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German Pages 28 Year 1999
Geisteswissenschaft
Julia Schröder
Architektonische Utopien
Studienarbeit
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Impressum: Copyright © 1999 GRIN Verlag ISBN: 9783638117852
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Julia Schröder
Architektonische Utopien
GRIN Verlag
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Universität Osnabrück SS 1999 Fachbereich Sozialwissenschaften Seminar: Von „Utopia“ bis „Ökotopia“Traditionen und Perspektiven utopischen Denkens in der Neuzeit
Referatsthema:
„Architektonische Utopien“
Referentin: Julia Schröder 2. Semester: Literaturwissenschaften Medienwissenschaften Soziologie 23.10.1999
Inhaltsverzeichnis 1.
Einleitung: .................................................................................................... 3
1.1.Was ist eine architektonische Utopie? .................................................................. 3 1.2.Das Verhältnis des Menschen zur Architektur: ..................................................... 4 2.
Beispiele für utopische Architektur: .......................................................... 6
2.1.Renaissance: ........................................................................................................ 6 2.2.Die Gartenstadt: ................................................................................................... 7 2.3.Architektur und Städtebau mit utopischem Gehalt nach dem 1. Weltkrieg: .......... 7 2.3.1. Bauhaus ......................................................................................................... 8 2.4.
Utopische Architektur in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts:
„Archigram“: ................................................................................................. 10 3.
Hat die architektonische Utopie eine Zukunft? ....................................... 15
4.
Schlussbemerkung: ................................................................................... 20
Literaturverzeichnis: .............................................................................................. 22
2
1.
Einleitung:
Anhand des Referates über architektonische Utopien soll die Relevanz der Thematik für die Soziologie differenziert beleuchtet werden. Schwerpunkt der Arbeit bildet dabei die Frage, ob es überhaupt jemals eine „Architektur des Glücks“ gab und inwieweit eine Einflussnahme der Architektur auf den Menschen und die Gesellschaft möglich war, ist und sein könnte. Zunächst steht der Begriff der architektonischen Utopie im Mittelpunkt der Betrachtungen. Dabei werden verschiedene gedankliche Entwicklungen im Bezug auf den Wirkungszusammenhang von Mensch und Umwelt angerissen. Es folgen einige Beispiele für architektonische Utopien oder Städtebau mit utopischem Gehalt und Überlegungen zu ihrer Effektivität. Anschließend wird die gegenwärtige Situation des Städtebaus, ihre Trends und ihre mögliche Weiterentwicklung untersucht. In dem Zusammenhang soll auch auf die daraus resultierenden Probleme und Veränderungen für die Gesellschaft und Umwelt eingegangen werden. In der Schlussbemerkung werden Vorschläge für eine mögliche bessere Architektur formuliert.
1.1. Was ist eine architektonische Utopie? Ursprünglich gab es keine selbständigen architektonischen Utopien, sie waren vielmehr Beiwerk anderer, komplexerer Utopien, wie z. B. von Staatsutopien oder Sozialutopien. Grundsätzlich gibt es einige architektonische Utopien, die sich in zwei Kategorien unterteilen lassen: In die technische Stadtutopie und in die politisch-soziale Stadtutopie. Die technische Stadtutopie umfasst allein das materiell-räumliche, die greifbar baulichen Elemente, also das äußere Erscheinungsbild einer Stadt. Die politisch-soziale Stadtutopie bezieht zusätzlich mehrere Teilbereiche ein. Die einzelnen räumlichen Konstellationen, die spezifischen Ausprägungen und die Zuordnung der technischen Elemente in der Stadt sind in ihrer Entstehung und Nutzung mit politisch-sozialen Aspekten verknüpft. Die politisch-soziale Stadtutopie interessiert sich also auch für die Wirkung der Architektur auf Mensch und Gesellschaft. 3
Ziel der architektonischen Utopien ist es, durch das Schaffen einer idealen Umwelt oder Architektur einen „neuen“ oder idealen Menschen bzw. ganze Gesellschaften zu formen. Bis in die 70er Jahre waren Architekten und Stadtplaner der Meinung, dass bauliche Strukturen sowohl individuelles als auch soziales Verhalten eines Menschen maßgeblich
verändern
können.
Diese
Denkweise
entspricht
dem
„Umweltdeterminismus“1. Der Wirkungszusammenhang von Architektur und menschlichem Verhalten, das haben weitergehende Forschungen auf diesem Gebiet ergeben, ist jedoch viel komplexer. In den 20er und 30er Jahren entwickelte sich eine neue Denkweise, die mit „Possibilismus“2 bezeichnet wird. Diese geht davon aus, dass die physische Umwelt den Rahmen mit bestimmten Angeboten bildet. Der Mensch wählt aus und handelt darin aufgrund anderer, kultureller Kriterien. Heute dominiert die „probabilistische“3 Sichtweise. Diese besagt, dass die Umwelten gewisse Verhaltensmöglichkeiten anbieten, jedoch nicht determinieren. Bestimmte Verhaltensweisen und Aneignungsstrategien sind durch sie aber nahegelegt und damit wahrscheinlicher. Aus dieser Perspektive wird der Umwelt eine gewisse prägende Kraft zuerkannt, deren Wirkung aber von vielen Faktoren verändert und beeinflusst werden kann. Räumliche Strukturen können soziales Verhalten also beeinflussen, bestimmen es aber nicht.
1.2. Das Verhältnis des Menschen zur Architektur: Der Mensch muss, um leben zu können, einen „Ausschnitt der Welt“4 bearbeiten, sich ein Umfeld, einen Lebensraum schaffen, der ihm die Sicherheit gibt, seine Bedürfnisse langfristig befriedigen zu können.
1 2 3 4
Heike Lauer. In: Leben in Neuer Sachlichkeit: Zur Aneignung der Siedlung Römerstadt in Frankfurt am Main. Frankfurt am Main: Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, 1990. ebenda ebenda ebenda
4
Der Mensch tut das als Mitglied einer kulturellen Gruppe, jede Gruppe wiederum auf ihre Weise. Jede kulturelle Gruppe hat ein spezifisches Werte- und Normensystem, durch dessen Aneignung die Umwelt ein kulturadäquates Gepräge erhält. Jede kulturelle Gruppe hat auch eine eigene Symbolik, die sich z. B. in der eigenen Sprache ausdrückt. Die Symbolsprache und die gemeinsamen Werte und Normen wirken integrativ auf die kulturelle Gruppe ein. Das Verständnis der „Sprache des Raumes“5 und die Übereinstimmung
mit
dem
darin
zum
Ausdruck
kommenden
Werte-
und
Normensystem bilden die Voraussetzung für eine befriedigende Beziehung zwischen Menschen und ihren Umwelten (die dann kulturspezifische sind). Doch bevor sich die These des Probabilismus in weiten Teilen der Architektur und Sozialwissenschaft
durchsetzte,
wurden
in
fast
allen
Epochen
der
Menschheitsgeschichte Versuche unternommen, die Menschen durch gebaute Umwelt zu verändern, im Selbstverständnis der Planer zu verbessern und damit in eine verheißungsvolle Zukunft zu führen. Um einen Eindruck und ein besseres Verständnis von architektonischen Utopien und ihren Ansätzen zu erlangen, sollen im Folgenden einige dafür repräsentativen Beispiele aus der Vergangenheit angeführt und ihre Erfolgsaussichten untersucht werden.
5
ebenda
5
2.
Beispiele für utopische Architektur:
2.1. Renaissance: Mit der Renaissance begann die Hinwendung zu machbaren und planbaren Städten. In der utopischen Architektur dieser Epoche wurde großer Wert auf Geometrie und Symmetrie gelegt. Das Zauberwort unter den Architekten hieß „Begradigung“: „Der schöne Mensch, das symmetrische Gebäude, die regelmäßige Stadtanlage, mathematisch nachvollziehbare Formen, beim Körper und beim Staatsgebilde, galten lange als Grundlage irdischen Glücks.“6 Es wurde eine Gleichung aufgestellt, die besagt, dass derjenige, der in der Geometrie lebt, vom Wesen her sanft und berechenbar wird. Die Utopisten Thomas Morus und Campanella gingen davon aus, dass ein idealer Stadtplan eine ideale Gesellschaft hervorbringen müsse. „Die Menschen sollten mit rechten Winkeln auf den rechten Weg gebracht werden.7 Die Utopisten und Architekten der Renaissance waren Gleichgewichtsfanatiker, die das Chaos hassten. Sie wollten „das Leben durch rationale Muster regulieren und meistern“. Die Geometrisierung ist vielleicht als Versuch zu sehen, das den Menschen umgebende Chaos in eine Ordnung einzufügen und somit das innere Chaos einzudämmen. Ziel der architektonischen Utopien der Renaissance war die totale Überschaubarkeit: „wer eine Stadt kennt, kennt sie alle!“ oder „wo alles gleich ist, ist man auch zugleich an jedem Ort“ Man wollte die Welt so einrichten, dass der entfernteste Ort und die entfernteste Zukunft überschaubar ist. Bemerkenswert ist dabei, dass in der ersten Idealstadt niemand wohnen wollte. Man musste Sträflinge dort ansiedeln. Dies zeigt, dass die utopische Stadt der Renaissance nur in der Vorstellung der Architekten ein Paradies unter den Städten war. Normale Menschen konnten sich dort nicht wohl fühlen. Totale Überschaubarkeit durch geometrische Formen hat auch einen kalten und unmenschlichen Beigeschmack. Vielleicht war diese starke 6
Michael Winter: Idealstädte (2): Durchblick zum Glück: Wie Visionäre und Architekten das Heil der Menschen in der Liebe zur Geometrie suchen. München: Süddeutsche Zeitung, 7.1.1999. Alle nachfolgenden Zitate beziehen sich auf diesen Artikel.
6
Symmetrie für die Menschen eine zu starke Entfremdung von der Natur und ihren unregelmäßigen Formen, die Bewegung und somit Leben verkörpern. Auch die natürlich angelegte Neugierde eines jeden Menschen hätte in dieser überschaubaren Stadt keine Befriedigung erfahren. Der Mensch ist wohl doch an ein gewisses Maß von Chaos um sich herum gewöhnt.
2.2. Die Gartenstadt: Die Gartenstadtbewegung entstand Ende des vergangenen Jahrhunderts in England und breitete sich nach der Jahrhundertwende in anderen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, aus. Eine Gartenstadt ist in der Nähe einer Zentralstadt, also einer großen Stadt, angesiedelt und mit dieser durch eine gute Infrastruktur verbunden. Sie ist, wie die Zentralstadt
mit
verschiedenen
Einkaufsmöglichkeiten,
Kulturangeboten,
Krankenhäusern und Schulen ausgestattet, allerdings im geringeren Maße. Die Gartenstadt galt Anfang des Jahrhunderts als Ideallösung zwischen einer Stadtund einer Landsiedlung, da sie sowohl die Vorteile des Stadtlebens als auch die des Landlebens vereinte: „Schönheit der Natur; Geselligkeit; Park, Flur und Hain; niedrige Mieten, hohe Löhne; stets Arbeit; reine Luft und reines Wasser; soziale Harmonie“8. Die Idealvorstellungen der Gartenstadt konnten natürlich nicht alle verwirklicht werden. „Soziale Harmonie“ z.B. kann nicht, wie bereits in der Einleitung erwähnt, allein das Produkt einer idealen Stadtplanung sein. Es existieren zwar heute einige Gartenstädte, jedoch unterscheidet sich das Leben der Menschen dort nicht oder kaum von dem der normalen Stadtmenschen.
2.3. Architektur und Städtebau mit utopischem Gehalt nach dem 1. Weltkrieg: Nach dem Krieg sah man in den neuen technischen Grundlagen die Chance zu einem kulturellen Neuanfang. Das kulturelle Schaffen sollte wieder mit technischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten in Einklang gebracht werden. Diese neue Motivation wurde allgemein als „Fortschrittsoptimismus“9 bezeichnet. 8 9
Axel Schollmeier: Gartenstädte in Deutschland. In: Ihre Geschichte, städtebauliche Entwicklung und Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Münster: LIT Verlag, 1990. Mechthild Schumpp: „Stadtbau- Utopien und Gesellschaft- Der Bedeutungswandel utopischer tadtmodelle unter sozialem Aspekt“. Gütersloh: Bertelsmann Verlag, 1972.
7
Walther Gropius beschreibt, „ein neues Zeitalter sei angebrochen, in dessen Mittelpunkt ein neuer Mensch und eine neue Kunst stehen.“10 Man distanzierte sich von der traditionellen Architektenrolle, und wendete sich dem Massenwohnungsbau zu. Das Kriegserleben prägte eine egalitäre Gesinnung und soziales Engagement. Es wurde nach Wohn- und Lebensformen gesucht, die zum einen zeitgemäß und zum andern für alle Schichten gültig sein sollten. Intention der neuen Architektur war also auch die Aufhebung der Klassen innerhalb der Gesellschaft. Die Architekten verstanden sich als Kulturarbeiter und wollten durch das „neue bauen“ auch das Werte- und Normensystem, die Verhaltensweisen und die gesamte Lebenspraxis der Masse erneuern.
2.3.1.Bauhaus Die Bauhaus- Architektur strebte nach Vereinigung von Kunst und Alltag. Der industrielle Alltag sollte nicht länger verdrängt werden, sondern in neuer Gestaltung Ausdruck finden. Es sollte keine Flucht aus der Realität stattfinden, es durfte also weder mit Stuck noch mit Ornamenten gearbeitet werden, da diese an die Architektur vergangener Zeiten erinnerten. Stattdessen wurde die Entwicklung zweckgemäßer und industriell produzierbarer Formen vorgezogen. Ein schlichtes Design setzte sich durch, das an die Bedingungen der Technik, Sachlichkeit, Klarheit und der Funktionalität angeglichen war, also auf jegliche Schnörkel verzichtete. Es sollte eine völlig neue Umwelt geschaffen werden, eine Welt der prinzipiellen Funktionalität und Rationalität, von der man sich die Formung eines neuen Menschen und einer neuen Kultur versprach. Es entstanden ganze Siedlungen in Neuer Sachlichkeit, die von den Ideen des Bauhauses beeinflusst waren. Die Häuser wiesen geometrisch- abstrakte, einfache Formen auf und beim Anstrich wurden die Grundfarben verwendet oder meistens weiß. Die „Maschinenästhetik“11 der Siedlungen sollte die Menschen zur gedanklichen Auseinandersetzung mit ihrem Alltag erziehen. Bezeichnend für diese Art von 10 11
ebenda ebenda
8
Architektur war, dass individuelle Elemente immer auf die Gemeinschaft und die Gesellschaft verwiesen. In Dessau zum Beispiel wurde ein Baukastensystem für funktionale Wohnungen errichtet, in dem alle Zimmer um das zentrale Wohnzimmer gruppiert waren. Andernorts gab es transparente Bauwerke aus Glas und Stahl, die die Aufhebung der Trennung von Innen- und Außenräumen symbolisieren sollte. Bauwerke in dieser Form galten als angemessen für eine demokratische Gesellschaft. Sie sollten die Durchdringung und Versöhnung der individuellen und der gesellschaftlichen Sphäre symbolisieren. Eine weitere Idee, die dahinter steckte, war wohl das Bemühen, einen Kontrast zu der chaotischen Zerrissenheit der Umwelt nach dem Weltkrieg, eine „Insel der Konzentration“, „eine Einheit inmitten eines brennenden Landes“12 zu schaffen. Die Bauhaus- Architektur machte sich zur Aufgabe, im Sinne der Einheit, Ganzheit, Harmonie und Gemeinschaft zu entwerfen und zu bauen. Gropius begriff das Bauhaus als eine AG von Werkkünstlern, die Bauwerke in ihrer GESAMHEITRohbau, Ausbau, Ausschmückung, Einrichtung- gleichgeartetem Geist einheitlich zu gestalten weiß. Einheitliche Gestaltung auf allen Ebenen (von Kuchengabel über Möbelstücke bis hin zur ganzen Stadt), aus der „Einheit des modernen Bewußtseins“13 entstanden, sollte eine kulturelle und gesellschaftliche Einheit hervorbringen. Entgegen der Vorstellungen der Bauhaus- Vertreter richteten sich die Bewohner der funktional- sachlich gestalteten Häuser nicht dementsprechend spartanisch ein, um so dem Ideal im Sinne der Einheit auf allen Ebenen gerecht zu werden. Dieses Ideal war von vornherein zum Scheitern verurteilt, da Menschen sich nur dort wohl fühlen, wo sie die Möglichkeit haben, ihren Lebensraum individuell und nach eigenen, ganz persönlichen Vorlieben zu gestalten.
12 13
ebenda ebenda
9
2.4. Utopische Architektur in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts: „Archigram“: Als viertes Beispiel für Architektur mit utopischem Gehalt soll nun „Archigram“14 dienen. Dieser Name war Titel einer seit 1961 erscheinenden Zeitschrift, die von einer Gruppe junger Londoner Architekten und Architekturstudenten gegründet wurde und auch heute noch für eine schillernde, phantastische Zukunftswelt steht. Namentlich zusammengesetzt aus „Architecture“ und „Telegram/Aerogram“ sollte „Archigram“ die Dringlichkeit der publizierten Anliegen und den Kontrast zur übrigen Architekturszene verdeutlichen. In neun Ausgaben zwischen 1961 und 1974 stellte die gleichnamige Gruppe (die bedeutendsten Mitglieder seien hier genannt: Peter Cook, David Green, Mike Webb, Warren Chalk, Dennis Crompton und Ron Herron) auf für damalige Verhältnisse „ungewöhnliche Art mit Hilfe von Comics, Science Fiction und bunten Collagen die Manifeste und Utopien“ vor. Seit seinem Start wurde in kurzer Zeit aus dem ehemals studentischen Protestblatt „Archigram“ ein „international einflussreiches Sprachrohr und (Architektur-) Diskussionsforum“. Im Folgenden sollen die besonderen Ideen und Konzepte der dort vertretenen Architektur vorgestellt, auf ihren utopischen Gehalt hin untersucht und abschließend bewertet werden. Obwohl mit „Archigram“ mehrere Architekten unterschiedliche Entwürfe vorlegten, so ist ihnen allen doch eins gemeinsam: Die neue Architektur sollte „wirkliche und imaginäre, formale und inhaltliche Schranken niederreißen, auf dem Papier genauso wie in gebauter Form“. Alle bisher geltenden Werte und Normen sollten dem Geist der sechziger Jahre entsprechend hinterfragt und in letzter Konsequenz umgestoßen werden. Das Ergebnis war eine Architektur, die auf dem Prinzip der Veränderbarkeit und Mobilität basierte. In den Vorstellungen der Gruppe entstand eine Welt, die mit den Worten „Fun and Flexibility“ begrifflich fassbar gemacht werden kann. Nichts durfte mehr statisch sein, alles sollte möglich sein und nur so lange Bestand haben, wie der Mensch seinen Nutzen daraus ziehen kann. Die einsetzende Technisierung der menschlichen Lebenswelt, die aufstrebende Raumfahrt, der Einsatz von Computern, die Entwicklung einer durch Popkultur und Massenmedien geprägten Gesellschaft wurde von den Planern damals äußerst optimistisch und euphorisch angesehen. In ihrer Phantasie entstand eine hochtechnisierte Welt, die die 14
http://www.jgp.uni-stuttgart.de/epb/html/referat/archigram.html
10
Lebensverhältnisse und -gewohnheiten der Menschen maßgeblich verändern sollte. Konkrete Umsetzung erfuhren diese Gedanken in fünf Hauptentwürfen: Die „Einstöpsel-Stadt/ Plug-in-City“ (Peter Cook), die „Computerstadt/ Living 1990“ (Dennis Crompton), die „Wandernde Stadt“ (Ron Herron), die „Unterwasser-Stadt“ (Warren Chalk), die „Instant-Stadt“ (Peter Cook). Grundlage dieser Entwürfe war ein grundlegend neues Verständnis von der Wohneinheit. Wie das Motto „Fun and Flexibility“ vermuten lässt, sollte nicht für die Ewigkeit gebaut werden – alles würde in ständiger Bewegung bleiben. Die Wohneinheit wurde als vorübergehender Unterschlupf zum Wegwerfprodukt oder Konsumgut. Was sich in anderen Bereichen der Gesellschaft damals schon durchsetzte, sollte nun auch für die Architektur gelten. Peter Cook formuliert dies 1963 in „Archigram3“ so: „Wir gewöhnen uns immer mehr an die Idee, daß man Kleidungsstücke Jahr für Jahr neu anschafft, statt sie so auszuwählen, daß sie uns über Jahre erhalten bleiben können. [...] Wir müssen dies als ein heilsames, ganz und gar positives Zeichen ansehen. Es spricht für eine hochentwickelte Verbrauchergesellschaft und nicht für eine stagnierende (und deshalb letztlich verfallende) Gesellschaft.[...] Wahrscheinlich können wir erst dann, wenn auch unsere Wohnung und unser Freizeit- und Arbeitsplatz als Verbrauchsgüter angesehen werden, die man ‘von der Stange‘ kaufen kann, mit der Konzeption einer Umwelt beginnen, die wirklich zur Entwicklung der menschlichen Kultur beiträgt.“ Dieser Gedanke wird dann auch konsequent umgesetzt, z.B. in „Plug-in-City“. "Das Haus ist ein Geraet, das man mit sich herumtraegt, die Stadt ist eine Maschine, um sich einzustoepseln."15 „Die 'Plug-in City' besteht aus einem grossmassstaeblichen regelmaessigen Tragwerk, das alle technischen Dienste und alle Erschliessungswege zu jedwedem Ort enthaelt. In dieses Tragwerk werden Wohneinheiten mit allen Funktionen eingehaengt. Diese Wohneinheiten sind so geplant, dass sie, wenn veraltet, entfernt werden koennen. Sie werden durch Kraene bewegt, die von Schienen oberhalb des Tragwerks aus manoevriert werden. Zusaetzlich zu den grossen Kranbahnen gibt es kleinere
Kraene
und
mechanisierte
Gleitbahnen
und
Telescoparme.
[....]
Fussgaengerstrassen sind meist senkrecht zu den Hauptwegen angeordnet. Wenn sie von Hauptgeschoss zu Hauptgeschoss fuehren, gibt es meist kleine Fahrzeuge
11
oder Kabinen ('Travelators'), zur Ueberwindung einzelner Geschosse gibt es Treppen oder Aufzuege.[....] Geschossflaechen werden dort eingehaengt, wo sie notwendig sind. [....] Die untere Mittelzone wird normalerweise Geschaefte und Wege zum Bummeln aufnehmen. Hier wird der zentrale Platz entstehen, hier werden die Fahrstuehle mit hohen Geschwindigkeiten enden."16 Die Archigram - Gruppe wollte sich weiterhin nicht damit abfinden, dass Bewohner unterschiedlicher Städte bestimmte Nachteile durch die bloßen Ortsbedingungen z.B. in kultureller oder wissenschaftlicher Hinsicht haben. Reisende Städte sollten einen Ausgleich und einen Austausch dieser Güter ermöglichen. Die schnell auf- und abbaubare Stadt „Instant City“ wurde geboren: "In den meisten zivilisierten Laendern bleiben die Gemeinden und ihre regionalen Kulturen in ihrer Entwicklung verzoegert, sie empfangen nur wenige Impulse und beneiden deshalb manchmal die eher bevorzugten Metropolen. [....]Dem entgegen steht die Ablehnung der Metropolen in ihrer physischen Beschaffenheit, und es entsteht ein eher paradoxer Wunsch: wenn wir nur an all dem teilhaben - und dennoch bleiben koennten wo wir sind. Das Projekt 'Instant City' reagiert auf diesen Widerspruch mit der Idee einer 'reisenden Stadt', die als Paket verschnuert, in die Gemeinden kommt und ihnen eine Kostprobe grossstaedtischer Dynamik mitbringt, sich voruebergehend im oertlichen Zentrum niederlaesst.[....] Die wahrscheinlichsten Komponenten
sind:
audiovisuelle
Ausstellungssysteme,
Fernsehprojektionen,
Schaubuden auf Raedern, pneumatische und leichte Strukturen, Vorfuehrungen, Ausstellungen, Hubpodeste und elektrisches Licht.[....] Die 'Stadt' bleibt fuer eine bestimmte Zeit. Sie zieht dann um zum naechsten Ort.[....] Zu dem Programm gehoert auch, dass der Reiseweg zu den Gemeinden, die in Frage kommen, festgelegt und deren vorhandenes Angebot (Clubs, oertliche Sender, Universitaeten, etc.) vorher ermittelt wird, so dass das verfuegbare 'Stadt-Paket' immer das Bestehende ergaenzt und nicht als etwas Fremdes hinzukommt."17 Im letzten Schritt schafft der Mensch sich in den Lebenswelten von „Archigram“ seine Realität selbst. Alle Wohneinheiten sind bis ins letzte Detail veränderbar und formbar – ganz nach den individuellen Vorstellungen der Bewohner. Die Computer – Stadt/ Living 1990:
15 16 17
David Green , "Living Pod" - 1966 Peter Cook , "Plug-in City" - 1964 Archigram Group, "Instant City" - 1968
12
"Wände, Boden und Decke sind in diesem Entwurf nur Möglichkeiten von Wänden, Boden und Decke, die sich ausrichten an den persönlichen Wünschen. Die Umfassung der Wohnung ist nun nicht mehr starr, sondern anpassungsfähig, sie ist programmiert, sie lässt sich nach oben oder unten, nach innen und aussen bewegen. Selbst die Oberfläche des Fussbodens ist veränderlich: an manchen Stellen kann man sie so hart werden lassen, dass man darauf tanzen, oder so weich und nachgiebig, dass man darauf sitzen kann. Die Sitzmöbel und Schlafmöbel sind aufblasbar, und selbst das Gewicht der Decken und Kissen kann vom Nutzer selbst bestimmt werden. Der alte Traum vom beweglichen Stuhl wurde weiterentwickelt zu einem Autostuhl.[....] Die Roboter können Trennwände ausfahren, um jeden gewünschten Raum abzutrennen. Dann senkt sich die Decke in diesem Bereich, und jeder, der einen abgeschiedenen Raum braucht, hat ihn schon."18 Auch wenn heute immer mehr die Entwicklung hin zu computergesteuerten Häusern zu beobachten ist, konnte Archigram sich mit keiner ihrer Visionen durchsetzten. Umgesetzt wurde keiner dieser Pläne und ob sie tatsächlich eine neue, bessere Welt gestaltet hätten, bleibt doch sehr fraglich. Beeindruckend ist trotzdem die ungemein kreative und verspielte Art mit der die Architekten ihre Vorstellungen entwickelten und darstellten. Doch davon abgesehen fehlt diesen Entwürfen der Blick für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Problemstellungen. Bemerkenswert ist außerdem, dass das durch Archigram vermittelte Wertesystem kein wirklicher Gegenentwurf zum Bestehenden, sondern eine konsequente Weiterführung ist. Tendenzen der Gegenwart werden schon fast als ideal angesehen – Archigram hoffte darauf, dass sie sich zuletzt ganz durchsetzen. Die vollendete Konsumgesellschaft wird zum Idealbild menschlichen Zusammenlebens. Doch was ist nun das wirklich Utopische an Archigram? Eine Welt, die sich vollkommen nach den Wünschen des Menschen gestalten lässt. Es gibt nur „Fun and Flexibility“ und Technik, keine sozialen Unruhen, Unterschiede, Krankheiten, höhere sinnstiftende Dimensionen. Doch auf die Frage, wie dieser Zustand zu erreichen und politisch zu gestalten sei, bleibt Archigram eine Antwort schuldig. Wie bei architektonischen Utopien so oft, bleibt auch die Frage, ob und welche Menschen überhaupt Einzug in die neue Wohnwelt nehmen würden. Und hier wird bei Archigram sehr schnell
18
Archigram Group, "Living 1990" - 1967
13
deutlich, dass die Verfasser doch sehr einfach dachten oder sich mit tiefergehenden Überlegungen nicht befassen wollten. Die Vorstellung, dass Städte sich zum Austausch ihrer kulturellen und sonstigen Vorteile treffen könnten, kann ebenfalls als utopisch gesehen werden. Der Mensch hat in dieser Welt die Möglichkeit, sich über seine zunächst unbeeinflussbaren und unverschuldeten regionalen Grenzen zu erheben und sich selbst uneingeschränkt zu verwirklichen.
14
3.
Hat die architektonische Utopie eine Zukunft?
Während der Recherche zum Thema wurde deutlich, dass die Bewertung des Städtebaus in diesem Jahrhundert oft sehr negativ ausfällt. Viele Autoren bemängeln fehlende Konzepte und ästhetische Bausünden. So auch der Spiegel in der 21. Ausgabe
diesen
Jahres:
„Der
Städtebau
der
Vergangenheit
–
eine
Skandalgeschichte, eine nicht abreißende Kette von Katastrophen“19. Unsere gebaute Gegenwart, so wird es hier vermittelt, ist von Scheußlichkeiten geprägt und den Menschen unserer Zeit wird eine hässliche Lebenswelt zugemutet. Hinter diesen Äußerungen steckt, so ist zu vermuten, auch stets die Sehnsucht nach einer schönen Welt und damit unweigerlich und vielleicht auch unbewusst der Glaube, dass eine schön gebaute Welt auch gute Menschen hervorbringt. Alexander Mitscherlich schuf schon 1965 mit seinem Pamphlet „Die Unwirtlichkeit der Städte – Aufruf zur Unruhe“20 einen Klassiker für eine Literatur, die den Standpunkt vertritt, die heutige Gesellschaft kranke vor allem an der in ihren Augen schlechten baulichen Wirklichkeit. Doch ist dem so? Können wir die Probleme der Gegenwart mit einer neuen Architektur lösen, hat die architektonische Utopie eine Zukunft? Die Antwort könnte voreilig und auch aufgrund der eingangs vorgestellten neueren Erkenntnisse der Wissenschaft „Nein“ lauten. Dass der Mensch sich durch den „geraden Winkel“ zum „geraden Menschen“ machen lässt, ist nachweislich falsch, da das Wechselspiel zwischen Mensch und Umwelt doch komplizierter ist als Planer, Architekten und Kritiker lange Zeit meinten und heute erstaunlicher Weise oft noch meinen. Und haben nicht auch die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Beispiele gezeigt, dass eine Architektur zur Verbesserung der Welt fast immer scheiterte, an den wahren Bedürfnissen der Menschen vorbei ging, die Vielfalt menschlicher Lebensgewohnheiten nicht erkennen und berücksichtigen konnte und wollte? Gerade die architektonische Utopie trägt unweigerlich totalitäre Züge, denn fast immer hat der visionäre Architekt den einen Menschen vor seinem geistigen Auge, den Prototyp, der sich entweder den Bedingungen fügt oder nicht existiert. Als
19
Susanne Beyer: Große Zeiten vertan. Gütersloh: Spiegel- Verlag Rudolf Audstein. Der Spiegel 21/1999. 20 Alexander Mitscherlich. In: Die Unwirtlichkeit unserer Städte- Anstiftung zum Unfrieden“. Frankfurt am Main: edition suhrkamp 123, 1965.
15
Mitscherlich in seinem Buch 1965 schrieb: „Nichts wird sich ändern...“21 so sollte er zunächst Recht behalten. Die architektonische Utopie scheint heute an ihr Ende gelangt zu sein, niemand hat die alte Welt abgerissen und eine neue, schöne gebaut. Dass es aber derzeit tatsächlich dringende gesellschaftliche Probleme gibt, die im direkten Zusammenhang mit Städtebau und Architektur stehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Bauliche Visionen, die soziologische und umweltspezifische Aspekte berücksichtigen, sind mehr denn je gefragt. Den Anspruch auf die alleinige Macht zur Weltverbesserung hat die Architektur allerdings verloren – auch wenn sie, wie im Folgenden gezeigt wird, über bedeutende Kräfte und Mittel verfügt, auf die Gegenwart
heilsam
einzuwirken.
Ausgehend
von
einer
Beschreibung
der
architektonischen Fragen der Gegenwart sollen diese Fähigkeiten im Folgenden bewusst gemacht werden. Die aktuelle städtebauliche Situation ist zunächst von zwei Haupttrends geprägt. Zum einen ist die fortschreitende Entwicklung von „Megacities“, mit immensen Flächenund Einwohnerzahlen zu beobachten, zum anderen ein verstärkter Bau von so genannten „Ereignisbauten“ und die Tendenz zum „Citytainment“. „Einst war die Stadt das Symbol einer ganzen Welt. Heute ist die ganze Welt im Begriff Stadt zu werden.“22 Dieser Satz steht deutlich für einen Wandel des Begriffs „Stadt“, ein Wandel, der sich eindrucksvoll in Zahlen darstellen lässt: Man geht davon aus, dass im Jahre 2025 über 60% der Menschen in Städten wohnen. Im Jahr 2015 soll es weltweit 33 Megacities geben, (27 davon in Entwicklungsländern) mit über 8 Millionen Menschen. Allein in der dritten Welt machen sich heute täglich 170.000 Menschen auf den Weg in die Stadt. Die Bevölkerung weltweit verdoppelt sich alle Jahre und schon heute muss ein Autofahrer 320 Kilometer zurücklegen, um den Großraum London von Norden nach Süden zu durchqueren. Mit diesen neuen Dimensionen kommen auf die Stadt Anforderungen zu, die diese schwer erfüllen kann. Die Perspektive stellt sich als äußerst düster dar: Die Städte haben zunächst mit einer Wohnungsnot zu kämpfen, die bedingt, dass heute 600 Millionen Menschen weltweit obdachlos leben müssen. Eine hohe Verkehrsbelastung bringt den innerstädtischen Verkehr oft zum Erliegen und damit verbunden leiden die Bewohner und die Umwelt unter hoher Luftverschmutzung. 21 22
ebenda GEO Das neue Bild der Erde: Die Zukunft der Stadt. Hamburg: Gruner und Jahr. GEO Nr. 6, Juni 1996, S.60. Die folgenden Zahlen beziehen sich hierauf.
16
Gesundheitliche Schäden sind unausweichlich, die „Mega-Cities“ sind sogar idealer Nährboden für Krankheitserreger aller Art (Cholera, Tuberkulose). Zuletzt haben die Städte oft mit Wassermangel und einer starken Kriminalität zu kämpfen. „Ereignisbauten“ stehen heute für die allgemeine Krise der von Bauhaus&Co einst verfolgten Sachlichkeit und Zweckarchitektur. Die Formel „form follows function“ gerät mehr und mehr in den Hintergrund, stattdessen heißt es „weg von der Funktion, hin zur Harmonie, zur Nostalgie oder zum Spektakel.“
23
Dieter
Hassenpflug spricht in diesem Zusammenhang vom „Phänomen des Verschwindens der Orte“ und vom Entstehen so genannter „Atopien“. Hassenpflug begründet die Neueinführung des Begriffs „Atopie“ als Abgrenzung zur „Utopie“ so: „Wo Utopien, deren Stoffe die Träume sind, Bilder eines besseren Lebens in Räumen und in Zeiten einer imaginären Welt entwerfen, breiten sich Atopien im Hier und Jetzt aus. Sie sind verfügbar, materiell präsent und zugleich ohne irgendeinen Bezug zu Ort, Lokalität und Region“. Nach Hassenpflug gibt es einen immer größeren Bedarf an Orten, die ihrem Wesen nach eigentlich utopisch sind. Ideale Zustände, paradiesische Verhältnisse suggerieren Architekturkonzepte und gebaute Erlebniswelten, wie z.B. Freizeitbäder, Themenparks oder EinkaufsMalls. Sogar Wohnstädte wie „Celebration-City“ in Orlando/Florida wurden bereits als ideale Orte konzipiert und gebaut. Wovon viele Menschen zu träumen scheinen, wurde hier zumindest dem Anschein nach verwirklicht. „Der wichtigste Rohstoff für die Produktion dieser ortlosen Orte ist ideeller Natur: Abgebaut wird er in jenen Lagerstätten der Phantasie, die wir als Märchen, Romane, Comics, Gemälde, Photographien, Filme und Fernsehsendungen kennen.“ Neben der Umsetzung dieser fiktiven Ideen, bedient man sich auch realen baulichen Vorbildern. Die Kopie der Stadt Venedig, mit all seinen baulichen Kunstwerken wurde kürzlich in Las Vegas als Erlebnis-Hotel eröffnet. Die Kosten gehen in die Milliarden, doch der Markt rechtfertig die Investition: Die Besucher strömen in Massen in die neue Welt und sind begeistert. Seine Kritik an der „Atopie“ stellt Hassenpflug eindrucksvoll anhand der Beschreibung eines „Spaßbades“ vor. Die Verwirklichung des Traums von der Südsee gerät in seinen Augen zum Albtraum: „Alles ist durchgestaltet, fertig, glatt, perfekt, reibungslos funktionierend, ohne Zumutung, ohne 23
Dieter Hassenpflug: Atopien- Die Herausforderung des „Citytainment“. Wolkenkuckucks-heim, 3. Jahrgang, Heft 1: http://www-Theo.tu-cottbus.de/wolke/deu/themen/981/hassen-pflug-t.html. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Aufsatz.
17
Risiko – aber angereichert mit wohldosierten Sensationen. Das Original war der Traum von einer Südseeinsel. Nun ist es ein begehbares, bespielbares, dreidimensionales Bild, eine hergestellte Fiktion, ein Fake. In dieser Designerwelt scheinen
Begriffe
Traum
und
Wirklichkeit
ebenso
ununterscheidbar,
wie
Öffentlichkeit und Privatheit. Und Begriffe wie Demokratie, Subsidiarität, Partizipation etc. wirken an solchen Nichtorten deplaziert. Individuelle Selbstverwirklichung durch kreative Aneignung findet hier nicht statt.“ Die Befürchtung, die Menschen könnten einmal die fiktive Erlebniswelt, die ihnen ein sorgloses
Leben
vorgaukelt,
keine
Eigeninitiative
und
Selbstverwirklichung
abverlangt, dies aber nur durch subtile Ordnungsmechanismen und Abgrenzung erreicht, gegen die „echte“ Welt eintauschen wollen, tritt hier deutlich zutage. Wie groß diese Gefahr gesamtgesellschaftlich betrachtet wirklich ist, ist an dieser Stelle nicht zu beurteilen. Fest steht jedoch, dass sie ernst genommen werden muss und, wie Hassenpflug schon andeutet, als „Herausforderung“ betrachtet werden sollte. Auch hier sind bauliche Gegenentwürfe gefragt. Die Architektur muss der fiktiven Welt eine andere gebaute Welt entgegensetzen, in der die Menschen sich wohl fühlen und nicht nur innerlich flüchten. Angesichts der beschriebenen Entwicklung mag erst einmal Resignation einsetzen. Der berühmte Künstler Hundertwasser schlug in seiner „Kritik an der geraden Linie“ schon vor, ein Zersetzungsprodukt über die Häuser zu gießen, damit diese verschimmeln und neue, bessere gebaut werden könnten. Den genannten Herausforderungen begegnet in unseren Tagen kaum ein Planer oder Architekt mit architektonischen Utopien im eigentlichen Sinne. Man geht heute pragmatischer vor, erkennt die Probleme und versucht auf sie angemessen zu reagieren. Trotzdem fallen einige Entwürfe aus dem Rahmen, Visionen einer anderen Form des Bauens gibt es tatsächlich. Genannt sei das niederländische Architekturbüro „MVRDV“24, das in der Szene bereits großen Ruf genießt und den Pavillon der Niederlande für die kommende Expo 2000 in Hannover gestaltet hat. Die Architekten folgen dem Prinzip der nachhaltigen Stadtentwicklung und führen die Verdichtung der Städte radikal weiter. Die Megacity erscheint ihnen als einzige Lebensform der Menschen in der Zukunft und gerade Antworten auf die beschriebenen Umweltprobleme werden hier gegeben. Die 24
Johann Riedemeister: Das Raumschiff Erde als urbane Landschaft: „Metacity/ Datatwon“ - das neue Manifest von MVRDV. Neue Züricher Zeitung: nextroom architektur datenbank, 1997-99.
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Gebäude von „MVRDV“ bestehen aus sieben verschiedenen Ebenen, die jeweils für das Land charakteristische Bodenformationen (Meer, Wald, Erde, Tulpenfelder, Dünen etc.) enthalten. Die Integration von Pflanzen und Natur soll hier sowohl die Umweltbelastung stark verringern, als auch das Lebensgefühl der Menschen positiv beeinflussen. Neben diesen futuristischen Entwürfen gibt es auch bodenständigere. Die Begriffe „ökologisches Bauen“ oder „ganzheitliche Planung“ machen die Runde und werden vielfach bereits umgesetzt. Und das die Häuser der Zukunft „intelligent, digital, grün und offen“25 sein werden, ja sein müssen, um den menschlichen Bedürfnissen aber auch denen der Umwelt zu genügen, darüber sind sich Fachleute weitestgehend einig. Die Entwürfe dazu sind längst angefertigt und warten nur noch auf eine beherzte Umsetzung. Deutlich hervorzuheben ist an dieser Stelle jedoch das veränderte Selbstverständnis eines Großteils der Planer seit den 70er Jahren: „Architekten und Designer sind vorsichtiger geworden in den letzten Jahren. Sie stellen Thesen auf, fast wie Wissenschaftler, die nicht mehr endgültig sind oder sein wollen“26. Die Mitgestaltung der Bürger an ihrer Umwelt wird ebenfalls betrieben. Ein aktuelles Beispiel ist die Stadt Essen. Hier hatten kürzlich 1.300 Bewohner die Möglichkeit im Rahmen einer „Planungs- und Perspektivenwerkstatt“, die Entwicklung ihres Viertels in die Hand zu nehmen. Dieses Konzept wird in den USA bereits seit den 60 er Jahren, in England seit Mitte der 80er Jahre umgesetzt. Man baut dabei buchstäblich auf die Spontaneität und Originalität der Bürger: „Die Menschen aus der Nachbarschaft wissen oft besser, wo der Schuh drückt, sie sind die besseren Experten für die Probleme in ihrem Viertel. Diese Kompetenz muß man für den Planungsprozeß nutzen.“27
25 26 27
Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 225: „Bauen, Wohnen, Finanzieren“, Wohnen im nächsten Jahrtausend: Auch der kleine grüne Kaktus überlebt den Wechsel“, 29. September 1999. ebenda SZ, 28. Mai 1999 „Planungswut in Essen“
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4.
Schlussbemerkung:
Die Beschäftigung mit dem vorliegenden Thema hat die Erkenntnis eingebracht, dass es eine für alle Menschen geltende „Architektur des Glücks“ nie wirklich gab, geben wird und geben sollte. Andererseits konnte herausgearbeitet werden, welche weitreichenden positiven und fast zwingenden Einflussmöglichkeiten die Gestaltung der Architektur für Mensch und Umwelt doch haben kann. Die Frage nach den charakteristischen Eigenschaften einer „idealen Architektur“ kann und will ich natürlich nicht beantworten. Aber ganz allgemein formulierte Thesen oder Merkmale einer in meinen Augen besseren, zukunftsfähigen Architektur, so wie sie sich mir nach eingehender Beschäftigung mit dem Gegenstand darstellt, sollen im Folgenden den Abschluss der Arbeit bilden. Dass sich
diese
Auflistung
im
übertragenen
Sinne
auch
als
Art
ethische
Grundsatzerklärung lesen lässt, ist nicht verwunderlich. Schließlich ist die Art des Menschen zu wohnen Ausdruck seines Lebensgefühls, seiner Persönlichkeit und darüber hinaus gesellschaftsprägend. Das Thema birgt somit großes Potential für weiterführende soziologische Untersuchungen und Betrachtungen. Allgemeine Forderungen an eine bessere Architektur: x
Architektonischen Neuentwürfen muss die Gelegenheit zur Umsetzung gegeben werden: „Mut zu Neuem“ ist die sehr allgemeine Forderung, durch die jedoch nur Veränderung und individuelle Ausdrucksmöglichkeit geschaffen werden kann.
x
Berücksichtigung
der
drängenden
ökologischen
Probleme
(nachhaltige
Stadtentwicklung) x
Architektur sollte nicht zu statisch, sondern entwicklungsoffen sein, d.h. wenn möglich zukünftige Veränderungen berücksichtigen und in gewissem Rahmen flexibel sein.
x
Architektur darf nicht totalitär sein, sondern muss sich stets dessen bewusst sein, dass ein Gebäude dem einem gefällt dem anderen nicht. Raum für persönliche Aneignung, Möglichkeiten der Mitgestaltung durch Bewohner fördert Akzeptanz.
x
Architektur muss die Kategorien „Öffentlichkeit-Privatheit“ berücksichtigen: Keine Anonymität, eine gewisse Offenheit führt zu Verantwortungsbereitschaft, vielleicht auch politisch. Andererseits: Eine Rückzugmöglichkeit für das Individuum muss gegeben sein, Privatheit und Abgrenzung sind menschliche Grundbedürfnisse.
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x
Architektur muss Raum für Öffentlichkeit schaffen: Die Wirklichkeit muss sich entfalten können: Vermeidung einer „schönen neuen Welt“, in der das Chaos völlig verbannt ist.
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Literaturverzeichnis: Hassenpflug, Dieter: Atopien- Die Herausforderung des „Citytainment“. Wolkenkuckucksheim, 3. Jahrgang, Heft 1:http://www-Theo.tucottbus.de/wolke/deu/themen/981/hassenpflug-t.html http://www.jgp.uni-stuttgart.de/epb/html/referat/archigram.html Lauer, Heike: Leben in Neuer Sachlichkeit: Zur Aneignung der Siedlung Römerstadt in Frankfurt am Main. Frankfurt/ Main: Institut für Kulturanthrologie und Europ. Ethnologie, 1990. Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte- Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt/ Main: Edition Suhrkamp, 1965. Reidemeister Johann: Das Raumschiff Erde als urbane Landschaft: „Metacity/ Datatown“- das neue Manifest von MVRDV. Neue Züricher Zeitung: nextroom architekur datenbank, 1997-99. Schumpp, Mechthild: Stadtbau- Utopien und Gesellschaft: Der Bedeutungswandel utopischer Stadtmodelle unter sozialem Aspekt. Gütersloh: Bertelsmann Fachverlag, 1972. Schollmeier, Axel: Gartenstädte in Deutschland: Ihre Geschichte, städtebauliche Entwicklung und Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Münster: LIT Verlag, 1990. Winter, Michael: Idealstädte (2): Durchblick zum Glück: Wie Visionäre und Architekten das Heil der Menschen in der Liebe zur Geometrie suchen. München: Süddeutsche Zeitung, 7.1.1999.
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