Rohstoffe mitzuentscheiden; die Kontrolle über die natürlichen Rohstoffe solle vielmehr in staatlicher Hand bleiben.20 Die Dividende, die die Regierungen der Förderländer zu zahlen hätte, würde dann über diejenigen Firmen, die die Rohstoffe kaufen, nutzen und weiterverarbeiten, an die Endverbraucher weitergegeben.21 Für die Zahlung der Rohstoffdividende würden somit letztendlich nicht die Förderländer selbst, sondern diejenigen, die die meisten Rohstoffe verbrauchen – und dies sind letztendlich die Einwohner der wohlhabenden Staaten – aufkommen. Pogges Argumentation erscheint jedoch in verschiedenen Hinsichten unbefriedigend. Zunächst bedarf Prämisse (i) empirischer Belege: Es muss gezeigt werden, dass die Menschen etwa durch in der Kolonialzeit vergangene Verbrechen tatsächlich alles in allem materiell schlechter gestellt sind, als dies der Fall wäre, wenn diese unterblieben wären. So weist etwa O’Neill darauf hin, dass für viele der früheren Kolonien gilt, dass sie zu dem Zeitpunkt der Kolonisierung ökonomisch rückständig waren und nicht wenige der Besatzer einiges für deren Modernisierung getan haben, wie auch einige dieser Ökonomien unter kolonialer Verwaltung blühender waren als dies heute der Fall ist.22 Des Weiteren muss dargelegt werden, wie groß der verursachte Schaden war. Wird diese Frage nicht in befriedigender Weise beantwortet, ist völlig unklar, zu was die Einwohner der wohlhabenden Länder verpflichtet sind resp. wann die durch die historischen Verbrechen entstandenen Schädigungen als ausgeglichen zu betrachten wären.23 Überdies gilt – und dies macht Pogge selbst ausdrücklich geltend –, dass die Ursache für die bestehende Armut etwa in den ehemals kolonisierten Ländern nicht allein in historischem Unrecht gesehen werden kann.24 Vielmehr müssen auch korrupte und kleptokratische 20 Der Vorschlag der Zahlung einer Rohstoffdividende lässt sich Pogge zufolge auch auf Ressourcen ausdehnen, die durch die Nutzung nicht verbraucht, sondern nur erodiert, belastet oder besetzt werden wie Luft und Wasser durch den Ausstoß von Schadstoffen oder Landflächen durch Landwirtschaft, Viehzucht und Bebauung (vgl. ders. (1995), 193; ders. (2011), 245). 21 Vgl. ders. (1995), 189 ff.; ders. (2011), 245 ff. 22 Vgl. O’Neill (1999), 212. 23 Vgl. Hinsch (2003), 32. Pogge selbst ist sich dieses Problems allerdings durchaus bewusst (vgl. Pogge (1995), 191, Fn. 14). 24 Vgl. ebd., 187 f.; Hinsch (2003), 32.
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Herrscher- und Verwaltungseliten, eine schlechte Infrastruktur, die bestehenden Welthandelsregeln, das Anhalten von Bürgerkriegen und ungerechte Verteilungsstrukturen innerhalb der jeweiligen Staaten als Ursachen für das Bestehen von Armut in Betracht gezogen werden.25 Wenn man neben dem historischen Unrecht aber noch andere Ursachen in Betracht ziehen muss, verkompliziert sich die Lage weiter: Denn es gilt zu bestimmen, in welchem Ausmaß die Kolonialherrschaft – und in welchem Ausmaß andere Faktoren – jeweils zu dem Bestehen der heutigen Armut beigetragen haben. Es erscheint aber selbst für einen einzigen Faktor wie den des historischen Unrechts nahezu unmöglich, „die Größe des […] entstandenen Schadens abzuschätzen und so den Umfang einer gerechten Entschädigung festzulegen“26. Solange die komplexe Aufgabe der Bestimmung des Ausmaßes des historischen Unrechts nicht in befriedigender Weise gelöst ist, kann jedoch auch nicht entschieden werden, ob die womöglich zu erbringenden Entschädigungsleistungen ausreichend wären, um die Armut in diesen Ländern vollständig und dauerhaft zu beseitigen.27 Und selbst dann, wenn sich der Schaden, der durch historisches Unrecht insgesamt verursacht wurde, in einer befriedigenden Weise abschätzen ließe, würde daraus nicht ohne Weiteres folgen, dass einigen Menschen Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit zukommen und anderen die entsprechenden korrespondierenden Pflichten obliegen. Wie wir im Vorangehenden gesehen haben, resultieren Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit aus speziellen ungerechten Austauschbeziehungen, die zwischen Anspruchs- und Pflichtenträger bestehen. Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit bestehen, anders gesagt, also nur dann, wenn sich kausale Verbindungslinien zwischen dem geschädigten Individuum auf der einen und den schädigenden Individuen resp. Institutionen auf der anderen Seite nachweisen lassen; diesen Nachweis im Einzelnen zu erbringen, wird sich jedoch als schwierig erweisen.28 Dies gilt umso mehr, als im Fall von in der Historie begangenem Unrecht sowohl diejenigen, deren Ansprüche in der Vergangenheit verletzt wurden, als auch diejenigen, die sie verletzt haben, häufig seit Langem tot sind bzw. die damals zuständigen Institutionen mittlerweile womöglich umstrukturiert wurden oder gar nicht mehr existieren.29 Des Weiteren stellt sich die Frage, ob und inwieweit man Menschen überhaupt zu der Wiedergutmachung von Verbrechen heranziehen kann, die ihre Vorfahren begangen haben.30 Gerechtfertigt erscheint dies allenfalls dann, wenn die heute noch lebenden Nachfahren von dem damals begangenen Unrecht immer noch profitieren. Dies im Einzelfall eindeutig nachzu-
25 Vgl.
Pogge (2011), 140, 250. Hinsch (2003), 32. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. O’Neill (1999), 214 f. 29 Vgl. ebd., 212 f. 30 Vgl. Pogge (1995), 191, Fn. 14; Hinsch (2003), 32, Fn. 41. 26
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weisen, dürfte sich aber ebenfalls als schwierig erweisen.31 Es stellt sich überdies die Frage, wie man mit Menschen mit „gemischten“ Vorfahren umgehen soll, d. h. mit Menschen, deren Vorfahren zum Teil an den in der Vergangenheit begangenen Verbrechen beteiligt und zum Teil deren Opfer waren.32 Nicht zuletzt sind einige der heutigen armen Länder kaum mit der Kolonialherrschaft in Berührung gekommen und den Menschen dort würden dementsprechend keine oder nur sehr geringe Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit zukommen.33 Nicht allen Menschen, die hilfsbedürftig sind, kommen somit auch notwendigerweise Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit zu. Pogge selbst ist sich durchaus darüber im Klaren, dass die Bestimmung der Kausalbeziehungen zwischen Anspruchs- und Pflichtenträgern häufig schwierig sein wird (siehe Pogges Annahme (ii) oben). Daraus zieht er allerdings nicht den Schluss, dass die Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit für die Bekämpfung von Armut keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen sollten. Vielmehr gelangt er in (iii) dennoch zu dem Schluss, dass den in den wohlhabenden Ländern lebenden Menschen die Pflicht obliegt, die in der Historie auf ungerechte Weise zustande gekommene radikale Ungleichheit nicht weiter auf gewaltsame Weise aufrechtzuerhalten, und d. h. für ihn – wie gesehen –, dass diese Ungleichheit durch die Auszahlung der genannten Rohstoffdividende an die Bedürftigen möglichst zu beseitigen ist. Eine moralische Verantwortlichkeit auf Wiedergutmachung für das damals begangene Unrecht kann aber allenfalls bei den Nachfahren der damaligen Täter liegen – und das womöglich auch nur, wenn diese heute noch davon profitieren. Dass alle heute Wohlhabenden von dem damals begangenen Unrecht profitieren, müsste jedoch erst gezeigt werden. Geschieht dies nicht, kann aber auch nicht alleine oder an erster Stelle allen heute Wohlhabenden die korrektive Pflicht auferlegt werden, die durch das damals begangene Unrecht entstandenen Ungerechtigkeiten durch indirekte Ausgleichszahlungen vermittels der Rohstoffdividende oder eine andere Form der Bereitstellung von Hilfeleistungen wiedergutzumachen. Pogge selbst weist darauf hin, dass es aufgrund der genannten Schwierigkeiten, die nötigen Kausalbeziehungen nachzuweisen, nicht möglich ist, einzelnen Menschen eine besondere historische Verantwortung zuzuweisen, die sie zu Reparationszahlungen verpflichtet, und es auf der anderen Seite auch keine bestimmten Nachfahren von Opfern gibt, denen Ansprüche auf Wiedergutmachung zugestanden werden könnten.34 Wenn sich dies nicht nachweisen lässt, wie Pogge selbst zugesteht, erscheint aber unklar, weshalb er dennoch zu dem Schluss gelangt, dass allen Einwohnern der wohlhabenden Länder die korrektive 31 Vgl. ebd. Eingehendere Überlegungen zu Ungerechtigkeiten, die in der Historie begangen wurden, und den sich daraus womöglich ergebenden Rechten und Pflichten finden sich beispielsweise in Lyons (1977); Sher (1981); O’Neill (1986); Meyer (2005) oder Schefczyk (2012). 32 Vgl. Pogge (1995), 191, Fn. 14. 33 Vgl. O’Neill (1999), 215. 34 Vgl. Pogge (1995), 191.
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Pflicht obliegt, Hilfen bereitzustellen. Ebenso wenig kann man daraus schließen, dass bei allen Hilfsbedürftigen in Ländern, in denen es in der Historie zu Verbrechen wie der Kolonialherrschaft gekommen ist, umgekehrt ein Anspruch auf eine korrektive Form von Hilfeleistungen besteht. Auch dazu müssten die nötigen speziellen Beziehungen zwischen Pflichten- und Anspruchsträger vorliegen und nachgewiesen werden wie auch gezeigt werden müsste, dass die Hilfsbedürftigkeit tatsächlich eine Folge eines damals begangenen Unrechts ist.35 Die angeführten Einwände gegen Pogges Argumentation zeigen nicht, dass den Wohlhabenden keine Pflicht obliegt, die weltweite „radikale“ Ungleichheit zu beseitigen. Sie zeigen lediglich, dass die Rechtfertigung dieser Pflicht nicht in erster Linie – und womöglich überhaupt nicht – mit Rekurs auf das in der Vergangenheit begangene Unrecht erfolgen kann. Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit, die aus historischem Unrecht resultieren, müssen freilich erfüllt werden, so sich die geforderten Kausalzusammenhänge zwischen Anspruchs- und Pflichtenträgern nachweisen lassen und es gerechtfertigt erscheint, dass Nachfahren der damaligen Täter unter bestimmten Bedingungen zu Entschädigungszahlungen herangezogen werden. All dies zu erweisen stellt – wie gesehen – jedoch eine komplizierte, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe dar. O’Neill bringt diesen Umstand prägnant auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Wenn wir weder sicher sein können, in welchem Maße die gegenwärtigen Mißstände von vergangenem Unrecht herrühren, noch, welche unserer Zeitgenossen von solchem Unrecht geschädigt wurden oder davon profitiert haben, noch, wer heute besonders in die Pflicht genommen werden müßte, um die Kosten für eine gerechte Entschädigung zu übernehmen, wird das Recht auf Entschädigung nur wenig praktische Folgen zeitigen.“36
Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit können sich aber nicht nur aus historischem, sondern auch aus gegenwärtigem Unrecht ergeben. So ist beispielsweise die Annahme weitverbreitet, dass die Industrienationen Entwicklungsländern aufgrund ihrer größeren Verhandlungsmacht nachteilige Verträge oder Tauschgeschäfte, etwa über den Verkauf natürlicher Ressourcen oder die Vergabe von Krediten, aufzwingen,37 wodurch die bestehenden materiellen Ungleichheiten noch weiter vergrößert oder wenigstens nicht verringert werden.38 Wir haben jedoch im Voran35 Es sollte an dieser Stelle noch angemerkt werden, dass zu leistende Kompensationszahlungen einen Menschen im Grunde auch zu weit mehr oder zu weitaus weniger als zum Führen eines Lebens frei von Armut befähigen können. Überdies können Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit fairerweise nicht nur denjenigen zugestanden werden, die heute von Armut bedroht sind oder in Armut leben, sondern sie müssen allen Menschen zugestanden werden, deren Vorfahren durch das fragliche historische Unrecht geschädigt wurden und die heute nachweislich schlechter gestellt sind, als sie dies sein könnten, wenn die jeweilige Schädigung nicht erfolgt wäre. 36 O’Neill (1999), 212 f. 37 Vgl. Hinsch (2003), 29. 38 Hinsch verweist in diesem Zusammenhang auf die neo-marxistische Dependenztheorie in den 1960er und 1970er Jahren (insbesondere auf Cardoso/Faletto (1976), 211, 222 ff.),
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gehenden gesehen, dass ein Tausch immer dann kommutativ gerecht ist, wenn er ohne die Ausübung oder Androhung unrechtmäßiger Gewalt zustande kommt und sich beide Vertragsparteien von dem infrage stehenden Tausch einen persönlichen Vorteil versprechen. Beide Bedingungen werden allerdings viele, wenn nicht die meisten Tauschbeziehungen zwischen Einwohnern reicher Industrienationen und Einwohnern der Entwicklungsländer heute erfüllen, denn unrechtmäßige Gewalt wird – anders als zu Zeiten der Kolonialzeit – nicht ausgeübt, wie sich auch beide Vertragsparteien üblicherweise einen persönlichen Vorteil von den abgeschlossenen Verträgen versprechen. Nicht erfüllt sein wird aber häufig die zweite zuvor genannte Bedingung, dass die zum Vertragsabschluss autorisierten Parteien auch im Interesse derjenigen handeln, die sie zu vertreten haben – wie dies im Fall autokratischer Machthaber der Fall ist, die bei dem Verkauf der natürlichen Ressourcen eines Landes allein auf ihren persönlichen Vorteil, nicht aber auf das Wohl ihres Volks achten. Man könnte sagen, dass in solchen Fällen aufseiten des Volks korrektive Ansprüche gegenüber dem Käufer auf die Zahlung eines angemessenen Preises für die verkauften Güter – typischerweise natürliche Rohstoffe – entstehen. Ein Problem, das sich unter dem Gesichtspunkt der auf einzelne Transaktionen gerichteten kommutativen Gerechtigkeit allerdings stellt, ist, dass man ohne die Vorstellung des Äquivalenztauschs kein Kriterium zur Hand hat, anhand dessen objektiv, d. h. unabhängig von den tauschenden Parteien, bestimmt werden könnte, was ein solch angemessener Preis wäre.39 Damit lässt sich aber auch nicht sagen, was ein Käufer „der Bevölkerung“ gegebenenfalls über den mit dem Machthaber vereinbarten Preis hinaus schuldig wäre. Und selbst wenn wir einmal annehmen, dass sich dieses Problem in befriedigender Weise lösen ließe, bliebe unklar, wem die zusätzlichen Mittel ausgezahlt werden sollten: Denn zahlt man die zusätzlich gewonnenen Mittel einem autokratischen Machthaber aus, ist alles andere als klar, ob dieser sie für die Verbesserung der Lage seiner Bevölkerung einsetzen würde. Und selbst wenn wir annehmen, dass die so gewonnenen Mittel zur Bekämpfung von Armut im eigenen Land eingesetzt würden, bliebe unklar, ob diese Mittel ausreichten, um die Armut dort dauerhaft zu beseitigen. Ließe sich dies nicht bewerkstelligen, so stellte dies jedenfalls aus dem Blickwinkel der korrektiven Gerechtigkeit kein moralisches Problem mehr dar, sofern alle korrektiven Ansprüche erfüllt wurden. Mit der Erfüllung der aus gegenwärtigem Unrecht resultierenden Ansprüche der korrektiven Gerechtigkeit kann also ebenfalls nicht garantiert werden, dass es zu einer dauerhaften Beseitigung weltweiter Armut kommt. Bei dem Anspruch auf diejenigen materiellen Güter, die es zum Führen eines Lebens frei von Armut braucht, kann es sich des Weiteren um einen Anspruch der distributiven Gerechtigkeit handeln. Bei der distributiven Gerechtigkeit geht es, deren Grundannahme es bereits war, dass die Armut in den Entwicklungsländern auf ausbeuterischen Wirtschaftsbeziehungen beruhe, durch die es den Industriestaaten gelinge, die natürlichen Ressourcen der Entwicklungsländer zu geringen Leistungen und unter Wert an sich zu bringen (vgl. Hinsch (2003), 29, Fn. 37). 39 Vgl. ebd., 30.
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wie gesehen, um die Frage, unter welchen Bedingungen die Verteilungsergebnisse der einzelnen wirtschaftlichen Transaktionen innerhalb einer Kooperationsgemeinschaft als gerecht resp. ungerecht betrachtet werden sollten. Sie könnten etwa als ungerecht betrachtet werden, wenn der Grad an Ungleichheit einen kritischen Schwellenwert überschreitet.40 Es könnte dann als eine Forderung der distributiven Gerechtigkeit verstanden werden, dieser Ungleichheit entgegenzuwirken und jeden an der gemeinsamen Güterproduktion Beteiligten zumindest mit einem menschenwürdigen Minimum zu versorgen.41 Häufig wird die distributive Gerechtigkeit jedoch als eine relationale moralische Zielvorstellung verstanden, in der es darum geht, „dass verschiedene an einem wechselseitig vorteilhaften Kooperationssystem beteiligte Akteure am Ende genau denjenigen Anteil an den Erträgen der gemeinsamen Arbeit erhalten, der ihnen im Verhältnis zu den Anteilen aller anderen Beteiligten gerechterweise […] zusteht“42. Im Prinzip kann eine Theorie distributiver Gerechtigkeit auch beide Arten von Forderungen enthalten; Rawls’ distributive Gerechtigkeitstheorie kann – wie in Kapitel E. II. 3. gesehen – in dieser Weise interpretiert werden: Rawls setzt in seiner Gerechtigkeitstheorie voraus, dass alle an der Kooperation Beteiligten gleichermaßen dazu in der Lage sind, ein Leben frei von materieller Not zu führen, bevor sie sich dann im Urzustand u. a. auf die Wahl des „Differenzprinzips“ einigen, welches ein relationales Gerechtigkeitsprinzip darstellt und eine Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Weise fordert, dass die Position der am wenigsten Begünstigen in Bezug auf Einkommen und Vermögen maximiert wird.43 Prinzipien distributiver Gerechtigkeit finden allerdings nur auf Gruppen Anwendung, für die gilt, dass deren Mitglieder bei der Produktion von Gütern in Kooperationsbeziehungen miteinander stehen. Es stellt sich dann aber die Frage, welchen Grad an Verflochtenheit diese Kooperationsbeziehungen aufweisen müssen, damit Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit Anwendung finden. In sogenannten „etatistischen“ Positionen wird angenommen, dass der nötige Grad an Verflochtenheit nur innerhalb eines Nationalstaats vorliegt, wie dies etwa Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie annimmt. Nur zwischen den Bürgern eines Staats, so die Annahme in etatistischen Positionen, bestehen Tausch- und Produktionsbeziehungen, die eng genug sind, um die Anwendung distributiver Verteilungsprinzipien zu rechtfertigen. Zudem, so eine weitere Annahme, könne nur mithilfe des Gewaltmonopols des Staats, dem die Bürger unterstehen, sichergestellt werden, dass die Grundstruktur der Gesellschaft so eingerichtet wird, dass sie eine gerechte Güterverteilung hervorbringt.44 Für etatistische Positionen ist überdies charakteristisch, dass sich die in ihnen aufgestellten Regeln der distributiven Gerechtigkeit 40
Vgl. ebd., 29 f. zu einer solchen Position z. B. Pogge (1995); ders. (2011) wie auch Nussbaum (2010). 42 Hinsch (2003), 31. 43 Vgl. ders. (2001), 66. 44 Vgl. Bleisch (2010), 64 ff. 41 Vgl.
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auf die Einrichtung gesellschaftlicher Institutionen beziehen und keine Handlungsanweisungen für einzelne Individuen darstellen.45 Die von den Etatisten zugrunde gelegten Annahmen sind damit vereinbar, dass neben den Forderungen der distributiven Gerechtigkeit, die ihnen zufolge nur innerstaatliche Anwendung finden sollen, noch moralische Pflichten zur Erfüllung basaler Menschenrechte und der Sicherung von Grundbedürfnissen im Leben von Menschen auch in anderen Gesellschaften bestehen.46 Etatistische Positionen erscheinen aus heutiger Sicht ein Stück weit anachronistisch: Zum einen bestehen enge wirtschaftliche Kooperationsbeziehungen heutzutage auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Man denke nur an multinationale Unternehmen, aber auch an nationale Unternehmen und Organisationen, die häufig eng mit ausländischen Firmen und Einrichtungen verbunden sind und innerhalb eines nicht nur durch nationales Recht, sondern auch durch internationale Vereinbarungen gesetzten Rahmens arbeiten.47 Für die meisten Produkte, die wir heute in den Industrieländern kaufen und verkaufen, gilt zudem, dass sie einen langen, komplexen Produktionsweg hinter sich haben „vom Abbau und Export von Rohstoffen, zu deren Veredelung und Verarbeitung in Niedriglohnländern, über deren Transport durch verschiedene Länder, die Einfuhr- und Exportzölle erheben, bis auf den Verkaufstisch in den reichen Ländern“48. Des Weiteren existieren mit der EU, der UN, der WTO oder dem IWF bereits überstaatliche Organisationen, die die wirtschaftlichen Kooperationsbeziehungen zumindest zum Teil auf internationaler Ebene regulieren. Auch bestehen mit dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überstaatliche Gerichtsbarkeiten.49 45
Vgl. ebd., 61. Vgl. ebd., 67. 47 Vgl. O’Neill (1999), 190. 48 Bleisch (2010), 69. 49 Diese Gegebenheiten stellen auch eine Widerlegung derjenigen Kritik vonseiten des Kommunitarismus dar, der zufolge eine Ausdehnung der Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit schon deshalb nicht möglich sei, weil die Angehörigen unterschiedlicher Gemeinschaften die Kategorien oder Begriffe, mithilfe derer ethische Diskurse geführt werden, nicht in der gleichen Weise verstehen, und in einem unterschiedlichen Werte- und Traditionsgefüge stehen, was eine Einigung auf gemeinsame Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit dieser Auffassung zufolge letztendlich unmöglich macht (vgl. O’Neill (1999), 196; kommunitaristische Positionen finden sich z. B. in MacIntyre (1981); Sandel (1998); Walzer (2006)). Die bestehenden überstaatlichen Verflechtungen zeigen jedoch, dass die Einigung auf gemeinsame moralische und rechtliche Prinzipien grundsätzlich möglich ist. O’Neill schreibt dazu: „Distributive Gerechtigkeit zwischen den Nationen wäre tatsächlich undenkbar, wenn die Grenzen zwischen den Staaten und zwischen den Diskursformen und Ideologien absolut und undurchdringlich wären. Doch darin gerade unterscheidet sich die moderne Welt von ihren Vorgängerinnen. Es handelt sich eben nicht um eine Welt, die aus abgeschlossenen Gemeinschaften besteht, mit füreinander unergründlichen Denkweisen, selbstgenügsamen Ökonomien und idealerweise souveränen Staaten. […] Wenn der komplexe, vernünftige Meinungsaustausch und die Vergesellschaftung Grenzen durchbrechen können, weshalb sollte dies nicht auch Gerechtigkeitsprinzipien möglich sein? Die internati46
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All dies darf gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf internationaler Ebene, anders als auf nationaler Ebene, bisher keine Institutionen existieren, die legitimiert und mit Zwangsmechanismen ausgestattet sind, um eine länderübergreifende Umverteilung von Gütern und Ressourcen beispielsweise durch die von Pogge vorgeschlagene Rohstoffdividende durchzusetzen. Prinzipiell erscheint die Einrichtung überstaatlicher Institutionen, die für eine globale Umverteilung sorgen, jedoch möglich, weshalb auch über deren Notwendigkeit nachgedacht werden muss: „Heute stellen sich die Fragen nach distributiver Gerechtigkeit im Weltmaßstab – unabhängig davon, ob wir nun die theoretischen Mittel zu ihrer Lösung finden oder nicht. Die modernen technischen und institutionellen Möglichkeiten machen sehr viel weitgehendere Interventionen nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich. Wir können heutzutage der Frage kaum mehr aus dem Weg gehen, auf welche Weise Individuen, Institutionen und Gesellschaften ferne Armut und fernes Elend zu verändern (zu verschlimmern oder abzumildern) in der Lage sind.“50
Wenn aber globale Wirtschaftsbeziehungen bestehen und es heute im Prinzip möglich erscheint, entsprechende Institutionen zur Umverteilung aufzubauen, ist es die Aufgabe von Vertretern etatistischer Positionen, zu zeigen, weshalb die Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit dennoch weiterhin bloß Anwendung innerhalb des Nationalstaats finden sollten und nicht vielmehr gefordert ist, auch auf der internationalen Ebene die zur Durchsetzung distributiver Gerechtigkeit nötigen Institutionen aufzubauen. Selbst wenn sich nachweisen ließe, dass die wirtschaftlichen Kooperationsbeziehungen auf internationaler Ebene stets weniger eng sind als diejenigen auf nationaler Ebene, was im Einzelnen zu zeigen wäre, folgte daraus nicht, dass im transnationalen Kontext überhaupt keine Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit Anwendung finden sollten. Ein solcher Nachweis könnte allerdings einen Grund dafür darstellen, dass im transnationalen Kontext andere als die lokalen, nationalstaatlichen Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit Anwendung finden sollten.51 Positionen, die die Anwendung von Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit auf globaler oder transnationaler Ebene fordern, sobald internationale Kooperationsbeziehungen wie auch die zur Durchsetzung dieser Prinzipien nötigen Institutionen existieren, werden auch als „globalistische“ Positionen bezeichnet.52 Mit globalistischen Positionen ist prinzipiell die Annahme vereinbar, dass in Abhängigkeit davon, wie weit die geforderten Anwendungsbedingungen vorliegen, auch jeweils unterschiedliche Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit Anwendung finden onalistische Rede von der ,Weltgemeinschaft‘ oder von einem ,globalen Dorf‘ mag als rührseliges Phrasendreschen erscheinen; bei der Ansicht jedoch, die Grenzen der gegenwärtigen Gemeinschaften seien undurchdringlich, handelt es sich um pure Nostalgie; und nicht selten dient diese Nostalgie dem Eigennutz. Fragen der distributiven Gerechtigkeit zwischen den Nationen lassen sich heute nicht mehr für unzulässig erklären“ (O’Neill (1999), 198). 50 Ebd., 189. 51 Vgl. Bleisch (2010), 68 f. 52 Vgl. ebd., 62, 68; Forst (2002).
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sollten.53 Bisher existieren auf globaler Ebene keine Institutionen zur Durchsetzung von Prinzipien der distributiven Gerechtigkeit, weshalb die Anwendungsbedingungen globalistischer Positionen derzeit nicht vollständig erfüllt sind. Es spricht jedoch nichts dagegen, derartige Positionen um die Forderung zu ergänzen, dass die nötigen Institutionen auf überstaatlicher Ebene geschaffen werden sollten.54 Pogge vertritt eine solch globalistische Auffassung: Er geht davon aus, dass ein globales Handelsnetz existiert und es zumindest einige Institutionen gibt, die die globalen Wirtschaftsbeziehungen regeln. Diese Regeln sind Pogge zufolge jedoch insofern ungerecht, als sie zum Fortbestehen von Armut beitragen, obgleich es eine praktikable institutionelle Lösung – die Einführung einer Rohstoffdividende – gibt, durch die sich die bestehende schwere und weitverbreitete Armut reduzieren ließe.55 Pogge fordert in seiner Position also den Aufbau einer bisher fehlenden institutionellen Einrichtung – die Einführung einer Rohstoffdividende –, mit deren Hilfe sich auf globaler Ebene eine Umverteilung materieller Güter bewerkstelligen ließe. Verantwortlich für die bestehenden ungerechten Wirtschaftsstrukturen sind für Pogge die Wohlhabenden, da diese den Schlechtergestellten die bestehende Wirtschaftsordnung aufgezwungen hätten; aus diesem Grund seien diese nun auch angehalten, für die Einführung einer Rohstoffdividende zu sorgen.56 Dass die heute bestehende Weltwirtschaftsordnung zum Bestehen von Armut beiträgt, gilt als weithin unumstritten. Zu zeigen wäre allerdings, ob Pogges Annahme richtig ist, dass eine Veränderung der Weltwirtschaftsordnung in der genannten Weise tatsächlich zu einer starken Reduktion und dauerhaften Beseitigung von Armut in den ärmeren Ländern führen würde. Es könnte sich ebenso zeigen, dass die Armut trotz der Veränderungen der Weltwirtschaftsordnung aufgrund lokaler Faktoren in diesen Ländern weiter bestehen bleibt.57 In erster Linie die Einwohner der wohlhabenden Staaten als verpflichtet zu betrachten, auf die nötigen Veränderungen hinzuarbeiten, erscheint allerdings einleuchtend, denn diese leben in aller Regel in funktionierenden Demokratien und sind in einem höheren Maß dazu in der Lage, auf ihre Regierungen einzuwirken als viele Menschen, die in den heute armen Ländern leben. Unterlassen es die Einwohner der wohlhabenden Staaten, sich politisch gegen eine unfaire Weltwirtschaftsordnung einzusetzen, tragen sie also indirekt zum Bestehen dieser Ordnung bei und es kann insofern eine Verantwortung für deren Bestehen geltend gemacht werden.58 Weiter begründungsbedürftig erscheint jedoch, weshalb eine Umverteilung allein über die Besteuerung von natürlichen Ressourcen – und nicht etwa auch über die Besteuerung großer Vermögen und Einkommen der Kooperierenden – laufen 53 Vgl.
Bleisch (2010), 69. Vgl. ebd., 73. 55 Vgl. Pogge (1995), 192 ff.; ders. (2011), 248 ff. 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. Bleisch (2010), 135. 58 Vgl. ebd., 136; Young (2013). 54
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sollte. Doch selbst wenn die Einführung einer Rohstoffdividende sich bei genauer Betrachtung als fairer Weg zur Umverteilung erweisen sollte, gilt, dass ein Ansatz zur Armutsbekämpfung, der auf die distributive Gerechtigkeit abhebt, nur denjenigen Ansprüche zugestehen kann, die als „Kooperierende“ verstanden werden. Pogges Position erscheint auch in dieser Hinsicht inkonsistent: Zum einen versteht Pogge unter „Kooperation“ offenkundig „wirtschaftliche Kooperation“, denn auf diese wie auch auf die gemeinsame Wirtschaftsordnung hebt er ab, wenn es ihm darum geht, zu zeigen, dass den Wohlhabenden gegenüber den Menschen in armen Ländern Gerechtigkeitspflichten obliegen. Die korrespondierenden Ansprüche auf materielle Hilfeleistungen können demnach nur denen zukommen, die auch in einem wirtschaftlichen Kooperationsverhältnis mit den Wohlhabenden stehen. Dies wird jedoch nicht für alle Menschen gelten: So können etwa körperlich und geistig schwer beeinträchtigte Menschen womöglich ihr gesamtes Leben keinen Beitrag zur wirtschaftlichen Kooperation leisten; auch muss man eigens darlegen, welche Ansprüche denen zukommen, die nur temporär einen Beitrag zur Kooperation leisten können oder bisher noch keinen solchen geleistet haben, wie beispielsweise im Fall von Kranken, Kindern, Alten oder Arbeitslosen. Nicht zu vergessen ist auch, dass für einzelne Staaten der Fall eintreten kann, dass sie nicht oder nur in sehr geringem Umfang in einem grenzüberschreitenden Handel mit anderen Ländern stehen. Wenn Ansprüche der distributiven Gerechtigkeit das Vorliegen bestimmter Arten von Kooperationsbeziehungen voraussetzen, können sich die Pflichtenträger ihrer Pflichten zudem dadurch entledigen, dass sie die infrage stehenden Beziehungen auflösen resp. in Zukunft nicht mehr eingehen, sofern ihnen die damit verbundenen Kosten zu hoch erscheinen.59 Man könnte versuchen, dieses Problem dadurch zu beseitigen, dass man „Kooperation“ weiter fasst als „wirtschaftliche Kooperation und Güterproduktion“: So könnte man etwa sagen, dass auch derjenige schon „kooperiert“, der die Rechte anderer achtet und andere nicht daran hindert, an der gemeinsamen Güterproduktion teilzunehmen. Auch ein solches Wohlverhalten würde dann Mitglieder einer Gemeinschaft dazu berechtigen, einen Anteil an den gemeinschaftlich produzierten Gütern zu erhalten, auch wenn sie an deren Erzeugung nicht direkt beteiligt wären. Ein solch erweitertes Verständnis von „Kooperation“ würde allerdings ebenfalls nicht sicherstellen, dass allen in Armut lebenden Menschen Ansprüche der distributiven Gerechtigkeit zukämen: Ein kooperatives Verhalten in diesem Sinn muss man nur von denen verlangen, die dazu in der Lage sind, sich auch unkooperativ zu verhalten, d. h. von denjenigen, die andere an der wirtschaftlichen Kooperation oder Ausübung ihrer Rechte hindern können. Diejenigen, die nicht an der wirtschaftlichen Kooperation teilnehmen können, werden aber häufig gerade diejenigen sein, die zu einem in diesem Sinn unkooperativen Verhalten gar nicht in der Lage sind, wie z. B. kranke, komatöse, körperlich oder geistig schwer behinderte Menschen, kleinere Kinder oder gebrechliche, ältere Menschen. Für diese Personenkreise müsste „Wohlverhalten“ also nicht als „Kooperationsbeitrag“ betrachtet 59 Vgl.
Hinsch (2003), 29.
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werden, da sie sozusagen gar nicht anders können, als sich in diesem Sinn „wohl zu verhalten“ resp. in aller Regel keine ernst zu nehmende Bedrohung in den genannten Hinsichten für andere darstellen. Ein weiterer Weg, der einem offen stünde, um die Ansprüche der distributiven Gerechtigkeit als zentral für die Bekämpfung von Armut auszuzeichnen, wäre der, den Kooperationsbegriff soweit auszuweiten, und damit letztendlich völlig zu überdehnen, als jeder Mensch aufgrund seines Menschseins bereits als „Kooperierender“ verstanden würde.60 Es stellt sich dann aber die Frage, welche Aufgabe dem Kooperationsgedanken noch zufällt, und ob es nicht stimmiger wäre, durchgängig und unumwunden zu fordern, dass allen Menschen unabhängig von dem Bestehen spezieller Beziehungen und Vereinbarungen bestimmte Ansprüche zukommen. In dieser Weise muss der Anspruch auf materielle Hilfeleistungen aber offenbar verstanden werden: Als ein Anspruch, der allen Menschen allein deswegen zukommt, weil sie Menschen sind, und somit unabhängig davon, in welchen konkreten Beziehungen sie zueinander stehen. Handelt es sich um Ansprüche dieser Art, ist es aber, wie gesehen, gerechtfertigt, jedem Akteur, dem die Bereitstellung von materiellen Hilfen möglich und zumutbar ist, auch eine entsprechende Pflicht aufzuerlegen. Wir haben Ansprüche dieser Art im Vorangehenden in Anlehnung an Hinsch auch als „bedarfsbezogene“ Ansprüche bezeichnet. Wenn Ansprüche auf materielle Hilfeleistungen so verstanden werden, ist es nicht nötig, den Begriff der Kooperation oder der gemeinsamen Güterproduktion zu überdehnen und die Idee der distributiven Gerechtigkeit auszuhöhlen. Auch entspricht dies unserer Intuition, dass man sich seiner Pflichten gegenüber den Armen nicht dadurch entledigen kann, indem man bestimmte Arten von Beziehungen – wie etwa Kooperationsbeziehungen – zu ihnen einfach nicht eingeht oder abbricht, sobald einem die Kosten dafür zu hoch erscheinen. Gleichwohl kann auch die Erfüllung von Ansprüchen der kommutativen oder der distributiven Gerechtigkeit dazu führen, dass Menschen frei von Armut leben können. Die vorangehende Erörterung der Frage, als welche Art von Anspruch wir den moralischen Anspruch auf die Bereitstellung direkter materieller Hilfeleistungen verstehen sollten, hat also ergeben, dass er am besten als bedarfsbezogener moralischer Anspruch verstanden werden sollte. Mithilfe einer analogen Argumentation ließe sich zeigen, dass auch die Nicht-Hinderungsansprüche, die Institutionalisierungsansprüche wie auch die materiellen Ansprüche auf die Bereitstellung derjenigen Mittel, die zu dem Aufbau und dem Erhalt der Institutionen nötig sind, die es braucht, um das komplexe Recht auf ein Leben frei von Armut vollständig und effektiv zu schützen, als bedarfsbezogene Ansprüche verstanden werden sollten. Wie bereits eingangs erwähnt wurde, werde ich darauf verzichten, eine solch analoge Argumentation noch einmal im Einzelnen vorzuführen. Auf der Basis der im Vorangehenden angestellten Überlegungen lässt sich überdies auch noch eine weitere Frage beantworten, die sich im Zusammenhang mit der 60
Vgl. so z. B. Nussbaum (2010), 183 ff.
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Frage nach den Pflichten zu der Bekämpfung von Armut stellt, die aber bisher nicht beantwortet wurde, und zwar die Frage, ob Arbeitgeber dazu verpflichtet sind, Angestellte nicht zu entlassen, sofern die ausgeübte Erwerbstätigkeit für diese den einzigen Weg darstellt, um ein Leben frei von Armut zu führen. Wie gesehen, sollte der Anspruch auf diejenigen materiellen Güter, die es zum Führen eines Lebens frei von Armut braucht, als bedarfsbezogener Anspruch verstanden werden, der Menschen in Situationen zugestanden wird, in denen ihnen kein zumutbarer Weg mehr offensteht, um sich selbst grundlegend zu versorgen. Und in einer Situation, in der ein Erwerbstätiger nur noch durch die materiellen Hilfen seines Arbeitgebers vor dem Sturz in die Armut bewahrt werden könnte, wäre dieser auch tatsächlich zur Bereitstellung von Hilfeleistungen verpflichtet. Der Grund dafür liegt jedoch nicht in seiner Rolle als Arbeitgeber begründet, sondern schlichtweg darin, dass er in der skizzierten Situation der Einzige ist, dem die Bereitstellung von Hilfeleistungen möglich und, so wollen wir einmal annehmen, auch zumutbar ist. Genau genommen wäre der Arbeitgeber in einer solchen Situation nicht unbedingt zum Erhalt des Arbeitsverhältnisses verpflichtet, sondern er könnte alternativ auch die zu der Vermeidung von Armut nötigen materiellen Hilfeleistungen auf privatem Weg zur Verfügung stellen. Sobald es allerdings auch anderen möglich und zumutbar ist, Hilfe zu leisten, besteht aus einer moralischen Perspektive kein Grund, weshalb ein Mensch, der die Rolle eines Arbeitgebers inne hat – und damit in einer Tauschbeziehung mit dem Arbeit- bzw. Auftragnehmer steht –, per se in höherem Maß dazu verpflichtet sein sollte, einen Menschen vor einem Leben in Armut zu bewahren als jeder andere, dem Hilfe möglich und zumutbar ist. Das Gleiche gilt für die Pflicht, Menschen einen existenzsichernden Lohn zu zahlen: Eine solche Pflicht mag aus einer vertraglichen Verpflichtung oder aus einer gesetzlichen Forderung resultieren, aber sie besteht nicht per se aufseiten eines Arbeitgebers, sondern – falls keine solche spezielle Pflicht besteht – ebenfalls nur dann, wenn er in einer Situation der Einzige ist, der den infrage stehenden Menschen vor dem Fall in die Armut bewahren kann; ansonsten gibt es auch hier aus einer moralischen Perspektive keinen stichhaltigen Grund, weshalb es an erster Stelle die Pflicht des Arbeitgebers sein sollte, Menschen vor einem Leben in Armut zu bewahren. Wenn eine Entlassung oder die Zahlung eines nicht-existenzsichernden Lohns nicht dazu führt, dass ein Mensch in Armut gerät, etwa, weil er durch einen Ehepartner finanziell abgesichert ist, stellt dies jedenfalls keinen Verstoß gegen die Wahrung des moralischen Anspruchs auf ein Leben frei von Armut dar. Dies schließt nicht aus, dass Entlassungen oder die Zahlung nicht-existenzsichernder Löhne aus anderen Überlegungen, z. B. zur distributiven Gerechtigkeit, als ungerecht betrachtet und ihre Vermeidung möglichst angestrebt werden sollte. Auch für alle anderen potenziellen Pflichten, wirtschaftliche Entscheidungen zu unterlassen, die andere in ein Leben in Armut stürzen könnten – wie beispielsweise bestimmte Kaufentscheidungen – gilt: Ist das Unterlassen der infrage stehenden Handlung tatsächlich der einzige Weg, einen anderen Menschen vor dem Fall in die Armut zu bewahren, so ist man dazu verpflichtet, die fragliche Handlung zu unterlassen, sofern einem dies selbst möglich und zumutbar ist, also das Unter-
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lassen der Handlung einen nicht etwa selbst in Armut stürzen würde. Für viele wirtschaftliche Entscheidungen, wird sich allerdings nicht in zuverlässiger Weise beantworten lassen, ob dies der Fall ist oder nicht. Vielmehr gilt für die Auswirkungen der meisten ökonomischen Entscheidungen, wie Pogge es ausdrückt: „[Sie] […] setzen sich endlos fort, interagieren mit den Auswirkungen zahlloser anderer solcher Entscheidungen und lassen sich daher nicht vollständig zurückverfolgen, geschweige denn vorhersagen.“61
III. Armutsbekämpfung und Pflichtenallokation Im vorangehenden Abschnitt wurde dargelegt, warum Ansprüche, aus denen sich das komplexe moralische Recht auf ein Leben frei von Armut bzw. auf ein soziales Minimum zusammensetzt, als bedarfsbezogene moralische Ansprüche verstanden werden sollten. Daraus ergibt sich aber, dass diesem komplexen Recht, solange es nicht zu einer Institutionalisierung der fraglichen Pflichten gekommen ist, ausschließlich natürliche Pflichten korrespondieren. Es wird sich jedoch zeigen, dass es geboten erscheint, diese Ansprüche und Pflichten zumindest teilweise durch Institutionen positiv-rechtlich zu garantieren. In der folgenden Argumentation wird gleichwohl kontrafaktisch zunächst davon ausgegangen, dass wir uns hinsichtlich dieser Ansprüche durchgängig in einem „vorinstitutionellen Zustand“ befinden, d. h. in einem Zustand, in dem die geforderte positiv-rechtliche Garantie dieser Ansprüche durch entsprechende Institutionen noch nicht besteht. Einen Zustand, in dem derartige Institutionen bereits existieren, werde ich als „institutionellen Zustand“ bezeichnen. Beide Zustände existieren gegenwärtig parallel: So existieren in der Bundesrepublik Deutschland und in vielen anderen Nationen mit Zwangsmechanismen ausgestattete Institutionen, die eine bestimmte Vorstellung von Armut zumindest im Leben der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder bekämpfen sollen; auf der Ebene der internationalen Armutsbekämpfung befinden wir uns bezüglich der materiellen Hilfspflichten dagegen in einem vorinstitutionellen Zustand, da auf überstaatlicher Ebene derartige Institutionen fehlen.62 Wie wir in Kapitel H. II. gesehen haben, obliegen natürliche Pflichten nun prima facie allen Akteuren, denen deren Erfüllung möglich und zumutbar ist, und zwar unabhängig vom Bestehen besonderer vertraglicher, persönlicher oder sons61 Pogge (2011), 249. Vgl. anders beispielsweise Bleisch, die für das Bestehen einer Konsumentenpflicht plädiert (vgl. Bleisch (2010), 124 f.). Iris Young vertritt die Auffassung, dass auch in Situationen, in denen nicht klar ausgemacht werden kann, wer für ein bestehendes Unrecht kausal verantwortlich gemacht werden kann, wie im Fall der globalen Armut, dennoch Verantwortlichkeiten zugeschrieben werden können (vgl. Young (2013)). 62 Der Umstand, dass international agierende Hilfsorganisationen existieren, bedeutet nicht, dass wir den vorinstitutionellen Zustand in dem hier verstandenen Sinn auf internationaler Ebene bereits verlassen haben. Dies ist erst dann der Fall, wenn die Erfüllung der infrage stehenden Ansprüche resp. der damit korrespondierenden Pflichten positiv-rechtlich durch mit Zwangsmechanismen ausgestattete Institutionen in dem in Kapitel B. II. dargelegten Sinn garantiert wird.
III. Armutsbekämpfung und Pflichtenallokation
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tiger Beziehungen zwischen den Beteiligten. Nicht geklärt wurde allerdings bislang, unter welchen Umständen wir von einem Akteur sagen sollten, dass ihm die Erfüllung der hier infrage stehenden natürlichen Pflichten möglich und zumutbar ist. Dieser Frage wollen wir in diesem Kapitel nachgehen. 1. Die Möglichkeit der Pflichterfüllung Unstrittig erscheint, dass es zu der Erfüllung der Nicht-Hinderungspflichten keiner Fähigkeiten oder Eigenschaften bedarf, über die nicht jeder erwachsene moralische Akteur normalerweise ohnehin verfügt, wie etwa die Fähigkeit, Regeln zu verstehen und zu befolgen oder das eigene Verhalten hinreichend kontrollieren zu können. Auch bedarf es zu ihrer Erfüllung keiner materiellen Ressourcen, wie auch die zeitlichen Kapazitäten einer Person der Erfüllbarkeit dieser Pflichten keine Grenzen setzen. Es handelt sich bei diesen Pflichten deshalb um „Basispflichten“ im Sinn von Kapitel B. VII., deren Erfüllung allen möglich und zumutbar ist. Da außerdem alle Akteure den fraglichen Nicht-Hinderungspflichten nachkommen müssen, wenn es keine Armut mehr geben soll, handelt es sich dabei zudem um generelle Pflichten. Zur Erfüllung der fraglichen Institutionalisierungspflichten kann offenbar ebenfalls jeder moralische Akteur beitragen, sei es durch politische Aktivitäten oder durch soziales Engagement. Auch die Beantwortung der Frage, wem die Erfüllung der materiellen Pflichten möglich ist, erscheint unproblematisch: Jeder Erwachsene, der über materielle Mittel verfügt, die er nicht zu der Sicherung eines Lebens frei von Armut für sich selbst oder für diejenigen, für die er Verantwortung trägt, benötigt und dem die Möglichkeit offensteht, diese entbehrlichen Mittel Bedürftigen bzw. entsprechenden Institutionen zukommen zu lassen, ist prinzipiell zur Bereitstellung materieller Hilfeleistungen in der Lage. Singer verleiht diesem Gedanken auch prägnant Ausdruck, wenn er schreibt: „What, if I told you that you, too, can save a life, even many lives? Do you have a bottle of water or a can of soda on the table beside you as you read this book? If you are paying for something to drink when safe drinking water comes out of the tab, you have money to spend on things you don’t really need. Around the world, a billion people struggle to live each day on less than you paid for that drink. […] You can help them […].“63
2. Das Ausmaß der Pflichten Jedem Erwachsenen die Erfüllung der fraglichen Nicht-Hinderungspflichten zuzumuten, erscheint ebenfalls unproblematisch. Schwieriger zu entscheiden ist, in welchem Umfang Akteuren die Erfüllung von materiellen Pflichten und Institutionalisierungspflichten zugemutet werden kann. Diese Frage soll im Folgenden exemplarisch anhand der Pflicht, den Hilfsbedürftigen direkte materielle Hilfeleistungen bereitzustellen, diskutiert werden. 63
Singer (2009b), viiii.
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Eine prominente Antwort auf die Frage, inwieweit uns die Erfüllung materieller Hilfspflichten möglich und zumutbar ist, hat Peter Singer in seinem erstmals im Jahr 1972 erschienenen Aufsatz Hunger, Wohlstand und Moral formuliert.64 Er vertritt dort die These, dass jeder Mensch nötigenfalls solange zu der Bereitstellung materieller Hilfen verpflichtet ist, bis er den Punkt erreicht, an dem er etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung opfern müsste, er beispielsweise selbst in Armut geriete, wenn er weitere Hilfeleistungen erbringen würde.65 Diese weitgehende Verpflichtung ist für Singer eine Folgerung aus (i) der Annahme, dass Armut66 ein schlimmes Übel darstellt sowie (ii) aus dem moralischen Prinzip, dass es stets geboten ist, Schlechtes bzw. schlimme Übel zu verhindern, wenn dafür nichts von vergleichbarer moralischer Bedeutung geopfert werden muss.67 Die Annahme (i) hält er für nicht kontrovers, weshalb er diese auch nicht weiter begründet. Das genannte moralische Prinzip (ii) hält Singer in der angeführten „starken“ Variante allerdings durchaus für umstritten, weshalb er im weiteren Verlauf seiner Argumentation auch eine „schwächere“ Variante (ii*) dieses Prinzips einführt, welche nur mehr fordert, sehr Schlechtes zu verhindern, wenn dafür nichts von moralischer Bedeutung geopfert werden muss. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob es möglich ist, die stärkere Version des Prinzips aus einer moralischen Perspektive zu rechtfertigen. Gefordert wird ja nicht weniger als dies: Wann immer irgendjemand an irgendeinem Übel leidet – gleichgültig, wie banal dieses sein mag, und gleichgültig, ob sein Auftreten durch Achtsamkeit vom Leidtragenden selbst hätte vermieden werden können – müssen wir, falls wir dazu in der Lage sind, zur Beseitigung dieses Übels beitragen, solange wir dafür nichts von vergleichbarer moralischer Bedeutung opfern müssen. Ein solches Prinzip würde nicht nur einen Anreiz darstellen, unachtsam zu handeln und anderen die Kosten für ein solches Verhalten aufzubürden, sondern widerspricht auch der weithin geteilten Annahme, dass jeder Erwachsene an erster Stelle selbst für sein Handeln und Wohlergehen verantwortlich ist. Gegen dieses Prinzip 64 Hier und im Folgenden zitiert nach ders. (2009a). Singers Auffassung bezüglich des Bestehens materieller Hilfspflichten bleibt auch in seinen späteren Schriften im Wesentlichen unverändert (vgl. ders. (2004), 156 ff.; ders. (2009b); ders. (2013), 354 ff.; ders. (2015), 107 ff.). 65 Vgl. ders. (2009a), 41, 48 f. 66 Singer versteht hier unter „Armut“ vornehmlich extreme Armut, deren Vorliegen das physische Überleben der Menschen gefährdet oder deren Lebenserwartung stark herabsetzt (vgl. ders. (2009a), 39; ders. (2013), 356). Der Beseitigung extremer Armut ist Singer zufolge Priorität vor der Beseitigung relativer Formen von Armut, wie sie nach seinem Verständnis in wohlhabenderen Ländern auftreten, einzuräumen (vgl. ders. (2015), 107 ff.). Wie in den Kapiteln E. bis G. deutlich wurde, wird „moralisch relevante Armut“ in dieser Arbeit jedoch als etwas verstanden, was mehr umfasst als den Mangel an Subsistenzgütern. Allerdings wird ebenfalls die Auffassung vertreten, dass der Beseitigung extremer Armut im Zweifelsfall Priorität vor der Beseitigung weitergehender Formen von Armut einzuräumen ist; ihre Beseitigung stellt eine notwendige Voraussetzung zu der Verwirklichung aller Komponenten des minimalen Wohls dar. 67 Vgl. ders. (2009a), 39.
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spricht überdies, dass es von uns gegebenenfalls fordert, Dinge von großer moralischer oder subjektiver Bedeutung zu opfern, um anderen, die wir womöglich nicht einmal kennen, nur geringfügig größere Übel zu ersparen. Jederzeit könnte so beispielsweise eine Situation eintreten, in der wir eine Niere an einen Wildfremden abgeben müssten, weil sich dessen Gesundheitszustand dadurch voraussichtlich in einem höheren Maß verbessern würde, als sich unser Gesundheitszustand durch einen solchen Eingriff verschlechtern würde.68 Singer selbst hält das stärkere moralische Prinzip (ii) für richtig.69 Dennoch setzt seine weitere Argumentation nur die Akzeptanz des abgeschwächten moralischen Prinzips (ii*) voraus, und zwar insofern als sich aus der Akzeptanz derselben sowie aus der Akzeptanz der Annahme, dass Armut ein schlimmes Übel darstellt, ebenfalls die Forderung ergibt, dass man dazu verpflichtet ist, Bedürftigen materielle Hilfeleistungen bereitzustellen, und zwar gegebenenfalls bis man an den Punkt gelangt, an dem man selbst etwas von moralischer Bedeutung opfern müsste.70 Zumindest gilt dies, sofern keine anderen dringlichen Ansprüche von moralischer Relevanz auf der Seite der Pflichtenträger bestehen und durch die Erfüllung dieser Pflichten verletzt werden. Die Diskussion der Frage, ob derartige Ansprüche bestehen, wird in dieser Arbeit ausgeklammert; es wird im Folgenden von der stark vereinfachten Annahme ausgegangen, dass nur die Erfüllung des Anspruchs auf ein soziales Minimum in dem hier dargelegten Sinn von moralischer Relevanz ist. 68 Vgl.
Arthur (1996), 43 f. Auch in seinem Buch The Life You Can Save aus dem Jahr 2009 bleibt Singer dieser Auffassung treu. Er räumt darin allerdings ein, dass die Erfahrung zeige, dass die meisten Menschen die Erfüllung derart umfangreicher Forderungen aus unterschiedlichen Gründen ablehnten. Deshalb schlägt er vor, in der moralischen Praxis zunächst einen weniger fordernden Maßstab zu propagieren, um die Menschen auf diese Weise mit ihrem Handeln zumindest in die richtige Richtung zu lenken. Er hält es für ausgemacht, dass sich die gegenwärtige Weltarmut auch durch die Erfüllung dieses weniger anspruchsvollen Standards beseitigen ließe, sofern alle Wohlhabenden diesem entsprechen würden (vgl. Singer (2009b), 45 ff., 151 ff.). Positionen, in denen weniger umfangreiche materielle Hilfspflichten postuliert werden, vertreten beispielsweise Shue (1996), 116 f.; O’Neill (1999), 225; Cullity (2004) oder Miller (2004). Eine ausführliche Verteidigung gegen mögliche Einwände, die man gegen Singers Position vorbringen kann, findet sich in Singer (2004), 156 ff.; ders. (2009b). 70 Vgl. ders. (2009a), 39, 49. Singer zufolge vertrat bereits Thomas von Aquin eine solche Auffassung, wenn er schreibt: „Nach der Ordnung der Natur ist aber von der göttlichen Vorhersehung her bestimmt, daß die niederen Dinge dazu da sind, der menschlichen Bedürftigkeit aufzuhelfen. Deshalb hindert die Verteilung und Zueignung der Dinge, die nach menschlichem Recht vor sich geht, nicht, daß der Not des Menschen durch eben diese Dinge begegnet werden muß. Daher ist der Überfluß, den einige haben, auf Grund des Naturrechts dem Unterhalt der Armen geschuldet. So sagt Ambrosius – und das Wort ist auch in den Dekreten zu finden –: ,Es ist das Brot der Hungrigen, das du festhältst; das Kleid der Nackten, das du verschleißest; der Loskauf der Elenden und ihre Befreiung ist das Geld, das du in der Erde vergräbst‘“ (Summa Theologica, II-II, Quaestio 66, Art. 7 (hier zitiert nach: Die Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 18: 211 f.; wiedergegeben nach Singer 2009a: 47)). Weitere Ausführungen zu der historischen Verankerung der Forderung, Armut zu bekämpfen, finden sich etwa in ders. (2009b), 19 ff. 69
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Die Rechtfertigung des abgeschwächten Prinzips (ii*) erscheint weniger problematisch als die des stärkeren Prinzips; zumindest lassen sich keine guten Gründe erkennen, die von vorneherein Zweifel daran aufkommen lassen, dass es sich aus einer moralischen Perspektive rechtfertigen lassen würde. Um zu verdeutlichen, dass das gemäßigte Prinzip (ii*) weithin akzeptiert wird, beschreibt Singer eine Situation, in die jeder von uns im Alltag leichthin geraten kann, und in welcher wir ein großes Übel im Leben eines anderen Menschen zu vergleichsweise geringen Kosten auf unserer Seite verhindern können. Singers Beispiel lautet: „Wenn ich an einem seichten Teich vorbeikomme und ein Kind darin ertrinken sehe, so sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Das bringt zwar mit sich, dass meine Kleider schmutzig und nass werden, aber das ist bedeutungslos, wohingegen der Tod des Kindes vermutlich etwas sehr Schlechtes wäre.“71
Die Situation, in der wir uns hinsichtlich der weltweiten Armut befinden, ist Singer zufolge aber in moralischer Hinsicht in analoger Weise beschaffen wie die Situation in dem genannten Teich-Beispiel: Es besteht ebenfalls ein schlimmes Übel – das Übel der Armut –, welches sich zumindest im Leben einiger Menschen durch vergleichsweise geringe Opfer auf unserer Seite beseitigen ließe. Es besteht deshalb – ebenso wie in dem Teich-Beispiel – eine Pflicht, Hilfe zu leisten.72 Ich werde Singers Auffassung insofern folgen, als ich ebenfalls annehme, dass eine Rechtfertigung des gemäßigten Prinzips wie auch des Prinzips, dass Armut ein zu vermeidendes Übel darstellt, möglich ist; beide Prinzipien bzw. Annahmen sollten aus einer moralischen Perspektive, wie der in Kapitel G. I. 9. skizzierten, Zustimmung finden.73 Einwände, die sich gegen das Bestehen einer moralischen Pflicht zur Bereitstellung (umfangreicher) materieller Hilfeleistungen – und damit letztendlich gegen die Übertragung des gemäßigten Prinzips auf das Problem der weltweiten Armut – vorbringen lassen, werden im weiteren Verlauf dieses Kapitel noch diskutiert. Wenn wir die Prämissen (i) und (ii*) Singers akzeptieren, bedeutet dies, dass prima facie jeder dazu verpflichtet ist, alle materiellen Güter zu opfern, die nicht von moralischer Bedeutung sind.74 Singer selbst lässt die Frage, was es konkret 71 Ebd.,
39. ähnlicher Weise versucht Peter Unger durch das Aufzeigen von Analogien die Existenz einer materiellen Hilfspflicht zu begründen (vgl. Unger (1996), 136 ff.). 73 Den Versuch, einen solchen Nachweis für das „schwächere“ Prinzip Singers der Sache nach zu erbringen, findet sich etwa in Schlothfeldt (2009b). Schlothfeldt argumentiert dafür, dass man diesem Prinzip aus recht unterschiedlich ausgestalteten moralischen Perspektiven zustimmen müsste, sofern man bestimmte grundlegende und weitgehend nicht kontroverse moralische Annahmen und Anforderungen an Moralkonzeptionen akzeptiert (vgl. ebd., insbes. Kap. 1). Dazu gehört beispielsweise die Annahme, dass alle Menschen aus einer moralischen Perspektive betrachtet gleichermaßen zählen sollten, ohne dass zusätzliche Bedingungen, wie beispielsweise das Vorliegen eines bestimmten Maßes an Rationalität, erfüllt werden müssen, wie auch die Annahme, dass existenziellen Anliegen eine hohe Priorität eingeräumt werden sollte (vgl. ebd., 26 ff.). 72 In
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heißt, „etwas von moralischer Bedeutung zu opfern“, unbeantwortet. Eine Präzisierung dieses Aspekts hält er nicht für nötig, da er selbst das stärkere Prinzip favorisiert.75 Deutlich wird in seinen Ausführungen jedoch, dass zumindest Güter, die der Befriedigung von „Luxusbedürfnissen“ dienen, wie etwa der Kauf von Markenkleidung oder eines teuren Autos, offenbar Güter sind, denen keine moralische Bedeutung beigemessen werden kann. Auch darf man annehmen, dass er die luxuriöse Urlaubsreise, teuren Schmuck, das luxuriöse Eigenheim oder teure technische Unterhaltungs- oder Kommunikationsmedien ebenfalls nicht als Güter von moralischer Relevanz betrachten würde.76 Dem in dieser Arbeit entwickelten Armutsverständnis zufolge kommt zumindest all jenen Gütern „moralische Relevanz“ bzw. „moralische Bedeutung“ zu, die ein Mensch braucht, um die Komponenten des Wohls in minimalem Umfang verwirklichen zu können. Die Güter, die zur Verwirklichung dieser Konzeption nötig sind, sollte also niemand für andere opfern müssen. Zu der Bekämpfung von Armut verpflichtet wären demnach prima facie alle Menschen, denen Güter zur Verfügung stehen, die über das hinausgehen, was man zur Verwirklichung der hier zugrunde gelegten minimalen Konzeption des Wohls benötigt.77 Eine Ausnahme stellen Situationen dar, für die gilt, dass we74
74 Singer selbst spricht häufig davon, dass diese Hilfen in Form von Spenden erfolgen sollten. Auch für Singer stellt das Spenden jedoch nicht die einzige Möglichkeit dar, die Weltarmut zu bekämpfen: So sollen wir uns Singer zufolge als „besorgte Bürger“ darüber hinaus beispielsweise auch für neue Maßstäbe in der öffentlichen Entwicklungshilfe oder für faire Handelsvereinbarungen zwischen armen und reichen Ländern einsetzen (vgl. Singer (2013), 373 f.). 75 Vgl. ders. (2009a), 49; vgl. ähnlich ders. (2013), 359 f. 76 Vgl. ders. (2009a), 43; Bleisch/Schaber (2009), 13; vgl. kritisch zu dieser fehlenden Präzisierung z. B. Arthur (1996). 77 Die Frage, ob es noch weitere Güter von „moralischer Relevanz“ gibt, lasse ich hier offen. In Situationen, in denen extreme Armut herrscht, muss deren Bekämpfung, wie bereits erwähnt wurde, offenbar Vorrang vor der Bekämpfung der hier dargelegten Form „moralisch relevanter Armut“ eingeräumt werden. Zum einen deshalb, weil extreme Armut als solches als ein Übel betrachtet werden kann, zum anderen aber auch, weil ihre Beseitigung eine Voraussetzung zu der Verwirklichung aller Komponenten des minimalen Wohls wie auch zu der Verwirklichung nahezu aller sonstigen Lebenspläne darstellt. In Situationen, in denen der Mangel ein so großes Ausmaß erreicht hat, dass es niemanden mehr gibt, der über mehr als das soziale Minimum verfügt, sind prima facie alle Personen zur Bereitstellung von Hilfeleistungen verpflichtet, die über mehr als die zur unmittelbaren Subsistenz nötigen Gütern verfügen. Eine materielle Hilfspflicht besteht dann gegenüber denjenigen, deren physische Existenz auf dem Spiel steht. Die eigene Existenz durch die Bereitstellung materieller Mittel für die Existenz eines anderen in Gefahr zu bringen, kann dagegen zwar moralisch erlaubt, aber nicht als moralisch geboten betrachtet werden (vgl. Shue (1996), 116): So sollte es beispielsweise in Situationen dieser Art als erlaubt betrachtet werden, dass Eltern Ressourcen an ihre Kinder abgeben, um deren Leben zu retten, und dafür den eigenen Tod in Kauf nehmen. Handlungen dieser Art werden auch als „supererogatorische Handlungen“ bezeichnet: Dies sind Handlungen, die zwar als gut betrachtet werden, zu deren Ausführung man allerdings nicht verpflichtet ist (vgl. Singer (2009a), 43). Mieth bezeichnet derartige Handlungen auch als „Heiligen-“ resp. „Heldensupererogation“: Es sind Handlungen, „de-
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niger umfangreiche materielle Hilfspflichten von Vorteil für die Hilfsbedürftigen sind: So könnte sich beispielsweise zeigen, dass durch das Bestehen sehr umfangreicher Hilfspflichten das Wirtschaftswachstum – etwa durch einen Rückgang an Arbeitsmotivation und -effektivität – soweit gedrosselt würde, dass in der Konsequenz weniger Wohlstand zur Verteilung zur Verfügung stünde – und auch weniger Menschen aus der Armut geholfen werden könnte –, als dies bei dem Bestehen weniger umfangreicher Pflichten der Fall wäre.78 Da der Umfang an Mitteln, der gegenwärtig zur Bekämpfung der weltweiten Armut bereitgestellt wird, nach wie vor vergleichsweise gering ausfällt, hat die von Singer im Jahr 1972 getroffene Aussage, dass es sich bei Erwägungen dieser Art um eine „rein akademische Thematik“ handele, jedoch nichts von ihrer Aktualität verloren.79 Bevor wir zu der Diskussion einiger grundlegender Einwände übergehen, die sich gegen das Bestehen derart weitreichender materieller Hilfspflichten ins Feld führen lassen, sollten wir uns abschließend noch einmal Folgendes vergegenwärtigen: Zum einen bestehen umfangreiche Hilfspflichten nur solange das Übel der Armut existiert. Zum anderen verringert sich der Umfang der Verpflichtung tendenziell, wenn viele andere ebenfalls helfen; ob es tatsächlich zu einer Verringerung der Verpflichtung kommt, hängt freilich von den konkreten Gegebenheiten der fraglichen Situation ab.80 Nicht zuletzt können, wie gesehen, unter Umständen „mildernde Umstände“ hinsichtlich des Umfangs der materiellen Pflichten geltend gemacht werden, etwa dann, wenn der Umfang der geforderten Hilfspflichten zu einem massiven Rückgang des Gesamtwohlstands einer Gesellschaft führen würde und so weniger Menschen geholfen werden könnte, als dies bei dem Bestehen weniger umfangreicher Pflichten der Fall wäre.81 All dies ändert allerdings nichts an dem Umstand, dass wir im Zweifelsfall dazu verpflichtet sind, in dem bereits genannten Maximalumfang materielle Hilfen bereitzustellen.82
ren Ausführung wir preisen, deren Unterlassung wir aber nicht tadeln“ (Mieth (2012), 27). Heilige und Helden handeln, so Mieth weiter, insofern supererogatorisch, als sie in einer Weise tugendhaft handeln, „die man unter normalen Umständen nicht erwarten würde und zum Teil auch legitimerweise nicht erwarten kann.“ (ebd., 37). 78 Vgl. ähnlich Singer (2009a), 46, 49. 79 So hat Deutschland im Jahr 2016 erstmals das im Jahr 1970 von den Vereinten Nationen gesteckte Ziel erreicht, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) – in dem Fall sind dies 8,5 Milliarden Euro – für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen. Allerdings wurde diese Quote nur erreicht, weil auch die gestiegenen Ausgaben für Flüchtlinge im Inland in die getätigten Ausgaben des BMZ mit einbezogen wurden; ließe man diese außen vor, läge die Quote auch im Jahr 2016 unter den geforderten 0,7 Prozent bei 0,52 Prozent des BNE (vgl. BMZ – Neue OECD-Zahlen, URL: http://www.bmz.de/de/presse/aktuelleMeldungen/2017/april/170411_pm_040_Deutsche-ODA-Quote-steigt-erstmalsauf-0 – 7-Prozent/index.jsp, letzter Zugriff: 27. 10. 2017). 80 Vgl. Schlothfeldt (2009a), 86. 81 Vgl. Singer (2009a), 46, 49. 82 Vgl. ebd., 49 f.
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3. Belastbarkeits- und Fairnesseinwände Es liegt nahe, gegen das Bestehen umfangreicher materieller Hilfspflichten den Einwand vorzubringen, dass ihre Erfüllung die Menschen überfordern würde.83 Wenn in diesem Zusammenhang von „Überforderung“ die Rede ist, kann damit zum einen das Erreichen der Belastbarkeitsgrenzen gemeint sein; dem Akteur ist die Erfüllung der fraglichen Pflicht in dem Fall nicht möglich. Zum anderen kann damit aber auch das Erreichen der Grenzen des Zumutbaren gemeint sein, wenn nämlich stichhaltige und gewichtige Gründe der subjektiven Belastung dagegen sprechen, jemanden als zur Ausführung einer solchen Handlung verpflichtet zu betrachten.84 Belastbarkeitsgrenzen existieren in vielerlei Hinsicht, so etwa in physischer, geistiger oder kognitiver Hinsicht oder hinsichtlich der zeitlichen oder finanziellen Ressourcen. Da ein Überschreiten dieser Belastbarkeitsgrenzen kaum geboten sein kann, müssen auch die materiellen Hilfspflichten zur Armutsbekämpfung innerhalb dieser Grenzen verbleiben. Wir haben im Vorangehenden gesagt, dass Erwachsenen, die über die nötigen Mittel verfügen, die Bereitstellung von Hilfeleistungen prinzipiell möglich ist. Man könnte gleichwohl bestreiten, dass den Akteuren die Erfüllung der materiellen Hilfspflichten – in dem geforderten Umfang – in motivationaler Hinsicht möglich ist. Dem steht allerdings entgegen, dass bisher nicht nachgewiesen wurde, dass Menschen beispielsweise nicht dazu in der Lage sind, im Zweifelsfall so viel für andere zu geben, bis sie selbst Gefahr laufen, in Armut in dem hier dargelegten Sinn zu geraten. Stephan Schlothfeldt bringt dies prägnant auf den Punkt, wenn er schreibt: „[…] [W]as wissen wir eigentlich über derartige Obergrenzen [der psychischen oder motivationalen Belastbarkeit, TM]? Es ist ja nicht so, dass wir uns verzweifelt bemühen, so viel wie möglich zu tun, und immer wieder daran scheitern. Auch stehen verlässliche empirische Ergebnisse, die die in Anspruch genommene Unmöglichkeitsbehauptung belegen und genauer spezifizieren würden, bislang aus. […] Wir alle kennen zumindest vom Hörensagen Menschen, die in moralischer Hinsicht Erstaunliches geleistet haben. Vermutlich ist die weitgehende Unkenntnis über Grenzen der psychischen Belastbarkeit auch kein Zufall, denn solche Grenzen scheinen nicht – wie die Argumentation voraussetzt – starr zu sein, sondern wesentlich von unserer moralischen Motivationslage abzuhängen.“85
Doch selbst wenn man zugesteht, dass es in motivationaler Hinsicht im wörtlichen Sinn nicht unmöglich ist, den fraglichen Pflichten nachzukommen, könnte man der Auffassung sein, dass große Opfer für andere Menschen zu erbringen, von vielen Menschen gleichwohl (zu Recht) als unzumutbar empfunden wird. Aber 83 Vgl. z. B. Kagan (1998), 153 ff. Vgl. für eine Zusammenfassung und Zurückweisung weiterer Überforderungseinwände z. B. auch Schlothfeldt (2009b), Kap. 2.; Singer (2009b), 45 ff. 84 Vgl. Schlothfeldt (2009b), 54. 85 Ebd., 55; vgl. ähnlich Singer (2013).
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auch dieser Einwand erscheint nicht überzeugend: Viele Menschen empfinden bereits kleine Opfer für andere, selbst wenn es für diese um wichtige Dinge geht, als unzumutbar. Auch hängt die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit etwas für andere zu tun, als zumutbar oder unzumutbar empfunden wird, in nicht unerheblichem Maß davon ab, was in einer Gesellschaft bereits als anerkannter moralischer Standard gilt: „Angesichts einer Gesellschaft, in der eine wohlhabende Person, die fünf Prozent ihres Einkommens für die Welthungerhilfe spendet, als überaus großzügig gilt, erstaunt es nicht, dass der Vorschlag, wir sollten alle die Hälfte unserer Einkommen spenden, als vollkommen unrealistisch betrachtet wird. In einer Gesellschaft, in der gälte, dass niemand mehr als genug haben soll, während andere nicht einmal das Nötigste haben, würde derselbe Vorschlag hartherzig erscheinen. Was einem Menschen möglich ist und was er wahrscheinlich tun wird, hängt meines Erachtens sehr stark davon ab, was die Menschen um ihn herum tun und was sie von ihm erwarten.“86
Ein probates Mittel, um unsere moralischen Maßstäbe und unsere Motivationslage bezüglich materieller Hilfspflichten zu verändern, ist die Einrichtung von Institutionen, welche die allgemeine Erfüllung dieser Pflichten nötigenfalls durch Zwangsmechanismen sicherstellen. Wir hätten damit einen weiteren pragmatischen Grund, der für eine Institutionalisierung dieser Pflichten spricht. Auch Erziehungs-, Bildungs- und Aufklärungsmaßnahmen zur moralischen Sensibilisierung und Motivierung sind in diesem Zusammenhang zu nennen.87 Fairnesserwägungen bieten ein weiteres Argument gegen die Zumutbarkeit umfangreicher materieller Hilfspflichten im vorinstitutionellen Zustand: Solange wir uns in einem vorinstitutionellen Zustand ohne für alle rechtsverbindliche und zwangsbewehrte Regelungen befinden, ist anzunehmen, dass viele Pflichtenträger ihre Pflichten nicht oder nicht hinreichend erfüllen werden, wohingegen andere dies auch ohne derartige Institutionen freiwillig tun. Es erscheint aber unfair in einem solchen Zustand, diejenigen, die freiwillig helfen, als verpflichtet zu be86
Ders. (2009a), 45. z. B. Shue (1996), 116, 118; ähnlich Mieth (2012), 236. Ein weiterer Einwand, der an dieser Stelle noch kurz Erwähnung finden soll, besagt, dass Menschen keine umfassenden materiellen Hilfspflichten obliegen können, wenn und insoweit deren Erfüllung die „autonome Lebensführung“ des Handelnden gravierend einschränken würde, wobei hier mit „autonomer Lebensführung“ das Verfolgen wichtiger eigener Lebensziele – und nicht das, was wir zuvor als „Autonomiefähigkeit“ bezeichnet haben – gemeint ist. Darauf lässt sich erwidern, dass der Wunsch, eigene Lebensziele zu verfolgen, kaum ein ausreichender Grund ist, das Bestehen auch umfassender materieller Hilfspflichten abzustreiten: „Existenzielle Bedürfnisse sind offensichtlich gewichtiger als der Wunsch nach Autonomie [verstanden als Verfolgung wichtiger eigener Lebensziele, TM]; Letztere kann also, wenn alle gleichermaßen berücksichtigt werden sollen, nicht gegen die Pflicht zur Hilfeleistung ausgespielt werden“ (Schlothfeldt (2009a), 84; vgl. ähnlich die Argumentation in Shue (1996), Kap. 5 sowie kritisch zu verschiedenen Varianten von Einwänden, die auf den Schutz einer autonomen Lebensgestaltung rekurrieren Schlothfeldt (2009b), 60 ff. und Singer (2009b), 146 ff.). 87 Vgl.
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trachten, im Zweifelsfall all ihren materiellen Besitz, den sie nicht zum Führen eines Lebens frei von Armut benötigen, für andere zu opfern, obgleich andere nichts oder so gut wie nichts tun.88 Der Fairness-Einwand vermag jedoch ebenfalls nicht zu überzeugen: Zu Recht weist Singer darauf hin, dass es zwar unter psychologischen Gesichtspunkten etwas anderes sein mag, ob andere ihre Unterstützungspflichten erfüllen oder nicht; auch mag man sich weniger schuldig fühlen, wenn andere, die ebenfalls helfen könnten, nichts tun.89 Doch selbst wenn dem so ist, folgt daraus nicht, dass uns in einer solchen Situation keine oder bloß geringere materielle Pflichten obliegen: Im Bedarfsfall muss man Bedürftigen, so Singer, auch in einer solchen Situation so viele materielle Hilfen bereitstellen, bis man selbst etwas von moralischer Bedeutung resp. in der starken Variante von Singers Prinzip etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung opfern müsste.90 Singer illustriert diesen Punkt auch mithilfe des folgenden Beispiels: „Sollte ich etwa der Meinung sein, dass ich weniger dazu verpflichtet bin, das ertrinkende Kind aus dem Teich zu ziehen, wenn ich andere Menschen sehe, nicht weiter entfernt als ich, die das Kind ebenfalls bemerkt haben und keine Anstalten machen einzugreifen? Man muss nur diese Frage stellen, um zu begreifen, wie absurd die Ansicht ist, die Anzahl der Verpflichteten mindere die Verpflichtung. Es handelt sich dabei um eine Ansicht, die eine ideale Entschuldigung für Tatenlosigkeit abgibt.“91
Angesichts dessen, was auf dem Spiel steht – das Leben des Kindes resp. im Fall der Armut die Möglichkeit eines menschenwürdigen Lebens – wiegt der Umstand, dass es unfair ist, wenn das Ausmaß der eigenen Verpflichtung zunimmt und man mehr tun muss als nötig wäre, wenn alle ihre Pflichten erfüllten, nur gering.92 Den88 So ist es etwa Shue zufolge in einem vorinstitutionellen Zustand ein Gebot der Fairness unter den Pflichtenträgern, dass niemand zum Zweck der Armutsbekämpfung mehr als die Erfüllung seiner „Präferenzen“ opfern muss, solange nicht jeder andere Wohlhabende dies ebenfalls getan hat. Shue führt nicht genauer aus, was er mit „Präferenzen“ meint. Der Kontext seiner Aussagen legt aber nahe, dass es ihm um das „Opfern“ von Dingen wie Markenkleidung, Urlaubsreisen u. ä. geht. In einem vorinstitutionellen Zustand prinzipiell mehr zu verlangen, als das Opfern der Befriedigung der eigenen Präferenzen, ist Shue zufolge gegenüber denen unfair, die für moralische Appelle besonders empfänglich sind, und womöglich sogar noch mehr opferten als ihre Präferenzen, während andere womöglich keinerlei Hilfe leisteten. Die Präferenzen müssen nach Shue jedoch geopfert werden, solange die Subsistenz eines jeden Menschen nicht in Form eines Grundrechts gesichert ist (vgl. Shue (1996), 116, 118; vgl. zu der Begrenzung von Hilfspflichten aufgrund von Fairnesserwägungen auch Murphy (1993); Schlothfeldt (2009b), 136 ff.). 89 Vgl. Singer (2009a), 40 f.; ders. (2009b), 53 f. 90 Vgl. ders. (2009a), 40 f., 48 f. 91 Ebd., 41. 92 So auch Schlothfeldt (2009a), 83; ders. (2009b), 31 f., 50; Singer (2009b), 140 ff. Es ist im Übrigen auch kein Einwand gegen das Bestehen individueller Hilfspflichten, dass die Weltarmut zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Gänze beseitigt werden kann, wenn bloß ich allein oder nur einige wenige andere zur Hilfe bereit sind: „[…] [W]esentlich ist nicht, ob
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noch erscheinen aus einer moralischen Perspektive unfaire Pflichtenverteilungen zwischen den involvierten Pflichtenträgern nicht wünschenswert. Eine praktische Möglichkeit, dieses Fairness-Problem im Großen und Ganzen zu beseitigen, liegt ebenfalls in der Institutionalisierung und Verrechtlichung der fraglichen Pflichten, wodurch sichergestellt werden könnte, dass zumindest eine überwiegende Mehrzahl der involvierten Pflichtenträger ihren fairen Anteil tatsächlich übernimmt. Wenn durch eine angemessene Institutionalisierung der Pflichten zur Armutsbekämpfung sichergestellt wird, dass alle oder die meisten ihren fairen Anteil übernehmen, können wir überdies damit rechnen, dass sich die Belastungen für alle Pflichtenträger tendenziell verringern würden.93 Ob dies der Fall ist oder nicht, hängt freilich auch im institutionalisierten Zustand von den konkreten empirischen Bedingungen ab. Nicht zuletzt wird es durch eine Institutionalisierung der materiellen Pflichten wahrscheinlicher, dass tatsächlich hinreichend viele materielle Mittel zusammenkommen, um möglichst allen Bedürftigen ein Leben frei von Armut zu ermöglichen. Die materiellen Pflichten nicht zu positivieren, erschiene somit auch gegenüber den Hilfsbedürftigen moralisch fragwürdig.94 Ich werde der Frage, wie eine faire Pflichtenverteilung im institutionalisierten Zustand auszusehen hätte, im Folgenden nicht nachgehen; verschiedene und womöglich gleichermaßen faire Wege der Allokation materieller Hilfspflichten sind denkbar.95 Welche dieser mein persönlicher Beitrag irgendeinen nennenswerten Einfluss auf die Weltarmut in ihrer Gesamtheit hat (natürlich hat er das nicht), sondern ob er einige Fälle von Armut vermeiden kann“ (ders. (2013), 357). Denn die Existenz von Armut ist schlecht, und zwar nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern in jedem individuellen Fall (vgl. ebd.). 93 Vgl. Schlothfeldt (2009a), 88, Fn. 20. 94 Vgl. Shue (1996), 118. Ein weiterer Grund, der für eine Institutionalisierung derjenigen materiellen Pflichten spricht, und hier zumindest kurz Erwähnung finden soll, ist der, dass eine Institutionalisierung das Gefühl von Abhängigkeit und Demütigung, dass für einige Hilfsbedürftige womöglich mit dem Erhalt von Hilfeleistungen einhergeht, zumindest tendenziell mindern kann, da den Hilfsbedürftigen nun ein aus Rechtsprinzipien abgeleiteter Anspruch zukommt (vgl. Margalit (1997), 276). Wie demütigend eine institutionell garantierte Bereitstellung von Hilfeleistungen tatsächlich ist, hängt freilich auch davon ab, wie sich die Funktions- und Rollenträger den Hilfsbedürftigen gegenüber verhalten: „Werden in einer Wohlfahrtsgesellschaft die Bedürftigen von den Beamten nach den Normen der Wohltätigkeitsgesellschaft behandelt, so ist das demütigend“ (ebd., 277). 95 So könnte die Einführung der von Pogge vorgeschlagenen „Rohstoffdividende“ (vgl. z. B. Pogge (1995), 189 ff.) eine faire Lösung des Problems der Pflichtenallokation darstellen, die sich womöglich aus einer unparteiischen Perspektive rechtfertigen ließe (siehe Kap. H. III.). Einen weiteren Vorschlag, wie eine faire Aufteilung der Pflichten zu der Bekämpfung von Armut aussehen könnte, hat Shue in seinem Buch Basic Rights mit dem sog. „Prioritätsprinzip“ (priority principle) unterbreitet, demzufolge zunächst jeder Mensch dazu verpflichtet ist, diejenigen Mittel, die er zu der Befriedigung seiner „Präferenzen“ benötigt, zu der Bekämpfung von Armut zu opfern, wobei er mit der Erfüllung der „Präferenzen“ die Erfüllung derjenigen Wünsche meint, die über die Sicherung der grundlegenden und nicht-grundlegenden Rechte sowie über die Sicherung der Möglichkeit, an Aktivitäten der „kulturellen Bereicherung“ zu partizipieren, hinausgehen. Solange nicht alle Wohlhabenden dieser Pflicht nachgekommen sind, sind wir Shue zufolge nicht zu weiteren Hilfeleis-
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Möglichkeiten die effizienteste Vorgehensweise darstellt, um Armut zu bekämpfen, sollte dann auch mit Blick auf die jeweiligen institutionellen, wirtschaftlichen oder sozialen Gegebenheiten beantwortet werden; zu der Frage nach der effizientesten praktischen Umsetzung vermag die politische Philosophie bzw. Ethik freilich nur wenig zu sagen.96 4. Einige Gründe gegen das Bestehen internationaler Hilfspflichten Wie in Kapitel H. II. deutlich wurde, korrespondieren dem Recht auf ein Leben frei von Armut im vorinstitutionellen Zustand natürliche Pflichten, deren Erfüllung im Prinzip jedem moralischen Akteur obliegt, dem ihre Erfüllung möglich und zumutbar ist. Denn für das Bestehen natürlicher Pflichten ist es unerheblich, ob die Anspruchs- und Pflichtenträger in einer besonderen Beziehung zueinander stehen oder gemeinsam in einer politischen oder staatlichen Gemeinschaft leben. Derartige Pflichten obliegen uns vielmehr gleichermaßen gegenüber Landsleuten und gegenüber Angehörigen anderer Gesellschaften. Wie wir bereits gesehen haben, stellt es normalerweise kein Problem dar, die Nicht-Hinderungspflichten gegenüber allen Menschen – und damit auch gegenüber denen, die in anderen Gesellschaften leben – zu erfüllen. Doch wie verhält es sich in Bezug auf die natürlichen materiellen Pflichten und die Institutionalisierungspflichten, die dem Anspruch auf ein Leben frei von Armut korrespondieren? Ist es tatsächlich so, dass ihre Erfüllung gegenüber jedem Bedürftigen geboten erscheint, ganz unabhängig davon, ob es sich bei ihm um einen Landsmann oder einen Angehörigen einer anderen, womöglich geografisch weit entfernt liegenden Gesellschaft handelt? Und gibt es tungen verpflichtet (vgl. Shue (1996), 116 f.). Sofern nach der Erfüllung dieser Forderung durch alle Wohlhabenden allerdings weiterhin Armut existiert, müssen dem Prioritätsprinzip zufolge in einem nächsten Schritt all jene materiellen Mittel zur Bekämpfung von Armut bereitgestellt werden, die zur „kulturellen Bereicherung“ genutzt werden; in einem dritten Schritt ist dann entsprechend das Opfern derjenigen Mittel gefordert, die zur Sicherung der nicht-grundlegenden Rechte, wie beispielsweise des Rechts auf Meinungsfreiheit oder des Rechts auf Eigentum, benötigt werden (vgl. ebd., Kap. 5). Einen wieder anderen Weg zur Allokation materieller Hilfspflichten schlägt Singer in seinem Buch The Life You Can Save vor. Singer zufolge soll das Ausmaß der individuellen Hilfspflichten – ähnlich einer progressiven Besteuerung – in Abhängigkeit von der Höhe des Einkommens des fraglichen Pflichtenträgers bestimmt werden. Angedacht sind – abhängig von der Höhe des Einkommens – Abgaben in Höhe von 5 bis hin zu 33,33 Prozent des Jahreseinkommens, wobei diese Abgaben seinen neueren Veröffentlichungen zufolge erst dann gefordert sind, wenn eine Person über ein Jahreseinkommen von 105.000 US-Dollar oder mehr verfügt (vgl. Singer (2009b), 151 ff. sowie die Website der von Singer gegründeten Organisation The Life You Can Save (https://www.thelifeyoucansave.org), die es sich zum Ziel gemacht hat, Menschen zu der Erfüllung dieses Standards zu bewegen). Auch Singer geht davon aus, dass die von ihm unterbreitete Lösung des Problems der Pflichtenallokation fair ist, es allerdings durchaus auch andere faire oder sogar noch fairere Lösungen geben könnte (vgl. ebd. (2009b), 163). 96 Vgl. Hinsch (2003), 39 f.
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nicht zumindest Gründe dafür, der Erfüllung der materiellen Pflichten bzw. der Institutionalisierungspflichten gegenüber den eigenen Landsleuten Priorität einzuräumen? Ein erster Grund, den man dafür ins Feld führen könnte, dass wir Menschen in anderen Gesellschaften materielle Hilfeleistungen nicht oder nur an nachgeordneter Stelle schulden, ist der, dass uns Hilfe nicht oder nicht in gleichem Maß möglich ist wie im Fall von Angehörigen unserer eigenen Gesellschaft. Dies erscheint jedoch so, wie die Welt heute beschaffen ist, nur wenig überzeugend: Zwar können die physische Nähe und der persönliche Kontakt dazu führen, dass wir besser beurteilen können, wie man am besten hilft, und womöglich steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Hilfe tatsächlich erbracht werden kann. Und sofern dies der Fall ist, stellt dies tatsächlich einen guten Grund dafür dar, Menschen in unserer Nähe zuerst zu helfen. Es ist dadurch jedoch noch nicht gezeigt, dass wir ausschließlich Menschen in unserer Nähe helfen sollten.97 Da heutzutage international agierende Hilfsorganisationen existieren, die dafür Sorge tragen können, dass die von uns erbrachten materiellen Hilfeleistungen nahezu überall auf der Welt bereitgestellt und dem ihnen zugedachten Zweck zugeführt werden, kann die geografische Nähe zu einem Menschen nicht mehr als Grund dafür dienen, der Bereitstellung von Hilfeleistungen gegenüber Hilfsbedürftigen in der Nähe Priorität einzuräumen, geschweige denn als Grund dafür, ausschließlich Menschen in unserer Nähe zu helfen.98 Im Übrigen widersprechen auch weithin geteilte Intuitionen der Annahme, dass die Entfernung zwischen Helfendem und Notleidendem für die Zuschreibung von Hilfspflichten eine Rolle spielt. Barbara Bleisch macht dies anhand des folgenden Beispiels deutlich: „Stellen wir uns etwa vor, wir nehmen einen beissenden Geruch wahr, reissen die Fenster auf und sehen, dass es im Nachbarhaus brennt: Wir sind angehalten, sofort die Feuerwehr zu rufen. Sehen wir von einem Aussichtsturm aus, dass es am anderen Ende der Stadt, in einem relativ verlassenen Gebiet, das man nur von oben erspähen kann, brennt, haben wir exakt dieselbe Pflicht.“99
In Situationen, in denen eine Hilfspflicht auf Distanz zur Disposition steht, so Bleisch weiter, und in der wir zu dem Schluss gelangen, dass eine solche nicht besteht, liegt dies üblicherweise nicht an der Distanz, die zwischen dem potenziell zur Hilfe Verpflichteten und dem Notleidenden besteht, sondern daran, „dass wir unseren Augen oder der Informationsquelle nicht trauen oder uns nicht sicher sind, ob unsere Hilfeleistung auf Distanz überhaupt wirksam sein kann“100. Wenn derartige Zweifel zu Recht bestehen, erscheint es auch aus einer moralischen Perspektive betrachtet nicht falsch, die fraglichen Hilfspflichten zur Disposition zu stellen. Allerdings kann ein solcher Zweifel kaum gegen alle heute international 97 Vgl.
Singer (2009a), 40. Vgl. ebd.; Shue (1996), 142 ff. 99 Bleisch (2010), 153. 100 Ebd., 153 f.; vgl. ähnlich Singer (2013), 357 f. 98
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agierenden Hilfsorganisationen vorgebracht werden; auch beruhen Zweifel dieser Art häufig auf falschen Annahmen: So wird häufig angenommen, dass Hilfsorganisationen einen zu großen Anteil ihrer Spendengelder für administrative Zwecke nutzen oder die Gelder in die Hände korrupter Regierungen geraten. Hilfsorganisationen übergeben die Gelder jedoch in aller Regel nicht an Regierungen, sondern arbeiten unmittelbar mit den Bedürftigen oder Basisorganisationen, die sich einen guten Ruf bei den Bedürftigen in dem jeweiligen Land erarbeitet haben, zusammen.101 Singer weist überdies darauf hin, dass die größeren Hilfsorganisationen üblicherweise nicht mehr als 20 Prozent ihrer Spendengelder für administrative Zwecke ausgeben; auch ist es, so abermals Singer, ein Irrtum, die Effektivität von Hilfsorganisationen an ihrem Umfang der Verwaltungskosten zu messen, da diese Kosten auch die Bezahlung erfahrener Mitarbeiter einschließen, die für eine langfristige und nachhaltige Hilfe sorgen können. Des Weiteren kann eine Hilfsorganisation, die vergleichsweise hohe Verwaltungskosten tätigt, durchaus effektiver sein als eine mit vergleichsweise niedrigen Verwaltungskosten.102 Wir befinden uns demnach in einer Situation, für die gilt, dass wir technisch in der Lage sind, Notlagen in fernen Ländern im Prinzip ebenso gut und effizient zu lindern wie in der eigenen Gesellschaft, und damit besteht aus einer unparteiischen Perspektive betrachtet kein Grund, Hilfsbedürftigen allein aufgrund ihrer geografischen Ferne materielle Hilfen zu verweigern oder diese bloß nachrangig bereitzustellen.103 Ein weiterer Grund, den man dafür anführen kann, dass ausschließlich oder vorrangig Landsleuten die Bereitstellung materieller Hilfen geschuldet wird, ist der, dass wir nur mit unseren Landsleuten bestimmte Eigenschaften, wie z. B. Sprache, Kultur, Religion, Ethnie oder das politische System, teilen. Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb das Teilen derartiger Eigenschaften – aus einer unparteiischen Perspektive betrachtet – von Relevanz für die Frage sein sollte, ob wir einem Menschen gegenüber zur Hilfe verpflichtet sind oder nicht.104 So könnte das Teilen des politischen Systems allenfalls dann als relevante Größe für die Beantwortung dieser Frage betrachtet werden, wenn ausschließlich auf nationaler Ebene die nötigen Institutionen existierten oder errichtet werden könnten, die nötig sind, um Hilfsbedürftigen effiziente Hilfen bereitzustellen. Wie gesehen, bestehen derartige Institutionen jedoch heute in ausreichendem Maß auch auf globaler Ebene in Form international agierender Hilfsorganisationen. Und selbst wenn derartige Institutionen fehlten, bedeutete dies nur, dass wir nicht dazu in der Lage sind, die materiellen Ansprüche aller Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen, aber nicht, dass wir Menschen in anderen Ländern nichts schulden. Es erscheint vielmehr geboten, 101
Vgl. ebd., 358. ebd.; vgl. zu der Frage nach der Effektivität einzelner Hilfsorganisationen beispielsweise ders. (2015), 149 ff. oder die gemeinnützige Organisation GiveWell, URL: http:// www.givewell.org, letzter Zugriff: 20. 04. 2017. 103 Vgl. Singer (2009a), 40. 104 Vgl. Shue (1996), 135 ff. 102 Vgl.
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derartige Institutionen dort, wo sie noch nicht oder nicht in dem erforderlichen Umfang existieren, zu schaffen, sofern dies möglich ist. Für die anderen Eigenschaften, die in derartigen Argumentationen in der Regel im Fokus stehen, wie z. B. Sprache, Kultur, Ethnie oder Religion, wird üblicherweise gelten, dass wir sie nicht ausschließlich mit den eigenen Landsleuten teilen, wie auch umgekehrt nicht alle Angehörigen der eigenen Gesellschaft über diese Eigenschaften verfügen werden.105 Damit kann aber auch der Rekurs auf diese Eigenschaften keine adäquate Begründung dafür liefern, weshalb die Bereitstellung materieller Hilfen prioritär oder sogar ausschließlich den eigenen Landsleuten geschuldet sein sollte.106 In Bezug auf internationale Hilfspflichten könnte man des Weiteren die Auffassung vertreten, dass es in motivationaler Hinsicht das Menschenmögliche übersteige, Menschen in anderen Gesellschaften zu helfen, mit denen wir uns in keinerlei Weise verbunden fühlen und denen gegenüber wir auch sonst keine positive Einstellung besitzen.107 Wie wir bereits gesehen haben, stehen die nötigen empirischen Belege für die Bestätigung dieser These jedoch bislang aus.108 105
Vgl. ebd., 137 f. Vgl. für weitere Argumente, die für eine Bevorzugung der eigenen Landsleute sprechen, und deren Entkräftung auch Singer (2004), 167 ff. 107 Vgl. z. B. Griffin (1996), 87 ff.; Schaber (1997), 344 f. 108 Vgl. Schlothfeldt (2009a), 83 f.; Singer (2013), 375 ff. Eine Übersicht darüber, welche psychologischen Widerstände sich in uns regen, wenn es darum geht, Fremden zu helfen, aber auch darüber, das Vorliegen welcher Umstände das Erbringen von Hilfeleistungen gegenüber Fremden begünstigt, liefert unter Rekurs auf verschiedene psychologische Untersuchungen beispielsweise Singer (vgl. ders. (2009b), 45 ff.). Eine von ihm dort angeführte Erkenntnis lautet, dass wir eher geneigt sind, Menschen in fernen Ländern zu helfen, wenn uns deren spezielles Schicksal bekannt ist, wir also nicht bloß abstrakte Informationen über die Notlage des Landes, in dem der Betroffene lebt, sondern auch Informationen über die konkrete Lebenssituation einzelner Hilfsbedürftiger erhalten. Die Bereitschaft zu helfen erhöht sich zudem weiter, wenn wir dazu aufgefordert sind, bloß einem statt vielen Hilfsbedürftigen zu helfen (vgl. ebd., 46 ff.). Erkenntnisse dieser Art können für die praktische Umsetzung der Armutsbekämpfung hilfreich sein. Sie liegen beispielsweise auch derjenigen Form von Entwicklungshilfe zugrunde, bei der Kindern in Entwicklungsländern Paten aus wohlhabenden Ländern an die Seite gestellt werden (vgl. für diese Form der Hilfe z. B. das private internationale Kinderhilfswerk Plan International (weiterführende Informationen in deutscher Sprache zu Plan International finden sich auch auf deren Website, URL: https://www.plan.de, letzter Zugriff: 20. 04. 2017)). Freilich zeigen jedoch auch derartige Erkenntnisse nicht, dass Menschen ausschließlich zu umfassenden Hilfeleistungen in der Lage sind, wenn sie das persönliche Schicksal von Hilfsbedürftigen kennen oder sie sich in einer anderen Weise mit diesen eng verbunden fühlen. Auch erscheinen derart personalisierte Formen der Hilfeleistungen mit bestimmten Problemen behaftet: So werden darüber hinaus auch unpersönlichere Formen von Hilfeleistungen nötig sein, will man die weltweite Armut bekämpfen. Denn in dieser Weise personalisierte Hilfeleistungen gehen nicht nur mit dem Problem einher, dass sie etwa zu Neid unter den Bedürftigen führen können; sie eröffnen den bedürftigen Familien auch nicht die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen wie auch auf diese Weise die strukturellen Ursachen von Armut oder Mängel in der medizinischen Versorgung, der Infrastruktur oder der Rechtskultur nicht bekämpft werden. Plan International 106
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Überdies gilt, dass die Gruppe der Menschen, gegenüber denen wir Gefühle der Verbundenheit empfinden oder positive Einstellungen besitzen, ebenfalls nicht mit der Gruppe der Menschen zusammenfallen muss, mit der wir eine staatliche Gemeinschaft bilden. 5. Internationale Hilfspflichten und das Problem der Überbevölkerung Ein weiterer Einwand, der gegen das Bestehen internationaler Hilfspflichten erhoben werden kann und der etwa von Garrett Hardin in dem Aufsatz LifeboatEthics formuliert wurde, geht von der Annahme aus, dass die Erfüllung internationaler Hilfspflichten aufgrund der wachsenden Weltbevölkerung langfristig zu noch mehr Leid und Armut führen würde. Diesen konsequentialistischen Überlegungen zufolge wird das Bevölkerungswachstum durch Hilfeleistungen weiter gefördert, was in der Folge dazu führt, dass noch mehr Menschen in Armut leben müssen. Zumindest gilt dies Hardin zufolge solange, wie es keine globalen Institutionen gibt, die in der Lage sind, sowohl die Verteilung von Hilfeleistungen als auch das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren.109 Zur Untermauerung seiner These, dass gegenwärtig keine internationalen Hilfspflichten bestehen, teilt Hardin die Nationalstaaten zunächst in zwei Gruppen ein: in diejenigen Staaten, in denen Menschen Hunger leiden – dies sind die armen Staaten – und in die wohlhabenden Staaten, in denen niemand Hunger leidet. Die wohlhabenden Staaten betrachtet Hardin, metaphorisch gesprochen, als „Rettungsboote“ (life boats), die Menschen in den armen Ländern auf dreierlei Weise vor dem Untergang retten können: (i) Durch die direkte Bereitstellung von Nahrungsmitteln, (ii) durch die Bereitstellung von Wissen und Technologien zur Verbesserung der Nahrungsmittelproduktion und (iii) durch die Zulassung von Immigration und insofern durch die „Aufnahme in das Rettungsboot“. Annehmbar sind all diese Strategien Hardin zufolge allerdings nur dann, wenn sie nicht zum „Untergang des Rettungsboots“ oder zum Verlust des „Sicherheitsfaktors“ (safety factor) des Rettungsboots führen. Den „Sicherheitsfaktor“ zu verlieren, bedeutet für Hardin, dass ein Staat nicht mehr zu Vorsorgemaßnahmen, z. B. gegen Hungersnöte aufgrund von Missernten, in der Lage ist. Wenn anzunehmen ist, dass die Gewährung von Hilfeleistungen zum Untergang des Rettungsboots oder zur Vernichtung des Sicherheitsfaktors führen würde, sind dessen Insassen nicht verpflichtet, Hilfe für Dritte zu leisten; vielmehr dürfen und müssen sie zunächst ihr eigenes Überleben sichern. Diejenigen, denen dieses Vorgehen zu hart erscheint, so Hardin weiter, könnten das Rettungsboot verlassen und ihren Platz mit einem der Hilfsbedürftigen tauschen. Dieser Vorgang könne dann solange ist aus jenem Grund dazu übergegangen, dass Teile der Spenden, die ein Pate für sein „Patenkind“ zur Verfügung stellt, auch zur allgemeinen Armutsbekämpfung verwendet werden dürfen (vgl. Singer (2009b), 69 f.). 109 Vgl. Hardin (1996), 15.
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wiederholt werden, bis es niemanden mehr im Rettungsboot gibt, den Gewissensbisse plagen.110 Doch auch dann, wenn nicht anzunehmen ist, dass die Bereitstellung von Hilfeleistungen direkt zum „Untergang“ der wohlhabenden Staaten oder zu der Zerstörung von deren „Sicherheitsfaktor“ führt, sollen die Wohlhabenden den Armen laut Hardin nicht helfen: Gegen die Bereitstellung von Hilfeleistungen in Form von Nahrungsmitteln spreche zum einen, dass gerade schlechte Regierungen dadurch demotiviert würden, Vorsorge gegen das Auftreten von Hungersnöten zu treffen. Auch wachse die Bevölkerung in den armen Staaten rasant, während das Bevölkerungswachstum in den wohlhabenden Ländern sinke. Dies führe dazu, dass in Zukunft pro Kopf immer weniger Wohlhabende immer mehr Arme zu versorgen hätten, was zum Ruin aller führen könnte. Unterlasse man es dagegen, den armen Staaten Nahrungsmittel bereitzustellen, käme es automatisch zu einer Drosselung des Bevölkerungswachstums und es gäbe in Zukunft weniger Menschen, die Not zu leiden hätten.111 Auch Technologien und Wissen, die dazu befähigen, die Lebensmittelproduktion zu erhöhen, sollten den armen Ländern, so Hardin, nicht als Hilfeleistungen bereitgestellt werden. Denn gelänge es, dass die armen Länder ihre stetig anwachsende Bevölkerung ausreichend ernähren könnten, würde dies Hardin zufolge zu einer weiteren Verschmutzung, Abnutzung oder Zerstörung anderer für die Lebensqualität ausschlaggebender Güter wie etwa Luft, Wasser, Wald oder der Landschaft im Allgemeinen führen. Auch Güter wie die Möglichkeit, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, würden durch das weitere Anwachsen der Bevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen; damit würde sich die Lebensqualität gegenwärtig wie auch in Zukunft, vor allem in den armen Ländern, weiter verschlechtern.112 Die Immigration armer Menschen in wohlhabende Staaten lehnt Hardin als Strategie der Armutsbekämpfung ebenfalls ab: Einwanderung führt Hardin zufolge dazu, dass auch die Bevölkerung der wohlhabenden Länder in höherem Maß wächst, als dies bei fehlender Einwanderung der Fall ist. Dies führe, so Hardin weiter, dann auch in den wohlhabenden Ländern dazu, dass die Lebensqualität hinsichtlich Luft, Wasser, der Landschaft oder hinsichtlich der Möglichkeit, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, abnehme, was es ebenfalls zu vermeiden gelte.113 Man könne nun, so Hardin, geneigt sein, gegen ein solches Immigrationsverbot einzuwenden, dass die Vorfahren vieler Einwohner wohlhabender Staaten – wie etwa in den USA – selbst Einwanderer waren. Mit welcher Begründung sollte anderen Menschen also verwehrt werden, ebenfalls ihr Glück als Einwanderer zu suchen? Seine Antwort auf diese Frage lautet: Auch wenn Einkommensverteilungen im Lauf der Geschichte immer wieder durch Ungerechtigkeiten zustande ka110
Vgl. ebd., 6 f. Vgl. ebd., 7 ff. 112 Vgl. ebd., 11 ff. 113 Vgl. ebd., 13. 111
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men, müssten sie doch, wolle man andauerndes Chaos vermeiden, zu irgendeinem Zeitpunkt als rechtmäßig festgeschrieben werden und den Besitzenden das Recht geben, die Nicht-Besitzenden – in dem Fall die gegenwärtig Hilfsbedürftigen in anderen Ländern – auszuschließen. Auch sei bei einer schnell wachsenden Weltbevölkerung generell keine weltweit gerechte Einkommensverteilung möglich.114 Dennoch schließt Hardin Hilfeleistungen nicht per se aus, sondern – wie gesehen – nur solange, wie es keine Weltregierung gibt, die sowohl die Nutzung der verfügbaren Ressourcen als auch das Bevölkerungswachstum in Gänze kontrollieren kann. Bis dahin gilt Hardin zufolge allerdings: „For the foreseeable future, our survival demands that we govern our actions by the ethics of a lifeboat, harsh though they may be.“115 6. Entgegnung auf das Problem der Überbevölkerung Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als seien Hardins Argumente frei von umstrittenen moralischen Annahmen und stützten sich allein auf unbestreitbare wissenschaftliche Tatsachen. In der Tat vertritt Hardin allerdings sehr wohl eine moralische Position, gegen die sich begründete Einwände vorbringen lassen.116 In seiner Argumentation bringt Hardin zwei konsequentialistische Überlegungen ins Spiel: Zum einen nimmt er an, dass die Bereitstellung von Hilfeleistungen in Form von Nahrungsmitteln deshalb zu vermeiden sei, weil durch sie auf lange Sicht wahrscheinlich noch mehr Leute als bisher Hunger leiden und womöglich an den Folgen des Hungers sterben müssten. Zum anderen geht er davon aus, dass die Wohlhabenden selbst dann, wenn die anwachsende Zahl von Menschen auf absehbare Zeit – z. B. durch den Transfer von Technologien und Wissen oder durch das Zulassen von Immigration in die reichen Länder – nicht verhungern müsste, keine Hilfe leisten sollten, da diese gewachsene Anzahl an Menschen die Lebensqualität gegenwärtiger und zukünftiger Generationen stark beeinträchtigen würde.117 Es ist sicherlich richtig, dass eine weiter anwachsende Weltbevölkerung zu größeren Herausforderungen in der Umweltpolitik führt und gerade in Ballungsgebieten die Möglichkeit weiter mindert, sich „in die Einsamkeit“ zurückzuziehen, worauf Hardin in seinem zweiten Argumentationsstrang hinweist. Dennoch stellen diese negativen Konsequenzen aus einer moralischen Perspektive betrachtet gewiss keine geeignete Rechtfertigung dar, um die Menschen in den armen Ländern verhungern zu lassen, wenn sich dies verhindern lässt.118
114
Vgl. ebd., 14 f. Ebd., 15. 116 Vgl. Aiken (1996), dessen Ausführungen zu dem Problem der Überbevölkerung ich in den folgenden Abschnitten in weiten Teilen folgen werde, wie auch ähnlich Shue (1996), 109 f. 117 Vgl. ebd., 95. 118 Vgl. ebd., 108 ff. 115
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Die von Hardin vorgeschlagene Vorgehensweise lässt sich auch dann nicht ohne Weiteres rechtfertigen, wenn nicht bloß die Verschlechterung der Lebensqualität, sondern das Überleben zukünftiger Menschen auf dem Spiel steht: Selbst dann, wenn wir mit Sicherheit sagen könnten, dass ein weiteres Anwachsen der Bevölkerung dazu führte, dass in Zukunft noch mehr Menschen Hunger leiden müssten, könnte man ein solches Vorgehen allenfalls dann rechtfertigen, wenn es der einzige Weg wäre, um ein weiteres inakzeptables Anwachsen der Bevölkerung zu verhindern. Ist dies nicht der Fall, gilt es vielmehr eigens zu rechtfertigen, weshalb wir dennoch den Weg wählen sollten, Menschen verhungern zu lassen. Offenkundig stehen uns humanere Wege offen, um das Bevölkerungswachstum zu kontrollieren: Dies ist zum einen die von Hardin selbst erwähnte Möglichkeit der Geburtenkontrolle; zum anderen führt die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen in aller Regel zu einem Rückgang der Geburtenrate, da Menschen bei einer größeren sozialen Absicherung tendenziell auch empfänglicher für Methoden der Familienplanung werden, vor allem deshalb, weil sie keine Notwendigkeit mehr sehen, aus Angst vor Armut viele Kinder zu bekommen.119 Des Weiteren haben zahlreiche Studien gezeigt, dass die Geburtenrate bei Frauen sinkt, deren Lese- und Schreibfertigkeiten gefördert werden und die einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Ein Grund dafür besteht in einem größeren Mitspracherecht bei der Familienplanung, das ihnen aufgrund solcher Entwicklungen häufig zugestanden wird.120 Die Strategie, das Bevölkerungswachstum einzudämmen, indem man die Bildung von Frauen fördert, bringt überdies den Vorteil mit sich, dass sich die Lebenslage der Frauen insgesamt verbessert.121 Geht man – wie etwa Hardin – davon aus, dass es gefordert ist, das Bevölkerungswachstum und die Verschlechterung der Lebensqualität dadurch einzudämmen, dass man Menschen verhungern lässt, müsste überdies eigens begründet werden, weshalb wir ausschließlich Menschen in armen Ländern und nicht auch in den Industrienationen verhungern lassen sollten.122 Auch müsste gezeigt werden, dass ein solches Vorgehen tatsächlich zu einem Absinken des Bevölkerungswachstums auf ein „akzeptables Niveau“ führen würde.123 Doch wären wir nicht zumindest dann gefordert, einige Menschen verhungern zu lassen, wenn dies tatsächlich den einzig möglichen Weg darstellte, um zu verhindern, dass in Zukunft eine noch größere Anzahl von Menschen verhungert? Das Problem besteht darin, dass wir eine solch drastische Konsequenz, wie sie Hardin zieht, selbst in einem solchen Fall nur dann ziehen könnten, wenn wir wüssten, dass das in Zukunft eintretende Desaster größer wäre als das gegenwärtig bestehende.124 119
Vgl. ebd., 100 ff. Sen (1996); ders. (2013), 14 ff. 121 Vgl. Nussbaum (2000a), 95; vgl. zu ähnlichen Argumenten auch Singer (2013), 364 ff. 122 Vgl. Shue (1996), 109 f. 123 Vgl. ebd., 103. 124 Vgl. ebd., 97 ff. 120 Vgl.
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Doch darin, dies mit hinreichend großer Sicherheit vorhersagen zu können, liegt das Problem: Die Erfahrung spricht gegen Hardins Annahme, dass die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Armen dazu führt, dass sie noch mehr Kinder bekommen; vielmehr gibt es starke Indizien dafür, dass bei einer hinreichend großen Absicherung der Wunsch nach einer möglichst großen Nachkommenschaft abnimmt. Es somit möglich, dass das Bevölkerungswachstum auch auf anderem Weg als durch das Verhungern lassen von Menschen eingedämmt werden kann. Eine weitere Annahme, die Hardins Argumentation zugrunde liegt, ist die, dass ein Staat nur zu der Versorgung einer bestimmten Anzahl von Menschen in der Lage ist, wie auch ein natürliches Ökosystem nur eine begrenzte Anzahl von Tieren ernähren oder ein Aufzug nur die Last einer bestimmten Personenzahl tragen kann. Jeder Staat besitzt nach dieser Annahme also eine ganz spezifische „Aufnahmekapazität“ oder „Belastbarkeitsgrenze“ (carrying capacity). Sie ist nach Hardins Position für Staaten dann erreicht, wenn es Bewohner gibt, die hungern müssen. Wie im Tierreich hat das Überschreiten der Belastbarkeitsgrenze eines Staats laut Hardin zur Folge, dass die Anzahl der Bewohner entweder durch Hunger und Krankheit soweit sinkt, bis sie wieder der Aufnahmefähigkeit des Staats entspricht, oder der Lebensraum durch Migration erweitert wird.125 Da Hardin den Menschen Letzteres verwehren möchte und aus besagten Gründen auch die Bereitstellung von Hilfeleistungen für ihn nicht infrage kommt, bleibt aus seiner Sicht nur die Option übrig, dass Menschen in Ländern, in denen die Belastbarkeitsgrenze überschritten wurde, solange verhungern müssen, bis die Bevölkerungsanzahl wieder der Aufnahmefähigkeit entspricht. Hardin überträgt damit das biologische Konzept der Aufnahmefähigkeit von Ökosystemen auf Staaten: Dem Lebensraum einer Bevölkerung entspricht das Territorium des jeweiligen Staats. Um zu sehen, wie groß dessen Aufnahmefähigkeit ist, muss man sich die einem Staat zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel ansehen und sich fragen, wie viele Einwohner damit versorgt werden können. Auf dieser Basis kann dann vorhergesagt werden, wann ein Staat seine Belastbarkeitsgrenze überschreitet. Die Idee von der Belastbarkeitsgrenze eines Staats mag manchem zunächst recht überzeugend erscheinen, da sie (vermeintlich) mit dem Anschein der Wissenschaftlichkeit einhergeht: So wie sich aus der Beschaffenheit eines Aufzugs und den physikalischen Kräften, die auf ihn einwirken, ergibt, wie viele Personen mit welchem Gesamtgewicht ein Aufzug tragen kann, lässt sich auch berechnen, wie viele Menschen ein Staat ernähren kann.126 Doch die Idee von der Belastbarkeitsgrenze des Staats ist weniger wissenschaftlich, als es auf den ersten Blick scheint, wie sie auch nicht frei von moralischen Annahmen ist. Zunächst einmal ließe sich diese Idee insofern angreifen, als es aus einer biologischen wie auch aus einer moralischen Perspektive recht willkürlich erscheint, ohne weitere Begründung den Nationalstaat als Einheit des Lebensraums 125 Vgl. 126
Aiken (1996), 17 ff. Vgl. ebd., 18.
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zu betrachten. Versteht man die Belastbarkeitsgrenze eines Staats, wie Hardin dies offenkundig tut, als biologisches Konzept, dann müsste die Bevölkerung in Relation zu ihrem natürlichen Lebensraum, mit dem sie interagiert, untersucht werden; dieser kann aber größer oder kleiner als der Nationalstaat sein. Es erscheint aus einer moralischen Perspektive betrachtet, wie bereits in den vorangehenden Abschnitten gesehen, überdies nicht klar, ob die Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse überhaupt im Rahmen moralisch irrelevanter Gruppensetzungen, wie der des Nationalstaats, diskutiert werden sollte.127 Doch selbst dann, wenn diese Einwände unbeachtet blieben, ist die Idee der Belastbarkeitsgrenze von Staaten mit einigen Problemen behaftet: So ist es nicht richtig, dass es im Fall von Menschen ein feststehendes Verhältnis von Organismen und Lebensraum gibt. Anders als Tiere haben Menschen die Fähigkeit, die Aufnahmefähigkeit ihres Lebensraums zu erhöhen. Eine Möglichkeit dazu besteht darin, ihre landwirtschaftliche Produktivität, z. B. durch technologische Fortschritte oder durch eine erhöhte Effizienz, zu steigern oder ihre Effizienz durch Lagerung und Transport zu erhöhen. Wenn eine Region mehr Nahrungsmittel produzieren und lagern kann, kann sie also auch mehr Menschen tragen. Eine entscheidende Frage dafür, ob eine Nation ihre Belastbarkeitsgrenze in dieser Weise vergrößern kann, wird somit die sein, ob etwa die dazu nötigen neuen Technologien erworben werden können.128 Eine der wichtigsten Vorgehensweisen um die Aufnahmefähigkeit des eigenen Staats zu vergrößern, besteht somit darin, mit anderen Nationen zu handeln, die entweder landwirtschaftliche Technologien oder Nahrungsmittel verkaufen. Wenn der Handel einmal eingeführt ist – wie es in der gegenwärtigen Welt der Fall ist – ist die Aufnahmefähigkeit eines Staats aber kein rein biologisches Konzept mehr, sondern umfasst auch soziale und ökonomische Dimensionen. Die Frage, wie hoch die Aufnahmefähigkeit eines Lands ist, hängt dann nicht mehr nur von dessen Fähigkeit ab, Nahrungsmittel zu produzieren, sondern auch von der Frage, ob es dazu in der Lage ist, durch Handel in den Besitz der nötigen landwirtschaftlichen Produkte und Technologien zu gelangen, die es für die Versorgung seiner Bevölkerung benötigt. Jedes Land, das dazu in der Lage ist, die nötigen Güter zu erwerben, hat seine Belastbarkeitsgrenze aber anscheinend nicht überschritten. So ist die Aufnahmefähigkeit der dicht besiedelten Niederlande viel größer als die der bloß dünn besiedelten Sub-Sahara Nationen, und zwar nicht deshalb, weil Erstere dazu in der Lage sind, mehr Nahrungsmittel pro Kopf zu erzeugen, sondern weil sie über mehr Vermögen pro Kopf verfügen.129 Würde man das Konzept der Belastbarkeit eines Staats tatsächlich als rein biologisches Konzept verstehen, ergäben sich zudem absurde Konsequenzen: Denn man könnte annehmen, dass ein Land erst dann Nahrungsmittel importiert, wenn seine landwirtschaftliche Produktion nicht mehr ausreicht, um die eigene Bevölkerung 127
Vgl. auch ebd. Vgl. ebd., 19. 129 Vgl. ebd., 19 f. 128
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zu ernähren. Wenn wir an solche Länder Nahrungsmittel verkaufen, würden wir ihnen Hardin zufolge also dabei helfen, ihre Belastbarkeitsgrenze zu überschreiten, was seiner Auffassung zufolge unmoralisch wäre. Doch wären wohl auch die Vertreter einer Argumentation wie derjenigen Hardins nicht bereit, eine solche Konsequenz in Kauf zu nehmen, da auch sie annehmen, dass eine Nation, die Nahrungsmittel und grundlegende landwirtschaftliche Technologien kaufen kann, ihre Belastbarkeitsgrenze nicht überschritten hat.130 Die Aufnahmefähigkeit eines Staats kann also plausiblerweise nur als sozioökonomisches und nicht als biologisches Konzept verstanden werden. In diesem Fall lässt sich die Frage, wann die Aufnahmefähigkeit eines Staats erreicht ist, jedoch nicht mehr so leicht entscheiden wie im Fall der biologischen Verständnisweise, denn es muss nun eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden. Dazu zählen beispielsweise die Vermögensentwicklung der Gesellschaft, die technischen Entwicklungspotenziale oder die Möglichkeit, Gerätschaften und Wissen zu importieren.131 Auch für Staaten, in denen Menschen bereits in großer Zahl verhungern, wäre es falsch, schlechthin von einer Überschreitung ihrer Aufnahmefähigkeit auszugehen, wie Hardin dies tut. Der Fehler dabei besteht in der Missachtung des Umstands, dass dem Verhungern der Menschen auch andere Ursachen zugrunde liegen können, wie etwa die, dass eine reiche Elite die Einwohner des Lands ausbeutet oder die sozialen Strukturen des Lands nicht so gestaltet sind, dass die vorhandenen Ressourcen in einer Weise aufgeteilt werden, dass Hunger vermieden wird. Auch die mangelhafte Ausnutzung der Mittel und Möglichkeiten des Nahrungsmittelanbaus kann, wie Hardin ja selbst zugesteht, ein Grund dafür sein, dass Menschen in einem Staat hungern müssen. Nicht zuletzt können die Regeln des Weltmarkts dazu führen, dass in einem Staat nicht ausreichend Mittel vorhanden sind, um alle Einwohner mit ausreichend Nahrung zu versorgen. Dass Menschen verhungern bedeutet für Hardin jedoch, dass die Belastbarkeitsgrenze eines Staats überschritten wird. Nicht zuletzt kann man sich fragen, weshalb man, wenn man eine Position wie diejenige Hardins vertritt, überhaupt noch auf die Aufnahmefähigkeit eines Staats verweisen sollte anstatt unumwunden zu fordern, denjenigen Staaten nicht zu helfen, in denen Menschen verhungern. Zu Recht weist Aiken darauf hin, dass eine Argumentation wie diejenige Hardins nichts anderes ist als ein Versuch, die heutigen Regeln des Weltmarkts wie auch die heutige Güteraufteilung moralisch zu rechtfertigen und darüber hinaus das Gewissen der Wohlhabenden zu beruhigen.132 Um zu zeigen, dass es moralisch geboten wäre, keinerlei materielle Hilfeleistungen auf internationaler Ebene bereitzustellen, um ein vermeintlich größeres Übel in der Zukunft zu verhindern, bräuchte es jedenfalls eine weitaus komplexere Argumentation als die im Vorangehenden vorgestellte; ob sich eine solche tragfähige Begründung prinzipiell finden ließe, bleibt an dieser Stelle offen. 130
Vgl. ebd., 20. Vgl. ebd., 21. 132 Vgl. ebd., 22 ff. 131
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7. Zwischenbilanz In den vorangehenden Abschnitten sind wir der Frage nachgegangen, ob und inwieweit es einem Akteur möglich und zumutbar erscheint, materielle Güter an Hilfsbedürftige abzugeben. Wir haben angenommen, dass einem moralischen Akteur im Zweifelsfall zugemutet werden kann, materielle Güter bis zu dem Punkt abzugeben, an dem er selbst Gefahr läuft, durch weitere Abgaben in Armut in dem hier dargelegten Sinn zu geraten. Im Anschluss an diese Überlegungen wurden einige Einwände vorgebracht, die man gegen das Bestehen materieller Hilfspflichten – erst recht, wenn sie derart umfangreich sind – vorbringen kann. Durch keinen dieser Einwände ließ sich jedoch in überzeugender Weise zeigen, dass die Erfüllung derartiger Pflichten prinzipiell unzumutbar ist. Wir haben auch gesehen, dass es geboten erscheint, den Umfang der uns obliegenden Pflichten zu begrenzen, sofern sich eine Situation so gestaltet, dass man mehr Menschen aus einer Notlage retten kann, wenn der Umfang der bestehenden Pflichten verringert wird. Die angestellten Überlegungen lassen sich analog auch auf die beiden anderen Arten von Pflichten übertragen, die dem komplexen Anspruch auf ein Leben frei von Armut korrespondieren, und für die die Frage nach der Zumutbarkeit bislang noch nicht beantwortet wurde: die Institutionalisierungspflichten und die materiellen Pflichten, diejenigen Mittel bereitzustellen, die nötig sind, um den Aufbau und Erhalt der fraglichen Institutionen zu finanzieren. Ich werde darauf verzichten, diese Übertragung noch einmal für beide Arten von Pflichten im Einzelnen vorzuführen. Eine Anmerkung gilt es allerdings hinsichtlich der Übertragung der oben entwickelten Zumutbarkeitsgrenze auf den Fall der Institutionalisierungspflichten zu machen. Denn hinsichtlich der Übertragung auf diesen Pflichtentypus stellt sich die Frage, was es heißen soll, dass ein Akteur im Zweifelsfall solange dazu angehalten ist, dieser Art von Pflicht nachzukommen, bis er durch ein weiteres Engagement selbst Gefahr laufen würde, in Armut zu geraten. Diese Frage lässt sich jedoch leicht beantworten: Dem hier zugrunde gelegten Armutsverständnis folgend können wir nicht nur durch einen Mangel an materiellen Mitteln in Armut geraten, sondern auch durch einen Zeit- oder Kraftmangel, sofern dieser dazu führt, dass wir nicht mehr zu der Verwirklichung der minimalen Konzeption des Wohls befähigt sind. Es kann uns deshalb im Zweifelsfall nur soweit zugemutet werden, uns in einer der oben genannten Weisen für den Aufbau und den Erhalt der geforderten Institutionen zu engagieren, wie uns dies insgesamt nicht die Fähigkeit nimmt, die minimale Konzeption des Wohls in unserem eigenen Leben zu verwirklichen. 8. Probleme der Pflichtenallokation im vorinstitutionellen Zustand Eine weitere Frage, die sich bezüglich des Problems der Weltarmut im vorinstitutionellen Zustand stellt, ergibt sich aus dem Umstand, dass es – anders als in Singers Teich-Beispiel (siehe Kap. H. III. 2.) – nicht nur einen, sondern viele Millionen Notleidende gibt, die Hilfe benötigen. Und während in Singers Teich-Beispiel unmittelbar klar ist, wem wir helfen müssen, erscheint dies im Fall der weltweiten
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Abbildung 5: Problem der Allokation der Anspruchsträger im vorinstitutionellen Zustand
Armut nicht evident zu sein. Auch wird es aufgrund der Begrenztheit der materiellen Güter, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen, niemandem möglich sein, allen Hilfsbedürftigen zu helfen; man wird allenfalls dazu in der Lage sein, zu der Verbesserung der Lage einiger Hilfsbedürftiger beizutragen. Wem gegenüber bin ich dann aber im vorinstitutionellen Zustand zur Hilfe verpflichtet? Der vorinstitutionelle Zustand zeichnet sich in Bezug auf das Problem der Weltarmut in aller Regel dadurch aus, dass es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gibt.133 Die Situation erscheint vielmehr vergleichbar mit einer Situation, in der sich ein kleines Boot auf offenem Meer in der Nähe eines sinkenden Passagierschiffs mit vielen hundert Menschen an Bord befindet: Zwar können nicht alle Ertrinkenden in das kleine Boot aufgenommen werden, so wollen wir zumindest annehmen, aber einige Menschen können gleichwohl gerettet werden. In einer solchen Situation besteht offenbar prima facie keine Pflicht zur Hilfe gegenüber ganz bestimmten Ertrinkenden.134 Dennoch sind wir deshalb nicht generell von unserer Pflicht befreit, zu helfen, sondern wir müssen in einer solchen Situation offenbar so vielen Ertrinkenden wie möglich helfen. Analoges muss im vorinstitutionellen Zustand aber im Fall der in Armut lebenden Menschen gelten: Angesichts dessen, was für die Hilfsbedürftigen auf dem Spiel steht, sollten wir prima facie in dem Ausmaß, in dem uns dies zumutbar ist, versuchen, so vielen Menschen wie möglich zu helfen, auch wenn keine Pflicht gegenüber ganz bestimmten Personen zur Hilfe besteht, und wir nicht jeden Hilfsbedürftigen werden retten können.135 133 Kontingenterweise können natürlich Situationen auftreten, in denen ein Pflichtenträger einer konkreten Person die Bereitstellung materieller Hilfen schuldet, beispielsweise dann, wenn er die einzige Person ist, welcher dieser in der fraglichen Situation helfen kann, oder dann, wenn es nur eine einzige hilfsbedürftige Person gibt. Mit Blick darauf, in welchem Ausmaß Armut gegenwärtig in einzelnen Staaten und weltweit besteht, sind Situationen dieser Art aber praktisch nicht von Belang. 134 Ich lasse hier den Punkt außer Acht, dass Angehörige bestimmter Gruppen, wie beispielsweise Kinder, in einer solchen Situation womöglich prioritär gerettet werden müssten. 135 Vgl. McKinsey (1981), 312.
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Daraus folgt, dass die materiellen Pflichten im vorinstitutionellen Zustand in dem Sinn als „unvollkommene“ Pflichten verstanden werden müssen, als jedem potenziellen Pflichtenträger frei steht, zur Wahrung der Ansprüche welcher Anspruchsträger er – im Zweifelsfall in dem geforderten Maximalumfang – beiträgt.136 Anders verhält sich dies allerdings in Situationen, in denen es gute Gründe gibt, bestimmten Hilfsbedürftigen zuerst zu helfen, z. B. weil sie an akutem Hunger leiden, es ihnen an einer grundlegenden medizinischen Versorgung oder an einer adäquaten Behausung mangelt. In Situationen, in denen extreme Armut herrscht und das physische Überleben der Menschen auf dem Spiel steht, müssen wir diesen an erster Stelle helfen, bevor wir dann weniger akute Formen der Armut bekämpfen.137 Wenn wir die Pflichten der potenziellen Pflichtenträger im vorinstitutionellen Zustand in dem gerade genannten Sinn als unvollkommene Pflichten verstehen, 136 Vgl. auch Feinberg (1985), 221. Abweichend von der hier vertretenen Auffassung versteht O’Neill die Pflicht zur Bereitstellung von Hilfeleistungen nicht nur insofern als „unvollkommen“, als es jedem Pflichtenträger im vorinstitutionellen Zustand freigestellt ist, welchen Hilfsbedürftigen er seine materiellen Hilfen direkt oder vermittelt durch Hilfsinstitutionen zukommen lässt, sondern sie geht auch davon aus, dass es den Pflichtenträgern in einer solchen Situation frei steht, den Umfang der bereitgestellten Hilfen selbst zu bestimmen (vgl. O’Neill (1999), 224 f.). Sie ist sich darüber im Klaren, dass sich auf diese Weise die Armut womöglich nicht in Gänze wird beseitigen lassen. Deshalb sieht sie es überdies als gefordert an, politische und ökonomische Ungleichheiten soweit zu verringern, dass für alle eine Verhandlungsposition entsteht, die so beschaffen ist, dass niemand aus ökonomischem Zwang in Tauschgeschäfte einwilligen muss, denen er ohne einen solchen Zwang niemals zustimmen würde. Diese Pflicht ergibt sich für sie aus der von ihr postulierten vollkommenen Pflicht, keinen unrechtmäßigen Zwang auf andere auszuüben (vgl. dazu ebd., 226 ff.). 137 Vgl. z. B. auch Singer (2015), 107 ff. Eine weitere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, ob in Situationen, in denen das physische Überleben zwar gesichert ist, in denen aber darüber hinaus nicht sichergestellt werden kann, dass alle Hilfsbedürftigen zu der Verwirklichung aller Komponenten des minimalen objektiven Wohls insgesamt befähigt werden können, eine weitere Priorisierung hinsichtlich der Bereitstellung bestimmter Hilfeleistungen stattfinden soll; bei Ressourcenknappheit also beispielsweise erst alle Hilfsbedürftigen zu der Verwirklichung sozialer Teilhabe befähigt werden sollten, bevor man dann, sofern wieder mehr Mittel zur Verfügung stehen, auch die Verwirklichung weiterer Komponenten des Wohls ermöglicht. Diese Frage erübrigt sich jedoch im Fall Erwachsener, da die direkt bereitgestellten Hilfeleistungen, wie gesehen, in deren Leben die Form allgemein-dienlicher Mittel haben sollen, um ihnen auf diese Weise zu ermöglichen, selbst zu entscheiden, welche Ziele sie mit diesen verwirklichen. Im Fall von Kindern erscheint die Beantwortung dieser Frage schwieriger, und ich werde sie hier nicht im Detail beantworten. Generell lässt sich aber sagen, dass ihnen im Zweifelsfall zuerst möglichst diejenigen Mittel bereitgestellt werden sollten, die besonders fruchtbar für die Förderung derjenigen Functionings sind, die eine Voraussetzung für die Entwicklung derjenigen Befähigungen darstellen, die sie im Erwachsenenalter und womöglich auch schon als Kinder benötigen, um die objektiven Konzeption des minimalen Wohls zu verwirklichen. Es sollten also, anders gesagt, primär materielle Mittel bereitgestellt werden, die für die Entwicklung und den Erhalt der „fruchtbaren Functionings“ ( fertile functionings) im Sinn von Kapitel G. I. benötigt werden (vgl. Wolff/de-Shalit (2007)).
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hat dies offenbar aber auch Auswirkungen auf die Seite der Anspruchsträger: Wenn die Pflichtenträger gegenüber niemandem im Speziellen zur Hilfe verpflichtet sind, bedeutet dies nichts anderes, als dass diesen Pflichten keine Ansprüche konkreter Individuen korreliert sind. Denn es gibt in einer solchen Situation keine Akteure, denen gegenüber ein Hilfsbedürftiger seine Ansprüche auf Hilfeleistungen im Speziellen geltend machen kann. Wie wir in Kapitel B. IV. gesehen haben, bedeutet ein Recht zu besitzen aber, dass es möglich sein muss, anzugeben, welchen Personen gegenüber man den zugrunde liegenden Anspruch geltend machen kann und wer einem die Erfüllung der fraglichen Pflichten konkret schuldet. Da es auf diese Frage hinsichtlich des Anspruchs, direkte materielle Hilfeleistungen zu erhalten, im vorinstitutionellen Zustand keine Antwort gibt, kann dieser Anspruch in derartigen Situationen nicht als Recht, sondern bloß als Manifest-Recht in dem in Kapitel B. IV. dargelegten Sinn verstanden werden.138 Noch komplizierter wird das Problem der Pflichtenallokation im vorinstitutionellen Zustand dadurch, dass sich die gegenwärtige Situation hinsichtlich des Phänomens der weltweiten Armut wie folgt gestaltet: Nicht nur ist es nicht möglich, dass ein einzelner potenzieller Pflichtenträger die materiellen Ansprüche aller Hilfsbedürftigen befriedigt. Es ist vielmehr zur vollständigen Beseitigung des Übels der Armut, so wollen wir annehmen, auch gar nicht nötig, dass jeder potenzielle Pflichtenträger einen Beitrag zur Erfüllung der Ansprüche der Armen leistet, resp. es lassen sich, wie gesehen (siehe Kap. H. III. 3.), viele verschiedene Aufteilungen der Lasten unter den Pflichtenträgern denken, die allesamt zur Beseitigung des Übels der Armut führen würden. In Situationen dieser Art stellt sich aber die Frage, welchen potenziellen Pflichtenträgern die fraglichen materiellen Pflichten jeweils in welchem Umfang als obliegend betrachtet werden sollten. Der vorinstitutionelle Zustand zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass es keine allgemein anerkannte Regelung dafür gibt, welchen Akteuren die materiellen Pflichten fairerweise in welchem Ausmaß als obliegend betrachtet werden sollten. Wenn auf der Seite der Anspruchsträger ein großes Übel droht und es auf der anderen Seite jedem moralischen Akteur zumutbar ist, so viel Hilfe zu leisten, bis er selbst Gefahr läuft, in Armut in dem hier dargelegten Sinn zu geraten, können wir jedoch nicht davon ausgehen, dass niemand zur Hilfe verpflichtet wäre, solange es keine faire institutionelle Lösung des Allokationsproblems gibt. Vielmehr bleibt uns nichts anderes übrig, als in einer solchen Situation jeden Akteur gleichermaßen in die Pflicht zu nehmen. Es ist anzunehmen, dass diese Lösung zu dem bereits zuvor genannten Fairness-Problem aufseiten der Pflichtenträger führen wird, da einige, denen die Bereitstellung von Hilfen möglich und zumutbar ist, nichts oder viel weniger als andere tun werden. Es wurde jedoch im Vorangehenden bereits 138 Vgl. Feinberg (1985), 221; ders. (2007); O’Neill (1999), 224. O’Neill geht davon aus, dass Wohlfahrtsrechte bloße Manifest-Rechte sind, solange es keine Institutionen gibt, die konkrete Pflichtenträger benennen (vgl. ebd., 203 ff.; dies. (2005), 430). Stepanians bezeichnet Ansprüche dieser Art im vorinstitutionellen Zustand auch als „unvollkommene Rechte“ (Stepanians (2006), 93).
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ausgeführt, dass der Umstand, dass andere ihren Pflichten nicht oder nicht in dem nötigen Umfang nachkommen, nicht zu einer Verringerung der eigenen Verpflichtungen führt. Allerdings erscheint es, um dieses Fairness-Problem auf Dauer zu vermeiden, geboten, sich für den Aufbau und den Erhalt von Institutionen einzusetzen, die für eine möglichst faire Allokation der materiellen Pflichten und für deren Erfüllung sorgen. Gegen die Auffassung, dass in einer derartigen Situation alle gleichermaßen zur Hilfe verpflichtet sind, ließe sich ein weiterer Einwand vorbringen, den Singer wie folgt formuliert hat: Wenn sich alle in einer derartigen Situation dazu entschließen, freiwillig so viel materielle Hilfe bereitzustellen, bis sie Gefahr laufen, durch weitere Hilfen selbst in Armut zu geraten, kämen womöglich mehr Mittel zusammen als nötig wären, um alle Menschen aus der Not zu befreien. Damit wären aber einige der erbrachten Opfer unnötig. Es wäre demnach offenbar alles in allem besser, wenn jeder von vorneherein etwas weniger täte, als er tun sollte, resp. wenn nur einige täten, was sie tun sollten.139 Dem lässt sich mit Singer Folgendes entgegenhalten: Zum einen gilt, dass die skizzierte Situation überhaupt nur dann eintreten kann, wenn alle materiellen Hilfeleistungen unvorhersehbarer Weise – z. B. in Form von Spenden an Hilfsorganisationen – mehr oder weniger gleichzeitig eingehen. Da die meisten Menschen jedoch in einem gewissen Maß eigennützig sind, erscheint dieser Fall nicht allzu wahrscheinlich.140 Zum anderen gilt: Selbst wenn ein solcher Fall einträte, wäre dadurch noch nicht gezeigt, dass jeder im vorinstitutionellen Zustand stets weniger tun sollte als das, wozu er der Maximalforderung nach im Zweifelsfall verpflichtet ist. Was dadurch deutlich wird, ist nur, dass sich das Ausmaß unserer materiellen Pflichten verringern kann, wenn andere ebenfalls helfen, und Situationen auftreten können, in denen wir uns über das Ausmaß unserer Pflichten irren können.141 Ähnliche Fragen wie die in diesem Abschnitt genannten ergeben sich hinsichtlich der Institutionalisierungspflichten und der materiellen Pflichten, die zur Finanzierung dieser Institutionen nötigen Mittel bereitzustellen: So ist es in der Regel um das Ziel des Aufbaus und des Erhalts von Institutionen zu erreichen, nicht nötig, dass alle moralischen Akteure, denen es möglich und zumutbar ist, einen entsprechenden finanziellen resp. politischen Beitrag zu leisten, dies auch zu tun. Auch werden sich der Aufbau und der Erhalt von Institutionen häufig durch unterschiedliche faire Pflichtenaufteilungen unter den potenziellen Pflichtenträ139
Vgl. ebd., 42. Vgl. ebd., 42, 46. 141 Vgl. ebd., 42. Dennoch erscheint es mit Blick auf die Pflichtenträger freilich nicht wünschenswert, dass es zu einem Überangebot an Hilfeleistungen kommt. Dies stellt einen weiteren Grund dafür dar, Institutionen einzurichten, die zu verlässlichen Prognosen darüber in der Lage sind, wie vieler materieller Mittel es insgesamt bedarf, um allen Hilfsbedürftigen die nötige Hilfe zukommen zu lassen, und die zugleich für eine faire Allokation der Pflichten und deren Erfüllung sorgen. 140
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gern erreichen lassen. Es stellt sich somit für diese Pflichten die Frage, wem sie in welchem Ausmaß als obliegend betrachtet werden sollten. Beantworten können wir diese Frage in der gleichen Weise wie wir dies für den Fall der Pflichten, direkte materielle Hilfeleistungen bereitzustellen, getan haben: Der vorinstitutionelle Zustand zeichnet sich dadurch aus, dass es keine allgemein anerkannten und institutionell durchgesetzten Regelungen dafür gibt, wer in welchem Ausmaß zum Aufbau, Erhalt oder zur Finanzierung der fraglichen Institutionen beizutragen hat. Somit bleibt uns offenbar aus Gründen der Fairness gegenüber den Anspruchsträgern nichts anderes übrig, als auch hinsichtlich dieser Pflichten anzunehmen, dass sie allen Akteuren, denen ein Beitrag zu deren Erfüllung möglich und zumutbar ist, prima facie gleichermaßen obliegen.142 9. Institutionalisierungspflichten als gemeinsame Pflichten Was es heißt, dass uns Institutionalisierungspflichten und Pflichten zur Finanzierung der benötigten Institutionen obliegen, lässt sich mithilfe einer weiteren begrifflichen Unterscheidung noch weiter präzisieren, und zwar mit der Unterscheidung zwischen „individuellen“ und „gemeinsamen“ Pflichten, wie sie beispielsweise Stephan Schlothfeldt vornimmt, und dessen Ausführungen zu dem Verständnis „gemeinsamer Pflichten“ ich in den folgenden Abschnitten im Großen und Ganzen folgen werde.143 Individuelle und gemeinsame Pflichten unterscheiden sich durch ihre unterschiedlichen Adressatenkreise voneinander: Während sich individuelle Pflichten an Individuen richten, richten sich gemeinsame Pflichten an Gruppen.144 Dass eine „Gruppe“ der Adressat einer Pflicht ist, soll hier und im Folgenden nicht bedeuten, dass es sich bei der fraglichen Gruppe um einen eigenständigen moralischen Akteur handelt, der dazu in der Lage ist, Pflichten zu erfüllen. Dass eine Gruppe der Adressat einer gemeinsamen Pflicht ist, soll viel142 Diese Antwort auf das Allokationsproblem im vorinstitutionellen Zustand hat überdies den Vorzug, dass es tendenziell sehr viele Pflichtenträger geben wird, da den hier verwendeten Zumutbarkeitsgrenzen zufolge sehr vielen Menschen ein Beitrag zu der Erfüllung der fraglichen Pflichten zugemutet werden kann: Umso mehr Menschen sich aber für die Errichtung und den Erhalt entsprechender Institutionen einsetzen, umso wahrscheinlicher wird es auch, dass der Aufbau und der Erhalt der fraglichen Institutionen tatsächlich (in absehbarer Zeit) gelingt (vgl. Schlothfeldt (2009a), 81). Gegen diese „Lösung“ des Allokationsproblems für diesen Pflichtentypus im vorinstitutionellen Zustand lassen sich freilich die gleichen Einwände vorbringen, die bereits gegen die oben genannte analoge Lösung des Allokationsproblems hinsichtlich der sehr umfassenden Pflichten, direkte materielle Hilfeleistungen bereitzustellen, vorgebracht wurden; auch lassen sich diese in analoger Weise wie oben geschehen, entkräften. Ich werde darauf verzichten, diese analoge Argumentation hier noch einmal im Einzelnen vorzuführen. 143 Vgl. ders. (2009b). 144 Vgl. ebd., 21, 114. „Gruppe“ verwende ich hier Schlothfeldt folgend in einer sehr weiten Verständnisweise, der zufolge nicht vorausgesetzt wird, dass es sich um eine formal strukturierte Organisation handeln muss; auch zufällige Ansammlungen von Personen können in diesem Sinn „Gruppen“ sein (vgl. ebd., 91).
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mehr heißen, dass die Angehörigen der fraglichen Gruppe diese Pflicht durch ein gemeinsames und aufeinander abgestimmtes Verhalten erfüllen sollen.145 a) Voraussetzungen gemeinsamen Handelns In seinem Buch Individuelle oder gemeinsame Verpflichtung? führt Schlothfeldt einige Vorbedingungen an, die eine Gruppe erfüllen muss, damit ihr eine gemeinsame Pflicht obliegen kann: So muss es sich bei den Mitgliedern der fraglichen Gruppe um hinreichend autonomiefähige Akteure oder, wie Schlothfeldt es ausdrückt, um „zurechnungsfähige“ oder „normativ ansprechbare“ Personen handeln, an die moralische Forderungen gerichtet werden können.146 Auch muss es den Gruppenmitgliedern möglich sein, ihr Verhalten in geeigneter Weise aufeinander abzustimmen: Dazu wird es häufig nötig sein, dass explizite Absprachen getroffen oder Vorkehrungen – wie etwa Sanktionen – eingeführt werden können, um so sicherzustellen, dass alle Gruppenmitglieder die getroffenen Absprachen einhalten. Die Erfüllung einer gemeinsamen Pflicht mag aber auch dadurch möglich sein, dass der Gruppe ein mehr oder weniger spontan aufeinander abgestimmtes Handeln möglich ist:147 So besteht für diejenigen, die bei einem Autounfall anwesend sind, eine gemeinsame Pflicht, den Unfallopfern zu helfen. Diese gemeinsamen Pflichten können die am Unfallort Anwesenden in aller Regel durch eine ad hoc Verteilung von Aufgaben wie den Rettungsdienst anrufen, die Straße sichern, Erste Hilfe leisten usw. erfüllen. Zur Erfüllung einer gemeinsamen Pflicht müssen die Gruppenmitglieder überdies die Absicht haben, dass sie zusammen mit den anderen tätig werden wollen, um der gemeinsamen Verpflichtung gerecht zu werden, und dies auch signalisieren und gegenseitig voneinander wissen. Des Weiteren müssen die Gruppenmitglieder in der Lage sein, Meinungen darüber auszubilden, durch welche gemeinsamen Handlungen sie die fragliche Pflicht erfüllen können.148 Dies setzt voraus, dass ihnen die relevanten Kenntnisse über die Beschaffenheit ihrer Situation zugänglich sind und sie in Erfahrung bringen können, welche gemeinsamen Handlungen den gewünschten Sachverhalt, zu dessen Herbeiführung sie verpflichtet sind, herbeiführen können. Nicht zuletzt muss der Gruppe die Ausführung einer zielführenden gemeinsamen Handlung auch tatsächlich möglich sein.149 So dürfen etwa keine äußeren Umstände vorliegen, die die Ausführung einer gemeinsamen Handlung von vorneherein vereiteln würden.
145 Vgl. ebd., 92 f., 114 f.; vgl. zu den Problemen, die damit verbunden sind, Gruppen als eigenständige Akteure und Träger von Pflichten zu verstehen z. B. ebd., Kap. 4. 146 Vgl. ebd., 115, 130. 147 Vgl. ebd., 116. 148 Vgl. ebd., 116 f. 149 Vgl. ebd., 117 f.
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b) Unterschiede zwischen individuellen und gemeinsamen Pflichten Dass einer Gruppe eine gemeinsame Pflicht obliegt, bedeutet, wie eingangs bereits erwähnt wurde, nichts anderes, als dass die Mitglieder der fraglichen Gruppe verpflichtet sind, ein gefordertes Resultat durch ein gemeinsames und aufeinander abgestimmtes Verhalten zu erreichen. Auch gemeinsame Pflichten schreiben damit – ebenso wie individuelle Pflichten – einzelnen Individuen ein bestimmtes Verhalten vor. Die gemeinsame Pflicht einer Gruppe legt allerdings noch nicht fest, wem welche spezifischen individuellen Pflichten obliegen. Man denke wiederum an Schlothfeldts Beispiel des Autounfalls: Es bleibt der Gruppe der am Unfallort Anwesenden überlassen, festzulegen, durch welche Aufgabenverteilung den Unfallopfern geholfen wird. Insofern lassen sich gemeinsame Pflichten also nicht auf vorab bestehende individuelle Pflichten reduzieren.150 Dies gilt auch für gemeinsame Pflichten in Situationen, die so beschaffen sind, dass nicht alle, sondern nur einige Mitglieder der Gruppe aktiv werden müssen, um die fragliche Pflicht zu erfüllen: Obliegt einer Gruppe in einer so beschaffenen Situation eine gemeinsame Pflicht, dann ist nicht von vorneherein klar, welche Individuen etwas zu der Erfüllung der fraglichen Pflicht beizutragen haben. Nicht zuletzt können Situationen auftreten, in denen es dem Einzelnen im Alleingang gar nicht möglich ist, einen geforderten Umstand herbeizuführen, sondern nur einer hinreichend großen Anzahl von Akteuren. Besteht dennoch eine Pflicht, diesen Umstand herbeizuführen, so kann damit also keine individuelle, sondern allenfalls die gemeinsame Pflicht einer Gruppe gemeint sein. Eine derartige Situation liegt beispielsweise dann vor, wenn eine Person unter einem schweren Gegenstand, etwa einem Balken, eingeklemmt ist, und die Anwesenden die betroffene Person nur gemeinsam aus ihrer Notlage befreien können.151 Die Vorstellung gemeinsamer Pflichten ist zum Verständnis von Situationen hilfreich, in denen Individuen auf sich gestellt nichts ausrichten könnten, aber auch dann, wenn ein gefordertes Resultat zwar auch durch die kumulativen Alleingänge Einzelner erreicht werden könnte, es aber effektiver wäre, gemeinsam vorzugehen.152 Auch wird ein gemeinsames Vorgehen die Lasten, die der Einzelne zu tragen hat, um etwas zu erreichen, häufig verringern.153 Eine weitere Erhöhung der Effektivität des gemeinsamen Vorgehens der Gruppe wie auch eine weitere Entlastung der Gruppenmitglieder kann überdies durch eine „moralische Arbeitsteilung“ erreicht werden, bei der Gruppenmitgliedern explizit für einen längeren Zeitraum Aufgaben zugeteilt werden. So können Institutionen aufgebaut werden, in denen Mitglieder stellvertretend für die organisierte Gruppe tätig sind und ihnen entsprechende Pflichten von Rollen- und Funktionsträgern obliegen.154 Eine Entlastung 150
Vgl. ebd., 121. Vgl. ebd., 121 f. 152 Vgl. ebd., 124 f. 153 Vgl. ebd., 125, Fn. 190, 150 f. 154 Vgl. ebd., 126. 151
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durch eine „moralische Arbeitsteilung“ bleibt allerdings nur solange in Kraft, wie die Rollen- und Funktionsträger ihren Pflichten nachkommen. Ist Letzteres nicht der Fall, müssen die übrigen Organisations- resp. Gruppenmitglieder entweder sicherstellen, dass die Rollen- und Funktionsträger ihre fraglichen Pflichten wieder erfüllen, oder sie müssen die fraglichen Pflichten selbst übernehmen.155 Wenn einer Gruppe gemeinsam eine Pflicht obliegt, stellt sich für die Gruppenmitglieder des Weiteren von vorneherein die Frage, ob genügend andere ebenfalls zum freiwilligen gemeinsamen Handeln bereit sind, oder ob diese – z. B. durch die Androhung von Sanktionen – erst zu einem solchen Verhalten gebracht werden müssen. Der Druck, der von einer solchen Gruppe auf Einzelne ausgeübt werden kann, dürfte jedoch größer sein als einer, der nur von einzelnen Individuen ausgeht.156 Die Erfüllung gemeinsamer Pflichten lässt sich also womöglich eher erreichen als die Erfüllung von Individualpflichten. c) Der Beitrag zu der Erfüllung gemeinsamer Pflichten In manchen Situationen wird die Frage, was es heißt, einer gemeinsamen Pflicht nachzukommen, leicht zu beantworten sein, wie etwa in der genannten Situation eines Autounfalls oder in einer Situation, in der ein Balken auf jemanden herabgefallen ist: In Situationen dieser Art, so wurde bereits erwähnt, kann die gemeinsame Pflicht in kurzer Zeit durch eine recht spontane Zuweisung von Aufgaben unter den Pflichtenträgern erfüllt werden. In komplexeren, weniger gut überschaubaren Situationen wird eine spontane Erfüllung einer gemeinsamen Pflicht jedoch häufig nicht möglich sein. In solchen Situationen wird es vielmehr zunächst nötig sein, die bereits skizzierten Vorbedingungen für ein gemeinsames und koordiniertes Verhalten zu schaffen.157 Hinsichtlich der weltweiten Armut befinden wir uns offenbar in einer Situation dieser Art. Mit Blick auf die bereits genannten Vorbedingungen gemeinsamen Handelns von Gruppen ist Schlothfeldt zufolge jedes Gruppemitglied in einer solchen Situation dazu verpflichtet, die folgenden Schritte zu unternehmen: Ein erster Schritt, den jedes Gruppenmitglied unternehmen muss, besteht darin, den anderen Gruppenmitgliedern die Bereitschaft zu signalisieren, sich an einem gemeinsamen Vorgehen zu beteiligen. Des Weiteren ist jedes Gruppenmitglied dazu angehalten, festzustellen, wer sonst noch bereit ist, an einem gemeinsamen Handeln teilzunehmen, und dies den anderen Kooperationswilligen mitzuteilen, um so auf eine möglichst effiziente Weise zu einem Überblick zu gelangen, wie viele Gruppenmitglieder insgesamt kooperationswillig sind.158 Aufgrund der so gewonnenen Informationen sollen sich die Gruppenmitglieder dann eine Meinung darüber bilden, ob die Anzahl der Kooperationswilligen hinreichend groß ist, damit man das geforderte 155
Vgl. ebd., Fn. 194, 142 f. Vgl. ebd., 125. 157 Vgl. ebd., 141. 158 Vgl. ebd., 141 f. 156
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Resultat gemeinsam herbeiführen kann resp. hinreichend viele weitere Gruppenangehörige – z. B. durch die Androhung von Sanktionen – zu der Teilnahme an der Behebung des infrage stehenden Übels bewegt werden können.159 Ein weiterer in der Regel nötiger Schritt ist, dass zwischen den Gruppenmitgliedern verbindliche Absprachen über das gemeinsame Vorgehen getroffen werden. Auch dazu sind die Gruppenmitglieder gegebenenfalls verpflichtet; eine Möglichkeit der Erfüllung dieser Pflicht kann auch die Einrichtung von Prozeduren und Institutionen sein, die die erforderliche Koordinationsleistung erbringen. Werden bestimmte Pflichten dabei auf Rollen- und Funktionsträger übertragen, gilt, wie gesehen, dass den anderen Gruppenmitgliedern die Pflicht obliegt, zu überwachen, ob diese ihren Pflichten nachkommen. Tun diese dies nicht, fallen die fraglichen Pflichten wieder an die Gruppenmitglieder zurück.160 Ist eine verbindliche Absprache darüber erreicht, welchen Beitrag jedes Gruppenmitglied zur Herbeiführung des geforderten Ergebnisses zu leisten hat, obliegt es jedem Gruppenmitglied, diesen auch zu erbringen.161 Sofern das Problem auftritt, dass sich nicht alle Gruppenmitglieder an die fraglichen Absprachen halten, sind die übrigen Gruppenmitglieder dazu angehalten, Maßnahmen einzuleiten, um die unkooperativen Mitglieder zur Erfüllung ihrer Pflichten zu bringen,162 es sei denn, dass es in einer Situation einen viel geringeren Aufwand bedeuten würde, die Pflichten derjenigen, die ihren Beitrag verweigern, mit zu übernehmen, statt etwa sanktionierende Institutionen aufzubauen und zu erhalten.163 d) Die Pflicht, andere zu der Erfüllung gemeinsamer Pflichten zu bewegen Eine letzte Frage ist die, wozu wir verpflichtet sind, wenn es in einer Situation aussichtslos erscheint, hinreichend viele Gruppenmitglieder zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. Schlothfeldt gibt eine ambivalente Antwort. Zwar geht er davon aus, dass wir den Versuch, die Vorbedingungen eines gemeinsamen Handelns herzustellen, zunächst „ohne Erfolgsgarantie“ unternehmen müssen. Die Antwort auf die Frage, was wir tun sollen, wenn dieser Versuch scheitert, weil sich nicht hinreichend viele Gruppenmitglieder zu einem gemeinsamen Handeln zusammenfinden, fällt allerdings nicht eindeutig aus: So findet sich bei Schloth feldt zum einen die Annahme, dass in einer derartigen Situation die fragliche gemeinsame Pflicht zwar bestehen bleibt, die wenigen Kooperationswilligen aber keinen Grund hätten, ihr in einer solchen Situation nachzukommen. Wenn eine solche Situation etwa hinsichtlich der von Schlothfeldt angenommenen gemeinsamen Verpflichtung der Wohlhabenden, Institutionen zur Bekämpfung von Armut 159
Vgl. ebd., 142. Vgl. ebd., 126, Fn. 194, 142 f. 161 Vgl. ebd., 142. 162 Vgl. ebd. 163 Vgl. ebd., Fn. 217. 160
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aufzubauen, zu erhalten und zu finanzieren, eintritt, müssten sich die Wohlhabenden bloß noch als individuell zu der Bereitstellung von Hilfeleistungen verpflichtet betrachten.164 Zum anderen hält es Schlothfeldt an anderer Stelle für möglich, dass ein Teil der gemeinsamen Verpflichtung in einer solchen Situation darin bestehen könnte, andere Akteure zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen, um so das geforderte Resultat zumindest in Zukunft zu erreichen.165 e) Gemeinsame Pflichten und die Bekämpfung von Armut Die hier infrage stehenden Institutionalisierungspflichten wie auch die Pflichten zur Finanzierung der geforderten Institutionen sollten wir ebenfalls als gemeinsame Verpflichtungen verstehen: Denn diese Pflichten können nicht durch das Handeln einzelner Akteure erfüllt werden, sondern es bedarf zum Aufbau und zur Finanzierung der notwendigen Institutionen einer gemeinsamen und koordinierten Vorgehensweise hinreichend vieler Akteure. Auch gilt, dass die Erfüllung dieser Pflichten in aller Regel durch verschiedene Arten von Aufgabenverteilungen unter den Pflichtenträgern erreicht werden kann und es nicht nötig ist, dass alle Akteure, denen es möglich und zumutbar ist, auch einen Beitrag zu deren Erfüllung leisten müssen, um das angestrebte Resultat zu erreichen. Mithilfe der im Vorangehenden vorgestellten Analyse „gemeinsamer Pflichten“ sind wir des Weiteren dazu in der Lage, noch ein wenig eingehender zu präzisieren, was es heißt, dass uns gemeinsame Pflichten zur Institutionalisierung sowie zur Finanzierung der fraglichen Institutionen obliegen: Da es sich bei dem Problem der internationalen Armut im vorinstitutionellen Zustand um eine komplexe und unübersichtliche Situation handelt, sind wir dazu angehalten, die in den vorangehenden beiden Abschnitten skizzierten Schritte zu durchlaufen, um so das gewünschte Resultat gemeinsam zu erreichen, wobei ich annehme, dass wir, falls sich nicht hinreichend viele Akteure zum gemeinsamen Handeln einfinden, zumindest dazu angehalten sind, uns dafür einzusetzen, andere von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Handelns zu überzeugen, um so möglichst in Zukunft einen Zustand zu erreichen, in dem die gemeinsame Pflicht erfüllt werden kann. Zu beantworten bleibt noch, ob diejenigen, denen ein Beitrag zu der Erfüllung der hier infrage stehenden Pflichten möglich und zumutbar ist, auch dazu in der Lage sind, die Vorbedingungen für ein solch gemeinsames und koordiniertes Handeln zu schaffen. Diese Frage muss für einen großen Teil der Angehörigen dieser Gruppe bejaht werden: Zunächst einmal haben wir angenommen, dass es sich bei den Akteuren, denen die Erfüllung der hier infrage stehenden Pflichten möglich und zumutbar ist, um autonomiefähige resp. – in der Terminologie Schlothfeldts – „normativ ansprechbare Akteure“ handelt. Da die Gruppe derer, denen ein Beitrag zu der Erfüllung dieser Pflichten prinzipiell möglich und zumutbar ist, recht groß und unorganisiert ist, ist es nicht möglich, diesen gemeinsamen Pflichten spontan 164 165
Vgl. ebd., 146. Vgl. ebd., 122 f.
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nachzukommen. Vielmehr sind gemeinsame Beratungen, verbindliche Absprachen und in der Folge wohl auch die Einführung von Sanktionsmechanismen nötig, um nicht-kooperative Angehörige der Gruppe zu einer Beteiligung an dem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen, und das fragliche Ziel so zu erreichen. Zumindest für die Menschen in den reicheren Industrienationen müssen wir aber annehmen, dass sie voneinander wissen und im Prinzip miteinander kommunizieren können, sodass Absprachen zu einem gemeinsamen koordinierten Vorgehen zum Aufbau und Erhalt der benötigten Institutionen getroffen werden können.166 Auch spricht prinzipiell nichts dagegen, dass der Aufbau und der Erhalt derartiger Institutionen auf längere Sicht möglich ist. Des Weiteren ist es, wie eingangs erwähnt wurde, jedem erwachsenen Akteur möglich und zumutbar, sich zumindest politisch in der einen oder anderen Weise für den Aufbau und den Erhalt der fraglichen Institutionen einzusetzen; die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit wurden bereits in den vorangehenden Abschnitten hinlänglich geklärt. f) Gibt es ein vorinstitutionelles „Recht“ auf die geforderten Institutionen? Für den Anspruch auf diejenigen Institutionen, die zur Wahrung des komplexen Rechts auf ein soziales Minimum insgesamt nötig sind, stellt sich – wie zuvor für die Ansprüche auf direkte materielle Hilfeleistungen – die Frage, ob es sich dabei in diesem Zustand um gültige Ansprüche in dem in Kapitel B. IV. genannten dritten Sinn handelt oder nicht: Denn den Ausführungen in Kapitel B. IV. zufolge handelt es sich bei einem Anspruch nur dann um ein „Recht“, wenn u. a. klar benannt werden kann, wem gegenüber er geltend gemacht werden kann, bzw. wer gegebenenfalls für die Nicht-Erfüllung der korrespondierenden Pflicht als verantwortlich zu betrachten ist.167 Erst wenn diese Bedingung erfüllt ist, ist ein Anspruch auch in dem dritten genannten Sinn gültig. Kann diese Bedingung für die gemeinsamen Institutionalisierungspflichten sowie für die entsprechenden Pflichten zu der Finanzierung der fraglichen Institutionen als erfüllt betrachtet werden? Zwar besteht im Fall der hier infrage stehenden Pflichten im vorinstitutionellen Zustand keine direkte Verbindung zwischen spezifischen Anspruchsträgern und identifizierbaren Pflichtenträgern. Was sich gleichwohl ausmachen lässt, ist eine Gruppe von Akteuren, denen die gemeinsame Pflicht obliegt, die geforderten Institutionen zur Bekämpfung von Armut aufzubauen, zu erhalten und zu finanzieren, und denen der infrage stehende Anspruch gegenüber geltend gemacht werden kann. Auch wenn im vorinstitutionellen Zustand also keinem bestimmten Angehörigen dieser Gruppe die volle Verantwortung für die Verletzung des Anspruchs auf die Bereitstellung der benötigten Institutionen zugeschrieben werden kann, können wir doch sagen, dass jeder Angehörige der ausfindig gemachten Gruppe dazu verpflichtet ist, in dem bereits benannten Umfang zur Bereitstellung dieser 166
Vgl. ähnlich ebd., 131. O’Neill (1996), 170; dies. (1999), 218; dies. (2005), 430.
167 Vgl.
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Institutionen beizutragen, und, falls er dies nicht tut, als mitverantwortlich für die Verletzung der infrage stehenden Ansprüche der Hilfsbedürftigen betrachtet werden muss. Dass auch Gruppen als Adressat von Ansprüchen angesehen und Gruppenmitglieder als mitverantwortlich für die Verletzung von Ansprüchen betrachtet werden können, und zwar selbst dann, wenn sich in einer Situation nicht ermitteln lässt, wer in welchem Ausmaß zu der Verletzung des fraglichen Anspruchs beigetragen hat, lässt sich mithilfe eines Gedankenexperiments Elizabeth Ashfords verdeutlichen. Ihr in Anlehnung an Derek Parfits Beispiel von den „harmlosen Folterknechten“ entwickeltes Gedankenexperiment lautet:168 Einige Folterknechte möchten es vermeiden, wegen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt zu werden. Aus diesem Grund beschließen sie, ein elektronisches System einzuführen, in welchem jedem Folterknecht ein Knopf zugänglich gemacht wird, durch dessen vielfache Betätigung Elektroschocks bei den Folteropfern ausgelöst werden können, wobei gilt, dass der durch den einzelnen Folterknecht ausgelöste Schmerz bei den einzelnen Opfern jeweils sehr gering ausfällt.169 Dieses Vorgehen soll dazu führen, dass keines der Opfer irgendeinen der Folterknechte im Speziellen als denjenigen bestimmen kann, der für die gravierenden Schädigungen verantwortlich ist, die ihm insgesamt zugefügt wurden. Doch auch, wenn es richtig ist, dass dieses Vorgehen dazu führt, dass kein einzelner Folterknecht in vollem Umfang für die begangenen Schädigungen verantwortlich gemacht werden kann, erscheint es falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass den beteiligten Folterknechten überhaupt keine moralische Verantwortung für die Schädigung der Opfer zukommt. Vielmehr gilt, dass die Folterknechte allesamt mitverantwortlich für die begangenen Schädigungen sind, wenn sie sich an ihnen beteiligt haben, und sie durch ihre Handlung zur Verletzung eines Menschenrechts beigetragen haben; dies gilt, auch wenn niemand sagen kann, welcher Folterknecht welchen Anteil am Schmerz welchen Opfers hatte. Und es gilt offenkundig unabhängig davon, wie groß die Gruppe der beteiligten Akteure ist; es könnten etwa auch alle Folterknechte weltweit beteiligt sein; dies würde für die moralische Bewertung keinen Unterschied machen:170 Denn alle hatten mit ihrem Tun Anteil an einer Praxis, an der sie nicht, so wollen wir annehmen, hätten teilnehmen müssen und mit der sie vorhersehbar billigend in Kauf nahmen, dass es letztendlich zu gravierenden Schädigungen der Opfer kommen würde. Jedem Akteur obliegt damit eine Pflicht, die infrage stehenden Schädigungen zu unterlassen, und jedem kommt eine Verantwortung für die Schädigung der Opfer zu.171 Übertragen auf das Übel der Armut bedeutet dies Ashford zufolge:
168 Vgl.
Ashford (2009), 201 ff.; vgl. Parfit (1984), 80 f. Ashford (2009), 201 f. 170 Vgl. ebd., 202 f. 171 Vgl. ebd., 201 ff. 169 Vgl.
III. Armutsbekämpfung und Pflichtenallokation
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„Wenn chronische Armut die vorhersehbare Folge vermeidbarer Handlungen ist, liegt eine Menschenrechtsverletzung grössten Ausmasses vor; und dies auch dann, wenn es nicht möglich ist, einen einzelnen Akteur als den Täter, der gegenüber einem bestimmten einzelnen Opfer eine Menschenrechtsverletzung begangen hat, auszumachen.“172
Demnach lässt sich sagen, dass der Anspruch darauf, dass diejenigen Institutionen aufgebaut und erhalten werden, die für die Durchsetzung des Rechts auf ein soziales Minimum sorgen, auch im vorinstitutionellen Zustand nicht bloß als ein Manifest-Recht, sondern als ein Recht in dem in Kapitel B. IV. dargelegten Sinn verstanden werden kann. Denn es gibt eine Gruppe von Menschen, der gegenüber der Anspruch besteht. Der Aufbau der geforderten Institutionen führt im Fall der Armutsbekämpfung in der Regel dazu, dass der Kausalzusammenhang zwischen denjenigen, die Hilfe bereitstellen, und denjenigen, die Hilfe empfangen, nicht mehr nachvollziehbar ist. Markus Stepanians verdeutlicht diesen Umstand anhand des Beispiels der Bereitstellung von Hilfeleistungen durch das Rote Kreuz: „Der Kausalzusammenhang zwischen A’s Spende und B’s Rettung ist in der Regel nicht nachvollziehbar, weil der Beitrag des Einzelnen zusammen mit allen anderen Beiträgen im kumulativen Gesamtprodukt der Organisation aufgeht. Jedenfalls ist A’s Spende zumindest bei großen Einrichtungen in ihren konkreten Auswirkungen kontingent: A rettet nicht B’s Leben, obwohl seine Spende marginal dazu beiträgt, dass die Hilfsorganisation ihren Daseinszweck erfüllt und in diesem sehr abstrakten Sinne ‚Leben rettet‘. Die konkrete Rettung von B ist im Rahmen globaler Hilfsaktionen des Roten Kreuzes Bestandteil des kumulativen Gesamtergebnisses einer unbestimmten Vielzahl inhaltlich unbestimmter Handlungen unbestimmter Akteure. Auf die Frage, wem B’s Rettung zuzuschreiben ist, gibt es daher nur eine akzeptable Antwort: dem Roten Kreuz, dieser kollektiven Kooperationsgemeinschaft als Ganzer.“173
Sobald wir den vorinstitutionellen Zustand verlassen haben und die geforderten, positiv-rechtlich organisierten Institutionen geschaffen sind, um die es uns geht, besteht – anders als im Fall des Roten Kreuzes – aufseiten der Hilfsbedürftigen ein positiv-rechtlicher Anspruch gegenüber der jeweiligen Institution resp. gegen die Rollen- und Funktionsträger dieser Organisation, die stellvertretend für die gemeinsam verpflichtete Gruppe handeln. Umgekehrt obliegen den Angehörigen der verpflichteten Gruppe im institutionalisierten Zustand nun Pflichten gegenüber den eingerichteten Institutionen resp. Funktions- oder Pflichtenträgern, wie etwa die Pflicht, den ihnen zugeteilten Beitrag an materiellen Mitteln zum Erhalt der fraglichen Institutionen zu leisten. 172 Ebd., 205. Ähnlich sieht dies auch Schlothfeldt, bei dem es heißt: „Wenn die Gruppe eine von ihr geforderte Aufgabe nicht erfüllt hat, bescheinigen wir ihr ein Fehlverhalten – selbst wenn wir nichts Genaues darüber wissen, welche Individuen ,versagt‘ haben. Diese Zuschreibung eines kollektiven Verschuldens setzt weder voraus, dass die Gruppe selbst ein moralisches Subjekt ist, noch ist impliziert, dass jedes Gruppenmitglied (unabhängig von seinem Verhalten) eine Schuld trägt“ (Schlothfeldt (2009b), 122, Fn. 185). Vgl. zu einer ähnlichen Position zudem Young (2013). 173 Stepanians (2006), 89.
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H. Pflichten zur Armutsbekämpfung
Abbildung 6: Pflichtenallokation im institutionalisierten Zustand
Wie bereits zuvor erwähnt wurde, stellen jedoch derartige Rechtspflichten keinen vollständigen Ersatz für die moralischen gemeinsamen Pflichten dar, denn im Fall des Versagens der eingerichteten rechtlichen Institutionen würden wieder die moralischen Pflichten der Gruppenmitglieder in Kraft treten.174 Auch die individuellen Pflichten, direkte Hilfeleistungen bereitzustellen, obliegen uns wieder, sofern die Institutionalisierung der fraglichen Pflichten scheitert. g) Ist die Erfüllung aller korrespondierenden Pflichten möglich? Eine letzte Frage, die sich hinsichtlich der Pflichten stellt, die dem komplexen Recht auf ein Leben frei von Armut korrespondieren, ist, was zu tun ist, wenn uns diese in einer Situation alle gleichermaßen obliegen, wie es in der gegenwärtigen Situation zumindest in Bezug auf die weltweite Armut der Fall ist. Schließlich stehen jedem Akteur nur begrenzte materielle und zeitliche Ressourcen zur Verfügung. Wie soll die Erfüllung der fraglichen Pflichten in einer solchen Situation gewichtet werden? Gilt es, der Erfüllung bestimmter Pflichten Vorrang einzuräumen? Besteht gar ein Konflikt, wenn uns all diese verschiedenen Arten von Pflichten gleichermaßen obliegen? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es zwischen der Erfüllung der korrespondierenden Nicht-Hinderungspflichten, den beiden Arten von materiellen Pflichten und den Institutionalisierungspflichten zu keinem Konflikt kommen kann: Die Nicht-Hinderungspflichten lassen sich einfach dadurch erfüllen, dass die fraglichen Handlungen unterlassen werden, und es bedarf zu ihrer Erfüllung keiner zeitlichen, materiellen oder sonstigen Ressourcen oder Fähigkeiten, die einem Akteur womöglich nur begrenzt zugänglich sind. Ihnen nachzukommen hindert uns also in keiner Weise daran, auch unseren materiellen Pflichten nachzukom174 Vgl.
Schlothfeldt (2009b), 126.
III. Armutsbekämpfung und Pflichtenallokation
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men oder uns für den Aufbau und den Erhalt von Institutionen durch politisches Engagement einzusetzen. Auch die Erfüllung der Institutionalisierungspflichten und der materiellen Pflichten führt zu keinem Konflikt, zumindest nicht in der Welt, so wie sie heute und wohl auch in absehbarer Zukunft beschaffen ist: Die materiellen Pflichten können in Form von Geldmitteln mithilfe der heute existierenden technischen Möglichkeiten nahezu kostenlos in praktisch jeden bewohnten Winkel der Welt transferiert werden. In Regionen, in denen den Hilfsbedürftigen ein solcher Zugang zu den nötigen technischen Voraussetzungen fehlt, werden sich in aller Regel international agierende Hilfsorganisationen finden lassen, die dafür Sorge tragen können, dass den fraglichen Hilfsbedürftigen vor Ort unsere materiellen Hilfeleistungen zugute kommen; auch in diesen Fällen lassen sich unsere materiellen Pflichten also praktisch ohne zeitlichen Aufwand und große Mühen durch eine Überweisung an eine Hilfsorganisation erfüllen. Umso mehr gilt dies, wenn wir uns hinsichtlich dieser Pflichten in einem institutionalisierten Zustand befinden, in dem unser direkter oder indirekter Beitrag zu der Erfüllung der fraglichen Pflichten im Prinzip über den Einzug von Steuern oder Sozialabgaben automatisch von unserem Einkommen abgezogen werden kann. Die Erfüllung der materiellen Pflichten kostet uns damit praktisch weder Zeit noch Kraft und es ist deshalb prinzipiell möglich, sich in der Freizeit um die Erfüllung der gemeinsamen Institutionalisierungspflicht zu kümmern.175 Was sollen wir aber tun, wenn uns im vorinstitutionellen Zustand sowohl materielle Pflichten der Bereitstellung direkter Hilfeleistungen als auch Pflichten zu der Finanzierung der geforderten Institutionen obliegen? Darauf lässt sich antworten: Da das physische Überleben die Voraussetzung zu der Befähigung der Verwirklichung jedweder Komponente des minimalen Wohls darstellt, gilt es an erster Stelle das physische Überleben zu sichern. Wir müssen dann mit Blick auf die konkrete Situation entscheiden, ob es effektiver ist, den Menschen im Alleingang direkte Nothilfe bereitzustellen, oder es effektiver erscheint, einer Institution finanzielle Mittel zukommen zu lassen. An zweiter Stelle gilt es zumindest im Leben von Kindern die Verwirklichung von Functionings zu fördern, die für die Verwirklichung vieler anderer Komponenten des minimalen Wohls eine Voraussetzung darstellen – und die wir Wolff und de-Shalit folgend als „fruchtbare Functionings“ bezeichnet haben – um so eine Beseitigung von Armut in möglichst großem Umfang mit den vorhandenen Mitteln zu erreichen. Ob dies in einer Situation am effektivsten durch die Finanzierung von bereits bestehenden oder im Aufbau befindlichen Institutionen oder durch die Bereitstellung direkter Hilfen geschieht, muss ebenfalls in Abhängigkeit von den konkreten Situationsmerkmalen entschieden werden. 175 Vgl. anders Schlothfeldt, der davon ausgeht, dass wir entweder nur individuellen Pflichten zur Bereitstellung materieller Hilfeleistungen oder aber gemeinsamen Pflichten zum Aufbau von Institutionen nachkommen können, wobei der Erfüllung der zuletzt genannten Pflicht Vorrang einzuräumen und die Bereitstellung direkter materieller Hilfen im vorinstitutionellen Zustand nur zu leisten sei, wenn eine Institutionalisierung scheitert (vgl. ebd., 23 f., 77, 147, 151 ff.).
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H. Pflichten zur Armutsbekämpfung
Wie wir gesehen haben gilt allerdings generell, dass es zumindest mittelfristig zu besseren Ergebnissen und geringeren Lasten führt, wenn wir die uns obliegenden natürlichen Pflichten institutionalisieren. Diesen Umstand sollten wir bei unserer Entscheidung, auf welche Weise wir der Erfüllung der materiellen Pflichten im vorinstitutionellen Zustand nachkommen, im Sinn behalten, nicht nur aus Gründen der Fairness unter den Pflichtenträgern, sondern auch und gerade aus Gründen der Fairness gegenüber den Anspruchsträgern.
I. Ergebnisse I. Ergebnisse
Die in dieser Arbeit unternommene Analyse des Rechts auf ein soziales Minimum und der damit korrespondierenden Pflichten hat zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen geführt: Bei dem Recht auf ein soziales Minimum handelt es sich – sofern die Ausgestaltung des sozialen Minimums den in den Kapiteln C. bis G. entwickelten ethischen bzw. moralischen Kriterien und Anforderungen genügt – um ein komplexes Recht, welches sich zumindest aus den in Kapitel H. I. angeführten moralischen Teilansprüchen und grundlegenden „Rechtsbeziehungen“ zusammensetzt: – dem Anspruch auf die Bereitstellung derjenigen frei verfügbaren materiellen Mittel, die zu der Verwirklichung der minimalen Konzeption des Wohls nötig sind; – dem Privileg, selbst zu entscheiden, welche Ziele mit den zur Verfügung gestellten Hilfsmitteln im Rahmen des moralisch Zulässigen verfolgt werden; – der Kompetenz, die frei verfügbaren materiellen Mittel für Tauschgeschäfte zu nutzen; – den politischen Privilegien und Ansprüchen, deren Zugeständnis mit Blick auf das Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen für eine freie Präferenzbildung nötig ist; – dem Anspruch auf die Etablierung und den Erhalt von Institutionen (z. B. von Bildungseinrichtungen), die nötig sind, um die genannten Teilansprüche, aus denen sich das komplexe Recht auf ein Leben frei von Armut zusammensetzt, in Gänze zu wahren, sowie auf die zu der Erfüllung dieses Anspruchs nötigen materiellen Mittel und Zugänge; – dem Anspruch, nicht an der Ausübung der genannten Privilegien, Kompetenzen, Ansprüche und Immunitäten gehindert zu werden; – dem Anspruch auf die Etablierung und den Erhalt von Institutionen, die für die positiv-rechtliche Garantie der genannten Ansprüche, Privilegien, Immunitäten und Kompetenzen sorgen, sofern es eine Standardbedrohung darstellt, dass Menschen Hilfsbedürftige an der Nutzung derselben hindern resp. den korrespondierenden Pflichten nicht nachkommen würden und/oder ein derartig positiv-rechtlicher Schutz aus Effizienz- oder Fairnesserwägungen geboten erscheint; – der Immunität, welche die Unveräußerlichkeit der sonstigen genannten Rechtsbeziehungen, aus denen sich das Recht auf ein Leben frei von Armut zusammensetzt, sicherstellt. Die moralischen Teilansprüche müssen, wie gesehen, als bedarfsbezogene Ansprüche verstanden werden, welchen – solange es nicht zu einer positiv-rechtlichen
I. Ergebnisse
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Institutionalisierung dieser Ansprüche gekommen ist – ausschließlich natürliche Pflichten korrespondieren. „Natürliche“ Pflichten sind Pflichten, die prima facie allen Akteuren obliegen, denen ihre Erfüllung möglich und zumutbar ist, und zwar unabhängig vom Bestehen besonderer vertraglicher, persönlicher oder sonstiger Beziehungen zwischen den Beteiligten. Bei den Pflichten, die dem Recht auf ein soziales Minimum korrespondieren, handelt es sich um drei Typen von Pflichten: Institutionalisierungspflichten, materielle Pflichten sowie Nicht-Hinderungspflichten (siehe Kap. H. I.); diese Pflichten resp. die ihnen korrespondierenden Ansprüche sollten zumindest teilweise positiv-rechtlich geschützt werden (siehe Kap. H.). Auf internationaler Ebene besteht ein derartiger positiv-rechtlicher Schutz gegenwärtig nicht; in Bezug auf Hilfsbedürftige in anderen Ländern befinden wir uns somit in einem „vorinstitutionellen“ Zustand. Die Ausführungen in Kapitel H. haben gezeigt, dass uns die genannten Pflichten nicht nur gegenüber den eigenen Landsleuten, sondern auch gegenüber Angehörigen anderer Gesellschaften obliegen. In einem vorinstitutionellen Zustand – in welchem wir uns gegenüber Menschen in anderen Ländern gegenwärtig befinden – handelt es sich bei diesen Pflichten um unvollkommene Pflichten. „Unvollkommen“ sind diese Pflichten insofern, als uns weitgehend freigestellt ist, welchen Hilfsbedürftigen wir auf welchem der uns offenstehenden Wege materielle Hilfen zur Verfügung stellen und auf welche Weise wir zum Aufbau und zum Erhalt der erforderlichen Institutionen beitragen. Nachkommen müssen wir den Institutionalisierungspflichten und den materiellen Pflichten allerdings in jedem Fall, und zwar im Zweifelsfall bis zu dem Punkt, an dem wir selbst Gefahr laufen würden, in Armut in dem hier dargelegten Sinn zu geraten; dies gilt sowohl für den vorinstitutionellen als auch für den institutionellen Zustand. Zu Beginn dieser Arbeit wurde angekündigt, dass es am Ende dieser Arbeit prinzipiell möglich sein sollte, anhand der in den Kapiteln C. bis G. entwickelten ethischen bzw. moralischen Kriterien und Anforderungen zu überprüfen, ob ein in der Sozialpolitik bzw. -gesetzgebung oder in der empirischen Sozialforschung verwendetes Armutsverständnis einer kritischen moralischen Überprüfung standhält oder sich als korrektur- und ergänzungsbedürftig erweist. In einer schematischen und exem plarischen Weise soll eine solche Überprüfung nun für diejenigen Vorgaben erfolgen, die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 09. Februar 20101 zusammengestellt hat und welche der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf ein menschenwürdiges soziales Minimum in der Bundesrepublik Deutschland stets zu beachten hat (siehe Kap. A.). Eine Gemeinsamkeit zwischen den in dieser Arbeit entwickelten Kriterien und Anforderungen und den Vorgaben des hier als Referenzpunkt dienenden Bundesverfassungsgerichtsurteils besteht zunächst in dem Verständnis des zu Hilfeleistungen Berechtigten selbst: Ein Recht auf die Bereitstellung eines sozialen Minimums kann dem Urteil zufolge geltend machen, wer sich weder durch die eigene 1
Vgl. BVerfG NJW 2010, 505 ff.
I. Ergebnisse
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Erwerbstätigkeit oder den Rückgriff auf das eigene Vermögen noch durch die Zuwendungen Dritter selbst grundlegend versorgen kann.2 Der Personenkreis, der aus juristischer Sicht in Deutschland als „hilfsbedürftig“ – und in dem Sinn als „anspruchsberechtigt“ – zu betrachten ist, stimmt damit im Grundsatz mit dem in Kapitel G. IV. benannten überein. Eine weitere Übereinstimmung besteht dahingehend, als auch in der deutschen Sozialgesetzgebung die Beantwortung der Frage, welche Güter und Dienstleistungen Bestandteil des sozialen Minimums sein sollen, nicht mit Blick auf die faktischen Wünsche und Präferenzen des einzelnen von Armut betroffenen Menschen erfolgt (subjektives Armutsverständnis); vielmehr wird das soziale Minimum durch den Gesetzgeber – unter Berücksichtigung der durch das Bundesverfassungsgericht und die Verfassung gesetzten Vorgaben – für alle Hilfsbedürftigen in einheitlicher Weise festlegt (objektives Armutsverständnis).3 In Kapitel C. II. wurde gezeigt, dass aus moralphilosophischer Perspektive die Verwendung eines objektiven Armutsverständnisses angezeigt erscheint. Eine weitere Vorgabe des Urteils besteht darin, dass ein menschenwürdiges soziales Minimum stets so beschaffen sein muss, dass das physische Überleben durch die Bereitstellung der dazu nötigen Güter – in dem Urteil werden Nahrung, Bekleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygieneartikel und eine gesundheitliche Versorgung genannt – gesichert werden kann. Es weist damit also auch den in Kapitel C. I. geforderten „absoluten Kern“ auf. Neben dem physischen Überleben sollen Hilfsbedürftige dem Urteil folgend zudem zur Verwirklichung zweier weiterer Güter in die Lage versetzt werden, und zwar zu der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen sowie zur Verwirklichung eines Mindestmaßes an gesellschaftlicher, kultureller und politischer Teilhabe.4 In dem Urteil werden demnach also zumindest einige Güter benannt, denen ein intrinsischer Wert beigelegt werden kann und die als Elemente einer objektiven Konzeption des minimalen menschlichen Wohls verstanden werden könnten. Keinerlei Ausführungen finden sich in dem Urteil allerdings in Bezug auf die Frage, auf welche Weise diejenigen Güter, deren Zugänglichkeit den Menschen insgesamt das Führen eines menschenwürdigen Lebens ermöglicht, ausfindig gemacht werden sollen. Es bleibt damit aber unklar, ob und weshalb nur die in dem Urteil genannten Güter für ein solches Leben vonnöten sein sollen. Wie gesehen, stellt die in den Kapiteln G. I. 6. bis G. I. 9. dargelegte Vorgehensweise eine Möglichkeit zu der systematischen und objektiven Herleitung der Elemente des minimalen menschlichen Wohls dar; den Ausführungen in dieser Arbeit folgend muss in einem ethisch angemessenen Armutsverständnis eine objektive Konzeption des minimalen Wohls stets benannt werden. Dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zufolge muss das menschenwürdige soziale Minimum überdies relative Elemente in dem in Kapitel C. I. dargelegten Sinn aufweisen. Denn sowohl die Spezifikation der Güter, zu deren Verwirklichung jeder Hilfsbedürftige dem Urteil zufolge in die Lage versetzt werden soll, 2
Vgl. ebd., 505 . Vgl. ebd., 505 . 4 Vgl. ebd. 3
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I. Ergebnisse
als auch die Bestimmung von Art und Umfang der zur Verwirklichung dieser Güter bereitzustellenden Mittel soll offenbar mit Blick auf die gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche wie auch mit Blick auf die wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten einer Gesellschaft erfolgen. So stelle sich, wie es in dem Urteil heißt, etwa die technisierte Informationsgesellschaft anders dar als frühere Gesellschaften.5 Auch der medizinische Fortschritt oder eine höhere durchschnittliche Lebenswartung müssen dem Geist des Urteils folgend wohl als gesellschaftliche Entwicklungen verstanden werden, die Berücksichtigung bei der Ausgestaltung dieses Minimums finden sollten. Relativ muss das soziale Minimum dem Bundesverfassungsurteil zufolge der Sache nach aber auch noch in einer weiteren – ebenfalls in Kapitel C. I. geforderten Hinsicht – sein: Denn die Frage, welche Mittel einem Hilfsbedürftigen in welchem Ausmaß zu der Sicherung des physischen Überlebens bereitgestellt werden sollen, soll zumindest zum Teil auch mit Blick auf die individuellen persönlichen Eigenschaften des konkreten Hilfsbedürftigen beantwortet werden. So sollen etwa Hilfsbedürftige, in deren Leben dauerhafte, besondere und unabweisbare Bedarfsarten bestehen, mehr als die durchschnittlich bereitgestellten Mittel zur Erfüllung dieser Bedarfe erhalten, sofern sie einen entsprechenden Härtefallantrag stellen.6 Eine explizite Antwort auf die Frage, mithilfe welcher Metrik bzw. anhand welches Maßstabs das Vorliegen von Armut erfasst werden soll – beispielsweise mit Blick auf das Einkommen, die befriedigten Grundbedürfnisse oder auf das Capability-Set eines Menschen – findet sich in dem hier infrage stehenden Urteil nicht. Das Urteil lässt sich jedoch dahingehend interpretieren, dass in ihm zumindest implizit ein Armutsverständnis verwendet wird, welches strukturell mit einem am Capability-Ansatz orientierten Armutsverständnis übereinstimmt: So werden in dem Urteil zumindest einige Ziele bzw. Güter benannt, die als intrinsisch wertvolle Güter bzw. als Elemente einer objektiven Konzeption des minimalen menschlichen Wohls verstanden werden können, wie z. B. Leben, Sozialität und kulturelle Teilhabe. Mit Blick auf diese Güter soll dann ermittelt werden, welche Ressourcen Hilfsbedürftigen in welchem Ausmaß zur Verwirklichung eben dieser Güter zur Verfügung gestellt werden sollen, wobei bei der Beantwortung dieser Frage, wie gesehen, zumindest in einem bestimmten Umfang auch die besonderen persönlichen Eigenschaften und die äußeren Umstände des Hilfsbedürftigen Berücksichtigung finden sollen (z. B. Berücksichtigung besonderer Bedarfsarten und der konkreten Lebenssituation des Hilfsbedürftigen, Berücksichtigung des technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstands der jeweiligen Gesellschaft). Dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zufolge soll dem Gesetzgeber freigestellt werden, ob die nötigen Hilfeleistungen in Form von Geld-, Sach- oder Dienstleistungen bereitgestellt werden;7 auch den in dieser Arbeit angestellten Überlegungen 5 Vgl.
ebd. Vgl. ebd., 505 . 7 Vgl. ebd., 505 . 6
I. Ergebnisse
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zufolge können diese Optionen allesamt als „moralisch erlaubt“ betrachtet werden. Allerdings soll der größtmögliche Anteil der Hilfeleistungen die Form allgemein-dienlicher Tauschmittel haben, um auf diese Weise die Selbstbestimmung bzw. die Präferenzautonomie der Hilfsbedürftigen möglichst umfänglich zu wahren (siehe Kap. D. und G. II.). Die in dieser Arbeit vertretene Auffassung, dass das soziale Minimum im Leben von Kindern zumindest teilweise in einer anderen Weise ausgestaltet werden sollte als im Leben Erwachsener, findet in dem Urteil ebenfalls Berücksichtigung: So soll bei der Ausgestaltung des sozialen Minimums der spezielle Bedarf von Kindern berücksichtigt werden, der sich aus deren Entwicklung und deren Heranwachsen ergibt, wozu auch die Erfüllbarkeit schulischer Verpflichtungen gehört.8 Auch sollen Erfordernisse erfüllt werden, die für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes von Belang sind.9 Diese Forderungen lassen sich den Ausführungen dieser Arbeit folgend auch wie folgt weiter konkretisieren: Den Kapiteln D. und G. III. folgend gehört zu den Zielen der kindlichen Entwicklung zumindest eine hinreichende Entwicklung der Selbstbestimmungfsähigkeit, wozu sowohl die Fähigkeit zur Entwicklung, Verfolgung und Revision einer subjektiven Konzeption des Wohls, die den Fähigkeiten und Talenten des fraglichen Menschen entspricht, als auch die hinreichende Entwicklung der Moralfähigkeit gehört. Daneben sollen Kinder mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter dazu befähigt sein, die Elemente der objektiven Konzeption des menschlichen Wohls zumindest minimal verwirklichen zu können. Damit diese Ziele erreicht werden, muss sichergestellt werden, dass allen Kindern ausreichend normative Autonomie zugestanden wird und die nötigen materiellen Mittel und institutionellen Zugänge vorliegen, um die fraglichen Befähigungen sowie die eigenen Neigungen und Talenten entwickeln zu können. Aus einem in dieser Weise verstandenen Armutsverständnis folgt auch, dass der Staat sein Augenmerk in der Sozialpolitik nicht allein auf die Entwicklung von Kindern in einkommensschwachen Haushalten richten darf; denn „arm“ in dem hier dargelegten Sinn können Kinder – wie im Übrigen auch Erwachsene – aus allen Einkommens- und Vermögenschichten sein. Keine Erwähnung findet in dem infrage stehenden Urteil der in Kapitel G. II. konstatierte Anspruch, dass andere es unterlassen müssen, diejenigen persönlichen Eigenschaften und äußeren Bedingungen zu zerstören oder ernsthaft zu beeinträchtigen, die es braucht, um die für ein menschenwürdiges Leben relevanten Güter verwirklichen zu können. Dies erscheint allerdings auch gar nicht nötig zu sein, da man annehmen darf, dass dieser Anspruch in der Bundesrepublik Deutschland bereits durch die im GG garantierten grundlegenden Rechte und Freiheiten ausreichend geschützt wird (siehe dazu die Ausführungen zum Schutz eines Rechts durch einen „Schutzgürtel an allgemeinen Verpflichtungen“ in Kap. B. VIII.). Sofern sich herausstellen sollte, dass dem nicht so ist, wären freilich entsprechende Ergänzungen im juridischen Recht vonnöten. 8 9
Vgl. ebd., 505 . Vgl. ebd., 505 .
I. Ergebnisse
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Auch das in den Kapiteln C. II. 2. und G. II. diskutierte Problem der adaptiven Wünsche und Präferenzen findet in dem fraglichen Urteil keine Erwähnung. Wie in jenen Kapiteln deutlich wurde, kann eine Adaption an ungünstige oder ungerechte äußere Umstände hinderlich dabei sein, die Befähigung zur Verwirklichung der objektiven Konzeption des minimalen menschlichen Wohls überhaupt zu entwickeln. Die Gefahr einer solchen Adaption lässt sich, wie in Kapitel G. II. gesehen, jedoch verringern, wenn Menschen in einer liberalen und demokratischen Gesellschaftsform leben, in welcher der eigene Lebensentwurf vergleichsweise frei entwickelt und umgesetzt werden kann. In der Bundesrepublik Deutschland ist eine solche Staatsform durch die Art. 1 bis 20 GG aber sowieso bereits durch die Verfassung festgeschrieben. Insofern stellt die fehlende Erwähnung des Problems der adaptiven Wünsche und Präferenzen in dem Urteil ebenfalls keinen Mangel dar. Nicht zuletzt soll das Recht auf ein soziales Minimum den in dieser Arbeit gemachten Ausführungen zufolge als eine Immunität verstanden werden. Auch diese Forderung muss aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie jenes Rechts in der Bundesrepublik Deutschland als erfüllt betrachtet werden (siehe Kap. A.).10 Die in dem fraglichen Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts dargelegten Richtlinien und Kriterien weisen somit einen hohen Grad an Übereinstimmung mit den Ergebnissen der in dieser Arbeit angestellten Überlegungen zu der Frage nach einer ethisch angemessenen Ausgestaltung eines sozialen Minimums auf, auch wenn in dem Urteil – anders als in dieser Arbeit – keine systematische Herleitung dieser Kriterien und Anforderungen erfolgt. Sofern die Ergebnisse dieser Arbeit über die in dem Urteil vorgegebenen Richtlinien hinausgehen, stehen sie überdies nicht in einem Widerspruch zu den sonstigen Ausführungen des Urteils oder zu den im GG genannten Grundrechten. Auch setzen die in dieser Arbeit entwickelten Kriterien und Anforderungen nicht die Anerkennung einer speziellen Weltanschauung, Religion oder Metaphysik voraus, was ebenfalls in Einklang mit dem Geist der deutschen Verfassung steht, die weltanschaulich möglichst neutral sein will (siehe Kap. A.). Die in der Arbeit niedergelegten Kriterien und Anforderungen lassen überdies Gestaltungsspielraum für unterschiedliche konkrete Ausgestaltungen des sozialen Minimums in der Sozialpolitik bzw. -gesetzgebung; ein solcher Gestaltungsspielraum soll dem Gesetzgeber dem hier bemühten Bundesverfassungsgerichtsurteil zufolge ja ausdrücklich zugestanden werden. Eine Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts besteht darin, sicherzustellen, dass die Ausgestaltung des sozialen Minimums in der Bundesrepublik Deutschland durch den Gesetzgeber in einer menschenwürdigen Weise erfolgt, was in dem hier als Referenzpunkt dienenden Urteil nachdrücklich bekräftigt wird. Ein menschenwürdig ausgestaltetes soziales Minimum sollte, wie in dieser Arbeit u. a. gezeigt wurde, aber stets jenen Kriterien und Anforderungen gerecht werden, die in den Kapiteln C. bis G. erarbeitet wurden.
10
Vgl. ebd., 505 .
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Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis Stichwortverzeichnis
Anspruch – der bedarfsbezogenen Gerechtigkeit 16, 114, 214, 216 ff., 232 ff., 273 f. – der distributiven Gerechtigkeit 217 ff., 226 ff. – der kommutativen Gerechtigkeit 217 ff., 225 f., 232 – der korrektiven Gerechtigkeit 219, 221 ff. – der Tauschgerechtigkeit 217 ff. – gültiger 28 ff., 58, 267 – moralischer 28, 30 ff., 72, 74, 110, 134, 141 f., 157, 163 f., 199, 205, 207 f., 215, 220, 232 ff., 273 f. Anspruchsberechtigtentheorie 47 – siehe Begünstigtentheorie Anspruchsrecht 36 ff., 43 f., 49, 52 f. Äquivalenzeinkommen 61, 98 ff. Armut – absolute 14, 59 ff., 75, 98, 102, 141, 221, 228, 275 – Dimensionen der 59 f. – extreme 11, 34, 61 f., 67, 74, 127, 153, 162, 236, 239, 258 – freiwillige 124, 204, 207 siehe auch Armut und individuell Verantwortung – objektive 14 ff., 59, 68 ff., 77, 97, 103, 118, 124, 133 f., 139 f., 142, 156, 158, 161 f. – prospektiver Aspekt der 16, 202 ff., 210, 213 – relative 14, 59 ff., 75, 102, 189, 194, 221, 236, 275 f. – retrospektiver Aspekt der 16, 202 ff. – subjektive 14, 59, 68 ff., 76, 112 f., 134, 158, 188, 191, 275
– und individuelle Verantwortung 202 ff. – unfreiwillige siehe freiwillige Armut Armutsschwelle 60 ff., 98 Armutsverständnis – an dem Capability-Ansatz orientiertes 15 f., 116, 118, 123 f., 124 ff., 163 ff., 276 – an dem Einkommen orientiertes 15, 60 f., 64 f., 68 f., 97 ff., 104 ff., 118, 227, 251, 276 f. – an dem minimalen Wohl orientiertes 15 f., 66 ff., 91, 97 f., 102 f., 117 ff., 124 ff., 163 ff., 187 ff., 190 ff., 198, 201, 203 ff., 208 f., 215, 236, 239, 256, 258, 271, 273, 275 ff. – an den Grundbedürfnissen orientiertes 15, 63, 109, 114 f., 117 ff., 124, 157 f., 228, 276 – wunschorientiertes siehe subjektive Armut Autonomie 79, 91 ff., 191, 198 f., 201 f., 242 – deskriptive 91 f., 95, 202 – normative 92, 95, 199 f., 202, 277 Autonomiefähigkeit 14, 78 ff., 86 f., 90, 93, 95 f., 123, 198 ff., 215, 242, 262, 266 Basispflicht 46, 235 Befähigung 127 ff., 135, 141, 143, 158 ff., 160, 164, 167 ff., 171 ff., 191 f., 195, 201, 205, 258, 271, 277, 278 – siehe auch Capability, Capability-Set Begünstigtentheorie des Rechts 47 ff. – siehe auch Begünstigtentheorie des Rechts
Stichwortverzeichnis Brücken-Beispiel 85 ff. Bürden des Urteilens 84 f. Capability 111, 123, 127 ff., 132 ff., 172, 175 f., 194 f., 197, 201, 208 Capability-Set 125, 129, 131, 194, 203, 208 f., 276 Differenzprinzip 106, 109, 114 f., 227 – siehe auch Unterschiedsprinzip Entscheidungstheorie des Rechts 13, 47 ff. Erwachsene 12, 14 ff., 46 f., 52, 65, 75 ff., 81 ff., 98 ff., 106, 123, 159, 163, 175, 189, 191, 195, 197, 199 ff., 216, 235 f., 241, 258, 267, 277 Freiheit 21 f., 30, 36 ff., 53 ff., 82, 88 f., 95, 104, 106 ff., 112 f., 115 f., 118, 124, 129 f., 137, 141, 144 f., 147, 158, 160, 165, 169, 172, 176, 179, 181, 195 f., 198, 245, 277 Functioning 123, 125 ff., 133 ff., 142, 157 ff., 172 f., 175 f., 179 f., 187, 189, 193 f., 197, 201 f., 258, 271 – fruchtbares 175 f., 187, 258, 271 Gerechtigkeitsgrundsatz 79, 105 f., 110 f., 114 f. Grundbedürfnisgüter 118 ff. Grundgesetz 13, 18 ff., 44, 113, 277 f. Grundgüter – menschliche 181 ff. – Rawls’sche 104, 108, 110, 112 f., 116, 196 Immunität 30 f., 36, 38 ff., 53, 55 f., 58, 215 f., 273, 278 Institutionalisierungspflichten 214, 216, 235, 245 f., 256, 260 f., 266 f., 270 f., 274 Interessentheorie 47 – siehe auch Begünstigtentheorie des Rechts Kind 12, 14, 16, 26, 50, 52 f., 68 f., 71, 75, 76 ff., 88 ff., 90 ff., 98 ff., 103,
295
116, 119, 145, 152, 154, 163, 175, 189, 197 ff., 213, 215, 257 f., 271, 277 Kinderarmut 16, 75, 77, 97, 116, 197 ff. Kompetenz 30 f., 36 ff., 40, 49, 53, 55 f., 58, 215 f., 273 Lebenslage 68 f., 71, 78, 109 f., 125, 158, 252 Moral – kritische 27 ff., 39, 54 – positive 27 ff., 39, 54 Moralische Person 79, 105 f. Nicht-Hinderungspflichten 56 f., 216, 235, 245, 270, 274 Normative Kontrolle 52, 55, 57 Parteilichkeit 111 ff., 136, 189 Paternalismus 15, 82 ff., 124, 134 f., 159 f., 190 ff. Perspektive, moralische 12, 15, 187 ff., 238 – siehe überdies Schleier des Nichtwissens Pflichten – gemeinsame 17, 214, 261 ff. – individuelle 261, 263 – materielle 216, 234 ff., 255 ff., 267, 269 ff. – unvollkommene 220, 258 f., 274 Pflichtenallokation 36, 42, 234 ff., 256 ff., 270 ff. Pluralismus – individueller 161 f., 165, 186, 195 – kultureller 67, 165, 186 Präferenzautonomie 70, 83 f., 95, 101 f., 107, 160 f., 191, 277 Präferenzen und Wünsche – adaptive 71 ff., 134, 158 f.,194 ff., 208, 215, 273, 278 – aufgeklärte 70, 176 f., 180 Prioritätsprinzip 244 f. Privileg 30 f., 36 ff., 40, 53 ff., 215 f., 273
296
Stichwortverzeichnis
Recht – atomares 40 ff. – disjunktiv 42 – einfaches 40, 53, siehe auch atomares Recht – im strikten Wortsinn 30 ff. – individuelles 27 f., 31 – in personam 41 f. – in rem 41 f. – juridisches 13 f., 18, 27, 28 ff., 36 ff., 47, 54, 78, 81, 91, 173, 205, 277 – komplexes 13, 40 ff., 44 f., 54, 56, 214 ff., 232, 234, 267, 270, 273 – konjunktives 42 – Manifest- 34 ff., 259, 269 – moralisches 13 f., 27, 28 ff., 40, 54, 78 f., 81, 91, 234 – negatives 14, 24, 43 ff. – objektives 27 – positives 14, 28, 30, 43 ff. – quasi-juridisches 28 – subjektives 27 f., siehe auch individuelles Recht – unvollkommenes 259 Rohstoffdividende 222, 224, 229 ff., 244 Schleier des Nichtwissens 188
15, 105, 112,
Selbstbestimmung 14, 16, 76, 78 ff., 191, 195, 198 f., 201, 277 Selbstbestimmungsfähigkeit 14, 78 ff., 198 f., 202, 213, 215, 277 Sozialstaatsprinzip 18 ff., 23 f., 44 Standardbedrohung 23, 44 f., 57, 215, 273 Teich-Beispiel 238, 243 f., 256 f. Überbevölkerung 249 ff., 251 ff. Unterschiedsprinzip 108, 110 – siehe auch Differenzprinzip Urzustand 105 f., 111, 114, 227 – siehe auch Schleier des Nichtwissens Utilitarismus 48, 75, 82, 112, 140, 187 Verwirklichungschance
128
– siehe auch Capability Wahltheorie des Rechts 47 – siehe auch Entscheidungstheorie des Rechts Willenstheorie des Rechts 47 – siehe auch Entscheidungstheorie des Rechts Zusatzpflicht
46