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German Pages 146 [150] Year 2016
PAR ADEIGMATA 34
PAR ADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Ab handlungen, Studien und Werke, die belegen, dass sich aus der strengen, geschichtsbewussten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.
SEBAST I AN FLOR I AN WEINER
Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos
FEL I X MEINER VERL AG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2881-9 ISBN eBook: 978-3-7873-2882-6
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Paul Schmidt Gedächtnisstiftung.
© Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Bookfactory, Bad Münder. Werkdruck papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Inhalt
Kapitel 1 Aristoteles’ Bestimmung der Form und Substanz als logos . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Kapitel 2 Eingrenzung des fraglichen logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Kapitel 3 Problemaufriss: Ist der logos in Met. Zeta ein Hybrid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.1 Eine vermeintliche Mehrdeutigkeit: logos meint sowohl das Definiens als auch das Definiendum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.2 Eine harmlose Mehrdeutigkeit: logos meint sowohl den sprachlichen Ausdruck als auch den Aussageinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kapitel 4 Eine grundsätzliche Schwierigkeit: der ontologische Status des Ausgesagten 25
4.1 Bei Aristoteles sind Prädikate Seinsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.2 Form und Materie entsprechen Prädikat und logischem Subjekt . . . . . . 28 4.3 Die katêgoria unterläuft die Unterscheidung von Sprache und Welt . . . . 30 Kapitel 5 Mit logos kann nicht die konstitutive Struktur des Gegenstands gemeint sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
5.1 5.2 5.3 5.4
Die Struktur ist nicht Essenz und daher auch nicht der gesuchte logos . . Auch die Anordnung der Teile ist nicht der gesuchte logos . . . . . . . . . . . . Nicht die Struktur bestimmt das Sein, sondern das Definiens . . . . . . . . . Der gesuchte logos ist keine Harmonie oder Anordnung . . . . . . . . . . . . . .
33 35 37 39
Kapitel 6 Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Empedokles’ logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
6.1 Empedokles’ Mischungsverhältnisse als logoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6.2 Der logos als Bedingung für natürliche Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
6 Inhalt
Kapitel 7 Weshalb bestimmt Aristoteles die Form als logos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
Der merkwürdige Ausdruck, die Form sei kata logon abgetrennt . . . . . Morrisons Kritik an Aristoteles’ Ausdruck chôriston kata logon . . . . . . Klärungsversuche des aristotelischen Ausdrucks chôriston . . . . . . . . . . . Lösungsvorschlag: Die Essenz ist nicht an die Materie gebunden . . . . . Die folgenreiche Homonymie von Essenz und Konkretem . . . . . . . . . . . Wo befindet sich die von der Materie abgetrennte Form ? . . . . . . . . . . . .
49 51 53 55 59 62
Kapitel 8 Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
8.1 Aristoteles’ Bestimmung der Form als Essenz in der Metaphysik entspricht nicht den Vorgaben aus der Topik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 In Met. Zeta 4 ist die Essenz sowohl Ausgesagtes als auch Vorliegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Der logos tou eidous ist der definitorische Ausdruck, der die Form angibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Substanz als logos ist materiefrei und hat keine Entstehung . . . . . . . . . .
65 67 70 73
Kapitel 9 Materiegebundene Form und materiegebundener logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
9.1 Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Form: die materielose und die materiegebundene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Materiegebundene Formen sind keine individuellen Formen, sondern solches wie die Stupsigkeit der Nase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Entstehende und veränderliche Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 So genannte logoi enhyloi sind Definitionen, die die Materie miteinbeziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79 81 83 84
Kapitel 10 Fazit und Problemausweitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
10.1 Die Substanz ist eine ausgesagte Seinsweise, nämlich diejenige, die von einer Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt wird; somit ist die Substanz der Aussageinhalt des Definiens . . . . . . . . . . . . . . 87 10.2 Substanz als Seins- und Entstehungsursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Inhalt 7
Kapitel 11 Die Vereinigung von Seinsursache und Entstehungsursache bei Aristoteles . 91
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
Die Unterscheidung beider Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Die vermeintliche Konfusion beider Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Aristoteles’ Kritik an der Ursachenlehre des Phaidon . . . . . . . . . . . . . 93 Aristoteles’ Essenz versus Empedokles’ Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Der Zweck als Seins- und Entstehungsursache in Zeta 17 . . . . . . . . . . 98 Der Zweck als primäre Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Kapitel 12 Unzureichende Begründungen dafür, dass die Form Ursache ist . . . . . . . . . . . 109
12.1 Erklärungsversuche zur Frage, weshalb die Form Naturprinzip ist . 12.2 Physik I 7, 190b17 – 23 erklärt nicht, weshalb die Form Naturprinzip ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Auch Physik II 7, 198a14 – 18 erklärt nicht, weshalb die Form Naturprinzip ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Argumentiert Aristoteles in Physik II 1 dafür, dass die Form Natur ist ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Die Gleichsetzung von physis und ousia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Das erste Argument für die Form als Naturprinzip (193a28–b5) . . . 12.7 Natur und Entstehungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8 Die Übernahme des Formprinzips von Empedokles . . . . . . . . . . . . . . 12.9 Das zweite Argument für die Form als Naturprinzip (193b8 –12) . . . 12.10 Das dritte Argument für die Form als Naturprinzip (193b12 –18) . . .
110 111 114 116 118 119 123 123 125 126
Kapitel 13 Die Angabe des Zwecks als Definiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
13.1 13.2
Aristoteles’ Vorgehen in Physik II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Der Naturforscher hat primär den Zweck in den Blick zu nehmen 133
Kapitel 14 Weshalb die aristotelische Form logos sein muss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Die vorliegende Arbeit stellt eine für den Druck überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift dar, die im Sommer 2011 an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich eingereicht wurde. Besonders danken möchte ich Peter Schulthess, ohne den diese Arbeit so nie entstanden wäre (was nicht heißt, dass er allem zustimmen würde), sowie der Paul Schmidt Gedächtnisstiftung für ihren großzügigen Druckkostenzuschuss.
Kapitel 1 Aristoteles’ Bestimmung der Form und Substanz als logos
Zu beginnen ist mit einer Merkwürdigkeit, und sie verständlich zu machen, ist das Vorhaben dieser Untersuchung. Aristoteles bestimmt die Form, Substanz und Ursache als logos (Met. I 9, 993a15 – 24; VII 15, 1039b20 – 22; VIII 1, 1042a17; Physik II 1, 193b1 – 2; II 3, 194b26 – 29 = Met. V 2, 1013a24 – 29). Wie ist das zu verstehen? In seiner gängigen Bedeutung meint logos eine sprachliche Äußerung oder ihren Inhalt, und auch bei Aristoteles ist ein logos in aller Regel etwas, das ausgesagt wird. Wie kann etwas Ausgesagtes Substanz und Ursache sein? Er spricht auf eine Weise von der Substanz als logos, als wäre vollkommen klar, weshalb dies so ist. Es geht im Folgenden daher um die Erklärung eines Umstands, den Aristoteles als selbstverständlich ansetzt, weshalb die stillschweigenden Voraussetzungen herauszuarbeiten sind, die bei ihm zu dieser Bestimmung führen. In der Literatur zu Aristoteles wird die Frage, inwiefern der logos Substanz und Ursache sein kann, entweder überhaupt nicht behandelt oder mit der Mehrdeutigkeit des Ausdrucks logos beantwortet. Der Ausdruck meint dann, so die Ansicht, im besagten Falle nichts Sprachliches wie die Definition oder deren Inhalt, sondern etwas, das an einem konkreten Gegenstand vorliegt. Dieser Lösungsansatz ist naheliegend, aber aus zwei Gründen nicht befriedigend. Erstens dient der Ausdruck logos bei Aristoteles der Bestimmung der Substanz. Diese Bestimmung wäre unsinnig, wenn logos in diesem Kontext uneindeutig ist. Zweitens bestimmt Aristoteles die Substanz nicht einfach als logos, sondern er sagt sogleich, was er unter logos verstanden wissen will, nämlich die Angabe dessen, was etwas ist, sprich, das Definiens (siehe Met. VII 15, 1039b20 in Verbindung mit 1040a9 – 10; Met. VIII 1, 1042a17 und vor allem Physik II 1, 193b1 – 2; II 3, 194b26 – 29). Daher ist davon auszugehen, dass die Substanz, insofern sie als logos bestimmt wird, das von einer Sache ausgesagte Definiens ist. Das klingt zunächst absurd. In der nachfolgenden Untersuchung wird es darum gehen, dieser Bestimmung die Absurdität zu nehmen. Es liegt auf der Hand, dass dadurch Aristoteles’ Ontologie teils in ein neues Licht gerückt wird, weil sich zeigen wird, dass die für uns heute so geläufige Trennung von Sprache und Welt auf Aristoteles’ Ontologie nur bedingt anwendbar ist. Gerade in der aktuellen Zeit, wo bestimmte philosophische Strömungen den Anschein vermitteln, als sei es reine Geschmacksfrage, was man als real gegeben erachtet, sei einmal mehr daran erinnert, dass Aristoteles seine Ontologie allein an der natürlichen Sprache ausrichtete. Weil dieser
10
Kapitel 1
Umstand selbst von Aristotelikern teils übersehen wird, bereitet der Gedanke, die Substanz der Dinge sei logos, solche Mühe. Die Untersuchung hat zwei Teile. Erstens gilt es herauszuarbeiten, aus welchen Gründen Aristoteles ohne weitere Erläuterungen angeben kann, die Substanz im Sinne der Form sei logos. Zweitens gilt es zu zeigen, inwiefern die Substanz der Dinge auch ihr Entstehungsprinzip ist. Wenn Letzteres gilt und zuvor gezeigt wurde, inwiefern die Substanz logos ist, wird deutlich sein, weshalb Aristoteles den logos als Entstehungsprinzip anführen kann. Zunächst wird der fragliche logos einzugrenzen sein (Kapitel 2). Danach gilt es zu zeigen, dass in Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos zwar eine harmlose Mehrdeutigkeit vorliegt, eine andere, durchaus problematische aber nicht (Kapitel 3). Stattdessen gibt es eine grundsätzliche Annahme in Aristoteles’ Denken, die erklärt, weshalb der logos als etwas Ausgesagtes Substanz sein kann, nämlich die Annahme, alles wahr Ausgesagte (to katêgoroumenon) sei eine Seinsweise. Das unterläuft die von uns heute gezogene scharfe Grenze zwischen Sprache und Welt. Wie sich zeigen wird, ist gerade die aristotelische Form im Sinne des ti ên einai etwas ausgesagtes Seiendes (Kapitel 4). Um den Unterschied von Sprache und Welt aufrechtzuerhalten, wurde vorgeschlagen, die Rede von der Substanz als logos so zu interpretieren, dass es hierbei um die den Gegenstand konstituierende Struktur geht. Weshalb dieser Vorschlag unbefriedigend ist und in die falsche Richtung weist, ist ausführlich darzulegen (Kapitel 5). Für eine Begründung des Gedankens, dass die Ursache der Naturdinge der logos ist, wird zu berücksichtigen sein, dass Aristoteles ihn bereits Empedokles zuschreibt. Diese Zuschreibung sowie Aristoteles’ Kritik an Empedokles sind ausführlich zu betrachten (Kapitel 6). Die Frage, weshalb die Substanz logos ist, hängt zusammen mit der Frage, weshalb Aristoteles die Form (eidos) als logos bestimmt, anstatt einfach von eidos zu sprechen. Diese Betrachtung verlangt nach einer Beantwortung der Frage, was Aristoteles mit dem Ausdruck chôriston kata logon meint, da diese Spezifizierung der Form mit ihrer Bestimmung als logos einhergeht (Kapitel 7). Danach wird zu klären sein, weshalb er die Form einerseits als logos bestimmt und andererseits vom logos der Form sprechen kann (logos tou eidous). Anders, als man vermuten könnte, beruht dies nicht auf einer Mehrdeutigkeit des Ausdrucks logos, bei der er einmal etwas Sprachliches meint und einmal etwas real Gegebenes (Kapitel 8). Mithilfe dieser Klärung lässt sich darlegen, was Aristoteles meint, wenn er von der materialisierten Form und dem materialisierten logos spricht. Er meint damit nicht eine im Einzelding konkretisierte Form, sondern eine Form, die per definitionem an die Materie gebunden ist (Kapitel 9). Die Kapitel 2 bis 9 bilden insofern eine Einheit, als die generelle Frage darin lautet, was es meint, dass die Substanz logos sei. In Kapitel 10 ist kurz darzulegen,
Aristoteles’ Bestimmung der Form und Substanz als logos
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dass für Aristoteles die Substanz eine Ursache ist und daher auch der logos Ursache sein muss. Aber in welcher Hinsicht lässt sich von der Substanz überhaupt sagen, sie sei Ursache? Ist sie nur Seinsursache oder auch Entstehungsursache? Dies ist eingehend zu betrachten, da sich der Verdacht äußern lässt, Aristoteles unterscheide gar nicht zureichend zwischen beiden Ursachentypen. Dass er die Unterscheidung durchhält, die Substanz aber beides ist, Seins- und Entstehungsursache, ist ausführlich darzulegen (Kapitel 11). Weshalb ist die Substanz, und das meint dann die Form bzw. der logos, Entstehungsursache? Es gibt in der Literatur eine Reihe von Antworten hierauf, die sich als unzureichend erweisen werden. Zudem gibt es einige Passagen, in denen Aristoteles vermeintlich dafür argumentiert, dass die Form eine Entstehungsursache der Naturdinge ist, und es wird zu zeigen sein, dass es sich nicht um Argumente in dem Sinne handelt, dass sie die Notwendigkeit einer Formursache beweisen (Kapitel 12). Eine Betrachtung von Aristoteles’ Vorgehen in Physik II wird stattdessen deutlich machen, dass die Form insofern Entstehungsursache ist, als sie das Ende und damit den Zweck der Entstehung bildet. Die Form und damit der logos sind Entstehungsursache vor dem Hintergrund von Aristoteles’ Naturlehre (Kapitel 13). Für eilige Leser bietet sich das letzte Kapitel 14 an, das als Zusammenfassung den abgekürzten Erklärungsweg dafür bietet, weshalb die Substanz logos ist. Zudem legt es dar, dass eine Ablehnung dieser Substanzbestimmung tiefer ansetzen muss, nämlich bei einer Kritik an Aristoteles’ Formbegriff. Das siebte Buch von Aristoteles’ Metaphysik wird im Folgenden der angelsächsischen Tradition entsprechend Zeta genannt, das achte Eta. Es werden vor allem Teile von Zeta zur Diskussion kommen sowie das zweite Buch der Physik, dort insbesondere die Abschnitte I und II.
Kapitel 2 Eingrenzung des fraglichen logos
Zunächst ist einzugrenzen, um welche Art von logos es gehen wird. Es gibt kaum ein griechisches Wort, das so viele Bedeutungen hat. Der Liddell-Scott-Jones unterscheidet 57 Bedeutungen von logos. Logos bezeichnet jede Art von »Wort gefüge«, eine Rede, eine Erzählung, eine schriftliche Abhandlung, ein Argument, eine Erklärung oder ein Mythos, um nur einige Bedeutungen zu nennen. Allen gemein ist diesen logoi, dass sie aus mehr als einem Wort bestehen. Code wählt als Übersetzung für diesen weiten Sinn von logos den Ausdruck »complex phrase«. Besonders treffend an dem von Weidemann gewählten Ausdruck »Wortgefüge« ist allerdings seine semantische Neutralität sowie die Gewichtung der Komposition, die im Wort »Gefüge« zum Ausdruck kommt.1 Damit lässt sich der logos in einem ersten Schritt eingrenzen. Wann immer man etwas sagt und das Gesagte mehr als ein einfaches Nennwort ist (onoma), handelt es sich um einen logos. Das wird deutlich in Aristoteles’ De Int. 4, 16b26 - 5 u. 17a15, wo der logos die nächstgrößere Sinneinheit über dem Nennwort darstellt. Ein logos ist hinsichtlich seiner Länge unbeschränkt, weshalb Aristoteles auch Homers Illias als Beispiel für einen logos anführt (Zeta 4, 1030a9; Ana. post. II 10, 93b36). Der logos, um den es im Folgenden geht, ist die nächstgrößere Sinneinheit über dem onoma, nämlich dasjenige, was man Definiens nennt. Ein logos ist ein Definiens (horismos), wenn alle seine Teile von der Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt werden (vgl. etwa Zeta 4, 1029b19 – 20; in Ana. post. 93b35 – 37 grenzt Aristoteles das Definiens von solchen Wortgefügen ab, die er syndesmoi nennt). Wenn man von Sokrates sagt, er sei ein zweifüßiges Lebewesen, so ist dieses Wortgefüge das Definiens des Menschen. Der Ausdruck »Wortgefüge« bedarf allerdings der Präzisierung, um wiederzugeben, was Aristoteles unter einem logos versteht. Streng genommen geht es nicht um ein Wortgefüge im grammatischen Sinn, sondern um ein Prädikat gefüge. Grammatisch gesehen ist auch tis anthrôpos ein Wortgefüge, aber es ist für Aristoteles kein logos. Warum das so ist, lässt sich nur schwer beantworten.
Weidemann wählt den Ausdruck »Wortgefüge« für logos im Rahmen seiner Übersetzung von De Int. (Darmstadt 1994). Zu Alan Code siehe seinen Aufsatz ›On the Origins of Some Aristotelian Theses About Predication‹ in: J. Bogen / J. McGuire (Hgg.), How Things Are (Dordrecht 1985), 101 – 131, 111. 1
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Kapitel 2
Die Abtrennung des logos vom onoma in De Int. ist dabei auffallend vage und unbrauchbar für die vorliegende Frage, und zwar vor allem deshalb, weil sich Aristoteles nicht um eine Erläuterung bemüht, was er unter sêmainein versteht, das hier als »signifizieren« übersetzt werden soll. Die Teile des logos würden für sich genommen etwas signifizieren, die Teile des onoma hingegen nicht, so sagt er. So signifizieren die Teile des Namens Kallipos nichts, die Teile des logos kalos hippos hingegen schon (16a21 – 22). Das mag einleuchtend klingen, aber ist folglich »Hochhaus« oder »Schnellzug« ein logos, weil die einzelnen Worteile etwas signifizieren? Man mag geneigt sein zu sagen, jeder logos sei eine Aussage und als solche im Unterschied zum onoma wahr oder falsch. Aber Aristoteles unterscheidet den Aussage-logos in De Int. explizit vom Definiens (5, 17a8 – 16), und im Folgenden wird es um den logos im Sinne des Definiens gehen (Aristoteles nennt als Beispiel hierfür meist »zweifüßiges Lebewesen«, wie etwa in 17a13). Folglich wäre der gesuchte logos ein Prädikatgefüge, ohne dass damit gesagt wird, wann etwas ein einfaches Prädikat ist und wann ein Prädikatgefüge. Aristoteles lässt diese Frage einfach offen. Natürlich kann man sagen, dass seiner Auffassung nach nur ein logos anzugeben vermag, was etwas ist, ein einfaches onoma hingegen nicht. Aber das ist keine zureichende semantische Unterscheidung, und zudem unterläuft Aristoteles diese Unterscheidung, etwa wenn er angibt, die letzte Differenz gebe zureichend an, was etwas ist, weil die Gattung redundant sei (Zeta 12, 1038a25 – 26). Die Differenz ist kein logos, sondern ein einfaches onoma. Auch ist »Prädikatgefüge« nicht so zu verstehen, dass es sich um eine Verbindung zweier kategoroumena handelt. Das Definiens ist für Aristoteles ein einfaches katêgoroumenon, das er in Topik I 4 – 8 als semantisch gleichwertig behandelt mit der Gattung und dem Proprium (siehe zur Benennung des Definiens als katêgoroumenon Topik I 8, 103b7 – 10). Für das Definiens lässt sich wenigstens sagen, dass es ein besonderes Prädikatgefüge ist. Der logos ›bleicher Mensch‹ enthält Prädikate aus der Kategorie der Qualität und der Substanz, das Definiens ›zweifüßiges Lebewesen‹ enthält zwei Prädikate aus der Kategorie der Substanz. Damit erhalten wir eine zweite Bestimmung des Definiens: Ein logos ist dann ein Definiens, wenn sämtliche seiner Prädikate der Kategorie der Substanz zufallen. Genau dann werden sie von der Sache als von ihr selbst her ausgesagt (kath’ hauto legetai). Zu sagen, das Definiens sei ein Prädikatgefüge, meint auch, dass der hier fragliche logos keinen Aussagesatz darstellt, was von den Interpreten nicht immer gesehen wurde. Bereits bei Platon findet hierzu eine Verschiebung statt. Im Theaitetos wird der logos als Verknüpfung von Nennwörtern bestimmt (202b), im Sophistes hingegen generell als Verknüpfung von Nennwort und flektiertem
Eingrenzung des fraglichen logos
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Verb, eine Bestimmung, die dem jungen Theaitetos nach eigenem Bekunden noch fremd ist (262a–c). In der Theaitetos-Passage liegt der Fokus auf dem Definiens, die Sophistes-Passage hingegen hat den Aussagesatz im Sinn.2 Aristoteles übernimmt diese beiden Bestimmungen von logos von Platon und führt sie parallel in De Int. 16b26 – 17a37 an. Zunächst gibt er an, ein logos bestehe aus Nennwort und flektiertem Verb, um dann jene logoi, die nur aus Nennwörtern bestehen, von der Diskussion auszuschließen.3 Nun sind gerade diese logoi, die in De Int. nicht behandelt werden, diejenigen, um die es in der Folge geht, nämlich definierende logoi wie »zweifüßiges Lebe wesen«. Sie antworten auf die Frage, was etwas ist, haben aber spätestens seit dem letzten Jahrhundert einen schwierigen Stand in der Philosophie. Das hat nicht nur mit der allgemein kritischen Sicht auf die Definition zu tun, die etwa bei Robinson zum Ausdruck kommt.4 Es ist eine grundlegende Ansicht der frühen analytischen Philosophie, dass der Aussagesatz die kleinste sprachliche Sinneinheit bildet. Ein logos wie »zweifüßiges Lebewesen« ist kein Satz und daher auch keine Aussage. Er hat keine behauptende Funktion. Diese Überlegung ist nicht neu und lässt sich in der angeführten Stelle von Platons Sophistes wiederfinden. Das hält Aristoteles aber nicht davon ab, diesen logos, der im modernen Sinne Sophistes 261d–263d. Für Platon sagt De Rijk allgemein, aber vermutlich motiviert durch die Sophistes-Stelle: »For Plato, a logos is a significative expression which consists of a name (onoma) and an attribute (rhêma) or names and attributes.« Den logos, um den es mir geht, scheint er abzuhandeln unter »any logos itself consisting of those (two or more) onomata […] may be used also for referring to an entity […] or descriptively« und kann ihm wenig abgewinnen, weil er dem logos vorrangig die »states of affairs« gegenüberstellen will, siehe L. M. De Rijk, ›Logos and Pragma in Plato and Aristotle‹ in: L. M. De Rijk u. H. Braakhuis (Hgg.), Logos and Pragma – Essays on the Philosophy of Language in Honour of Professor Gabriel Nuchelmans (Nijmegen 1987), 27 – 61, 27 – 28 sowie 31 – 33 u. 39. Der Sache nach wiederholt er dies in Aristotle – Semantics and Ontology I (Leiden 2002), 85, wenn er angibt: »[…] since the λόγος by itself is already a composite expression combining an ὄνομα and a ῥῆμα, making up a συνκείμενον.« 3 Daher ist es unzutreffend, wenn Ackrill logos in diesem Kontext als statement übersetzt. Zu Recht sagt Wieland mit Blick auf diese Passage: »Hier zeigt sich nämlich, daß die Rede (λόγος) keineswegs auf die Aussage beschränkt ist.«, W. Wieland, Die aristotelische Physik (Göttingen 1962), 165. Gelungen scheint mir Boethius’ Vorgehen, hier eine Mehrdeutigkeit von logos geltend zu machen und daher die beiden Termini ratio und oratio einzusetzen, den ersten für das Definiens, den zweiten für den Aussagesatz, siehe seine Übersetzung der Kategorien in Aristoteles latinus 2, 1 – 2 (ed. Minio-Paluello), 8, 14 – 19. Auch an anderer Stelle bei Aristoteles, Poet. 20, 1457a24 – 27, wird deutlich, dass nicht alle logoi Aussagesätze sind. Das scheint Ax übersehen zu haben, wenn er mit Blick auf diese Schrift sagt, logos stehe bei Aristoteles entweder für einen »Satz« oder einen »Text (z. B. die Illias)«, siehe W. Ax, Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie (Göttingen 1986), 133 – 134. 4 Mit Blick auf die Was-Frage und die darauf antwortende Realdefinition urteilt Robinson: »And the confusedness of the concept of real definition is an effect ot the vagueness of the formula ›What is x?‹ For it is the vaguest of all forms of question except an inarticulate grunt.«, R. Robinson, Definition (Oxford 1954), 190. 2 Siehe
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Kapitel 2
keine Aussage darstellt, an prominenter Stelle in der Physik und Metaphysik als Aussage auftreten zu lassen. Das, was von einer Sache als von ihr selbst her gesagt wird, sind Substanzprädikate. Das Definiens ist deshalb nicht gleichzusetzen mit der Definition. Die Defini tion ist streng genommen ein vollständiger Aussagesatz, bestehend aus Definiendum und Definiens, etwa »Der Mensch ist ein zweifüßiges Lebewesen«. Hingegen ist das Definiens »zweifüßiges Lebewesen« kein Satz.5 An dieser Stelle ließe sich einwenden, die Angabe des Definiens »zweifüßiges Lebewesen« sei eine Ellipse der ganzen Definition, indem sie sich auf eine Frage bezieht: Was ist ein Mensch? – Ein zweifüßiges Lebewesen. Entscheidend wird aber sein, dass nur derjenige Satzteil, den ich Definiens genannt habe, Platon und Aristoteles zufolge in Analogie zur Sache steht. Die Teile des Definiens sind analog zu den Teilen der zu definierenden Sache. Diese Analogie setzt Aristoteles in Zeta 10, 1035b20 – 22 voraus. Sie hat ihren Vorläufer im sokratischen Traumvortrag von Platons Theaitetos, wo Theaitetos angibt, der logos der Silbe ›SO‹ sei ›S und O‹.6 Es ist in der Tat so, dass das Definiens, herausgelöst aus dem dialektischen Kontext, für sich betrachtet nichts aussagt. Nur als Antwort auf die Was-Frage Dass im Falle des logos eine Unterscheidung zwischen Definition und Definiens wichtig ist, führt bereits De Rijk gegen Ross an, siehe L. M. De Rijk, Plato’s Sophist – A Philosophical Commentary (Amsterdam 1986), 115 – 116, n. 8. Ein Beispiel für das Vorgehen, das aristotelische Definiens als Aussagesatz wiederzugeben, findet sich etwa bei Denyer, der in Bezug auf den logos in Met. 1024b29 – 34 sagt: »For by ›a logos of a thing‹ you might mean a statement of a thing’s essence […] ›Socrates is a rational animal‹ would be, in this sense, the one and only logos that belongs to him«, N. Denyer, Language, Thought and Falsehood in Acient Greek Philosophy (London 1991), 28. 6 Vor über einem halben Jahrhundert hat Ryle die Ansicht geäußert, logos meine im Traumvortrag statement, eine Interpretation, die von Hicken nur wenig später zu Recht angezweifelt wurde. G. Ryle, ›Plato’s Parmenides II‹, in: Mind 48 (1939), 317; ebenso in ›Logical Atomism in Plato’s Theaetetus‹, in: Phronesis 35, 1 (1990), 21 – 46, 24 u. 34. Zu Hicken siehe W. Hicken, ›The Character and Provenance of Socrates’ Dream in the Theaetetus‹, in: Phronesis 3 (1958), 126 – 145, 130. Trotz ihrer Kritik an Ryle’s Interpretation hat sich die Ansicht, logos meine im Traumvortrag einen Aussagesatz, bis heute gehalten, etwa bei Fine, De Rijk und Wakijo. So bestimmt Fine den fraglichen logos wie folgt: »logos here must be logos-k«, wobei dies verstanden werden soll als logos im Sinne von »something like ›explanation‹ or ›account‹«, und dies wiederum als »S has adequate justification or grounds for believing that p«. Siehe G. Fine, ›Knowledge and Logos in the Theaetetus‹, in: The Philosophical Review 88, 3 (1979), 366 – 397, 371 u. 374. De Rijk sagt allgemein zum Theaitetos: »It is commonly believed that from the Theaetetus and Sophistes onwards logos stands for ›statement‹ (›Satz‹) of the well-known ›S is P‹ structure«, Plato’s Sophist – A Philosophical Commentary, 306. Wakijo gibt an, logos meine im Traumvortrag »something that takes the form of a sentence or a statement«, Y. Wakijo, ›With and Without Logos: An Interpretation of Socrates’ Dream in the Theaetetus‹, in: Apeiron 39 (2006), 33 – 56, 36. Bereits Bostock hat in seinem Kommentar mehrere gute Gründe gegen diese Interpretation vorgebracht, von denen der wichtigste bereits genannt wurde: Theaitetos bestimmt wenig später in der Diskussion des Traumvortrags den logos der Silbe ›SO‹ als ›S und O‹, und das ist sicher kein Aussagesatz. Siehe D. Bostock, Plato’s Theaetetus (Oxford 1988), 206 – 207. 5
Eingrenzung des fraglichen logos
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hat es einen Aussagecharakter.7 Man kann einwenden, der Kontext mache nicht nur aus dem Definiens eine Aussage, sondern auch aus Prädikaten und Kennzeichnungen. So lässt sich auf die Frage, wer jemand ist, antworten ›Die Sitzende‹. Daher ist einschränkend zu sagen, dass es in der Folge nur um Antworten auf die Was-Frage geht, und zumindest Aristoteles ist der Ansicht, dass einfache Prädikate wie »Mensch« hierfür nicht geeignet sind.8 Es reicht allerdings nicht aus, das Definiens nur als dasjenige zu bestimmen, das angibt, was etwas ist. Aristoteles macht deutlich, dass die so genannte Essenz (to ti ên einai) auch angibt, warum etwas ist. In diesem Zusammenhang ließe sich sagen, Aristoteles nenne das Definiens in der Regel nicht logos, sondern horismos. Aber diese Regel ist nicht ohne Ausnahmen und oft benennt er das Definiens einfach als logos. In seiner zusammenfassenden Bestimmung der Substanz als logos nennt er beide Ausdrücke: logos ho horismos (Eta 1, 1042a17). Daher ist zu vermuten, dass die Rede vom logos im Sinne des Definiens die Kurzform für logos ho horismos darstellt. Einzelheiten hierzu sind später zu betrachten. Festzuhalten ist, dass der definierende logos in der Zeit nach Aristoteles an Bedeutung verlor, was wohl auch am allgemeinen Niedergang der Dialektik lag. Bereits Platon und Aristoteles geben die sokratische Dialektik ein Stück weit auf, Platon zugunsten der Dihairese, Aristoteles zugunsten des wissenschaftlichen Beweisens. In einem abwertenden Sinne könnte man daher sagen, der fragliche logos sei ein sokratisches Relikt. Dennoch ist er für die aristotelische Physik und Metaphysik von immenser Bedeutung. Er ist Substanz und Ursache der Einzeldinge. Und dieser Umstand macht es wert, sich eingehend mit ihm zu befassen.9 Die Moderne hingegen folgt der stoischen Ausrichtung am Aussagesatz. Mit Albin ließe sich diese Art logos auch als dialogos benennen, nämlich im Sinne eines logos, der auf die Was-Frage antwortet. Siehe zu Albin Introductio in Platonem (ed. Hermann) 2, 1 – 6: Λόγος μὲν οὖν λέγεται ὁ διάλογος καθάπερ ὁ ἄνθρωπος ζῶον […] ἴδιον τοῦ διαλόγου ἐρωτήσεις καὶ ἀποκρίσεις· ὅθεν ὁ λόγος ἐξ ἐρωτήσεως εἶναι λέγεται. 8 Zwar erwägt Platon im Kratylos die Möglichkeit, dass ein einfaches Nennwort imstande ist, das Wesen einer Sache anzugeben, doch wie dies geschehen soll, bleibt vage, siehe 388c1: Ὄνομα ἄρα διδασκαλικόν τί ἐστιν ὄργανον καὶ διακριτικὸν τῆς οὐσίας. 9 Soweit ich sehen kann, spielt das dialektische Definiens bei den Stoikern keinerlei Rolle, weil eben das Definieren keine Rolle spielt. Daher ist Mates’ Aussage über die stoische Verwendung von logos einzuschränken, wenn er sagt: »This word was used in its ordinary wide sense by the Stoics«, siehe B. Mates, Stoic Logic (Berkeley 1961), Appendix B, 134. Die Bedeutung von »Definiens«, die der Ausdruck logos bei Platon und Aristoteles hatte, tritt in den erhaltenen stoischen Quellen nicht auf. Wenn Rist behauptet, unter die »incomplete lekta« würden auch die Kategorien fallen im Sinne von »predicates«, so ist zumindest sein Verweis auf Diog. Laert. VII 63 unzureichend, denn das dort beispielhaft angeführte katêgorêma ist kein Prädikat im allgemeinen Sinne, sondern ein flektiertes Verb. Damit wären für die Stoiker die lekta ellipê primär Satzteile, denn das Verb ›schreibt‹ verlangt nicht nach einer Frage, sondern nach einem onoma und ist in diesem Sinne elliptisch, vgl. Peri herm. 3, 16b6 – 21. Somit fällt das Definiens nicht unter das, 7
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Kapitel 2
Spätestens seit Frege herrscht die Ansicht, unterhalb der Satzebene gebe es nichts von philosophischer Relevanz. So sagt etwa Tugendhat, »[…] daß die primäre logische – und wie man ergänzen kann: auch die primäre ontologische – Einheit, hinter die niemand ohne Schaden zu nehmen zurück kann, der Satz ist«.10 Aristoteles’ Metaphysik geht hinter diese Einheit zurück, und ob sie dadurch Schaden nimmt, wird zu betrachten sein.11
woran die Stoiker bei den lekta ellipê denken. Siehe zu J. M. Rist, ›Categories and their Uses‹, in: A. A . Long (Hg.), Problems in Stoicism (London 1971), 38 – 57, 40. Auch in Bobziens Analyse der genannten Diogenes-Stelle wird deutlich, dass es hier nicht um solche logoi wie das Definiens gehen kann, siehe S. Bobzien, ›Logic‹ in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by B. Inwood (Cambridge 2003), 85 – 123, bes. 86 – 87. 10 E. Tugendhat, ›Das Sein und das Nichts‹, in: ders., Philosophische Aufsätze (Frankfurt a. M. 1992), 36 – 66, 57. 11 Für Denker der analytischen Tradition, die einen Essentialismus ablehnen (etwa Russell), wäre das aristotelische Definiens vermutlich eine pseudo-definite description, weil es nicht einmal für eine Identifikation taugen würde. Hintikka untersucht, ob Ausdrücke, die für sich genommen kein Satz sind, epistemisch zureichend sein können. So fragt er, ob man auf die Frage »Who killed Roger Ackroyd« epistemisch zureichend mit einem »proper name« oder einer »definite description« antworten kann. Er verneint dies, da er der Ansicht ist, in der fraglichen Antwort habe der Term d möglicherweise verschiedene Referenzen, weshalb die Antwort, die lediglich aus Term d besteht, nicht notwendig den Mörder von Roger Ackroyd kennzeichne. Siehe J. Hintikka, ›Questioning as a Philosophical Method‹, in: J. Hintikka / M. B. Hintikka, The Logic of Epistemology and the Epistemology of Logic – Selected Essays (Dordrecht 1988), 215 – 233, 216 – 217. Denselben Einwand macht er in etwas anderer Form geltend in Socratic Epistemology. Explorations of Knowledge-Seeking by Questioning (Cambridge 2007), 14 – 15.
Kapitel 3 Problemaufriss: Ist der logos in Met. Zeta ein Hybrid?
Gemäß der soeben angeführten Bestimmung ist der logos im Sinne des Definiens Substanz. Aber ist das möglich? So schreibt etwa jüngst Peramatzis zur Definition: A form’s definition is a linguistic or conceptual item and so is neither a realworld natural (type of) object nor an essential feature of any object. Rather, it is a linguistic or conceptual formula that has parts of similar linguistic or conceptual nature.12
Wenn Peramatzis recht hat, und das Definiens bei Aristoteles nur ein »lingu istic or conceptual item« ist, dann wäre folglich auch die Substanz im Sinne der Form nur etwas Sprachliches oder Begriffliches. Sie ist aber zweifelsfrei primär Seiendes, was sich von etwas rein Sprachlichem oder Begrifflichem nur schwer denken lässt, zumal mit Blick auf einen Denker wie Aristoteles, der Platons Ideen entschieden ablehnt. Es liegt daher auf der Hand, dass der logos in Zeta und Eta mehr meinen muss als etwas nur Sprachliches oder Begriffliches. Der Punkt ist jedoch, dass wir meinen, das Definiens sei nichts als ein sprachlicher Ausdruck, während es von Aristoteles als Seinsweise verstanden wird. Dies wird die Folge zeigen.
3.1 Eine vermeintliche Mehrdeutigkeit: logos meint sowohl das D efiniens als auch das Definiendum
In Met. Zeta erhält man den Eindruck, logos meine zweierlei: Einerseits ist der logos Substanz und Form, andererseits dasjenige, was von der Substanz und Form ausgesagt wird. Diese Mehrdeutigkeit des Ausdrucks logos haben bereits Frede/ Patzig in ihrem Kommentar zu Zeta angeführt. Deutlich wird sie etwa an folgender Stelle in Zeta: Da es sich beim Konkreten und der Formel um verschiedene Arten von ousia handelt (damit meine ich, dass die eine in der Weise ousia ist, dass bei ihr die Formel zusammen mit der Materie miteinbezogen ist, während die andere die Formel überhaupt ist), so gilt, dass es von den Dingen, die auf die erstere Art als ousia bezeichnet werden, ein Vergehen gibt. (Übersetzung Frede/Patzig)13 12 13
M. Peramatzis, Priority in Aristotle’s Metaphysics (Oxford 2011), 41. 1039b20 – 23: Ἐπεὶ δ’ ἡ οὐσία ἑτέρα, τό τε σύνολον καὶ ὁ λόγος (λέγω δ’ ὅτι ἡ μὲν οὕτως
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Kapitel 3
Es sieht nicht so aus, als könne logos hier die Bedeutung von »Definiens« haben oder von sonst etwas, das ausgesagt wird. Andererseits ist unbestreitbar, dass in anderen Stellen von Zeta vom logos der Form und der Essenz die Rede ist. Der Ausdruck logos muss dort etwas meinen, das ausgesagt wird (1029b20, 1030a6 – 7, 1035a4, a21, a29). Mit Blick auf die zitierte Passage aus Zeta 15 machen Frede/Patzig geltend, logos meine jetzt zweierlei: das Ausgesagte und dasjenige, wovon etwas ausgesagt wird: Aristoteles verwendet hier ›Formel‹ im Sinne von Form, obschon, genau genommen, die Form das ist, was durch die Formel spezifiziert wird.14
Frede/Patzigs Formulierung ist vage, denn sie können mit der Feststellung, die Form werde durch den logos (»Formel« bei Frede/Patzig) spezifiziert, zweierlei meinen: erstens, dass der logos von der Form ausgesagt wird, oder zweitens, dass die Form der Aussageinhalt ist, auf den sich der logos als sprachlicher Ausdruck bezieht. Letztere Unterscheidung von Ausdruck und Inhalt ist nicht unwichtig im Zusammenhang mit Zeta, aber dass Frede/Patzig an das Erstere denken, macht eine andere Passage in ihrem Kommentar deutlich. In ihrer Kommentierung der soeben angeführten Passage weisen sie zurück auf ihre Anmerkungen zu 1035a4 und b29. Zu diesen Passagen sagen sie: (i) Dieser Ausdruck [logos] steht hier für die Form. Damit wird der zu Anfang des Kapitels scharf gezogene Unterschied zwischen der Formel und der Sache, deren Formel sie ist, verwischt. (ii) Das ist deshalb möglich, weil sich der Ausdruck »Formel« (λόγος) bei Aristoteles sowohl auf den sprachlichen Ausdruck als auch auf dessen Bedeutung beziehen kann. (iii) Da sich die Formel in erster Linie auf die Form bezieht, kann also auch die Form selbst als Formel der Sache bezeichnet werden und umgekehrt (vgl. b5, b13, b26, b29), und genauer als Formel der Form, um sie von der Formel des Konkreten zu unterscheiden.15
In (ii) wird die Feststellung geäußert, logos meine sowohl den sprachlichen Ausdruck als auch dessen Bedeutung. Dass diese Mehrdeutigkeit harmlos ist, wird die Folge zeigen. Hingegen sagen Frede/Patzig in (i), sie verwische den Unterschied zwischen logos und Definiendum. Warum? Wie sie in (iii) behaupten, bezieht sich der logos auf die Form, und das meint wohl, dass die Form nicht der Aussageinhalt ist, sondern das Definiendum. Wenn daher die Form das Definiendum ist und ἐστὶν οὐσία, σὺν τῇ ὕλῃ συνειλημμένος ὁ λόγος, ἡ δ’ ὁ λόγος ὅλως), ὅσαι μὲν οὖν οὕτω λέγον ται, τούτων μὲν ἔστι φθορά. 14 M. Frede/G. Patzig, Aristoteles ›Metaphysik Z‹, Text, Übersetzung und Kommentar, 2 Bde. (München 1988), in der Folge abgekürzt als FP, hier II, 281. 15 FP, II, 173.
Problemaufriss: Ist der logos in Met. Zeta ein Hybrid?
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Aristoteles den logos mit der Form identifiziert, dann wäre in der Tat unter logos auch das Definiendum zu verstehen. Frede/Patzig geben zu Recht zu bedenken, dies unterlaufe Aristoteles’ eigene Unterscheidung von logos und Sache. Wie also ist es zu erklären, dass logos beides meint und damit die Unterscheidung von Sprache und Welt gefährdet? Ich werde einen radikal anmutenden Vorschlag unterbreiten, der im Grunde aber wenig innovativ ist. Der Ausdruck logos meint nicht beides, denn dann würde Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos kaum präzisierend sein. Vielmehr ist es ein und derselbe logos, der ausgesagt wird und vorliegt, so wie es ein und dieselbe Form ist, die von der Materie ausgesagt wird und an ihr vorliegt. Dies wird sich in Kapitel 4 zeigen. Es gibt einen anderen Versuch, den Umstand zu erklären, dass logos in Zeta sowohl etwas Sprachliches als auch etwas Reales meint. So schreibt Modrak: »In Metaphysics VII, Aristotle exploits the ambiguity of logos to display the common feature of a thought and its referent in the world. The logos actualized in matter is a composite substance, and the same logos realized in thought is a meaning. This is a puzzling doctrine but also by this point in our inquiry a familiar one.«16
Diese Aussage ist unklar. Zunächst sagt Modrak, der Ausdruck logos sei ambig, insofern er Gedankliches und Reales bezeichne. Dann hingegen sagt sie, beides sei derselbe logos. Wenn es wirklich derselbe logos ist, der im Denken vorliegt und in der Welt, dann wäre der Ausdruck logos hier nicht mehrdeutig, sondern bezeichnete ein und dieselbe Sache.17 Modrak würde womöglich einwenden, dass diese Unterscheidung nicht von Relevanz sei, da unsere Gedanken genau dasjenige repräsentieren, was für uns in der Welt vorliegt. Folglich herrsche eine Symmetrie zwischen dem sprachlichen, dem gedanklichen und dem real gegebenen logos. Ihre Untersuchung zum logos baut gerade auf dem semantischen Dreieck auf, wie Aristoteles es zu Beginn von De Int. darlegt. Nach meiner Auffassung vermag dieser semantische Ansatz nicht zu erklären, weshalb logos in Zeta sowohl Ausgesagtes als auch real Gegebenes ist. Wäre das semantische Modell aus De Int. Grundlage für Aristoteles Metaphysik, wie es Modrak geltend macht, so wäre diese revisionär, um Strawsons Ausdruck zu Modrak, Aristotle’s Theory of Language and Meaning, in der Folge abgekürzt als: [Meaning] (Cambridge 2001), 175. 17 Auch in einer späteren Arbeit hält sie die Frage, ob es um denselben logos geht oder nicht, in einer auffallenden Schwebe: »In Metaphysics Z, Aristotle exploits the ambiguity of logos in order to display the feature common to a thought and its referent in the world. The logos actualized in matter is a composite substance and the same logos realized in thought is a meaning.« ›Form and Function‹, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium of Ancient Philosophy 22 (2009), 111 – 135, 112. 16 D.
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Kapitel 3
bemühen, und sie wäre darüber hinaus naiv. Zu glauben, dass unser Denken dasjenige abzubilden vermag, was in der Welt vorliegt, und unsere Sprache wie derum unser Denken abbildet, ist eines. Aber zu glauben, dass diese Abbildung so vollständig und adäquat ist, dass sich darauf eine Metaphysik gründen lässt, wäre Aristoteles nie eingefallen. Dafür haben allein schon der Relativismus der Sophisten und Herakliteer gesorgt. Kurzum, Modraks Erklärungen beginnen am falschen Ende. Anstatt zu fragen, was wir über die Welt aussagen können, beginnt sie mit einer Darlegung dessen, wie die Realität in unser Denken gelangt und damit der real gegebene logos auch im Denken vorkommt.18 Im Unterschied zu Modraks Darstellung ist Aristoteles’ Metaphysik deskriptiv angelegt. Diese Metaphysik geht aus von unserer Sprache, in der Annahme ihrer Unhintergehbarkeit. So schließt Aristoteles etwa ausgehend von der prädikativen Struktur der Sprache darauf, dass es in der Welt Ausgesagtes gibt und solches, wovon etwas ausgesagt wird. Genau dieser Schritt begegnet uns im so genannten ontologischen Quadrat aus den Kategorien. Aristoteles teilt hier das Seiende ein in Ausgesagtes und solches, wovon etwas ausgesagt wird. Dass er seiner Untersuchung in Zeta die Kategorienlehre zugrunde legt, wurde etwa von Wedin nachgewiesen.19 Die kategorialen Aussageweisen sind allgegenwärtig in Zeta, mit Ausnahme der Abschnitte 7 – 9. Man mag daher Aristoteles »theory of meaning«, die Modrak zufolge zu Beginn von De Int. entwickelt wird, für sich genommen zustimmen. Aber sie liegt nicht den Überlegungen von Zeta zugrunde. Diese Theorie macht gegenüber Aristoteles’ Logik und Ontologie ein umgekehrtes Begründungsverhältnis geltend und damit auch in Zeta. In Zeta wird uns immer wieder der Umstand begegnen, dass das Ausgesagte etwas Seiendes ist. Dies beruht auf dem ontologischen Quadrat (siehe dazu Kapitel 4) und auf der grundsätzlichen Überlegung von Aristoteles, dass das wahr Ausgesagte etwas Seiendes ist. Die Rechtfertigung aus der genannten »theory of meaning« hingegen läuft in die genau gegensätz-
Zwei Beispiele hierzu aus ihrer Untersuchung. Mit Blick auf Ana. post. II 19 schreibt sie: »[T]he human mind is so related to the world that the mind is able to grasp the basic categories of reality.«, siehe [Meaning], 6. Mit den »basic categories« kann sie nicht die aristotelischen Kategorien meinen, da von ihnen in Ana. post. II 19 nicht die Rede ist und Aristoteles auch sonst nie sagt, dass diese vom Intellekt erfasst werden. Zum logos fügt sie an: »Because the mind is such that it is affected by the external logos presented in perception, the logos that is grasped at the end of the inductive process is, in favored cases, the real essence of the substance in question.« [Meaning], 7. Sie scheint anzunehmen, dass die Essenz der Dinge durch Induktion erfasst wird, eine Feststellung, die zur Darstellung in Zeta nicht passt, vgl. etwa 10, 1036a1 – 8. Aristoteles stellt hier ausdrücklich das Erfassen durch den nous und die Wahrnehmung dem Erfassen durch den logos gegenüber, und die Essenz wird seiner Aussage gemäß nur durch Letzteres erfasst. 19 M. Wedin, Aristotle’s Theory of Substance (Oxford 2000), 158 – 172. 18
Problemaufriss: Ist der logos in Met. Zeta ein Hybrid?
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liche Richtung, dass nämlich alles Seiende auch ausgesagt werden kann, insofern unsere Gedanken die Realität widerspiegeln. Diese Theorie geht davon aus, dass für Aristoteles die Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen und mit dem Denken erfassen (wie es also den pathemata der Seele entspricht). In Wirklichkeit aber ist für Aristoteles die Welt so, wie wir uns redend und aussagend auf sie beziehen. Auch geht Modrak davon aus, dass unsere Aussagen, sofern sie wahr sind, mit der Welt korrespondieren. Das mag richtig sein, ist für Aristoteles’ Metaphysik aber nicht von Belang. In dem nachfolgenden Kapitel geht es mir um eine Darlegung, weshalb die aristotelischen Prädikate (d. h. die katêgoroumena) Seiendes sind. Sie korrespondieren nicht mit Eigenschaften in der Welt, sondern sind selbst Seiendes. Aristoteles’ Metaphysik kennt nur Form und Materie, und das meint, logisch gesprochen, Ausgesagtes und Subjekt. Daher korrespondiert nicht eine ausgesagte Form mit einer real gegebenen, sondern die ausgesagte Form ist dasjenige, was es gibt. Das mag absurd klingen, weshalb es auch darum gehen wird, diese Auffassung plausibel zu machen.
3.2 Eine harmlose Mehrdeutigkeit: logos meint sowohl den sprachlichen Ausdruck als auch den Aussageinhalt
Wie oben angemerkt, gibt es zwei Mehrdeutigkeiten, die uns in Zeta begegnen. Die eine ist diskussionswürdig, die andere hingegen harmlos. Diskussionswürdig ist die Gleichsetzung von Form und logos, wenn die Form andererseits das Aussagesubjekt des logos sein soll. Hingegen ist es harmlos, wenn Aristoteles unter logos sowohl den sprachlichen Ausdruck als auch den Aussageinhalt versteht, denn auf solche Weise gebrauchen auch wir in unseren modernen Sprachen die entsprechenden Ausdrücke. De Rijk hingegen erachtet diese Ambiguität von logos als grundlegend für das antike Denken: »The second Main Rule concerns the absence of a clear-cut borderline between a linguistic expression (whether simple or compound) taken as a linguistic tool and its significate. The most conspicuous sample is the use of λόγος for both phrase, definiens, or assertible as linguistic tools and their respective contents as expressed by these tools.«20 De Rijk, Aristotle – Semantics and Ontology, 2 vols. (Leiden 2002), I, 63 – 64. Charles führt diesen Umstand auf die Platon und Aristoteles häufig vorgeworfene Verwirrung von mention und use zurück. D. Charles, ›Types of Definition in the Meno‹, in: L. Judson / V. Karamansis (Hgg.), Remembering Socrates (Oxford 2006), 110 – 128, 117, n. 9. 20 L. M.
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Kapitel 3
Doch anders als es De Rijks Darstellung suggeriert, ist dies keine Eigenheit der griechischen Sprache oder des antiken Denkens. Dieselbe Abwesenheit einer klaren Unterscheidung von sprachlichem Ausdruck und dessen Bedeutung gibt es auch in den modernen Sprachen für die Ausdrücke ›Rede‹, ›speech‹, und ›parole‹. »Seine Rede war kaum verständlich« kann meinen, dass der Redner genuschelt hat oder dass er mit Fachwissen um sich warf. Diese Mehrdeutigkeit von logos mag zwar stellenweise irritieren, ist aber für sich genommen nichts, was man Aristoteles vorhalten könnte. Sie hat aber weitreichende Folgen, denn der Aussageinhalt ist bei Aristoteles eine Seinsweise. Sofern unter logos der Aussageinhalt verstanden wird, ist er etwas Seiendes, und damit wird verständlich, weshalb Aristoteles die Substanz als logos bestimmen kann. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, den Aussageinhalt näher zu betrachten. Dabei wird deutlich, dass die von Frede/Patzig und auch von M odrak behauptete Mehrdeutigkeit in Wirklichkeit gar keine ist. Es ist ein und dieselbe Sache, die Aristoteles hier logos nennt, und diese Sache ist etwas ausgesagtes Seiendes.
Kapitel 4 Eine grundsätzliche Schwierigkeit: der ontologische Status des Ausgesagten
4.1 Bei Aristoteles sind Prädikate Seinsweisen
Mehr als einmal bestimmt Aristoteles die Form (eidos) als logos (etwa Physik II 1, 193a31, b1 – 2, Zeta 10, 1035b15 – 16; 15, 1039b20, Eta 1, 1042a17). Die Form ist das so genannte ti ên einai (Zeta 7, 1032b1 – 2; 10, 1035b32), und dieses ti ên einai, in der Folge »Essenz« genannt, wird von einer Sache als von ihr selbst her ausgesagt (Zeta 4, 1029b19 – 20). Auf der anderen Seite ist es ein zentraler Gedanke in Zeta und Eta, dass die Substanz Form ist. Daher stellt sich nicht erst für den logos, sondern bereits für die Essenz und Form die Frage, was sie sind: Sind sie Ausgesagtes oder etwas, von dem das Definiens ausgesagt wird? Zunächst kann man sagen, dass solches wie »Mensch« bei Aristoteles ein Beispiel für eine Form ist. Doch sogleich ergibt sich die Schwierigkeit, was darunter verstanden werden soll. Was meint er, wenn er von »Mensch« spricht? Meint er das Menschsein oder meint er das Wort, das man von einem Menschen aussagt? Es wird sich später zeigen, dass Aristoteles eidos eher als vagen Ausdruck ansieht und dass die Bestimmung des eidos als Essenz (ti ên einai) und logos der Präzisierung dient. In einem ersten Schritt ist das zu betrachten, was er am häufigsten über die Form sagt. »Mensch« ist etwas, das von einem Vorliegenden als von ihm selbst her ausgesagt wird, nämlich etwa von Sokrates.21 Bei der Form handelt es sich demnach um ein Prädikat. Doch Prädikate sind, wie wir in den Kategorien erfahren, Seiendes. In dem sogenannten ontologischen Quadrat unterscheidet Aristoteles grob gesagt zwei Formen von Seiendem: Ausgesagtes und solches, wovon etwas ausgesagt wird (1a20–b5).22 Das, was von Entgegen der üblichen Übersetzung von hypokeimenon als »Zugrundeliegendes« weiche ich in diesem Kontext auf den Ausdruck »Vorliegendes« aus, da es mir in der Folge um Prädikate geht, die sich auf etwas beziehen, das als Einzelding in der Welt auch vorliegt. Dass das hypokeimenon nicht unbedingt mit dem konkreten vorliegenden Einzelding gleichzusetzen ist, zeigt sich in Eta 1, 1042a26 – 30, wo auch die Form als hypokeimenon ausgegeben wird. Green macht geltend, Aristoteles beziehe sich an dieser Stelle zurück auf seine Argumentation aus Zeta 3, siehe J. Green, ›The Underlying Argument of Aristotle’s Metaphysics Z.3‹, in: Phronesis 59 (2014), 321 – 342, 325. 22 Die zwei weiteren Formen ergeben sich aus dem, was in einem Zugrundeliegenden ist, sprich aus dem Akzidentellen. Es gibt dann insgesamt auf der substanziellen und auf der akzi21
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Kapitel 4
einem Vorliegenden ausgesagt wird, ist nicht in dem, worüber es ausgesagt wird (en hypokeimenô). Auf welche Weise es stattdessen ist, sagt Aristoteles nicht, es lässt sich aber annehmen, dass er nichts gegen die Feststellung hätte, es liege an einer Sache vor (entsprechend seiner logischen Formulierung to B en tô A hyparchei). Was von einem Vorliegenden ausgesagt wird, aber nicht in ihm ist, bestimmt Aristoteles bekanntlich als zweite Substanz, sprich, Art/Form (eidos) und Gattung (2a14 – 16). Auch dasjenige, was ausgesagt wird, ist ein Seiendes. Diese Auffassung ist keine aristotelische Jugendsünde, sondern etwas, das sich durch sein gesamtes Werk zieht. Das Ausgesagtwerden reicht als Kriterium, um Seiendes zu sein. Warum das zureicht, sagt Aristoteles uns nicht; er scheint es als selbstverständlich anzusehen. Nachfolgend geht es darum, dafür eine Begründung zu liefern.23 Wenn Aristoteles vom Aussagen spricht, dann hat er nicht nur das im Sinn, was man heute Propositionen nennt, sondern auch den performativen Akt einer katêgoria. Etwas wird von etwas Vorliegendem wahr ausgesagt (oder zumindest mit Wahrheitsanspruch), was impliziert, dass das Ausgesagte am Vorliegenden auch gegeben ist. In der Prädikation S ist P wird P wahr von S ausgesagt. Auf diese veridische Konnotation der Prädikation hat bereits Kahn verwiesen.24 Anders als die moderne Auffassung der Proposition enthält die aristotelische Prädikation einen Wahrheitsanspruch. Es reicht aber nicht der rein behauptende dentellen Ebene je Allgemeines und Individuelles. Das Allgemeine ist dasjenige, was ausgesagt wird, das Individuelle das, von dem etwas ausgesagt wird. 23 Diese Darstellung von Aristoteles’ Prädikationslehre ist nicht innovativ. Mit anderen Worten etwa sagt Chiba dasselbe (meine Hervorhebungen): »In my account, what is signified by the phrase ›the what it is to be‹ is a definable entity, specified in a successful ›defining phrase‹ and grasped by a process which differentiates it from the other three predicables.« K. Chiba, ›Aristotle on Essence and Defining-Phrase in his Dialectic‹, in: D. Charles (Hg.), Definition in Greek Philosophy (Oxford 2010), 203 – 251, 206. Die von mir vorgeschlagene Lesart des ontologischen Quadrats findet sich auch bei Corkum: »Being in a subject gives us one reason for ascribing a certain ontological status to a thing; being said of a subject gives us a different reason for ascribing a certain ontological status to a thing.« P. Corkum, ›Aristotle on Ontological Dependence‹ (in der Folge [›Dependence‹]), in: Phronesis 53, 1 (2008), 65 – 92, 82. 24 Kahn spricht von einer veridischen Konnotation in jeder Prädikation (»the veridical connotation attached to a copula construction«) und von einer »veridical copula«. C. Kahn, ›Retrospect on the Verb ›to be‹ and the Concept of Being‹, in: K. Knuuttila u. J. Hintikka (Hgg.), The Logic of Being (Dordrecht 1986), 1 – 28, 9 und 24, Anm. 23. Siehe Näheres hierzu in meinem Aufsatz ›Aristotle’s Metaphysics V 7 Revisited‹ in: Apeiron, voraussichtlich in 48, 4, ahead of print online seit 08. 11. 2013. Auch wenn man De Rijks Kritik an Kahn folgt und der Ansicht ist, die Kategorien hätten nichts mit der kopulativen Struktur ›S ist P‹ zu tun, ändert das nichts an meiner Behauptung. De Rijk geht es darum, bereits auf der Wortebene eine Prädikation zu etablieren, weshalb seiner Ansicht nach die Kategorien etwas aussagen, obwohl sie nicht als Prädikate von Aussagesätzen zu verstehen sind. Siehe L. M. De Rijk, Aristotle – Semantics and Ontology, 2 vols. (Leiden 2002), I, 80 – 87 u. 133.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit: der ontologische Status des Ausgesagten
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Akt, damit ein Prädikat ein Seiendes ist, denn das allein macht keine Aussage wahr, wie Aristoteles in Met. IX 10, 1051b6 – 9 zu denken gibt. Die Aussage ist nur dann wahr, wenn das Ausgesagte auch zutrifft. Ist das Vorliegende ein Mensch, dann wird das Prädikat ›Mensch‹ wahr ausgesagt. Es liegt eine katêgoria vor. An dieser Stelle könnte man geltend machen, dass Modrak richtig liegt mit ihrer Einschätzung, gemäß der wir uns mit dem Denken und der Sprache auf das beziehen, was vorliegt. Aber das trifft nicht den Punkt aus den Kategorien. Die Worte können nur symbola der seelischen Widerfahrnisse und der realen Dinge sein, insofern wir sprachlichen Zugang zur Welt haben. Dass wir ihn haben, garantiert nicht das semantische Dreieck, sondern das ontologische Quadrat, das Prädikate und logische Subjekte als Seiendes auffasst. Dass die Semantik so funktioniert, wie Modrak es beschreibt, ist eine Folge dieser Ontologie, nicht ihre Voraussetzung. Wenn F von einem Vorliegenden ausgesagt wird (kath’ hypokeimenou legetai) und nicht in ihm ist, dann ist das Vorliegende ein F. Aus diesem Grund gilt die Regel aus den Kategorien, dass vom lebendigen Menschen sowohl das Prädikat ›Mensch‹ als auch das Definiens (logos tês ousias) ausgesagt wird: »Denn dieser Mensch ist ein Mensch«, so Aristoteles’ Begründung (2a25 – 26). Man sagt nicht einfach ein Prädikat aus, sondern behauptet das Vorliegen des Menschseins. Wie sich in Met. V 7, 1017a23 – 24 zeigt, wird mit jeder Prädikation eine Seinsweise ausgesagt. Daher ist es nicht sinnvoll zu fragen, ob etwas ein Prädikat oder eine Seinsweise darstellt, die an einem Gegenstand vorliegt. Die Unbrauchbarkeit einer solchen Unterscheidung mit Blick auf Aristoteles zeigt sich besonders deutlich in Kat. 3, 1b10 – 15. Die dortige Transitivitätsregel für Prädikate macht geltend, dass Mensch von diesem Menschen ausgesagt wird und Lebewesen von Mensch. Es hat hier keinen Sinn zu fragen, ob mit »Mensch« das Prädikat gemeint ist, das von Sokrates ausgesagt wird, oder die Seinsweise, von der das Prädikat »Lebewesen« ausgesagt wird. Die Transitivität funktioniert nur dann, wenn »Mensch« sowohl etwas ist, das sich aussagen lässt, als auch etwas, von dem etwas ausgesagt wird. Kurzum: Was wir da aussagen, ist etwas, dessen Sein sich wiederum bestimmen lässt. Nur am Rande sei bemerkt, dass sich daher das ganze klassische Problem um Kat. 4 hinsichtlich der Frage, ob die zehn Kategorien Seinsweisen oder Benennungen sind, so nicht stellt. Somit gilt für die nachfolgende Untersuchung: Prädikationsregel 1: Die Prädikate und Prädikatgefüge (logoi) sind ausgesagtes Seiendes, weil der Aussageinhalt eine Seinsweise ist. Zweifelsohne hat Aristoteles hierbei die Alltagssprache auf seiner Seite. Üblicherweise lässt sich so reden, dass man von Sokrates sagt, er sei ein Mensch. Selbst
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Kapitel 4
wenn man davon ausgeht, hier nur ein Wort anzugeben, hält man es für erlaubt, zu fragen, was ein Mensch ist, in dem Glauben, dadurch zu erfahren, was Sokrates ist. Heutzutage ist in der Sprachphilosophie die Idee eher die, dass man damit fragt, was der richtige Gebrauch des Wortes ›Mensch‹ ist, aber Aristoteles zufolge fragt man nach der Seinsweise, die ausgesagt wird. Ob dies richtig ist oder nicht, sei dahingestellt. Es ist aber grundlegend für die Frage nach dem ontologischen Status der Form und des logos bei Aristoteles. Das Argument vom dritten Menschen in der vermutlich aristotelischen Schrift Peri ideon macht geltend, die platonischen Ideen ergäben sich aus zwei Umständen: Erstens werde solches wie Mensch wahr ausgesagt (alêthôs katêgoreitai), zweitens sei das Ausgesagte von den Einzeldingen verschieden.25 Nimmt man dies als Grundlage, so stellt sich die Frage nach dem Seinsstatus der Form deshalb, weil sie wahr ausgesagt wird und offenbar von dem, wovon sie ausgesagt wird, verschieden ist.26 Für die Frage nach dem logos heißt dies das Folgende. Gemäß obiger Bestimmung ist der logos ein Prädikatgefüge, weshalb das, was für die einzelnen Prädikate gilt, auch für das Gesamte zutreffen wird. Wird der definierende logos wahr von etwas ausgesagt, dann ist das Ausgesagte (d. h. der Aussageinhalt) etwas Seiendes bzw. eine Seinsweise. So, wie es für Aristoteles das Menschsein und Bleichsein gibt, gibt es dann auch das Zweifüßiges-Lebewesen-Sein, das etwa von Sokrates ausgesagt wird. Es ist dies das berüchtigte ti ên einai (Essenz), das später ausführlich zu behandeln sein wird.
4.2 Form und Materie entsprechen Prädikat und logischem Subjekt
Aus dem ontologischen Quadrat ergibt sich aber noch mehr. Aristoteles’ Ontologie orientiert sich grundsätzlich an der Struktur der Prädikation, wie sie das ontologische Quadrat abbildet. Es gibt die ausgesagten Prädikate P und die zugrundeliegenden Subjekte S. Während Platon der Ansicht war, P könne für sich bestehen, lehnt Aristoteles dies ab. Letzteres ist nur insofern Seiendes, als es vom Zugrundeliegenden ausgesagt wird und somit von diesem ontologisch abhängt.27 Der Grundeinteilung in Ausgesagtes und Vorliegendes/Zugrundeliegendes bleibt Aristoteles auch im so genannten Hylemorphismus treu. Das Ausgesagte 25 Siehe
Fines Ausgabe des griechischen Texts in: G. Fine, On Ideas (Oxford 1993), 8 (84,
24 – 27). 26 Der Ausdruck alêthôs findet sich als Adverb für Verben des Aussagens (legein, katêgorein) zuhauf in Aristoteles’ Schriften, was sein Aufmerken auf die veridische Konnotation der Prädikation deutlich macht. 27 Siehe hierzu die ausführliche Diskussion bei Corkum [›Dependence‹], 70 – 72.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit: der ontologische Status des Ausgesagten
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entspricht der Form, das Vorliegende oder Zugrundeliegende der Materie. Das hat eine wichtige Folge. Wenn Aristoteles die Substanz als Form bestimmt, dann bestimmt er sie im Lichte des ontologischen Quadrats als ausgesagtes Seiendes. Die Substanz ist dann streng genommen bloß ein Prädikat, doch sie ist Prädikat im aristotelischen Sinne, d. h. eine Seinsweise, die ausgesagt wird. Dies zeigt sich eindrücklich an seiner Bestimmung der Seele als Form, wobei er an dieser Stelle die Materie mit dem Körper gleichsetzt. Seine Bestimmung begründet er folgendermaßen. Da die Seele eine Substanz ist und die Substanz Materie oder Form, fragt Aristoteles, ob die Seele Form oder Materie ist. Im letzteren Fall wäre sie Körper, was er ausschließen kann. Sein Schluss, dass die Seele daher Form ist, beruht allein auf der Überlegung, ob sie Ausgesagtes ist oder etwas, von dem anderes ausgesagt wird: Da nun aber auch der Körper von solcher Art ist, denn er hat Leben, so kann der Körper nicht Seele sein. Denn der Körper ist nichts, was von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, vielmehr ist er wie das Zugrundeliegende und die Materie. Notwendigerweise also ist die Seele eine Substanz im Sinne der Form des natürlichen Körpers, der das Vermögen hat, lebendig zu sein. (Eigene Übersetzung und Hervorhebung)28
Das Argument, sofern es eines sein soll, ist nicht einfach zu durchdringen. Festhalten lässt sich, dass der Körper nichts ist, was von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird (wie alle Interpreten lese ich den Ausdruck kath’ hypokeimenou als Ellipse von kath’ hypokeimenou legetai). Logisch gesprochen ist er nicht Prädikat, sondern Subjekt. Das scheint Aristoteles zu reichen, um darauf zu schließen, dass die Seele Form ist. Überträgt man die Bestimmung des Körpers als etwas Zugrundeliegendes auf die Seele, dann gilt nicht nur, dass der Körper Materie und Zugrundeliegendes ist, sondern auch, dass die Seele Form ist und dasjenige, was vom Zugrundeliegenden ausgesagt wird (das kath’ hypokeimenou). Folglich ist die Seele ausgesagtes Seiendes. Sie ist damit ein Prädikat, doch die Ungeheuerlichkeit dieser Bestimmung verschwindet, wenn man Aristoteles zuerkennt, dass das Ausgesagte eine Seinsweise darstellt. Die Seele ist dann dasjenige, was von einem Lebewesen aufgrund seiner selbst ausgesagt wird, und dafür muss diese Seinsweise auch im Lebewesen vorliegen. Dass es sich bei der Seele nicht bloß um ein Wort handelt, sondern um eine ausgesagte Seinsweise, wird durch die Feststellung deutlich, der zum Leben De anima II 1, 412a16 – 21: ἐπεὶ δ’ ἐστὶ καὶ σῶμα καὶ τοιόνδε, ζωὴν γὰρ ἔχον, οὐκ ἂν εἴη σῶμα ἡ ψυχή· οὐ γάρ ἐστι τῶν καθ’ ὑποκειμένου τὸ σῶμα, μᾶλλον δ’ ὡς ὑποκείμενον καὶ ὕλη. ἀναγκαῖον ἄρα τὴν ψυχὴν οὐσίαν εἶναι ὡς εἶδος σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος. 28
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fähige Körper habe Leben (zôên echon, 412a17). Sofern man das Lebendigsein mit dem Beseeltsein gleichgesetzt, hat der Körper eine Seele, wenngleich sie etwas ist, das von ihm als einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird.29 Weil die Seele Ausgesagtes ist, lässt sich auch verstehen, warum Aristoteles sie in der Folge ohne Umschweife als logos bezeichnet (412b16). Der logos ist hier derjenige Aussageinhalt, der als eine Seinsweise von der vorliegenden Materie ausgesagt wird.
4.3 Die katêgoria unterläuft die Unterscheidung von Sprache und Welt
Indem man mit Aristoteles das Prädikat als etwas Seiendes auffasst, oder genauer den Aussageinhalt des Prädikats, geschieht etwas Bemerkenswertes. Man kann dann nicht sagen, das Prädikat sei bloßes Wort und nichts Gegebenes in der Welt. Alles Ausgesagte, so lehrt es das ontologische Quadrat, ist Teil dessen, was es gibt. Davon unberührt bleibt die Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant sowie zwischen Definiens und Definiendum. Aber das Definiens ist jetzt etwas Seiendes. Das allein jedoch reicht noch nicht, um Aristoteles gerecht zu werden. Das bislang Gesagte könnte so aufgefasst werden, als ob es zum einen das Prädikat als ausgesagte Seinsweise gibt und zum anderen die an der Sache vorliegende Seinsweise, auf die sich das Prädikat bezieht. Für Aristoteles jedoch ist beides dasselbe. Im ontologischen Quadrat behauptet er unvermittelt, das Ausgesagte liege an etwas vor. So sagt er, Einiges werde von einem Vorliegenden ausgesagt und sei in einem Vorliegenden, nämlich solches wie Wissen. Es sei in der Seele und werde vom bestimmten Wissen ausgesagt (1a29–b3). Das wirkt harmlos, weil das Aussagesubjekt und das ontologische Subjekt zunächst einmal verschiedene Dinge sind. Aber diese scheinbare Harmlosigkeit verschwindet, wenn es um die Dinge geht, die von einer Sache als von ihr selbst her ausgesagt werden. In den Kategorien sind die so genannten zweiten Substanzen etwas, das nur von einem Vorliegenden ausgesagt wird. In einem Vorliegenden sind sie nicht. Doch das ändert sich mit Aristoteles’ Einführung von Form und Materie. Denn er sagt ausdrücklich, dass die Form in der Materie ist, und zweifelsohne wird sie von der Materie als dem Zugrundeliegenden ausgesagt (siehe für Ersteres Kap. 9, für Zweiteres Zeta 3, 1029a23 – 24). Spätestens hier bestehen zwei Relationen zwischen Prädikat und Subjekt: die Aussagerelation und die Relation des in oder an etwas sein. Es gilt: 29
Es geht Aristoteles vermutlich bei der Frage, was die Seele ist, letztlich um die Frage nach dem Leben, wie Bostock geltend macht: »So it appears that to have soul is to have life, a kind of soul is a kind of life, and the soul itself simply is that life«, D. Bostock, ›Aristotle’s Theory of Form‹ in: ders., Space, Time, Matter, and Form (Oxford 2006), 79 – 102, 96.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit: der ontologische Status des Ausgesagten
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Prädikationsregel 2: Dasjenige, was von einer Sache als von ihr selbst her ausgesagt wird, ist auch in dieser Sache gegeben, denn es ist dasjenige, was die Sache aufgrund ihrer selbst ist. Andernfalls müsste man zwei Formbegriffe unterscheiden, eine ausgesagte und eine vorliegende Form, und das ist nicht haltbar, wie sich zeigen wird. Dass das Ausgesagte selbst in der Sache vorliegt, von der es ausgesagt wird, mag zunächst absurd klingen, da es so aussieht, als hebe Aristoteles damit den Unterschied zwischen Prädikat und Eigenschaft auf. Wäre dies der Fall, könnte er nicht mehr sagen, dass das Aussagen des Bleichseins von dir darum wahr ist, weil du bleich bist, und nicht umgekehrt (Met. IX 10, 1051b6 – 9). Es ist aber nicht so, dass ich behaupte, Aristoteles’ Seinsinventar bestehe nur aus Prädikaten und logischen Subjekten. Vielmehr ist das, was wir aussagen, nicht ein bloßes Wort, das für eine Sache steht, sondern ist als katêgoria eine Seinsweise, die wahr ausgesagt wird, gerade weil sie vorliegt. Es gibt in Aristoteles’ Ontologie drei Arten von Seiendem: erstens, die Materie, die von nichts ausgesagt wird, von der aber eine Seinsweise ausgesagt wird, nämlich die Form. Zweitens gibt es die Form, eine Seinsweise, die von der Materie ausgesagt wird und von der wiederum die akzidentellen Seinsweisen ausgesagt werden. Drittens gibt es daher auch die akzidentellen Seinsweisen. Das hier Angeführte findet sich in Kurzform in Zeta 3: Sie [die Materie] ist nämlich dasjenige, von dem jede dieser katêgoriai ausgesagt wird, dessen Sein sich aber von dem einer jeden katêgoria unterscheidet. Denn alles Übrige wird von der Substanz ausgesagt, diese aber von der Materie. (Übersetzung Frede/Patzig, leicht verändert)30
Diese Darstellung macht deutlich, dass die katêgoria etwas Seiendes ist. Andernfalls könnte sich die Materie nicht hinsichtlich des Seins von den katêgoriai unterscheiden. Folglich ist die katêgoria nicht einfach ein Prädikat, sondern etwas Seiendes, dessen Charakteristikum es ist, ausgesagt zu werden. Damit ist klar: Wenn Aristoteles vom Aussagen spricht, dann geht es nicht um das Aussagen von Prädikaten im modernen Sinne, sondern um das Aussagen von dem, was ist, genauer von dem, was an einer Materie oder an einer Form vorliegt. Was für die katêgoria gilt, das gilt auch für den logos, da er wie die Gattung, das Proprium und das Akzidenz ein katêgoroumenon ist (Topik I 8, 103b7 – 10). Er ist nicht einfach ein Prädikatgefüge, sondern eine Seinsweise, die ausgesagt wird. Wie sich zeigen wird, ist es diese ausgesagte Seinsweise, die auch vorliegt, 30
1029a21 – 24: ἔστι γάρ τι καθ’ οὗ κατηγορεῖται τούτων ἕκαστον, ᾧ τὸ εἶναι ἕτερον καὶ τῶν κατηγοριῶν ἑκάστῃ (τὰ μὲν γὰρ ἄλλα τῆς οὐσίας κατηγορεῖται, αὕτη δὲ τῆς ὕλης), ὥστε τὸ ἔσχατον καθ’ αὑτὸ οὔτε τὶ οὔτε ποσὸν οὔτε ἄλλο οὐδέν ἐστιν.
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und nur unter dieser Voraussetzung wird Aristoteles geltend machen können, die Essenz und dasjenige, wovon sie Essenz ist (to hekaston), seien identisch (diese Behauptung findet sich explizit in Zeta 6, 1031b18 – 20 und wird in Kapitel 8.2 zu behandeln sein). Dann gilt: Prädikationsregel 3: Dasjenige, was von einer Sache als von ihr selbst her ausgesagt wird, ist mit dieser Sache identisch. Die übliche Rede von der Substanz der Dinge, die Aristoteles pflegt, ist folglich erklärungsbedürftig, denn es gibt nicht die Essenz als Substanz einer Sache. Sie ist identisch mit der Sache, weil das Sein dieser Sache nichts anderes als die Essenz ist. Die Rede von der Substanz eines Dings ist nur sinnvoll vor dem Hintergrund der Form-Materie-Unterscheidung. Alles andere führt Aristoteles zufolge schnurstracks zur Annahme von Platons Ideen. Der Ausdruck logos ist daher nicht mehrdeutig, wenn es darum geht, dass die Form und die Substanz logos sind. Er hat nur eine Bedeutung, aber das Besondere ist, dass es sich bei diesem logos um etwas handelt, das von der Sache als von ihr selbst her ausgesagt wird und daher das Sein dieser Sache ist. Dies ist die Eigenheit dessen, was Aristoteles ti ên einai nennt. Die Anwendung dieser drei Regeln auf Zeta wird ihre Richtigkeit erhärten. Zuvor ist allerdings ein alternativer Vorschlag zu diskutieren, der angibt, logos im Sinne der Substanz sei die konstitutive Struktur eines Gegenstands. Dieser Vorschlag hat zwar einiges für sich, passt aber aus verschiedenen Gründen nicht zu dem, worum es Aristoteles geht.
Kapitel 5 Mit logos kann nicht die konstitutive Struktur des Gegenstands gemeint sein
5.1 Die Struktur ist nicht Essenz und daher auch nicht der gesuchte logos
Modrak hat vorgeschlagenen, denjenigen logos, den Aristoteles als Form und Substanz auffasst, im Sinne von structure zu verstehen, und zwar als eine Struktur, die das Einzelding konstituiert. Es wird sich zeigen, dass zwar durchaus Einiges für diesen Vorschlag spricht (und zwar deutlich mehr, als Modrak selbst anführt), aber auch Gewichtiges dagegen, und zwar vor allem, dass ›Struktur‹ ein zu enger Begriff ist, um dem definierenden logos zu entsprechen. Die Seinsweisen der Dinge sind dafür einfach zu vielfältig, wie Aristoteles richtig erkannt hat. Modrak bestimmt den logos wie folgt: »A particular structure, a logos, is instantiated as an individual, is a constituent of a composite universal and is the essence constituting the proper definition of the substance in question«.31
Hierzu ist Verschiedenes zu sagen. Zunächst einmal spricht einiges dafür, dass nach Aristoteles der logos etwas Allgemeines zum Gegenstand hat und nichts Partikuläres, wie Modrak vorgibt.32 Auch die Essenz ist nichts Partikuläres, denn die Essenz von Sokrates ist sein Menschsein, nicht sein Sokrates-Sein. Ferner, weshalb sollte der logos, selbst wenn er eine Struktur darstellt, als Individuum instantiiert sein, wie es Modrak ausdrückt? Er würde wenn schon das Individuum konstituieren. Und wie soll diese partikuläre Struktur das Definiens der Substanz sein, wenn sich doch das Partikuläre einer Sache nicht definieren lässt, wie uns Aristoteles einschärft (Zeta 10, 1036a1 – 5)? Sieht man einmal davon ab, dass Modrak von einer partikulären Struktur spricht, so bleibt die Aussage, dass der logos eine Struktur sein. Modrak ist sogar der Ansicht, nur diese Interpretation von logos erkläre, weshalb der real gegebene und der gedankliche logos identisch sind: ›Form and Function‹, D. Modrak, ›Form and Function‹, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium of Ancient Philosophy 22 (2009), 111 – 135, 113, dasselbe äußerte sie zuvor in [Meaning], 177. 32 Siehe etwa Zeta 10, 1035b34 – 1036a1 u. 11, 1036a28 – 29, wo Aristoteles dies explizit macht. 31
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Kapitel 5
Because the logos is a structural principle […] the logos is the same in both instances.33
Modrak begründet ihre Interpretation von logos als Struktur mit zwei Beispielen, die Aristoteles häufig wählt, um Entstehung zu erklären: das Beispiel der Heilung durch den Arzt und das Beispiel des Hausbauens. Für den Fall der Heilung sagt Modrak: »If the treatment succeeds, a new order is realized in the bodily parts, viz. balanced humours«, für das Hausbauen, »[h]ousebuilding ist a particular clear model of a plan realized in a complex structure« (meine Hervorhebungen). Daraufhin fasst sie zusammen: In both cases it is relatively easy to see how the same structural plan could exist in the mind and in a concrete manifestation.34
Hierzu sind zwei Dinge zu sagen. Erstens, das Gleichmaß im Körper ist nach Aristoteles ausdrücklich nicht die Gesundheit selbst und daher auch nicht der logos, als den er die Gesundheit betitelt. In der Passage aus Zeta 7, auf die Modrak hier Bezug nimmt, sagt Aristoteles zunächst, dass die Gesundheit ein logos in der Seele des Arztes ist, sprich, ein Wissen (epistêmê, 1032b5). Daran schließt sich seine Erklärung an, wie das Gesunde entsteht: Jemand überlegt, dass die Gesundheit etwas Bestimmtes ist und dass, damit sie gegeben ist, etwas anderes vorliegen muss, etwa Gleichmaß (homalotêta, b7 – 8). Folglich ist die Gesundheit kein Gleichmaß, sondern das Gleichmaß ist erforderlich, damit Gesundheit vorliegt. Dies führt zum zweiten Einwand. Die von Modrak angeführten Beispiele beziehen sich auf die Herstellung von Artefakten. Wie lässt sich das auf die natürliche Entstehung übertragen? Für Aristoteles ist klar, dass es sowohl bei der künstlichen Herstellung als auch bei der natürlichen Entstehung einen Zweck gibt. Der Witz an den Beispielen des Hausbauens und der Heilung ist daher nicht, dass hier eine Struktur eingebracht wird, sondern dass ein bestimmter Zweck verfolgt wird. Die Struktur ist nur Mittel zum Zweck (dies wird sich in Abschnitt 11.5 zeigen). Der letzte Punkt ist Aristoteles wichtig. Nicht weil die Schneidezähne scharf sind, können sie gut schneiden, sondern weil sie zum Schneiden da sind, sind sie scharf. Analog dazu sägt eine Säge nicht gut, weil sie so und so geformte Zähne hat, sondern sie hat so und so geformte Zähne, damit sie gut sägt. Nur wenn die Form einen Zweck erfüllt, so Aristoteles, ist die Entstehung auch naturgemäß und nicht einfach zufällig (vgl. dazu Physik II 8, 198b23 – 34). Kurz gesagt ist der logos etwas anderes als die Struktur, die dazu da ist, um einen Zweck zu erfüllen. Er ist nämlich, wie sich zeigen wird, der Entstehungszweck selbst. 33 34
›Form and Function‹, 119. Ebd., 114.
Mit logos kann nicht die konstitutive Struktur des Gegenstands gemeint sein
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Dazu noch eine abschließende Bemerkung. In Physik I 7, 190b28 nennt Aristoteles als Beispiele für die Form die Ordnung (taxis), die Bildung und andere derartige Prädikate (allôn ti tôn houtô katêgoroumenon). Die Ordnung wäre durchaus ein Kandidat für die gesuchte Struktur und in Physik VIII gibt Aristoteles sogar an, jede Ordnung sei ein logos.35 Ist das ein Beleg dafür, dass logos so etwas wie Struktur meint? Ich denke nicht. Es geht Aristoteles an dieser Stelle darum, dass es im Unendlichen keine Ordnung gibt, weil kein Maß. Der Ausdruck logos meint hier das Zahlenverhältnis, mit dem sich etwas bemessen und vergleichen lässt, kurz, die Proportion. Gesucht war aber nicht logos im Sinne der Proportion, sondern im Sinne der Struktur, was nicht dasselbe ist (dass der gesuchte logos sicher nicht als Proportion aufzufassen ist, wird sich in der Folge zeigen). Darüber hinaus sagt uns Aristoteles an dieser Stelle, was Ursache jeglicher Ordnung (taxis) sei, nämlich die Natur.36 Die Natur also ist logos, nicht die Ordnung und Struktur, die durch die Natur verursacht werden. Zudem erklärt uns Aristoteles explizit, dass die Ordnung, Gestalt und Position, die Demokrit als Differenzen des Seienden geltend macht, nicht zureichen, um die Vielfalt des Seienden zu erklären (Eta 2, 1042b11 – 15). Soweit ich sehen kann, gibt es in der Physik daher keinen Anhaltspunkt dafür, dass der logos, den Aristoteles mit der Form identifiziert, als Struktur aufzufassen ist.
5.2 Auch die Anordnung der Teile ist nicht der gesuchte logos
Die vorangehenden Betrachtungen zu Aristoteles’ Entstehungslehre reichen allerdings noch nicht aus, um generell die Interpretation zu verwerfen, mit logos sei die konstitutive Struktur gemeint. Denn auf den ersten Blick gibt es einiges in Zeta und Eta, was für die Richtigkeit dieser Interpretation spricht, weshalb die relevanten Passagen genauer zu betrachten sind. Vorab sei angemerkt, dass der Ausdruck structure mehrdeutig ist und Modrak nicht angibt, was genau sie darunter verstanden wissen will. Zum einen ist die Struktur eine Art von Anordnung der Bestandteile, zum anderen kann sie aber auch so etwas wie die Oberflächenbeschaffenheit meinen, was dem griechischen Ausdruck morphê nahe kommt. Der Unterschied zwischen beidem wird dadurch deutlich, dass die Oberflächenbeschaffenheit eine veränderliche Qualität darstellt, die Anordnung der Teile aber konstitutiv ist für das Sein der Sache und in diesem Sinne nicht modifizierbar. Ich vermute, dass Modrak die Anordnung im Sinn hat, da sie von »order« und »plan« spricht. 35 36
252a14: τάξις δὲ πᾶσα λόγος. 252a12: ἡ γὰρ φύσις αἰτια πᾶσιν τάχεως.
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Kapitel 5
Ihr Ausdruck structure ist aber noch in einer anderen Hinsicht erläuterungsbedürftig. Eine Struktur, etwa die molekulare Struktur, ist die Anordnung von Atomen. Davon zu unterscheiden ist die Proportion der Bestandteile, also im Falle des Moleküls die jeweilige Anzahl der Atome. Dass Aristoteles unter logos nicht die Proportion verstanden wissen will, wird sich im nachfolgenden Kapitel zeigen. Er könnte mit logos aber die Anordnung der Teile meinen, und als Beleg dafür bietet sich Zeta 17 an. Die dortige Bestimmung der Substanz scheint anzuzeigen, dass nach Aristoteles die Substanz die Anordnung der materialen Bestandteile ist. Er sagt dort, die Silbe BA sei nicht einfach ihre Bestandteile, nämlich die Buchstaben A und B. Es gebe neben den Buchstaben noch etwas anderes (heteron ti, 1041b17), und dies mache die Silbe zu dem, was sie ist. Auch wenn Aristoteles dieses namenlose Etwas nicht näher benennt, liegt auf der Hand, dass er damit nur die Anordnung der Buchstaben meinen kann. Die Silbe BA unterscheidet sich von der Silbe AB ja nur durch die Art der Anordnung. Verallgemeinert man das Silbenbeispiel, so wäre die Substanz im Sinne der Form die Anordnung der Bestandteile und der logos die konstituierende Struktur der materialen Bestandteile. Dies zugrunde gelegt, wäre die Substanz insofern ein logos, als sie die Anordnung der Teile ist. Ich halte diese Verallgemeinerung für falsch. Erstens ist das Silbenbeispiel sicherlich nicht repräsentativ, wie bereits Burnyeat anmerkt: »The syllable […] is not a proper substantial being.«37 Zweitens geht es Aristoteles an dieser Stelle nur darum, dass nicht die materialen Bestandteile Substanz sind, sondern diese »etwas anderes« ist (heteron ti). Was sie ist, sagt er in 1041b9 – 33 nicht, und das muss er auch nicht, denn das hat er bereits zuvor gesagt: Sie ist Ursache dafür, dass die Materie etwas Bestimmtes ist (b7 – 8), und sie ist primäre Ursache (b28). Im Falle der Naturdinge ist diese Ursache der Zweck (1041a29). All dies wird später ausführlich dargelegt (siehe Abschnitt 11.5 – 6). Drittens sprechen bereits einige der in Eta 2 genannten Beispiele gegen die Verallgemeinerung des Silbenbeispiels. Aristoteles gibt an, die Lage bestimme das Sein der Türschwelle (im Unterschied zum Türsturz liegt sie unten, 1042b19 u. 1043a7 – 8), und hier geht es überhaupt nicht darum, wie die Bestandteile der Türschwelle zueinander stehen. Dasselbe gilt für Winde und Mahlzeiten, die Aristoteles nennt (1042b20 – 21). Seiner Bestimmung zufolge ist das Frühstück nicht durch das bestimmt, was aufgetischt wird oder in welcher Zusammensetzung, sondern durch den Zeitpunkt. Nicht die Anordnung der Bestandteile ist in dieM. Burnyeat, A Map of Metaphysics Zeta, in der Folge [Map] (Pittsburgh 2001), 61. Ebenso sagt Mann: »Thus by the end of Z 17 it seems that syllables will not be ousiai, nor will there be an ousia of a syllable«, und etwas später »[…] only individual ousiai have a genuinely internal principle of unity.«, W.-R. Mann, ›Elements, Causes, and Principles‹, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 40 (2011), 29 – 61, 52 u. 54. 37
Mit logos kann nicht die konstitutive Struktur des Gegenstands gemeint sein
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sen Fällen konstitutiv, sondern teils die Lage, teils der Ort und teils die Position. Auch diese Eigenschaften sind noch nicht die gesuchte Substanz, wie sich zeigen wird. Im Vorgriff lässt sich bereits sagen, dass die Substanz darum nicht Struktur sein kann, weil sie die konstitutive Struktur bedingt. Die Angabe der Substanz erklärt, weshalb Materie eine bestimmte Form annimmt, und diese Erklärung liefert nicht die bloße Angabe der vorliegenden konstitutiven Struktur. Aus diesem Grund erachte ich auch Fredes Angabe als unzureichend, wonach eine bestimmte Disposition oder Struktur die gesuchte Essenz darstelle.38
5.3 Nicht die Struktur bestimmt das Sein, sondern das Definiens
Es wird später in den Abschnitten 11.5 – 6 ausführlich um Aristoteles’ Bestimmung der Substanz der wahrnehmbaren Dinge in Eta 2 und 3 gehen. Hier ist nur in dem Maße darauf einzugehen, wie es für die Widerlegung der Ansicht erforderlich ist, der logos sei Struktur im Sinne der Differenzen, die Aristoteles in Eta 2 behandelt. Nach einer Zusammenfassung von Buch Zeta in Eta 1 nimmt sich Aristoteles in Eta 2 vor, anzugeben, worin die Verwirklichung der wahrnehmbaren Dinge besteht. Es kommt damit etwas zur Sprache, das in Zeta noch keine Erwähnung fand, nämlich die Verwirklichung (energeia). Er beginnt seine Diskussion mit einer Bezugnahme auf Demokrits drei Typen von Differenzen, die er wiedergibt als äußere Gestalt (schêma), Position (thesis) und Anordnung (taxis). Er wendet ein, es gebe noch viel mehr Differenzen, nämlich genau so viele, wie es Seinsweisen gibt (1042b25 – 31). Dieser Einwand wird von zentraler Bedeutung für die Bestimmung des logos sein. In der Folge führt Aristoteles einige Beispiele für die fraglichen Differenzen an. Hinsichtlich des Hausseins sagt er etwa, es sei Steine und Ziegel in einer bestimmten Lage, und diese Bestimmung des Hauses zielt eindeutig auf die Anordnung der Bestandteile ab. Seine Darstellung fasst er zusammen mit der Bemerkung, dass folglich die Verwirklichung und der logos je nach Materie auch verschieden seien. In einigen Fällen sei die Verwirklichung Zusammensetzung, in anderen Mischung, in wieder anderen Ähnliches (1043a12 – 14). Das klingt danach, als sei der logos etwas, das man allgemein als ›Struktur‹ auffassen könnte. Doch zweifelsohne ist der Ausdruck ›Struktur‹ hier zu eng. Es ist gerade nicht die Anordnung oder Struktur, die in allen Fällen das Sein der Dinge ausmacht. Teils ist es die Mischung, teils die Lage, teils die Art der Verdichtung, teils die Art M. Frede, ›On Aristotle’s Conception of the Soul‹, in: M. Nussbaum u. A. Rorty, Esssays on Aristotle’s De anima, 93 – 107, 98: »Only a disposition or organization of a certain kind, and this only conceived of in a certain way, will count as an essence.« 38
38
Kapitel 5
der Zusammenfügung, und vieles weitere. All dies nennt Aristoteles Differenzen (diaphorai), und es gibt so viele Differenzen, wie es Weisen gibt, das Sein auszusagen (dêlon hoti kai to esti tosautachôs legetai, 1042b25 – 26). Dieser Hinweis auf das Sein ist wichtig. Man könnte im Sinne von Modrak sagen, structure sei genauso weit zu fassen wie das, was Aristoteles Differenz nennt. Aber es ist zu sehen, wohin man damit zwangsläufig gelangt, nämlich zum Definiens. Die Differenz ist letztlich nichts anderes als die je spezifische Seinsweise und Aristoteles spricht hier von der Differenz, weil der Ausdruck weit genug ist, um alle Seinsweisen zu umfassen. Da es sich dann bei der Differenz um die je spezifische Seinsweise handelt, wäre der logos nichts anderes als die Essenz. Der Versuch, logos als Struktur zu bestimmten, scheitert daher an der Vielfalt des Seienden. Der logos ist stattdessen genau das, als was ihn Aristoteles auch explizit ausweist: Der logos ist Definiens und gibt an, was etwas ist. Allerdings ist es vorschnell, die Differenz deshalb als Essenz aufzufassen. Wie bereits gesagt, fasst Aristoteles in 1043a12 zunächst zusammen, aus dem Gesagten sei klar, dass die Verwirklichung (energeia) und der logos je nach Materie Verschiedenes seien. Die von ihm zuvor genannten Differenzen sind dann die Verwirklichung der wahrnehmbaren Substanzen, und diese zu bestimmen war das Ziel von Eta 2 (vgl. 1042b9 – 11). Was dann in 1043a14 folgt, liest sich wie ein Bruch mit diesem Ergebnis. Aristoteles gibt an, solches wie ein Haus lasse sich auf zwei Weisen definieren, mit Blick auf das Vermögen oder mit Blick auf die Verwirklichung. Mit Blick auf das Vermögen definiere man das Haus, wenn man angebe, es bestehe aus Steinen und Ziegeln. Das ist soweit klar. Analog dazu sollte man erwarten, dass man mit Blick auf die Verwirklichung das Haus durch Angabe jener Differenz definiert, die Steine und Ziegel zu einem Haus machen, sprich deren So-und-so-Gelegensein (hôdi keimena, 1043a8 – 9). Aber das ist nicht das, was Aristoteles in 1043a16 – 18 als zweite Definitionsart vorbringt. Er sagt stattdessen, wer die Verwirklichung definiere, der gebe an, dass ein Haus ein Schutz für Körper und Habseligkeiten sei. Kurzum, hier wird das Haus im Sinne des Zwecks definiert. Von der Differenz ist überhaupt nicht mehr die Rede. Ich werde später ausführlich auf diese scheinbare Inkonsistenz in Eta 2 und 3 eingehen (Abschnitt 11.6). Klar ist zumindest, dass die Verwirklichung und damit auch die Form des Hauses nicht die Anordnung der materialen Bestandteile ist, sondern der Zweck, wie es in 1043a29 – 33 offensichtlich wird. Daher lässt sich festhalten, dass die Darstellung in Eta 2 nicht die These stützt, der logos sei als Struktur aufzufassen. Erstens ist die Differenz weiter gefasst als jegliche Struktur, zweitens ist nicht einmal die von Aristoteles genannte Differenz der gesuchte logos.
Mit logos kann nicht die konstitutive Struktur des Gegenstands gemeint sein
39
5.4 Der gesuchte logos ist keine Harmonie oder Anordnung
Zur Widerlegung der Auffassung, dass die Substanz als logos als Struktur aufzufassen sei, eignet sich auch Aristoteles’ Kritik in De anima an der Auffassung, die Seele sei Harmonie. Charlton macht geltend, der griechische Ausdruck harmonia sei in den Diskussionen über die Seele bei Platon und Aristoteles als »arrangement« oder »structure« aufzufassen, und weist darauf hin, dass in Platons Phaidon 93a1 harmonia und synthesis dieselbe Bedeutung haben.39 Wenn diese Bestimmung richtig ist, dann betrifft Aristoteles’ Kritik an der Bestimmung der Seele als Harmonie auch die Auffassung, der logos sei strukturierendes Prinzip der Materie. Sollte Charltons Bestimmung nicht zutreffen, dann müssten zumindest diejenigen, die angeben, der logos sei Struktur, auch darlegen, worin sich diese Struktur von der harmonia und synthesis unterscheidet. Es ist sicherlich nicht so, dass Aristoteles’ logos und die harmonia, die er in De anima kritisiert, grundverschieden sind. Es wurde zu Recht angemerkt, dass die Idee, die Seele sei Harmonie, der aristotelischen Auffassung dessen, was die Seele ist, erstaunlich nahe kommt.40 Aber sie zielt eben dennoch entscheidend vorbei, wie Aristoteles’ Kritik an der Harmonie-Theorie zeigt. Dabei darf es nicht irritieren, dass er angibt, die Harmonie sei eine Art logos (407b32 – 33), denn logos meint an dieser Stelle das Mischungsverhältnis. Wenn er später in 414a13 u. 27 die Seele als Form und logos bestimmt, hat logos eine andere Bedeutung, nämlich die des Definiens. Andernfalls würde Aristoteles in De anima II Opfer seiner eigenen Kritik aus Buch I werden.41 Seine Kritik ist aufgrund ihrer Knappheit schwer zu durchdringen und es ist gängige Ansicht der Interpreten, dass sie auf Platons Zurückweisung der Harmonie aufbaut, wie sie in Phaidon 92e–95a vorgetragen wird. Aristoteles’ Diskussion taugt nur bedingt für eine Begründung, warum die Substanz und damit der logos keine Struktur sein kann. Sie macht aber deutlich, dass die Seele des Lebe wesens nach seiner Auffassung zwar logos ist (414a12 – 13 u. a27 – 28 sowie Zeta 10, 1035b14 – 15), aber keine Harmonie. W. Charlton, ›Aristotle and the Harmonia Theory‹, in: A. Gotthelf (Hg.) Aristotle on Nature and Living Things (Pittsburgh und Bristol 1985), 131 – 150, 132. 40 R. Polansky, Aristotle’s De Anima (Cambridge 2008), 103. 41 Polansky schreibt mit Blick auf De anima I 4, Aristoteles beziehe seine Kritik generell auf die Auffassung, die Seele sei harmonia, synthesis und logos. Er fügt an, im Unterschied hierzu bestimme Aristoteles in Zeta ebenso wie später in De anima II das Formprinzip als synthesis und logos, a. a. O., 106. Diese Inkonsistenz scheint mir bei Aristoteles nicht gegeben. Im Vergleich von De anima II 2 mit I 4 wird klar, dass logos je Verschiedenes meinen muss, nämlich einmal Definiens und einmal Proportion. Zudem benennt Aristoteles, so weit ich sehen kann, die Form nie als synthesis, sondern die Substanz ist ein synholon aus Form und Materie. Eine synthesis ist eine Zusammenfügung aus Bestandteilen, das synholon aber nicht unbedingt. 39
40
Kapitel 5
Wenn man fragt, was unter der Harmonie zu verstehen ist, so unterscheidet er die Auffassung, die Seele sei Harmonie im Sinne des Mischungsverhältnisses, von der Auffassung, sie sei Harmonie im Sinne der Zusammenfügung (synthesis). Beides erachtet er als falsch. Ross hat recht übersichtlich die Begründungen von Aristoteles zusammengefasst, wobei es sich dabei teils nur um bloße Behauptungen handelt: (i) Harmonie sei eine Proportion von Teilen, die Seele aber nicht, (ii) die Harmonie sei kein Bewegungsprinzip, die Seele hingegen schon, (iii) die Harmonie entspreche eher der Gesundheit oder dem vollkommenen Zustand als der Seele, (iv) die Harmonie lasse sich nicht auf das anwenden, was der Seele zukomme. Eine Begründung ist eher das Folgende: harmonia meint entweder die Mischung der Elemente oder die Proportion ihrer Mischung. Im ersten Fall, so skizziert es Ross, frage sich, aus welcher Mischung der körperlichen Teile sich das Denken, die Wahrnehmung oder das Streben erklären lasse. Der zweite Fall sei abwegig, weil es viele Mischungsverhältnisse im Körper gebe, aber nicht ebensoviele Seelen, sondern nur eine.42 Gegen das zuletzt genannte Argument wendet Charlton zu Recht ein, es gehe gar nicht darum, dass jedes Mischungsverhältnis eine Seele ist, sondern nur darum, dass ein bestimmtes Verhältnis die Seele ausmacht.43 Wie es aussieht, konnte sich Aristoteles nicht vorstellen, dass eine bestimmte Art von Mischung der Elemente nicht nur einen bestimmten Körper hervorbringt, sondern einen lebendigen Körper. Seit der Entdeckung der DNA wissen wir, welche Eiweißstruktur genau dies bewirkt. Hier soll es nicht um die Stichhaltigkeit von Aristoteles’ Einwänden gehen, sondern nur darum, dass er die Ansicht vertritt, die Seele sei keine Harmonie, und das meint, weder ein Mischungsverhältnis noch die Mischung selbst. Wie in Physik I 5, 188b15 – 16 deutlich wird, sind Harmonie, Ordnung und Zusammenfügung zwar nicht unbedingt identisch, aber doch stark miteinander verwandt. Da diese Arten von Struktur allesamt nicht den gesuchten logos darstellen, weil sie nicht Substanz einer Sache sind, müsste die Angabe, der logos sei Struktur, dahingehend präzisiert werden, was darunter zu verstehen ist. Das von Aristoteles Zurückgewiesene darf damit nicht gemeint sein, sprich, die Struktur darf weder Harmonie noch Mischung noch Zusammenfügung sein. Es gibt noch einen weiteren Punkt, der unabhängig von dem, was Aristoteles über den fraglichen logos sagt, gegen die Auffassung spricht, der logos sei Struktur. Er macht in De anima I 4 implizit geltend, eine Harmonie gehe zugrunde, wenn sich die Bestandteile auflösen (408a27 – 28). Hingegen sagt er nicht, eine Aristotle, De Anima. Edited with Introduction and Commentary by W. D. Ross (Oxford 1961), 192 – 193. 43 W. Charlton, ›Aristotle and the Harmonia Theory‹, 133. 42
Mit logos kann nicht die konstitutive Struktur des Gegenstands gemeint sein
41
Form gehe zugrunde, wenn sich die materialen Bestandteile auflösen. Denn die Form hat gar kein Entstehen und Vergehen. Wäre daher der logos Struktur, so könnte dieser logos nicht Form sein, denn die Struktur entsteht erst aufgrund der Zusammensetzung bestimmter Bestandteile. Der logos wäre das Resultat einer Zusammensetzung und nicht der Grund, weshalb etwas eine konkrete Substanz ist. Aber genau Letzteres soll Aristoteles zufolge mit logos gemeint sein. Folglich ist der logos keine Struktur. Letztlich wird sich das aber erst dann deutlich zeigen, wenn klar ist, was er stattdessen ist und leistet. Wie das nachfolgende Kapitel zeigen wird, erklärt er die Regelmäßigkeit bei der Entstehung der Naturdinge. Er ist Entstehungs ursache, und zwar nicht einfach in dem Sinne, dass er an der Entstehung als notwendiger Faktor beteiligt ist, sondern insofern er dafür sorgt, dass ein Mensch immer einen Menschen zeugt. Er ist ein inneres Prinzip der Veränderung, das die richtige Anordnung der materialen Bestandteile gewährleistet.
Kapitel 6 Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Empedokles’ logos
6.1 Empedokles’ Mischungsverhältnisse als logoi
Die soeben genannte Leistung des logos zeigt sich besonders deutlich in Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Empedokles’ Naturlehre. Aristoteles war nicht der Auffassung, der erste zu sein, der die Form als Naturprinzip geltend macht. Er verweist auf Empedokles und vermutlich die Atomisten (Met. V 4, 1014b35 – 1015a5, ich diskutiere diese Passage ausführlicher in 12.8). Auch schreibt er Empedokles die Auffassung zu, der logos sei Essenz und Naturprinzip (Met. I 9, 993a15 – 24, die Passage wird gleich folgen). Aristoteles ging es dann nur noch um die richtige Bestimmung dessen, was Form und logos ist. Denn hierin, so seine Ansicht, ging Empedokles fehl. Bemerkenswerterweise führt er einen Grund dafür an, weshalb Empedokles die Entstehung der Dinge nicht richtig erklären konnte. Was Empedokles fehlte, war die dialektische Methode, die angefangen von Demokrit durch Sokrates zur vollen Entfaltung gelangte. Nur durch diese Methode gelangt man zur Essenz und Substanz, so Aristoteles’ Ansicht, und da die Essenz die Ursache der Naturdinge darstellt, hängt die Bestimmung von Letzterem von der dialektischen Methode ab: Der Grund, warum unsere Vorgänger die Methode [der Naturbestimmung] verfehlten, liegt darin, dass sie die Essenz (to ti ên einai) und Bestimmung der Substanz (ousia) nicht angeben konnten. Zuerst erfasste sie Demokrit, aber er betrachtete sie nicht als notwendig für seine Naturbetrachtungen, sondern wurde von den Dingen dazu gebracht, sie anzuwenden. In Sokrates’ Kreisen wurde die Methode dann vollständig etabliert. Allerdings gaben sie das Fragen über die Natur auf und philosophierten stattdessen über das, was für die Tugend nützlich ist oder was zu politischen Fragen hinführt. (Eigene Übersetzung)44
De partibus animalium 642a24 – 31: Αἴτιον δὲ τοῦ μὴ ἐλθεῖν τοὺς προγενεστέρους ἐπὶ τὸν τρόπον τοῦτον, ὅτι τὸ τί ἦν εἶναι καὶ τὸ ὁρίσασθαι τὴν οὐσίαν οὐκ ἦν, ἀλλ’ ἥψατο μὲν Δημόκριτος πρῶτος, ὡς οὐκ ἀναγκαίου δὲ τῇ φυσικῇ θεωρίᾳ, ἀλλ’ ἐκφερόμενος ὑπ’ αὐτοῦ τοῦ πράγματος, ἐπὶ Σωκράτους δὲ τοῦτο μὲν ηὐξήθη. τὸ δὲ ζητεῖν τὰ περὶ φύσεως ἔληξε, πρὸς δὲ τὴν χρήσιμον ἀρετὴν καὶ τὴν πολιτικὴν ἀπέκλιναν οἱ φιλοσοφοῦντες. 44
44
Kapitel 6
Ob Aristoteles’ Darstellung historisch zutrifft, sei dahingestellt.45 Es sieht allerdings so aus, als betrachte er sich selbst als denjenigen, der als erster die dialektische Methode auf die Naturdinge angewandt hat und in der Lage war, systematisch zu bestimmen, was Knochen, Gewebe, der Mensch und was die Seele ist. In seinen Augen verfolgten Empedokles und Demokrit dasselbe Projekt wie er, doch im Unterschied zu ihnen verfügte er über die richtige Methode. Dabei geht er wie selbstverständlich davon aus, dass die Substanz der Dinge auch ihre Ursache darstellt. Was ihn zu dieser Annahme motiviert, wird sich später in Kapitel 11 zeigen. Anhand von Aristoteles’ Kritik an Empedokles’ logos und der dazugehörigen Entstehungstheorie wird deutlich, welche Eigenschaften der logos zu erfüllen hat, um Substanz und Ursache sein zu können. Eine Auseinandersetzung mit seiner Kritik an Empedokles dient daher der Präzisierung des fraglichen logos. Dazu sind zwei Passagen zu betrachten: Met. I 9, 993a15 – 24 und De gen. et corr. 333b7 – 16. Die erste Passage findet sich am Ende der so genannten Doxographie in Met. I. In einer allgemein gehaltenen Zusammenfassung über die Ansichten und Leistungen der Vorgänger sagt Aristoteles abschließend: Denn die früheste Philosophie schien über alles stammelnd zu sprechen, war sie doch noch jung und an ihrem Anfang. So sagt auch Empedokles, der Knochen bestehe kraft eines logos, dies aber ist die Essenz, d. h. die Substanz einer Sache. Indes besteht ebenso notwendig auch Fleisch und jedes andere Ding durch einen logos – oder aber keines; denn durch den logos bestehen sowohl Fleisch als auch Knochen und jedes andere Ding, und nicht durch die Materie, die er als Ursache nennt, Feuer und Erde und Wasser und Luft. Doch dem hätte er, wenn ein anderer es gesagt hätte, notwendig zugestimmt, verständlich gesagt hat er es aber nicht. (Übersetzung Szlezak, leicht verändert)46
Mit Blick auf Demokrit verweist Balme auf Met. XII, 1078b17, wo Demokrit eine Definition des Heißen und Kalten zugeschrieben wird. Gemäß Balme ist hier an die Definition von Demokrit zu denken, wonach das Heiße eine Wahrnehmung sei, die durch die Bewegung der Atome entstehe. Siehe Aristotle. De partibus animalium I and De generatione animalium I, Translated with Notes by D. M. Balme (Oxford 1972, repr. 2001), 100. 46 993a15 – 24: ψελλιζομένῃ γὰρ ἔοικεν ἡ πρώτη φιλοσοφία περὶ πάντων, ἅτε νέα τε καὶ κατ’ ἀρχὰς οὖσα [καὶ τὸ πρῶτον], ἐπεὶ καὶ Ἐμπεδοκλῆς ὀστοῦν τῷ λόγῳ φησὶν εἶναι, τοῦτο δ’ ἐστὶ τὸ τί ἦν εἶναι καὶ ἡ οὐσία τοῦ πράγματος. ἀλλὰ μὴν ὁμοίως ἀναγκαῖον καὶ σάρκας καὶ τῶν ἄλλων ἕκαστον εἶναι τὸν λόγον, ἢ μηδὲ ἕν· διὰ τοῦτο γὰρ καὶ σὰρξ καὶ ὀστοῦν ἔσται καὶ τῶν ἄλλων ἕκαστον καὶ οὐ διὰ τὴν ὕλην, ἣν ἐκεῖνος λέγει, πῦρ καὶ γῆν καὶ ὕδωρ καὶ ἀέρα. ἀλλὰ ταῦτα ἄλλου μὲν λέγοντος συνέφησεν ἂν ἐξ ἀνάγκης, σαφῶς δὲ οὐκ εἴρηκεν. Szlezak übersetzt logos als »Verhältnis« bzw. »Proportion«. 45
Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Empedokles’ logos
45
Aristoteles macht ohne Umschweife geltend, Prinzip der Naturdinge sei ein logos, den er gleichsetzt mit der Essenz (ti ên einai) und der ousia. Etwas davon habe bereits Empedokles richtig gesehen, aber nicht zum Ausdruck gebracht. Aristoteles’ Darstellung ist alles andere als klar, denn was genau Empedokles richtig erkannt hat und was nicht, bleibt offen. Zieht man die zuvor zitierte Passage aus De partibus animalium heran, dann ließe sich sagen, Empedokles sei letztlich an einer genauen Bestimmung der Essenz gescheitert, weil er nicht in der Lage war, auf dialektischem Weg den logos anzugeben.47 Doch welche Art logos hat Empedokles überhaupt als Naturprinzip geltend gemacht? Alexander von Aphrodisias vertritt in seiner Kommentierung dieser Metaphysik-Passage die Ansicht, Aristoteles beziehe sich auf einen EmpedoklesVers, den er in De anima 410a10 zitiert (Fragment DK B 96, Ross folgt Alexander hierin ohne Zögern). Mangels Alternativen ist es geboten, sich dieser Ansicht anzuschließen. Der betreffende Vers ist allerdings ernüchternd, denn von logos ist dort gar nicht die Rede: Die Erde aber zu ihrer Freude erhielt in schönbrüstigen Tiegeln zwei von den acht Teilen hinzu vom Glanze der Nestis und vier vom Hephaistos. Das wurden die weißen Knochen.48
Es gibt auf den ersten Blick nur eine uns bekannte Bedeutung von logos, die hier passt, nämlich logos in Sinne des Mischungsverhältnisses bzw. der Proportion. Ein solcher logos tês mixeôs ist auch Gegenstand der Diskussion in De anima I 4, wie wir gesehen haben. Wenn allerdings Empedokles’ unter logos das Mischungsverhältnis der materialen Bestandteile verstanden hat, wie kann Aristoteles dann sagen, er habe die Essenz der Dinge erfasst? Wie sich zeigte, ist die Essenz nicht das Mischungsverhältnis der materialen Bestandteile. Wenn daher Aristoteles über Empedokles sagt, er habe die Essenz und den logos richtigerweise als Naturprinzip aufgefasst, dann ist er sehr wohlwollend, denn Empedokles’ hatte vermutlich nur Mischungsverhältnisse im Sinn. Was ihn aber vermutlich an Empedokles’ Ansatz beeindruckt hat, ist das Vorgehen, die Dinge nicht über ihre materialen Bestandteile zu bestimmen (dass dies wohl gängige Praxis war, zeigt sich in Platons Theaitetos 206e–207a). Bei Da hier in 993a20 das dia touto den Gegensatz zum nachfolgenden ou dia tên hylên bildet, wird der logos zweifelsohne in die Nähe zur Formursache gerückt. Wie Ross zu dieser Schluss passage anmerkt, schreibt Aristoteles Empedokles bereits zuvor die Unterscheidung von Materialursache (984a8) und Wirkursache zu (984b6, 985a5, 985a33), während hier die Formursache hinzukomme, siehe W. D. Ross, Aristotle – Metaphysics Vol. I (Oxford 1924), 212. 48 Fragment B 96: ἡ δὲ χθὼν ἐπίηρος ἐν εὐστέρνοις χοάνοισι τὼ δύο τῶν ὀκτὼ μερέων λάχε Νήστιδος αἴγλης, τέσσαρα δ’ Ἡφαίστοιο· τὰ δ’ ὀστέα λευκὰ γένοντο. Übersetzung und griech. Text nach Diels/Kranz. 47
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Kapitel 6
Empedokles, soviel lässt sich sagen, ist die Natur der Dinge etwas Formales, eben das Mischungsverhältnis der Elemente. Dies wird deutlich in Fragment B 4, das Aristoteles in Met. V 4, 1015a1 – 2a zitiert: Nichts vom Seienden ist Natur, sondern es gibt nur Mischung und Trennung des Gemischten, Natur hingegen wird es bei den Menschen genannt. (Eigene Übersetzung)49
Aristoteles führt Empedokles an dieser Stelle als jemanden an, der Natur nicht im Sinne der Materie auffasst, sondern im Sinne der Substanz und Form. Daher ist zu fragen, was Aristoteles zufolge nur der logos im Sinne des dialektischen Definiens leistet, nicht aber der logos, den Empedokles geltend macht, sprich das Mischungsverhältnis. Aufschluss hierüber hierüber gibt eine Aussage in De spiritu, eine Schrift, deren Zuschreibung an Aristoteles wiederholt angezweifelt wurde.50 Empedokles wird darin für die Auffassung kritisiert, alle Knochen hätten dasselbe Mischungsverhältnis (hapanta ton logon auton echei tês mixeôs, 485b26 – 28). Eine solche Bestimmung sei hinsichtlich der gegebenen Differenzen in der Natur unzureichend, da auf diese Weise die Knochen des Löwen, Pferdes und Menschen dieselben seien müssten. Es bräuchte einen je spezifischen logos für jede Knochenform. Der logos von Empedokles wäre dann zu unspezifisch und vermöchte es nicht, die natürliche Vielfalt der Dinge zu erk lären. Diese Kritik ist durchaus im Sinne von Aristoteles, da er, wie oben gezeigt, in Eta 2 darlegt, es brauche verschiedenste konstitutive Differenzen, um der Vielfalt des Seienden gerecht zu werden.
6.2 Der logos als Bedingung für natürliche Entstehung
Die zweite Passage zu Empedokles bringt den entscheidenden Einwand gegen Empedokles’ Naturbegriff vor und vermittelt damit ein weiteres Kriterium, das der logos zu erfüllen hat. Empedokles’ Mischung, so kritisiert Aristoteles, sei wie eine zufällige Konstellation und erkläre nicht, warum notwendigerweise etwas entsteht, also etwa, warum aus einem Menschen ein Mensch entsteht. Bemerkenswert ist, dass Aristoteles dem logos den Zufall gegenüberstellt, was einer Erläuterung bedarf. Er schreibt: 49
φύσις οὐδενὸς ἔστιν ἐόντων, ἀλλὰ μόνον μῖξίς τε διάλλαξίς τε μιγέντων ἔστι, φύσις δ’ ἐπὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν. 50 Die lange Liste der Zweifler findet sich in A. P. Bos/R. Ferwerda, ›Aristotle’s De spiritu as a Critique of the Doctrine of pneuma in Plato and His Predecessors‹, in: Mnemosyne 60 (2007), 565 – 588. Zwar kritisieren Bos/Ferwerda die Stichhaltigkeit der bisherigen Zweifel, argumentieren aber nicht für Aristoteles als Autor.
Aristoteles’ Auseinandersetzung mit Empedokles’ logos
47
Was also ist die Ursache dafür, dass aus einem Menschen ein Mensch entsteht, immer oder meistens, und dass aus Weizen Weizen entsteht und kein Olivenbaum? Und ist der Knochen das so und so Zusammengesetzte? Denn nichts ist zufällig Zusammengesetztes noch entsteht es zufällig, wie es [Empedokles’] Rede zufolge gilt, sondern aufgrund eines logos. Was also ist die Ursache von diesen Dingen? Nicht Feuer oder Erde. Aber auch nicht Liebe und Streit. Das eine ist nur Ursache der Zusammensetzung, das andere Ursache der Trennung. Vielmehr ist die Ursache die Substanz des jeweiligen Dings und nicht »allein Mischung und Trennung des Gemischten«, wie jener sagt. Vom Zufall spricht man bei diesen Dingen, nicht von logos. Denn sie werden wie zufällig gemischt. Die Ursache der Dinge, die von Natur aus sind, ist das Sich-so-Verhalten, und dies ist die Natur selbst vom jeweiligen Ding, und darüber sagt er nichts. Er sagt also nichts über die Natur. (Eigene Übersetzung)51
Wegen der Nennung von Liebe und Streit als Prinzipien ist klar, dass die Kritik auf Empedokles abzielt. Das Mischungsverhältnis der Elemente sei nicht logos, sondern eher zufällig. Es erkläre bestenfalls, auf welche Weise aus Weizen Weizen entsteht, aber nicht, warum das immer oder meistens so geschieht. Daraus lässt sich ableiten, dass der logos genau dies zu leisten hat: Er muss gewährleisten, dass dieses aus jenem entsteht, und nicht irgendetwas aus irgendetwas. Analog dazu muss sich durch ihn auch erklären lassen, warum etwas mit Naturnotwendigkeit entsteht. Er gewährleistet, dass aus einem Menschen immer (oder meistens, wie Aristoteles anfügt) ein Mensch entsteht und aus Weizen kein Olivenbaum, sondern nur Weizen. In diesem Sinne ist der logos Explanans und somit möglicherweise das, was Aristoteles aitia nennt. Auf ähnliche Weise kontrastiert er in Physik 197a17 den logos mit dem Zufall. Er sagt dort, es sei treffend, den Zufall als paralogon zu bezeichnen, da sich der logos auf das beziehe, was immer oder meistens der Fall sei (also nach Aristoteles auf das Notwendige), der Zufall hingegen nicht.52 Folglich ergibt sich die Naturnotwendigkeit gerade durch den logos. Er bedingt, was entsteht, und somit bedingt er
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333b7 – 16: Τί οὖν τὸ αἴτιον τοῦ ἐξ ἀνθρώπου ἄνθρωπον ἢ ἀεὶ ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, καὶ ἐκ τοῦ πυροῦ πυρὸν ἀλλὰ μὴ ἐλαίαν; ἢ καὶ ἐὰν ὡδὶ συντεθῇ ὀστοῦν; οὐ γὰρ ὅπως ἔτυχε συνελθόντων οὐδὲν γίνεται, καθ’ ἃ ἐκεῖνός φησιν, ἀλλὰ λόγῳ τινί. Τί οὖν τούτων αἴτιον; οὐ γὰρ δὴ πῦρ γε ἢ γῆ. Ἀλλὰ μὴν οὐδ’ ἡ φιλία καὶ τὸ νεῖκος· συγκρίσεως γὰρ τὸ μέν, τὸ δὲ διακρίσεως αἴτιον. Τοῦτο δ’ ἐστὶν ἡ οὐσία ἡ ἑκάστου, ἀλλ’ οὐ «μόνον μίξις τε διάλλαξίς τε μιγέντων», ὥσπερ ἐκεῖνός φησιν. Τύχη δ’ ἐπὶ τούτοις ὀνομάζεται, ἀλλ’ οὐ λόγος· ἔστι γὰρ μιχθῆναι ὡς ἔτυχεν. Τῶν δὴ φύσει ὄντων αἴτιον τὸ οὕτως ἔχειν, καὶ ἡ ἑκάστου φύσις αὕτη, περὶ ἧς οὐδὲν λέγει. Οὐδὲν ἄρα περὶ φύσεως λέγει. 52 197a18 – 20: καὶ τὸ φάναι εἶναί τι παράλογον τὴν τύχην ὀρθῶς· ὁ γὰρ λόγος ἢ τῶν ἀεὶ ὄντων ἢ τῶν ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, ἡ δὲ τύχη ἐν τοῖς γιγνομένοις παρὰ ταῦτα.
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Kapitel 6
auch die konstitutive Struktur der Naturdinge. Er kann nicht die Struktur selbst sein. Dies ist ein wichtiges Resultat mit Blick auf die Frage, in welchem Sinne der logos Substanz und Entstehungprinzip ist.
Kapitel 7 Weshalb bestimmt Aristoteles die Form als logos?
7.1 Der merkwürdige Ausdruck, die Form sei kata logon abgetrennt
Eine Grundfrage dieser Untersuchung lautet, weshalb Aristoteles die Form und damit auch die Substanz als logos bestimmt. Den griechischen Ausdruck eidos durch einen anderen Ausdruck zu bestimmen, kann eigentlich nur zwei Gründe haben: Entweder ist der Ausdruck eidos zu vage oder Aristoteles will darunter anderes verstehen als seine Vorgänger. Meiner Erachtens trifft beides zu. Die Vagheit von eidos bei Aristoteles wird später zu diskutieren sein. Dass er den Ausdruck eidos von Platon übernommen hat, das aber, was Platon darunter verstand, ablehnte, ist bekannt. Was zeigt daher sein Vorgehen, das eidos als den definierenden logos zu bestimmen (Physik II 1, 193a31 u. b1 – 2; II 3, 194b26 – 27 = Met. V 2, 1013a26 – 27)? Seine Präzisierung in der Physik, Naturprinzip sei das eidos kata ton logon, könnte so zu lesen sein, dass er verschiedene Typen von eidê unterscheiden will, so, wie Simplicius angibt, Aristoteles kontrastiere hier das eidos kata ton logon mit dem eidos kata tên morphên.53 Doch das funktioniert nicht, weil Aristoteles in Physik II 1, 193a31–b18 die Ausdrücke eidos und morphê mehr oder minder gleichbedeutend verwendet und beide als logos bestimmt. In der entscheidenden Passage sagt er: Auf eine solche Weise also wird ›Natur‹ genannt, was erste zugrundeliegende Materie in den Dingen ist, die in sich selbst das Prinzip der Bewegung und Veränderung haben, auf eine andere Weise wird die Gestalt [morphê] und die Form [eidos] im Sinne des logos ›Natur‹ genannt […] Denn was dem Vermögen nach Fleisch oder Knochen ist, hat so lange keine eigene Natur und ist nicht von Natur aus, bis es die Form im Sinne des logos annimmt, mit dem wir angeben, was Fleisch und was Knochen ist. So wird auf eine andere Weise die Natur der Dinge, die das Prinzip der Veränderung in sich selbst tragen, die Gestalt und die Form sein, die nicht abgetrennt ist, oder nur im Sinne des logos. (Eigene Übersetzung)54 Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria, 276, 25 – 30. Physik II 1, 193a28-b5: ἕνα μὲν οὖν τρόπον οὕτως ἡ φύσις λέγεται, ἡ πρώτη ἑκάστῳ ὑποκειμένη ὕλη τῶν ἐχόντων ἐν αὑτοῖς ἀρχὴν κινήσεως καὶ μεταβολῆς, ἄλλον δὲ τρόπον ἡ μορφὴ καὶ τὸ εἶδος τὸ κατὰ τὸν λόγον […] τὸ γὰρ δυνάμει σὰρξ ἢ ὀστοῦν οὔτ’ ἔχει πω τὴν ἑαυτοῦ φύσιν, πρὶν ἂν λάβῃ τὸ εἶδος τὸ κατὰ τὸν λόγον, ᾧ ὁριζόμενοι λέγομεν τί ἐστι σὰρξ ἢ ὀστοῦν, οὔτε φύσει ἐστίν. ὥστε ἄλλον τρόπον ἡ φύσις ἂν εἴη τῶν ἐχόντων ἐν αὑτοῖς κινήσεως ἀρχὴν ἡ μορφὴ καὶ τὸ εἶδος, οὐ χωριστὸν ὂν ἀλλ’ ἢ κατὰ τὸν λόγον. 53
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Kapitel 7
Diese Passage ist zentral für meine Untersuchung. Es ist zunächst auf einen Punkt hinzuweisen, der für das Nachfolgende wichtig sein wird. Es sieht in dieser Passage so aus, als ob die Bestimmung der Form als logos etwas mit der Frage ihres Abgetrenntsein zu tun hat. Was also heißt es für die Form, kata logon abgetrennt zu sein, und in welchem Sinne ist sie dann logos? Es ist zu vermuten, dass die Frage nach dem Abgetrenntsein auf eine Auseinandersetzung mit Platons Denken hinweist, denn in aller Regel kritisiert Aristoteles die Platoniker dafür, abgetrennte Ideen geltend zu machen. So ließe sich annehmen, Aristoteles wolle an dieser Stelle seinen Formbegriff vom platonischen abgrenzen und nimmt daher auch die Frage in den Blick, ob und auf welche Weise die Form abgetrennt ist.55 Bevor allerdings zu klären ist, was es für die Form heißt, kata logon abgetrennt zu sein, ist eine weitere Passage hinzuzunehmen, an welcher ebenso sowohl die Bestimmung der Form als logos auftritt als auch die Aussage, sie sei kata logon abgetrennt. Sie findet sich in der Zusammenfassung von Buch Zeta in Eta 1. Zunächst macht Aristoteles geltend, die Substanz im Sinne der Essenz sei der definierende logos (1042a17). Kurz darauf sagt er: Substanz ist das Zugrundeliegende, und zwar auf eine Weise die Materie (Materie nenne ich das, was nicht im Sinne der Verwirklichung etwas Bestimmtes ist, sondern im Sinne des Vermögens). Auf eine andere Weise [ist das Zugrundeliegende] der logos und die Gestalt, das als bestimmtes Seiendes im logos abgetrennt ist. Als drittes [ist das Zugrundeliegende] das aus diesen Bestehende, das allein Entstehen und Vergehen hat und schlechthin abgetrennt ist. Das im Sinne des logos Seiende ist teils abgetrennt, teils nicht. (Eigene Übersetzung)56
Weshalb macht Aristoteles das Zugeständnis, die Form sei zumindest kata logon abgetrennt? Mir ist die Feststellung wichtig, dass er diese Aussage ernst meint und sie keine Verlegenheitslösung darstellt. Wie er in Zeta 15, 1040b27 – 29 angibt, haben die Platoniker die Ideen zu Recht als abgetrennt ausgewiesen, wenn sie denn Substanz sein sollen. Die Frage lautet dann nicht, ob die Substanz abge55
Dieser Ansicht vertritt etwa Lewis, wenn er mit Blick auf diese Passage geltend macht, die Frage des Abgetrenntsein der Form stelle Aristoteles stets mit Blick auf Platons Formen, siehe F. Lewis, How Aristotle gets by in Metaphysics Zeta (Oxford 2013), 1, Anm. 2. 56 1042a26 – 31: ἔστι δ’ οὐσία τὸ ὑποκείμενον, ἄλλως μὲν ἡ ὕλη (ὕλην δὲ λέγω ἣ μὴ τόδε τι οὖσα ἐνεργείᾳ δυνάμει ἐστὶ τόδε τι), ἄλλως δ’ ὁ λόγος καὶ ἡ μορφή, ὃ τόδε τι ὂν τῷ λόγῳ χωριστόν ἐστιν· τρίτον δὲ τὸ ἐκ τούτων, οὗ γένεσις μόνου καὶ φθορά ἐστι, καὶ χωριστὸν ἁπλῶς· τῶν γὰρ κατὰ τὸν λόγον οὐσιῶν αἱ μὲν αἱ δ’ οὔ. Bostocks Erläuterung des Ausdrucks chôriston tô logô beschränkt sich auf einen Rückverweis auf Zeta 3, 1029a27 – 28. In der Tat wird auch dort das Abgetrenntsein mit dem tode ti in Verbindung gebracht, aber das erklärt nicht, was es mit dem Abgetrenntsein auf sich hat, siehe D. Bostock, Aristotle: Metaphysics Book Zeta and Eta, 251.
Weshalb bestimmt Aristoteles die Form als logos?
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trennt ist, sondern auf welche Weise. Dass sie abgetrennt ist, sagt Aristoteles explizit in Zeta 1, 1028a34. Nur sie ist abgetrennt, alle übrigen Kategorien hingegen nicht. Zudem heißt es in Zeta 3, 1029a27 – 28, dasjenige, was abgetrennt ist und etwas Bestimmtes, sei in höherem Maße Substanz. Daher ist die Frage nach dem Abgetrenntsein der Form zentral für die Bestimmung der Substanz als logos.
7.2 Morrisons Kritik an Aristoteles’ Ausdruck chôriston kata logon
Eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage, was Aristoteles unter chôriston kata logon versteht, findet sich bei Morrison. Ihm zufolge meint Aristoteles mit dem Ausdruck chôriston kata logon (Physik II 1) bzw. chôriston tô logô (Eta 1) das Abgetrenntsein in der Definition (»separate in definition«). Dieser Lesart folgen mehr oder minder alle Interpreten.57 Morrison erachtet dieses Zugeständnis als rhetorischen »Kniff« und eine Art »Betrug«, um sich von den Platonikern abzugrenzen.58 Trifft dies zu, dann wäre die Bestimmung der Form und Substanz als logos womöglich auch nur ein Bluff. Aus diesem Grund ist auf Morrisons Darstellung genauer einzugehen. Seiner Untersuchung zufolge tritt der Ausdruck chôristos mehr oder minder erst bei Aristoteles auf.59 Es sei darum anzunehmen, so Morrison, dass Aristoteles ihn als Fachterminus einführt, der eine klar umrissene Bedeutung hat.60 Aber das lässt sich anzweifeln. In De generatione animalium ist im Falle der männlichen Biene das Männliche vom Weiblichen unabgetrennt (mê kechôrismenon, 759b31 – 32), in De Int. hingegen ist das Abgetrennte ein Ausdruck, für den sich fragen lässt, ob er für sich genommen etwas signifiziert (16a20 u. 25). Es gibt dann wenigstens einen ontologischen, einen biologischen und einen semantischen Sinn von chôristos. Auch ist der Ausdruck chôristos mehrdeutig, da Aristoteles das Abgetrenntsein kata logon vom schlechthin (haplôs) Abgetrenntsein unterscheidet (Eta 1, 1042a29 – 31), zudem das Abgetrenntsein kata logon vom Abgetrenntsein hinsichtlich des Ortes (De anima II 2, 413b15) und der Ausdehnung (De anima III 4, zum Beispiel L. Spellman, Substance and Separation in Aristotle (Cambridge 1995), 93 – 97, M. Peramatzis, Priority in Aristotle’s Metaphysics (Oxford 2011), 262 – 264. 58 D. Morrison, ›Separation in Aristotle’s Metaphysics‹, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 3 (1985), 125 – 157, 154. 59 D. Morrison, ›Χωριστός in Aristotle‹, in: Harvard Studies in Classical Philology 89 (1985), 89 – 105. Von daher ergibt sich Fines Feststellung von selbst, wonach Platon niemals behauptet hat, die Formen würden abgetrennt für sich bestehen. Siehe Fine, On Ideas, 116: »[…] for Plato never says that forms exist separetely (chôris).« sowie auch 274 – 275 (Anm. 69). 60 ›Χωριστός in Aristotle‹, 93. 57 So
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Kapitel 7
429a11 – 12) sowie ein Abgetrenntsein im numerischen Sinne vom ontologischen (De anima III 2, 427a2 – 3). Auch spricht er davon, dass etwas etwas mehr oder weniger abgetrennt sein kann (Physik II 2, 194a1). In diesem Kontext erfahren wir, dass die Frage, wie sich das Abgetrennte verhält und was es ist, in die erste Philosophie gehöre (194b14 – 15). Die Antwort ist also keineswegs trivial. Ein wichtiges Ergebnis aus Morrisons Untersuchung lautet zudem, chôristos meine »abgetrennt«, nicht »abtrennbar«, wie es häufig übersetzt wird. Diese Einengung ist grundsätzlich vertretbar, allerdings wird sich zeigen, dass dasjenige, was im Denken abgetrennt ist, daher auch gedanklich abtrennbar ist, ohne dass daraus Probleme entstehen. Nach Morrison geht es Aristoteles beim chôriston kata logon darum, dass sich die Form ohne Einbezug der Materie bestimmen lässt. Morrison erachtet Eta 1, 1042a26 – 31 als Hauptbeleg für seine Interpretation. Dort heiße es, die Form für sich genommen sei nur hinsichtlich der Definition abgetrennt (als Dativ tô logô), während der Verbund von Form und Materie schlechthin abgetrennt ist (haplôs). Dieses Zugeständnis an die Form ist nach Morrison ein gescheiterter Versuch von Aristoteles, mit einem Trick das Gesicht zu wahren. Die Form, so sagt Morrison mit Blick auf Physik II 2, 193b32 – 194a1, sei gar nicht ohne Materie definierbar, weshalb die Form nicht hinsichtlich der Definition abgetrennt sein kann. Kurzum, diese Art von Abtrennung sei ein unsinniges Zugeständnis seitens Aristoteles, das er nicht einhalten kann.61 Um diese Schwierigkeit zu umgehen, müsste man das kata logon uminterpretieren, aber es gibt eigentlich keine brauchbare Alternative zu der Auffassung, logos meine das Definiens und kata logon/tô logô daher »im Sinne der Definition«. Die Problematik verschärft sich dadurch, dass Aristoteles zufolge die Definition das Sein angibt. Wenn folglich etwas im Sinne der Definition abgetrennt ist, dann ist es auch im Sinne des Seins abgetrennt. Weshalb ist die Form dann nicht abgetrennt in dem Sinne, wie es die Platoniker behaupten? Zweifelsohne hat Morrison auf ein grundlegendes Problem aufmerksam gemacht. Dennoch gibt es zwei Schwachpunkte in seiner Darstellung. Erstens berücksichtigt er nicht, das die Form als etwas Bestimmtes kata logon abgetrennt ist, nämlich die Form im Sinne des logos. Streng genommen ist dann der logos kata logon abgetrennt, was unsinnig klingen mag, aber der Aussage aus Eta 1 und Physik II 1 entspricht. Zu fragen ist also, weshalb die Form im Sinne des Definiens auf solche Weise abgetrennt ist. Zweitens muss Morrisons Kritik davon ausgehen, dass Aristoteles seinen Leser für ziemlich unaufmerksam hält. Das Abgetrenntsein der Form behauptet er in Physik II 1, 193b4 – 5. Nur zwei Bekker-Seiten später äußert er dann dasjenige, 61
›Separation in Aristotle’s Metaphysics‹, 154 – 155.
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woran Morrison Anstoß genommen hat, nämlich die Aussage, dass sich solches wie das Gewebe und der Knochen nicht ohne Materie definieren lässt und daher unabgetrennt ist (II 2, 193b32 – 194a7). Kann Aristoteles so naiv gewesen sein zu glauben, sein Leser habe vergessen, was er in 193b4 – 5 über die Form gesagt hat? Wohl kaum. Mein Lösungsvorschlag wird sein, dass die Form im Sinne des logos zu unterscheiden ist von dem, was Aristoteles Gewebe und Knochen nennt. Zunächst aber ist zu sehen, ob sich das Abgetrenntsein kata logon näher bestimmen lässt.
7.3 Klärungsversuche des aristotelischen Ausdrucks chôriston
Die Frage, was Aristoteles mit dem Ausdruck chôriston meint, hat bereits viel Aufmerksamkeit erfahren. Die unterschiedlichen Ansätze in der Klärung der Frage sind auch der Vielzahl von Kontexten geschuldet, in denen bei Aristoteles vom Abgetrenntsein im ontologischen Sinne die Rede ist. Auch überlässt er es seinem Leser, zwei unterschiedliche Vorwürfe zusammenzuführen, die er gegen die Platoniker vorbringt. In Peri ideon heißt es, die Platoniker würden die ausgesagte Form als vom Einzelding abgetrennt auffassen (ta kath’ hekasta katêgoreitai), also womöglich das Prädikat ›Mensch‹ abgetrennt von den Individuen Sokrates und Kallias.62 In Physik II 2 hingegen lautet der Vorwurf an die Platoniker, sie würden die Naturdinge abgetrennt von der Materie betrachten (193b33: theôrei), was zu Fehlern führe. Beides lässt sich womöglich dadurch zusammenbringen, dass es in beiden Fällen um das Abgetrenntsein der Formen gehe. Wenn man die Formen als abgetrennt Seiendes behandelt, dann ergeben sich Fehler, weil sie nicht abgetrennt sind.63 Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Aristoteles einerseits davon spricht, dass etwas von der Materie bzw. Veränderung abgetrennt ist (Physik II 2, 193b31 – 194a1), andererseits davon, dass nur die Substanzprädikate abgetrennt sind, alle übrigen Prädikate nicht (Zeta 1, 1028a10 – 11, er spricht hier von katêgorêmata). Wovon die Substanzprädikate abgetrennt sind, bleibt offen, und auf die gleiche Weise bleibt unklar, wovon die zusammengesetzte Substanz schlechthin
62 Siehe Fines Ausgabe des griechischen Texts in G. Fine, On Ideas (Oxford 1993), 8 (84, 24 – 27). 63 Peramatzis äußert die Ansicht, die falsche Definitionsweise der Platoniker ziehe die Annahme von abgetrennten Ideen nach sich, wofür er allerdings keinen Textbeleg anführt, siehe Priority in Aristotle’s Metaphysics, 169. Denkbar ist auch die umgekehrte Variante, dass die Ansicht, die Ideen seien abgetrennt, zu der Annahme führt, man könne sie für sich genommen definieren.
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abgetrennt ist (siehe Met. VI 1, 1026a14 – 16; Eta 1, 1042a30 – 31). Von der Materie ist sie ganz sicher nicht abgetrennt. Folgt man Fine, so geht es um die selbständige Existenz. Sie hat dafür als Beleg die aristotelische Ideenkritik auf ihrer Seite, denn die platonischen Ideen sind nach allem, was wir wissen, etwas, das unabhängig vom Konkreten existieren soll. Es gibt sie unabhängig von dem, was an ihnen teilhaben kann (und wovon wir sie aussagen).64 Unbefriedigend ist an ihrer Erklärung, dass damit erstens unklar bleibt, inwiefern die Substanzprädikate abgetrennt sind, und zweitens, was es dann heißt, kata logon abgetrennt zu sein. Damit kann schwerlich die Frage nach der selbständigen Existenz thematisiert sein. Dennoch bin ich der Ansicht, dass Fine mit ihrer Interpretation recht hat und Aristoteles diese Art des Abgetrenntseins meint, wenn er vom chôriston haplôs spricht. Corkum wendet gegen Fines Vorschlag ein, individuelle Substanzen seien nach Aristoteles zwar abgetrennt von allen Akzidenzien, aber ganz sicher können solche Individuen nicht ohne ihre Propria existieren. Daher könne das Abgetrenntsein nicht die Existenz meinen.65 Er plädiert stattdessen für eine deflationäre Bestimmung des chôriston. Es gehe Aristoteles um das Folgende: The question is: have universals like humanity and generosity their ontological status in virtue of standing in a tie to sensible particulars […]? The position Aristotle ascribes to the Platonists is […] that it is actually the case that universals do not depend on particulars for their ontological status.«66
Die Frage lautet dann nicht, ob A unabhängig von B existieren kann, sondern ob A unabhängig von B der Status von etwas Seiendem zugesprochen werden kann. Den Kategorien zufolge trifft dies nur für die individuellen Substanzen zu, da alles übrige nur darum ein Seiendes ist, weil es von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird oder in ihm ist. Corkum gesteht zu, dass seine deflationäre Interpretation nicht als zureichende Bestimmung des chôriston taugen kann. Dieses Defizit wird besonders deutlich an einem Punkt, den seine Betrachtung außen vor lässt, nämlich am Umstand, dass Aristoteles nicht nur sagt, dass die Substanz abgetrennt ist, die Ideen hingegen nicht, sondern auch, dass die physikalische Form nicht von der Materie bzw. Veränderung abgetrennt ist (Physik II 2, 194a3 – 7). Gemäß Corkums Vorgaben müsste Aristoteles damit sagen, dass die Form ontologisch von der Materie abhängt, und das ist eine problematische Aussage. Peramatzis hat recht, Fine, ›Separation‹, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 2 (1984), 31 – 87, dies., On Ideas, 116 – 119. 65 P. Corkum, ›Aristotle on Ontological Dependence‹, in: Phronesis 53, 1 (2008), 65 – 92, 72. 66 Ebd., 85. 64 G.
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auf folgendes Dilemma hinzuweisen: Die Form der Naturdinge hat gegenüber der Materie definitorische Priorität, aber dennoch kann sie nicht ohne Bezugnahme auf die Materie definiert werden, wie Aristoteles mehrfach äußert.67 Die Frage nach der ontologischen Unabhängigkeit wäre dann zumindest deutlich komplizierter, als es Corkums Vorschlag suggeriert. Es gibt noch einen weiteren Schwachpunkt in Corkums Interpretation. Den Gedanken der ontologischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit bezieht er aus dem so genannten Ontologischen Quadrat aus den Kategorien. In dieser Schrift taucht der Ausdruck chôris nur einmal auf und meint, dass dasjenige, was in einem Zugrundeliegenden ist, nicht abgetrennt von dem sein kann, worin es ist (1a25).68 Folglich sind die Akzidenzien ontologisch abhängig vom dem, woran sie auftreten. Gemäß Corkums Darstellung sind aber auch die zweiten Substanzen ontologisch von den ersten abhängig, von denen sie ausgesagt werden, womit er durchaus recht hat (vgl. 2b6b–c). Doch die zweiten Substanzen sind gerade nicht in einem Zugrundeliegenden wie die Akzidenzien. Es gibt folglich mindestens zwei Weisen der ontologischen Abhängigkeit in den Kategorien, und eine solche Unterscheidung fällt Corkum nicht. Dennoch hat seine Interpretation etwas Richtiges, wie sich zeigen wird. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass weder Fines noch Corkums Interpretation für sich genommen eine Grundlage bieten, um den Ausdruck chôriston kata logon zu bestimmen.
7.4 Lösungsvorschlag: Die Essenz ist nicht an die Materie gebunden
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Aristoteles in Eta 1 zwei Arten des Abgetrennten unterscheidet: das kata logon Abgetrennte und das schlechthin Abgetrennte. Meine Interpretation lautet wie folgt. Die Form im Sinne der Essenz ist kata logon abgetrennt, und das bedeutet, dass ihr Sein und damit ihre Definition keine Materie enthält. Sie ist aber nicht schlechthin abgetrennt, das heißt, sie besteht nicht abgetrennt von der jeweiligen Sache (to hekaston). Stattdessen ist sie seine ausführliche Diskussion des Dilemmas in Priority in Aristotle’s Metaphysics, 23 – 54. 68 »Mit ›in einem Zugrundeliegenden‹ meine ich, was in diesem [Zugrundeliegenden] nicht als Teil vorliegend unmöglich abgetrennt von dem sein kann, in dem es ist.«, ἐν ὑποκειμένῳ δὲ λέγω ὃ ἔν τινι μὴ ὡς μέρος ὑπάρχον ἀδύνατον χωρὶς εἶναι τοῦ ἐν ᾧ ἐστίν. Anders als es Ackrill übersetzt, nennt Aristoteles hier nicht zwei Bedingungen (das ›kein Teil zu sein‹ und das ›unabtrennbar zu sein‹), sondern nur eine: Was nicht abgetrennt von dem sein kann, worin es ist, ist in einem Zugrundeliegenden. 67 Siehe
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mit dieser identisch, wie wir in Zeta 6 erfahren. Die materiefreie Form ist keine Idee, die unabhängig neben demjenigen besteht, wovon sie ausgesagt wird. Aristoteles sagt uns ausdrücklich, diejenige Form, die kata logon abgetrennt ist, sei der definierende logos (Physik II 1, 193b1 – 2).69 Dieser logos ist die Essenz, wie wir in Eta 1 erfahren (1042a17). Was heißt es für die Essenz, abgetrennt zu sein? In Physik II 2, 193b35 – 194a7 meint chôriston zweifelsfrei, von der Materie abgetrennt zu sein. Aristoteles erklärt uns wiederholt, die Essenz sei materiefrei (Zeta 7, 1032b14; 11, 1037a1 – 2). Folglich wäre sie von der Materie abgetrennt, nicht aber das, wofür Aristoteles beispielhaft das Gewebe und den Knochen anführt (Physik II 2, 194a3 – 7). Diese können nicht ohne Materie bestehen. Das meint dann, dass die Angabe, was ein Knochen ist, nicht möglich ist ohne Einbeziehung der Materie, so, wie sich eben auch die Stupsigkeit nicht definieren lässt ohne die Nase. Die Konkavheit hingegen lässt sich in Absehung von der Materie definieren. Daraus lässt sich schließen, dass die Form im Sinne der Essenz abgetrennt von der Materie besteht, wie etwa die Konkavheit. Dies ist dann der Sinn von chôriston kata logon. Morrison liegt daher nicht unbedingt falsch, wenn er den Ausdruck chôriston kata logon sinngemäß als »separate in definition« wiedergibt. Aber er hat unrecht mit dem Vorwurf, dass das, was Aristoteles in Physik II 2 sagt, das Abgetrenntsein der Form unterlaufe. Denn diese Aussage bezieht sich auf Formen wie die der Stupsigkeit und nicht auf die Essenz. Meiner Interpretation zufolge unterscheidet Aristoteles zwei Arten von Form, und dass er dies tatsächlich tut, wird die Folge zeigen. Zunächst lässt sich festhalten, dass der Dialektiker die Essenz definiert, und Aristoteles hat gegen die dialektische Methode nichts einzuwenden. In manchen Fällen ist dieses Vorgehen aber unzureichend, nämlich wenn es auf Dinge angewendet wird, die mit Materie verbunden sind, etwa die Affekte der Seele (De anima I 1, 403a16–b8) oder die Stupsigkeit der Nase. Daher sieht Aristoteles die dialektische Methode nicht in Konkurrenz zur naturphilosophischen, was etwa in Eta 3, 1043a29 – 33 deutlich wird sowie in der genannten Passage in De anima. Sein Vorwurf an die Platoniker lautet dann nur, dass sie solches wie den Knochen oder auch den Menschen so definieren wollten, als handle es sich um eine
Ein weiteres, wenn auch schwächeres Indiz für die Identität von logos und eidos findet sich wenig später in Physik II 2. Aristoteles fragt dort, ob der Naturphilosoph die Dinge so zu betrachten hat, dass sie in der Form abgetrennt sind (194b12 – 13: chôrista eidei), aber in der Materie vorliegen. Wenn man annimmt, dass eidos und logos im Ausdruck eidos chôriston kata logon Verschiedenes meinen, müssten auch chôriston eidei und chôriston logô Verschiedenes meinen, was die Sache unnötig verkompliziert. 69
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materiefreie Essenz, während solche Dinge in Wahrheit materiegebunden sind (ich werde in Kapitel 9 darauf zurückkommen). Wenn aber die Essenz materiefrei ist, wieso ist sie dann nicht schlechthin abgetrennt? Es ist klar, dass Aristoteles mit Letzterem nicht die Materiefreiheit meinen kann, denn es ist gemäß Eta 1, 1042a29 – 31 gerade die Zusammensetzung aus Form und Materie, die schlechthin abgetrennt ist. Was bedeutet dieses Abgetrenntsein stattdessen? Eine Antwort darauf lässt sich aus Eta 6 gewinnen. Aristoteles macht geltend, die Verwirklichung (und das meint, die Essenz, vgl. 1043a32 – 33) sei materiefrei (1045a34 – 36). Dennoch aber besteht sie nicht abgetrennt vom jeweiligen Ding (1045b7: oud’ hôs chôriston ontôn para ta kath’ hekasta), sondern ist mit diesem identisch, wie er bereits in Zeta 6 dargelegt hat. Im Unterschied dazu ist die zusammengesetzte Substanz abgetrennt von allem übrigen Einzelnen und daher schlechthin abgetrennt. Damit sind die beiden Weisen des Abgetrenntseins in Eta 1 geklärt. Kata logon abgetrennt zu sein meint, ohne Bezug zur Materie definiert zu werden, schlechthin abgetrennt zu sein, für sich bestehen zu können.70 Wenngleich diese Interpretation auf den ersten Blick bereits bei Code angelegt ist, geht er anders als ich nicht davon aus, dass die Essenz abgetrennt von der Materie besteht. Code macht geltend, die Form der wahrnehmbaren Einzeldinge sei ohne Materie definierbar, existiere aber nicht ohne Materie.71 Die von Code angesprochene Existenz muss hier vage bleiben, denn das Sein einer Sache wird Aristoteles zufolge durch die Definition angegeben. Wenn die Form ohne die Materie definiert werden kann, dann ist ihr Sein auch materiefrei. Einen ganz anderen Weg beschreitet Loux. Ihm zufolge sei der begriffliche Inhalt der Form (»conceptual content«) ohne Referenz auf anderes identifizierbar, weshalb die Form definitorisch abgetrennt sei. Loux verzichtet damit auf die Angabe, wovon die Form getrennt ist, und führt stattdessen eine Unterscheidung ein, für die es wenig Hinweise bei Aristoteles gibt, nämlich die zwischen der Form und ihrem begrifflichen Inhalt. Daher ist diese Interpretation wenig hilfreich.72 Einen anderen Sinn als den soeben genannten hat chôriston hingegen in Zeta 1. Dort ist von den 10 Kategorien nur die Substanz abgetrennt, und da Aristoteles hier Prädikate behandelt, bedeutet dies, dass nur die Substanz für sich genommen ausgesagt werden kann. Er sagt explizit, dass Prädikate wie »Gutes« oder »Sitzen70 Dazu passt die Aussage aus Met. V 18, dass manches ein kath’ hauto genannt werde, weil es einzeln auftrete (monô hyparchei kai hê monon, 1022a35), weshalb das Abgetrennte (to kechôrismenon) ein kath’ hauto sei. Die zusammengesetzte Substanz besteht für sich. 71 A. Code, ›Some Basic Elements of Aristotle’s Metaphysical Essentialism‹, in: Michigan Philosophy News (1991), 2 – 6, 6. 72 M. Loux, Primary ›Ousia‹: An Essay on Aristotle’s Metaphysics Z and H (Ithaka N. Y. 1991), 263.
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der« nicht ohne die Substanz ausgesagt werden können (1028a29: ouk aneu toutou legetai). Man kann von etwas nicht das Gutsein aussagen, ohne damit die Aussage zu implizieren, dass es eine Substanz ist, aber der umgekehrte Fall ist möglich. Die Akzidenzien sind in dieser Hinsicht unabgetrennt von der Substanz (1028a23: oute chôrizestai dynaton tês ousias). Es geht also um semantische Beziehungen zwischen Prädikaten und es ist diese Art des Abgetrenntseins, auf die Corkum abzielt. Natürlich haben diese semantischen Beziehungen ihre ontologische Entsprechung. Die Substanz ist primär Seiendes, weil sie ohne Akzidenzien ausgesagt werden kann. Dies allerdings hat mit dem chôriston kata logon nichts zu tun. Bevor auf die Materiefreiheit der Essenz näher einzugehen ist, kurz noch ein Blick auf Eta 1. In der oben zitierten Passage findet sich eine bemerkenswerte Aussage, die noch einmal angeführt sei: Als drittes [ist das Zugrundeliegende] das aus diesen Bestehende, das allein Entstehen und Vergehen hat und schlechthin abgetrennt ist. Das im Sinne des logos Seiende ist teils abgetrennt, teils auch nicht.73
Das Besondere an dieser Aussage besteht darin, dass die Formulierung hai men … hai de distributiv zu lesen ist. Nicht ist das, was kata logon abgetrennt ist, auf eine Weise abgetrennt und auf eine andere nicht. Sondern von den Dingen, die kata logon abgetrennt sind, sind einige abgetrennt, andere nicht, und mit »abgetrennt« kann eigentlich nur das zuvor genannte »schlechthin abgetrennt« gemeint sein. Auf den ersten Blick ergibt das keinen Sinn.74 Ich denke, Bostock hat recht mit der Annahme, Aristoteles unterscheide hier Formen, die nicht für sich bestehen können (nach meiner Lesart die Essenzen) von Formen, die für sich bestehen, obwohl sie keine Materie haben, nämliches solches wie der unbewegte Beweger.75 Es lässt sich hierzu auf Met. VI 1, 1026a6 – 19 verweisen, wo es heißt, die mathematischen Gegenstände seien unabgetrennt, die der ersten Philosophie bzw. Theologie abgetrennt. »Abgetrennt« muss hier so viel wie selbständige Existenz meinen. Die mathematischen Gegenstände sind zwar abstrahierbar, weil materiefrei (wie Physik II 2, 194a3 – 7 zeigt, meint akinêton soviel wie aneu tês hylês), aber sie bestehen nicht für sich. Die Gegenstände der Theologie hingegen sind sowohl unveränderlich (bzw. materiefrei) als auch für sich bestehend. Mit der vorgeschlagenen Lesart des chôriston kata logon und chôriston haplôs lassen sich daher Physik II 1, 193b1 – 2, Eta 1, 1042a28 – 31, Physik II 2, 194a3 – 7 und 73
1042a29 – 31: τρίτον δὲ τὸ ἐκ τούτων, οὗ γένεσις μόνου καὶ φθορά ἐστι, καὶ χωριστὸν ἁπλῶς· τῶν γὰρ κατὰ τὸν λόγον οὐσιῶν αἱ μὲν αἱ δ’ οὔ. 74 Auch Ross und Bostock übersetzen die Passage auf diese Weise: »some are separable and some are not«. 75 D. Bostock, Aristotle: Metaphysics Book Zeta and Eta, 251.
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Zeta 1, 1028a22 – 29 widerspruchsfrei interpretieren. Weder müssen wir Morrison folgen und Aristoteles Betrug vorwerfen noch die Richtigkeit von Fines Interpretation der aristotelischen Ideenkritik verwerfen. Die Form im Sinne der Essenz ist materiefrei, besteht aber nicht selbständig neben den Einzeldingen als Idee. Das meint chôriston kata logon.
7.5 Die folgenreiche Homonymie von Essenz und Konkretem
Morrisons Urteil, Aristoteles’ Rede von einer abgetrennten Form sei Betrug, wäre, wenn er recht hat, viel weitreichender, als es zunächst aussieht. Einerseits macht ihm zufolge Aristoteles geltend, dass sich die Naturdinge allesamt verhalten wie die Stupsigkeit und nur unter Einbeziehung der Materie bestimmbar sind. Andererseits hebt Aristoteles selbst hervor, dass dasjenige, was Materie enthält, veränderlich ist und daher nicht definierbar (Zeta 15, 1040a1 – 7). Aristoteles’ Lösung lautet, dass man an einer konkreten Sache nur die Form definieren kann und von der Materie absehen muss (Zeta 11, 1037a25 – 29). Doch so klar ist das nicht. Es wurde von einigen Interpreten geltend gemacht, dass diese Feststellung dem Vorwurf zuwiderläuft, den Aristoteles zuvor in Abschnitt 11 dem »jüngeren Sokrates« macht. Sokrates, so berichtet er, habe für den Menschen auf eine Weise von der Materie abstrahieren wollen, wie dies für den Kreis möglich ist. Von der Materie ganz abzusehen, sei aber aussichtslos (1036b22 – 23). Dieses Problem der offensichtlichen Inkonsistenz innerhalb von Zeta 11 gleicht im Kern der Inkonsistenz, die Morrison Aristoteles für die Physik vorwirft. Daher verwundert es nicht, wenn Devereux, der bestrebt ist, sie für Zeta 11 zu lösen, auch auf Physik II 2, 193b31 – 194a7 Bezug nimmt.76 Die Frage lautet daher generell, weshalb Aristoteles einerseits sagt, die Definition beziehe sich nur auf die Essenz und sehe von der Materie ab, andererseits aber, die Bestimmung der Naturdinge müsse die Materie miteinbeziehen. Meine Antwort lautet, dass der Ausdruck eidos hier mehrdeutig ist, weil er einmal die Essenz bezeichnet und einmal dasjenige, was an einer Materie auftritt. Dann wäre auch klar, weshalb Aristoteles die Form als logos und Essenz bestimmt, denn er tut dies, um den Ausdruck eidos zu disambiguieren. Zu betrachten sind die Abschnitte 10 und 11 aus Zeta, wo Aristoteles klären will, was von der Substanz definierbar ist und was nicht. Beim ersten Auftreten der Form in Abschnitt 10 erfahren wir, dass je nachdem, was man unter der Sub76
D. Devereux, ›Aristotle on the Form and Definition of a Human Being: Definitions and Their Parts in Metaphysics Z 10 and 11‹, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 26 (2011), 167 – 196, 168, Anm. 2.
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stanz versteht, entweder die Materie in der Definition mit einbezogen ist oder sich die Definition (nur) auf die Form bezieht (1035a4: ho tou eidous logos). Man sollte diese Unterscheidung im Blick behalten, wenn man auf die scheinbar inkonsistenten Aussagen aus Zeta 11 schaut. In 1036b22 – 28, der so genannten ›Socrates the younger‹ passage, sagt Aristoteles das Folgende: Deshalb ist es auch vergebliche Mühe, alles in dieser Weise zu reduzieren und von der Materie ganz abzusehen. Denn einige Dinge sind nun einmal ein Dieses an Jenem oder ein Jenes in diesem bestimmten Zustand. Auch der Vergleich, den der jüngere Sokrates hinsichtlich des Lebewesens anzustellen pflegte, ist nicht wirklich treffend. Er führt nämlich vom wahren Sachverhalt ab und macht glauben, der Mensch könne auch ohne seine Teile existieren, wie der Kreis ohne das Erz. (Übersetzung Frede/Patzig)77
Im Gegensatz dazu heißt es am Ende von Zeta 11: [Auch ist erörtert worden …] dass in dem logos der ousia die Dinge, die nur als Materie Teil sind, nicht enthalten sein können. Denn es handelt sich ja nicht um Teile jener Art von ousia, sondern um Teile des Zusammengesetzten. Von dieser aber gibt es in einem Sinne einen logos, in einem anderen Sinne aber wiederum nicht. Im Sinne der Materie nämlich gibt es keine Definition von ihr (denn die Materie ist unbestimmt), im Sinne der ersten ousia hingegen schon. (Übersetzung Frede/Patzig, verändert)78
In der ersten Passage sieht es so aus, als lasse sich solches wie der Mensch nicht ohne Einbeziehung der materialen Bestandteile definieren, in der zweiten hingegen danach, als wäre das, was Materie enthält, gar nicht definierbar. Ich werde im Folgenden nicht auf die Versuche von Devereux und Code eingehen, diese Inkonsistenz zu lösen, da sie meines Erachtens einen wesentlichen Punkt außen vor lassen: die Homonymie von Essenz und Konkretem. Am Ende von Zeta 11 sagt Aristoteles etwas Bemerkenswertes. Die ousia sei die Form und zudem das, was aus dieser Form und der Materie besteht (to synholon, 1037a29 – 30). Die genannte Form und protê ousia sei etwa die Konkavheit, das synholon die Stupsigkeit. Die materielose Form (d. h. die Essenz) und das Kon77
διὸ καὶ τὸ πάντα ἀνάγειν οὕτω καὶ ἀφαιρεῖν τὴν ὕλην περίεργον· ἔνια γὰρ ἴσως τόδ’ ἐν τῷδ’ ἐστὶν ἢ ὡδὶ ταδὶ ἔχοντα. καὶ ἡ παραβολὴ ἡ ἐπὶ τοῦ ζῴου, ἣν εἰώθει λέγειν Σωκράτης ὁ νεώτερος, οὐ καλῶς ἔχει· ἀπάγει γὰρ ἀπὸ τοῦ ἀληθοῦς, καὶ ποιεῖ ὑπολαμβάνειν ὡς ἐνδεχό μενον εἶναι τὸν ἄνθρωπον ἄνευ τῶν μερῶν, ὥσπερ ἄνευ τοῦ χαλκοῦ τὸν κύκλον. 78 1037a24 – 28: καὶ ὅτι ἐν μὲν τῷ τῆς οὐσίας λόγῳ τὰ οὕτω μόρια ὡς ὕλη οὐκ ἐνέσται οὐδὲ γὰρ ἔστιν ἐκείνης μόρια τῆς οὐσίας ἀλλὰ τῆς συνόλου, ταύτης δέ γ’ ἔστι πως λόγος καὶ οὐκ ἔστιν· μετὰ μὲν γὰρ τῆς ὕλης οὐκ ἔστιν (ἀόριστον γάρ), κατὰ τὴν πρώτην δ’ οὐσίαν ἔστιν.
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krete sind somit homonym. Sie werden beide ousia genannt, ihre Definition ist aber verschieden.79 Das hat Auswirkungen auf die Frage, inwiefern die jeweilige Sache (to hekaston) und ihre Essenz identisch sind. Bei solchem wie der Konkavheit sind sie dasselbe (epi tôn prôtôn ousiôn, 1037a33–b2), bei solchem wie der Stupsigkeit aber nicht, da hier notwendigerweise Materie mit im Spiel ist. Aristoteles baut hier auf dem Resultat aus Zeta 6 auf. Dort hat er erläutert, dass wenn die Essenz und die jeweilige Sache nicht identisch sind, wir unausweichlich bei den Ideen landen. Das heißt aber zugleich, dass der Dialektiker, der nur die Essenz bestimmt, das Konkrete falsch definiert. Genau dies scheint mir der Vorwurf zu sein, den Aristoteles dem jüngeren Sokrates macht. Die Essenz und das Konkrete sind aber noch in einem weiteren Sinne homonym. Beide haben denselben Namen, etwa »Kreis«. Aus unserer Sicht handelt es sich im einen Fall um ein bloßes Prädikat, im anderen hingegen um eine konkret realisierte Form, aber Aristoteles macht an dieser Stelle keine solche Unterscheidung geltend, denn beides, der konkrete Kreis wie auch das Prädikat »Kreis«, behandelt er als Seiendes. Seine Unterscheidung besteht vielmehr darin, dass das eine materiegebunden ist, das andere hingegen nicht. Er sagt in Zeta 10: Denn es gibt eine Art von Kreis, bei dem die Materie mit einbezogen ist. Denn unter einem Kreis verstehen wir in homonymer Weise einmal den Kreis überhaupt, dann aber auch den einzelnen Kreis, weil wir keinen eigenen Ausdruck dafür haben. Die Wahrheit ist in der Tat hiermit schon ausgesprochen […]. (Übersetzung Frede/Patzig)80
Der angeführte Nachsatz zeigt, dass Aristoteles damit etwas Wesentliches gesagt hat. Indem er angibt, dass zwei unterschiedliche Dinge »Kreis« genannt werden und eine Homonymie vorliegt, zeigt er an, dass die Definition in beiden Fällen je verschieden ist, und genau das ist der Punkt, der dann in Zeta 11 relevant wird. Wenn Aristoteles geltend macht, dass der Mensch nicht ohne Einbezug der Materie definiert werden kann, da er Veränderung erleidet, so spricht er nicht von der Essenz des Menschen, sondern vom konkreten Menschsein, das mit der Essenz namensgleich ist. Es ist aussichtslos, so sagte er in der oben angeführten 79
Lewis sagt in einem ähnlichen Sinne: »That is to say, compound material substances count as substances, thanks to the relevant form that is their substance and, hence, is properly primary substance.« F. Lewis, How Aristotle gets by in Metaphysics Zeta (Oxford 2013), 2. Zur Frage, weshalb ich in 1037a29 – 30 das eidos to enon nicht als »in der Materie befindliche Form« lese, siehe Kapitel 9. 80 1035a34 – b3: ἔστι γάρ τις ὃς συνείληπται τῇ ὕλῃ· ὁμωνύμως γὰρ λέγεται κύκλος ὅ τε ἁπλῶς λεγόμενος καὶ ὁ καθ’ ἕκαστα διὰ τὸ μὴ εἶναι ἴδιον ὄνομα τοῖς καθ’ ἕκαστον. – εἴρηται μὲν οὖν καὶ νῦν τὸ ἀληθές […].
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Passage, Letzteres in Absehung von der Materie definieren zu wollen (dass es an dieser Stelle um Konkretes geht, macht der Ausdruck tode en tôde deutlich, 1036b23). Der Mensch, den der jüngere Sokrates rein dialektisch definieren wollte, war dann der konkrete Mensch. Sokrates hat nicht gesehen, dass er hier einer Homonymie aufgesessen ist. Er wollte den konkreten Menschen definieren und hat doch nur die Essenz des Menschen angegeben. Dazu passend fasst Aristoteles am Ende von Zeta 11 zusammen, dass in der Definition der Substanz im eigentlichen Sinne die Materie nicht vorkommt. Denn diese ist nichts als Essenz und daher materiefrei. In der Definition des aus Form und Materie Zusammengesetzten hingegen (to synholon) kommt auch die Materie vor, und zwar notwendigerweise. Auch dieses Zusammengesetzte wird ousia genannt und im gegebenen Fall »Mensch«, so wie die Essenz. Diese Homonymie erklärt viel für Physik II. In 194a3 – 7 heißt es, die Naturdinge seien so zu definieren wie das Stupsige. Sie sind ein synholon aus Form und Materie. Die Form hingegen, die Aristoteles in 193b1 – 2 als Naturprinzip geltend macht, ist reine Form und von der Materie abgetrennt. Würde es nicht um die materielose Form gehen, wäre es unsinnig, sie als zweites Naturprinzip neben der Materie anzusetzen. Es geht hier nicht um das Gewebe und den Knochen wie in 194a3 – 7, sondern um dasjenige, was diese Dinge dialektisch definiert, und das ist der logos bzw. die Essenz. Damit ist klar, weshalb Aristoteles die Form als logos bestimmt. Er tut dies, um zu verdeutlichen, dass es ihm um die materiefreie Form geht und nicht um das Konkrete. Daraus ergibt sich, dass es einerlei ist, ob Aristoteles die Form als Essenz bestimmt oder als logos. Das zeigt sich bereits an der Bestimmung der Essenz als logos in Eta 1, 1042a17. Weshalb er aber dennoch teils von logos spricht und teils von ti ên einai, wird das nachfolgende Kapitel zeigen. Zunächst aber ist kurz anzugeben, wo sich die materiefreie Form lokalisieren lässt.
7.6 Wo befindet sich die von der Materie abgetrennte Form?
Die hier folgende Bestimmung ist vorläufig, weil das Verhältnis von Form, Essenz und logos, wie es in Zeta auftritt, noch genauer zu bestimmen sein wird. Zudem ist sie unzureichend, da es die Essenz auch gibt, wenn sie in keiner Seele vorliegt. Dennoch lässt sich zeigen, dass die Seele ein möglicher Ort für die Essenz ist. Wie angeführt, macht Aristoteles geltend, dass die Essenz materiefrei sei (Zeta 7, 1032b14; 11, 1037a1; Eta 6, 1045a36–b4), und dass es sich bei der Essenz um den definierenden logos handelt, wird in Eta 1, 1042a17 deutlich. In De partibus animalium 640a31 – 32 heißt es, das Herstellungswissen sei ein logos von der Herstellung,
Weshalb bestimmt Aristoteles die Form als logos?
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und zwar ohne Materie.81 Es leuchtet ein, dass das Herstellungswissen, etwa die Heilkunst des Arztes, in der Seele des Arztes ohne Materie besteht. Dieses Herstellungswissen, also das Wissen davon, was Gesundheit ist und wie sich sich herstellen lässt, nennt Aristoteles in Zeta 7 logos (1032b5). Da er die Form in der Seele mit dem Herstellungswissen gleichsetzt (1034a24), entsprechen vermutlich Form und Essenz in Zeta 7 dem logos aus PA 640a31 – 32. Daraus lässt sich das Folgende gewinnen. Gesundheit als etwas Hergestelltes tritt immer nur an einem lebendigen Körper auf und was es heißt, gesund zu sein, liegt für Aristoteles in der Seele vor und wird dann in den Körper eingebracht. So entsteht, wie er sagt, Gesundheit aus Gesundheit, und zwar die in der Materie befindliche aus der ohne Materie (1032b12). Kurzum, die materiefreie Form befindet sich in der Seele. In 1034a24 heißt es von der Form im Sinne des Herstellungswissens, sie sei hypo nou, also grob übersetzt »im Geist vorliegend«, und De anima 430a3 – 4 nennt das nooumenon materiefrei. Zwar spricht Aristoteles in Zeta 11 von einer intelligiblen Materie (1036b35), aber genau hier heißt es auch, dass alles, was keine Essenz sei, Materie haben könne. Folglich hat die Essenz keine. Die in der Seele des Arztes vorliegende Form ist solch Materiefreies, da Aristoteles diese Form als Essenz bestimmt (Zeta 8, 1032b1 – 2) und kurz darauf sagt, die Essenz sei die materiefreie Substanz (b14). Das Problem ist die eingeschränkte Reichweite dieser Erklärung. Für die Artefakte vermag dies den Ort der Essenz zu erklären, aber für die Naturdinge ist klar, dass die Form als Entstehungsprinzip nicht in der Seele vorliegt, sondern im Lebewesen, das ein Lebewesen erzeugt (vgl. 1032a25). Lässt sich daher auch für die Naturdinge sagen, dass es hier eine materielose Form gibt? Die Frage ist schwer zu beantworten. In Zeta 8 fasst Aristoteles zusammen, dass die Form des wahrnehmbaren Einzeldings kein Entstehen hat und ebenso wenig die Essenz (1033b3 – 7). Was kein Entstehen hat und damit auch keiner Veränderung unterliegt, ist zumindest nach Physik II 2 auch materiefrei, und das gilt wohl auch für Zeta, wo die Materie das Vermögen ist, etwas zu sein oder nicht zu sein (1032a20 – 22). Dann wäre aber jegliche Form materiefrei, weil gemäß Zeta 8 jegliche Form keiner Veränderung unterliegt. Stattdessen bringt man die unveränderliche Form in eine bestimmte Materie ein, wie Aristoteles es formuliert, etwa die Kugelform in das Erz (1033b9 – 10). Wenn aber alle Form materiefrei wäre, dann gäbe es nichts aus Materie und Form Zusammengesetztes. Dass es dies Aristoteles zufolge gibt, ist unbestreitbar. Folglich ist diese Bestimmung der materielosen Form unbefriedigend und verlangt eine Präzisierung.
81
Ἡ δὲ τέχνη λόγος τοῦ ἔργου ὁ ἄνευ τῆς ὕλης ἐστίν.
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Kapitel 7
Es sieht nach terminologischer Schlamperei aus, wenn Aristoteles in Zeta 7 die Essenz als logos bestimmt (1032b1 – 2) und dann in Zeta 8 vorschlägt, die Gestalt (morphê) als Form aufzufassen und die Essenz davon gesondert betrachtet (1033b3 – 7). Eigentlich muss auch die als eidos benannte morphê Essenz sein, denn sie tritt hier als unveränderlich und damit als materiefrei auf, und materiefreie Substanz ist laut Zeta 7 die Essenz. Ob sich dieses Problem lösen lässt, muss sich zeigen. Dazu ist zunächst der Formbegriff in Zeta einzugrenzen, was im nachfolgenden Kapitel geschehen wird.
Kapitel 8 Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form
8.1 Aristoteles’ Bestimmung der Form als Essenz in der Metaphysik entspricht nicht den Vorgaben aus der Topik
In den vorangehenden Kapiteln wurde deutlich, aus welchem Grund Aristoteles die Form als logos bestimmt und in welchem Sinne die Form von der Materie abgetrennt ist, nämlich in dem Sinne, dass im Definiens die Materie nicht vorkommt. Es sieht aber aufgrund seiner Rede vom logos der Form (logos tou eidous) in Zeta so aus, als sei die Form unbedingt vom logos zu unterscheiden. Es ist im Folgenden zu zeigen, dass diese Rede mit der Mehrdeutigkeit von logos zu tun hat und Aristoteles damit den sprachlichen Ausdruck des Definiens meint. Seine Rede vom logos der Form gefährdet daher nicht meine bisherige Interpretation, wonach es um das Definiens geht, wenn Aristoteles die Substanz als logos bestimmt. Dasselbe wird sich mit Blick auf Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz ergeben. Vorauszuschicken ist dabei, dass seine Gleichsetzung von Form (eidos) und Essenz (ti ên einai) in Zeta durchaus nach einer Erklärung verlangt. In den Kategorien und der Topik meint eidos dasjenige, wovon die Gattung ausgesagt wird, was sich als Form bzw. Art im Sinne der sokratischen Dialektik auffassen lässt. Ein solches eidos ist etwa »Mensch« oder »Tugend«, und von solchem lässt sich fragen und angeben, was es ist. Die Essenz (to ti ên einai) ist zumindest in der Topik davon in zweierlei Hinsicht unterschieden. Erstens entspricht die Essenz dem horos (Definiens), der zum idion gehört und nicht zum genos, worunter auch das eidos fällt; die Angabe horos und eidos sind also verschiedene Prädikationstypen. Zweitens steht die Essenz nicht auf derselben Stufe wie die vier Prädikabilien genos, symbêbêkos, idion und horos. Sie ist vielmehr dasjenige, was ein horos, d. h. ein definierender logos, signifiziert. Das Definiens des Menschen gibt an, was es heißt, ein Mensch zu sein, und Letzteres ist die Essenz. Die Essenz ist hier Signifiziertes und nicht Ausgesagtes.82 Mit Blick auf
Topik I 5, 101b38: ἔστι δ’ ὅρος μὲν λόγος ὁ τὸ τί ἦν εἶναι σημαίνων. Dem Sinn nach dasselbe findet sich in 101b19 – 22. Signifizieren meint hier nicht referieren auf einen Gegenstand hin, sondern es meint das Angeben des Aussageinhalts. Dass es nicht angebracht ist, hier von Referenz zu sprechen, zeigt sich in Ana. post. II 7 – 10, wo die Essenz dasjenige ist, was durch das Definiens erfasst wird (lambanein to ti ên einai, 92a7; a4; eidenai / gnôrizein to ti ên einai, 93a18 – 20). 82
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Kapitel 8
die Topik sind ti ên einai und eidos also semantisch verschieden. Die Bestimmung des eidos als ti ên einai in Zeta ist also nicht selbsterklärend. Damit zusammen hängt eine Schwierigkeit, die sich mit Blick auf Physik II ergibt. Wenn das eidos dort dasjenige ist, das angibt, was etwas ist (193b1 – 2), dann kann damit nicht länger solches wie »Mensch« gemeint sein, sondern es muss das Definiens meinen, etwa »zweifüßiges Lebewesen«. Diese Verschiebung mit der Entwicklung in Aristoteles’ Denken zu erklären, kann nur der letzte Ausweg sein. Zudem geht es hier nicht um eine inkonsistente Behauptung, sondern um die mehrdeutige Verwendung eines Ausdrucks, und Aristoteles gibt uns keinen Anhaltspunkt für eine Erklärung, weshalb eidos jetzt nicht länger ein einfaches Prädikat meint, sondern das Definiens und damit ein Prädikatgefüge (siehe zu dieser Unterscheidung Kapitel 2). Es kann hier nur ein schwacher Trost sein, dass das aristotelische eidos ohnehin eher ein Containerwort ist, das er teils mit morphê und to ti esti gleichsetzt, teils als Zweck der Naturdinge bestimmt, dann wiederum damit die Spezies meint und es letztlich im Sinne des Definiens verstanden werden soll. Auf diese Schwierigkeit ist im letzten Kapitel einzugehen, und ich bin mit Bostock der Ansicht, dass es einen Grund gibt, weshalb eidos solch eine gewagte Spannbreite an Bedeutungen bei Aristoteles hat.83 Nun lässt sich einwenden, es sei gar kein Problem, teils das Prädikat »Mensch« eidos zu nennen und teils das Definiens des Menschen. Doch aus zwei Gründen ist das ein Problem. Das Vorgehen, sowohl den Menschen als auch die Essenz des Menschen (»zweifüßiges Lebewesen«) eidos zu nennen, ist darum irritierend, weil es sich im einen Fall um ein einfaches Prädikat (onoma) handelt und im anderen Fall um ein Prädikatgefüge (logos). Anders als es in Platons Kratylos erwogen wird, ist Aristoteles nicht der Ansicht, dass ein Prädikat wie »Mensch« angibt, was die vorliegende Sache ist, und zwar vermutlich wegen der Mehrdeutigkeit einfacher Prädikate.84 Zu sagen, eidos sei logos (siehe Physik II 1, 193b1 – 2), ist also nicht naheliegend, denn damit bezeichnet der Ausdruck eidos nicht länger ein onoma. Und das gleiche gilt für die Bestimmung des eidos als ti ên einai. Diese Härte lässt sich womöglich dadurch glätten, dass Aristoteles in Zeta 6 geltend macht, es gebe keine sinnvolle ontologische Unterscheidung zwischen Woods hat die Ansicht vertreten, auch in den späteren Schriften von Aristoteles habe eidos noch den Sinn von »species« und nicht den von »form«, siehe M. Woods, ›Form, Species, and Predication in Aristotle‹, in: Synthese 96, 3 (1993), 399 – 415. Doch das ist nicht haltbar, denn in der Physik und Metaphysik ist eidos der Gegenbegriff zur hylê (Materie), wie Bostock richtigerweise anmerkt, und damit kommt eine Bedeutungsausweitung ins Spiel, die sich nicht länger auf den Begriff der »species« einengen lässt, siehe D. Bostock, ›Aristotle’s Theory of Form‹, 79. 84 Siehe Kratylos 388c1: Ὄνομα ἄρα διδασκαλικόν τί ἐστιν ὄργανον καὶ διακριτικὸν τῆς οὐσίας. 83
Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form
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anthrôpos und to anthrôpô einai, also zwischen dem Menschen und dem Menschsein. Überträgt man dies auf die Prädikatebene, dann wäre auch die Differenz zwischen »Mensch« als ausgesagte Seinsweise und dem, was es heißt, ein Mensch zu sein (die Essenz), nicht mehr so problematisch. Aber das löst die Schwierigkeit nicht zureichend. Wenn man, wie in der heutigen Linguistik, das Signifikat dem Signifikanten gegenüberstellt, dann ist die Gleichsetzung von logos und Essenz im Lichte dessen, was wir in der Topik lesen, schlicht unzulässig, da die Gleichsetzung die Relation des Signifizierens notwendigerweise aufhebt. In der Topik ist die Essenz Signifkant des horos und analog zum horos ist das eidos Signifikat. Diese Schwierigkeit wurde oben bereits behandelt. In Kapitel 3 hatte sich gezeigt, dass der logos sowohl Definiens als auch Definiendum ist, und das ließ sich mit den drei Prädikationsregeln in Kapitel 4 erklären. Dasjenige, was von einer Sache als von ihr selbst her ausgesagt wird, ist mit dieser Sache identisch (Regel 3), weil das Ausgesagte eine Seinsweise ist (Regel 1) und am Ausgesagten vorliegt (Regel 2). Dies lässt sich auch auf die Form anwenden, aber dass diese Anwendung statthaft ist, muss sich erst anhand von Zeta zeigen. Es hat sich damit aber gezeigt, dass die Frage nach der Mehrdeutigkeit von logos, wonach damit einmal das Signifikat gemeint ist und einmal der Signifikant, auch das eidos betrifft. Es kann daher nicht die Lösung sein, einfach anzunehmen, dass logos in Zeta je verschiedene Bedeutungen hat. Die Schwierigkeit, die sich hier aus unserer heutigen Sicht ergibt, geht tiefer.
8.2 In Met. Zeta 4 ist die Essenz sowohl Ausgesagtes als auch Vorliegendes
Wie in Kapitel 4 dargelegt, wird die für uns heute selbstverständliche Trennung von Sprache und Welt in Aristoteles’ Ontologie unterlaufen. Dies zeigt sich auch in seiner Darstellung dessen, was er ti ên einai nennt und in der Folge als »Essenz« übersetzt werden soll. Der locus classicus für eine Bestimmung der aristotelischen Essenz ist Zeta 4. Ohne Umschweife erklärt er zu Beginn des Abschnitts, die Essenz sei dasjenige, was von einer Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt wird (ho legetai kath’ hauto, 1029b14) und als Beispiel für eine solche Sache nennt er einen konkreten Menschen (»du« und »Sokrates«). Sie ist also etwas Ausgesagtes.85
Wie die Erläuterungen in Met. V 18 zu den Ausdrücken kath’ ho und kath’ hauto zeigen, stehen beide dem aition nahe. Folglich meint kath’ ho in etwa »aufgrund von«, und dementsprechend dann kath’ hauto »aufgrund seiner selbst«. 85
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Kapitel 8
Die Essenz ist aber auch etwas, das am Konkreten vorliegt, denn Aristoteles gibt sofort an, jemand (»du«) sei nicht das Gebildetsein, weshalb die fragliche Essenz das Menschsein sein muss. Sie ist also das, was eine Sache aufgrund ihrer selbst ist. In etwas vorzuliegen und von ihm ausgesagt zu werden, sind nicht unbedingt dasselbe. Die Richtigkeit, diese Unterscheidung zunächst einmal geltend zu machen, zeigt sich in der Folge von Zeta 4. In 1029b28 fragt Aristoteles beispielhaft, ob solchem wie dem bleichen Menschen eine Essenz zukommt. Er schlägt vor, die Essenz sei etwa das Hemd-zu-Sein, und fragt wenig später, ob das Hemd-zu-Sein als Essenz des bleichen Menschen angesehen werden kann (1030a2 – 4). Hier geht es um das Vorliegen der Essenz. Sofort im Anschluss daran erwägt er allerdings, was das Hemd-zu-Sein ist, und fragt, ob es zu den Dingen gehört, die von einer Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt werden (kath’ hauto legomenon, 1029b29). Die fragliche Essenz ist also erstens eine Seinsweise, die an einer Sache vorliegt, und zweitens etwas, das von dieser Sache ausgesagt wird. Wie geht beides zusammen? Diese Frage wurde von den Interpreten bislang kaum berücksichtigt. So lesen etwa Frede/Patzig, Bostock und Dahl die Passage so, dass die Essenz schlicht dasjenige ist, was an einer Sache vorliegt.86 Ebenso spricht Charles von Essenzen als »features in the world« und lässt außen vor, dass diese features ausgesagt werden.87 Wedin geht zwar nicht so weit, von Essenz als etwas Ausgesagtem zu sprechen, doch seine Aufstellung macht zumindest deutlich, dass die Essenz nicht nur vorliegt, sondern auch der definitorische Gehalt ist: »Y (essence) belongs per se to x ≡ Y belongs to X & X is in the definition of x«.88 Lewis scheint die Definition als Aussageinhalt anzusehen und damit auch die Essenz, was meiner Lesart entspräche. Seine Bestimmung der Essenz lautet: »x is the defintion of y (x is signfied by the definiens in a definition of y) = x is the essence of y«.89 Ein Problem macht aber keiner der genannten Interpreten geltend. Wie lässt es sich erklären, dass die Essenz sowohl Ausgesagtes als auch Vorliegendes ist? Es erklärt sich aus den obigen Prädikationsregeln aus Kapitel 4, nach denen dasjenige, was ausgesagt wird, eine Seinsweise ist, die auch vorliegt. Wird etwas von einer Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt, dann liegt es nicht nur in dieser Sache vor, sondern ist mit dieser identisch. Damit lässt sich sagen, dass das Sein der Sache gerade dasjenige ist, was von ihr ausgesagt wird. Die Kluft zwischen dem Ausgesagtwerden und dem Vorliegen ist damit überwunden. Siehe FP, 60; D. Bostock, Aristotle: Metaphysics Book Zeta and Eta (Oxford 1994), 86 – 87; N. Dahl, ›Two Kinds of Essence in Aristotle: A Pale Man is Not the Same as His Essence‹, in: The Philosophical Review 106, 2 (1997), 233 – 265, 234. 87 D. Charles, Aristotle on Meaning and Essence, 256. 88 M. Wedin, Aristotle’s Theory of Substance (Oxford 2000), 201 – 202. 89 F. Lewis, How Aristotle gets by in Metaphysics Zeta (Oxford 2013), 83. 86
Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form
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Was Aristoteles in Zeta zusammenbringt, ist dann der Aussageinhalt mit der am Gegenstand vorliegenden Seinsweise. Um vermutlich deutlich zu machen, dass der Aussageinhalt eine Seinsweise ist, die durch einen sprachlichen Ausdruck ausgesagt wird, spricht er vom logos tou ti ên einai. Diejenige Bestimmung einer Sache, die angibt, was die Sache aufgrund ihrer selbst ist, gibt die Essenz an. Die Essenz ist dann der Aussageinhalt, der logos hingegen der Ausdruck, der die Essenz angibt. In diesem Sinne heißt es in Zeta 4 über die Essenz: Derjenige logos wird also der logos der Essenz der jeweiligen Sache sein, der die Sache zwar bestimmt, aber so, dass die Sache selbst nicht mehr vorkommt. (Übersetzung Frede/Patzig, leicht verändert)90
Zweifelsohne unterscheidet Aristoteles hier nicht explizit zwischen Ausdruck und Inhalt. Aber er spricht teils vom logos der Essenz, teils bestimmt er die Essenz als logos (wie in Eta 1, 1042a17). Dies scheint mir nur plausibel unter der Annahme, dass er im einen Fall zwischen Ausdruck und Inhalt unterscheidet, im anderen hingegen nicht. Was also meint der Ausdruck logos tou ti ên einai? Kurz gesagt ist es die Angabe der Essenz, wie sich auch andere schon ausgedrückt haben.91 Doch das ist noch zu ungenau, denn die Rede vom logos der Essenz macht deutlich, dass der Aussageinhalt des Definiens (sprich, die Essenz) am Definiendum auch vorliegen muss. Die Essenz ist ja eine Seinsweise, nämlich dasjenige, was eine Sache aufgrund ihrer selbst ist. Der logos ist dann der sprachliche Ausdruck, der diese Seinsweise angibt, und die Seinsweise ist selbst wiederum Aussageinhalt. Denn Prädikate sind nach Aristoteles ausgesagte Seinsweisen. Dass man in Zeta nicht aufgrund des Ausdrucks logos tou ti ên einai annehmen muss, logos und Essenz seien grundsätzlich verschieden, zeigt sich daran, dass Aristoteles auch von der Essenz der jeweiligen Sache spricht (ti ên einai hekastô, 1029b20), obwohl beides identisch sein soll (1031b18 – 20). Vor dem Hintergrund meiner Interpretation lässt sich das so erklären, dass das Sein der Sache mit ihrer Essenz identisch ist. Anders gesagt, ist das Wesensprädikat ontologisch nicht von der Sache zu unterscheiden, von der es ausgesagt wird. Die Unterscheidung ist eine semantische, und einer semantischen Unterscheidung ist meiner Ansicht nach auch die Rede vom logos tou ti ên einai geschuldet. Eine darüber hinaus gehendene Unterscheidung von logos und Essenz in Zeta ergibt aus zwei Gründen keinen Sinn: Erstens ist die Essenz etwas Ausgesagtes und zweitens wird sie aus genau diesem Grund in Eta 1 als definierender logos bestimmt. 90
1029b19 – 20: ἐν ᾧ ἄρα μὴ ἐνέσται λόγῳ αὐτό, λέγοντι αὐτό, οὗτος ὁ λόγος τοῦ τί ἦν εἶναι ἑκάστῳ. 91 Etwa J. Lesher, ›Aristotle on Form, Substance, and Universals: A Dilemma‹, in: Phronesis 16, 2 (1971), 169 – 178, 176: »Since the form is what is stated in the logos […]«.
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Kapitel 8
8.3 Der logos tou eidous ist der definitorische Ausdruck, der die Form angibt
Was die Rede vom logos tou ti ên einai in Zeta meint, wurde damit geklärt, und Ähnliches lässt sich zum Ausdruck logos tou eidous sagen. In Physik II 1 bestimmt Aristoteles das eidos als logos und vor diesem Hintergrund verlangt es nach einer Erklärung, weshalb in Zeta vom logos tou eidous die Rede ist, also vom logos der Form (1035a3 – 4, a11, a29 – 30, 1036a28 – 31). Nach meiner Auffassung meint auch eidos in diesen Fällen den Aussageinhalt (analog zum ti ên einai), logos hingegen den sprachlichen Ausdruck. Dafür spricht bereits der Umstand, dass zweimal in Zeta die Form als Essenz bestimmt wird, und zwar mit Blick auf das Begriffspaar Form/Materie. Die Sache ist leider terminologisch nicht so klar differenziert, wie man es sich wünschen würde. Daher sind einige Vorüberlegungen erforderlich. Festhalten lässt sich, dass eidos in Zeta durchgehend als Gegenbegriff zu hyle (»Materie«) aufgefasst wird, und zwar trotz der Zusammenstellung von verschiedenen Textstücken, die Buch Zeta vermutlich darstellt. Eine denkbare Ausnahme der Gegenüberstellung von Form und Materie wäre der später eingefügte Abschnitt 12, wo eidos seine alte Bedeutung im Sinne der dialektischen Art zu haben scheint. Dort heißt es zusammenfassend, die abschließende Differenz, die sich aus der richtigen Einteilung der Gattungen ergebe, sei eidos und Substanz (1038a25 – 26). Das ist etwas verwunderlich, denn im dialektischen Sinne ist die Differenz von der Art verschieden. Sie ist dasjenige, was die Art hervorbringt (differentia specifica). Doch auch hier bildet das eidos den Gegenbegriff zur Materie, da Aristoteles analog zur Bestimmung der Differenz als Form die Gattung als Materie bestimmt (1038a5 – 8). Somit ordnet er die Teile des dialektischen Definiens der Form und Materie zu: Die Differenz entspricht der Form und die Gattung der Materie. Dasselbe gilt wohl für PA 643a24 – 25, wo er ebenfalls die Differenz als eidos bestimmt. Folglich steht nichts der Interpretation im Wege, wonach eidos in Zeta durch gehend jene Seinsweise meint, die an einer Materie verwirklicht ist. Allerdings scheint die gegebene Verwendung von logos, eidos und ti ên einai in Zeta mit der aus Physik II zu kollidieren. Unproblematisch ist das Folgende: Wenn eidos in Zeta den Gegenbegriff zur Materie bildet, so sollte aufgrund von Physik II 1 zu erwarten sein, dass damit der definierende logos gemeint ist. Zeta selbst allerdings bestimmt weder das eidos noch das ti ên einai als logos. Das lässt sich lösen mit Blick auf die Zusammenfassung von Zeta in Eta 1, wo das ti ên einai als logos bestimmt wird. Wegen der Bestimmung des eidos als ti ên einai in Zeta wäre dann rückblickend auch unter eidos der definierende logos zu verstehen. Soweit bestünde zwischen Physik II und Zeta eine einheitliche Terminologie. Das Problem ist ein anderes. In Physik II 1, 194b26 – 27 (= Met. V 2, 1013a26 – 27) wird die Form als logos der Essenz bestimmt, was sich so liest, als wäre die
Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form
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Form der definierende Ausdruck, der die Essenz angibt.92 Im Unterschied dazu bestimmt Aristoteles in Zeta die Form explizit als Essenz. Das ist ein wichtiger Umstand. Frede/Patzig haben geltend gemacht, logos (und nur logos) habe zwei Bedeutungen in Zeta: Damit kann der sprachliche Ausdruck gemeint sein oder der Aussageinhalt (siehe Abschnitt 3.1). Dasselbe gilt aber auch für eidos und ti ên einai, wobei eine weitere Korrektur vorzunehmen ist: Die Ausdrücke eidos und ti ên einai meinen in Zeta entweder nur den Aussageinhalt, nämlich genau dann, wenn vom logos tou eidous oder vom logos tou ti ên einai die Rede ist. Oder sie meinen unterschiedslos beides, Ausdruck und Inhalt, nämlich dann, wenn sie als logos bestimmt werden. Analog dazu meint logos grundsätzlich sowohl den sprachlichen Ausdruck wie auch den Inhalt, aber wenn von logos tou eidous oder von logos tou ti ên einai die Rede ist, dann steht logos eben nur für den sprachlichen Ausdruck. Das ist zunächst unproblematisch, denn diese Art von Mehrdeutigkeit ist harmlos. Schwer verstehbar wird die Sache erst durch den Umstand, dass für Aristoteles der Aussageinhalt eine Seinsweise darstellt und dass deshalb die Form als etwas Ausgesagtes eine Verbindung mit der Materie eingeht. Wir dürfen hier gerade nicht an die sichtbare Gestalt oder an eine individuelle Form denken, sondern die zusammengesetzte Substanz, von der Aristoteles in Zeta spricht, ist eine Zusammensetzung aus dem, was von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, und dem, wovon es ausgesagt wird. Dies sind Form und Materie, und dass die Form zumindest in Zeta 10 und 11 Ausgesagtes ist, wird dadurch verbürgt, dass sie der Essenz entspricht und diese wiederum in Zeta 4 als dasjenige bestimmt wurde, was von einer Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt wird.93 Die Form in Zeta 10 und 11 ist also eine ausgesagte Seinsweise, und diese Seinsweise bildet zusammen mit der Materie die zusammengesetzte Substanz (to synholon in Aristoteles’ Terminologie). Dies vorausgeschickt, lässt sich jetzt angeben, was der Ausdruck logos tou eidous meint. Beim ersten Auftreten des Ausdrucks in Zeta 10 erfahren wir, dass je nachdem, was man unter der Substanz versteht, entweder auch die Materie substantieller Bestandteil ist oder nur das, woraus die Definition der Form besteht (1035a4: ex hôn ho tou eidous logos), und das ist nichts anderes als die Essenz. Der logos tou eidous lässt die Materie außen vor und ist die Angabe der Essenz. Dazu passt dann die Bestimmung der Form als Essenz (1035b32). Der logos tou eidous ist der logos tou ti ên einai. Keine sinnvolle Interpretation für 194b26 – 27 ist es, den Ausdruck touto estin ho logos nur auf das zuvor genannte paradeigma zu beziehen und nicht auf das eidos. Denn Aristoteles hat das eidos bereits zuvor in 193a31 und b1 – 2 als logos bestimmt. 93 Wie Burnyeat zu Recht hervorhebt, schließt sich Zeta 10 nahtlos an Zeta 5 an, wenn man die Abschnitte 7 – 9 einmal außen vor lässt und 6 als Exkurs zu 5 betrachtet, siehe [Map], 29. 92
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Kapitel 8
Um zu verdeutlichen, dass der logos tou eidous sich nicht auf das Konkrete bezieht, sondern nur auf die Essenz, verweist Aristoteles auf die Homonymie von Prädikaten wie »Kreis« (1035b1 – 3). Der Ausdruck logos tou eidous ist daher dem Umstand geschuldet, dass die gesuchte Substanz sowohl reine Form ist als auch das aus Form und Materie Zusammengesetzte. Folglich gibt es zwei unterschiedliche Definitionen, und der logos tou eidous ist jene Definition, die nur die Essenz angibt, nicht aber die materialen Bestandteile. Wie schwierig es für Aristoteles in diesem Kontext ist, das Definiendum zu benennen, zeigt seine Formulierung, die Materie sei nicht Teil »der Form und dessen, worauf sich der logos bezieht« (tou eidous kai hou ho logos, 1035a21). Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sich der Bezugsgegenstand des logos von der Form unterscheidet, doch ich halte es für richtig, mit Morrison und Devereux das griechische kai epexegetisch zu lesen. Das Definiens wird hier nur mit einem Pronomen benannt.94 Womöglich ist die von Aristoteles gewählte Ausdrucksweise dadurch motiviert, dass er bemüht ist, im Sinne der Klärung seiner Frage, was Teile der Definition sind, die Form als Definitionsteil zumindest sprachlich vom Bezugsgegenstand der Definition zu unterscheiden. Dies würde dann auch gelten mit Blick auf die Formulierung »deren logos sich nur auf die Form bezieht« (hôn hoi logoi tou eidous monon, 1035a29 – 30). Das Pronomen hôn bezieht sich auf die zu definierenden Dinge, die sprachlich von der Form abgegrenzt sind. Hinsichtlich der Frage, was sie sind, müssen wir sie allerdings als identisch mit ihrer Essenz ansehen, sofern wir uns auf den abstrakten Gegenstand beziehen, sprich den Kreis als solchen.95 Um das Definiendum kenntlich zu machen, spricht Aristoteles in Zeta 11 auch vom horizomenon (1037a23), was von der Wortbildung her dem lateinischen definiendum entspricht. Aber dieses Definiendum ist vage, weil die Substanzprädikate allesamt homonym sind, und vermutlich deshalb bemüht Aristoteles die zuvor genannten pronominalen Konstruktionen. Darüber hinaus ist zu Beginn von Zeta 10 von pragma die Rede, und damit ist zweifelsfrei dasjenige gemeint, worauf sich der definierende logos bezieht, sprich, das Definiendum. Daher lässt 94
D. Morrison, ›Some Remarks on Definition in Metaphysics Z‹, in: D. Devereux u. P. Pellegrin (Hgg.), Biologie, Logique et Métaphysique chez Aristote (Paris 1990), 141 – 144, 136; D. Devereux, ›Aristotle’s Metaphysics Zeta 10 and 11‹, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 26 (2001), 167 – 196, 171. 95 Devereux liest dies wiederholt so, dass das Definiendum mit der Form identisch ist: »Note also, in the passage just quoted, that form is said to be ‹›that of which the formula is« (τοῦ εἵδους δὲ καὶ οὗ ὁ λὸγος, 1035a21); this seems to imply that there is only one definition or formula, i. e., the formula of the form.« A. a. O., 172. Letzteres ist sicherlich nicht richtig. Es gibt mehrere Definitionen dessen, was man »Kreis« nennt, denn dieser Ausdruck ist Aristoteles zufolge homonym. Es gibt eine Definition, die nur die Form enthält, und eine, die Form und Materie enthält.
Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form
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sich vermuten, dass der Ausdruck ousia tou pragmatos (Met. I 10, 993a18; V 18, 1022a15; VII 12, 1038a19) nichts anderes ist als der logos tou pragmatos. Die ousia ist Essenz, und die Essenz ist, wie wir in Eta 1 erfahren, definierender logos. Das einzig Missliche ist dann, dass diese Bestimmung der Essenz als logos in Zeta selbst nicht auftaucht, sondern nur in dessen Zusammenfassung in Eta 1. Damit ist geklärt, was die Rede vom logos der Form meint. Dieser logos ist der sprachliche Ausdruck, der die Form (und nur die Form) zum Inhalt hat. Ohne solch eine Unterscheidung von Ausdruck und Inhalt lässt sich meines Erachtens keine konsistente Lesart von Zeta erreichen, denn nur so erklärt sich schlüssig, weshalb der logos einerseits identisch mit der Form ist und sich andererseits auf sie bezieht.
8.4 Substanz als logos ist materiefrei und hat keine Entstehung
Es gibt eine einzige Passage in Zeta, in der Aristoteles die Substanz als logos bestimmt. An dieser Stelle wird sich zeigen, ob meine Interpretation zutreffend ist. Zu Beginn von Zeta 15 heißt es, die Substanz sei logos, und zwar einerseits mit Materie verbundener logos und andererseits logos überhaupt: Da es sich beim Konkreten und dem logos um verschiedene Substanzen handelt (damit meine ich, dass das eine auf die Weise ousia ist, dass sie der mit der Materie verbundene logos ist, auf die andere Weise der logos überhaupt), so hat das, was auf die erste Weise »Substanz« genannt wird, ein Vergehen (denn es hat eine Entstehung). Was als logos Substanz ist, hat hingegen kein solches Vergehen (denn es hat keine Entstehung, da nicht das Haussein entsteht, sondern das dieses Haus zu sein). (Übersetzung Frede/Patzig, leicht verändert)96
Zu erklären ist zunächst das Folgende: Weshalb ersetzt Aristoteles hier die sonst übliche Rede von der Form als Substanz durch den Ausdruck logos? Burnyeat begründet das wie folgt: The use of the word λόγος for form is probably significant. After the dilemma of Z13, to use ›formula‹ instead of ›form‹ is to insist that substantial being as form can be defined.97
96
1039b20 – 25: Ἐπεὶ δ’ ἡ οὐσία ἑτέρα, τό τε σύνολον καὶ ὁ λόγος (λέγω δ’ ὅτι ἡ μὲν οὕτως ἐστὶν οὐσία, σὺν τῇ ὕλῃ συνειλημμένος ὁ λόγος, ἡ δ’ ὁ λόγος ὅλως), ὅσαι μὲν οὖν οὕτω λέγονται, τούτων μὲν ἔστι φθορά (καὶ γὰρ γένεσις), τοῦ δὲ λόγου οὐκ ἔστιν οὕτως ὥστε φθείρεσθαι (οὐδὲ γὰρ γένεσις, οὐ γὰρ γίγνεται τὸ οἰκίᾳ εἶναι ἀλλὰ τὸ τῇδε τῇ οἰκίᾳ). 97 [Map], 53.
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Kapitel 8
Mit seiner Rede vom Dilemma bezieht sich Burnyeat auf 1039a14 – 20, wo Aristoteles die Einheit der Substanz mit Blick auf ihre Definierbarkeit problematisiert. Aber Aristoteles’ Lösung für dieses Problem erklärt nicht den Umstand, weshalb er die Substanz jetzt als etwas bestimmt, das ausgesagt wird, eben als logos. Frede/Patzig hat dieser Umstand zu der oben zurückgewiesenen Annahme geführt, logos meine jetzt nicht mehr das Definiens, sondern das Definiendum. Einigkeit herrscht darüber, dass die Substanz nicht etwas rein Sprachliches sein kann. Doch Frede/Patzigs Vermutung einer Bedeutungsverschiebung ist nicht erforderlich, sofern man, wie in Kapitel 4 dargelegt, davon ausgeht, dass der fragliche logos eine ausgesagte Seinsweise darstellt und die Substanz eine bestimmte aussagbare Seinsweise ist. Substanz ist dasjenige, was von einer Sache aufgrund ihrer selbst gesagt wird. Bemerkenswert ist die Selbstverständlichkeit, mit der Aristoteles hier in Zeta 15 die Substanz als logos bestimmt. Eine Vorlage hierfür finden wir lediglich in Physik II 1. Wie oben angeführt, bestimmt er dort die Natur als Form und fügt an, dass unter Form der definierende logos zu verstehen sei. Meiner obigen Interpretation zufolge hat diese Bestimmung den Grund, sich vom platonischen Formbegriff abzusetzen, und dasselbe vermute ich für Zeta 15, wo Aristoteles die platonische Form behandelt. Der Ausdruck eidos wäre dann in diesem Kontext schlicht zu vage und durch Platons Gebrauch vorgeprägt, und mit derselben Selbstverständlichkeit, wie Aristoteles in Physik II 1 das eidos als logos ausgibt, spricht er dann in Zeta 15 von der Substanz als logos. Mit dem »logos überhaupt«, von dem er in Zeta 15 spricht, kann im Lichte von 7 – 9 nur die materiefreie Essenz gemeint sein, und als Beispiel nennt er hier das Haussein. Dies ist nichts anderes als die Essenz, wie sich in Zeta 4 zeigte. Unter logos ist hier also nicht der sprachliche Ausdruck zu verstehen, sondern sowohl der Ausdruck als auch (und vor allem) der Aussageinhalt, denn dieser ist eine Seinsweise wie das Haussein. Auf jeden Fall kann logos hier nicht etwas anderes als das Definiens meinen. Warum nicht? Nach seiner Nennung des Hausseins als Beispiel für den fraglichen logos (1039b25: to oikia einai) betont Aristoteles nur wenige Zeilen später, der logos bestehe notwendigerweise aus Nennwörtern (1040a9 – 10: ex onomatôn). Das lässt sich nur zusammenbringen unter der Annahme, dass das Definiens eine ausgesagte Seinsweise ist und logos daher den definierenden Aussageinhalt meint. Nimmt man an, dass logos in Zeta einmal etwas Sprachliches meint und einmal etwas real Gegebenes, dann würde Aristoteles innerhalb von wenigen Zeilen stillschweigend von der einen Bedeutung zur anderen übergehen. Diese irreführende Mehrdeutigkeit anzunehmen, ist nicht erforderlich. Auf dieselbe Weise erklärt sich seine Feststellung, die Substanz als logos hätte Sein oder Nichtsein ohne Entstehen oder Vergehen (aneu geneseôs kai phtoras
Aristoteles’ Rede vom logos der Essenz und der Form
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eisi kai ouk eisi, 1039b26). Unter der Annahme, dass der ausgesagte logos eine Seinsweise und damit ein Seiendes ist, bereitet diese Aussage keine Schwierigkeiten. Wenn man darüber hinaus fragt, wo dieses Seiende besteht, so gibt Aristoteles wenig später eine Antwort. Er sagt, das Definiens (horismos) vermag in der Seele zu verbleiben, auch wenn das Einzelding untergeht (1040a4). Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass jeder logos nur ein Seiendes ist, insofern er in der Seele besteht. Gemäß dem ontologischen Quadrat ist alles Ausgesagte dadurch Seiendes, insofern es wahr von einem Zugrundeliegenen ausgesagt wird. Daher betrachte ich Zeta 15 als weiteren Beleg für die Richtigkeit der Annahme, in Aristoteles’ Ontologie nicht auf eine Weise zwischen Sprache und Welt unterscheiden zu dürfen, durch die der Aussageinhalt nur in den Bereich der Sprache fällt. Es stellt sich abschließend die Frage, weshalb Aristoteles an dieser Stelle nicht gleich vom ti ên einai spricht, da er andernorts die Substanz auf diese Weise bestimmt. Ich stimme Burnyeat zu, dass in Zeta logische und naturphilosophische Überlegungen zusammenkommen und dass Zeta 4 – 6 logische Überlegungen zur Essenz enthält.98 Aristoteles vermeidet es sowohl in Zeta 7 – 9 wie auch in 10 – 11, der Materie die Essenz gegenüberzustellen. Stattdessen gibt er zweimal an, das eidos sei das ti ên einai, und spricht daher nur von Ersterem (Zeta 7, 1032b1 – 2 und 10, 1035b32). Womöglich ist das ti ên einai dann ein logischer Terminus, den Aristoteles nicht für naturphilosophische und metaphysische Kontexte verwenden will. Zumindest stellt er der Materie explizit nur das eidos, die morphê und den logos gegenüber. Dies mag der Grund dafür sein, weshalb er in Zeta 15 nicht vom ti ên einai spricht.
98 [Map],
87 – 125.
Kapitel 9 Materiegebundene Form und materiegebundener logos
Wenn es zutrifft, dass der logos und damit auch die Form nichts anderes als das Definiens ist, dann stellen sich zwei Fragen. Erstens, wie denkt sich Aristoteles die Verbindung von Materie und Form, die er to synholon nennt? Auf diese Frage werde ich nicht näher eingehen, weil sie eine breit angelegte Interpretation der aristotelischen Substanzbücher erforderlich macht, die hier nicht geleistet werden kann und soll. Die Komplexität dieser Frage zeigt sich deutlich in den Publikatio nen, die in den vergangenen Jahren hierzu erschienen sind.99 Die zweite Frage lautet, was Aristoteles meint, wenn er vom logos in der Materie spricht, denn damit kann schwerlich gemeint sein, dass ein Prädikat als Prädikat in der Materie vorliegt. Diese Frage ist in der Folge zu beantworten. Meiner Interpretation entsprechend darf logos auch in diesem Fall nur den Aussageinhalt des Definiens meinen. Es gibt dann keinen an der Materie realisierten logos, der sich vom Definiens unterscheidet. Wegen der Nähe der Form zur Gestalt sieht es zunächst so aus, als sei eine Verbindung von Form und Materie nachvollziehbarer als eine Verbindung von logos und Materie. Als Beispiel dazu erhalten wir von Aristoteles den Fall, dass die Kugelform in das Erz eingebracht wird, und dabei denkt man unweigerlich an die Kugelgestalt. Aber so einfach ist es nicht. Wenn Aristoteles von der Verbindung aus Form und Materie spricht, so meint er mit der Form, wie wir erfahren haben, die Essenz, und diese ist zweifelsfrei der Aussageinhalt des Definiens. Gegen die Auffassung, dass der logos in Verbindung mit der Materie etwas anderes ist als das Definiens, spricht also bereits der Umstand, dass die Essenz ausgesagte Seinsweise ist und in Aristoteles’ synholon die Materie mit der Essenz verbunden ist (dies wird deutlich in Zeta 7 – 9, wo die Form als Essenz ausgegeben wird). Es sei zur Klärung der Frage nach dem vermeintlich materialisierten logos daran erinnert, dass Aristoteles im Zusammenhang mit der Seelendefinition die Form als das Ausgesagte auffasst und die Materie als das, wovon etwas ausgesagt wird. Die Form entspräche dann dem Prädikat, die Materie dem logischen Subjekt. Beide Seinsweisen sind an einem konkreten Gegenstand vereint: Die Form ist das, was aufgrund seiner selbst von ihm ausgesagt wird (das Sein der Sache ist Es sei hier nur die neueste Monographie zu Zeta genannt, da die Literatur zu Aristoteles’ Substanzlehre überaus zahlreich ist: F. Lewis, How Aristotle gets by in Metaphysics Zeta (Oxford 2013). 99
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Kapitel 9
die ausgesagte Essenz), die Materie das Zugrundeliegende. Es ergibt sich daraus ein Spannungsverhältnis, das sowohl die Form als auch den logos betrifft. Wenn Aristoteles in Physik II 1 die Natur näher bestimmt, so sagt er zunächst, sie sei dasjenige, was bei einer Veränderung erhalten bleibe (siehe dazu die Abschnitte 12.4 – 5). Kurzum, sie ist Materie und wegen seiner Nennung von Feuer und Wasser denken wir hier an etwas real in der Welt Gegebenes. Direkt im Anschluss daran spricht Aristoteles von der Form als Natur und bestimmt die Form als den definierenden logos. Für uns liegt das Definiens nicht in der Welt vor, für ihn hingegen schon, wie sich an dieser Passage deutlich zeigt. Denn die Form im Sinne des Definiens ist genauso Substanz und Natur wie die Materie, wie uns Aristoteles lehrt, ja sogar mehr als die Materie (Physik II 1, 193b6 – 7). Das Zugrundeliegende und das Definiens sind beides Seiendes und Naturprinzipien. Es gibt nicht auf der einen Seite etwas Physisches und auf der anderen etwas nur Sprachliches (oder Begriffliches), sondern nur zwei unterschiedliche Seinsweisen an ein und demselben Gegenstand. Wenn Aristoteles daher die Form mit der Materie verbindet, so verbindet er das Definiens mit Materie, und das heißt aus seiner Sicht, Seiendes mit Seiendem. Dies ist zu berücksichtigen, wenn er vom logos »in der Materie« spricht. In der Literatur wird die konkrete Substanz zumeist als »enmattered form« (Modrak) oder »embodied form« (Burnyeat) aufgefasst.100 Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, zureichend zu erklären, wie die Materialisierung der Form zu denken ist. Stattdessen ist nur die Frage zu behandeln, was dasjenige ist, das hier mit der Materie eine Verbindung eingeht. Keinen brauchbaren Anhaltspunkt für eine Antwort bietet eine Passage aus Zeta 11, in der gemäß Frede/Patzigs Übersetzung von einer der Sache einwohnenden Form die Rede ist. Die Passage zeigt jedoch etwas Bemerkenswertes, dass nämlich die Präposition »in« (en) in den metaphysischen Kontexten bei Aristoteles nicht unbedingt einen räumlich-physikalischen Sinn haben muss: [D]ie ousia ist nämlich die Form, die der Sache einwohnt; und das, was sich aus dieser und der Materie zusammensetzt, wird als konkrete ousia bezeichnet. Von der Art ist die Konkavheit. Denn aus dieser und der Nase besteht die Stupsnase und die Stupsigkeit […] Aber in der [zusammengesetzten] ousia, wie in der Stupsnase und in Kallias, kann durchaus auch die Materie enthalten sein. (Übersetzung Frede/Patzig)101
Modrak [Meaning] 160; sie spricht ebenso von einem »enmattered logos«, 178. Siehe zu Burnyeat [Map], 53. 101 1037a29 – 33: ἡ γὰρ οὐσία ἐστὶ τὸ εἶδος τὸ ἐνόν, ἐξ οὗ καὶ τῆς ὕλης ἡ σύνολος λέγεται 100
Materiegebundene Form und materiegebundener logos
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Zwei Dinge fallen hier auf: Erstens ist das eidos enon materiefrei, etwa das Konkave. Damit ist also nicht die an einer Materie auftretende Form gemeint, sondern etwas anderes. Daher kann mit dem Ausdruck to eidos to enon eigentlich nicht eine Form gemeint sein, die »der Sache einwohnt«, wie Frede/Patzig übersetzen, weil nicht die Konkavheit an der Nase vorliegt, sondern die Stupsigkeit, da hier Form und Materie zusammenkommen. Man darf nicht vergessen, dass solches wie die Konkavheit Form im Sinne der Essenz ist und damit materiefrei, und das meint, ohne Bezug auf eine Materie definiert werden kann. Meine Zweifel an Frede/Patzigs Interpretation werden bestärkt durch die zweite Auffälligkeit. Auch die Materie ist hier ausdrücklich in etwas (enestai kai hê hylê), etwa im Falle der Stupsnase. Das In-Sein kann also nicht meinen, dass etwas sich in einer Sache befindet oder dort vorliegt. Ich denke, dass in diesem zweiten Fall Frede/Patzigs Übersetzung treffend ist und es darum geht, dass im Sein einer Sache entweder nur Form enthalten ist oder Form und Materie. Dasselbe gilt dann für die Form. Wenn Aristoteles sagt, dass die Substanz eidos to enon ist, dann meint er die Form, die in der Definition der Sache vorkommt. Das enestai meint das Vorkommen in der Definition. Daher ist an dieser Stelle nicht von einer materialisierten Form die Rede.
9.1 Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Form: die materielose und die materiegebundene
Unbestreitbar unterscheidet Aristoteles zwischen einer materiefreien und einer materiegebundenen Form, auch wenn das terminologisch schwer greifbar ist. Damit gibt es zwei Formbegriffe, und es könnte so aussehen, dass nur einer von beiden dem logos entspricht. Das wäre im Sinne der Klarheit durchaus wünschenswert, wird von Aristoteles aber so nicht vertreten. Diese beiden Form begriffe herauszuarbeiten, ist aber wichtig, um die Frage beantworten zu können, welche Form materiegebunden ist und welche nicht. Zunächst ist hierfür auf eine Bestimmung einzugehen, die dem Anschein nach vielversprechend ist, letztlich aber keine solide Basis bei Aristoteles hat. In De partibus animalium bestimmt er die materiegebundene Form als Differenz.102 Worum es ihm dabei geht, ist die Überlegung, dass die Differenz der Materie Form verleiht und daher die Vielfalt der Formen auf die Vielfalt der Differenzen
οὐσία, οἷον ἡ κοιλότης (ἐκ γὰρ ταύτης καὶ τῆς ῥινὸς σιμὴ ῥὶς καὶ ἡ σιμότης ἐστί […]) ἐν δὲ τῇ συνόλῳ οὐσίᾳ, οἷον ῥινὶ σιμῇ ἢ Καλλίᾳ, ἐνέσται καὶ ἡ ὕλη. 102 643a24 – 25: Ἔστι δ’ ἡ διαφορὰ τὸ εἶδος ἐν τῇ ὕλῃ.
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Kapitel 9
zurückgeht, weshalb es zahlenmäßig nicht mehr eidê als diaphorai geben kann.103 Damit steht die Aussage im Raum, dass die Differenz die Form in der Materie ist. Überträgt man diese Bestimmung auf Eta 2, dann wäre die Differenz die in der Materie gegebene Form, der Zweck hingegen die Form im Sinne der Verwirklichung, der Essenz und des logos. Aber das ist rein spekulativ und hat, soweit ich sehen kann, keine weiteren Textbelege für sich.104 Damit komme ich zu der Unterscheidung zweier Formbegriffe. Sie findet sich, wie oben dargelegt, nicht nur in Zeta 10, sondern auch und deutlich prägnanter in De caelo 9. Es lohnt sich, die Passage in ihrer ganzen Länge anzuführen. Die Parallelen zu Zeta 10 sind unübersehbar. Es zeigen sich hier drei Dinge: 1. Es gibt zwei Arten von Form. 2. Beide Arten nennt Aristoteles Gestalt (morphê). 3. Die Substanz im eigentlichen Sinne ist die materiefreie Form. Aristoteles schreibt: (i) Denn bei allem Zusammengefügten und Entstandenen, sei es aufgrund von Natur oder aufgrund von menschlicher Herstellung, sind die Gestalt als solche und die mit der Materie verbundene Gestalt verschieden. So ist die Kugel eine andere Form als die goldene und bronzene Kugel, und die Form des Kreises wiederum ist eine andere Gestalt als die des bronzenen und hölzernen Kreises. (ii) Denn wenn man von der Essenz der Kugel oder des Kreises spricht, so nennt man im logos nicht das Gold oder die Bronze, weil diese nicht zur Substanz gehören. (iii) Und wir würden mit Blick auf die bronzene oder goldene Kugel selbst dann so sprechen, wenn wir nichts anderes denken oder erfassen könnten, das eine Kugel ist. Das könnte durchaus passieren, etwa, dass nur ein Kreis aufgefunden wird (der aus Gold besteht). (iv) Nichtsdestotrotz wären das Kugelsein und das eine bestimmte Kugel Sein verschiedene Dinge, und das eine wäre die Form, das andere die Form in der Materie und die des jeweiligen Dings. (Eigene Übersetzung)105 So auch Balme in seinen Anmerkungen, Aristotle. De partibus animalium I and De generatione animalium I, 112. 104 In Met. V 8 bestimmt Aristoteles die Substanz zunächst als Essenz, und wenige Zeilen später als Form und Gestalt der jeweiligen Sache (1017b21 – 26). Ob er hier zwischen Essenz und Gestalt differenziert, ist schwer zu sagen, die Folge wird allerdings zeigen, dass er dies zumindest an anderer Stelle nicht tut. Vertretbarer ist die Ansicht, Essenz und Differenz seien verschieden, da Aristoteles die Essenz ausdrücklich mit dem Zweck identifiziert (Physik II 7, 198b8), die Differenz davon aber verschieden ist, wie ich später darlegen werde, Abschnitt 11.6. 105 De caelo 277b30 – 278a10: ἐν ἅπασι γὰρ καὶ τοῖς φύσει καὶ τοῖς ἀπὸ τέχνης συνεστῶσι καὶ γεγενημένοις ἕτερόν ἐστιν αὐτή τε καθ’ αὑτὴν ἡ μορφὴ καὶ μεμιγμένη μετὰ τῆς ὕλης· οἷον τῆς σφαίρας ἕτερον τὸ εἶδος καὶ ἡ χρυσῆ καὶ ἡ χαλκῆ σφαῖρα, καὶ πάλιν τοῦ κύκλου ἑτέρα ἡ 103
Materiegebundene Form und materiegebundener logos
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Hier zeigt sich deutlich, dass es nach Aristoteles zwei Arten von Form bzw. Gestalt gibt, eine mit Materie vermischte und eine, die für sich besteht. In anderen Fällen gibt es dafür auch verschiedene Benennungen, nämlich die Konkavheit und die Stupsigkeit. Im Falle der Kugel indes sind beide Formen homonym. Es handelt sich um zwei verschiedene Seinsweisen, das Kugelsein und das DieseKugel-zu-Sein, beides aber trägt den Namen »Kugel«. Das Diese-Kugel-Sein ist die Form in der Materie und die Form des Einzeldings, und sie ist verschieden von der abstrakten Form. Aristoteles betont, dass es die abstrakte Form unabhängig davon gibt, ob wir in der Lage sind, von der Materie zu abstrahieren. Diese Darstellung geht Hand in Hand mit der Homonymie aus Zeta 10. Der abstrakte und der konkrete Kreis werden beide »Kreis« genannt, haben aber verschiedene Definitionen. Im einen Fall wird nur die Form angegeben, im anderen Form und Materie. Daher handelt es sich bei beiden Formen um verschiedene Dinge, wie es in De caelo heißt, weil sie dem Sein nach verschieden sind. Wir können daher davon ausgehen, dass Aristoteles zwei Arten von Form unterschieden hat und dass diejenige, die mit der Materie verbunden ist, zu unterscheiden ist von der materiefreien Essenz.
9.2 Materiegebundene Formen sind keine individuellen Formen, sondern solches wie die Stupsigkeit der Nase
Es ist zu betonen, dass diese Unterscheidung zweier Formbegriffe nicht die von allgemeiner und individueller Form ist. Mir scheint auch die häufig diskutierte Frage, ob Aristoteles in Zeta individuelle Formen anerkennt, unpassend zu sein. Selbstverständlich ergibt sich aus der Verbindung von Form und Materie etwas Konkretes, aber die Form der bronzenen Kugel ist genauso wenig individuell wie die Stupsigkeit, denn sie tritt an vielen Nasen auf. Vielmehr ist die Unterscheidung zweier Formbegriffe an der Definition ausgerichtet. Die Kugel als solche lässt sich ohne Einbeziehung der Materie definieren, genauso wie die Konkavheit. Die Definition der Stupsigkeit hingegen verlangt nach der Materie, und das heißt für Aristoteles, dass die Stupsigkeit ein aus Form und Materie zusammengesetztes Seiendes ist.
μορφὴ καὶ ὁ χαλκοῦς καὶ ὁ ξύλινος κύκλος· τὸ γὰρ τί ἦν εἶναι λέγοντες σφαίρᾳ ἢ κύκλῳ οὐκ ἐροῦμεν ἐν τῷ λόγῳ χρυσὸν ἢ χαλκόν, ὡς οὐκ ὄντα ταῦτα τῆς οὐσίας· ἂν δὲ τὴν χαλκῆν ἢ χρυσῆν, ἐροῦμεν, καὶ ἐὰν μὴ δυνώμεθα νοῆσαι μηδὲ λαβεῖν ἄλλο τι παρὰ τὸ καθ’ ἕκαστον. Ἐνίοτε γὰρ οὐθὲν κωλύει τοῦτο συμβαίνειν, οἷον εἰ μόνος εἷς ληφθείη κύκλος· οὐθὲν γὰρ ἧττον ἄλλο ἔσται τὸ κύκλῳ εἶναι καὶ τῷδε τῷ κύκλῳ, καὶ τὸ μὲν εἶδος, τὸ δ’ εἶδος ἐν τῇ ὕλῃ καὶ τῶν καθ’ ἕκαστον.
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Kapitel 9
Ich denke daher auch nicht, dass der Ausdruck tôde tô kyklô aus De caelo treffend mit »dieser individuelle Kreis« zu übersetzen ist, sondern eher als Kreis von einer bestimmten Sorte, nämlich ein hölzerner oder ein bronzener. Denn vom Individuellen gibt es Aristoteles zufolge keine Definition, der besagte Kreis hat aber ausdrücklich eine Definition, nämlich eine, die Form und Materie enthält. Folglich geht es nicht um die Bestimmung von diesem individuellen Kreis, sondern um die allgemeine Bestimmung dessen, was ein hölzerner Kreis ist. Im Anschluss an diese Passage aus De caelo erfahren wir etwas, das die Bestimmung nur eines der beiden Formbegriff als logos verhindert. Aristoteles unterscheidet nicht nur zwei Arten von morphê, sondern auch zwei Arten von logos: Dass der materielose logos verschieden ist von dem logos in der Materie, ist über die Gestalt sicherlich treffend gesagt und sei als wahr hingenommen. Aber daraus folgt keineswegs mit Notwendigkeit, dass es mehrere Welten gibt. (Eigene Übersetzung)106
Auch hier fragt sich, was der logos in der Materie sein soll. Ich denke, Aristoteles will hier dasselbe sagen wie in Zeta 10, dass es nämlich zwei unterschiedliche Arten von Definitionen gibt und daher zwei Arten von Form: Der eine logos bezieht die Materie mit ein, der andere nicht, und dementsprechend ist die Form materiegebunden oder nicht. Diese Lesart wird bestärkt, wenn auch nicht zureichend belegt durch die sich daran anschließende Passage: Denn es gilt allgemein, dass es für Dinge, deren Substanz in einer bestimmten zugrundeliegenden Materie ist, nicht möglich ist, ohne diese vorliegende Materie zu entstehen. (Eigene Übersetzung)107
Die Aussage ist bemerkenswert, denn sie bringt die Frage nach dem definierbaren Sein mit der physischen Entstehung zusammen. Sie ist aber auch bemerkenswert, weil »in einem Zugrundeliegenden zu sein« nicht das meinen kann, wovon in den Kategorien die Rede ist. Denn dort ist die Substanz gerade dadurch charakterisiert, dass sie nicht in einem Zugrundeliegenden ist. Mein Vorschlag ist, dass Aristoteles hier in De caelo das Folgende sagen will: Dinge, deren Sein materiegebunden ist, und das heißt, in deren Definition die Materie vorkommt, können nicht entstehen ohne genau diese Materie. So lässt sich die Stupsigkeit nur unter Einbezug der Nase definieren und tritt immer an einer Nase auf. 106
278a23 – 26: Τὸ μὲν οὖν ἕτερον εἶναι τὸν λόγον τὸν ἄνευ τῆς ὕλης καὶ τὸν ἐν τῇ ὕλῃ τῆς μορφῆς καλῶς τε λέγεται, καὶ ἔστω τοῦτ’ ἀληθές. Ἀλλ’ οὐδὲν ἧττον οὐδεμία ἀνάγκη διὰ τοῦτο πλείους εἶναι κόσμους […]. 107 278b1 – 3: ὅλως γὰρ ὅσων ἐστὶν ἡ οὐσία ἐν ὑποκειμένῃ τινὶ ὕλῃ, τούτων οὐδὲν ἐνδέχεται γίγνεσθαι μὴ ὑπαρχούσης τινὸς ὕλης.
Materiegebundene Form und materiegebundener logos
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Es gibt also nicht eine abstrakte Form wie das Definiens sowie eine individuelle Form, die mit der Materie eine Verbindung eingeht, sondern einige Formen sind in ihrem Sein materiegebunden (und damit auch in der Definition), andere hingegen nicht.
9.3 Entstehende und veränderliche Formen
Hinsichtlich der Frage, ob Formen wie die Stupsigkeit ein Entstehen haben, ergibt sich ein interpretatorisches Problem. Es gefährdet nicht meine Interpretation, sollte aber erwähnt werden. Aufgrund dessen, was Aristoteles zu Beginn von Zeta 15 sowie in der soeben angeführten Passage aus De caelo vorbringt, haben die Formen, die materiegebunden sind, ein Entstehen. Das scheint mir auch einzuleuchten mit Blick auf die Stupsigkeit, die erst dann auftritt, sofern eine Nase konkav ist. In Zeta 8 allerdings sagt Aristoteles explizit, dass nicht nur die Essenz kein Entstehen hat, sondern auch die am Wahrnehmbaren vorliegende Gestalt (1033b6: tên en tô aisthêtô morphên), die man ebenfalls eidos nennen könne. Man bewirke nur, dass diese Form an der Materie auftrete. Folglich würde die Stupsigkeit für sich bestehen, unabhängig davon, ob es Nasen gibt oder nicht. Aber wie lässt sich das denken? Definitorisch gesprochen würde sich das Sein der Stupsigkeit ohne Einbezug der Materie angeben lassen, und genau das schließt Aristoteles aus. Wenn das Sein der Stupsigkeit materiegebunden ist, dann sollte es sie auch nicht ohne Materie geben. Demzufolge würde sie mit dem Auftreten an einer Materie erst entstehen. Es ließe sich zwar einwenden, dass nicht die Stupsigkeit als solche entsteht, sondern nur die Stupsigkeit dieser Nase, aber in De caelo hieß es eben, dass die materiegebundene Form nicht ohne eben diese Materie entsteht. Durch eine Unterscheidung von individueller und allgemeiner Form ließe sich daher zwar eine durchaus in sich konsistente Lesart für Zeta 8 gewinnen, aber der Widerspruch zu Zeta 15 und De caelo wird damit nicht gelöst. Eine weitere Passage, die für die Entstehung der materiegebundenen Formen spricht, findet sich in Physik II 2, wo es heißt, dass alles, was materiegebunden ist, auch eine Veränderung erleidet (193b36 – 194a7). Man kommt nicht umhin, in diesem Zusammenhang noch eine weitere Problematik aufzuzeigen. In De gen. et corr. unterscheidet Aristoteles explizit eine veränderliche von der unveränderlichen Form, aber die veränderliche Form ist nicht solches wie die Stupsigkeit. Vielmehr ist es dort die Arznei, die als Gestalt (morphê) eine Veränderung erleidet. Der Umstand, dass er hier nicht von eidos, sondern von morphê spricht, hat wenig Gewicht, da wir gesehen haben, dass Aristoteles beide Ausdrücke oftmals synonym verwendet.
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Kapitel 9
In De gen. et corr. werden zwei Dinge genannt, die heilen können, zum einen die Heilkunde des Arztes, zum anderen die Arznei. Die Arznei erleide beim Prozess der Heilung etwas (nämlich eine Erwärmung), die Heilkunde hingegen nichts. Das leuchtet ein, passt aber nicht zu der zuvor diskutierten Formunterscheidung zwischen Konkavheit und Stupsigkeit. Ausgehend vom Fall der Heilung macht Aristoteles folgende Regel geltend: Dasjenige, dessen Gestalt nicht in der Materie gegeben ist, gehört zu den hervorbringenden Dingen, die nichts erleiden, solches, dessen Gestalt in der Materie gegeben ist, zu den erleidenden. (Eigene Übersetzung)108
Dies wiederholt noch einmal, dass die materiegebundene Form Entstehung hat und steht damit im Widerspruch zu Zeta 8. Wie er sich lösen lässt, vermag ich nicht zu sagen. Es sei noch einmal gesagt, dass die Frage nach der Art und Weise der Verbindung von Materie und Form am Einzelding eine sehr komplexe ist, deren Klärung neben Zeta auch die Bücher Eta und Theta in den Blick zu nehmen hat und hier nicht behandelt werden kann. Meine Darstellung zielte primär auf den Nachweis ab, dass Aristoteles’ Bestimmung der Substanz als logos auf die materiefreie Essenz abzielt, also auf eine Seinsweise, in der die Materie nicht vorkommt. Diese Seinsweise ist der Aussageinhalt des Definiens und wird aus diesem Grund von Aristoteles als logos aufgefasst.
9.4 So genannte logoi enhyloi sind Definitionen, die die Materie miteinbeziehen
Abschließend ist noch Aristoteles’ Rede von den logoi enhyloi zu erläutern. Auch hier wird zu zeigen sein, dass logos nichts anders meint als das Definiens, entgegen anders lautenden Interpretationen. In De anima 1 heißt es ohne weitere Erklärung, Affekte wie Zorn oder Furcht seien enhyloi logoi (403a25), und es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, was Aristoteles damit meint. Buchheim bestimmt den logos enhylos wie folgt: […] eine gewisse Zusammenfassung und einheitliche Präsentation eines materiellen Dinges mit seiner höchst mannigfaltigen Beschaffenheit in dem Ding selbst – was mir einen seelischen Zustand […] treffend zu charakterisieren scheint.109 108
324b4 – 6: Ὅσα μὲν οὖν μὴ ἐν ὕλῃ ἔχει τὴν μορφήν, ταῦτα μὲν ἀπαθῆ τῶν ποιητικῶν, ὅσα δ’ ἐν ὕλῃ, παθητικά. 109 T. Buchheim, ›Was sind logoi enhyloi bei Aristoteles?‹, in: S. Föllinger (Hg.) Was ist ›Leben‹? Aristoteles’ Anschauungen zur Entstehung und Funktionsweise von Leben. Akten der Tagung vom 23.–26. August 2006 in Bamberg (Stuttgart 2009), 89 – 111, 105.
Materiegebundene Form und materiegebundener logos
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Hierzu wäre viel zu sagen, ich beschränke mich auf zwei Punkte. Erstens stimme ich mit Buchheim nicht überein, dass jeder logos »eine einheitliche Zusammenfassung von Mannigfaltigkeit« (104) leistet. Dies leistet eher das onoma, wohingegen für Aristoteles der logos disambiguiert und begrenzt. Dies ist die eigentümliche Leistung des Definiens. Zweitens ist zumindest für 403b2 – 7 recht eindeutig, dass logos das Definiens meint, und diesem Umstand wird in Buchheims Bestimmung nicht Rechnung getragen. Meiner Auffassung nach sind mit solchen logoi Definitionen gemeint, die Materie miteinbeziehen. Zu sagen, der Zorn sei ein logos enhylos, meint dann, dass sich der Zorn nur unter Einbeziehung einer Materie definieren lässt. Das wiederum impliziert, dass sich das Sein des Zorns aus Form und Materie zusammensetzt. Es verhält sich hier wie im Falle der Stupsigkeit der Nase. Einigkeit herrscht bei den Interpreten darüber, dass es Aristoteles in diesem Kontext um die Feststellung geht, wonach alle Affekte nur an einem Körper auftreten. Sie sind keine bloße Bewegung der Seele, wie es scheinen könnte. So definiert er das Zürnen als »bestimmte Bewegung eines bestimmten Körpers oder Körperteils oder Vermögens aufgrund einer bestimmten Sache zu einem bestimmten Zweck.«110 Was er damit sagen will, ist vermutlich dies. Die reine propositionale Einstellung, dass mich jemand beleidigt hat, oder meine Absicht, mich zu rächen, sind kein Zorn. Erst wenn dadurch das Blut in Wallung gerät, spricht man von Zorn. Es wurde daher vermutet, logos meine hier so etwas wie die propositionale Einstellung, etwa die Überzeugung, dass mich jemand gekränkt hat und Rache verdient. Sie wäre dann im Zorn materialisiert, d. h. sie geht ins Körperliche ein. Das ist eine schwer haltbare Lesart. Der Ausdruck logos tritt in dieser Passage viermal auf, und dreimal kann er keine propositionale Einstellung oder den Gehalt meinen. Was er stattdessen an allen vier Stellen meinen kann und sehr wahrscheinlich auch meint, ist »Definiens«. Unklarheiten im Ausdruck ergeben sich dann nur dadurch, dass Aristoteles verschiedene Definitionen der Affekte zulässt, was im Lichte des in dieser Arbeit Dargelegten aber nicht überrascht. Der Naturforscher definiert den Zorn anders als der Dialektiker, beide jedoch geben einen logos an. Der eine logos enthält die Form und die Materie, der andere nur die Essenz. Dies scheint mir die beste Lesart zu sein. Irritierend ist dann nur noch, dass Aristoteles an dieser Stelle die propositionale Einstellung als Form auffasst (im Falle des Zorns das Streben nach Rache) und den gesamten körperlichen Vorgang als Materie (das Sieden des Blutes). Streng genommen ist das Sieden des Blutes kein Vermögen, an dem sich das Stre110 403a26 – 27: τὸ ὀργίζεσθαι κίνησίς τις τοῦ τοιουδὶ σώματος ἢ μέρους ἢ δυνάμεως ὑπὸ τοῦδε ἕνεκα τοῦδε.
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Kapitel 9
ben nach Rache verwirklicht, doch Aristoteles sieht in dieser Zuordnung offensichtlich kein Problem.111 Im Anschluss sagt er dann, so meine ich, dass der eine logos nur die Essenz des Zorns angibt, der andere hingegen die Materie mit einbezieht: (i) Denn einerseits ist dieser logos der einer Sache, andererseits besteht dessen Sein notwendigerweise in einer bestimmten Materie, sofern er vorliegt. (ii) So ist der logos vom Haus einerseits dieser, dass es ein geeigneter Schutz ist, um Schaden durch Wind, Regen oder Hitze abzuwehren, andererseits nennt man die Steine, die Ziegel und das Holz, und davon verschieden ist die Form, die in diesen Dingen zu einem bestimmten Zweck vorliegt. (Eigene Übersetzung)112
Einmal mehr zeigt sich damit, dass mit »in der Materie« nicht gemeint sein kann, dass ein vom Definiens veschiedener logos an einer Materie vorliegt. Denn in (ii) meint logos eindeutig das Definiens. Aufgrund des zuvor Gesagten verwundert es jetzt auch nicht mehr, dass Aristoteles vom Sein (ei estai) des logos spricht, eine Formulierung, die sich auch in Zeta 15 findet (1039b26: eisi kai ouk eisin). Der Aussagegehalt des logos ist eine Seinsweise, und in dieser Seinsweise ist bei den Artefakten und Naturdingen die Materie mit enthalten. Das ist der Grund, so meine Interpretation, weshalb Aristoteles vom logos »in der Materie« spricht bzw. von logoi enhyloi. Der logos aus (i) enthält Materie, weil er, wie (ii) zeigt, auf die Materie Bezug nehmen muss. Die mögliche Irritation, dass er in (i) den logos als etwas Seiendes behandelt, in (ii) hingegen als etwas Ausgesagtes, verschwindet dadurch, dass man den logos als ausgesagtes Seiendes auffasst (siehe Kapitel 4). Damit wäre angegeben, was logoi enhyloi sind. Die Passage in De anima gibt keinen Anlass zu der Behauptung, Aristoteles kenne so etwas wie einen »embodied logos«, der sich vom Definiens unterscheidet.
Im Unterschied dazu wird in Physik III 3, 246b15 – 17 das Warme und Kalte als Form und Gestalt aufgefasst. Demzufolge wäre dann das Blut die Materie und das Sieden die Form. 112 403b2 – 7: ὁ μὲν γὰρ λόγος ὅδε τοῦ πράγματος, ἀνάγκη δ’ εἶναι τοῦτον ἐν ὕλῃ τοιᾳδί, εἰ ἔσται· ὥσπερ οἰκίας ὁ μὲν λόγος τοιοῦτος, ὅτι σκέπασμα κωλυτικὸν φθορᾶς ὑπ’ ἀνέμων καὶ ὄμβρων καὶ καυμάτων, ὁ δὲ φήσει λίθους καὶ πλίνθους καὶ ξύλα, ἕτερος δ’ ἐν τούτοις τὸ εἶδος ἕνεκα τωνδί. 111
Kapitel 10 Fazit und Problemausweitung
10.1 Die Substanz ist eine ausgesagte Seinsweise, nämlich diejenige, die von einer Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt wird; somit ist die Substanz der Aussageinhalt des Definiens
An dieser Stelle ist es Zeit für ein Zwischenfazit. Es hat sich gezeigt, dass der logos, von dem Aristoteles im Zusammenhang mit der Bestimmung von Form und Substanz spricht, keine Struktur sein kann. Stattdessen meint logos schlicht das Definiens. Teils meint logos nur den sprachlichen Ausdruck des Definiens, wie in der Rede vom logos der Form. Teils meint logos beides, Ausdruck und Inhalt, was in Zeta allerdings eher selten der Fall ist. Drittens meint logos den Aussageinhalt, und in diesem Sinne kann Aristoteles sagen, die Essenz und die Substanz seien logos. Weil alles wahr Ausgesagte für Aristoteles eine Seinsweise darstellt, sieht er die ausgesagte Form und Essenz als etwas Seiendes an und ebenso dann den logos. Der logos ist folglich nicht bloß Prädikat im modernen Sinne, sondern jene Seinsweise, die von einer Sache als von ihr selbst her ausgesagt wird. Auch in einer anderen Hinsicht hat sich die Rede vom logos als mehrdeutig erwiesen, da einige Definitionen (also logoi) die Materie enthalten, andere hingegen nicht. Die Definition, die keine Materie enthält, ist materiefreie Form, und diese bestimmt Aristoteles einerseits als definierenden logos, andererseits sagt er von ihr, sie sei kata logon abgetrennt. Wie sich zeigte, meint dies, dass diese Form keine Materie enthält. Davon zu unterscheiden sind Formen, die immer an einer bestimmten Materie auftreten, so wie die Stupsigkeit immer an Nasengewebe auftritt und ohne diese nicht definiert werden kann. Es gibt allerdings homonyme Formen wie im Falle des Menschen oder des Kreises, und die Homonymie zeigt sich hier gerade in der Verschiedenheit der jeweiligen Definition. Was es heißt, ein hölzerner Kreis zu sein, ist verschieden davon, was es heißt, ein Kreis zu sein. Weshalb also ist die Substanz logos? Sie ist Essenz, und die Essenz ist eine ausgesagte Seinsweise. Sie ist das Sein einer Sache und somit dasjenige, was von der Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt wird. Daher ist die Substanz Ausgesagtes, genauer, der Aussageinhalt des Definiens. Folglich ist die Substanz logos, denn das Definiens nennt Aristoteles logos. Die Eingangsfrage umfasste jedoch mehr. Die Substanz ist Aristoteles zufolge ein Entstehungsprinzip, und folgerichtig weist er das Definiens als Ursache aus. Aber dass die Substanz ein solches Prinzip ist und nicht nur ein Seinsprinzip, ist
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Kapitel 10
alles andere als selbstverständlich. Daher ist in der Folge zu untersuchen, inwiefern die Substanz ein Entstehungsprinzip darstellt. Erst dann wird nachvollziehbar sein, weshalb der logos ein solches Naturprinzip ist.
10.2 Substanz als Seins- und Entstehungsursache
Aus heutiger Sicht sind die Thesen, der logos sei Substanz, und, der logos sei Ursache, verschieden. Die Verbindung entsteht erst dadurch, dass Substanz nicht nur Seins- sondern auch Entstehungsprinzip der Dinge ist. Folglich ist es zunächst eines, den logos als Essenz aufzufassen, und etwas anderes, die Essenz als Entstehungsprinzip anzuerkennen. Es könnte so aussehen, als ob die Antwort auf die Frage, inwiefern der logos ein solches Prinzip ist, nur darauf abzielen muss zu erklären, weshalb Aristoteles Formursachen geltend macht. Aber die Sache ist komplexer. Erstens erklärt Aristoteles uns nicht zureichend, weshalb die Form eine von vier Ursachentypen ist, was aber nicht impliziert, dass seine Annahme von Formursachen unsinnig ist. Wie sich zeigen wird, übernimmt er die Idee einer Formursache von seinen Vorgängern. Zweitens ist zu fragen, ob Aristoteles nicht einfach Seins- und Entstehungsprinzip durcheinanderbringt, wenn er die Form als Letzteres ausgibt. Es ist darzulegen, dass er sich des Unterschieds sehr wohl bewusst ist. Die zweite Frage ist sinnvollerweise vor der ersten zu behandeln. Denn wenn Aristoteles Seins- und Entstehungsgrund verwechseln sollte, dann wäre die Frage, weshalb er die Form als Entstehungsprinzip geltend macht, vor dem Hintergrund dieser Verwechslung zu betrachten.113 Zunächst allerdings ist mit der umstrittenen Frage zu beginnen, was Aristoteles unter einer aitia versteht. Dem üblichen Sprachgebrauch folgend werde ich den Ausdruck aitia als »Ursache« übersetzen, auch wenn dies zu Fehlassoziationen verleiten kann und aus diesem Grund ausführlich kritisiert wurde. Es wurde geltend gemacht, die aristotelische aitia entspreche keineswegs dem modernen Konzept der Ursache, wobei die Frage, was das moderne Konzept der Ursache sein soll, selbst umstritten ist.114
Ohne Umschweife behauptet Aristoteles, die Seinsursache (aition tou einai) sei Substanz (siehe Met. V 8, 1017b14 – 15). Für die Entstehungsursache findet sich keine solch explizite Aussage. 114 Russell monierte, das so genannte philosophische Konzept der Ursache sei eine Fiktion, die in der modernen Physik überhaupt keine Rolle spiele, siehe B. Russell, ›On the Notion of Cause‹, in: Proceedings of the Aristotelian Society 13 (1912 – 1913), 1 – 26, bes. S. 1. Kritik an dieser Einschätzung kommt in jüngster Zeit etwa von M. Frisch, ›Physics and the Human Face of Causation‹, in: Topoi 33 (2014), 407 – 419. 113
Fazit und Problemausweitung
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Die Diskussion um die Frage, wie der Ausdruck aitia bei Aristoteles zu verstehen ist, fand ihren Anlass vor allem darin, dass Aristoteles nicht nur Wirk ursachen kennt, sondern auch die so genannte Materialursache, Formursache und Finalursache. Insbesondere Letztere hat zu der Überlegung geführt, dass die aitia bei Aristoteles nichts sein kann, was im physikalischen Sinne etwas bewirkt. In Ana. post. liest es sich teils so, dass die aitia schlicht eine richtige Antwort auf die Warum-Frage darstellt, womit die vier Ursachen nur vier Antworttypen auf bestimmte Warum-Fragen wären. Im Zuge dieser Überlegung haben Vlastos und Hocutt erwogen, die aristotelische aitia sei nicht cause, sondern ein because.115 Diese Erwägung blieb nicht ohne Kritik und es wurde alternativ vorgeschlagen, aitia zumindest als »explanation«, als »explanatory factor« oder als »generative factor« aufzufassen.116 In all diesen Überlegungen zur Frage, was Aristoteles unter aitia versteht, wurden meines Erachtens drei Punkte übersehen. Erstens, Aristoteles sagt explizit, dass aitia und archê eine überschneidende Bedeutungsbandbreite haben, da alle aitiai archai seien, also Prinzipien (Met. V 1, 1013a16 – 17). Daher sollte der Versuch, die aristotelische aitia zu bestimmen, auch darauf schauen, was archê bei ihm meint. Zweitens sind die vier aitiai, die uns Aristoteles nennt, also die Materie, Form, das Bewegungsprinzip und der Zweck, allesamt Substanz. Dass die Materie und Form Substanz sind, bedarf nicht der Erläuterung, dass das Bewegungsprinzip und der Zweck Substanz sind, wird sich zeigen (vorab sei hierfür auf Physik II 7, 198a21 – 26 verwiesen sowie auf Zeta 17, 1041a27 – 30). Wenn man daher die aitia als »explanation« bestimmt oder als »because«, muss man anerkennen, dass auch die ousia nur etwas ist, das die Was-Frage und die Warum-Frage klärt. Das hätte weitreichende Folgen für die Interpretation der aristotelischen Substanzbücher Zeta, Eta und Theta. Umgekehrt, insofern die Substanz primär Seiendes ist, wie wir in Zeta erfahren, gilt dies auch für die aitia. Drittens und mit dem zweiten Punkt zusammenhängend, ist die Diskussion um die aristotelische aitia so angelegt, dass es sich dabei entweder um etwas Ausgesagtes handelt (um eine »explanation« oder ein »because«) oder um etwas real Gegebenes (»Ursache«), wobei die Vorschläge »explanatory factor« oder »generaM. Hocutt, ›Aristotle’s Four Becauses‹ in: Philosophy 49, 190 (1974), 385 – 399. G. Vlastos, ›Reasons and Causes in the Phaedo‹, in: The Philosophical Review 78, 3 (1969), 291 – 325. 116 Die nachfolgende Liste stellt nur eine Auswahl der vorgeschlagenen Interpretationen vor: »generative factor« bei J. Moravcsik, ›Aitia as a Generative Factor in Aristotle’s Philosophy‹, in: Dialogue 14 (1975), 622 – 638; »explanation that cites a material/formal/efficient/final factor« bei J. Annas, ›Aristotle on Inefficient Causes‹, in: Philosophical Quarterly 32, 129 (1982), 311 – 326, 320; »explanatory factor« bei G. Fine, ›Forms as Causes‹, in: A. Graeser (Hg.), Mathematics and Metaphysics in Aristotle (Bern 1987), 69 – 112, 69; »causal factor« bei R. Cameron, ›The Ontology of Aristotle’s Final Cause‹, in: Apeiron 35, 2 (2002), 153 – 179. 115
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Kapitel 10
tive factor« irgendwo dazwischen liegen, ohne das Grundproblem zu entschärfen. Hinsichtlich der Frage nach der Form und der Essenz hat sich gezeigt, dass eine Trennung von Ausgesagtem und Seiendem mit Blick auf Aristoteles nicht sinnvoll ist, da alles wahr Ausgesagte etwas Seiendes ist. Wenn daher die Substanz erklärt, weshalb etwas entsteht, dann ist sie mehr als bloße Erklärung (oder ein »als ob«, wie es Wieland vertreten hat).117 Zweifelsohne ist die aitia eine Antwort auf die Warum-Frage (Ana. post. II 11, besonders 94a36 – 37 und b8 – 12). Aber sie ist dies auf dieselbe Weise, wie die ousia eine Antwort auf die Was-Frage darstellt. Die aitia ist eine Erklärung, die ousia eine Definition. Sofern sie wahr ausgesagt werden, sind es gegebene Seinsweisen und damit mehr, als man heute unter einer Erklärung oder einer Definition versteht. Damit ist keineswegs bestimmt, was eine aitia bei Aristoteles ist oder weshalb etwa der Zweck als eine Ursache verstanden werden kann. Aber es ist dann klar, dass Aristoteles’ Bestimmung des logos als aitia nicht einfach damit begründet werden kann, dass die aitia eben eine Erklärung ist und logos jetzt das Definiens meint, das gemäß Ana. post. II 8, 93a3 – 6 zugleich auch Explanans ist. Sofern das Explanans wahr ausgesagt wird, ist es auch etwas Seiendes. Zu sagen, dass der logos Ursache des Knochens und des Gewebes sei, meint daher, etwas ausgesagtes Seiendes als Ursache geltend zu machen. Wie Aristoteles zu dieser Auffassung gelangt, wird die Folge zeigen.
117 W. Wieland, ›Aristotle’s Physics and the Problem of Inquiry Into Principles‹, in: J. Barnes, M. Schofield u. R. Sorabji (Hgg.), Articles on Aristotle, vol. 1 (London 1975), 127 – 140.
Kapitel 11 Die Vereinigung von Seinsursache und Entstehungsursache bei Aristoteles
11.1 Die Unterscheidung beider Ursachen
An einigen Stellen unterscheidet Aristoteles explizit zwischen der Seinsursache und der Entstehungsursache. An anderen Stellen sieht es hingegen so aus, als treffe er keine solche Unterscheidung. Die Unterscheidung ist grundlegend, und sie bleibt es auch, wenn man aitia nicht als »Ursache« übersetzt, sondern als »Erklärung« oder als »explanatory factor«. Die Frage, warum Sokrates ein Mensch ist und warum er ein Mensch wurde, sind unterschiedliche Fragen, die, so scheint es, nach unterschiedlichen Antworten verlangen. Man könnte zu dem Schluss gelangen, dass Aristoteles beide Arten von Ursachen nicht sauber auseinanderhält. Die nachfolgende Untersuchung soll zeigen, dass er dies tatsächlich nicht tut, dafür aber einen guten Grund hat. Sie sind bei ihm nicht einfach ununterschieden, sondern dadurch vereint, dass für die Naturdinge und Artefakte ein und dieselbe Ursache, nämlich der Zweck, sowohl Seins- als auch Entstehungsursache ist. Zunächst sind auswahlhaft Passagen anzuführen, in denen Aristoteles explizit zwischen Seinsursache und Entstehungsursache unterscheidet. Danach sind drei Passagen zu betrachten, an denen es so aussieht, als vermenge er beide Arten von Ursachen. Zuletzt ist auf Zeta 17 einzugehen, um die Vereinigung beider Ursachen darzulegen. In Met. V 1 diskutiert Aristoteles die verschiedenen Verwendungen des Ausdrucks archê. In diesem Zusammenhang erfahren wir, dass aitia dieselben Verwendungen hat wie archê (»Prinzip«), da jede aitia eine archê sei (1013a16 – 19). Prinzipien, so fügt er an, sind entweder primär mit Blick auf das Sein, mit Blick auf das Entstehen oder mit Blick auf das Wissen (a17 – 19). Vermutlich sind diese Formen der Priorität nicht disjunkt. So heißt es in Zeta 1, 1028a32 – 33, die Substanz sei in jeglicher Hinsicht primär. Zumindest aber wird in Met. V 1 das Seins prinzip vom Entstehungsprinzip unterschieden und damit die Seinsursache von der Entstehungsursache. Ausdrücklich findet sich die Unterscheidung beider Ursachen in Met. I 9, 991b3 – 4 (= XI 5, 1080a2 – 3). Aristoteles kritisiert an dieser Stelle Platons Ursachenlehre. Platons Phaidon liest er so, dass die Formen sowohl Seins- als auch Entstehungsursache sind (tou einai kai tou gignesthai aitia ta eidê estin). Diese
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Kapitel 11
Interpretation liegt vermutlich auch Zeta 8, 1033b28 zugrunde, wo Aristoteles die Unbrauchbarkeit der platonischen Formen als Erklärung für Sein und Entstehung behauptet. Diese Passagen belegen Aristoteles’ ausdrückliche Unterscheidung beider Ursachen.
11.2 Die vermeintliche Konfusion beider Ursachen
Es gibt mindestens drei Passagen bei Aristoteles, an denen man den Eindruck erhält, es herrsche eine Konfusion zwischen beiden Arten von Ursachen: Met. V 18, 1022a14 – 20, die eben erwähnte Passage Met. I 9, 991b3 – 4 (= XI 5, 1080a2 – 3) und De gen. et corr. 333b7 – 16. Ich werde sie der Reihe nach behandeln. In Met. V 18 präsentiert Aristoteles die verschiedenen Verwendungen der Ausdrücke kath’ ho und kath’ hauto. Er merkt an, kath’ ho sei koextensional mit aition. Daher gilt vermutlich: Wenn A aufgrund von B ist (kath’ ho), dann ist B die Ursache von A (aition).118 Diese Regel scheint einfach zu sein. Doch es fragt sich, ob »aufgrund von B zu sein« dieselbe Relation ist wie »aufgrund von B zu entstehen«. Die Passage liest sich so, als spiele diese Frage für Aristoteles gar keine Rolle. Sie beginnt mit der Unterscheidung von zwei Weisen, auf die »aufgrund von« (kath’ ho) gesagt wird. Erstens, Dinge sind aufgrund von Form und Substanz, so wie man sagt, ein Gutes sei aufgrund des Guten selbst gut (auto agathon, 1022a16). Zweitens, Dinge entstehen (pephyke gignesthai, a16) aufgrund von etwas, das ihnen zugrunde liegt, so wie man sagt, dass Farbe aufgrund der Oberfläche ist, an der sie auftritt. Im ersten Fall, so Aristoteles weiter, seien Dinge aufgrund von Form, im zweiten Fall aufgrund von Materie (1022a17 – 19). Der erste Fall ist eindeutig: Es geht hier um die Seinsursache. Etwas Gutes ist gut aufgrund des Guten selbst. Das klingt nach Platon und lässt sich in der Tat in den platonischen Frühdialogen so finden. Es gibt eine Form, aufgrund derer (di’ ho) alles Tugendhafte tugendhaft ist (Meno, 72c7 – 8, siehe auch 72e5: tô autô eidei). Ebenso gibt es eine Form der Frömmigkeit, aufgrund derer alles Fromme fromm ist (Eutyphro 6d10 – 11). Nun ist das Gute nicht die Ursache davon, dass Sokrates ein Mensch ist. Er ist ein Mensch aufgrund des Menschseins, des Lebewesen-Seins und des Zweifüßig-Seins. Dies zumindest sind nach Aristoteles die 118
1022a19 – 22: ὅλως δὲ τὸ καθ’ ὃ ἰσαχῶς καὶ τὸ αἴτιον ὑπάρξει. Ross interpretiert die Relation wie folgt: »the καθ’ ὃ has meanings answering to those of ›cause‹,« Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduction and Commentary by W. D. Ross, 2 vols. (Oxford 1924, repr. 1958), vol. i, 333. Kirwan schlägt vor, den Ausdruck κατα als »by« zu lesen, z. B. »Callias is good by (virtue of) good itself,« siehe seine Anmerkungen in Aristotle’s Metaphysics. Books Γ, Δ, and Ε, Translated with Notes by C. Kirwan (Oxford 1971), 168.
Die Vereinigung von Seinsursache und Entstehungsursache bei Aristoteles
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Ursachen eines Menschen (siehe Met. V 18, 1022a33 – 35). Folglich ist die Form Seinsursache der Substanzen. Sokrates ist ein Mensch aufgrund der Form des Menschen. Von dieser Ursache unterscheidet Aristoteles die Ursache, aufgrund derer die Farbe gegeben ist (pephyke gignesthai, a16). Das bloße Auftreten des Ausdrucks gignesthai heißt noch nicht, dass es hier um die Entstehung der Farbe geht. Aristoteles will an dieser Stelle vermutlich nicht sagen, dass die Farbe aufgrund der zugrundeliegenden Oberfläche entsteht, sondern dass sie aufgrund der Oberfläche gegeben ist. Man könnte daraus schließen, dass für die Entstehung von Farbe die Oberfläche vorauszusetzen ist, aber Aristoteles sagt das so nicht. Es lässt es im Vagen, ob er auf die Seinsursache der Farbe abzielt oder auf ihre Entstehungsursache. Gleichwohl fügt er eine generelle Überlegung an, nämlich die bereits oben genannte, dass kath’ hauto koextensional mit aition ist. Anders, als bei der Rede von aition zu erwarten wäre, beschränkt sich das, was er danach anführt, ent weder auf die Seinsursache oder es lässt die Unterscheidung von Seins- und Entstehungsursache im Unklaren. Zweifelsohne ist auch die Entstehungsursache von Substanzen ein aition, doch von solchen Ursachen ist hier zumindest explizit nicht die Rede. Das legt den Schluss nahe, Aristoteles unterscheide nicht klar zwischen Seins- und Entstehungsursache.
11.3 Aristoteles’ Kritik an der Ursachenlehre des Phaidon
Die zweite relevante Passage ist Aristoteles’ Kritik an Platons Ursachenlehre. Zunächst unterscheidet er explizit zwischen Seinsursache und Entstehungsursache. In seiner anschließenden Widerlegung Platons ist dann allerdings von dieser Unterscheidung keine Rede mehr: Im Phaidon wird gesagt, dass die Formen sowohl die Seinsursache als auch die Entstehungsursache sind. Jedoch, wenn es die Formen gibt, so entsteht das an ihnen Teilhabende nicht, wenn es kein Bewegendes gibt, und es entstehen viele andere Dinge, wie ein Haus oder ein Ring, von denen wir nicht sagen, dass es Formen gibt. Daher ist es offenkundig, dass auch die zuvor genannten Dinge aufgrund von solchen Ursachen entstehen [und nicht aufgrund von Formen]. (Eigene Übersetzung)119 119
991b3 – 9 = 1080a2 – 8: ἐν δὲ τῷ Φαίδωνι οὕτω λέγεται, ὡς καὶ τοῦ εἶναι καὶ τοῦ γίγνεσθαι αἴτια τὰ εἴδη ἐστίν· καίτοι τῶν εἰδῶν ὄντων ὅμως οὐ γίγνεται τὰ μετέχοντα ἂν μὴ ᾖ τὸ κινῆσον, καὶ πολλὰ γίγνεται ἕτερα, οἷον οἰκία καὶ δακτύλιος, ὧν οὔ φαμεν εἴδη εἶναι· ὥστε δῆλον ὅτι ἐνδέχεται καὶ τἆλλα καὶ εἶναι καὶ γίγνεσθαι διὰ τοιαύτας αἰτίας οἵας καὶ τὰ ῥηθέντα
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Kapitel 11
Diese Kritik von Aristoteles an Platon hat eine reiche Auseinandersetzung in der Literatur erfahren. Es wurde vor allem die Frage diskutiert, auf welche Art von Ursache sie sich bezieht, sprich, ob Aristoteles Platons Formen als Wirkursache auffasst oder als Formursache. Mein Vorschlag lautet, diese Frage beiseite zu lassen und Aristoteles beim Wort zu nehmen. Er behauptet, im Phaidon würden die Formen sowohl als Seinsursache als auch als Entstehungsursache auftreten (kai tou einai kai tou gignesthai aitia). Trifft das zu? Zunächst spricht Sokrates im Phaidon nur von der Ursache des Entstehens und Vergehens (95e9 – 96a1), wenig später jedoch auch von der Seinsursache (96a8 – 10). Diese Einbeziehung des Seins kommt unvermittelt.120 Mit Blick auf seine unmittelbar nachfolgende Darlegung ist es schwer zu sagen, ob die Form als Ursache sowohl das Sein als auch das Entstehen erklären soll. Sokrates’ anfängliche Bezugnahme auf die Naturphilosophie von Empedokles und Anaxagoras spricht dafür, dass es ihm um beide Typen von Ursachen geht. Doch abgesehen von einer möglichen Ausnahme spricht er in der unmittelbaren Folge nur einmal davon, dass etwas ein F ist aufgrund der Form von F. Die mögliche Ausnahme bilden die Stellen 100d7 – 8 und e2 – 3. Einige Handschriften lesen den Text so, dass alles Gute gut wird durch die Form des Guten, einige hingegen so, dass alles Gute gut ist aufgrund der Form des Guten.121 Wenn wir von der Lesart ausgehen, der zufolge alles Gute aufgrund des einen Guten gut wird, so ist zu fragen, ob dies im Sinne der Entstehung gemeint sein kann. In 101b9–c1 erörtert Sokrates, weshalb eins und eins zwei ergeben (genesthai). Hier geht es zweifelsfrei nicht um Entstehung oder um sonst irgendeinen Vorgang.122 Eindeutig ist die Sache aber später in 103a11 – 13. Hier wird deutlich, dass es auch νῦν. In der Doublette 1080a8 erhalten wir den Zusatz ἀλλ’ οὐ διὰ τὰ εἴδη, was den Sinn der Aussage verbessert und daher von mir in Klammern hinzugefügt wurde. 120 95e9 – 96a1: ὅλως γὰρ δεῖ περὶ γενέσεως καὶ φθορᾶς τὴν αἰτίαν διαπραγματεύσασθαι. 96a8 – 10: ὑπερήφανος γάρ μοι ἐδόκει εἶναι, εἰδέναι τὰς αἰτίας ἑκάστου, διὰ τί γίγνεται ἕκαστον καὶ διὰ τί ἀπόλλυται καὶ διὰ τί ἔστι. 121 Der entscheidende Satz in 100d7 – 8 und e2 – 3 lautet τῷ καλῷ τὰ καλὰ [γίγνεται] καλά. Gemäß Burnets Ausgabe bieten die Handschriften T und b das Verb γίγνεται in d7 – 8, B und W hingegen nicht (wobei Burnet b als Korrekturhand von B liest). Für e2 – 3 bieten T und W γίγνεται, B nicht. Daher stellt Burnet das Verb γίγνεται in eckige Klammern. Die neuere Edition von Strachan hat das Stemma überarbeitet und lässt das γίγνεται in d8 aus, in Übereinstimmung mit den Handschriften TPQV. In e3 jedoch liest Strachan γίγνεται in Übereinstimmung mit WPQVA. Im Unterschied dazu liest Rowes Edition γίγνεται in d8, aber nicht in e3. Kurzum, es gibt keinen editorischen Konsens zu diesen Stellen. 122 Dies hat bereits Annas hervorgehoben: »Plato does, it is true, continue to use the language of coming-to-be; thus at 101c3 – 7 we are told that Forms explain not only things being one or two in number, but their becoming so. But of course they do not; what they explain is the possession of a quality, not the causal history of how that quality came to be possessed.« J. Annas, ›Aristotle on Inefficient Causes‹ Philosophical Quarterly 32, 129 (1982), 311 – 326, 318.
Die Vereinigung von Seinsursache und Entstehungsursache bei Aristoteles
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um die Entstehung und ihre Ursachen geht. Phaidon berichtet, jemand habe die vorangehende Diskussion mit Sokrates so zusammengefasst, dass folglich aus dem Kleinen das Große entstehe (gignesthai) und umgekehrt. Aristoteles liegt folglich mit seiner Interpretation des Phaidon richtig. Sein Einwand gegen die Ursachenlehre des Phaidon hat zwei Gesichtspunkte, die beide nur auf die Frage nach der Entstehung Bezug nehmen. Dennoch schließt er daraus (hôste dêlon), dass die besagten Dinge nicht aufgrund der platonischen Formen sind und entstehen. Im ersten Teil des Einwands macht Aristoteles geltend, Platons Formen seien unzureichend, um Entstehung zu erklären. Formen sind ewig und daher immer vorhanden, so seine Kritik, die an ihnen teilhabenden physikalischen Objekte hingegen haben einen zeitlichen Anfang. Sie entstehen nicht ohne eine Bewegungsursache. Im zweiten Teil zeigt er, dass Platons Formen nicht nur unzureichend, sondern auch irrelevant sind. Viele Dinge entstünden, von denen es keine Formen gebe. Ohne Zweifel spricht Aristoteles hier von der Entstehung von sichtbaren Objekten, wie seine Beispiele des Hauses und des Rings klar machen. Wie Annas treffend zusammenfasst, zeigt Aristoteles das Folgende: »Forms are neither sufficient (a) nor necessary (b) for coming into being.«123 Jedoch gibt er vor, damit gezeigt zu haben, dass Platons Formen weder Entstehungsursache noch Seinsursache sind. Sollen wir annehmen, die Unmöglichkeit von Letzterem ergebe sich aus der Unmöglichkeit von Ersterem? Da Aristoteles nichts weiter dazu sagt, ist zu vermuten, dass er dieser Ansicht war. Um sie zu vertreten, ist anzunehmen, es gebe keine Ursachen, die bloße Seinsursachen sind. Denn eine Ursache, so lässt sich sagen, die nur das Sein einer Sache verursacht, wäre gegen die von Aristoteles vorgebrachte Kritik immun, und genau dieser Punkt nährt den Zweifel vieler Interpreten, ob Aristoteles’ Kritik überhaupt auf den Phaidon zutrifft. Damit die Kritik stichhaltig ist, muss für alles Entstehende die Seinsursache auch Entstehungsursache sein. Wir erhalten an dieser Stelle keinerlei Grund für die Richtigkeit dieser Annahme. Gesteht man sie zu, dann lässt sich erklären, weshalb Aristoteles zunächst zwischen beiden Ursachen unterscheidet und in seiner Kritik doch nur eine thematisiert. Wenn bei den veränderlichen Dingen die Seinsursache auch Entstehungsursache ist, dann reicht es zu zeigen, dass Platons Ursachen keine Entstehungsursachen sind, um seine Ursachenlehre generell zu verwerfen. Es wird sich aber erst in Zeta 17 zeigen, weshalb Aristoteles beide Arten von Ursachen zusammenführt.
123 Aristotle’s Metaphysics. Books M and N, Translated with Introduction and Notes by J. Annas (Oxford 1976), 162.
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Kapitel 11
11.4 Aristoteles’ Essenz versus Empedokles’ Mischung
Die Relevanz der dritten zu betrachtenden Textpassage wird im vollen Umfang erst in der anschließenden Diskussion zu Zeta 17 deutlich werden. Die Passage wurde bereits oben schon einmal diskutiert, und zwar im Zusammenhang mit Empedokles’ Naturlehre. In dieser Passage aus De gen. et corr. sieht es so aus, als ignoriere Aristoteles die wesentliche Unterscheidung von Seins- und Entstehungsursache. Bei seiner Ersetzung von Empedokles’ Naturprinzip der Mischung durch die Essenz spricht er unterschiedslos von aition. In diesem Zusammenhang ist bereits unklar, ob Empedokles’ Konzept der Mischung auf die Entstehungs ursache abzielt, auf die Seinsursache oder auf beides: Was also ist die Ursache dafür, dass aus einem Menschen ein Mensch entsteht, immer oder meistens, und dass aus Weizen Weizen entsteht und kein Olivenbaum? Und ist der Knochen das so und so Zusammengesetzte? Denn nichts ist zufällig Zusammengesetztes noch entsteht es zufällig, wie es seiner [Empedokles] Rede zufolge gilt, sondern aufgrund eines logos. Was also ist die Ursache von diesen Dingen? Nicht Feuer oder Erde. Aber auch nicht Liebe und Streit. Das eine ist nur Ursache der Zusammensetzung, das andere Ursache der Trennung. Vielmehr ist die Ursache die Substanz des jeweiligen Dings und nicht »allein Mischung und Trennung des Gemischten«, wie jener sagt. Vom Zufall spricht man bei diesen Dingen, nicht von logos. Denn sie werden wie zufällig gemischt. (Eigene Übersetzung)124
Zunächst ist zu sagen, dass Empedokles’ Ausdruck mixis nicht für das gemischte oder zusammengesetzte Ding steht, sondern für den Akt der Mischung.125 Ein Blick auf Empedokles’ Fragment DK 8 macht deutlich, dass er das Mischen der Elemente als dasjenige auffasst, was die Leute Natur (bzw. Entstehung) nennen, und die Trennung der Elemente als das, was Tod genannt wird (bzw. Sterben). Empedokles’ Konzept der Mischung ist sicherlich dafür gedacht, Entstehung zu erklären, doch solange Feuer und Wasser auf eine bestimmte Weise gemischt 124
333b7 – 16: Τί οὖν τὸ αἴτιον τοῦ ἐξ ἀνθρώπου ἄνθρωπον ἢ ἀεὶ ἢ ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, καὶ ἐκ τοῦ πυροῦ πυρὸν ἀλλὰ μὴ ἐλαίαν; ἢ καὶ ἐὰν ὡδὶ συντεθῇ ὀστοῦν; οὐ γὰρ ὅπως ἔτυχε συνελθόντων οὐδὲν γίνεται, καθ’ ἃ ἐκεῖνός φησιν, ἀλλὰ λόγῳ τινί. Τί οὖν τούτων αἴτιον; οὐ γὰρ δὴ πῦρ γε ἢ γῆ. Ἀλλὰ μὴν οὐδ’ ἡ φιλία καὶ τὸ νεῖκος· συγκρίσεως γὰρ τὸ μέν, τὸ δὲ διακρίσεως αἴτιον. Τοῦτο δ’ ἐστὶν ἡ οὐσία ἡ ἑκάστου, ἀλλ’ οὐ «μόνον μίξις τε διάλλαξίς τε μιγέντων», ὥσπερ ἐκεῖνός φησιν. Τύχη δ’ ἐπὶ τούτοις ὀνομάζεται, ἀλλ’ οὐ λόγος· ἔστι γὰρ μιχθῆναι ὡς ἔτυχεν. 125 Das deutsche Wort »Mischung« ist hier mehrdeutig, anders als das englische »mixture«. Teils wird μίξις als »mixture« übersetzt, etwa in Kirwans Übersetzung von Met. V 4, 1015a2 oder bei Polansky, Aristotle’s De Anima (Cambridge 2008), 105. Aber das ist nicht richtig. Der LSJ bietet korrekterweise nur die Übersetzungen »mixing« und »mingling« an.
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sind, gibt es gemäß diesem Konzept auch einen Knochen. Folglich wäre die Vermischung der Elemente die Entstehungsursache des Knochens, das Gemischtsein hingegen die Seinsursache. In der zitierten Passage zu Empedokles interpretiert Aristoteles dessen Konzept der Mischung auf die Weise, dass es sowohl die Entstehung der Dinge als auch ihr Sein erklärt.126 Zunächst fragt er nach dem Grund, weshalb ein Mensch stets einen Menschen zeugt. Dann fragt er, ob der vergangene Mischungsprozess (man beachte den Aorist hôdi syntethê) zu erklären vermag, was ein Knochen ist.127 Im Unterschied zum Ausdruck mixis kann ousia schwerlich einen Prozess meinen, und Aristoteles spricht nicht von so etwas wie einer Substantialisierung. Nichtsdestotrotz zögert er nicht, Empedokles’ Konzept der Mischung durch die Substanz (ousia) zu ersetzen. Es stellt sich die Frage, wie die Substanz die Entstehung erklären kann, da sie anders als die Mischung kein Prozess ist. Aristoteles zufolge bedingt die Substanz, was entsteht. Aufgrund der Substanz (bzw. aufgrund des logos) zeugt ein Mensch immer einen Menschen, anstatt nur zufällig. In diesem Sinne ist die Substanz Entstehungsursache und dem Prozess der Mischung, sofern er relevant ist, vorgeordnet. Darüber hinaus ist die Substanz aber zweifelsohne Seinsursache. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Wenn die Substanz dafür sorgt, dass aus einem Olivensamen ein Olivenbaum entsteht, und wenn die Substanz dasjenige ist, was den Olivenbaum zu dem macht, was er ist, dann ist die Substanz Seins- und Entstehungsursache. Beide Ursachen sind vereint.
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Eine bemerkenswerte Anmerkung zu dieser Frage findet sich bei Ross. Er schreibt: »It is clear that Aristotle interprets φύσις in Empedocles as = permanent nature.«, siehe Aristotle’s Metaphysics vol. i, 297. Die Mischung, die die Menschen gemeinhin »Natur« nennen, wäre dann Seinsursache. Ross bezieht sich hierfür auf Met. V 4, wo Aristoteles Empedokles als jemanden anführt, der physis im Sinne von eidos versteht. Dasselbe meint Ross mit Blick auf De gen. et corr. 333b7 – 16: »[…] φύσις in Empedocles is interpreted by οὐσία, permanent nature.« Hinsichtlich De gen. et corr. 414b17 sei dies hingegen unklar. Vermutlich geht Ross daher davon aus, dass Aristoteles Empedokles’ mixis als Mischung auffasst, denn der Prozess des Mischens kann nicht »permanent nature« sein. 127 In Met. I 10, 993a15 – 24 hebt Aristoteles hervor, Empedokles habe, wenn auch vage, die Essenz als Ursache der Naturdinge geltend gemacht. Das zeigt, dass er Empedokles’ Mischung auch als Seinursache versteht, denn die Essenz ist zweifelsohne eine solche. Williams ist der Ansicht, Empedokles’ Mischung sei als bloßes Nebeneinander (»juxtaposition«) aufzufassen, »as when rubbish is hurled together in a refuse dip«, siehe Aristotle’s De generatione et corruptione, Translated with Notes by C. J. F. Williams (Oxford 1982), 171. Das scheint mir auf Demokrit eher zuzutreffen als auf Empdokles, auch wenn beide von Aristoteles in einem Atemzug genannt werden, siehe Met. V 4, 1014b34 – 1015a5. Doch letztlich wissen wir zu wenig über Empedokles’ Mischungsbegriff, um dies zureichend klären zu können.
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Kapitel 11
Doch auch hier sagt uns Aristoteles weder, dass beide Ursachen in der Substanz vereint sind, noch gibt es einen Hinweis darauf, weshalb dies so ist. Aufgrund seines Schweigens könnte man annehmen, er sei sich einfach im Unklaren darüber, ob die Substanz sowohl Seins- als auch Entstehungsursache ist oder nicht. Zeta 17 wird allerdings zeigen, dass er die Substanz explizit als Seins- und als Entstehungsursache auffasst, und es wird deutlich, weshalb er in der Substanz beide Ursachen vereint sieht.
11.5 Der Zweck als Seins- und Entstehungsursache in Zeta 17
Der Blick auf Zeta 17 ist mit einer generellen Feststellung zu beginnen. Im Lichte dessen, was Aristoteles in Ana. post. II 8 – 10 über die Definition sagt, ließe sich annehmen, meine nachfolgenden Bemühungen um eine Erklärung seien überflüssig. Gemäß der Definitionslehre in Ana. post. erklärt eine adäquate WasAngabe zugleich, warum etwas ist. So erklärt zum Beispiel die Definition des Donners, weshalb es donnert. Definiens und Explanans fallen zusammen, da der so genannte Mittelterm eines begründenden Syllogismus die Essenz eines Ereignisses wie dem des Donners ist. Das erklärt dann, weshalb die Essenz nicht nur Seinsursache, sondern auch Entstehungsursache ist. Sie gibt nicht nur an, was etwas ist, sondern auch, weshalb. Aber das Resultat aus Ana. post. II 8 – 10 lässt sich nicht einfach auf Substanzen ausdehnen, wie bereits Charles feststellt.128 Aristoteles beschränkt sich in Ana. post. II 8 – 10 zunächst auf Ereignisse wie Donner oder eine Sonnenfinsternis, nimmt dann aber auch Substanzen hinzu, nämlich den Menschen und die Seele (siehe II 8, 93a22 – 24). Es stellt sich die Frage, inwieweit sich die Methode aus Ana. post. auch auf Substanzen übertragen lässt. Charles vertritt die Ansicht, dass Aristoteles in Zeta 17 so nah wie möglich an der Definitionsmethode in Ana. post. bleibt (»as close as possible«)129, aber es wird sich zeigen, dass dieser Versuch der Nähe, so er von Aristoteles beabsichtigt war, an einem fundamentalen Unterschied in der Methode von Ana. post. II 8 – 10 und Zeta 17 scheitert. Das hängt meines Erachtens nicht nur damit zusammen, dass, wie Charles richtig bemerkt, in Ana. post. II 8 – 10 die Begriffe der Form und Materie nicht auftreten,130 sondern vor allem auch damit, dass Zeta 17 auf etwas zurückgreift, was uns zuvor nur in Physik II begegnet, nämlich die Ansicht, dass Charles, Aristotle on Meaning and Essence (Oxford 2000), 283 – 294; ›Definition and Explanation in the Posterior Analytics (and beyond)‹, in: ders. (Hg.), Definition in Greek Philosophy (Oxford 2010), 286 – 328, in der Folge abgekürzt als [Definition], hier bes. 309 – 313. 129 [Definition], 312 – 313. 130 [Definition], 312. 128 D.
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der Zweck die primäre Ursache ist. Was Aristoteles aus Ana. post. übernimmt, ist die Auffassung, dass die Essenz die primäre Ursache darstellt.131 Zunächst die Passage aus Zeta 17 in voller Länge, wobei die wichtigste Passage die als (ii) nummerierte sein wird: (i) Allerdings kann man untersuchen, warum der Mensch ein so-und-so beschaffenes Lebewesen ist. So viel ist jedenfalls klar, dass man in diesem Fall nicht danach fragt, warum das, was ein Mensch ist, ein Mensch ist. Wonach man fragt, ist also dies, warum eine Sache an einer anderen vorkommt (dass sie vorkommt, muss bereits klar sein; andernfalls wäre die Untersuchung gegenstandslos). So fragt man z. B. »Warum donnert es?« d. h. »Warum entsteht ein Getöse in den Wolken?«. Denn auf diese Weise ist das Gesuchte etwas, das an etwas anderem vorkommt. Und »Warum ist dieses, nämlich Ziegel und Steine, ein Haus?«. Es ist also offenkundig, dass man die Ursache sucht, und diese ist, allgemein gesprochen, die Essenz. (ii) Bei einigen Dingen wie etwa dem Haus oder dem Bett ist diese Ursache der Zweck, bei anderen hingegen das erste Bewegende. Denn auch dies ist eine Ursache. Nach dieser Ursache sucht man mit Blick auf das Entstehen und Vergehen, nach jener auch mit Blick auf das Sein. (iii) Das Gesuchte entgeht einem am ehesten in den Fällen, in denen Dinge nicht voneinander ausgesagt werden, wie wenn z. B. danach gesucht wird, was ein Mensch sei, da hier einfach vom Menschen gesprochen wird und nicht näher bestimmt wird, dass dieses das ist. Vielmehr muss man die Dinge untersuchen, nachdem man sie zergliedert hat […]. Da man aber von der Existenz der Sache schon Kenntnis haben und diese vorliegen muss, ist klar, dass man die Materie daraufhin befragt, aufgrund wovon sie etwas Bestimmtes ist, z. B. »Wodurch ist dies hier ein Haus?« – »Weil an ihm das Haus-Sein vorliegt.« Und »Wodurch ist dies ein Mensch?« oder »Wodurch ist dieser Körper etwas, das sich in diesem Zustand befindet?«. Man sucht also nach der Ursache für die Materie [das aber ist die Form], aufgrund derer sie etwas Bestimmtes ist. Dies ist die Substanz. (Übersetzung Frede/Patzig, leicht verändert)132 Ferejohns These, dass die Essenz nur im Organon eine wichtige Rolle spiele, in der Physik und Metaphysik hingegen durch den Naturbegriff ersetzt werde, ist nicht haltbar: »[…] I maintain that in the Physics Aristotle in effect replaces his earlier logical concept of an essence with the physical concept of nature,« M. Ferejohn, Formal Causes. Definition, Explanation, and Primacy in Socratic and Aristotelian Thought (Oxford 2013), 161 – 162. In Physik II 7, 198b2 – 11 bestimmt Aristoteles den Zweck explizit als Essenz, und selbiges tut er in Zeta 17. 132 1041a20–b9: ζητήσειε δ’ ἄν τις διὰ τί ἅνθρωπός ἐστι ζῷον τοιονδί. τοῦτο μὲν τοίνυν δῆλον, ὅτι οὐ ζητεῖ διὰ τί ὅς ἐστιν ἄνθρωπος ἄνθρωπός ἐστιν· τὶ ἄρα κατά τινος ζητεῖ διὰ τί ὑπάρχει (ὅτι δ’ ὑπάρχει, δεῖ δῆλον εἶναι· εἰ γὰρ μὴ οὕτως, οὐδὲν ζητεῖ), οἷον διὰ τί βροντᾷ; διὰ τί ψόφος γίγνεται ἐν τοῖς νέφεσιν; ἄλλο γὰρ οὕτω κατ’ ἄλλου ἐστὶ τὸ ζητούμενον. καὶ διὰ τί 131
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Es ist das erste Mal in Buch Zeta, dass Aristoteles auf den Zweck zu sprechen kommt. Er beginnt den Abschnitt 17 mit der Feststellung, dass die Substanz eine Ursache und ein Prinzip ist (1041a9 – 10). Er fügt hinzu, nach dem Warum zu fragen meine, zu fragen, warum etwas an etwas anderem vorliegt. Die Folge in 1041a11–b7 liest sich dann wie eine detaillierte Ausführung dieser Frageweise. In b7 – 8 kommt er dann zu dem Schluss, dass wenn wir hinsichtlich der Substanzen auf diese richtige Weise fragen, wir danach fragen, weshalb Materie etwas Bestimmtes ist, etwa, weshalb diese Steine und Ziegel ein Haus sind.133 Wenn man Abschnitt (ii) zunächst ausblendet, dann scheint Aristoteles die Seinsursache mit der Entstehungsursache durcheinander zu bringen. Abschnitt (i) beginnt mit der Feststellung, dass man etwa zu fragen hat, weshalb der Mensch ein bestimmtes Lebewesen ist (a21), und generell, warum dies etwas anderem zukommt (a23). In beiden Fällen geht es augenscheinlich um das Sein und nicht um die Entstehung. Dasselbe gilt für den Fall des Hauses in a27. Gefragt wird, weshalb diese Steine und Ziegel ein Haus sind, und nicht, weshalb daraus ein Haus entsteht. Im Unterschied dazu fragt das Beispiel in a25, weshalb in den Wolken ein Getöse entsteht (gignetai). Aristoteles geht hier einfach vom Sein zum Werden über und wieder zurück. In (iii) geht es um die Frage, weshalb dieser Körper ein Mensch ist, und nicht, weshalb ein Mensch entsteht. Zusammenfassend interpretiert Aristoteles all diese Fragen als eine Frage über die Materie (b7 – 8) und die Materie hat sicherlich etwas mit Entstehung zu tun. Alles in allem sieht es daher so aus, als würde Aristoteles beide Ursachen einfach vermischen. Abschnitt (ii) allerdings verändert alles. Erstens unterscheidet Aristoteles hier explizit zwischen der Frage nach dem Sein und der Frage nach der Entstehung. Zweitens unterscheidet er zwischen Substanzen und Ereignissen, d. h. zwischen ταδί, οἷον πλίνθοι καὶ λίθοι, οἰκία ἐστίν; φανερὸν τοίνυν ὅτι ζητεῖ τὸ αἴτιον· τοῦτο δ’ ἐστὶ τὸ τί ἦν εἶναι, ὡς εἰπεῖν λογικῶς, ὃ ἐπ’ ἐνίων μέν ἐστι τίνος ἕνεκα, οἷον ἴσως ἐπ’ οἰκίας ἢ κλίνης, ἐπ’ ἐνίων δὲ τί ἐκίνησε πρῶτον· αἴτιον γὰρ καὶ τοῦτο. ἀλλὰ τὸ μὲν τοιοῦτον αἴτιον ἐπὶ τοῦ γίγνεσθαι ζητεῖται καὶ φθείρεσθαι, θάτερον δὲ καὶ ἐπὶ τοῦ εἶναι. λανθάνει δὲ μάλιστα τὸ ζητούμενον ἐν τοῖς μὴ κατ’ ἀλλήλων λεγομένοις, οἷον ἄνθρωπος τί ἐστι ζητεῖται διὰ τὸ ἁπλῶς λέγεσθαι ἀλλὰ μὴ διορίζειν ὅτι τάδε τόδε. ἀλλὰ δεῖ διαρθρώσαντας ζητεῖν […] ἐπεὶ δὲ δεῖ ἔχειν τε καὶ ὑπάρχειν τὸ εἶναι, δῆλον δὴ ὅτι τὴν ὕλην ζητεῖ διὰ τί ἐστιν· οἷον οἰκία ταδὶ διὰ τί; ὅτι ὑπάρχει ὃ ἦν οἰκίᾳ εἶναι. καὶ ἄνθρωπος τοδί, ἢ τὸ σῶμα τοῦτο τοδὶ ἔχον. ὥστε τὸ αἴτιον ζητεῖται τῆς ὕλης (τοῦτο δ’ ἐστὶ τὸ εἶδος) ᾧ τί ἐστιν· τοῦτο δ’ ἡ οὐσία. 133 Leunissen fasst diese Formulierung als generelle Erklärungsformel bei Aristoteles auf, die rückblickend auch die Methode in Ana. post. II, 8 – 10 erhelle, siehe M. Leunissen, Explanation and Teleology in Aristotle’s Science of Nature (Cambridge 2010), 186. Das 6. Kapitel ihrer Monographie, auf das ich mich hier beziehe, ist eine leicht modifizierte Fassung ihres Aufsatzes ›The Structure of Teleological Explanations in Aristotle: Theory and Practice‹, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 33 (2007), 145 – 178. Meine späteren Verweise auf Leunissen beziehen auf die Seitenzahlen der Monographie, abgekürzt als [Explanation].
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Häusern und Getöse in den Wolken. Drittens erklärt er uns, welche Art von Ursache sowohl das Sein als auch die Entstehung erklärt, nämlich der Zweck. Es ist kurz etwas zu der Übersetzung des Ausdrucks tinos heneka in a29 als »Zweck« zu sagen. Leunissen macht geltend, die Ausdrücke to hou heneka und to heneka tinos hätten verschiedene Bedeutungen. Das Erste bezeichne ein Ende, das andere die Relation des Worumwillen: »that this is for the sake of something.«134 Aus grammatischer Sicht ist gegen diese Interpretation nichts einzuwenden. Zudem passt die besagte Relation gut zu der allgemeinen Frage-Formel, weshalb etwas in etwas anderem vorliege (a23). Aber die Trennung ist hier nicht sinnvoll, denn in a28 u. a30 heißt es ausdrücklich, das tinos heneka sei eine Ursache (aition), und da die gesuchte Ursache die Substanz ist, kann es hier nicht um eine Relation gehen, wie Leunissen angibt. Denn die Substanz ist keine Relation. Daher halte ich es für angemessen, den Ausdruck to heneka tinos ganz klassisch als »Worumwillen« oder als »Zweck« zu übersetzen, und der Zweck einer Entstehung ist letztlich auch das Ziel. Es lohnt sich, die Aussage aus (ii) eingehend zu betrachten. Es ist nur von einer Ursache die Rede (aition). Im Falle des Hauses oder des Bettes, so Aristoteles, sei diese Ursache der Zweck, im Falle von Ereignissen wie dem Donner das erste Bewegende. Auffälligerweise fügt er hinzu, »auch« (kai) dies sei eine Ursache. Der Grund dafür folgt sofort. Das erste Bewegende ist die Ursache, nach der wir suchen, wenn wir danach fragen, warum etwas entsteht oder vergeht. Der Zweck hingegen ist die Ursache, nach der wir suchen, wenn wir nach Entstehung und nach dem Sein fragen. Es sieht damit so aus, als fragten wir im Falle des Donners nach etwas anderem als im Falle des Hauses oder des Menschen. Aber warum? Wenn im Falle des Donners die Essenz mit der Wirkursache identisch ist (und damit das Definiens mit dem Explanans), dann hat der Donner auch ein Sein. Man könnte geneigt sein, solches wie den Donner oder die Sonnenfinsternis als Naturereignisse anzusehen (oder »natural processes«, wie Charles es nennt), solches wie das Lebewesen oder das Haus hingegen als Naturdinge bzw. Artefakte. Aber erstens sieht es weder in Ana. post. II 8 – 10 noch in Zeta 17 so aus, als unterscheide Aristoteles hinsichtlich der Definition grundsätzlich zwischen Naturdingen und Ereignissen, und zweitens ist anzunehmen, dass auch solches wie der Donner bei Aristoteles eine Zweckursache hat. Wie Charles hervorhebt, erwägt Aristoteles in Ana. post. auch die Zweckursache des Donners, der nämlich darin besteht, die Bewohner des Hades zu erschrecken.135 Das mag man für einen unzureichenden, weil der Mythologie entnommenen Zweck erachten, aber wenn die neuesten Interpretationen zu Physik II 8 134 135
[Explanations], 188. [Definition], 293.
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richtig sind, dann haben für Aristoteles sämtliche Naturereignisse einen Zweck, etwa auch der Regen und die Dürre. Es lässt sich also nicht sagen, dass der Unterschied zwischen Substanzen und Naturereignissen der sei, dass Letztere keinen Entstehungszweck haben.136 Ob bewusst oder unbewusst, stellt Aristoteles im Falle des Hauses und des Menschen die Frage nach der Ursache anders, und deshalb zögere ich auch, Charles zuzustimmen, dass Aristoteles in Zeta 17 so nah wie möglich an Ana. post. II 8 – 10 bleibt. Auf die Frage, weshalb es donnert, so die Darstellung in Ana. post., antworte die Wirkursache: weil Feuer in den Wolken erlischt. Auf dieselbe Weise ließe sich auch antworten auf die Frage aus Zeta 17, weshalb diese Ziegel und Steine ein Haus sind, nämlich weil ein Hausbauer sie aufgeschichtet hat (ich komme im nachfolgenden Kapitel darauf zurück). Der Hausbauer als Wirk ursache spielt aber sowohl in Zeta 17 als auch in Eta 2 – 3 überhaupt keine Rolle. Stattdessen verlagert sich die Angabe der Ursache auf die Art der Anordnung der Ziegel und Steine und weshalb sie auf diese Weise aufgeschichtet werden. Und darauf antwortet letztlich der Entstehungszweck. An die Stelle der Wirkursache tritt so der Zweck- und inwiefern dieser Schritt berechtigt ist, muss das anschließende Kapitel zeigen. Zunächst allerdings ist ein bemerkenswerter Umstand festzuhalten. Anders also sonst strebt Aristoteles in Zeta 17 nicht, wie anderswo, nach einer Unterscheidung der Ursachen oder Erklärungen (siehe etwa Physik II 3, 194b16 – 195a4 = Met. V 2, 1013a24–b6; Ana. post. II 11, 94a20–b26), sondern nach der einen Ursache (to aition). Substanz, so sagt er zu Beginn, ist eine bestimmte Ursache (aitia tis, 1041a9 – 10), und zwar, wie er dann darlegt, die Ursache, aufgrund der die Materie etwas Bestimmtes ist (1041b7 – 8). Nur nach dieser Ursache ist gefragt, wenn es um die Substanz geht (1041a27 – 28), und für den Fall, dass man sowohl nach der Ursache für die Entstehung als auch für das Sein fragt, ist der Zweck die gesuchte eine Ursache. Die Ursachenvielfalt, wie sie anderswo bei Aristoteles auftritt, ist hier nicht länger relevant, und zwar vermutlich deshalb, weil Aristoteles jetzt nach der primären Ursache fragt, und diese ist offensichtlich für den Fall des Donners und für den Fall des Hauses verschieden.137 Physik II 8 ist bekannt für die lebhafte Kontroverse um das so genannte Regen-Beispiel. Einige sind der Ansicht, dies sei als Beispiel für ein zweckgerichtetes Ereignis zu lesen, andere widersprechen dem, weshalb es keinen Konsens in der Frage gibt, ob für Aristoteles alle Naturereignisse einen Zweck erfüllen. Der neueste Beitrag hierzu bejaht die These explizit und begründet sie, soweit ich sehen kann, zureichend. Siehe M. Scharle, ›Elemental Teleology in Aristotle’s Physics 2.8‹, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 34 (2008), 147 – 183. 137 Meine Interpretation beruht dabei nicht auf der Annahme, dass Aristoteles zwischen aition und aitia unterscheidet, was ausgeschlossen werden kann. Soweit ich sehen kann, stimmen alle modernen Interpreten mit Frede überein, dass Aristoteles die Ausdrücke aitia und aition unterschiedslos verwendet, siehe M. Frede, ›The Original Notion of Cause‹, in: M. Schofield, 136
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Weil Aristoteles explizit von einer Ursache spricht, ist auch Frede/Patzigs Interpretation dieser Passage zurückzuweisen. Entgegen der Standardinterpretation sind sie der Ansicht, dass beides, das erste Bewegende und der Zweck, nur Entstehungsursache sind, die zuvor genannte Essenz hingegen sei Seinsursache. Gegen diese Lesart spricht zweierlei. Erstens erfahren wir in Physik II 7, 198b2 – 11, dass der Zweck Essenz ist (was Frede/Patzigs Gegenüberstellung unterläuft). Zweitens geht es in Zeta 17 nicht um die Unterscheidung von Seinsursachen und Entstehungsursachen, wie Frede/Patzig vorgeben. Aristoteles sucht nach der einen Ursache, aufgrund der die Materie etwas Bestimmtes ist.138 Man kann meiner Interpretation entgegenhalten wollen, dass sie zu viel Gewicht auf die Unterscheidung von Zweck und Wirkursache legt. In Physik II 7, 198a24 – 27 heißt es, in vielen Fällen seien Form, Zweck und erstes Bewegendes eines.139 Allerdings lautet Aristoteles’ Begründung an dieser Stelle, dass erstens Zweck und Form identisch seien und zweitens Erzeuger und Erzeugtes der Form nach dasselbe. Diese Formidentität verbietet es nicht, zwischen dem Zweck und dem ersten Bewegenden so zu unterscheiden, wie es Aristoteles in Zeta 17 tut. Ich vermute, dass bei körperlichen Substanzen der Zweck dem ersten Bewegenden vorgeordnet ist, wie es auch Charles erwägt. Denn der Zweck bestimmt die Form M. Burnyeat u. J. Barnes (Hgg.), Doubt and Dogmatism: Studies in Hellenistic Epistemology (Oxford 1980), 217 – 249, 220 – 223. Leunissen zufolge bilde Ana. post. I den einzigen Ausnahmefall, bei dem Aristoteles zwischen aitia und aition unterscheide, siehe [Explanation], 180. 138 Frede/Patzig fragen mit Blick auf die Standardinterpretation, die ich als richtig erachte: »Warum soll nicht auch im Hinblick auf (schon oder noch) existierende Dinge nach deren wirkenden Ursachen gefragt werden können?« Dies ist durchaus möglich. Aber wenn wir die Substanz als Seins- und Entstehungsursache ausgeben, dann ist dies nur möglich unter der Bestimmung, dass der Zweck diese Ursache darstellt. Warum? Weil nur der Zweck sowohl erklärt, weshalb ein Haus entsteht, als auch, was ein Haus ist. Wenn man der Ansicht ist, dass das erste Bewegende der zureichende Grund dafür ist, dass ein Mensch gezeugt wird, dann lässt sich dies nur vertreten unter der Annahme, dass das erste Bewegende, die Form und der Zweck eines sind (vgl. Physik II 7, 198a24 – 27). Für Frede/Patzig siehe dies., Aristoteles ›Metaphysik Z‹, Text, Übersetzung und Kommentar, 2. Halbband (München 1988), 313. Auf den ersten Blick bietet bereits Ross eine abgeschwächte Variante dieser Interpretation an: »On the other hand we may ask not only for what purpose has so-and-so come into being or ceased to be, but also for what purpose it exists.«, siehe Aristotle’s Metaphysics vol. ii, 223. Jedoch liest er die Passage so, als ob wir entweder nach der Seinsursache fragen oder nach der Entstehungsursache, und zwar mit Blick auf ein und dasselbe Objekt. Meiner Interpretation zufolge fragt man nur nach der Entstehung, wenn man die Ursache des Donners sucht, aber nach der Entstehung und dem Sein, wenn man die Ursache für das Haus und den Menschen sucht. 139 Wenngleich Aristoteles nur sagt, dass dies häufig zusammenfalle (pollakis), ist Bostock wohl zuzustimmen, wenn er geltend macht, dies gelte für alle Naturdinge aufgrund der nachfolgenden Allaussage kai holôs hosa kinoumena kinei in a27. Siehe Bostocks Anmerkungen zu Waterfields Übersetzung: Aristotle – Physics, A New Translation by Robin Waterfield (Oxford 1996), 243.
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Kapitel 11
und diese muss in der Seele des Baumeisters vorliegen, damit er als Wirkursache ein Haus bauen kann.140 Folglich ist die gesuchte Substanz und Essenz in Zeta 17 der Entstehungszweck und als solcher zugleich Seins- und Entstehungsursache. Fragt man nach der Substanz, so scheint es nicht länger erforderlich, explizit zwischen beiden Ursachen zu unterscheiden. Vielmehr fragt man implizit nach beidem, wenn die Substanz des Hauses oder des Menschen gesucht ist.
11.6 Der Zweck als primäre Ursache
Es fragt sich aber, ob wir Letzteres Aristoteles zugestehen sollen. Erklärt die Substanz sowohl das Sein als auch die Entstehung? Sie tut dies, so Aristoteles’ Vorgabe in 1041a29, sofern unter der Substanz der Zweck verstanden wird. Das lässt sich knapp so erklären: Warum entsteht ein Haus? – Zur Errichtung eines Wetterschutzes. Was heißt es, ein Haus zu sein? – Ein Wetterschutz zu sein. Also erklärt der Zweck, was ein Haus ist und warum eines gebaut wird. An dieser Stelle ist auf die Überlegung zurückzukommen, wie der Fall des Donners analog auf das Haus zu übertragen wäre. Auf die Fragen, warum es donnert und was Donner ist, antwortet ein und dieselbe Erklärung: weil Feuer in den Wolken erlischt. Analog dazu würde man auf die Frage, weshalb diese Ziegel und Steine ein Haus sind, erklären, dass sie jemand zu einem Haus aufgeschichtet hat. Weshalb ist das unzureichend? Hier wird zwar das Ereignis des Entstehens erklärt (ob zureichend oder unzureichend, sei dahingestellt), aber die Frage, was ein Haus ist, außen vor gelassen. Explanans und Definiens sind verschieden. Die Frage ist umzuformulieren, damit als Antwort das Definiens auftritt, nämlich: Was macht, dass diese Steine und Ziegel ein Haus sind (und nicht, dass sie zu einem Haus werden)? Jetzt erst kann man, wie Aristoteles es in Zeta 17 und Eta 2 – 3 tut, die Wirkursache ignorieren, da sie für die Frage keine Relevanz hat. Das ist aber nicht auf den Donner übertragbar. Selbst wenn man annimmt, es ließen sich auch hier Materie und Form unterscheiden, ist es nicht sinnvoll zu fragen, was Donner ist, und hierbei davon abzusehen, was zum Donnern führt. Es ist an dieser Stelle nicht näher zu untersuchen, woran das liegt, weil das von Aristoteles nicht angegeben wird und für die vorliegende Untersuchung von untergeordneter Bedeutung ist. 140
[Definition], 294. Für Fälle hingegen wie den Donner verhält es sich womöglich hingegen so, wie es Leunissen darstellt, dass nämlich mit Angabe der Wirkursache zugleich die Form an den Tag gelegt wird: »It is through this efficient cause that the essence of thunder and thereby the formal explanation of why there is thunder are revealed: thunder is noise in the clouds caused by fire being extinguished.« [Explanations], 186 – 187.
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Damit sieht es aber zunächst so aus, als frage man im Falle des Hauses nur noch nach dem Sein. Weshalb also kann Aristoteles sagen, dass der Zweck sowohl die Seins- als auch die Entstehungsursache ist? Charles gibt an, dass hier der Zweck der Wirkursache vorgeordnet zu sein scheine: »There is, it seems, a definitional order in which the teleological cause is prior both to the art and to its product.« Das scheint nicht nur so, sondern wird von Aristoteles am Ende von Physik II explizit dargelegt. Der Zweck ist der Materie und der Form vorgeordnet, weil sich aus dem Zweck die Notwendigkeit einer bestimmten Materie und einer bestimmten Form ergibt (200b4 – 7). Sein Beispiel ist die Säge. Damit der Zweck des Sägens erfüllt werden kann, muss eine Säge Zähne von bestimmter Form haben und diese Form wiederum verlangt nach einem bestimmten Material. Deshalb, so sagt er, ist der Zweck die Ursache der Materie und nicht umgekehrt. Mit Blick auf diese Ursachenreihung kann er geltend machen, dass im Definiens die Notwendigkeit stecke (Physik II 9, 200b4 – 5). Ich denke, dass es diese Gedanken sind, die uns in Zeta 17 wieder begegnen. Nur dieser Umstand erklärt auch, weshalb Aristoteles in Zeta 17 und Eta die Wirkursache nicht einfach durch die Anordnung ersetzt, sprich, weshalb er nicht meint, die Essenz sei das So-und-so-Geschichtetsein der Steine und Ziegel. Es ist der Zweck, der die Anordnung vorgibt, und, diese die Art der Materie. Primäre Entstehungsursache ist daher der Zweck und da er auch nach Fertigstellung des Hauses bestehen bleibt, ist er auch Seinsursache. Etwas ist so lange ein Haus, wie die Steine und Ziegel so aufgeschichtet sind, dass sie den Zweck des Wetterschutzes erfüllen. Aus diesem Grund kann Aristoteles sagen, dass wir nach der Entstehungs- und nach der Seinsursache suchen, wenn wir nach dem Zweck fragen. In diesem Sinne überrascht es, wenn Charles entgegen seiner vorangehenden Erläuterungen für den Fall des Hauses die Anordnung der materialen Bestandteile als Essenz ansieht und den Zweck außen vor lässt: »What it is to be a house [i. e., being arranged in a given way] belongs to matter of this type.«141 Von der Anordnung ist in Zeta 17 gar nicht die Rede, lässt man das problematische Silbenbeispiel am Ende des Textes einmal außen vor.142 Die Anordnung, wie sie Charles als Essenz geltend macht, tritt erst in Eta 2 auf und es wird zu zeigen sein, dass Aristoteles dort nicht hinter das zurückfällt, was er in Zeta 17 darlegt. Die Diskussion in Eta 2 ist der Frage gewidmet, 141
›Definition and Explanation in the Posterior Analytics (and beyond)‹, 311. Burnyeat hat hierzu zu Recht geltend gemacht, Silben seien keine Substanzen, weshalb das Beispiel wenig Signifikanz besitze: »The syllable […] is not a proper substantial being.«[Map], 61. Zudem, so denke ich, geht es Aristoteles an dieser Stelle nur darum, dass nicht die materialen Bestandteile die gesuchte Substanz sind, sondern dass diese »etwas anderes« ist (heteron ti, 1041b17). Was sie ist, sagt er in b9 – 33 überhaupt nicht, und das muss er auch nicht, denn er hat es bereits zuvor herausgearbeitet. 142
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Kapitel 11
was die verwirklichte Substanz der wahrnehmbaren Dinge ist (energeian ousian, 1042b10 – 11). Je spezifische Differenzen erklären, was die betreffenden Dinge sind. Zum Beispiel sei Eis so und so verdichtetes Wasser, und eine Schwelle sei definiert durch ihre Lage, ein Wind durch Richtung und Ort und ein Haus als so und so geschichtete Ziegel und Steine (1042b15 – 25 u. 1043a7 – 10). Folglich, so scheint es, erklärt die jeweilige Differenz das Sein der Dinge. Das steht nicht im Widerspruch zu dem, was ich in Kapitel 5 aufgezeigt habe, da die Differenz über die Anordnung oder Struktur hinausgeht und von Aristoteles letztlich nur als die je spezifische Seinsweise ausgegeben wird. Sie fällt mit dem zusammen, was das Definiens angibt. Dennoch ist zu fragen, wie sich diese Differenz zum Zweck aus Zeta 17 verhält. Aristoteles gibt uns zu denken, die beispielhaft genannten Differenzen seien nicht die Substanz selbst, sondern das der Substanz Analoge (homôs to analogon en hekastô, 1043a4 – 5). Einen Grund hierfür nennt er nicht. Weshalb sind die Differenzen keine Substanz? Ross erklärt, die genannten Differenzen würden nicht in die Kategorie der Substanz fallen. Damit trifft er durchaus einen richtigen Punkt, denn diese Differenzen scheinen sich von der artbildenden Differenz zu unterscheiden, die gemäß Topik I 4, 101b19 – 20 unter die Gattung und damit in die erste Kategorie fällt. Ross kommentiert: »They indicate not the inmost nature of that to which they belong but a mode of arrangement or other characteristic which may be only temporary.«143 Dennoch scheint mir diese Erklärung unzureichend, denn solange etwas Eis ist, ist es so und so verdichtet. Es handelt sich hier nicht um eine temporäre Eigenschaft des Eises (wenn auch eine des Wassers), sondern um dasjenige, was für das Eis konstitutiv ist. Auch erklärt Ross’ Überlegung nicht, weshalb es sich bei den Differenzen um ein analogon zu den Substanzen handelt. Die Feststellung von Aristoteles, so mein Fazit bleibt unverständlich. Dennoch ist sie aber als solche anzuerkennen, und das heißt auch, dass Differenzen wie die Anordnung oder Struktur nicht die gesuchte Substanz sind. Blickt man zurück auf Zeta 17 und Physik II 9, so lässt sich auf folgende Weise erklären, weshalb die Differenzen nicht die Essenz und damit die Substanz sein können. Zusammen mit der Materie erklären sie bestenfalls das Sein, aber nicht die Entstehung. Die Anordnung der Steine und Ziegel erklärt zwar, weshalb sie ein Haus sind, aber es erklärt nicht die Entstehung. Erst wenn man angibt, dass die Steine und Ziegel zum Zwecke des Wetterschutzes so und so aufgeschichtet sind, ergibt sich eine Antwort, die sowohl das Sein als auch die Entstehung erklärt. Der beabsichtigte Zweck hat zur Entstehung geführt. Wenig überraschend kommt Aristoteles daher am Ende von Eta 2 wieder auf den Zweck zu sprechen, zugleich ist aber zu sagen, dass sich dies zunächst wie 143
Aristotle’s Metaphysics, vol. ii, 229.
Die Vereinigung von Seinsursache und Entstehungsursache bei Aristoteles
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ein Bruch mit dem liest, was er unmittelbar zuvor gesagt hat. Das ausdrückliche Vorhaben von Aristoteles in Eta 2 ist, wie oben angeführt, die Bestimmung der verwirklichten Substanz und in 1043a12 fasst er vorläufig zusammen, die Verwirklichung und der logos einer jeden Sache variiere je nach Differenz. Dies kann man als Hinweis darauf lesen, dass die Differenz diese Verwirklichung ist. Dann kommt in a14 der Zweck ins Spiel. Wie so häufig erinnert uns Aristoteles daran, dass es verschiedene Weisen gibt, Substanzen zu definieren. Mit Blick auf das Vermögen definiere man das Haus als Ziegel und Steine, mit Blick auf dessen Verwirklichung hingegen als Schutz für Hab und Gut. Die Verwirklichung ist hier nicht etwa die Anordnung des Baumaterials, sondern explizit der Zweck. Die Differenz findet gar keine Erwähnung mehr.144 Erst zu Beginn von Eta 3 werden alle drei, Materie, Anordnung und Zweck, in einer Definition vereint, indem Aristoteles das Haus als »Schutz aus so und so gelegenen Ziegeln und Steinen« definiert (1043a32: skepasma ek plinthôn kai lithôn hôdi keimenôn). Charles macht geltend, auch diese Definition entspreche noch den Vorgaben aus Ana. post.: The example of the house, so understood, parallels that of thunder. As the latter is noise in the clouds caused by fire being quenched, a house will be bricks and stones (matter) arranged in a given way for the sake of protection.145
Mir scheint allerdings, dass hier nur eine geringe bis gar keine Parallele besteht. Die Definition des Donners nennt die Wirkursache, die Definition des Hauses hingegen die Materie, die Anordnung und den Zweck. Deutlicher können sich Definitionen kaum voneinander unterscheiden. Weshalb beide dennoch die Essenz angeben, ist etwas, das über diese Untersuchung hinausgeht. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Aristoteles auch hier an der Ansicht aus Eta 2 festhält, wonach der Zweck (und nicht etwa die Anordnung) die gesuchte Verwirklichung und Form darstellt (1043a32 – 33: energeias kai eidous, und zuvor in a16 – 18). Damit zeigt sich zweierlei. Erstens ist die Anordnung nicht die Form, sondern die Form wird analog zu Physik II 7, 198a24 – 26 und II 8, 199a30 – 32 mit dem Zweck identifiziert. Dieser Punkt wurde meines Erachtens mit Blick auf 144
Ross bezieht das Gesagte dennoch zurück auf die vorangehende Diskussion zur Differenz und übersetzt ἤ τι ἄλλο τοιοῦτον in a17 als »or add some other similar differentia«. Jedoch ist ein Wetterschutz für Hab und Gut zu sein sicher keine konstitutive Differenz, sondern der Zweck. Siehe zu Ross The Complete Works of Aristotle. The Revised Oxford Translation, ed. by J. Barnes, 2 vols. (Princeton 1984), vol. ii, 1646. Bostock lässt die Bestimmung der verwirklichten Substanz als Zweck in seiner Zusammenfassung von Eta 2 ganz außen vor: »And the chapter ends by recommending us to regard a definition as something that combines matter and differentia.«, Aristotle: Metaphysics Book Z and H, 254. Seiner Darstellung gemäß ist der Zweck nur eine wenig relevante Hinzufügung: »[Aristotle] adds in parenthesis that the purpose should be considered too.« 257. 145 [Definition], 312.
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die Substanzbücher der Metaphysik viel zu wenig gesehen. Zweitens sind für das Verständnis, weshalb der Zweck die gesuchte Verwirklichung und Form darstellt, die Erläuterungen aus Physik II 9 und Zeta 17 grundlegend. Von daher geht Buch Eta in dieser Hinsicht nicht über Zeta 17 hinaus, und ich glaube auch, dass die anschließende Diskussion in Eta 6 hieran wenig ändert. Für Eta 6, 1045b18 – 19 interpretiert Charles die Gestalt (morphê) als die gesuchte Verwirklichung, in diesem Fall die Zweifüßigkeit des Menschen: »presumably, being two-footed«.146 Das mag zutreffen, in jedem Falle aber dürfen wir im Lichte der Physik die Gestalt als Form und Zweck interpretieren (siehe Physik II 7, 198b3 – 4 u. 8, 199a31 – 32), weshalb die Nennung der Gestalt hier nicht die sichtbare Gestalt oder die Anordnung der Bestandteile meinen muss. Damit ist gezeigt, vor welchem Hintergrund Aristoteles die Seins- und Entstehungsursache bewusst und durchaus begründet zusammenführt. Der Zweck antwortet auf beides, indem er (zumindest für den Fall der Naturdinge und Artefakte) nicht nur angibt, was etwas ist, sondern auch, weshalb es entstanden ist. Er ist primäre Ursache der Anordnung und der Materie und damit gleichzeitig Seins- und Entstehungsursache. Was bedeutet das für die Frage nach dem logos? Wenn man ihn als Angabe der Essenz auffasst und nach der Seins- und Entstehungsursache der Naturdinge und Artefakte fragt, dann gibt er den Zweck an. Sofern man daher unter logos den Aussageinhalt versteht, ist er mit der Essenz identisch und es lässt sich sagen, er sei Zweck und primäre Ursache.
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Aristotle on Meaning and Essence, 295.
Kapitel 12 Unzureichende Begründungen dafür, dass die Form Ursache ist
Das Resultat, dass der Zweck die Seins- und Entstehungsursache vereint, erklärt sofort, weshalb die Substanz und damit der definierende logos Entstehungsursache sind, nämlich dann, wenn der logos mit dem Zweck gleichgesetzt wird. Dass dies zulässig ist, wird die spätere Diskussion von Physik II 1 zeigen. Allerdings könnte man meinen, dieses Resultat verkompliziere unnötigerweise den einfachen Sachverhalt, dass Aristoteles die Form als Entstehungsursache ansieht. Denn er weist sie explizit als eine von vier Ursachen aus. Insofern es daher eine Formursache gibt, ist auch der logos Ursache. Diese Überlegung kann sich auf Physik II 7, 198a14 – 18 berufen. Weshalb also der Umweg über den Zweck? Meine Antwort ist einfach: Dass die Hausform Entstehungsursache ist, bedarf einer Argumentation, die Aristoteles nie anführt. Dass der Zweck hingegen Entstehungsursache des Hauses ist, leuchtet sofort ein. Der Umweg über den Zweck erklärt daher, weshalb der logos Ursache ist, während der Verweis auf die Form nur behaupten kann, dass Aristoteles den logos als Ursache auffasst. Wenn man genau hinsieht, so stellt man fest, dass Aristoteles nie für die Ansicht argumentiert, die Form sei Ursache und Natur der Dinge. Er behauptet das einfach, und der Grund dafür liegt auf der Hand. Wie sich in Met. V 4, 1014b35 – 1015a5 zeigt, ist er der Ansicht, diese Auffassung liege bereits bei Empedokles und anderen vor, vermutlich den Atomisten. Er sieht daher keine Notwendigkeit, noch dafür zu argumentieren, dass die Form Ursache der Naturdinge ist. Vielmehr liegt ihm nur daran zu zeigen, was die Form ist und was nicht. Sie ist weder platonische Idee noch Empedokles’ Mischung, sondern Essenz und Entstehungszweck, wie er in Physik II darlegt. Diese Lesart verlangt nach einer Auseinandersetzung mit dem, was vermeint lich wie ein Argument dafür aussieht, dass die Form Ursache ist. Dafür kommen drei Passagen in Frage, Physik I 7, 190b17 – 23, Physik II 7, 198a14 – 18 und schließlich Physik II 1, 193a30–b18. Es wird sich zeigen, dass keine dieser Passagen ein brauchbares Argument dafür liefert, dass die Form Entstehungsursache ist (oder auch nur Entstehungserklärung). Klassischerweise wird 193a30–b18 anders gelesen, nämlich als eine Aufeinanderfolge von Argumenten, die darlegen sollen, dass die Form Natur und damit Entstehungsprinzip ist. Um zu zeigen, dass dies nicht der Fall ist, wird nicht nur die Argumentation zu betrachten sein, sondern auch generell die Intention von Physik II. Dabei wird sich zeigen, dass Physik II denselben
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Kapitel 12
Gedanken verfolgt wie Zeta 17: Die Substanz bzw. Natur der Dinge ist die Form, und diese ist der Zweck der entstehenden Dinge.
12.1 Erklärungsversuche zur Frage, weshalb die Form Entstehungsprinzip ist
Da in der Literatur bereits viel zur aristotelischen Formursache gesagt wurde, ist kurz auf wichtige Darstellungen einzugehen. Es fällt auf, dass sie allesamt nicht von dem ausgehen, was Aristoteles in Argumentform dazu sagt (in Physik I 7, 190b17 – 23; II 1, 193a30–b18; II 7, 198a14 – 18). Stattdessen sind es generelle Überlegungen dazu, wie wir uns im Lichte von Aristoteles’ Lehre die Form als Entstehungsursache erklären können. Fine zufolge sind die so genannten Formursachen nicht Ursachen, die eine Veränderung bewirken, sondern »constituents of events«.147 Doch inwiefern sind sie derartige Konstituenten? Sie gibt das folgende Beispiel: »One explains how the apple tree grows by reference to the form it is acquiring; this form is also the goal of its growth.« Ich halte diese Darstellung grundsätzlich für richtig, aber sie ist etwas schief formuliert, was nach einer Korrektur verlangt. Genau genommen geht es nicht darum zu erklären, wie ein Apfelbaum wächst, sondern dass er wächst bzw. entsteht, und nicht etwa ein Olivenbaum. Dies erklärt sich Aristoteles zufolge aus der Form, die durch die Entstehung verwirklicht wird und um derentwillen etwas entsteht. Die Form ist nicht »auch« Zweck, wie Fine sagt, sie ist primär Zweck der Entstehung. Zudem ist Fines Erklärung so kurz geraten, dass sie nicht verdeutlicht, inwiefern die Form das Wachstum eines Baumes bedingt. Um das klar zu machen, ist mehr zu sagen. Ein meiner Ansicht nach dazu nicht geeignetes Vorgehen ist die Darlegung von Moravcsik. Ihm zufolge leistet die Form eine Bindungsfunktion (»performs a binding function«) für das Naturding.148 Was er damit sagen will, bleibt unklar und wird womöglich erst durch seine spätere Bestimmung deutlich, die Formursache sei der »distinguishing factor« bei einer Entstehung.149 Zweifelsohne entsteht nichts, ohne dass damit etwas Bestimmtes entsteht. Deshalb aber den Disktinktionsfaktor als Entstehungsursache auszugeben, ist problematisch, denn damit öffnet man unnötigerweise Pandoras Büchse der Metaphysik. Die Distinktion ist ein logisches Konzept, kein naturphilosophisches. Wenn man angibt, dass für die Erklärung der Entstehung der Naturdinge deren G. Fine, ›Forms as Causes‹, in: A. Graeser (Hg.), Mathematics and Metaphysics in Aristotle (Bern 1987), 69 – 112, 75. 148 J. Moravcsik, ›Aristotle on Adequate Explanations‹, in: Synthese 28, 1 (1974), 3 – 17, 8. 149 J. Moravcsik, ›Aitia as a Generative Factor in Aristotle’s Philosophy‹, in: Dialogue 14 (1975), 622 – 638, 630. 147
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Distinktheit erklärt werden muss, so kann man mit demselben Recht einfordern, Identität und Einheit der Naturdinge erklärt zu bekommen. Denn ohne Einheit und Identität kein Naturding. Kurzum, alles, was die mittelalterlichen Denker unter den transcendentalia versammelt haben, wäre notwendigerweise Gegenstand der Naturphilosophie. Würde Aristoteles den Grund für Distinktion, Einheit und Identität als Entstehungsursachen ansehen, so käme er auf deutlich mehr als vier Ursachen. Daher geht Moravcsiks Erläuterung meines Erachtens in die falsche Richtung. Kurz betrachtet sei zudem Fredes Vorgehen, um zu erklären, weshalb die Form Naturprinzip ist, wobei auch er der Ansicht ist, es gehe hier um einen »explanatory factor« für die Entstehung eines Naturdings. Bemerkenswert ist seine Behauptung, die Essenz sei Wirkursache, nämlich etwa die Hausbaukunst für das Haus.150 Soweit ich sehen kann, macht Aristoteles zwar in der Tat die Hausbaukunst als aitia geltend, sagt uns aber nicht, um welche Art von aitia es sich handelt, also ob um die Formursache oder um die Wirkursache. Dass beide Ursachen zusammenfallen, erfahren wir nur mit Blick auf die Naturdinge, wo der zeugende Mensch mit dem gezeugten der Form nach identisch ist (Physik II 7, 198a26 – 27). Wenn ich Frede richtig verstehe, begründet er die Formursache so, dass die Herstellungskunst erklärt, weshalb etwas von dieser bestimmten Form aus der Materie entsteht. Aristoteles macht aber geltend, wie wir sehen werden, dass bei den Naturdingen (wo es gar keine Herstellungskunst gibt) diese Erklärung über die Angabe des Zwecks erfolgt. Daher denke ich im Unterschied zu Frede nicht, dass uns der Fall des Hausbaus zureichend erklärt, weshalb die Form Entstehungsursache der Naturdinge ist. Aristoteles eigene Erläuterung wird erst in den Abschnitten 13.2 und 13.3 klar zutage treten. Zuvor sind einige Passagen zu betrachten, die der Form nach ein Argument dafür vorbringen, dass die Form Entstehungsprinzip ist, letztlich aber kaum als brauchbare Erklärung dienen können.
12.2 Physik I 7, 190b17 – 23 erklärt nicht, weshalb die Form Entstehungsprinzip ist
Die erste zu betrachtende Passage hinsichtlich der Frage, weshalb die Form ein Entstehungsprinzip ist, findet sich in Physik I 7. Diese Passage ist rätselhaft, denn sie kommt daher wie ein Schluss aus dem Vorangehenden. Doch bis dahin fand die Form noch gar keine Erwähnung: 150 M. Frede, ›On Aristotle’s Conception of the Soul‹, in: M. Nussbaum u. A. Oksenberg-Rorty, Essays on Aristotle’s De anima, 93 – 107, 95.
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Es ist also klar, dass, wenn es Ursachen und Prinzipien der von Natur aus seienden Dinge gibt, aus denen sie primär sind und entstanden (nicht akzidentell, sondern jedes als etwas, das der Substanz nach benannt wird), alles aus dem Zugrundeliegenden und der Form/Gestalt entsteht. Denn der gebildete Mensch ist auf gewisse Weise aus dem Menschen und dem Gebildetsein zusammengesetzt. Denn die Definition von jenem lässt sich in die Definitionen von diesen beiden auflösen. Offensichtlich also entsteht das, was entsteht, aus diesen beiden. (Eigene Übersetzung)151
Wegen der Gleichsetzung von eidos und morphê in Physik II 1, 193b4 lässt sich morphê hier durchaus als Form auffassen, zudem ist kurz darauf in 190b28 explizit vom eidos die Rede. Gemäß der von Aristoteles verwendeten Terminologie (phaneron oun, gar, dêlon oun) erhalten wir dann ein Argument dafür, dass die Form Naturprinzip ist, entweder vor b17 oder in b17 – 23. Kelsey verneint Letzteres und schreibt: […] the point of this argument is not to explain de novo why the subject and the form are principles, but to explain why the third finalist, τὸ ἀντικείμενον or privation, is not a principle.152
Wenn Kelsey recht hat, dann muss das Argument dafür, dass die Form Naturprinzip ist, bereits vor 190b17 gegeben sein. Aber dort findet sich nicht einmal die bloße Behauptung dieser These, geschweige denn ein Argument. Insofern Aristoteles vor 190b17 die Entstehung erläutert, spricht er neben dem Zugrundeliegenden entweder von der Privation (etwa 190a23; 26 – 28; 29 – 30) oder von den Gegensätzen (190a18 – 21, b13 – 17). Der Ausdruck morphê taucht überhaupt nicht auf, der Ausdruck eidos findet nur Verwendung in Abgrenzung zur Anzahl: Dinge sind der Zahl nach eines, der Form nach hingegen zwei (190a16). Daher kommt der Schluss in 190b17 durchaus abrupt, wie es Charlton formuliert.153 Bis zu dieser Stelle hat Aristoteles lediglich dafür argumentiert, dass alles aus Gegensätzen entsteht. So entsteht Bildung aus Unbildung und Unbildung aus Bildung. Dies ist alles, was wir in I 5 erhalten (siehe 188b21 – 23). Gleiches gilt für den Anfang von I 7, wo es noch einmal heißt, Bildung entstehe aus Unbildung Physik I, 7, 190b17 – 23: φανερὸν οὖν ὡς, εἴπερ εἰσὶν αἰτίαι καὶ ἀρχαὶ τῶν φύσει ὄντων, ἐξ ὧν πρώτων εἰσὶ καὶ γεγόνασι μὴ κατὰ συμβεβηκὸς ἀλλ’ ἕκαστον ὃ λέγεται κατὰ τὴν οὐσίαν, ὅτι γίγνεται πᾶν ἔκ τε τοῦ ὑποκειμένου καὶ τῆς μορφῆς· σύγκειται γὰρ ὁ μουσικὸς ἄνθρωπος ἐξ ἀνθρώπου καὶ μουσικοῦ τρόπον τινά· διαλύσεις γὰρ [τοὺς λόγους] εἰς τοὺς λόγους τοὺς ἐκείνων. δῆλον οὖν ὡς γίγνοιτ’ ἂν τὰ γιγνόμενα ἐκ τούτων. 152 S. Kelsey, ›The Place of I 7 in the Argument of Physics I‹, in: Phronesis 53 (2008) 180 – 208, 205. 153 Siehe seine Anmerkungen zur Übersetzung von Physik I, 77: »This may seem abrupt.‹‹ 151
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(190a24). Im Unterschied dazu heißt es dann in 190b17 – 23, dass der Gebildete (d. h. ein gebildeter Mensch) aus der Unbildung und dem Menschen entstehe. Diese Aussage, so erwägt es Charlton, beziehe sich auf eine andere Passage in Aristoteles’ Werk, und er schlägt Buch Zeta vor. Doch abgesehen davon, dass Zeta hierfür kaum relevant sein kann, hat Kelsey recht mit der Hervorhebung der Formulierung phaneron oun in 190b17. Es klingt ganz einfach so, als ob Aristoteles hier zu einem Schluss komme.154 Wenn man daran festhalten will, dass die Aussage in 190b17 – 23 den Schluss aus dem zuvor Gesagten bildet, bietet sich folgende Lösung an. Zu Beginn von I 7 sagt Aristoteles, dass wir gemeinhin so sprechen, als wäre das, was entsteht, etwas Einfaches. Wir sagen etwa, dass ein gebildeter Mensch entsteht, aber in Wahrheit sei sowohl das, was entsteht (to gignomenon), als auch das, was zu etwas wird (ho gignetai) etwas Zusammengesetztes (190a3 – 4). Ein ungebildeter Mensch (Privation + Zugrundeliegendes) wird zu einem gebildeten Menschen (Form + Mensch). Dies angenommen, lässt sich erklären, weshalb Aristoteles in 190b17 zu dem Schluss gelangt, dass auch das Entstandene aus Zugrundeliegendem (Mensch) und der Form (Bildung) gebildet wurde. Dann würde er hier nur ausformulieren, was er bereits in 190a3 – 4 gesagt hat. Um diese Behauptung zu bekräftigen, fügt er dann die oben angeführte Erläuterung an: Die Definition dessen, was entstanden ist, setzt sich zusammen aus den Definitionen dessen, woraus es entstanden ist. Das klingt durchaus plausibel, unterscheidet sich aber von dem, was vor 190b17 gesagt wird. Die entscheidende Frage lautet nun: Ist dies eine zureichende Begründung dafür, dass die Form Entstehungsprinzip ist? Aristoteles spricht an dieser Stelle allgemein von Eigenschaften, in seinem Beispiel von der Bildung bzw. dem Gebildetsein eines Menschen. Es geht daher zunächst einmal nicht um die Entstehung von Substanzen, sondern um Eigenschaftsveränderung. Daher meint eidos bzw. morphê in diesem Kontext nicht die Form im Sinne der Essenz, sondern allgemein alle Prädikate (siehe auch den Ausdruck katêgoroumena in b29). Aus die154 Nach
Kelsey bezieht sich die Behauptung zurück auf die generelle Feststellung aus I 5, dass Gegensätze die Prinzipien der Entstehung sind. Die fraglichen Gegensätze wären die Form und die Privation, siehe ›The Place of I 7 in the Argument of Physics I‹, 203 – 205. Die Schwierigkeit dieser Lösung liegt darin, dass Aristoteles vor 190b17 nicht sagt, dass die Gegensätze die Form und deren Privation sind, sondern diese Aussage erst später folgt (in 190b29 – 30 heißt es, Bildung und Unbildung seien Gegensätze). Die Schlüsselpassage, die Kelsey nennt (190a15 – 16), besagt nur, dass das, was entsteht, der Form nach verschieden ist. Simplicius hat argumentiert, da jede Entstehung mit etwas Wesenhaftem beginne (ousiôdês), sei das ginomenon (als Ausgangspunkt der Entstehung) aus Form und Zugrundeliegendem zusammengesetzt. Allerdings findet sich solch eine Spezifizierung des ginomenon vor 190b17 nicht. Siehe Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria, 215, 6 – 9. Das Ganze bleibt also ohne Anhaltspunkt.
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sem Grund macht Bostock geltend, die Verwendung von eidos in diesem Kontext sei eine »zeitweilige Verirrung« (»temporary aberration«) seitens Aristoteles.155 Kurzum, eidos und morphê haben hier eine andere Bedeutung als in Physik II (etwa 193b1 – 2 u. 194b26 – 27). Ein möglicher Grund dafür, dass eidos hier noch nicht als Gegenbegriff zur Materie verstanden wird, könnte darin liegen, dass der so genannte Hylemorphismus in Physik I 7 noch außen vor bleibt.156 Die vermeintliche Argumentation in 190b17 – 23 besagt dann zwar, dass der gebildete Mensch aus dem Menschsein und der Bildung zusammengesetzt ist, aber sie besagt damit nicht, dass bei der Entstehung eines Menschen Materie und Form zusammenkommen.157 Was immer daher die Intention in 190b17 – 23 ist, die Passage argumentiert nicht dafür, dass die Form im Sinne der Essenz Entstehungsprinzip ist, und hilft für die Frage, inwiefern und weshalb der logos Ursache ist, nicht weiter. Denn der gesuchte logos ist Form im Sinne der Essenz.
12.3 Auch Physik II 7, 198a14 – 18 erklärt nicht, weshalb die Form Naturprinzip ist
Auf den ersten Blick vielversprechender ist die zweite zu betrachtende Passage, Physik II 7, 198a14 – 18. Aristoteles listet dort die vier Ursachen auf, und zumindest sprachlich sieht es so aus, als argumentiere er für die Notwendigkeit der Formursache: (i) Dass es eine Ursache gibt und dass es der Zahl nach so viele gibt wie die genannten, ist klar. Denn auf so viele Weisen erstreckt sich das Warum. (ii) Denn letztlich wird bei den unveränderlichen Dingen das Warum auf das Was-es-ist zurückgeführt (wie bei den mathematischen Dingen: denn dort wird D. Bostock, ›Aristotle’s Theory of Form‹, in: ders. Space, Time, Matter, and Form. Essays on Aristotle’s Physics (Oxford 2009), 79 – 102, 82. Es ist schwer zu sagen, ob Aristoteles hier die abstrakten oder konkreten Eigenschaften im Sinn hat, also ob mousikon als gebildet oder als Bildung aufzufassen ist. Charlton votiert dafür, dass es um konkrete Eigenschaften geht, was nahe liegt, siehe seine Anmerkungen 71 – 73. Doch in 191b28 ist definitiv von der abstrakten Eigenschaft die Rede (hê mousikê statt mousikos/n), was eine Entscheidung schwierig macht. 156 So zumindest Kelsey in ›The Place of I 7 in the Argument of Physics I‹, 197 – 199. 157 Code macht zu Recht geltend, dass Materie und Form nicht auf die Weise zusammen gesetzt sind wie ein gebildeter Mensch. Andernfalls, so Code, wären das Zweifüßige und das Lebewesen (als Definitionsteile des Menschen) nur akzidentell Eines, wie im Falle des gebildeten Menschen. Ein Mensch ist aber nicht akzidentell, sondern seinem Wesen nach Eines. Siehe A. Code, ›An Aristotelian Puzzle About Definitions: Metaphysics Z.12‹, in: J. Lennox u. R. Bolton (Hgg.), Being, Nature, and Life in Aristotle. Essays in Honour of Allan Gotthelf (Cambridge 2010), 78 – 121, 87. 155
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es letztlich auf die Definition der Geraden oder des Kommensurablen oder von etwas anderem zurückgeführt). (iii) Oder das erste Bewegende [ist Ursache], wie etwa: Warum zogen sie in den Krieg? Wegen Grenzstreitigkeiten. Oder das Worumwillen: um Herrschaft zu erlangen. Oder bei den entstehenden Dingen die Materie. Es ist also offensichtlich, dass es diese und so viele Ursachen gibt. (Eigene Übersetzung)158
Von Interesse ist vor allem Passage (ii). Anders als die übrigen Ursachen erhält die Formursache eine Art Begründung. Ähnlich zu Met. I 3, 983a26 – 29 erklärt Aristoteles, dass das Warum zurückgehe auf das Was, sprich, auf die Definition.159 Irritierend ist an dieser Stelle, dass Aristoteles die Regel, dass das Warum auf das Was zurückgeführt wird, nur für die unveränderlichen Dinge geltend macht, und als Beispiel für solche Dinge nennt er mathematische Gegenstände. Das überrascht. Wir befinden uns hier im zweiten Buch der Physik, wo es zweifelsohne um Naturentstehung geht und damit um veränderliche Dinge. Zwar hat, wie Zeta 8 deutlich gemacht hat, die Form keine Entstehung. Aber gesucht ist eine Erklärung dafür, weshalb die Form und damit der logos Ursache der Naturdinge ist. Die Frage lautet also, weshalb die unveränderliche Form Ursache für die natürliche Veränderung ist. Was wir hier jedoch von Aristoteles erhalten, ist die Feststellung, dass im Bereich des Unveränderlichen die Definition und das Was erstes Prinzip sind. Zeigt das etwas für die Formursache, sprich, zeigt es, dass die Form Ursache des Veränderlichen ist? Ich wüsste nicht, wie. Physik II 7, 198a14 – 21: Ὅτι δὲ ἔστιν αἴτια, καὶ ὅτι τοσαῦτα τὸν ἀριθμὸν ὅσα φαμέν, δῆλον· τοσαῦτα γὰρ τὸν ἀριθμὸν τὸ διὰ τί περιείληφεν· ἢ γὰρ εἰς τὸ τί ἐστιν ἀνάγεται τὸ διὰ τί ἔσχατον, ἐν τοῖς ἀκινήτοις (οἷον ἐν τοῖς μαθήμασιν· εἰς ὁρισμὸν γὰρ τοῦ εὐθέος ἢ συμμέτρου ἢ ἄλλου τινὸς ἀνάγεται ἔσχατον), ἢ εἰς τὸ κινῆσαν πρῶτον (οἷον διὰ τί ἐπολέμησαν; ὅτι ἐσύλησαν), ἢ τίνος ἕνεκα (ἵνα ἄρξωσιν), ἢ ἐν τοῖς γιγνομένοις ἡ ὕλη. ὅτι μὲν οὖν τὰ αἴτια ταῦτα καὶ τοσαῦτα, φανερόν. 159 Das aristotelische dia ti lese ich als Warum bzw. Darum. Es ist ein alter Gedanke, dass to dia ti und to aition bei Aristoteles gleichgesetzt werden können. Vlastos bezieht sich auf Bonitz Index Aristotelicum, 294 und Moravcsik sagt dazu: »[…] we understand something when we know its ›dia ti‹; i. e., when we know what the factors are that are responsible for it.« J. Moravcsik, ›Aitia as Generative Factor in Aristotle’s Philosophy‹ in: Dialogue 14, 4 (1975), 622 – 638, 623. In Ana. post. 85b24 u. 27 wird to dia ti vermutlich epexegetisch zusammen mit aitia verwendet und dasselbe gilt für PA 639b10. Weitere Belege für die Ähnlichkeit oder sogar Gleichheit von aitia und to dia ti finden sich in Physik II 3, 194b19 – 20: Das dia ti zu erfassen, meint ein Erfassen der protê aitia. In Ana. post. 98a7 u. b20 hat to dia ti die Bedeutung von »the reason why«, wie es Barnes übersetzt. Der Aussage in 90a1 u. 92b25 zufolge kann man nach dem dia ti suchen und es angeben, und dasselbe gilt für Physik II 7, 198a23, wo es heißt, der Naturforscher gebe das dia ti an. Folglich ist das dia ti eine Erklärung oder Begründung und keine Frage. Ähnliches ergibt sich in GA 742b25, wo Aristoteles seine Vorgänger dafür kritisiert, das dia ti nicht genannt zu haben. Schließlich erhalten wir eine Ausformulierung des dia ti in Physik II 7, 198b5: »dass sich dieses notwendigerweise aus jenem ergibt« (hoti ek toude anankê tode). 158
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Auffallend ist, dass Aristoteles an dieser Stelle geometrische Tatsachen mit Ereignissen (dem Krieg) und der ›echten‹ Entstehung zusammenbringt (siehe den Ausdruck gignomena im Falle der Materie). Im Lichte dessen ist zu fragen, ob es ihm darum geht, vier Ursachen für ein und dieselbe Entstehung aufzulisten, oder nicht eher darum, allgemein anzuführen, welche Ursachen es gibt. Auf alle Fälle erklärt er uns an dieser Stelle nicht, weshalb die Form Entstehungsprinzip der Naturdinge ist.
12.4 Argumentiert Aristoteles in Physik II 1 dafür, dass die Form Natur ist?
In Aristoteles’ zweitem Buch der Physik geht es zweifelsohne um die Natur und um die Entstehung der Naturdinge. Abschnitt 1 beginnt er mit einer Bestimmung dessen, was Natur ist, und erklärt, Materie und Form seien Natur. Für den Gedanken, dass die Form Natur ist, finden sich im Text drei Argumente. Sie alle wurden kritisiert. Ross beschwert sich hinsichtlich des ersten Arguments über eine »very unnecessary complication« und Bostock zufolge ist es unverständlich: »it is difficult to extract any good sense«. Das zweite Argument beurteilt Bostock als »apparently merely ad hominem«, das dritte Charlton als »obscure«.160 Ich stimme mit den genannten Kommentatoren darin überein, dass uns alle drei Argumente nicht zureichend erklären, weshalb die Form Natur sein soll. Doch es ist zu fragen, ob das überhaupt Aristoteles’ Absicht war. Zweifelsohne suggeriert die von ihm gewählte Terminologie eine Argumentation, aber es gibt Umstände, die darauf hinweisen, dass es ihm eher um eine begriffliche Klärung geht. Auch glaube ich entgegen anderer Interpretationen nicht, dass es Aristoteles’ Ziel in Physik II war, die Form als Naturprinzip zu etablieren. Vielmehr ging es ihm um die Etablierung des Zwecks als Naturprinzip auf Grundlage der Annahme, dass sowohl die Materie als auch die Form Naturprinzipien sind. In dieser Hinsicht stimme ich Scharle zu, dass es Aristoteles in Physik II 1 darum geht, dass die Naturbetrachtung beides in den Blick nehmen muss, Materie und Form, weil beide am Naturding vorliegen.161 W. D. Ross, Aristotle’s Physics – A revised Text with Introduction and Commentary (Oxford 1936), 504. D. Bostock, ›Aristotle’s Theory of Form‹, 83. Aristotle’s Physics I, II. Translated with Introduction and Notes by W. Charlton (Oxford 1970), 91. 161 Sie schreibt hierzu: »Given that the elements, as well as plants and animals, each have a nature (192b8 – 15) they cannot be simply matter or simply form, but a combination of both. Aristotle affirms that both the matter and the form are natures (193a28 – 30, 193b3 – 6). This argument suggests that material and formal natures are mutually dependent in this sense […]«, siehe M. Scharle, ›The Role of Material and Efficient Causes in Aristotle’s Natural Teleology‹, in: Apeiron 41,3 (2008), 27 – 46, 30. 160
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Es gibt einen naheliegenden Grund, 193a28–b19 als Argumentreihe zu lesen, nämlich die von Aristoteles verwendete argumentative Terminologie (a30: gar, a36: gar, b3: hôste, b7: gar, b9: dio, b11: ara, b15: anankê gar, b18: ara). Es gibt allerdings drei Gründe, die dies relativieren, und einer davon wurde bereits genannt. Für das vermeintliche erste Argument (193a31–b5) finden wir eine Doublette in Met. V 4, 1015a3 – 5. In dieser Passage ist das Gesagte kein Argument, sondern eine bloße Folge aus Empedokles’ Naturkonzept, weshalb sich fragt, ob man es in 193a31–b5 als Argument lesen soll. Zweitens passt die Auffassung, Aristoteles argumentiere in 193a28–b19 für die Form als Natur, nicht recht zu dem, was er selbst über sein Vorgehen sagt. In a28 erfahren wir, dass auf eine erste Weise die Materie »Natur« genannt werde (hena tropon houtôs hê physis legetai), auf eine zweite Weise aber auch die Form. Dazu passend heißt es am Ende der Diskussion der Form in b22, »Natur« werde auf die soeben angeführten Weisen verwendet (posachôs hê physis). Demzufolge hätte Aristoteles in 193a9–b21 nichts anderes getan, als die Verwendung des griechischen Ausdrucks physis zu klären.162 Drittens muss Aristoteles nicht beweisen, dass die Form Natur ist, denn er bewegt sich hier innerhalb des common sense. Nach seiner Auffassung hat bereits Empedokles die Form als Naturprinzip geltend gemacht (vgl. etwa Met. V 4, 1015a4 – 5) und was seine Vorgänger richtigerweise vertreten, dafür muss er nicht neuerlich argumentieren, so seine generelle Einstellung. Somit ist unklar, was er mit 193a28–b19 eigentlich bezweckt. Da es mir darum geht, ob Aristoteles überhaupt irgendwo für die Form als Naturprinzip argumentiert und diese Passage am ehesten hierzu eine Erklärung liefert, schlage ich vor, sie so zu lesen, als wolle er hier für diese These argumentieren. In der Folge ist jedes Argument einzeln zu behandeln, vorab ist jedoch auf das einzugehen, was Aristoteles uns in Physik II 1 darlegt, bevor er die Natur als Form bestimmt. Das ist nämlich alles andere als klar. Es sei daran erinnert, dass sich in Physik II 1 die für diese Untersuchung grundlegende Aussage findet, die Form sei logos und kata logon abgetrennt. Daher kehrt die Untersuchung noch einmal aus einer anderen Perspektive auf denselben Textabschnitt zurück.
Ross fasst dementsprechend den ersten Abschnitt von Physik II wie folgt zusammen: »The previous chapter has revealed that φύσις has two main senses, ›matter‹ and ›form‹.« Aristotle’s Physics, 506. Dennoch zögert er nicht, 193a28–b18 als eine Reihe von drei Argumenten zu lesen. So sagt er hinsichtlich 193b12 – 18: »This is a third argument to support the view that μορφή is φύσις«, 505. 162
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Kapitel 12
12.5 Die Gleichsetzung von physis und ousia
Zu Beginn von Physik II geht es Aristoteles um eine Angabe dessen, was Natur ist. Anders als eingangs von Physik III, wo es auf den Punkt gebracht heißt, Natur sei Prinzip von Bewegung und Veränderung, ist die Angabe in Physik II eher umständlich formuliert. Herauslesen lässt sich aus 192b20 – 22, dass sich die Naturdinge von den Artefakten dadurch unterscheiden, dass sie ein inneres Veränderungsprinzip aufweisen. Folglich, so kann man schließen, ist die Natur ein solches Prinzip. Diese Bestimmung wird in der Literatur als Standarddefinition angesehen.163 Zudem erfahren wir von Aristoteles, Natur persistiere in demjenigen, worin es zugrunde liegt (192b20 – 23: êrmenein en hô hyparchei prôtos), was den Schluss nahe legt, dass die Materie die gesuchte Natur ist. Hierzu passt seine Erläuterung, wonach die vier Elemente Natur seien (192b9 – 11). So weit, so gut, macht Aristoteles am Ende seiner Bestimmung der Natur geltend, nur Substanzen hätten eine Natur (192b33 – 34). Das ist für sich genommen unproblematisch, doch nur wenige Zeilen später setzt er die Substanz mit der Natur gleich. Dieser Umstand beruht zweifelsohne auf der Mehrdeutigkeit von ousia, wie sie uns auch in Zeta begegnet: Einerseits sind die Körper Substanzen, andererseits haben sie eine Substanz. Mit dieser Mehrdeutigkeit lässt sich umgehen, allerdings darf dabei nicht übersehen werden, was die Gleichsetzung von Substanz und Natur für Folgen hat. Aristoteles würde im Anschluss dann auch dafür argumentieren, dass Materie und Form Substanz sind. Das ist deshalb bemerkenswert, weil es verbreitete Ansicht ist, dass sich die Argumente dafür, dass die Form Substanz ist, in Zeta finden, womit die Argumente in Physik II 1 nur noch wenig Relevanz hätten. Aber vermutlich argumentiert Aristoteles in Zeta nicht dafür, dass die Form inneres Prinzip der Veränderung ist. Was bedeutet das? Die eigentlich überraschende Botschaft in 193a10 lautet, dass die Substanz Prinzip der Veränderung ist, weil Substanz und Natur einer Sache im Falle der Naturdinge offensichtlich identisch sind. Er schreibt: Es scheint, dass die Natur und die Substanz der aufgrund von Natur seienden Dinge das primär Vorliegende in einem jeden ist, und dieses Vorliegende ist für sich genommen ungeformt, wie etwa das Holz die Natur des Bettes ist und das Erz die der Statue. (Eigene Übersetzung)164 163 Siehe etwa Charltons Anmerkung in Aristotle’s Physics I, II. Translated with Introduction and Notes by W. Charlton (Oxford 1970) 88; A. Beavers, ›Motion, Mobility, and Method in Aristotle’s Physics: Comments on Physics 2.1.192b20 – 24‹, in: Review of Metaphysics 42, 2 (1988), 357 – 374, 357. M. Frede, ›On Aristotle’s Conception of the Soul‹, in: M. Nussbaum u. A. Oksenberg-Rorty (eds.), Essays on Aristotle’s De anima (Oxford 1992), 93 – 107, 100. M. Ferejohn, Formal Causes (Oxford 2013), 162. 164 193a9 – 12: δοκεῖ δ’ ἡ φύσις καὶ ἡ οὐσία τῶν φύσει ὄντων ἐνίοις εἶναι τὸ πρῶτον ἐνυπά
Unzureichende Begründungen dafür, dass die Form Ursache ist
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Das gesuchte innere Veränderungsprinzip ist daher nicht nur Natur der Sache, sondern auch Substanz. Hier wird deutlich, dass Aristoteles die Substanz auch als Entstehungsprinzip auffasst, was meine vorangehende Interpretation von Zeta 17 zusätzlich stützt. Als Indiz dafür (a12: sêmeion), dass die Materie die gesuchte Natur ist, sprich, inneres Veränderungsprinzip, verweist er zunächst auf Antiphons Überlegungen zum begrabenen Bett. Wenn man ein hölzernes Bett in die Erde lege, so gibt Aristoteles Antiphon wieder, und das Holz sprieße, dann entstehe nicht ein Bett, sondern Holz (korrekterweise müsste man eigentlich sagen: ein Baum). Die Form, so lässt sich daraus schließen, ist nur akzidentell, die Materie hingegen substantiell. Aber weshalb ist dies ein Indiz dafür, dass die Materie inneres Prinzip der Veränderung ist? Vermutlich liegt hier die Ansicht zugrunde, dass das Bett nur zwei Komponenten hat, die Bettform und das Holz als Materie. Da die Form zugrunde geht, muss es das Holz sein, das Entstehungsprinzip ist, ganz einfach darum, weil nur das Holz persistiert. Das erklärt, weshalb Aristoteles in seinen Ausführungen zu Antiphons Überlegung nur auf die Persistenz abzielt, wobei es fraglich ist, ob Antiphon wirklich auf diese Weise argumentiert hat. Aristoteles macht geltend, die Materie sei Substanz und Natur, gerade weil sie im Naturding persistiere (a16 – 17: diamenei). Das Kriterium der Persistenz hat er bereits in 192b20 – 23 genannt: »Natur persistiert in demjenigen, worin es zugrunde liegt«. Folglich hat Aristoteles dann an dieser Stelle nicht viel mehr gemacht, als eine zuvor geltend gemachte Eigenschaft der Natur (nämlich das Persistieren) der Materie zugeschrieben, wogegen wenig spricht. Weshalb hingegen das, was bei einer Veränderung persistiert, Naturprinzip ist, setzt er hier bereits voraus. Soviel zur Materie als Natur der Dinge.
12.6 Das erste Argument für die Form als Naturprinzip (193a28–b5)
Im Unterschied zur üblichen Lesart fasse ich die Aussage in 193b6 – 8 nicht als eigenständiges Argument auf. Aristoteles behauptet an dieser Stelle, die Form sei mehr (mallon) Natur als die Materie. Diese Behauptung setzt die Annahme voraus, dass die Form Natur ist. Somit bildet nach meinem Verständnis diese Aussage einen Zusatz zu dem vorangehenden Argument: Nicht nur ist die Form Natur, sie ist sogar mehr Natur als die Materie. Folglich gibt es in meiner Interpretation drei Argumente und nicht vier.
ρχον ἑκάστῳ ἀρρύθμιστον καθ’ ἑαυτό, οἷον κλίνης φύσις τὸ ξύλον, ἀνδριάντος δ’ ὁ χαλκός.
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Kapitel 12
Es ist vorauszuschicken, wonach wir eigentlich suchen. Wir suchen nach einem Argument dafür, dass die Form inneres Prinzip der Veränderung ist. Das heißt in der schwächsten denkbaren Lesart des griechischen Ausdrucks archê, dass man die Entstehung der Naturdinge nicht ohne Einbeziehung der Form zureichend erklären kann. Das erste Argument lautet wie folgt: (i) Dies also ist eine Weise, auf die »Natur« verwendet wird, insofern die Natur die primär vorliegende Materie jener Dinge ist, die in sich selbst das Prinzip von Bewegung und Veränderung tragen. Auf eine andere Weise ist es die Gestalt und die Form im Sinne des logos. (ii) Denn so, wie das Kunstgemäße und Künstliche »Kunst« genannt wird, so wird das Naturgemäße »Natur« genannt. Wir würden nie von etwas sagen, dass es kunstgemäß oder Kunst ist, wenn es nur dem Vermögen nach ein Bett ist und nicht irgendwie die Form des Bettes hat, und dasselbe gilt für das, was naturgemäß konstituiert ist. (iii) Denn was dem Vermögen nach Gewebe oder Knochen ist, hat für sich genommen keine Natur, bevor es nicht diejenige Form annimmt im Sinne des logos, mit der wir definierend angeben, was Gewebe und was Fleisch ist, und solches ist auch nicht Natur. (iv) So wäre auf andere Weise die Natur bei den Dingen, die in sich selbst das Veränderungsprinzip tragen, die Gestalt und Form, die nicht abgetrennt ist oder wenn, dann nur im Sinne des logos. (Was aber aus Materie und Form besteht, ist nicht Natur, sondern natürlich, wie etwa der Mensch.) (v) Zudem ist die Form mehr Natur als die Materie, denn wir benennen ein jedes Ding gemäß dem, was es der Verwirklichung nach ist, und nicht gemäß dem, was es dem Vermögen nach ist. (Eigene Übersetzung)165
Ich denke nicht, dass Bostock mit seiner wohlwollende Rekonstruktion (»sympathetic reconstruction«) die richtige Lesart für das Argument bietet: Physik II 1, 193a28–b7: ἕνα μὲν οὖν τρόπον οὕτως ἡ φύσις λέγεται, ἡ πρώτη ἑκάστῳ ὑποκειμένη ὕλη τῶν ἐχόντων ἐν αὑτοῖς ἀρχὴν κινήσεως καὶ μεταβολῆς, ἄλλον δὲ τρόπον ἡ μορφὴ καὶ τὸ εἶδος τὸ κατὰ τὸν λόγον. ὥσπερ γὰρ τέχνη λέγεται τὸ κατὰ τέχνην καὶ τὸ τεχνικόν, οὕτω καὶ φύσις τὸ κατὰ φύσιν [λέγεται] καὶ τὸ φυσικόν, οὔτε δὲ ἐκεῖ πω φαῖμεν ἂν ἔχειν κατὰ τὴν τέχνην οὐδέν, εἰ δυνάμει μόνον ἐστὶ κλίνη, μή πω δ’ ἔχει τὸ εἶδος τῆς κλίνης, οὐδ’ εἶναι τέχνην, οὔτ’ ἐν τοῖς φύσει συνισταμένοις· τὸ γὰρ δυνάμει σὰρξ ἢ ὀστοῦν οὔτ’ ἔχει πω τὴν ἑαυτοῦ φύσιν, πρὶν ἂν λάβῃ τὸ εἶδος τὸ κατὰ τὸν λόγον, ᾧ ὁριζόμενοι λέγομεν τί ἐστι σὰρξ ἢ ὀστοῦν, οὔτε φύσει ἐστίν. ὥστε ἄλλον τρόπον ἡ φύσις ἂν εἴη τῶν ἐχόντων ἐν αὑτοῖς κινήσεως ἀρχὴν ἡ μορφὴ καὶ τὸ εἶδος, οὐ χωριστὸν ὂν ἀλλ’ ἢ κατὰ τὸν λόγον. (τὸ δ’ ἐκ τούτων φύσις μὲν οὐκ ἔστιν, φύσει δέ, οἷον ἄνθρωπος.) καὶ μᾶλλον αὕτη φύσις τῆς ὕλης· ἕκαστον γὰρ τότε λέγεται ὅταν ἐντελεχείᾳ ᾖ, μᾶλλον ἢ ὅταν δυνάμει. 165
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An account of the ›nature‹ of a thing should also be an account of what it is. But to specify its matter is to give only a very partial account; the form is needed too.166
Das Problem seiner Rekonstruktion ist meines Erachtens, dass sie nur das Sein behandelt, nicht aber die Entstehung. Zu sagen, dass man für die Angabe der Natur auch angeben muss, was etwas ist, ist nur angebracht, wenn man Natur mit Substanz gleichsetzt. Das tut Aristoteles zwar, aber Natur hat, wie wir kurz zuvor von ihm erfahren haben, den Sinn von »inneres Veränderungsprinzip«. Daher geht Bostocks Rekonstruktion an der Frage vorbei, weshalb es für die Entstehung des Naturdings die Form braucht. Genau auf diese Frage scheint Aristoteles in seinem Argument aber einzugehen. Scharle gibt an, Aristoteles gehe es an dieser Stelle um eine Darlegung, wonach es sich bei der Natur um etwas aus Materie und Form Zusammengesetztes handle: Here Aristotle suggests that ›what is potentially flesh or bone‹—the material stuff that makes up flesh and bone—cannot be a natural compound (something that has a nature) without the presence of a formal nature. In other words, what the predecessors took to be the only nature—the material stuff—in fact, cannot be a nature without the presence of a formal nature.167
Ihre Überlegung baut auf der Annahme auf, dass Aristoteles’ Vorgänger die Natur auf die Materie reduziert haben. Ein Blick auf Met. V 4 zeigt uns aber, dass dies fragwürdig ist, da es heißt, Empedokles und andere hätten die Natur bereits im Sinne der Form aufgefasst. Diese Zuschreibung wird gestützt durch Physik II 2, 194a20 – 21 (Empedokles und Demokrit haben, wie es heißt, wenig über die Essenz gesagt, also nicht nichts), PA 642a24 – 31 sowie Met. I 9, 993a17 – 18, wo Empedokles dafür gelobt wird, die Essenz als Ursache des Knochens angesehen zu haben. Davon abgesehen macht Scharle zwar geltend, wofür Aristoteles votieren will, aber nicht, wie er argumentiert. Sie spricht schlicht von einem Vorschlag (»Aris totle suggests«). Ich lese sein Argument wie folgt. Zweifelsohne macht er hier eine Analogie zwischen der Herstellungskunst und der natürlichen Entstehung geltend. Um von Herstellungskunst und von natürlicher Entstehung zu sprechen, muss etwas Hergestelltes und ein Naturding vorliegen. Das klingt zunächst plausibel. Wenn man jetzt annimmt, dass nur dann ein Naturding vorliegt, wenn etwas eine Gestalt bzw. Form angenommen hat, dann liegt der Schluss nahe, dass die Form Natur ist. Weshalb? Wenn es der Form bedarf, um von Natur zu sprechen, weil ohne Vollendung der Form kein Naturding vorliegt, dann ist die Form Prinzip der 166 167
›Aristotle’s Theory of Form‹, 83. ›The Role of Material and Efficient Causes in Aristotle’s Natural Teleology‹, 31 – 32.
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Naturdinge und damit der Entstehung, zumindest im Sinne eines Erklärungsprinzips. Mag das Argument für sich genommen auch stimmig wirken, im Lichte dessen, was Aristoteles zuvor über die Materie gesagt hat, ist es problematisch. Die entscheidende Begründung für die Form als Entstehungsprinzip findet sich in (iii) und lautet, wie oben angeführt: »Denn was dem Vermögen nach Gewebe oder Knochen ist, hat für sich genommen keine Natur, bevor es nicht diejenige Form annimmt […]«. Diese Aussage ist nicht haltbar, allerdings nicht aus dem Grund, den Ross anführt. Er macht geltend, dass die Analogie zwischen Herstellungskunst und Natur von einem abstrakten Sinn von Natur zu einem konkreten abgleite. Bevor ein Haus gebaut werde, gebe es überhaupt keine Herstellungskunst, aber dasselbe gelte nicht für die Naturdinge. Denn bereits die Materie der Naturdinge, etwa Feuer und Wasser beim Knochen, habe eine Natur (Aristoteles nennt die Elemente in Met. V 4, 1014b33 – 34 ausdrücklich physis). Aus diesem Grund, so Ross, sei Aristoteles zu dem Zusatz gezwungen, dass die potentiellen Gegenstände im Falle der Naturentstehung keine Natur in sich selbst hätten. Diesen Zusatz hält er für eine »very unnecessary complication«, welche die Analogie im Gesamten gefährde.168 Ross’ Bedenken scheinen mir zunächst unbegründet, denn der Zusatz heautou (›in sich selbst«) macht nur geltend, dass es anders als bei der Herstellungskunst um ein inneres Prinzip der Veränderung geht. Der Zusatz scheint auch nicht entscheidend zu sein, da Aristoteles ihn in der Doublette von Met. V 4 weglässt. Die Aussage, der potentielle Knochen habe noch keine Natur, ist vielmehr darum problematisch, weil es sich hier um Materie handelt, und Materie ist, wie wir gelernt haben, Natur. Es ließe sich einwenden, die Materie sei zwar Natur, habe aber keine Natur, weshalb Aristoteles zu Recht sagen könne, dass nur dasjenige eine Natur habe, was Form habe, d. h. was realisiert ist. Das Problem ist aber Folgendes. Wie er uns in (v) dieser Passage sagt, hat das, was nur dem Vermögen nach ist, eine Natur, wenn auch in geringerem Maße als das, was realisiert ist. Diese Feststellung widerspricht der Behauptung aus (iii), der potentielle Knochen habe keine Natur. Insofern er Materie hat, hat er eine Natur und ist nicht nur Natur. Insofern hat Ross mit seinem Einwand letztlich recht, dass die Elemente bereits eine Natur haben. Man mag auch hier wieder einwenden wollen, Elemente wie Feuer und Wasser hätten nur insofern eine Natur, als sie eine Form haben. Aber Feuer und Wasser entstehen überhaupt nicht, weil sie Elemente sind, weshalb sich die Aussage aus (iii) über die Entstehung der Dinge nicht einfach auf die Elemente übertragen
168
Aristotle’s Physics, 504.
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lässt. Die Elemente können keine Form annehmen (labein), weil sie keine Entstehung haben. Dennoch sind sie Natur, wie Aristoteles uns lehrt.
12.7 Natur und Entstehungsprinzip
Generell zeigt sich anhand dieser Analyse Folgendes. Man kann nicht argumentieren, dass auch die Form die Natur eines entstandenen Dinges ist, indem man begründet, dass die Dinge erst dann eine Natur haben, wenn sie eine Form annehmen. Damit hebt man die Behauptung auf, dass noch etwas anderes als die Form Natur ist. Die von Aristoteles vorgetragene Argumentation ist unpassend, weil er zuvor bereits die Materie als Natur der entstandenen Dinge ausgewiesen hat. Das Problem scheint die Mehrdeutigkeit von physis zu sein. Aristoteles meint damit erstens die Naturdinge und hier primär die Elemente. Zweitens meint er die Natur der Dinge im Sinne der Substanz (hierauf scheint die Aussage aus (iii) abzuzielen). Drittens meint physis auch inneres Veränderungsprinzip, und es sieht so aus, als wäre ein solches Prinzip denkbar, das nicht Substanz ist, etwa der Zweck oder das erste Bewegende. Aristoteles könnte jetzt geltend machen, dass auch der Zweck oder das erste Bewegende in der Materie oder der Form verortet werden müssen, weil das Naturding ja nichts anderes ist als Materie und Form (und wir ja nach dem inneren Veränderungsprinzip suchen). Aber eine solche Begründung liefert er nicht. Daher klingt es wie zufällig, dass die Form als Prinzip der Entstehung auch Substanz der Naturdinge ist und daher ihre Natur. Hierfür ließe sich durchaus im aristotelischen Sinne argumentieren, aber Aristoteles selbst, und darauf kommt es mir an, tut es nicht, weder hier noch anderswo.
12.8 Die Übernahme des Formprinzips von Empedokles
Es ist kurz darzulegen, wie die Doublette in 193a28–b5 in Met. V 4 nicht als Argument dient, sondern sich aus dem ergibt, was Empedokles vertreten hat. Hinsichtlich der verschiedenen Verwendungen des Ausdrucks physis heißt es: (i) Auf eine andere Weise wird »Natur« die Substanz der von Natur aus seienden Dinge genannt, so, wie manche sagen, Natur sei das erste Zusammengesetzte. Oder wie bei Empedokles, der sagt: »Nichts vom Seienden ist Natur, sondern es gibt nur Mischung und Auflösung des Gemischten, ›Natur‹ aber wird dies von den Menschen genannt.« (ii) Daher gilt für die Dinge, die natürlicherweise sind und entstehen, dass obwohl dasjenige, woraus sie natürlicherweise entstehen und sind, bereits vor-
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liegt, wir sie nicht »Natur« nennen, solange sie nicht Form und Gestalt haben. (Eigene Übersetzung)169
Drei Dinge sind hier bemerkenswert. Erstens erfahren wir in (i), dass die Substanz der Naturdinge Natur genannt wird. Dies entspricht der Gleichsetzung von Substanz und Natur in Physik II 1, 193a9 – 10.170 Zweitens heißt es in (ii), dass wir nicht sagen, die potentiellen Dinge hätten eine Natur (oupô phamen), während es in dem Argument aus der Physik hieß, dass sie keine Natur haben. Für Letzteres ließe sich argumentieren, für Ersteres nicht; zumindest argumentiert Aristoteles in aller Regel nicht für bestimmte Verwendungsweisen griechischer Ausdrücke. Der Umstand, dass es hier womöglich nur darum geht, was wir »Natur« nennen, schwächt das Argument in Physik 193a28–b5 deutlich ab. Drittens erklärt Aristoteles, einige Denker hätten die Form als Natur aufgefasst, weshalb (dio) wir sagen, das Potentielle habe noch keine Natur. Die Aussage aus (ii) ist damit kein Argument, sondern ein Umstand, den Aristoteles mit Empedokles’ Naturbegriff erklärt (die anderen, die er in b36 erwähnt (hoi legontes), sind vermutlich Atomisten wie Demokrit). Wenn man ihn beim Worte nimmt, so übernimmt er die Auffassung, dass die Form Natur sei, von seinen Vorgängern. Er müsste dann kaum eigens dafür argumentieren. Es hat sich bereits an anderer Stelle gezeigt, dass Aristoteles nicht meint, der erste zu sein, der die Form als Naturprinzip geltend macht. Sondern er hält sich für den ersten, der anzugeben vermag, was sie ist (siehe Kap. 6).
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1014b34 – 1015a5: ἔτι δ’ ἄλλον τρόπον λέγεται ἡ φύσις ἡ τῶν φύσει ὄντων οὐσία, οἷον οἱ λέγοντες τὴν φύσιν εἶναι τὴν πρώτην σύνθεσιν, ἢ ὥσπερ Ἐμπεδοκλῆς λέγει ὅτι “φύσις οὐδενὸς ἔστιν ἐόντων, ἀλλὰ μόνον μῖξίς τε διάλλαξίς τε μιγέντων ἔστι, φύσις δ’ ἐπὶ τοῖς ὀνομάζεται ἀνθρώποισιν«. διὸ καὶ ὅσα φύσει ἔστιν ἢ γίγνεται, ἤδη ὑπάρχοντος ἐξ οὗ πέφυκε γίγνεσθαι ἢ εἶναι, οὔπω φαμὲν τὴν φύσιν ἔχειν ἐὰν μὴ ἔχῃ τὸ εἶδος καὶ τὴν μορφήν. 170 Mit Blick auf Physik II geht Simplicius sogar einen Schritt weiter und argumentiert, die Natur sei Form, weil die Natur im Sein aufgehe und dieses Sein das Definiens der Einzeldinge sei: »Denn wenn die Natur des Einzelnen im Sein des Einzelnen gegeben ist, das Sein des Einzelnen aber in der Form im Sinne des logos und des Definiens (weshalb auch das Definiens mit dem Definiendum austauschbar ist), dann ist die Natur die Form.« Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria, 276, 35 – 277, 2: εἰ γὰρ ἡ φύσις ἡ ἑκάστου ἐν τῷ εἶναι ἑκάστου, τὸ δὲ εἶναι ἑκάστου ἐν τῷ κατὰ τὸν λόγον καὶ τὸν ὁρισμὸν εἴδει ἐστί (διὸ καὶ ἀντιστρέφουσιν οἱ ὁρισμοὶ πρὸς τὰ ὁριστά), ἡ φύσις τὸ εἶδος ἂν εἴη. Ich sehe nicht, dass wir hiermit ein Argument dafür erhalten, dass die Form Natur ist.
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12.9 Das zweite Argument für die Form als Naturprinzip (193b8 – 12)
Das zweite Argument ist vermutlich Aristoteles’ bestes, kommt aber in einer erstaunlichen Kürze daher und hat Ähnlichkeit mit seiner häufig geäußerten Erklärung, dass ein Mensch einen Menschen erzeuge: Zudem entsteht ein Mensch aus einem Menschen, aber nicht das Bett aus einem Bett. Daher sagen sie, dass nicht die Gestalt die Natur ist, sondern das Holz, denn was entstehen würde, wenn es keimte, wäre nicht ein Bett, sondern Holz. Wenn dies also Natur ist, dann ist auch die Form Natur. Denn ein Mensch entsteht aus einem Menschen. (Eigene Übersetzung)171
Ohne Zweifel weist die Passage zurück auf Antiphons Überlegung, die Aristoteles wenig zuvor mit Blick auf die Materie angeführt hat. Die Formulierung »ein Mensch entsteht aus einem Menschen« findet sich auch in Physik II 198a26 – 27 sowie Zeta 7, 1032a25 u. 8, 1033b32 (wenngleich hier die Aussage aus der Zeugungsperspektive gemacht wird). Aristoteles verwendet diese Formel, um zu zeigen, dass die Wirk- und Formursache identisch sind (Physik II 198a26 – 27) oder dass das kath’ ho und hyph’ hou dieselbe Form haben (Zeta 7, 1032a25 bzw. Erzeuger und Erzeugtes in Zeta 8, 1033b32). Ross zögert nicht, das vermeintliche Argument aus 193b8 – 12 auf Grundlage dieser Formel zu interpretieren. Er erläutert, dass die Form darum Entstehungsprinzip ist, weil der Mensch nicht menschliche Bestandteile erzeuge, sondern einen ganzen Menschen: »[…] since a man produces not merely organs or tissues or elements but another man, of the same form as himself.«172 Es ist leicht zu sehen, dass dies nicht der Darstellung aus 193b8 – 12 entspricht, wo von Teilen und Ganzem nicht die Rede ist. Aristoteles’ Argument ist viel einfacher. Wenn aus einem Menschen immer ein Mensch entsteht und nie ein Olivenbaum, dann muss die Menschform bei der Entstehung als Prinzip beteiligt sein. Was hier in 193b8 – 12 fehlt, ist der Zusatz, dass dies immer oder meistens der Fall ist, sowie eine Angabe, was sich daraus für die Form ableiten lässt. Bei der Aussage, dass ein Mensch aus einem Mensch entsteht, darf man eigentlich nicht stehen bleiben, denn Naturdinge entstehen nicht aus einer Form, sondern aus Materie (etwa 194b23 – 26; der sonderbare Schluss in Physik I 7, 190b17 – 20, demzufolge die Dinge aus Materie und aus Form entstehen, wurde oben diskutiert, siehe Abschnitt 12.2). 171
193b8 – 12: ἔτι γίγνεται ἄνθρωπος ἐξ ἀνθρώπου, ἀλλ’ οὐ κλίνη ἐκ κλίνης· διὸ καί φασιν οὐ τὸ σχῆμα εἶναι τὴν φύσιν ἀλλὰ τὸ ξύλον, ὅτι γένοιτ’ ἄν, εἰ βλαστάνοι, οὐ κλίνη ἀλλὰ ξύλον. εἰ δ’ ἄρα τοῦτο φύσις, καὶ ἡ μορφὴ φύσις· γίγνεται γὰρ ἐξ ἀνθρώπου ἄνθρωπος. 172 Aristotle’s Physics, 505.
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Beim Prozess der natürlichen Entstehung, so müsste Aristoteles erklärend anfügen, bleibt nicht nur die Materie erhalten, wie Antiphon bemerkte, sondern auch die Form. Menschen entstehen aus Menschen, Olivenbäume aus Olivenbäumen. Folglich ist die Form genauso grundlegend für die Entstehung wie die Materie. Erst später in 198a25 – 27 betont er, dass die Form von Erzeuger und Erzeugtem identisch ist, und genau dort finden wir auch den Satz wieder, dass es ein Mensch sei, der einen Menschen erzeuge. Nimmt man daher das zu Hilfe, was Aristoteles in De gen. et corr. 333b7 – 16 als Erläuterung vorbringt, so vermag das Argument durchaus zu überzeugen (siehe Abschnitt 6.2). Es muss etwas geben, das bei der natürlichen Entstehung gewährleistet, dass das Entstandene der Form nach identisch ist mit dem, woraus es entsteht. Ich denke, dass dieser Gedanke auch mit der Entdeckung des menschlichen Genoms noch einigermaßen tragfähig ist, auch wenn Aristoteles’ Form keineswegs dem Genom entsprechen kann.
12.10 Das dritte Argument für die Form als Naturprinzip (193b12 – 18)
Das dritte und letzte Argument ist am schwersten zu durchdringen: (i) Zudem spricht man von Natur im Sinne des Entstehungsweges in Richtung Natur. (ii) Denn es verhält sich hier nicht wie im Falle des Heilens, wo nicht der Weg zur Heilkunde »Heilung« genannt wird, sondern der Weg zur Gesundheit. Denn notwendigerweise geht die Heilung von der Heilkunde aus, anstatt dort hinzugelangen, aber so verhält sich die Natur nicht zur Natur. (iii) Stattdessen geht das Wachsende, insofern es wächst, aus etwas heraus zu etwas hin. Was also wächst? Nicht das, woraus es wird, sondern das, wozu es wird. Also ist die Form Natur. (Eigene Übersetzung)173
Simplicius lobt die Erklärung als gutes Argument, und zwar nicht als Syllogismus, sondern als ein dialektisches Argument (epicheirêma).174 Er erläutert das Argument in seinem Kommentar allerdings nicht, sondern wiederholt letztlich nur Aristoteles’ eigene Worte.
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193b12 – 18: ἔτι δ’ ἡ φύσις ἡ λεγομένη ὡς γένεσις ὁδός ἐστιν εἰς φύσιν. οὐ γὰρ ὥσπερ ἡ ἰάτρευσις λέγεται οὐκ εἰς ἰατρικὴν ὁδὸς ἀλλ’ εἰς ὑγίειαν· ἀνάγκη μὲν γὰρ ἀπὸ ἰατρικῆς οὐκ εἰς ἰατρικὴν εἶναι τὴν ἰάτρευσιν, οὐχ οὕτω δ’ ἡ φύσις ἔχει πρὸς τὴν φύσιν, ἀλλὰ τὸ φυόμενον ἐκ τινὸς εἰς τὶ ἔρχεται ᾗ φύεται. τί οὖν φύεται; οὐχὶ ἐξ οὗ, ἀλλ’ εἰς ὅ. ἡ ἄρα μορφὴ φύσις. 174 Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria, 278, 35 – 279, 8. Simplicius’ Unterscheidung beider Argumenttypen geht zurück auf Topik VIII 11, 162a15 – 16.
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Die modernen Kommentatoren haben die Ansicht vertreten, Aristoteles lasse dem griechischen physis hier eine weitere Bedeutung zukommen, nämlich die von »Entstehung« oder »Wachstum«. Bostock meint, sie beruhe auf einem Wortspiel und Ross ist der Ansicht, dass der Gebrauch einer solchen Bedeutung nicht nachweisbar ist.175 In Met. V 4 beginnt Aristoteles seine Abhandlung zum Ausdruck physis in der Tat mit der Feststellung, dass physis den Prozess des Wachstums bezeichne (1014b16 – 17), doch ich glaube nicht, dass diese Bedeutung relevant ist für das Argument aus Physik II 1. Ross bietet die folgende Rekonstruktion des Arguments: The etymological meaning which Aristotle ascribes to φύσις, viz. growth, must, he assumes, be identical with the progress towards φύσις. But what a given thing progresses towards is not its matter, but its final form. Therefore, form is φύσις.176
Diese Rekonstruktion macht die Sache noch unverständlicher, als sie es bei Aristoteles ohnehin ist. Wenn man Ross beim Wort nimmt, so sagt er, dass die etymologische Bedeutung von physis identisch sein soll mit dem Entstehungsprozess. Das ergibt keinen Sinn. Vermutlich wollte Ross etwas anderes sagen, nämlich dass der Prozess der Entstehung nach seinem Ende benannt wird. Dies ist näher auszuführen. Es scheint nicht wichtig zu sein, dass der Entstehungsprozess physis genannt wird, sondern entscheidend ist, dass er eis physin abläuft, also auf eine Natur hin. Nach diesem Ziel wird der Prozess benannt, nicht nach dem Ausgangspunkt, wie bei der Heilung (das griechische hiatreusis leitet sich von hiatrikê ab, also vom Ausgangspunkt der Entstehung, und nicht von der hygieia, die am Ende steht). Aristoteles verdeutlicht dies in (iii). Wenn wir sagen, dass etwas wächst, so sagen wir nicht, dass ein Same wächst, sondern dass ein Baum wächst (wobei man hier einwenden könnte, dass man präziser sagen müsste, ein Baum entstehe und ein Trieb wachse). Dasjenige, was wächst, wird demnach vom Ziel des Wachstums her benannt und nicht vom Ausgangspunkt. Was Aristoteles an dieser Stelle vorauszusetzen scheint, ist die Annahme, dass das Ziel des Wachstums die Vollendung der Form ist. Das angenommen, ist verständlich, wie er ausgehend von dieser Überlegung zu dem Schluss kommt, die Form sei Natur. Dasjenige, das wächst, wird nach der Form benannt, die am Ende des Wachstums vollendet ist. Wenn daher das Wachsende Natur ist, dann ist die Form, nach der es benannt ist, Natur. Dieser Gedanke scheint sinngemäß bereits am Ende des ersten Arguments 175
Siehe D. Bostock, ›Aristotle’s Theory of Form‹, 84, Anm. 13. Ross zweifelt in seinem Kommentar, »whether φύσις ever had this meaning of ›birth‹ or ›growth‹«, Aristotle’s Metaphysics I, 296 und Aristotle’s Physics 505. 176 Aristotle’s Physics, 505.
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Kapitel 12
zu stehen, als Aristoteles sagte, dass wir ein jedes Ding gemäß dem benennen, was es der Verwirklichung nach ist (193b7). Verwirrend ist in seinem Argument allerdings der Umstand, dass in (i) der Wachstumsprozess physis genannt wird, während es in (iii) nicht um den Prozess geht, sondern um das, was wächst (ti phyetai). Das, was wächst, wird nach der Form benannt. Womöglich erklärt sich Aristoteles damit, weshalb auch der Wachstumsprozess physis genannt wird und nicht nur das entstandene Naturding. Aber wie mir scheint, sind (i) und (ii) für das Argument im Grunde irrelevant und daher irreführend. Alles, was wir benötigen, wird in (iii) gesagt.177 Aber ist das Dargelegte überhaupt ein Argument dafür, dass die Form Entstehungsprinzip ist? Vermutlich denkt sich Aristoteles die Sache so. Wie kommen wir darauf zu sagen, dass ein Baum wachse, wenn wir einen Trieb aus der Erde sprießen sehen? Offensichtlich glauben wir nicht, dass die Form des Baumes erst entsteht, sondern dass sie das Wachsen des Baumes mit beeinflusst. Es geht mir hier nicht darum, dass dies eine adäquate Beschreibung unserer Rede- und Denkweise ist, sondern nur um einen Vorschlag, wie wir von dem Umstand, das Wachsende nach der finalen Form zu benennen, darauf schließen können, dass diese Form Entstehungsprinzip ist. Dies scheint mir nur auf die genannte Weise möglich. Dass der Vorschlag auf vielerlei Weise angreifbar ist, zeigt meines Erachtens die Schwäche des dritten Arguments. Das zweite Argument ist deutlich robuster. Wenn es Aristoteles’ Ansinnen war, für die Form als Entstehungsprinzip zu argumentieren, dann ist das zweite Argument sein bestes.
Zu Beginn von Met. V 4 unterscheidet Aristoteles zwei verschiedene Verwendungen von physis. Einerseits werde die Entstehung von Naturdingen (genesis tôn phyomenôn) physis genannt, andererseits dasjenige, woraus etwas wächst (1014b16 – 18). Dass dasjenige, was wächst, so genannt wird, führt er ebenso wenig an wie den Gedanken, dass dasjenige, was am Ende der Entstehung steht, physis genannt wird. 177
Kapitel 13 Die Angabe des Zwecks als Definiens
13.1 Aristoteles’ Vorgehen in Physik II
Bislang wurde in dieser Untersuchung mit Blick auf Physik II 1 geklärt, in welchem Sinne die Form logos ist und in welchem Sinne ein Entstehungsprinzip. Zudem wurde Physik II 9 als Erklärung für Zeta 17 herangezogen, nämlich inwiefern der Zweck Ursache der Materie ist, und nicht umgekehrt. Es stellt sich daher die Frage, wie der Weg von Physik II 1 hin zu II 9 aussieht, denn Aristoteles muss hier den Zweck als wichtigstes Naturprinzip einführen. Daher ist abschließend darzulegen, wie er dabei vorgeht. Wie sich bereits gezeigt hat, kann es Aristoteles in Physik II nicht, wie Charlton es vorschlägt, um die Etablierung der Form als Naturprinzip gehen: »[it is] the main question of the book, whether it is only the matter of a natural object, or its form too, which we can call its nature.«178 Ein einfacher Einwand gegen Charlton ist dieser: Weshalb erachtet Aristoteles es bereits am Ende von Physik II 1 als geklärt, dass Materie und Form Natur sind (194a12 – 13), wenn dies erst das Anliegen des gesamten Buches sein soll? Stattdessen geht es Aristoteles darum, den Zweck als Entstehungsprinzip darzulegen. Dennoch hat Charlton einen denkbaren Einwand gegen meine Lesart vorweggenommen. Er sieht es als Fehler an, Aristoteles so zu lesen, als ob jede Art von natürlicher Veränderung zweckgerichtet sei: The general view seems to rest on a misunderstanding of the thesis that nature is a cause for something. Aristotle nowhere maintains that everything which is due to nature is for an end.179
Zugegebenermaßen vermag ich nicht zu sagen, ob alles, was natürlicherweise geschieht, auch um etwas willen geschieht, wie Charlton es ausdrückt, also ob dies etwa auch für das Aufwärtsstreben des Feuers gilt (siehe für dieses Beispiel Physik II 1, 192b36). Auch behaupte ich nicht, dass Aristoteles zufolge alle natürliche Entstehung notwendigerweise zweckgerichtet ist. Was Aristoteles sagt, ist das Folgende: In dem, was natürlicherweise entsteht, liegt ein Zweck vor (199a7 – 8, Charlton liest diese Aussage als »cautious remark«), der Naturforscher 178 179
Aristotle’s Physics I,II, 88. Ebd., 120.
130
Kapitel 13
hat auch den Zweck zu betrachten (194a27 – 28), der Zweck ist eine von vier Ursachen (194b16 – 195a3 u. 198a21 – 24), Form ist der Zweck im Falle der natürlichen Entstehung (198b2 – 4 u. 199a30 – 32) und die Natur gehört zu den Zweckursachen (198b10 – 11). In allen diesen Aussagen heißt es nicht, dass dies notwendigerweise für alle Fälle von Naturentstehung gilt. Möglicherweise erklärt sich diese Zurückhaltung durch das, was Gotthelf über Aristoteles’ Teleologie sagt: Aristotle’s teleology […] is fundamentally empirical in character, and not an a priori doctrine brought to his investigation of nature.180
Wenn die Teleologie bei Aristoteles kein apriorisches Konzept ist, sondern nur empirisch begründet, dann hat er gute Gründe dafür, keine logische Notwendigkeit des Zwecks geltend zu machen. Vielmehr war es dann seine Beobachtung, dass sich Naturprozesse, analog zu den Prozessen der Herstellung, in der Regel durch den Zweck erklären lassen. Gleichwohl macht er in seinen biologischen Schriften spontane Entstehungen geltend, die möglicherweise nicht zweckgerichtet sind.181 Wenn ich daher behaupte, dass Aristoteles in Physik II den Zweck als wichtigstes Naturprinzip darlegt, dann heißt das nicht, dass dieses Prinzip immer gegeben sein muss. Es heißt nur, dass der Naturforscher auch den Zweck in den Blick nehmen sollte, weil dieser sehr wahrscheinlich Ursache der Entstehung war, analog zum Hausbau. So sagt Aristoteles auch nicht, dass es immer vier Ursachen geben muss, sondern dass es vier Ursachentypen gibt, die faktisch häufig zusammenfallen: Dass es an Ursachen so viele und diese gibt, ist klar. Da sie aber vier sind, muss der Naturforscher sie alle erkennen, und er gelangt zu ihnen allen, wenn er das Warum im physischen Sinne angibt, also die Materie, die Form, das erste Bewegende und das Worumwillen. Oftmals jedoch fallen die letzten drei in Eines zusammen. Denn das Was-es-ist und das Worumwillen sind Eines, und das erste Bewegende ist der Form nach mit diesen identisch. (Eigene Übersetzung)182 Gotthelf, ›Aristotle’s Conception of Final Causality‹, in: Review of Metaphysics 30,2 (1976), 226 – 254, 237. 181 Zur Diskussion hierzu siehe J. Lennox, ›Teleology, Chance, and Aristotle’s Theory of Spontaneous Generation‹, in: Journal of the History of Philosophy 20,3 (1982), 219 – 238. Mit logischer Notwendigkeit meine ich, dass etwas unmöglich nicht der Fall sein kann, weil es zu Widersprüchen führt. Wenn Aristoteles im Zusammenhang mit der Entstehung von Notwendigkeit spricht, dann macht er geltend, dass etwas immer oder meistens so ist. 182 198a21 – 26: ὅτι μὲν οὖν τὰ αἴτια ταῦτα καὶ τοσαῦτα, φανερόν· ἐπεὶ δ’ αἱ αἰτίαι τέτταρες, περὶ πασῶν τοῦ φυσικοῦ εἰδέναι, καὶ εἰς πάσας ἀνάγων τὸ διὰ τί ἀποδώσει φυσικῶς, τὴν ὕλην, τὸ εἶδος, τὸ κινῆσαν, τὸ οὗ ἕνεκα. ἔρχεται δὲ τὰ τρία εἰς [τὸ] ἓν πολλάκις· τὸ μὲν γὰρ τί ἐστι καὶ τὸ οὗ ἕνεκα ἕν ἐστι, τὸ δ’ ὅθεν ἡ κίνησις πρῶτον τῷ εἴδει ταὐτὸ τούτοις. 180 A.
Die Angabe des Zwecks als Definiens
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Diese Passage enthält zugleich eine bemerkenswerte Feststellung. Wenn Aristoteles sagt, dass das Was (to ti esti) und der Zweck (to hou heneka) identisch sind, dann ist dies eine auffällige Analogie zu der Aussage aus Ana. post., das Was und das Warum seien identisch. Dort antwortete auf das Warum der Entstehung die Angabe des ersten Bewegenden, jetzt hingegen die Angabe des Zwecks. Für die Definition der Naturdinge bedeutet dies, dass die Definition und damit die Angabe der Essenz mit der Angabe des Zwecks identisch sind, und das hat in der Tat niemand vor Aristoteles behauptet. An dieser Stelle liefert er allerdings keinerlei Begründung dafür. Um zu verstehen, weshalb der die Naturdinge definierende logos mit der Angabe des Zwecks zusammenfällt, ist Aristoteles’ Vorgehen in Physik II zu betrachten. Das Resultat aus II 1 lautet, dass beides, Materie und Form, physis genannt werden (193b22). Diese Feststellung wiederholt er im weiteren Verlauf zweimal (194a12, 199a30 – 31), was zeigt, dass das Nachfolgende darauf aufbaut. Wie aus dem Nichts taucht dann in II 2, 194a27 – 29 die Rede vom Zweck auf. Neben der Materie und der Form, so erfahren wir, hat der Naturforscher auch den Zweck zu betrachten, denn die Natur, so heißt es, sei ein Ende und ein Zweck. Anders, als es hier zunächst suggeriert wird, sind Zweck und Form aber identisch. Aristoteles wird hier kein neues Entstehungsprinzip hinzufügen, sondern die Form als Entstehungsprinzip mit dem Zweck gleichsetzen. Er beginnt mit der Feststellung, Empedokles und Demokrit hätten wenig zur Essenz gesagt (194a20 – 21).183 Danach bringt er zwei Gedanken zusammen. Erstens imitiere die Kunst die Natur, weshalb beide Fälle ähnlich seien. Zweitens müsse eine Untersuchung, die sowohl die Materie als auch die Form in den Blick nimmt, dies bis zu einem gewissen Grad tun (mechri, a23). Folglich habe der Naturforscher drei Dinge in den Blick zu nehmen und nicht nur zwei: die Materie, die Form und den Zweck (a26 – 29). Aber weshalb? Aristoteles nennt uns zwei Gründe. Erstens hätten Entstehungsprozesse ein Ende, und das letzte Ende sei der Zweck (194a29 – 30). Eine Erklärung für diese Behauptung erhalten wir erst in Physik II 8. Zweitens müsse man bei der Herstellungskunst die geeignete Materie wählen, um das Ziel zu erreichen. In der Übertragung auf die Natur bedeute dies, dass bei der natürlichen Entstehung, analog zur Herstellung, die Materie zweckgebunden sei (tou ergou heneka, 194b8). Um eines von Aristoteles’ Beispielen vorwegzunehmen: Der Zweck des Sägens verlangt nach einem harten Material für das Sägeblatt (200b5 – 8). So verhält es sich seiner Auffassung nach auch im Falle der Natur, etwa bei den Zähnen der Tiere. PA 642a24 – 31 erklärt er uns, weshalb sie wenig Brauchbares dazu sagen konnten. Ihnen fehlte die dialektische Methode, die erst von Sokrates entwickelt wurde. Siehe zu dieser Darstellung Abschnitt 6.1. 183 In
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Kapitel 13
Aufgrund von diesen Überlegungen kann man zu einem Schluss gelangen, den Aristoteles hier noch nicht zieht. Entstehungsprozesse haben ein Ende, und Materie steht bei der Entstehung in Relation zu Form (194b9). Wenn daher, wie wir später sehen werden, die Form der Zweck ist, dann hat der Naturforscher Materie und Form unter dem Aspekt des Zwecks zu betrachten. Aristoteles ist an dieser Stelle noch zurückhaltend, was diese Folgerung anbelangt. Er fragt, in welchem Maß der Naturforscher die Form und Materie zu erkennen hat und ob die Antwort lautet, dass er dies unter Maßgabe ihrer Zweckgerichtetheit zu tun habe (194b11 – 12: mechri tou tinos heneka). Nach meiner Auffassung nimmt Aristoteles hier seine eigene Antwort implizit vorweg. Aber explizit bringt er sie erst in II 7 vor. Physik II 3 – 6 spricht überhaupt nicht von der Natur, sondern erst in 7 kommt Aristoteles darauf zurück. Wie oben angeführt, sagt er dort, Form und Zweck seien Eines. Weder erklärt er uns, weshalb sie Eines sind, noch erläutert er seine Bestimmung der Form als Entstehungszweck in 198b3 – 4 (dasselbe gilt für Met. V 4, 1015a10 – 11). Er tut dies erst später in II 8, aber vorab lässt sich auf II 1 zurückblicken, wo er die Form als entelecheia ausgewiesen hat (193b6 – 8). Form in der Natur, so lässt sich dann vermuten, ist verwirklichte Form. Wenn diese Verwirklichung nicht zufällig geschieht, dann geschieht sie zielgerichtet. Folglich wäre die Verwirklichung der Form der Zweck der Entstehung. Dieses Ergebnis findet sich dann explizit in II 8. Zu Beginn fragt Aristoteles, ob die Natur zu den Zweckursachen gehöre. Man beachte die Bürde dieser Frage. Die Natur ist Form und Materie, wie er in 199a30 – 31 wiederholt. Zu sagen, dass die Natur zweckgerichtet ist, heißt dann sagen zu müssen, dass entweder die Materie oder die Form Zweck ist. Es gibt keinen weiteren Kandidaten für das gesuchte innere Veränderungsprinzip. Daher ist der Zweck nichts anderes als die Form, wie er kurz darauf darlegt: Wenn daher die Schwalbe ihr Nest von Natur aus und um etwas willen baut und ebenso die Spinne ihr Netz und die Pflanze ihre Blätter um der Früchte willen bildet und die Wurzeln zwecks Nahrungsaufnahme nicht nach oben wachsen, sondern nach unten, dann ist es offensichtlich, dass diese Art Ursache in dem vorliegt, was von Natur aus entsteht und ist. Und da die Natur zweifach ist, nämlich wie Materie und wie Form, und Letztere das Ziel ist und alles andere um des Ziels willen, so ist die Form das Worumwillen. (Eigene Übersetzung)184 184
199a26 – 32: ὥστ’ εἰ φύσει τε ποιεῖ καὶ ἕνεκά του ἡ χελιδὼν τὴν νεοττιὰν καὶ ὁ ἀράχνης τὸ ἀράχνιον, καὶ τὰ φυτὰ τὰ φύλλα ἕνεκα τῶν καρπῶν καὶ τὰς ῥίζας οὐκ ἄνω ἀλλὰ κάτω τῆς τροφῆς, φανερὸν ὅτι ἔστιν ἡ αἰτία ἡ τοιαύτη ἐν τοῖς φύσει γιγνομένοις καὶ οὖσιν. καὶ ἐπεὶ ἡ φύσις διττή, ἡ μὲν ὡς ὕλη ἡ δ’ ὡς μορφή, τέλος δ’ αὕτη, τοῦ τέλους δὲ ἕνεκα τἆλλα, αὕτη ἂν εἴη ἡ αἰτία, ἡ οὗ ἕνεκα. Ich lese das griechische morphê hier als extensionsgleich mit eidos und
Die Angabe des Zwecks als Definiens
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An dieser Stelle bringt Aristoteles die oben genannten Gedanken zusammen: Die Natur ist Materie und Form (Physik II 1) und sie ist zweckgerichtet (Physik II 2). Die Form, so sagt er jetzt, ist das Ziel (gemeint ist wohl die Formvollendung). Der Zweck ist dann die Verwirklichung der Form. Aristoteles gesteht zu, dass auch durch Zufall eine Form verwirklicht werden kann. Aber wenn ein Mensch immer nur einen Menschen zeugt (oder meistens, wie er in seiner Formel anfügt), dann geschieht das natürlicherweise (199b19 – 26). Daher schließt er, dass offensichtlich (phaneron, 199b33) die Natur eine Zweckursache ist, und dieser Schluss beruht auf der Annahme, dass die Form Natur ist.
13.2 Der Naturforscher hat primär den Zweck in den Blick zu nehmen
Jedoch hat Aristoteles damit sein Ziel noch nicht erreicht. Wie wir mit Blick auf Physik II 2 gesehen haben, fragte er, ob die Materie und Form gemäß ihrer Zweckgerichtetheit zu betrachten sind. Der letzte Abschnitt von Physik II zeigt uns, dass dies in der Tat das richtige Vorgehen für den Naturforscher ist. Der Naturforscher müsse in der Lage sein, Materie und Form zu bestimmen, am meisten aber den Zweck (200a32 – 33). Im Unterschied zu II 2, wo der Zweck nur hinzugenommen wird (194a26 – 29), weist Aristoteles ihn jetzt als das Wichtigste aus. Warum? Seine Begründung lautet, dass der Zweck die Ursache der Materie ist (aition gar touto tês hylês, 200a33) und nicht umgekehrt. Damit lässt sich, wie oben gezeigt, die Aussage aus Zeta 17, 1041a28–b9 erklären, die Essenz im Sinne des Zwecks sei Ursache dafür, dass die Materie etwas Bestimmtes ist. Gemäß Physik II 9 bestimmt der Zweck die Form der Sägezähne und das Material. Er ist der Ausgangspunkt für die künstliche und natürliche Entstehung, denn auch die Zähne der Lebewesen haben ihre Form aufgrund des gegebenen Zwecks.185 Daher ist der Zweck nicht eine Ursache unter anderen, sondern er ist die primäre Entstehungsursache der Naturdinge. Aristoteles wehrt sich allerdings gegen den Schluss, dass die Annahme einer Zweckursache einen göttlichen Willen auf den Plan rufe (199b26 – 28). Alles, was wir für seine Naturerklärung benötigen, haben wir bereits, nämlich die Verwirklichung der Form als Endpunkt der Entstehung. Zu sagen, dass die Natur Form ist, meint daher nicht, nur das zu wiederholen, was Empedokles und Demokrit to ti esti. Aristoteles scheint die Ausdrücke in Physik II gleichbedeutend zu verwenden, siehe 193a30 – 31, 193b11 u. b18 in Verbindung mit 194a13, 193b4, 198b3). Ich sehe keinen Hinweis für die Richtigkeit von Simplicius’ Vorschlag, wonach in 193a30 – 31 zwei Arten von eidos unterschieden werden: eidos kata tên morphên und eidos kata ton logon, siehe Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria, 276, 24 – 29. 185 Siehe zu dieser Analogie De gen. an. 789b2 – 8.
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Kapitel 13
gesagt haben. Denn für Aristoteles ist dieser Gedanke mit dem Anspruch verbunden, die Regelmäßigkeit in der natürlichen Entstehung zu erklären (also, dass aus einem Menschen immer oder meistens ein Mensch entsteht), und dies gelingt seiner Ansicht zufolge durch Angabe des Zwecks. Das halte ich für den entscheidenden Gedanken in Physik II. Daraus lässt sich jetzt erklären, inwiefern Form, Essenz und logos Entstehungsursache sind. Hierfür brauchen wir die Argumente aus Physik II 1 nicht. Gesucht war ein intrinsisches Prinzip, das Entstehung erklärt, weshalb solches wie eine göttliche Vorsehung bereits ausfällt. Die Naturdinge bestehen ihrem Wesen nach nur aus Form und Materie, weshalb darin das Entstehungsprinzip zu suchen ist. Nimmt man an, dass analog zur Herstellung die natürliche Entstehung einen Zweck hat, und gesteht man Aristoteles zu, dass dieser Zweck die Vollendung der Form ist (und daraus folgend vermutlich die Arterhaltung), dann lässt sich sagen, dass die Form im Sinne der Essenz der Zweck ist, der den Entstehungsprozess von Anfang an bestimmt. Zu sagen, dass der logos Ursache der Entstehung ist, meint dann, dass der Aussageinhalt des Definiens (= Essenz) jene Seinsweise ist, auf die eine natürliche Entstehung von Beginn an abzielt. Damit ist die gesuchte Erklärung gefunden. Analog zur Bestimmung der Substanz als logos liegt der entscheidende Punkt in Aristoteles’ Grundannahme, dass der Aussageinhalt des Definiens eine Seinsweise ist. Diese Annahme wird unter anderem deutlich im ontologischen Quadrat aus den Kategorien, wie sich in Kapitel 4 gezeigt hat.
Kapitel 14 Weshalb die aristotelische Form logos sein muss
In der bisherigen Untersuchung wurde bewusst eine Frage ausgeblendet. Es ging nur darum, Aristoteles’ Bestimmung der Substanz (und damit des Seins- und Entstehungsprinzips) als logos zu erläutern. Die Frage, ob sein Vorgehen überzeugend ist, blieb außen vor. Darauf ist im abschließenden Kapitel einzugehen. Bostock erachtet Aristoteles’ Konzept der Form als »complete failure« und seine Begründung, weshalb das so ist, hängt eng mit der Frage zusammen, ob man Aristoteles darin zustimmen soll, dass die Form logos sei. Solange eidos in den logischen Schriften so etwas wie die dialektische Art meint, so Bostock, sei der Begriff zwar undeutlich, aber durchaus konsistent. Sobald Aristoteles aber beginne, das eidos als Gegenbegriff zur hylê anzusetzen, sei das Konzept nicht mehr zu retten. Das liegt Bostock zufolge daran, dass alles, was nicht Materie ist, jetzt Form sein soll, womit der Formbegriff völlig überfordert sei. Ich denke, dass Bostock mit dieser Diagnose richtig liegt, aber nicht bis zum entscheidenden Punkt vordringt.186 Wie wir gesehen haben, begründet Aristoteles die Bestimmung der Seele als Form damit, dass sie nicht Materie sein kann. Genau genommen sagt er, die Seele sei nichts, von dem ein Substanzprädikat ausgesagt wird, weshalb sie selbst Ausgesagtes sein muss. Das tertium non datur, das Bostock im Blick hat, ergibt sich also aus dem ontologischen Quadrat: Es gibt nur Form und Materie, weil dasjenige, was Substanz genannt wird, entweder ausgesagt wird oder dasjenige ist, wovon etwas ausgesagt wird. Es ist diese dichotomische Struktur der Prädikation, die Aristoteles in der Folge auf das Seiende anwendet, und deshalb ist die Seele entweder Materie oder Form. Aus demselben Grund kommen als Seins- und Entstehungsprinzip nur Materie und Form in Frage. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtung ist sofort klar, weshalb die Form, die der Materie gegenübersteht, logos sein muss, also der Aussageinhalt des Definiens. Analog dazu ist die Materie dasjenige, von dem alles Übrige ausgesagt wird (Zeta 3, 1029a23 – 24). Daher kann die Form nur etwas sein, das ausgesagt wird. Wer daher die Auffassung ablehnt, die Form sei logos, der muss konsequenterweise auch ablehnen, dass die Materie dasjenige ist, von dem letztlich alles ausgesagt wird. Bei Aristoteles ist sie nicht einfach nur das physikalisch Zugrundeliegende, sondern ist vor allem das logisch Zugrundeliegende und deshalb das schlechthin 186
D. Bostock, ›Aristotle’s Theory of Form‹, 79.
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Kapitel 14
Zugrundeliegende, weil er aufgrund seiner Prädikationslehre gar nicht zwischen dem logischen und dem ontologischen Zugrundeliegen unterscheidet. Die Materie ist nicht nur etwas, das der Veränderung zugrunde liegt (Physik II 1, 193a9 – 21 u. a28 – 29), sondern auch logisches Subjekt (siehe Zeta 3, 1029a23 – 24). Kurzum, lehnt man die Idee ab, dass der logos eine Seinsweise ist, so man muss die gesamte aristotelische Anwendung des prädikatenlogischen Konzepts auf das Seiende hin zurückweisen. Das substanziell Seiende würde sich dann nicht im Ausgesagten und Zugrundeliegenden erschöpfen, wie es das ontologische Quadrat vorgibt. Weil für Aristoteles die prädikative Struktur eine Klassifikation des Seienden enthält, ist die Form ausgesagte Seinsweise und die Materie ein Seiendes, das dem Aussagen zugrunde liegt. Für uns ist es dabei einleuchtender, dass dasjenige, was der Prädikation und der Veränderung zugrunde liegt, etwas Seiendes ist, als dasjenige, was ausgesagt wird und verwirklicht wurde. Sprich, dass die Materie primär Seiendes ist, leuchtet uns mehr ein als der Gedanke, dass die ausgesagte Form Seiendes ist. Die Form ist eigentlich nur insofern Seiendes, als sie wahr von etwas Vorliegendem ausgesagt wird. Weil sie dabei aber anders als die Materie Bestimmtheit mit sich führt und die Bestimmtheit für Aristoteles ein fundamentales Seinskriterium ist, kann er sagen, dass die Form mehr Substanz sei als die Materie (Zeta 3, 1029a29 – 30). Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt dahin, die Substanz als logos zu verstehen, sprich als Aussageinhalt des Definiens, denn diese Seinsweise macht die Bestimmtheit einer Sache aus. Wer daher den Gedanken, die Substanz sei logos, als absurd erachtet, der muss, so meine Diagnose, bereits den aristotelischen Formbegriff zurückweisen. Das Problem, auf das Bostock hinaus will, bleibt davon unberührt, denn es ist das folgende. Es spricht wenig gegen den Gedanken von Aristoteles, dass die Materie ein Vermögen ist, etwas Bestimmtes zu sein. Bauholz hat das Vermögen, ein Haus zu werden, ein Boot oder ein Bett. Analog dazu bestimmt Aristoteles die Form als das Verwirklichte. Was aber wird bei der Entstehung eines Naturdings oder Artefakts eigentlich verwirklicht? Man darf sagen, dies sei zum Beispiel die sichtbare Gestalt. Aber die sichtbare Gestalt ist Aristoteles zufolge nicht Substanz, denn sie ist akzidentell. Auch die Anordnung des Baumaterials oder der Elemente ist nicht Substanz, wie wir gesehen haben, denn sie erklärt nicht, weshalb ein Mensch immer aus einem Menschen erzeugt wird oder weshalb die Schneidezähne scharf sind, die Backenzähne hingegen abgeflacht. Dass die Substanz nicht die sichtbare Gestalt sein kann, ist platonisches Erbe. Das platonische eidos meint etwas Allgemeines und Unveränderliches. Dass die Substanz nicht Anordnung oder Struktur sein kann, hängt mit Aristoteles’ Anspruch zusammen, die Angabe der Substanz müsse auch erklären, weshalb Dinge immer (oder meistens) auf die gegebene Weise entstehen.
Weshalb die aristotelische Form logos sein muss
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Folglich muss die aristotelische Form mindestens zwei Dinge erfüllen: Sie muss Wesensprädikat sein (dies ist Platons Erbe) und sie muss dasjenige Naturprinzip sein, das die Naturnotwendigkeit erklärt. Man sieht leicht, dass ein und dieselbe Form damit womöglich überfordert ist. Noch schwieriger wird es, wenn im Falle der Lebewesen gerade diese Form auch noch Bewegungsprinzip sein soll. Kaum verwunderlich zielt Bostocks Kritik daher vor allem auf den Formbegriff aus De anima ab. Zu Recht wendet er ein, dass die Form prinzipiell etwas Allgemeines ist (nämlich Ausgesagtes) und daher die Idee, die Seele sei Form, mit der Individualität der Lebewesen kollidiere. Eine Seele habe eigene Wahrnehmungen und Gedanken, und das passe nicht zur Form im Sinne der Spezies und Essenz.187 Spätestens hier gäbe es Anlass für Aristoteles, seine Dichotomie des primär Seienden in Form und Materie zu überdenken. Es ist nur konsequent von Aristoteles, wenn der logos diesen Weg der Form stets mitgeht. Die Substanz ist Form, folglich ist sie logos. Die Form ist Naturprinzip, folglich ist der logos Naturprinzip. Schließlich ist die Seele Form, und daher ist sie logos, sprich, das Definiens, das von einem lebendigen Körper ausgesagt wird. Das Verwunderliche ist also nicht Aristoteles’ Bestimmung der Substanz und der Seele als logos, sondern sein Formbegriff. Diese Erläuterungen zur Rede vom logos finden sich, so weit ich sehen kann, nirgendwo in der langen Kommentartradition. Es ist auffallend, dass bereits Alexander von Aphrodisias und Simplicius in ihren Kommentaren zur Physik mit der Bestimmung der Form als logos wenig anfangen konnten. Dies zeigt sich besonders deutlich an ihrer Kommentierung einer Passage aus Physik II 3, wo Aristoteles die Formursache wie folgt bestimmt: Eine andere Ursache ist die Form (eidos) und das Vorbild (paradeigma), und dies ist der logos des ti ên einai und die Gattungen desselben (wie für den Oktavklang der logos das Verhältnis zwei zu eins ist und im Gesamten die Zahl) und die Teile dessen, was im logos enthalten ist. (Eigene Übersetzung)188
Zweifellos überrascht hier der Ausdruck paradeigma. Vermutlich ist das »und« epexegetisch zu lesen: eidos und paradeigma beziehen sich auf dieselbe Sache. Ungeachtet der Frage, weshalb Aristoteles hier vom paradeigma spricht, ein Ausdruck, den er ansonsten gering schätzt, bestimmt er die fragliche Formursache zweifelsfrei als logos, und weshalb er dies tut, wurde dargelegt.189 187
›Aristotle’s Theory of Form‹, 100 – 101. Physik II 3, 194b26 – 29 (= Met. V 2, 1013a24 – 29): ἄλλον δὲ τὸ εἶδος καὶ τὸ παράδειγμα, τοῦτο δ’ ἐστὶν ὁ λόγος ὁ τοῦ τί ἦν εἶναι καὶ τὰ τούτου γένη (οἷον τοῦ διὰ πασῶν τὰ δύο πρὸς ἕν, καὶ ὅλως ὁ ἀριθμός) καὶ τὰ μέρη τὰ ἐν τῷ λόγῳ. 189 Aristoteles zufolge haben haben die Platoniker die Ideen als paradeigmata benannt, was er als leeres Geschwätz abtut (Met. I 9, 991a21; XIII 5, 1079b25). Mit Blick auf Zeta 8, 1034a2 ließe 188
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Kapitel 14
Alexander erklärt in seiner durch Simplicius überlieferten Kommentierung, bei dem paradeigma handle es sich um die fertige Form, die als Vorbild diene für das, was entstehen soll, und so die Entstehung mitverantworte. Er kann dazu zweifelsohne auf Physik II 7 verweisen, wo Aristoteles Form- und Zweckursache zusammenzieht (siehe Kapitel 13). Simplicius wendet ein, Aristoteles bestimme an dieser Stelle nicht die Finalursache als paradeigma, sondern die Formursache, weshalb Alexanders Interpretation fraglich sei. Nicht das Entstandene sei paradeigma, so Simplicius, sondern das Hervorbringende. Damit bürdet sich Simplicius die Last auf, zu erklären, inwiefern das Hervorbringende (to poioun) ein logos sei, ein mit Blick auf Aristoteles aussichtslosen Unterfangen. Bemerkenswert ist hierzu, dass Alexander in diesem Kontext angibt, das Naturgeschehen sei alogos.190 Damit meint er nicht etwa, dass es keinerlei logos bedarf, um das Naturding zu etwas Bestimmtem zu machen, sondern er will damit sagen, dass die Entstehung der Naturdinge unabsichtlich geschehe, ohne göttlichen Lenker. Den Umstand, dass Aristoteles gerade auch an dieser Stelle die Formursache als logos bestimmt, freilich in einer anderen Bedeutung als der Absicht, lässt er dabei außen vor. Alexander von Aphrodisias’ pauschale Aussage klingt so, als wisse er mit der Bestimmung der Formursache als logos wenig anzufangen. Simplicius versucht, dieser Bestimmung gerecht zu werden, sieht sich aber wegen der Unterscheidung von Form- und Finalursache gezwungen, einen logos anzunehmen, der von vorn herein vorliegt (prohyparchonta, 313, 25 – 26) und die Entstehung bedingt. Diesen logos, den er weitgehend im Dunkeln lässt, unterscheidet er von dem erkennend wirksamen logos und nennt ihn den fassbar und begrenzend hervorbringenden logos (tetagmenôs kai hôrizomenôs, 313, 31). Für solch eine Unterscheidung gibt es keine Textgrundlage bei Aristoteles, und Simplicius’ Verweis auf De gen. et corr. II, wo Aristoteles die Natur logos nenne, stützt die Unterscheidung in keiner Weise. Auch hätte Simplicius für die Auffassung, dass die Natur logos ist, nur zurück auf Physik II 1, 193b1 – 2 schauen müssen, und an dieser Stelle wird sogleich klar, dass dieser logos nichts anderes ist als das Definiens. Ich schließe daraus, dass weder Alexander noch Simplicius mit der Rede vom logos als Substanz und Naturprinzip viel anfangen konnten. Daher wundert es kaum, dass auch das Mittelalter wenig dazu zu sagen wusste und meist einfach sich einschränkend sagen, er habe weniger etwas gegen den Ausdruck als gegen seine unklare Verwendung bei den Platonikern, weil die damit bezeichnete Sache nebulös bleibt. Bostocks Anmerkung zu dieser Physik-Passage, bei dem Ausdruck paradeigma handle es sich eigentlich um »a Platonic word for Platonic forms«, ist sicherlich richtig, siehe ›Aristotle’s Theory of Form‹, 84. 190 Simplicii in Aristotelis physicorum libros octo commentaria, 310, 35 – 311, 1.
Weshalb die aristotelische Form logos sein muss
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von ratio spricht, ohne in ihren Kommentaren zu Aristoteles klarzumachen, weshalb die ratio Seins- und Entstehungsprinzip ist. In der modernen deutschsprachigen Philosophie hat man sich als Übersetzung den Ausdruck »Begriff« zurechtgelegt, der undeutlich genug ist, um als harmloser Platzhalter für Aristoteles’ logos herzuhalten, und dasselbe gilt für den im Englischen verwendeten Ausdruck »account«. Der fragliche logos ist das Definiens, genauer dessen Aussageinhalt. Sofern die Substanz Form ist, ist sie genau dieses, nämlich das, was von der jeweiligen Sache aufgrund ihrer selbst ausgesagt wird. Wenn die dargelegten Ausführungen richtig und zureichend sind, sollte jetzt klar sein, weshalb der logos Substanz und damit Seins- und Entstehungsprinzip ist. Wer es als unsinnig erachtet, den logos als Seinsweise aufzufassen, muss gleichermaßen die aristotelische Prädikationslehre sowie seine Ontologie ablehnen.
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Plotins Schriften in zwölf Bänden Die Pionierleistung von Richard Harder, Rudolf Beutler und Willy Theiler, in den Jahren 1930–1937 die erste kommentierte deutsche Gesamtausgabe erarbeitet zu haben (seit 1956 mit griechischem Text), gilt nach wie vor als Standardwerk, insbesondere hinsichtlich der Zählung und Anordnung der 54 einzelnen Enneaden.
»Una edición revolucionaria« El Comercio
Die Schriften 1–54 der chronologischen Reihenfolge (Enneaden). Je sechs Text- und Anmerkungsbände sowie Anhang und Indices. Anhang: Porphyrios, Über Plotins Leben und über die Ordnung seiner Schriften, sowie Indices (verbunden mit einem Überblick über Plotins Philosophie und Lehrweise). Griechisch–deutsch Philosophische Bibliothek 211a–215c und 276 Zusammen 3.041 Seiten. 978-3-7873-1709-7 Leinen (auch einzeln erhältlich)
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