Architektonische Konzepte der Rekonstruktion 9783035613490, 9783035613360

Reizthema Rekonstruktion Rekonstruktion bleibt ein Reizthema. Der Autor eröffnet eine pragmatische Sichtweise auf die

202 109 17MB

German Pages 224 [232] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Historistische Rekonstruktion
2. Interpretierende Rekonstruktion
3. Archäologische Rekonstruktion
Exkurs: Rituelle Rekonstruktion
4. Konzeptuelle Rekonstruktion
Exkurs: Kritische Rekonstruktion
5. Historische Simulation
Schluss
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis / Nachweise
Bauwelt Fundamente (Auswahl)
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Architektonische Konzepte der Rekonstruktion
 9783035613490, 9783035613360

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Bauwelt Fundamente 159

Herausgegeben von Elisabeth Blum Jesko Fezer Günther Fischer Angelika Schnell

Alexander Stumm Architektonische Konzepte der Rekonstruktion

Bauverlag

Birkhäuser

Gütersloh · Berlin

Basel

Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich

Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN 978-3-0356-

­Conrads 1963 gegründet und seit Anfang der 1980er-

1349-0) und E-PUB (ISBN 978-3-0356-1337-7)

Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke herausgegeben.

­erschienen

Verantwortlicher Herausgeber für diesen Band: Günther Fischer

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich

Gestaltung der Reihe seit 2017: Matthias Görlich

über den Birkhäuser Verlag.

Vordere Umschlagseite: © SPK / David Chipperfield

© 2017 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44,

­Architects, Foto Jörg von Bruchhausen

4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von Walter de

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Gruyter GmbH, Berlin/Boston;

van der Rohe

und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

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gebleichtem Zellstoff. TCF ∞

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

Printed in Germany

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.

ISBN 978-3-0356-1336-0

dnb.de abrufbar. 9 8 7 6 5 4 3 2 1 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch

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begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbil-

Das vorliegende Buch stellt die überarbeitete Version

dungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfil-

meiner Doktorarbeit, vorgelegt an der Ludwig-Maximi­

mung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und

lians-Universität München am 7. Oktober 2015, dar.

der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben,

Ich möchte meinem Doktorvater Prof. Dr. Steffen Krämer

auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

für die Betreuung danken. Zudem danke ich Katharina

Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen die-

Knüppel, die diese Arbeit lektoriert hat, für die zahllosen

ses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der

Anmerkungen. Für sein Vertrauen und seinen unermüd­

gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes

lichen Einsatz bin ich Prof. Dr. Günther Fischer, Mit­

in der jeweils geltenden Fassung zulässig.

herausgeber der Bauwelt Fundamente, zu großem Dank

Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhand-

­verpflichtet.

lungen unterliegen den Strafbestimmungen des

Das Buch ist meinen Eltern gewidmet.

Urheberrechts.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 Historistische Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1

Viollet-le-Duc: Restauration (1866) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1.2

Viollet-le-Duc: Sainte-Madeleine, Vézelay (1840–58) . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.3

Willy Weyres: Sankt Maria im Kapitol, Köln (1956–76/84) . . . . . . . . . . . 37

2 Interpretierende Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.1

Alois Riegl: Der moderne Denkmalkultus (1903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

2.2

Hans Döllgast: Alte Pinakothek, München (1952–57) . . . . . . . . . . . . . . . . 51

2.3

Carlo Scarpa: Castelvecchio, Verona (1957–75) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

2.4

Tadao Andō: Punta della Dogana, Venedig (2007–09) . . . . . . . . . . . . . . . 66

3 Archäologische Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.1

Charta von Venedig (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

3.2

Andrea Bruno: Castello di Rivoli, bei Turin (1979–84 / 1993–99) . . . . . 80

3.3

Eberhard Burger: Frauenkirche, Dresden (1994–2005) . . . . . . . . . . . . . . 91

Exkurs: Rituelle Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 E.1

Nara Document of Authenticity (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

E.2

Ise-Schreine, Ise (690-∞) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104



4 Konzeptuelle Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.1

Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

4.2

Schilling & Gräbner: Kreuzkirche, Dresden (1897–1900) . . . . . . . . . . . 117

4.3

Josef Paul Kleihues: Haus Liebermann, Berlin (1992–99) . . . . . . . . . . . 123

4.4

Herzog & de Meuron: Tate Modern, London (1995–2000) . . . . . . . . . . . 128

4.5 Bruno Fioretti Marquez: Direktorenhaus Walter Gropius, Dessau (2010–14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

Exkurs: Kritische Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 5

Historische Simulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

5.1 Jean Baudrillard: Agonie des Realen (1978) und Simulation (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5.2

Theo Kellner: Goethehaus, Frankfurt a. M. (1947–51) . . . . . . . . . . . . . . . 161

5.3 C. Cirici, F. Ramos, I. de Solà-Morales Rubió: Barcelona-Pavillon, Barcelona (1983–86) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5.4

UNESCO Komitee: Alte Brücke, Mostar (1995–2004) . . . . . . . . . . . . . . 175

5.5

Byung-Chul Han: Hyperkulturalität (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

6 Kombinationen der Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6.1

David Chipperfield: Neues Museum, Berlin (2003–09) . . . . . . . . . . . . . . 190

6.2

Franco Stella: Stadtschloss, Berlin (2013-) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Abbildungsverzeichnis / Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Einleitung

Rekonstruktion ist ein Reizthema. „Rekonstruktion zerstört“, meint unmissverständlich der renommierte Denkmalpfleger Georg Mörsch:1 Nicht nur könne eine Rekonstruktion ein Denkmal nicht zurückbringen, sondern sie unterwandere zudem die Fähigkeit, ein historisches Bauwerk kritisch zu lesen. Wenn ein Denkmal und seine Rekonstruktion nicht mehr unterschieden werden, wenn ein Denkmal scheinbar jederzeit wiederhergestellt werden kann, steht für Mörsch unweigerlich die kulturelle Errungenschaft der Denkmalpflege infrage. Rekonstruktion sei „kein Verbrechen“, setzt der angesehene Architekturhistoriker Winfried Nerdinger dagegen:2 Architektur dürfe nicht auf eine lineare Entwicklung der Stilepochen reduziert werden. Seit Jahrtausenden würden zerstörte Bauwerke selbstverständlich wiederaufgebaut, unzählige Bauten wären ansonsten nicht mehr erfahrbar. Nerdinger kritisiert die moralische Aufladung der Debatte, in der die Haltung der Rekonstruktionskritiker „jedem als aggressiver oder verbissener Fundamentalismus entgegen[schlägt], der sich dem Thema Rekonstruktion nähert.“ 3 Ausgangspunkt dieser aufgeladenen Diskussion ist eine um 1980 einsetzende und bis in die Gegenwart andauernde „postmoderne[] Rekonstruktionswelle“.4 Sie ist Uwe Altrock, Grischa Bertram und Henriette Horni zufolge getrennt von der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten, die in den Jahren nach 1960 als abgeschlossen gelten kann. Wie lässt sich die ­a ktuelle Rekonstruktionswelle erklären? Rekonstruktion verkörpere ein „­K itschphänomen“; sie stehe für den Wunsch nach „Romantik“, aber auch für eine „Suche nach Identität“ oder eine „Sehnsucht nach Heimat“.5 Für Johannes Habich basiert Rekonstruktion auf „nostalgische[n] und eskapistische[n] Gefühle[n]“ und richte sich dabei „aggressiv gegen ‚die Moderne‘ in Architektur und Städtebau“. Dabei würde sie „begierig von Politikern und Stadtmarketing-Strategen aufgegriffen, [um] der pseudohistorischen Inszenierung 7

hoch kommerzieller Citylagen dienstbar gemacht [zu] werden.“ 6 Rekonstruktionen seien antimodern, pseudohistorisch und kommerziell vereinnahmt. Ira Mazzoni zufolge stehen die „geschichtsvergessen[en] und bildbesessen[en]“ Rekonstruktionen für eine „Krise der Denkmalpflege“.7 Nach Aleida Assmann hat das Phänomen Rekonstruktion „mit einer tief greifenden Veränderung unseres Zeitverständnisses zu tun“ 8; die Zukunft diene inzwischen weniger als Projektionsfläche für Erneuerung und Veränderung, als es die Vergangenheit vermöge. Jörg Traeger dagegen ist der Ansicht: „Das Recht auf Geschichte schließt das Recht auf Rekonstruktion ein.“ 9 Auch Wilfried Lipp und Michael Petzet fordern nichts Geringeres als einen Paradigmenwechsel – „Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus“ .10 Petzet versteht deshalb „Rekonstruieren als denkmalpflegerische Aufgabe“.11 Deutlich sieht auch Uta Hassler „das Rekonstruktionstabu in der Ideologie der Moderne“ verankert.12 Mit dem Streit über eine mögliche Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses erreicht die Diskussion um die Jahrtausendwende einen neuen Höhepunkt. Bedeutet sie die opportune Reparatur eines durch Krieg, Teilung und moderne Stadtplanung vielfältig zerrütteten Stadtzentrums? Oder muss nicht jeder Versuch letztlich als Kulissenarchitektur scheitern? Leugnet er nicht die sich überlagernden Bedeutungsschichten des historischen Ortes und wird damit zur „Geschichtsfälschung“? Wolfgang Pehnt taxiert jedenfalls, dass es nun „endlich, doch wieder einmal so etwas wie eine öffentliche Debatte über Architektur“ gebe.13 Tatsächlich scheint sich die Problematik der Rekonstruktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur nicht „gelöst“, sondern sogar noch verschärft zu haben. Dabei ist die Frage, ob ein ruinöser oder zerstörter Bau rekonstruiert werden darf, seit dem 19. Jahrhundert – parallel zu den tatsächlich durchgeführten Rekonstruktionen – Gegenstand intensiver Debatten. Nähert man sich dem Phänomen aus historischer Perspektive, erweist sich eine einfache Begriffsbestimmung als problematisch: die Rekonstruktion gibt es nicht. Vielmehr stehen verschiedene architektonische Konzepte zur Disposition. Diese nachzuzeichnen, setzt sich das vorliegende Buch zur Aufgabe. 8

Jedem Konzept wird ein Kapitel gewidmet. Einleitend dient jeweils ein Grundlagentext dazu, das fokussierte Konzept in einen theoretischen Rahmen zu fassen. Im Zentrum der Kapitel stehen Baubeschreibungen einzelner Rekonstruktionsprojekte. Diese gliedern sich in das übliche Analyseschema Grundriss – Außenbau – Innenraum. Nur anhand von Bauanalysen lassen sich die zur Anwendung kommenden architektonischen Leitprinzipien sinnvoll erschließen. Die ausdefinierten Konzepte werden also nicht „erfunden“, sondern deduktiv aus der architektonischen Praxis hergeleitet. Ziel ist eine sinnvolle, übergeordnete Zusammenstellung, Kategorisierung und Abgrenzung der von Denkmalpflegern und Architekten oftmals divergierend verwendeten Begrifflichkeiten. So lässt sich die Terminologie in einer von vielfältigen „Missverständnissen“ getragenen Diskussion schärfen. Die Konzepte der Rekonstruktion entwickeln sich nicht unabhängig von der Denkmalpflege, sondern sind Ergebnis der dort geführten Diskurse. In den einleitenden Texten der ersten drei Kapitel spiegeln sich deshalb drei historische Etappen der Denkmalpflege wider: Mit seinem theoretischen Konzept der Restauration (1866) dominiert Viollet-le-Duc die Denkmalpflegepraxis des 19. Jahrhunderts; Alois Riegls dialektische Herleitung der Denkmalwerte in Der moderne Denkmalkultus (1903) bildet das Fundament der modernen Denkmalpflege. Schließlich wird ihren Paradigmen in der Charta von Venedig (1964) ein potenziell weltweiter Anwendungsbereich zugesprochen. Diese Theorien können als Meilensteine der Denkmalpflege verstanden werden. Im Rahmen dieser Arbeit verdienen sie deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil sie zugleich verschiedene Konzepte der Rekonstruktion veranschaulichen. Trotzdem lassen sich die in diesem Buch zusammengestellten Konzepte, insbesondere im 20. Jahrhundert, nicht als kontinuierliche historische Entwicklungsgeschichte erzählen. Wie zu zeigen sein wird, entstehen sie mitunter gleichzeitig und bestehen bis in die Gegenwart nebeneinander. Die Arbeit setzt sich zur Aufgabe, die Konzepte aus ihrem historischen Kontext heraus nachzuvollziehen und dabei zugleich den reflektierenden Standpunkt der denkmalpflegerischen Perspektive der Gegenwart einzunehmen. Ein zentraler Begriff der modernen Denkmalpflege – der auch beim Thema Rekonstruktion eine wesentliche Rolle spielt –, ist die „historische Authentizität“. 9

In den verschiedenen Konzepten der Rekonstruktion spiegelt sich stets auch das Verständnis von Authentizität. Nicht zuletzt steht die vorliegende Untersuchung daher vor der Aufgabe, historische Authentizität gleicher­maßen in historischer Perspektive greifbar zu machen. Relevant ist dies nicht ­zuletzt deshalb, weil die abschließend behandelte „originalgetreue“ Rekonstruktion die Authentizität scheinbar radikal infrage stellt. Das Buch versteht sich als praktischer Leitfaden für Architektinnen und ­A rchitekten, Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger, die im historischen Bestand beziehungsweise auf historischem Ort arbeiten. Die Frage, ob zu ­rekonstruieren ist, stellt sich für jeden Einzelfall neu. Sie betrifft diese Arbeit nur am Rande; eine allgemeine Begründung der Rekonstruktion soll nicht ­geleistet werden. Vielmehr interessiert die darüber hinausgehende Frage: Welches Konzept der Rekonstruktion kann unter welchen Umständen methodisch sinnvoll sein? Für die Beantwortung dieser Leitfrage gilt es zunächst abzustecken, unter welchen Vorbedingungen von einer architektonischen Rekonstruktion gesprochen werden kann.

Was ist eine architektonische Rekonstruktion? Eine architektonische Rekonstruktion orientiert sich grundsätzlich in Grundriss, Außenbau und Innenraum am historischen Bau. Zwei Ausgangsituationen sind zu unterscheiden: Bei der Teilrekonstruktion existiert noch ein mehr oder weniger ruinöses Bauwerk. Die historische Substanz bleibt erhalten, architektonische Fragmente werden integriert oder wieder am ursprünglichen Ort eingefügt. Bei der Totalrekonstruktion ist entweder keine Bausubstanz mehr vorhanden oder ihre erneute Verwendung wird aus ästhetischen, bauphysikalischen, denkmalpflegerischen oder anderen Gründen als nicht sinnvoll oder erforderlich eingestuft. Erhaltene Bauteile werden abgetragen. Die Grenze zwischen beiden Grundformen ist zwangsläufig fließend: Je weniger historische Substanz zur Anwendung kommt, umso mehr tendiert eine Teilrekonstruktion zur Totalrekonstruktion. Eine Fassadenrekonstruktion wie10

derum orientiert sich nur in Grundriss und Außenbau am historischen Bau. Der Innenraum lässt sich nicht aus dem historischen Bau ableiten, wird also unabhängig gestaltet. Der Ort ist ein weiterer Aspekt, der für den Begriff der Rekonstruktion Relevanz besitzt. Ein Parthenon in der Nähe von Regensburg (Walhalla) stellt demnach genauso wenig eine Rekonstruktion dar wie eine herculaneische Villa an den Hängen Kaliforniens, die den pazifischen Ozean überblickt (Getty Villa). Hierbei handelt es sich um Nachbauten. Ein Bauwerk besitzt eine ­Ortsbezogenheit – nur am historischen Ort kann es tatsächlich rekonstruiert werden. Jede Rekonstruktion ist – unabhängig vom architektonischen Konzept – unweigerlich ein Neubau, aber nicht jeder Neubau auf historischem Baugrund ist eine Rekonstruktion. Es ist deshalb hilfreich über das Ausschlussprinzip zu konkretisieren, welche Wiederaufbauprojekte nicht unter den Begriff ­Rekonstruktion fallen können. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin ist ein prägnantes Beispiel. Die nicht zerstörten Bauteile des neoromanischen Vorgängerbaus sind hier als Ruine erhalten, um die herum Egon Eiermann 1957–61 verschiedene Neubauten gruppiert: einen oktogonalen Zentralbau statt des Langhauses, einen neuen, sechseckigen Glockenturm sowie eine neue Gemeindekapelle, die alle vom Vorgänger in Grundriss, Außenbau und Innenraum unabhängig sind. „Wiederaufbau“ wird nach dem Zweiten Weltkrieg begrifflich tatsächlich weit gefasst. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in Le Corbusiers Plan de reconstruction pour la ville de Saint-Dié (1944–46), der damit einen Vorschlag für die „Rekonstruktion“ der von deutschen Truppen zerstörten französischen Kleinstadt in den Vogesen präsentierte. Acht seiner als Wohnmaschinen konzipierten Unités d’habitation, mäandernde Zeilenbauten und ein monumentales neues Gemeinschaftszentrum, unter anderem mit dem von ihm schon 1939 entworfenen spiralförmigen Museum, sollten die nach funktionellen Prinzipien gänzlich neu gedachte Stadt prägen. Die Durchsetzung scheiterte letztlich am heftigen Widerstand der Bewohner, die ihre kleinteilig-mittel­ alterlich geprägte Stadtstruktur nicht aufgeben wollten. Nichtsdestotrotz wurde der Plan zur urbanistischen Ikone des modernistischen Wiederaufbaus. 11

Nicht alles, was von Architekten und Stadtplanern aus Gründen einfacherer Durch­setzbarkeit als Wiederaufbau bezeichnet wurde, kann demnach als ­Rekonstruktion verstanden werden. Ein Re- oder Wieder- suggeriert dabei auch in Deutschland oftmals historische Kontinuität, wo eigentlich neue Ideen Raum finden.14 Auch das Kolumba Museum (2003–07) von Peter Zumthor ist keine Rekon­ struktion: Dass hier der historische Grundriss respektiert wird, dass überkommene Bauteile integriert werden, dass sie womöglich als baukünstlerische ­I nspiration für den Neubau dienten, ist kein ausreichendes Kriterium. Zumthor mag einen überzeugenden Museumsbau geschaffen haben, aber keine Rekonstruktion. Mehrere Formen der Rekonstruktion klammert die vorliegende Arbeit aus: Zum einen ist dies die Anastylose. Als archäologischer Fachterminus bedeutet sie eine Wiedererrichtung aus ausschließlich historischem Material be­ ziehungsweise „das Wiederzusammensetzen vorhandener, jedoch aus dem Zusammenhang gelöster Bestandteile“.15 Ein ruinöses Bauwerk wird auf wissenschaftlichen Erkenntnissen (partiell oder vollständig) wieder zusammengesetzt. Auch bei der Translozierung wird mit vorhandener Bausubstanz ­gearbeitet; in diesem Fall wird ein Bauwerk abgebaut und an einem anderen Ort in identischer Form wieder neu errichtet. Das authentische Baumaterial bleibt erhalten, der ursprüngliche Kontext aber geht zwangsläufig verloren. Der an den einmaligen Ort gebundene Bau kann nicht mehr rezipiert werden. Für beide Vorgänge ist ein fundierter und ausschließlich bauarchäologischer Umgang unerlässlich. Architektonisch ist eine Rekonstruktion also erst dann, wenn nicht nur historische Bausubstanz zur Anwendung kommt, sondern wenn neue Substanz hinzugefügt wird.

Literaturüberblick und Forschungsstand Einen aktuellen historischen Überblick zur Denkmalpflege in Deutschland leistet Achim Hubel;16 Karl-Jürgen Krause stellt die wichtigen Begriffe lexi­ kalisch dar.17 Eine Textsammlung historischer Primärtexte liefert Norbert 12

Huse.18 Zudem sollen zwei wichtige allgemeine Publikationen zum Thema Rekonstruktion der letzten Jahre hervorgehoben werden: Der im Zuge der von Ute Hassler und Winfried Nerdinger kuratierten Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion  – Konstruktion von Geschichte 19 (2010) herausgegebene gleichnamige Band bietet einen historischen Überblick mit enzyklopädischem Anspruch. Die zahlreichen Baubeispiele werden durch reiches Abbildungsmaterial anschaulich gemacht und damit in den Fokus gerückt. Dass dabei Rekonstruktionen verschiedenster Jahrhunderte und kultureller Hintergründe, architektonische und städtebauliche, lediglich auf dem Papier gezeichnete, hypothetische oder als Filmkulissen genutzte „Rekonstruktionen“, Teil-, Total- und Fassadenrekonstruktion, interpretierende Neubauten, Translozierungen und an anderem Ort entstandene Nachbauten – begrifflich teilweise unzureichend differenziert – zusammengefasst werden, verhindert ­leider eine nachhaltige Klärung der Begrifflichkeiten. Die Anthologie Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenk­m älern20 (2011) versammelt dagegen äußerst pointierte, rekonstruktionskritische Standpunkte der Herausgeber Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael Falser, Achim Hubel und Georg Mörsch. Sie kann als (in-)direkte Antwort auf die genannte Ausstellung verstanden werden. Beide Publikationen stehen beispielhaft für die polarisierende, bisweilen polemisch geführte Diskussion um Rekonstruktion. Dass dagegen „einer Typologie des Wiederaufbaus teilzerstörter Baudenkmäler als Denkmalkategorie […] nur selten Aufmerksamkeit geschenkt wird“, bemerkt Michael Falser. Diese sei jedoch wünschenswert, um „die Umgangsformen mit (teil-)zerstörten Baudenkmälern stärker zu differenzieren und ihnen einen höheren Wert beizumessen“.21 In seinem Artikel Trauerarbeit an Ruinen. Kategorien des Wiederaufbaus nach 1945 (2009) definiert er sieben zu unterscheidende Kategorien. Falsers erste Kategorie, der „Abriss der Ruine mit oder ohne Folgebau“, führt jedoch, wenn überhaupt, zu einem unabhängigen Neubau. Auch die „liegen gebliebene, innerstädtische Ruine“ kann als Trauerarbeit, aber kaum als architektonischer Wiederaufbau verstanden werden. Die dritte Spielart, „Ruinenerhalt und kommentierender Gegenbau“, für welche Falser die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin anführt, ist 13

aus bereits angeführten Gründen ebenfalls keine Rekonstruktion. Falser versteht mit diesen ersten drei Kategorien Wiederaufbau städtebaulich und legt Strategien dar, die bezüglich des historischen Orts möglich sind. Erst seine folgenden Kategorien – 4. die zeitgenössische Integration der sichtbar bleibenden Ruine, 5. die zeitgenössische Aneignung der formalen Qualitäten der ­Ruine, 6. Teilrekonstruktion von erhaltener Originalsubstanz mit neuen ­Ergänzungen, 7. (vermeintliche) Vollrekonstruktion nach Teil- oder Totalverlust – nähern sich der im Rahmen der vorliegenden Arbeit begrifflich fixierten Rekonstruktion an. Falser vermengt dabei das architektonische Konzept der Rekonstruktion mit der Fassaden- und der Teil- oder Totalrekonstruktion.22 Problematisch erscheint vor allem Falsers Endpunkt der begonnenen Ausdifferenzierung von Wiederaufbaumaßnahmen nach 1945, die er formuliert, um schließlich einen um 1990 einsetzenden „Rekonstruktionstrend zu einer Idealerscheinung […] bar jeder Kriegsspuren“ zu proklamieren, der für ihn keine (legitime) Kategorie darstellt.23 Letztlich erschwert die Fokussierung auf den deutschen Raum und die Zeit nach 1945 seinen sinnvollen Versuch einer terminologischen Abgrenzung. Die französische Architekturhistorikerin Françoise Choay wiederum macht in Das architektonische Erbe, eine Allegorie 24 (1997) auf die nur in Fachkreisen bekannt gewordene Theorie von Camillo Boito aufmerksam, die dieser zwischen 1879 und 1886 erarbeitete und in der Aufsatzsammlung Questioni pratiche di belli arti (1893) veröffentlichte. Der Architekt und Kunsthistoriker Boito schlägt hier drei zu unterscheidende Formen der Rekonstruktion vor. Diese verknüpft er mit der Epoche, in der das jeweilige Bauwerk entstanden ist. Für Bauwerke der Antike empfiehlt er eine „archäologische Restaurierung“: Mit wissenschaftlichem Anspruch sollen nur die Masse und das Volumen des Baukörpers als Rohbau möglichst exakt neu entstehen; die ornamentale Behandlung der Oberflächen wird nicht angestrebt. Für gotische Bauwerke schlägt er eine „pittoreske Restaurierung“ vor, die sich hauptsächlich auf das Skelett (die Struktur) des Bauwerks konzentriert und das Fleisch (Bildhauerkunst und Dekor) verfallen lässt. Für barocke Bauwerke sieht er eine „architektonische Restaurierung“ als angemessen: Hier wird das gesamte Bauwerk in historischer Gestalt und Form neu errichtet. „Die Konzepte der Authen­ 14

tizität, der Rangfolge bei den Eingriffen und des Stils der Restaurierungen ­haben es Boito ermöglicht, die kritische Grundlage für die Restaurierung als Stil zu legen.“ Choay empfindet dabei sein (inzwischen über 130 Jahre altes) Regelwerk als „im wesentlichen“ für „weiterhin gültig“.25 Dass diese – notwendigerweise in Unkenntnis der Geschichte der Architektur, der Denkmalpflege und des Städtebaus des 20. Jahrhunderts entstandenen – Überlegungen in der Gegenwart auf durchaus geänderten Grundsätzen weiter und neu ­gedacht werden müssen, soll diese Arbeit darlegen. Die im Folgenden untersuchten Rekonstruktionen reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Weshalb dieser zeitliche Rahmen zweckmäßig ist, soll kurz darlegt werden.

Kurze Vorgeschichte der Rekonstruktion Die Architekturgeschichte kennt von der Antike bis in die Neuzeit unzählige Berichte von Wiederaufbaumaßnahmen. Ein spezialisiertes Vokabular kennt sie jedoch nicht: Bezeichnungen wie Reparatio, Restitutio oder Renovatio ­gehen in ihren Bedeutungen oftmals fließend ineinander über. In der römischen Kaiserzeit ist in den Stifter preisenden Bauinschriften oder Dokumenten von Restitutio die Rede, wobei oft unklar bleibt, ob ein alter Bau repariert oder komplett durch einen ähnlichen, oft prächtigeren Neubau an gleicher Stelle ersetzt wurde. Aus den in der Antike intensiv vorangeschrittenen Urbanisierungsprozessen speisten sich die Bauprojekte in frühbyzantinischer Zeit: Man arbeitete in zunehmendem Maße mit älteren, neu genutzten oder wieder instand gesetzten Gebäuden; auch die Verwendung von fragmentarischen architektonischen Objekten (Architraven, Säulen etc.) als Spolien war ein geläufiges Phänomen. Es zeugt nicht davon, dass Herstellungsmethoden verloren gegangen waren, sondern dass die Elemente als kostbar galten und ihre Zusammenstellung wertgeschätzt wurde. Mit altehrwürdigen Fragmenten ging auch der verehrte „Geist“ vergangener Herrscher oder heiliger Orte in die eigene Zeit über. So bezogen sich auch die auf das weströmische Reich folgenden Regenten in Mitteleuropa in ihrem Herrschaftsanspruch immer wieder auf dessen 15

einstige Größe. Karl der Große ließ bekanntlich antike Spolien in seinem Dom zu Aachen verbauen, um seine „Renovatio imperii Romanorum“ vor­ zuführen. Renovatio ist hier weniger architektonisch, sondern in erster Linie sinnbildlich beziehungsweise programmatisch als politische Ansage zu ­verstehen. Schließlich findet sich in mittelalterlichen Bauinschriften auch die Bezeichnung Reparatio („Reparatio ecclesiae nostrae“). Doch auch hier kann nicht von einer Reparatur im heutigen Sinne ausgegangen werden: Eine Grenze zwischen Reparatur und Erneuerung existierte nicht.26 In allen Fällen ist zu konstatieren: „An der materiellen Überlieferung der Vergangenheit im Sinne von Denkmalpflege war man also wenig interessiert; wichtiger war es, durch Zeichenhaftigkeit an die Tradition anzuknüpfen.“ 27 Sowenig brauchbar die Bezeichnung Denkmalpflege für die Techniken früherer Jahrtausende ist, sowenig lässt sich in Anbetracht der architektonischen Praxis von einem übergreifenden Konzept der Rekonstruktion sprechen. Dass über alle Zeiten hinweg Altes oder Zerstörtes ergänzt, repariert, wieder- beziehungsweise neu aufgebaut wurde, soll dabei als anthropologische Kon­stante keineswegs infrage gestellt werden. Aber: Es existiert keine Kontinuität der Rekonstruktionspraxis über die Jahrtausende hinweg. Das einsetzende historische Bewusstsein – und eine sich daraus ableitende Denkmalpflege – bedeuten einen „Quantensprung“ für den architektonischen Umgang mit dem überhaupt erst als historisch verstanden Baumonument. Erst vor diesem Hintergrund können sich ein theoretischer Diskurs und architektonische Konzepte der Rekonstruktion entwickeln, die in der folgenden Untersuchung im Zentrum stehen.

16

Anmerkungen

1

Mörsch 2005, S. 73 f.

2

Nerdinger 2010b, S. 10 f.

3

Nerdinger 2008, S. 19.

4

Altrock, Bertram und Horni 2010, S. 11.

5

Ebd., S. 29, 32, 60, 65.

6

Habich 2011, S. 10.

7

Mazzoni 2010, S. 101.

8

Assmann 2010, S. 16.

9

Traeger 1992, S. 630.

10

Lipp und Petzet 1994.

11

Petzet 2005, S. 29.

12

Hassler 2010b, S. 30.

13

Pehnt 2011, S. 14.

14

Dass Prinzipien des modernen Städtebaus in Deutschland nach 1945 durchaus schon von ­hochrangigen Architekten des Nationalsozialismus vorgedacht waren, haben Durth und Gutschow 1987 eindrücklich belegt. Gerade diese Kontinuität sollte im „Wieder“ nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich nicht ausgedrückt werden.

15

So in Art. 15 der Charta von Venedig, zit. nach ­Langini, Lipp, Müller und Petzet 2012. Für eine ­Definition der Anastylose siehe auch Krause 2011, S. 15.

16

Hubel 2011. Weitere wichtige Kompendien liefern u. a. Gebeßler und Eberl 1980, Kiesow 1982.

17

Krause 2011.

18

Huse 1984.

19

Nerdinger 2010a. Vorangegangen war die Tagung Das Prinzip Rekonstruktion (2008), siehe Hassler und Nerdinger 2010.

20

Buttlar, Dolff-Bonekämper, Falser, Hubel und Mörsch 2011.

21

Falser 2009, S. 60 und 67.

22

Ebd., S. 67.

23

Ebd., S. 60.

24

Erschienen als L’Allégorie du Patrimoine (1992). Choay 1997, S. 122 f.

25 26

Ebd., S. 124. Dies zeigt eindrücklich beispielsweise Schreiber 1997 anhand des Chors der Kathedrale von Tours.

27

Hubel 2011, S. 17.

17

1 Historistische Rekonstruktion

Erst der Historismus schrieb dem Baumonument einen neuen Stellenwert zu. Nikolaus Pevsner kategorisiert die Wertschätzung überkommener Architekturformen seit dem 17. Jahrhundert und unterteilt die als „Historismus“ bezeichnete Strömung – zeitlich also vor der üblicherweise auf das 19. Jahrhundert datierten Epoche – in fünf Typen, die 1) auf dem Prinzip der Konformität aufbauen, 2) die Wirkung des „Assoziative[n] oder Evokative[n]“ besitzen, 3) auf ästhetischen Argumenten, 4) auf archäologischer Neugier oder 5) auf dem romantischen Gedanken basieren.1 Für die Architektur rückte das Baumonument als beispielgebend in den Fokus. Zugleich sah man es in seinem natürlichen Verfall, aber auch im Kontext der Säkularisierung sowie einer im 19. Jahrhundert weitreichenden Zerstörung von Baustruktur durch die Industrialisierung zunehmend als gefährdet. Karl Friedrich Schinkel beispielsweise setzte sich nicht nur früh für die Restaurierung verfallener mittelalterlicher Monumente ein, sondern trug schon 1815 König Wilhelm III. erstmals seine Vorstellungen zur Erhaltung der Denkmäler und Altertümer sowie der Einrichtung einer dafür zuständigen Behörde vor.2 Vor Preußen etablierte Bayern unter dem Oberbaurat Sulpiz Boisserée 1835 eine „Generalinspektion der plastischen Denkmäler des Mittelalters“. Schon ein Jahr zuvor wurde unter König Otto ein griechisches Denkmalschutzgesetz verabschiedet, 1850 folgte in Österreich die Einrichtung der „K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale“. 1853 wurde die „Kommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunstdenkmäler“ in Preußen eingesetzt. Seit den 1880er-Jahren erließen viele weitere Staaten in Europa sowie deren Protektorate und Kolonien ähnliche Verordnungen.3 Schließlich folgert der berühmteste englische Architekt und Restaurator seiner Zeit, George Gilbert Scott, „our knowledge of pre-existing styles renders this par excellence the age for restoration“.4 Doch die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierende „Denkmalpflege“ lässt sich in ihrer Frühphase methodisch mit heutigen Maßstäben 19

kaum mehr in Übereinstimmung bringen. Charles de Montalembert beschreibt in seinem berühmten Brief an Victor Hugo, der eigentlich eine Anklageschrift mit dem Titel Du Vandalisme en France (1833) ist, neben dem „vandalisme destructeur“ die Figur des gleichermaßen verheerenden „vandalisme restaurateur“. Auch der Archäologe Adolphe-Napoléon Didron wettert in seinen einflussreichen Annales archéologiques (herausgegeben ab 1844) gegen den „vandalisme d’achèvement“, also gegen die Zerstörung durch „Vollendung“ historischer Bauten, der oft ein Großteil der historischen Substanz zum Opfer falle. Tatsächlich arbeiteten entweder schlecht geschulte, (architektur-)historisch kaum bewanderte Architekten der französischen Provinzen oder aber durch die École des Beaux-Arts vorgebildete Klassizisten an den französischen Baumonumenten, was oftmals dazu führte, dass durch unsachgemäße Behandlung Bauteile einstürzten oder aber Fassaden und ganze Bauteile ohne historische Rechtfertigung klassizistisch neu gestaltet und errichtet wurden. Die genannten Texte von Montalembert oder Didron aber im modernen Sinne als Kritik der Rekonstruktion per se zu lesen, ginge zu weit. Denn beide unterstützten 1845 nachdrücklich die Ernennung Viollet-le-Ducs zum Chef­ restaurator von Notre-Dame in Paris. Sie alle haben gewissermaßen den ­g leichen „Feind“: den historisch nahezu planlos agierenden Restaurator. ­Viollet-le-Ducs Konzept der Restauration besitzt diesem gegenüber, selbst wenn es aus heutiger Sicht kritisch beurteilt werden muss, einen immensen qualitativen Vorsprung; ja, es ist überhaupt das erste theoretisch und praktisch fundierte architektonische Konzept der Rekonstruktion, weshalb Viollet-le-Duc zu Recht „als der bedeutendste und einflussreichste Denkmalpflege-­ Architekt des 19. Jahrhunderts“ gilt.5 So steht seine Theorie, die eigentlich gegen den „vandalisme restaurateur“ gerichtet ist, am Anfang dieses Buches.

1.1

Viollet-le-Duc: Restauration (1866)

Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) wird heute als Urvater der modernen Denkmalpflege gewürdigt. Seine Wirkung erklärt sich zum einen aus 20

dem Aufbau eines theoretisch-wissenschaftlichen Systems. Viollet-le-Ducs enzyklopädisches Wissen über mittelalterliche Architektur, niedergeschrieben in seinem zehnbändigen Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle (1854–68), machte ihn zu einer architekturtheoretischen Autorität. Zum anderen wurde er ein führender Vertreter der sich in Frankreich gerade etablierenden Denkmalpflege. Schon ab 1840 arbeitete der 26 Jahre junge, aber durch Familienbande exzellent vernetzte Architekt im Auftrag von Prosper Mérimée, dem Generalinspekteur der drei Jahre zuvor gegründeten Commission des monuments historiques.6 Mit der Basilika Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay, der Kathedrale Notre-Dame in Paris sowie den Kathedralen von Saint-Denis, Amiens und Reims restaurierte er einige der wichtigsten Sakralbauten des französischen Mittelalters. Was Viollet-­­­leDuc Restaurierung nennt, ist aber eigentlich eine Rekonstruktion, be­z ie­ hungs­weise begründet genauer gesagt das Konzept der historistischen Re­ konstruktion. Begriff der Restauration bei Viollet-le-Duc Im Dictionnaire findet sich Viollet-le-Ducs (erstaunlicherweise niemals übersetzter) Artikel zu Restauration, den er mit den berühmten Worten einleitet: „Le mot et la chose sont modernes. Restaurer un édifice, ce n’est pas l’entretenir, le réparer ou le refaire, c’est le rétablir dans un état complet qui peut n’avoir jamais existé à un moment donné.“7 Schon diese ersten beiden Sätze sind bemerkenswert und verdienen eine genauere Analyse. Restauration ist für Viollet-le-Duc als Begriff und als Tätigkeit „modern“, also ein grundlegend neues Phänomen. Er grenzt sie damit ­explizit von der jahrtausendealten Tradition der Reparatur und Erneuerung ab. Modern ist die Restauration deshalb, weil sie zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte im Bewusstsein sich entwickelnder, historischer Stil­ epochen vorgenommen wird. Choay hat diese Verschiebung des Verständnisses von Denkmal („monument“) zu Baudenkmal („monument historique“) eindringlich nachvollzogen. Das historische Baumonument sei eine etymologisch ziemlich genau auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datierbare 21

„Erfindung des abendländischen Denkens“.8 Der Feststellung folgend ist es wenig aussichtsreich, vor diesem Zeitraum nach einer Systematik der Rekonstruktion zu suchen. Restaurieren zu bezeichnen als „ein Baumonument in einen Zustand der Vollkommenheit zurückzuführen, der zuvor nie existiert haben kann“, scheint ferner zugleich paradox und unerhört. Denn vordergründig besagt der Satz, dass der Restaurator frei schöpferisch arbeiten, ja, im historischen Bestand nach eigener Vorstellung der Geschichte baukünstlerisch intervenieren darf. Dies aber ist, wie Viollet-le-Duc im Verlauf des Artikels erläutert, nur bedingt der Fall. Hintergründig enthält der Satz bereits die moderne Erkenntnis: Eine Rekonstruktion ist historisch fiktiv und kann niemals etwas anderes sein. Es kann nicht darum gehen, einen „authentischen“ Zustand wiederzugewinnen. Stattdessen wird ein „Zustand der Vollkommenheit“ (état complet) beschworen, der für Viollet-le-Duc eine durchaus komplexe Bedeutung besitzt. Doch der Reihe nach. Noch bevor restauriert werden darf, ist laut Viollet-le-Duc als einleitender Schritt eine umfangreiche schriftliche und grafische Bestandsaufnahme der Gestalt und des Alters jedes einzelnen Bauteils zu unternehmen: eine bau­ archäologische Dokumentation. Nicht nur an welcher Stelle, sondern selbst in welcher Art und Weise die Fragmente des schadhaften Gebäudes am Boden liegen, kann Aufschluss über ihre ursprüngliche Anbringung geben und muss schriftlich vermerkt werden.9 Unter grafischer Bestandsaufnahme versteht Viollet-le-Duc keine pittoresken Darstellungen, wie sie damals po­pulär waren; vielmehr fordert er orthogonale Projektionen und ­begrüßt im Übrigen später auch die Fotografie. Seine Bauaufnahme ist insgesamt von einer „für damalige Verhältnisse geradezu sensationellen Präzision“ geleitet.10 Das eigentliche Verfahren der Restauration gliedert sich nach Viollet-le-Duc folgendermaßen: Jedes Bauwerk mit all seinen Bauteilen sollte erstens in seinem eigenen Stil wiederhergestellt werden.11 Der architektonische Stil (style) bedeutet für Viollet-le-Duc „das Sichtbarwerden eines Ideals auf der Grundlage eines Prinzips“.12 Er versteht Stilformen typologisch. Die meisten Bauten, gerade des Mittelalters, wurden aber, wie Viollet-le-Duc daraufhin anmerkt, 22

im Laufe der Zeit umgebaut, verändert oder überformt. Im Falle einer Re­ konstruktion sei zweitens eine Stileinheit zu favorisieren. Die Einheit (unité) ­eines künstlerischen Entwurfs ist für Viollet-le-Duc „wahrhaftig das erste ­Gesetz“ jeder Architektur.13 Hier ist dem älteren Stil der Vorrang zu gewähren, denn spätere Eingriffe beeinträchtigen die ursprüngliche Erfahrung des ­Bauwerks. Kaum aber hat er die Idee der Stileinheit dargelegt, gibt er selbst zu bedenken, dass „absolute Prinzipien“ in diesem Zusammenhang zu „Absurditäten“ – sprich: massiver Zerstörung erhaltener Bauteile – führen könnten. Er spielt daraufhin einige konkrete Beispiele durch und kommt auf mehrere Faktoren, die in Bezug auf die Einheit des Stils berücksichtigt werden müssen. Ältere Reste in einem später neu errichteten Bau sind generell als Spuren der früheren Ausgestaltung zu erhalten. Spätere Veränderungen aber dürfen nicht zerstört werden, wenn ihre kunst- oder historische Bedeutung höher eingestuft wird.14 Die Maxime der Einheit ist demnach nicht um jeden Preis zu erreichen. Restaurieren bedeutet drittens: Jedes entnommene Bauteil solle nicht möglichst exakt ersetzt, sondern möglichst perfekt, in dauerhafteren Materialien und makelloseren Formen neu konstruiert werden.15 Eine Restaurierung müsse zu einer Verbesserung des Monuments führen. Die beste Art aber, ein ruinöses Bauwerk zu erhalten, ist für Viollet-le-Duc, diesem eine (neue) Funktion zu geben. Dann sei es aber viertens ratsam, dass der Restaurator seine baukünstlerischen Fähigkeiten ins Spiel bringt: „Si l’architecte chargé de la restauration d’un édifice doit connaître les formes, les styles appartenant à cet édifice et à l’école dont il est sorti, il doit mieux encore, s’il est possible, connaître sa structure, son anatomie, son tempérament, car avant tout il faut qu’il le fasse vivre. Il faut qu’il ait pénétré dans toutes les parties de cette structure, comme si lui-même l’avait dirigée […].“16 Der Restaurator solle durch Einfühlung in die Erbauer und ihre künstlerischen Ideen das Gebäude wieder zum „Leben“ erwecken. Es könne gerade nicht das Ziel sein, den Bau möglichst „buchstabengetreu“ zu reproduzieren 23

(„reproduction littérale“), vielmehr gelte es, ihn gewissermaßen in den alten Formen zeitgemäß neu zu schreiben. Viollet-le-Duc bekennt, dass man sich mit einer derartigen Forderung „auf dünnes Eis“ begibt.17 Jede schöpferische Arbeit des Restaurators müsse deshalb auf dem umfassenden Verständnis des Monuments, also auf der vorangegangenen Bauforschung basieren, ansonsten sei sie rein hypothetisch. Sein Verständnis der Restauration aber lehnt jede Hypothese entschieden ab. Der Restaurator ist demnach nicht gänzlich frei, sondern in einem aneignenden Sinne schöpferisch tätig. Ein feiner, aber doch gewichtiger Unterschied. Freilich ist die Grenze zwischen einem frei schöpferischen Architekten des Historismus und einem aneignenden Restaurator fließend, und Viollet-le-Duc selbst überschreitet sie in seiner praktischen Arbeit immer wieder. Dennoch ist es nicht angemessen, schlichtweg jeden historistisch gestalteten Eingriff im Baumonument als „Restaurierung“ im Sinne Viollet-le-Ducs zu begreifen. Was ist historische Substanz: Material und Ideal Der Engländer John Ruskin (1819–1900) wird in der Literatur oftmals als Antipode von Viollet-le-Duc beschrieben. Ruskin war kein Architekt, sondern Kunsthistoriker und verfasste mit seinen Schriften The Seven Lamps of Architecture (1849) und The Stones of Venice (1851–53) ebenfalls wesentliche Beiträge zur Architekturtheorie seiner Zeit. Wie Viollet-le-Duc entpuppte er sich in diesen Werken als ein enthusiastischer Verehrer der Gotik, die er in intensiven Studien analysierte und in präzisen Architekturzeichnungen (jedoch vorwiegend von Fassaden) festhielt. Auch er forderte eine Wiederbelebung des gotischen Geistes in der Kunst und Architektur des modernen Lebens. Sein Verhältnis zur Rekonstruktion historischer Bauten aber könnte unterschiedlicher nicht sein. Wortgewaltig wetterte er gegen die Restaurierungspraxis und setzte sich für einen entgegengesetzten Umgang mit dem Baumonument ein. In Seven Lamps of Architecture schreibt er im 31. Aphorismus mit dem Titel Restoration, so called, is the worst manner of Destruction in geradezu predigendem Tonfall:

24

„[Restoration] means the most total destruction which a building can suffer: a destruction out of which no remnants can be gathered: a destruction accompanied with false description of the thing destroyed. Do not let us deceive ourselves in this important matter; it is impossible, as impossible as to raise the dead, to restore anything that has ever been great or beautiful in architecture. […] Another spirit may be given by another time, and it is then a new building; but the spirit of the dead workman cannot be summoned up, and commanded to direct other hands, and other thoughts.“18 Ruskin verdammt die historistische „Restaurierung“ als eine noch umfassendere Zerstörung des Baumonuments als sein Abriss, denn die in historischer Einfühlung entstandenen Neubauteile verschleierten zugleich den Verlust historischer Substanz. Dadurch verliere das Werk, von einem Künstler in einer bestimmten Zeit angefertigt, das ihm Wesentliche, nämlich seinen Geist (spirit). Dieser Geist ist für Ruskin in seiner zeitlichen Existenz begründet. Nicht die Form des behauenen Steins sei das Erhaltenswerte, denn diese ändert sich durch natürliche Einflüsse im Laufe der Zeit, sondern die Übermittlung von „some life, some mysterious suggestion of what it had been, and of what it had lost“. 19 Ruskin schreibt dem Monument nicht in erster Linie die Tradierung eines formalen und konstruktiven historischen Stilprinzips zu, sondern eine prinzipielle Authentizität, die allein im Alter des Werks liegt. Gemeint ist: Die einmalige, niemals wiederholbare Idee des (Bau-)Künstlers ist ausschließlich im geschaffenen Werk selbst fassbar. Der Begriff des Denkmals wird an die materielle Substanz gebunden. Eine nachträgliche Veränderung, eine aneignend schöpferische oder eine die Gestalt wie akkurat auch immer imitierende Rekonstruktion ist für Ruskin ohne Wert, ja mehr noch: eine Fälschung. Die Wahrung der materiellen Authentizität als alleinigem Wert eines Werks führt zum Prinzip der strikten Erhaltung: Diese muss sich in ihrer Tätigkeit darauf beschränken, statische Vorkehrungen zu treffen, um einen Bau nicht fahrlässig zu zerstören. Die von Ruskin zusammen mit William Morris gegründete Arts and Crafts-Bewegung etabliert einen „Cult of Authenticity“.20

25

Ruskin und Viollet-le-Duc entwickeln ihre Theorien aus der gemeinsamen Ablehnung der planlosen Restaurierungspraxis der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kommen jedoch zu gegensätzlichen Sichtweisen. Dass sich beide näher stehen, als in der Literatur oftmals verkürzt dargestellt, unterstreicht auch Martin Bressani. „Yet, it must be recognized that both writers agree on the impossibility of retrieving a monument’s original appearance. The most provocative aspect of Viollet-le-Duc’s definition is not so much his aiming for a ‘finished state’, but his acknowledgment that such a state ‘may have never existed’. The lucid admission does not mean that he abandoned concerns for authenticity. It points instead to his conviction that the artiste-restaurateur […] should have so totally ‘internalized’ the original spirit that created the monument that he can restore the latter […].“21 An dieser „Glaubensfrage“ scheiden sich die Geister von Ruskin und Viollet-le-Duc: ob nämlich jener spirit, wir können heute sagen: die Substanz, im Material alleine – das deshalb zu erhalten ist – oder in einem Ideal des Baumeisters liegt – das angeeignet, rekonstruiert und neu erschaffen werden kann. Bei Letzterem handelt es sich um eine ideale Substanz, die aber keineswegs metaphysisch zu verstehen ist, sondern künstlerisch und bewusst fiktiv. Begriff der Historie Aus diesen gegensätzlichen Vorstellungen von „Substanz“ lassen sich zwei grundverschiedene Einstellungen zum Begriff der „Historie“ herauslesen. Die Idee der materiellen Substanz, welche das Baumonument als kunst- und historisches Dokument zu erhalten trachtet, gründet auf den Prämissen einer wissenschaftlichen Kunstgeschichte, wie sie Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschreibt. Auch Ernst Gombrich sieht in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik (1820–29 / 1837) – und nicht in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums – die „Gründungsurkunde der neueren Kunstwissenschaft“.22 Darin wird erstmals ein allumfassendes System von der Kunst des Alten Ägyptens bis in Hegels Gegenwart beschrieben. Die Entwicklung der Kunst verläuft bei Hegel teleologisch und in einer historischen Notwendigkeit (versinnbildlicht durch den „Weltgeist“), womit er eine strikte Linearisierung der Geschichte formuliert. Jedes Kunstwerk, jedes Bauwerk stellt so – für 26

sich genommen unwiederbringlich – die Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. Die künstlerisch-ideale Substanz aber, wie sie Viollet-le-Ducs Schaffen als Restaurator prägt, fordert geradezu ein „Be-Nutzen“ der Historie, wie es Friedrich Nietzsche in dem Zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) als Maxime postuliert. Anders als Hegel ist Nietzsche die logisch fortschreitende Entfaltung eines vernünftigen Weltgeistes unerträglich. Für ihn gliedert sich die Historie in eine „Dreiheit von Beziehungen“, die einer „Dreiheit von Arten der Historie“ entspricht, namentlich der monumentalischen, der antiquarischen und der kritischen Art der Historie.23 Im 19. Jahrhundert sieht Nietzsche diese komplexe Formation der Geschichte (die in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung noch nicht, wie in seinem späteren Denken, zyklisch verläuft) jedoch durch ein gleichermaßen feindseliges wie leuchtendes Gestirn empfindlich gestört – „durch die Wissenschaft, durch die Forderung, daß die Historie Wissenschaft sein soll“.24 Sie trete in Konkurrenz zum Leben als einzige Bedingung: Die (historische) Wissenschaft vernichte mit ihren Urteilen zugleich „alles Lebendige“, das „einen geheimnisvollen Dunstkreis“ brauche.25 Das Wesen der Dinge werde durch einen Künstler nie reproduziert, sondern immer neu geschaffen. Alles andere „wäre eine Mythologie und eine schlechte obendrein: zudem vergäße man, daß jener Moment gerade der kräftigste und selbsttätigste Zeugungsmoment im Innern des Künstlers ist, […] dessen Resultat wohl ein künstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemälde sein wird“.26 Kunst als Dokument der Geschichte, Kunst, die durch und durch wissenschaftlich ­erkannt werden will, ist für Nietzsche am Ende dieses Weges zugleich als Kunst vernichtet. „In solchen Wirkungen ist der Historie die Kunst entgegengesetzt: und nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instinkte erhalten oder sogar wecken. Eine solche Geschichtsschreibung würde aber durchaus dem analytischen und unkünstlerischen Zuge unserer Zeit widersprechen, ja von ihr als Fälschung empfunden werden.“27 27

Nietzsche fordert eine „poetische Historie“, eine lebendige Historie, die wir in Viollet-le-Ducs Prinzip der Restauration archetypisch angewendet finden: Sie bietet dem Bewahrenden ebenso Raum wie dem aneignend Gestaltenden, der somit zwangsläufig auch Überliefertes zerstört. Sie ist im Sinne Nietzsches ein „Be-Nutzen“ der Geschichte im Namen der schöpferischen Kraft der Kunst. Aber unabhängig von Nietzsche hegt die historistische Rekonstruktion eine Abneigung „gegen die sich abzeichnende Vorherrschaft des Verstandes und ihren in der hegelschen Philosophie vorhergesehenen Sieg über die schöpferischen Kräfte der Empfindsamkeit und des Instinkts. […] In Frankreich [haben] Mérimée und Viollet-le-Duc die gleiche Beunruhigung zum Ausdruck gebracht.“ 28 Letztlich ist ein grundsätzliches Begriffsproblem Ausgangspunkt der Diskussion um Rekonstruktion im 19. Jahrhundert. Die Konzeptionen von Ruskin und Viollet-le-Duc beschreiben eine Aporie, die sich in den Definitionen von „Historie“ bei Hegel und Nietzsche spiegelt. Generell aber ist zu bemerken: Die im 20. Jahrhundert evident erscheinende Idee von authentischer Bausubstanz und materieller Originalität setzt sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts – und nur sehr langsam und gegen Widerstände – durch. Ruskin gebührt damit das Verdienst, die Grundlagen des Denkmals wissenschaftlich neu gedacht zu haben. So konstitutiv er für die moderne Denkmalpflege ist, so folgenlos bleibt er im Umgang mit der Frage, wie ein ruinöses Baumonument zu rekonstruieren sei. Denn ein Wiederaufbau darf unter keinen Umständen vorgenommen werden, der dokumentarische Charakter der Ruine allein muss in seinen Augen genügen. Mit dieser ablehnenden Haltung entwickelt er gerade kein architektonisches (Gegen-) Konzept der Rekonstruktion. Solche Konzepte entstehen erst aufbauend auf den Überlegungen einflussreicher deutschsprachiger Denkmalpfleger im frühen 20. Jahrhundert. Deshalb wird im Zweifelsfall – und dieser war die Regel – noch lange die historistische Rekonstruktion praktiziert, die im Folgenden an einem konkreten Baubeispiel veranschaulicht werden soll.

28

1.2

Viollet-le-Duc: Sainte-Madeleine, Vézelay (1840–58) Bauzeit: 1120–55 / ca. 1195–1240 Architekt der Rekonstruktion: Viollet-le-Duc Auftraggeber: Commission des monuments historiques Rekonstruktionsphase: 1840–58 Grundfläche: 3600 m² Kosten: 602 000 Francs

Im Jahr 1840 wurde der in der Commission des monuments historiques praktisch noch unerfahrene Viollet-le-Duc mit der „Restaurierung“ der romanischen Abteikirche von Vézelay betraut, die seine fulminante Laufbahn als Denkmalpflege-Architekt begründen sollte. Zugleich bildet sie den „Prolog“ zu seiner später im Dictionnaire dargelegten Theorie: An dem Verlauf der Restaurierungsarbeiten lässt sich die Herausbildung seiner Ideale ablesen. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Baugeschichte sollen sie beispielhaft für Viollet-le-Ducs Praxis näher beleuchtet werden. Baugeschichte von Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay Die Kirche Sainte-Marie-Madeleine wurde 858 von Girard de Rousillon gegründet und im karolingischen Stil erbaut. Nach einem Feuer im Jahre 1120 begann man in Vézelay unter Abt Renaud de Semur mit dem Neubau des Langhauses und verwendete – zum ersten Mal in Frankreich – Kreuzgratgewölbe. Die Bauarbeiten der dreischiffigen Basilika waren um 1135 beendet; die des vorgestellten Narthex ungefähr 20 Jahre später. Durch den immer ­beliebter werdenden Kult um Maria Magdalena, deren Reliquien Mitte des 11. Jahrhunderts „entdeckt“ wurden, wuchs die Bedeutung der Abteikirche von Vézelay rasant. Dass Bernhard von Clairvaux hier 1146 vor König Ludwig VII. und Gefolge den Zweiten Kreuzzug ausrief, mag dies nur exemplarisch veranschaulichen. Zwischen Ende des 12. Jahrhunderts und 1215 wurde deshalb eine Krypta für die Heilige sowie darüber ein nun in gotischen Formen ­gestalteter Ostchor neu errichtet. Um 1240 schmückte man das zentrale ­Portal der Vorhalle mit dem berühmten Tympanonrelief und flankierenden 29

Skulpturen. Als die Popularität der Kirche bei Pilgern Mitte des 13. Jahrhunderts plötzlich stark abnahm – die „Authentizität“ der Reliquien Magdalenas wurden infrage gestellt –, war Vézelay für Jahrhunderte nur noch von lokal begrenzter Bedeutung.29 Obwohl die Kirche ab 1668 keine liturgische Funktion mehr innehatte, wurde der Bau von den Bewohnern des Ortes instand gehalten und geschätzt. Auf den staatlichen Landkarten erlangte Sainte Madeleine erst nach einem Besuch von Prosper Mérimée im Jahr 1834 ihre Würdigung als kunst- und historisch relevantes Monument. Beim Skizzieren einer Innenraumansicht hörte Mérimée stetig kleine Steine im Gewölbe abbröckeln. Auch wenn nicht mehr exakt zu bestimmen ist, wie stark die alte Kirche in ihrer baulichen Substanz beschädigt war, stand außer Frage, dass eine großangelegte Restaurierung möglichst bald zu erfolgen hatte, um den Bau zu retten. Viollet-le-Ducs Rekonstruktion von Sainte Madeleine Im März 1840 begann Viollet-le-Duc mit der Bauaufnahme. In erstaunlicher Geschwindigkeit erarbeitete er darauf aufbauend erste Maßnahmen, um den Bau vor dem Einsturz zu bewahren. In den ersten Jahren konstruierte er die elf Strebepfeilerpaare am Außenbau des Kirchenschiffes vollkommen neu (Abb. 1) .

Die neuen Strebepfeiler waren strukturell verstärkt und basierten auf

zeitgemäßen statischen Berechnungen. Damit konnten sie filigraner errichtet werden, was ihnen nicht nur eine elegantere Erscheinung verlieh, sondern zugleich eine bessere Belichtung des Hauptschiffes ermöglichte. Im gleichen Zuge ließ er einen an der Südfassade angebauten einstöckigen und wenig repräsentativen Vorbau abreißen. Diese Freilegung der „ursprünglichen“ Formen hatte die verbesserte Lesbarkeit des Monuments im Sinn. Bald darauf nahm er auch den Innenraum in Angriff

(Abb. 2):

Während Viol-

let-le-Duc an den (von Westen gesehen) ersten drei Jochen nur strukturelle Reparaturen vornahm, ließ er das vierte bis sechste Joch des Hauptschiffes abtragen und neu aufbauen. Während die historisch erhaltenen Gurtbogen erkennbar gedrückt sind, verwendete Viollet-le-Duc für die rekonstruierten Bogen nun die „perfekte“ Halbkreisform. Dies stellt eine „Verbesserung“ der 30

Abb. 1: Vézelay, Sainte-Marie-­ Madeleine, Schnittzeichnung des ­Kirchenschiffs von Viollet-le-Duc vor (unten) und nach der Rekon­ struktion, ca. 1840

ursprünglichen Idee dar, die jedoch in einer Hinsicht für Viollet-le-Duc ungewöhnlich inkonsequent ist: Während die ersten drei (historischen) Bogen den charakteristischen polychromen Effekt durch abwechselnd verwendete Stein­ arten erzielen, sind die neuen Bogen bei ihm lediglich farbig gefasst. 1844 scheint der Wendepunkt in Viollet-le-Ducs Praxis zu sein, der auf seine später formulierte Theorie zuführt. Im Juni des Jahres legt er der Commission dar, wie mit den bisher noch nicht restaurierten gotischen Gewölben (7.–10. Joch) im Mittelschiff zu verfahren sei. Sie sollten nicht mehr im überkommenen – gotischen – Zustand erhalten, sondern in ihrer früheren – romanischen – Form rekonstruiert werden. Die romanische Wandgliederung, 31

Abb. 2: Sainte-Marie-­ Madeleine, Langhaus und Chor. Innenansicht, von Westen

halbrunde Vorlagen auf rechteckigen Rücklagen, war ohnehin noch vorhanden, die Rückführung des ursprünglichen Gewölbes deshalb nur folgerichtig. Da er zuvor schon drei romanische Joche rekonstruiert hatte, sei das Vorgehen schon erprobt. Warum es aber vorzuziehen sei? „Cette belle nef du XIème siècle sera donc alors complète.“ 30 Hier formuliert er erstmals die Idee einer stileinheitlichen „Vollendung“ als Maxime der Restaurierung. Lediglich das letzte, das zehnte Joch, sollte, quasi als Dokument der späteren Veränderung, konserviert werden, da es zugleich einen Übergang zum (gotischen) Querschiff und Chor bildete. Der Vorschlag war auch innerhalb der Commission umstritten, weil Restaurierung damit bedeutete, dass historisch erhaltenes Material zerstört werden musste. 32

Zustand der Vollkommenheit Trotzdem konnte Viollet-le-Duc seine Pläne verwirklichen. Diesmal gestaltete er die steinernen Gurtbogen in einer regelmäßigen Polychromie, w ­ odurch sie noch einmal „perfekter“ erschienen als die drei zuvor schon von ihm rekonstruierten. Zu diesen massiven strukturellen Eingriffen im Mittelschiff kam hinzu, dass Viollet-le-Duc auch die in der Kirche vorhandene dekorative Ausschmückung aus späteren Zeiten gänzlich entfernen ließ; nur die bedeutenden romanischen Kapitelle verblieben an Ort und Stelle. Die Konstruktion wurde damit zusätzlich betont und der lichte Raum konnte „be contemplated on a purely aesthetic basis“.31 Selbst Pevsner stimmt emphatisch ein: „Die herr­ liche Kirche von Vézelay [… ist] von edelsten Proportionen und stolzer Pracht.“ 32 Wie Kevin D. Murphy in seinem Kapitel Viollet-le-Duc and the Reinvention of Vézelay darlegt, besitzt der Innenraum von Sainte Madeleine eine architektonische „Dialektik“, welche die historischen Formen meisterlich in einer modernen Ästhetik auszudrücken versteht. „The space demands representation for more than historical reasons: it has a peculiarly modern appeal that other Romanesque buildings lack, an attraction that is the direct consequence of its restoration by Viollet-le-Duc.“33 Die Restaurierung zielt auf eine verbesserte Lesbarkeit der vergangenen Architektur- und Formensprache ab und übersetzt den Bau in ein für den Betrachter des 19. und 20. Jahrhunderts entsprechendes ästhetisches Empfinden. Sainte Madeleine zeichne sich, wie Viollet-le-Duc in seinem umfangreichen Überblickskapitel über Architecture (1854) im Dictionnaire meint, durch „d’une sévérité de style peu commune alors, dépouillés d’ornements et de bas-reliefs“ aus.34 Anders als in den von Cluny abhängigen Nachfolgebauten erwächst für ihn in Vézelay auf „mysteriösen Wegen“ jener Gedanke „zur Einheit“.35 Es ist erhellend zu sehen, dass er in seinem architekturgeschichtlichen Abriss genau jene Elemente von Sainte Madeleine als bedeutsam unterstreicht, die er selbst in der Restaurierung einige Jahre zuvor erst wieder erfahrbar gemacht hat: Der für seine Rekonstruktion vorherrschende Gedanke der Einheit wird (rückwirkend) konstitutiv für die architektonische Idee von Vézelay selbst. „Viollet-le-Duc reconstructed the nave of Vézelay in 33

both the literal and figurative (through his writing on the subject) senses in order to emphasize its importance as a transitional monument.“ 36 Der „Zustand der Vollkommenheit“ macht es als kunsthistorisches „Schlüssel“-Monument der Romanik auf ihrem Weg zur Gotik erst verständlich. Die Gotik aber ist für Viollet-le-Duc und seine Zeitgenossen nicht ein Stil unter vielen, sie ist der französische Nationalstil schlechthin. Die Kirche wird damit zum Anschauungsobjekt für die Entwicklung des modernen Staates. Aus Sicht der modernen Denkmalpflege ist es leicht, Viollet-le-Duc damit zugleich die Zerstörung der jahrhundertealten historischen Substanz vorzuwerfen. Die Rekonstruktion aber kann insofern als „gelungen“ gelten, als Vézelay bis heute in jedem Überblickswerk zur europäischen Architekturgeschichte als genau dieses Schlüsselmonument zu finden ist. So problematisch Viollet-­ le-Ducs Maßnahmen nach heutigem Maßstab erscheinen: Aus didaktischer Sicht funktioniert Sainte Madeleine noch immer erstaunlich gut. Architekturgeschichte wird nicht nur beschrieben, sondern konstruiert und damit inszeniert und ausgestellt. Tatsächlich entschieden Mérimée und Viollet-le-Duc im Laufe der Arbeiten, dass die ehemalige Kirche nicht ihre eigentliche Funktion zurückerhalten, sondern als Museum dienen würde. Die Inszenierungsmethode der Restaurierung ist dabei letztlich aufs Engste mit der Ausstellung kunst- und historischer Artefakte in den Museen der damaligen Zeit verwandt. Gemeint ist das historistische Museum, wie wir es beispielsweise im Neuen Museum in Berlin von Friedrich August Stüler verkörpert finden (siehe Kap. 6.1). Originale, Kopien und künstlerische Nachschöpfungen gehen eine untrennbare Verbindung ein und vereinen sich zu einem ­Gesamtkunstwerk. Inwieweit Viollet-le-Duc dabei oftmals im Widerspruch zu seiner (später ­ausformulierten) Theorie steht, zeigt die Westfassade. Diese wurde ab 1846 restauriert und erfuhr einige entscheidende Änderungen. Die beiden verblen­ deten Seitenportale wurden wieder geöffnet und ihre Dekoration nachmodelliert. Für das zentrale Tympanon entstand eine vollkommen neue Skulpturen­ gruppe, die das Letzte Gericht zeigt. Im darüberliegenden ersten Stockwerk 34

wurden Teile der ursprünglichen Figuren des großen Fensters aus dem 13. Jahrhundert ersetzt, um die Symmetrie zu betonen; die seitlich daran angrenzenden Skulpturen wurden zugunsten neu hinzugefügter Strebepfeiler entfernt. Der südliche Turm wurde bis auf die Höhe der Tribüne abgerissen und neu errichtet. Erfundene Wasserspeier, für die Viollet-le-Duc später in Paris besonders berühmt werden wird, Köpfe und eine krönende Balustrade kamen hinzu. Die Ausschmückung des Turms war damit deutlich ausgearbeiteter als zuvor – die Grenze zur historischen Hypothese weit überschritten. Warum aber hat sich Viollet-le-Ducs Konzept mit seinen kühnen Vorstellungen letztlich überhaupt durchsetzen können? Innerhalb der Commission des monuments historiques bestand offensichtlich das dringende Bedürfnis, in den ersten Jahren ihrer Existenz einen „Prototypen“ zu finden, nach dem sich zukünftige Restauratoren richten sollten. Denn es zeichnete sich immer deut­ licher ein qualitatives Problem ab: Seit Juni 1841 schlug die Kritik an der ­Restaurierung der Abteikirche in Saint Denis durch den an der Ecole des ­Beaux-Arts klassizistisch ausgebildeten Architekten François Debret – auf den Montalemberts vandalisme restaurateur sicherlich zutrifft – in der Öffentlichkeit hohe Wellen. Nicht nur hatte dieser bauarchäologisch nicht zu rechtfertigende figürliche Skulpturen und geometrische Dekorationen eingefügt. Auch die im Zuge seiner Rekonstruktion durchgeführte brachiale Zerstörung des beschädigten Nordturms stieß auf Ablehnung. Aber erst als genau dieser rekonstruierte Turm schon 1846 wieder zusammenzufallen drohte und daraufhin abgebaut wurde, musste Debret endgültig seine Position aufgeben.37 Die „Restaurierung“ in Vézelay verlief dagegen vergleichsweise problemlos und schritt zudem in hoher Geschwindigkeit voran. Im Gegensatz zu den oftmals rein hypothetischen Rekonstruktionen vieler seiner Kollegen stützte sich Viollet-le-Duc großteils auf ein bauarchäologisches Fundament. Die Restaurierung von Vézelay wurde deshalb nicht nur ab 1848 offizielles Leitbild innerhalb der Commission des monuments historiques, sondern auch europaweit als vorbildlich angesehen.38 Damit setzte sich Viollet-le-Duc nicht nur gegen Ruskin, sondern auch gegen viele moderatere Positionen innerhalb der Commission, wie sie unter anderem der Generalinspekteur Mérimée vertrat, 35

durch. „Viollet-le-Duc blieb richtungsweisend für die ganze Epoche.“ 39 Vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil er das Monument eben auf eine damals durch­ aus grandiose, „moderne“ Weise inszenierte. Viollet-le-Duc hatte das Konzept der Restauration radikal zu Ende gedacht: Ein Denkmal ist darin nicht auf Konservierung für zukünftige Generationen, sondern auf die lebendige Gegenwart hin ausgelegt. Begriff der historistischen Rekonstruktion Die historistische Rekonstruktion ist ein baukünstlerisches Konzept. Der Architekt soll sich auf Basis archäologischer Grundlagenforschungen den Bau aneignen, ihn sodann schöpferisch „verbessern“ und „vollenden“. Zugunsten des Ideals einer der ältesten Bauepoche folgenden Stileinheit können spätere Anbauten und Veränderungen rückgebaut und zerstört werden. Durch Freilegung wird die Lesbarkeit des Monuments herausgestellt und betont. Diese Art der Rekonstruktion ist eine zeitbedingte, „poetische“ Interpretation der Historie, die das Monument in einen bewusst fiktiven „Urzustand“ zurückversetzt und als Anschauungsobjekt der Geschichte ausstellt. Viollet-le-Duc jenseits historistischer Rekonstruktion Abschließend erwähnt sei noch eine über die übliche historistische Rekon­ struktion des 19. Jahrhunderts hinausgehende Methode, die Viollet-le-Duc im Dictionnaire und in seinen Entretiens sur l’architecture (1872), also nur auf dem Papier und nie in der Praxis, ausgelotet hat. Das Interesse des franzö­ sischen Architekten an der Gotik war nicht nur formal und auf den Dekor ­beschränkt, sondern konstruktiv. Im Dictionnaire beschreibt er im ausführlichen Abschnitt über Konstruktion (Construction) diese nicht nur als technische Wissenschaft, sondern als Kunst und empfiehlt ausdrücklich die Wiederbelebung des mittelalterlichen Baumeistertypen, des Constructeurs.40 In ihm sieht er die höchste Blüte der Kunst sowie Experimentierfreude, Wahrhaftigkeit, Unbefangenheit und den Willen, mit der Vergangenheit radikal zu brechen. Diese Prinzipien, und nicht die gotischen Formen, gilt es seines Erachtens, als Baumeister zu verfolgen. Für Viollet-le-Duc „kann es keinen vernünftigen Architekten mehr geben, der […] die – gelinde gesagt – Sinnlosig36

keit gotischer Imitationen nicht begreift und nicht zugleich auch den Nutzen sieht, den das gründliche Studium dieser Kunst bringen kann“.41 Exemplarisch legt er diese Handlungsanweisungen in seinen imposanten Entwürfen mit ­Eisenkonstruktionen im historischen Kontext vor. Auch im Kapitel zur Re­ stauration finden sich übrigens schon kurze Überlegungen dazu. So empfiehlt er für ein zu erneuerndes Dach eines mittelalterlichen Bauwerks nach eingehender statischer Prüfung, eine moderne Eisenkonstruktion zu verwenden. Diese dann hinter historisierendem Dekor zu verstecken, würde dem gotischen Geist widersprechen, weshalb Viollet-le-Duc dafür plädiert, die neuen Hinzufügungen sichtbar zu lassen.42 Diese ersten Grundideen einer „interpretierenden Rekonstruktion“ werden in Kapitel 2 weiter analysiert.

1.3

Willy Weyres: Sankt Maria im Kapitol, Köln (1956–76/84) Bauzeit: um 1027–65 / 1200 / 1240 Architekt der Rekonstruktion: Willy Weyres Rekonstruktionsphase: 1956–76/84 Grundfläche: 2600 m²

Bevor sich die Arbeit mit den modernen Konzepten der Rekonstruktion im 20. Jahrhundert befasst, soll das Beispiel von Sankt Maria im Kapitol in Köln verdeutlichen, dass noch bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg historistisch „restauriert“ wurde. Dafür ist zunächst eine kurze Zusammenfassung der Baugeschichte notwendig. Baugeschichte von Sankt Maria im Kapitol Auf den Ruinen eines römischen, der kapitolinischen Trias Jupiter, Juno und Minerva geweihten Tempelbaus hatte Plektrudis, Frau des merowingischen Hausmeiers Pippin, um 700 n. Chr. eine Kirche errichtet. Der heute rekon­ struierte Bau entstand nach einheitlichem Plan unter der Regentschaft der mächtigen Äbtissin Ida (1027–60) aus dem Haus der Ezzonen, Schwester des Kölner Erzbischofs Hermann II. und Nichte Kaiser Ottos III. Die ihrem Rang 37

entsprechend prächtige dreischiffige Pfeilerbasilika besaß einen dreiteiligen, turmartigen Westbau mit Empore und eine um die ausgeschiedene Vierung gruppierte Dreikonchenanlage mit Umgang sowie darunterliegender Krypta im Osten. Nur die Seitenschiffe, die Umgänge des Trikonchos und die Halbkreiskonchen waren gewölbt; das Mittelschiff und die Vierung waren flachgedeckt. Ob die Vierung in diesem Gründungsbau schon von einem quadratischen oder oktogonalen Turm bekrönt war, ist nicht geklärt. In dieser Frage widersprechen sich Rahtgens43 (1913, mit Vierungsturm,

Abb. 3 und Abb. 4)

und

Schorn (1937, ohne Vierungsturm) in ihren zeichnerischen – und teilweise ­hypothetischen – Rekonstruktionsversuchen. Gerade aber die Verbindung von Longitudinalbau (Langschiff) und Zentralbau (Dreikonchenanlage) ist damals jedenfalls gelungen gelöst worden. Der Kreuzaltar wurde 1049 geweiht, die Schlussweihe ist für 1065 überliefert. Mitte des 12. Jahrhunderts wurden erstmals die Nord- und die Südkonche des Trikonchos erneuert und außen für die Stabilisierung des Gewölbeschubs notwendige Strebepfeiler angebracht sowie Fenster vergrößert und durch eine Wandgliederung im Inneren gerahmt. Um etwa 1200 erfuhr die Ostkonche noch weitergehende Umbauten, wiederum im zeitgenössischen Stil: eine räumliche Erweiterung bis zum Vorjoch – was die Längsrichtung des gesamten Bauwerks auf Kosten der ursprünglich deutlich zentralisierenden Tendenzen des Trikonchos betonte – sowie einen nun zweischaligen Obergaden und dekorative Elemente (Blendarkaden, Plattenfries, Zwerggalerie) am Außenbau. 1240 wurde das Mittelschiff im „gebundenen System“ (sechsteilige Gewölbefelder, rhythmisierte Pfeilerbündel) gewölbt, was nicht nur eine neue Innenraumerfahrung begründete, sondern auch eine Erhöhung der Seitenwände und der Dachform und damit eine Veränderung der Dimension und Proportion des Außenbaus mit sich brachte. Mit der Sakristei, Hardenrathund Hirtzkapelle im Osten entstanden im 15. Jahrhundert weitere Anbauten. Das 16. Jahrhundert brachte große, spätgotische Maßwerkfenster mit farbiger Verglasung an den Seitenschiffen und Umgängen. 1637 brach der zentrale Westturm zusammen; gut ein Jahrhundert später mussten auch die flankierenden Turmbauten teilweise abgetragen werden. Der dann errichtete niedrige Knickhelm und die Zeltdächer waren ein wenig 38

Abb. 3: St. Maria im Kapitol, um 1035–1065. Grundriss nach Hugo Rahtgens

Abb. 4: St. Maria im Kapitol, um 1035–1065. Aufriss nach Hugo Rahtgens

39

repräsentativer Ersatz. Im 19. Jahrhundert wurde die barocke Innenausstattung entfernt, „der Innenraum [erhielt] mit malerischen und bildhauerischen Mitteln eine durchdachte, ambitionierte und aufwendige Neufassung sowie eine liturgiebezogene Ausgestaltung aus dem Geiste des rheinisch-katholischen Historizismus“.44 In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde „romanisiert“ und auch die historistische Ausstattung wieder entfernt. Ein letztendlich nicht mehr realisiertes Gestaltungskonzept sah eine farbige Verglasung der Obergadenfenster sowie der jetzt wieder rundbogigen Fenster in den Umgängen der Dreikonchenanlage vor, für die Anton Wendling schon Entwürfe angefertigt hatte, datiert auf 1938/39. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Altstadt von Köln fast gänzlich zerstört; auch Sankt Maria im Kapitol war durch Bomben schwer getroffen. Das Westwerk war eingestürzt, der zentrale Turm lag bis zum Sockel in Trümmern. Das Gewölbe war im Mittelschiff gänzlich eingestürzt, im südlichen Seitenschiff bis auf zwei Joche ebenfalls. Von der Vierung standen nur noch die Pfeiler, die nördlichen davon zerrüttet. Mehrfach schwer getroffen war auch die Dreikonchenanlage im Osten. Die Nordkonche mit der Hirtzkapelle war vollkommen zertrümmert, die Südkonche stand noch, eine Säule im Umgang aber war eingebrochen und die Hardenrathkapelle bis auf die Außenmauern zerstört. Besonders tragisch war der Fall der Ostapsis, die den Krieg zwar überlebte, jedoch – strukturell nicht unterstützt – 1948 in sich zusammenstürzte. Der Dom- und Diözesanbaumeister Willy Weyres initiierte einen Architektur­ wettbewerb, an dem 1955/56 sechs Architekten teilnahmen, unter anderem Dominikus und Gottfried Böhm sowie Rudolf Schwarz, die jeweils progressive, interpretierende Rekonstruktionen vorschlugen. Aber innerhalb der Jury hatte sich, wie aus den Stellungnahmen zu den einzelnen Projekten ablesbar, schon ein historisierender Wiederaufbau durchgesetzt. Nachdem keiner der eingereichten Entwürfe diesen Ansprüchen genügte, fiel die Verantwortung wieder an Weyres zurück.

40

Willy Weyres’ Rekonstruktion von Sankt Maria im Kapitol Willy Weyres (1903–1989) entschied nun offensichtlich im Alleingang, das Mittelschiff des Langhauses nicht wieder mit einem gotischen Gewölbe zu versehen, wie es dem Vorkriegszustand entsprochen hätte, sondern mit einer hölzernen Flachdecke, wie sie im romanischen Gründungsbau des 11. Jahrhunderts existierte. Dafür wurden die oberen 140 Zentimeter der beiden Wände des Mittelschiffes abgetragen, welche im Zuge der mittelalterlichen Gewölbekonstruktion hinzugekommen waren. Lediglich die fragmentarisch erhalten gebliebenen Dienstbündel zwischen Arkadenzone und Obergaden blieben als „archäologische Indizien“ 45 jener späteren Veränderung erhalten. Die bis 1957 eingesetzte Flachdecke besitzt zwei leicht geneigte Seiten mit parkettartiger Musterung, die durch eine schmale Tonne in der Mittelachse verbunden sind. Es handelt sich also nicht um eine „romanische“, sondern um eine Lösung in dezidiert modernen Formen. Eine ähnlich eigenwillig-modern interpretierende Variante errichtete Weyres zur gleichen Zeit in Gestalt der neu­a rtigen „Maßwerkfenster“ aus Londorfer Basaltlava im südlichen Seitenschiff. Während diese – in den damaligen Reaktionen zum Teil auf offene Ablehnung stoßenden – Maßnahmen zumindest erkennbar moderne Hinzufügungen darstellen, verfährt Weyres im schwer zerstörten Ostteil der Kirche ab 1961 durchgängig nach dem Konzept der historistischen Rekonstruktion, die hier genauer betrachtet werden soll. Die, wie bereits erwähnt, vielfältig veränderte Dreikonchenanlage mit Krypta war größtenteils zerstört. Lediglich die Südkonche hatte den Krieg in Teilen unbeschadet überstanden. Sie diente Weyres als direktes Vorbild für die Rekonstruktion der Nordkonche (1961–63) und der Ostkonche (1969–74)

(Abb. 5) .

Problematisch war dieses Vorgehen, das offensichtlich einen romanischen „Urzustand“ wiederherstellen wollte, im Speziellen dadurch, dass damit zugleich die Veränderungen des Obergadens der Südkonche aus dem 15. Jahrhundert übernommen wurden. Die „ideal“ romanisch rekonstruierte Nordkonche besitzt nun anachronistische gotische Spitzbogen. Diese Entscheidung Weyres’ mag sich wohl auf Gründe der Symmetrie und Konformität stützen, doch hier scheint für Ulrich Krings der „Vereinheitlichungsdrang […] ad absurdum geführt“.46 41

Abb. 5: St. Maria im Kapitol nach der Rekonstruktion. Ansicht von Nordosten

Gerade die Ostkonche aber war in der spätstauferischen Zeit des 13. Jahrhunderts nicht nur deutlich prächtiger geschmückt, sondern in der gesamten Raumerfahrung auf eine Betonung der Ost-West-Achse hin ausgelegt. Ein nun „synchrones“, sprich: die Südkonche kopierendes Verfahren führte die spätromanische Konche wieder in die frühere Romanik zurück und damit die drei nun in gleichen (teilweise anachronistischen) Formen erscheinenden Konchen zurück in eine räumliche Ausrichtung auf die zentrale Vierung. Rahtgens zeichnerischer Rekonstruktionsversuch von 1913 diente als Grundlage. Besonders kritisch zu beurteilen ist, dass dafür große Teile der historischen Substanz, die sich noch an Ort und Stelle befanden, rückgebaut wurden. Mörsch spricht in diesem Zusammenhang von der „Spitze“ einer im 19. Jahrhundert begonnenen „langen Reihe von […] Geschichtsfälschungen“ und von einem „sakrilegartigen Fehlverhalten[] am Denkmal“.47

42

Historistische Rekonstruktion und schöpferische Denkmalpflege Weyres erachtet summa summarum nicht die über die Jahrhunderte überkommene Bausubstanz als für die Nachwelt erhaltenswert, sondern einen „idealen“, durch spätere Veränderungen noch nicht überformten Gründungsbau. Die Kirche in ihrer heutigen Form verkörpert „die Wiedergewinnung der ‚Idee‘ des Gründungsbaus des 11. Jahrhunderts, die charakteristische Verbindung von Lang- und Zentralbau“.48 Insgesamt sind die neu hinzugefügten Bausteine aber „besser“, respektive präziser und gleichmäßiger gehauen. Im wiedergewonnenen „Raum- und Baukörperbild“ ist dadurch „der Eindruck des puristischen, spröden, ja akademischen Charakters des Ganzen vorherrschend“.49 Es ist ein neuer – freilich fiktiver – Zustand der „Vollkommenheit“ im Sinne Viollet-le-Ducs, der so nie existiert hat. Auch Hubel betont jenes Prinzip der zeitgenössischen Aneignung. „Die intendierte Raumwirkung sollte von lapidarer Klarheit, aber auch von monumentaler Großartigkeit sein. Letzt­ lich entpuppt sich die Kirche bei genauer Betrachtung als ein Bau, der – ­u nter Verwendung ausgewählter historischer Glieder – die Vorstellung der fünf­ ziger Jahre von zeitgenössischer Sakralarchitektur verwirklicht. Die Architektur des Mittelalters ist in der Schöpfung des mittleren 20. Jahrhunderts aufgegangen; beide Elemente sind zu einer Synthese verschmolzen, die nicht mehr getrennt oder ‚zurückgebaut‘ werden kann.“50 „Die ‚Kriegsschäden wurden beseitigt‘“ und es gab „zahlreiche ‚Korrekturen‘“, wie Krings kritisch anmerkt. Er subsumiert: „Der Trikonchos von St. Maria im Kapitol stellt somit im Rahmen des (Wieder-)Aufbaus der Kölner Kirchen das Extrem-Beispiel für die Anwendung der Maximen der ‚schöpferischen Denkmalpflege‘ dar […].“ 51 Der Begriff schöpferische Denkmalpflege etabliert sich in den 1930er-Jahren. Selbst wenn ihn Krings im Bewusstsein der modernen Denkmalpflege selbstverständlich kritisch verwendet, bleibt er aus zweierlei Gründen zumindest missverständlich. Zum einen ist nicht nur jener Wiederaufbau schöpferisch; dies trifft auch für die zeitgenössisch interpretierende und die konzeptuelle Rekonstruktion zu. Zum anderen intendiert er eine „Denkmalpflege“, wie sie im 19. Jahrhundert verstanden wird; mit der modernen Denkmalpflege kann der Begriff dagegen kaum in Einklang 43

gebracht werden. Der Begriff historistische Rekonstruktion bietet sich daher weiterhin an. Die Rekonstruktion von St. Maria in Kapitol ist insbesondere im östlichen Bereich der Kirche eine schöpferische Wiederherstellung eines hypothetischen Urzustandes. Problematisch erscheint daran, dass sie – genau wie Sainte ­Madeleine in Vézelay – in jedem Lehrbuch zur Architekturgeschichte als Musterbeispiel romanischer Baukunst behandelt wird. Krings schlägt vor, es dagegen als „neo-neuromanisches Bauwerk“ zu betrachten, wobei es jedoch „zugleich ein typisches Werk der 1950er-Jahre“ darstellt.52 Im Rahmen der hier unternommenen Klärung der Terminologie kann man das Werk von Willy Weyres dagegen als historistische Rekonstruktion bezeichnen.

44

Anmerkungen

23 Nietzsche 1954, S. 219 ff. 24 Ebd., S. 231. 25 Ebd., S. 254. 26 Ebd., S. 247.

1

Pevsner 1968, S.13 ff.

2

Eine aussagekräftige Auswahl an Memoranden und Gutachten des „bedeutendste[n] Denkmal­ pfleger[s]“ im Deutschland des frühen 19. Jahr­ hunderts stellt Huse 1984, S. 62 ff. zu­sammen.

3

Für eine Zusammenfassung siehe Lipp 2008, S. 25 f.

4

Scott 1857, S. 227 (Hervorh. i. O.).

5

Hubel 2011, S. 54.

6

Unter Louis Philippe erging in Frankreich nach der Juni-Revolution von 1830 eine erste Anordnung zur Erhebung des Bauzustandes der nationalen ­Monumente; mit der Gründung des Comité des arts et ­monuments 1834 begann ihre Klassifizierung. Die Commission des monuments historiques wurde 1837 unter Generalinspektor Prosper Mérimée eingerichtet und kann als erste wirklich funktionierende und systematisch organisierte staatliche Denkmalpflege, freilich unter den hier beschriebenen Vor­ zeichen des 19. Jahrhunderts, verstanden werden. Mit der Gründung geht im Übrigen auch der Begriff „monument historique“ in den offiziellen Sprach­ gebrauch über. Vgl. Choay 1997, S. 23.

7

„Der Begriff [Restaurierung] und die Sache sind beide modern. Ein Gebäude zu restaurieren heißt nicht, es zu erhalten, zu reparieren oder es wieder aufzubauen; es bedeutet, es in einen Zustand der Vollkommenheit zurückzuführen, der zuvor nie ­existiert haben kann.“ Viollet-le-Duc 1866, S. 14.

8

Choay 1997, S. 21.

9

Viollet-le-Duc 1866, S. 34.

27 Ebd., S. 252. 28 Choay 1997, S. 98 f. 29 Vgl. Murphy 2000, S. 4 f. 30 Viollet-le-Duc in einem Brief an den Innenminister vom 3. Juni 1844; zitiert nach ebd., S. 175. 31 Ebd., S. 5. 32 Pevsner 1997, S. 59 f. 33 Murphy 2000, S. 71. 34 Viollet-le-Duc 1854, S. 128. 35 Ebd., S. 126. 36 Murphy 2000, S. 123. 37 Schon kurz darauf übernahm ein anderer Restau­ rator seinen Platz: Viollet-le-Duc. Siehe ebd., S. 131. 38 Ebd.; siehe auch Choay 1997, S. 114 ff. 39 Hubel 2005, S. 347. 40 Für das Kapitel Konstruktion siehe Viollet-le-Duc 1993, S. 58 ff. 41 Ebd., S. 121 (Hervorh. i. O.). 42 Viollet-le-Duc 1866, S. 32. 43 Rahtgens 1913. 44 Krings 2007b, S. 361. 45 Machat 1987, S. 108. 46 Krings 2007b, S. 398. 47 Mörsch 1988, S. 121 f. 48 Krings 1980, S. 38. 49 Krings 2007b, S. 427. 50 Hubel 2005, S. 284. 51 Krings 2007a, S. 20 f. 52 Krings 2007b, S. 427.

10 Huse 1984, S. 86. 11 Viollet-le-Duc 1866, S. 22. 12 Viollet-le-Duc 1993, S. 17. 13 Für Viollet-le-Ducs Definition der Einheit siehe ebd., S. 8 ff. 14 Viollet-le-Duc 1866, S. 23 f. 15 Ebd., S. 27. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 32. 18 Ruskin 1903, S. 242. 19 Ebd., S. 243 (Hervorh. i. O.). 20 Miele 2005, S. 1 ff. und 30 ff. 21 Bressani 2014, S. 109 (Hervorh. i. O.). 22 Gombrich 1977, S. 7.

45

2 Interpretierende Rekonstruktion

Der Begriff des interpretierenden Wiederaufbaus oder der interpretierenden Denkmalpflege etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts vielerorts in Trümmern liegender Städte, so beispielsweise bei Hans Döllgast oder Rudolf Schwarz. Er zielt auf die Rekonstruktion des Baumonuments. Noch intakte historische Substanz wird wiederverwendet, neu hinzugefügte Bauelemente werden in zeitgemäßen Bauformen errichtet. Welche Kriterien eine interpretierende Rekonstruktion bestimmen, zeigen die folgenden Baubeispiele konkret auf. Wichtige Gründungsakte des Rekonstruktionsprinzips ist Alois Riegls Der moderne Denkmalkultus, die im Folgenden skizziert wird.

2.1

Alois Riegl: Der moderne Denkmalkultus (1903)

Um den Wert eines Denkmals bestimmen zu können, strukturiert und differenziert der österreichische Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Alois Riegl (1858–1905) in seinem Werk Der moderne Denkmalkultus (1903) erstmals umfassend den Begriff. Jedes Denkmal sei in einem dialektischen Verhältnis von verschiedenen Erinnerungswerten und Gegenwartswerten zu verstehen. Letztere gliedern sich für Riegl in den Gebrauchswert und den Kunstwert. Die Erinnerungswerte wiederum teilt er in den gewollten Erinnerungswert, den historischen Wert und den Alterswert. Gegenwartswerte Der erste Gegenwartswert ist der Kunstwert, den Riegl in den Neuheitswert und den relativen Kunstwert unterteilt. Der relative Kunstwert war seiner Meinung nach mit dem Aufkommen der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert unverbrüchlich kanonisch auf die Antike als absolut gültiges Kunstideal festgelegt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verlagerte sich diese Auffassung von einem der Antike verpflichteten Kunstkanon zu einem Kanon des gesamten 47

Spektrums der historischen Kunstperioden.1 Beide Modelle basieren auf ­einem objektiven Verständnis künstlerischer Werte, welches Riegl nun entschieden vom subjektiven Prinzip des „Kunstwollens“ abgelöst wissen will. Den Gedanken des „Kunstwollens“ hatte der Kunsthistoriker schon in seinem ersten wichtigen Werk Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (1893) formuliert. Damit drückte er aus, dass in einer Epoche etwas „gewollt“ werden kann, das den formalen Normen einer anderen Epoche wider­ spricht; das Wollen ändert sich „von Subjekt zu Subjekt und von Moment zu Moment“ und ist einem unaufhörlichen Wandel unterzogen.2 Entscheidende Folgerung daraus ist: Ein Kunstwert könne nicht absolut und ewiglich sein, sondern immer nur subjektiv in Relation zum eingenommenen Standpunkt der Gegenwart. Dies bedeute aber auch, dass der Kunstwert als objektive Kategorie für die Frage nach der Erhaltungswürdigkeit eines Monuments nicht greifen kann. Die Gegenwart müsse stets neu für sich entscheiden, w ­ elchem Kunstwollen sie einen höheren Kunstwert zuspreche. Aus diesem Grund ist der Kunstwert für Riegl eben kein Erinnerungs-, sondern ein Gegenwartswert. Dieser relative Kunstwert eines historischen Kunstwerks stehe dem Neuheitswert eines zeitgenössischen Bauwerks gegenüber, der sich aus seiner Aktualität speist. Im Laufe der Zeit nehme selbstverständlich Letzterer zugunsten des ersten Wertes ab. Der zweite Gegenwartswert ist der Gebrauchswert, der die praktische Funktion des Monuments umschreibt. Ein hoher Gebrauchswert sichere die Erhaltung, kann jedoch im Konflikt mit den Erinnerungswerten stehen. Während Letztere den unveränderten Zustand beibehalten wollen, wünscht dieser ­optimale Nutzungsmöglichkeiten. Für die bestmögliche Erhaltung müssten demnach beide Werte in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Erinnerungswerte Riegl zeigt darüber hinaus eine progressive Entwicklung der „Erinnerungswerte“ auf: von den „gewollten Denkmalen“, die einfache kommemorative Funktion besitzen und schon dem Patriotismus der Antike dienlich waren, zu einem historischen Wert, der das Denkmal als Dokument der Geschichte erfasst und mit dem Aufkommen der Renaissance gewürdigt wird.3 Das 48

bedeutet, „nicht den Werken selbst kraft ihrer ursprünglichen Bestimmung kommt Sinn und Bedeutung von Denkmalen zu, sondern wir moderne Subjekte sind es, die ihnen dieselben unterlegen“.4 In diesem historischen Wert begründet sich die Idee der Authentizität des konkreten Denkmals, wie es schon Ruskin konstatierte. Anders als Ruskins unverbrüchliche Grundprämisse definiert Riegl aber eben keine objektiv zu bezeichnenden Eigenschaften, die ein Gebilde zu einem Monument machen: „Ob, inwiefern und wofür etwas Denkmal ist, das entscheidet sich – so Riegls grundlegende Erkenntnis – nicht bei seiner Entstehung, sondern in seiner Rezeption.“ 5 Erst in jüngster Zeit wurde laut Riegl die dritte und höchste Stufe der Erinnerungswerte erkannt, die des Alterswerts, dem die größte Bedeutung zugemessen wird: „Der Alterswert eines Denkmals verrät sich auf den ersten Blick durch dessen unmodernes Aussehen. Und zwar beruht dieses unmoderne Aussehen nicht so sehr auf der unmodernen Stilform, denn diese ließe sich ja auch imitieren […]. Der Gegensatz zur Gegenwart, auf dem der Alterswert beruht, verrät sich vielmehr in einer Unvollkommenheit, einem Mangel an Geschlossenheit, einer Tendenz auf Auflösung der Form und Farbe, welche Eigenschaften denjenigen moderner, das heißt neuentstandener Gebilde schlankweg entgegengesetzt sind.“6 Der Alterswert erhebt den Anspruch, „auf die großen Massen zu wirken“. Sichtbar werde er durch die „zerstörende Tätigkeit der Natur, das ist ihrer mechanischen und chemischen Kräfte, die das Individuum wieder in seine Elemente aufzulösen und mit der amorphen Allnatur zu verbinden trachten“.7 Die Ruine gilt Riegl durch die deutlichen Spuren der Verwitterung, der Patina und dem Auseinanderbrechen der einzelnen Teile als radikales und letzt­ gültiges Exempel des Alterswertes. Im Verfall werde der Alterswert zwar ­weniger extensiv (mit dem Wegbrechen von immer mehr Teilen), dafür aber intensiver, weil malerischer und eindringlicher. Denn es „ist vielmehr der reine, gesetzliche Kreislauf des naturgesetzlichen Werdens und Vergehens, dessen ungetrübte Wahrnehmung den modernen Menschen vom Anfange des 20. Jahrhunderts erfreut“.8 49

An diesem Zitat wird ersichtlich, dass es Riegl beim Alterswert nicht mehr um die Erhaltung der authentischen Substanz geht – denn diese definiert den historischen Wert –, und es muss eben nicht für „ewige Erhaltung der Denkmale einstigen Werdens durch menschliche Tätigkeit gesorgt sein, sondern für ewige Schaustellung des Kreislaufes vom Werden und Vergehen“. Im Alterswert verliere das Denkmal seine „objektive Wesenheit“, um sich in der „subjektive[n] Stimmungswirkung“ zu entfalten.9 In dem Moment, in dem die Ruine zu einem „Steinhaufen“ wird, verliere sie ihren Alterswert, respektive ihren Denkmalcharakter. Dafür lösen sie neue Baudenkmale ab. Für den Alterswert interessiert das Denkmal also nicht in seiner Authentizität, sondern allein in seiner Wirkung, was für Huse einer „radikale[n] Entgrenzung des Denkmalbegriffs“  1 0 gleichkommt, da es nur noch als Auslöser und Stimulans einer Stimmung beim Betrachter dient. „Die Altersspuren […] sagen bei Riegl, anders als bei Ruskin, nichts Spezifisches über das Leben dieses einen, individuellen Denkmals aus, sondern nur noch etwas so Abstraktes wie die tiefsinnige Trivialität, daß die Zeit vergeht und alles ein Ende hat. Aus der konkreten Geschichte wird abstrakte, inhaltlose Zeit. […] Zwar kann nun potentiell alles zum Denkmal werden, aber zu erfahren ist an den Denkmälern immer nur dasselbe.“ 11 Alterswert vs. Neuheitswert Entschärft wird diese radikale Setzung des Alterswerts durch das dialektische Zusammenspiel mit den anderen Denkmalwerten, die, wenn auch weniger stark gewichtet, dennoch entscheidende Korrektive darstellen. Für Riegl bedeutet dies konkret: Da sich der Alterswert mit einer (neuen) Nutzung des Denkmals – einem höheren Gebrauchswert – besser bewahre, „fanden wir den Kultus des Alterswertes in die zwingende Lage versetzt, mindestens gebrauchs­ fähige Denkmale der neueren Zeit in einem Zustande erhalten zu müssen, der ihnen die Fortdauer ihres Gebrauchswertes garantierte“.12 Die historistische Rekonstruktion zur Zeit Riegls dagegen zerstöre nicht nur den historischen, sondern auch den Alterswert. In der Konsequenz meint Riegl also, „das moderne Werk soll auch in der Auffassung und in der Detailbehandlung von Form und Farbe möglichst wenig an ältere Werke erinnern. 50

Es drückt sich darin freilich die unverkennbare Tendenz aus, Neuheitswert und Alterswert möglichst strenge voneinander zu trennen; aber in der Anerkennung des Neuheitswertes als einer ästhetischen Großmacht liegt allein schon die Möglichkeit eines Kompromisses […]“.13 Riegl ist demnach keineswegs gegen jede Form von Rekonstruktion, aber sie muss für ihn in modernen Bauformen erfolgen. Es ist eine von Riegls großen Leistungen, anhand einer komplexen Systematisierung des Baudenkmals einen „Ausweg“ aus jenem Dilemma einer von Ruskin verstandenen Denkmalpflege aufzuzeigen, die eine schlichte Erhaltung des (ruinösen) Monuments als einzige Lösung akzeptierte.

2.2

Hans Döllgast: Alte Pinakothek, München (1952–57) Architekt: Leo von Klenze Bauzeit: 1816–36 Architekt der Rekonstruktion: Hans Döllgast Auftraggeber: Landbauamt München Rekonstruktionsphase: 1952–57 Grundfläche: 6000 m² Kosten: 830 000 Mark

Die Rekonstruktion der Alten Pinakothek in München gilt als das Hauptwerk von Hans Döllgast (1891–1974) und soll das moderne Konzept der interpre­ tierenden Rekonstruktion illustrieren. Zugleich spiegelt das von mehrfachen Kursänderungen gezeichnete Projekt auch einen nach dem Zweiten Weltkrieg geführten Richtungsstreit zwischen baukünstlerischem und archäologischem Vorgehen wider. Alte Pinakothek von Leo von Klenze 1816 hatte Kronprinz Ludwig von Bayern den Architekten Leo von Klenze beauftragt, einen eigenständigen Bau für die bisher in der Residenz verwahrte 51

königliche Gemäldesammlung zu entwerfen. Zwei Jahrzehnte später konnte die Alte Pinakothek eröffnet werden. Sie war nicht nur einer der ältesten eigenständigen Museumsbauten der Welt, sondern zudem ein Prototyp der modernen Gemäldegalerie. Klenzes Pinakothek war eine 150 Meter lange, in Ostwestrichtung ausgerichtete, dreischiffige Basilika. Die Quertrakte zu beiden Schmalseiten bezeichnete der Architekt selbst als Endpavillons. Die Fassaden des zweigeschossigen Baus mit Rundbogen und ionischen Säulen in der oberen Etage waren formal von verschiedenen Vorbildern der römischen und florentinischen Hochrenaissance inspiriert. Obwohl von Klenze aus ästhetischen Gründen nicht favorisiert, besaß das Dach eine Reihe von hoch aufragenden, walmförmigen Laternenfenstern, die eine optimale innere Belichtung gewähr­ leisteten. Um diese Dachsituation zu kaschieren, blendete er eine umlaufende Balustrade mit Statuen berühmter Künstler vor. Die Erschließung des Museums funktionierte über die östliche, zur Altstadt hin orientierte Schmalseite. Vom Vestibül trat der Besucher über eine Schachttreppe direkt in das Obergeschoss. Die Innenraumgestaltung stimmte Klenze mit dem Galeriedirektor und Maler Johann Georg von Dillis ab. Das Hauptschiff mit den Oberlichtern wurde räumlich als durchlaufende Enfilade gestaltet. In diesen imposanten Sälen sollten die größten und wichtigsten Werke Platz finden. Im Norden schloss sich eine Reihe kleinerer Kabinetträume an, die durch Seitenfenster beleuchtet waren. Das südliche Seitenschiff war als freie Loggia konzipiert, entlang derer die Besucher einzelne Säle direkt ansteuern konnten. Im Erdgeschoss befand sich zentral im Haupttrakt eine offen konzipierte Einfahrtshalle für Kutschen, um Besucher vorzufahren und Kunstwerke in die angrenzenden Magazine transportieren zu können. Rekonstruktion der Alten Pinakothek von Hans Döllgast Durch mehrere Bombentreffer brannte die schon seit Kriegsbeginn geräumte und geschlossene Pinakothek in den Monaten um 1944/45 aus. Stehen blieben nur die Außenmauern, und auch hier war in der Mitte des Baus eine 45 Meter breite Bresche gerissen. Es folgten jahrelange, zähe Diskussionen über eine mögliche Zukunft der Pinakothek. Schließlich konnte sich Hans Döllgast 1952 als Architekt des Wiederaufbaus durchsetzen. Als Professor an der 52

gegen­überliegenden Technischen Universität hatte er den Bau täglich vor ­Augen und nach der Zerstörung bereits ohne Auftrag erste Pläne für eine ­Rekonstruktion entwickelt. Während andere den Abriss der Ruine forderten, argumentierte er pragmatisch – vordergründig aus finanziellen Gründen – für ihren Erhalt. Außenbau Döllgast plädierte von Anfang an für eine Erschließung der neuen Alten Pina­ kothek über den zentralen Bereich des Längsriegels von Süden her, also über den Teil, der komplett zerstört war. Zwei von ihm eingereichte Entwürfe zeigen außergewöhnliche Varianten: In der Perspektive von 1952 ist das Unter­­ geschoss mit quadratischen Fenstern verglast, das Obergeschoss bleibt offen, wodurch die konstruktiven Elemente betont werden (Abb. 6) . Der ein Jahr darauf folgende Entwurf sah eine Vollverglasung des gesamten, durch Bomben­ einschlag zerstörten Bereichs vor – ebenfalls eine ausgesprochen moderne Lösung. Offensichtlich war für Döllgast damit aber schon zu diesem frühen Zeitpunkt klar, dass die teilweise noch erhaltene Loggia im südlichen Seitenschiff abgetragen werden sollte. Während über das Vorgehen an der Südfassade noch Unschlüssigkeit herrschte, hatte man schon mit der Wiederherstellung der Mauern des inneren Hauptschiffs und der Dächer begonnen. Bei der Dachkonstruktion erreichte Döllgast, dass nicht die aufgesetzten Laternenfenster rekonstruiert, sondern zurückhaltende Satteldächer mit großen Fensterflächen neu errichtet wurden. Auch Klenze hatte bereits, wie in Entwürfen erkennbar, zuerst für diese Variante plädiert, die damals wegen der Schneelast aus statischen Gründen unmöglich zu realisieren war. Döllgast sah deshalb keinen Grund, den Vorkriegszustand wiederherzustellen, sondern wählte, mit den modernen technischen Mitteln des Stahlbetons ausgestattet, die „verbesserte“ Version, die von Klenze schon auf dem Papier vorgedacht war.14 Die Dächer waren über den zerstörten Außenwänden bis dato nur durch elegante, dünne Stahlrohre gestützt, als 1954 das Landbauamt entgegen Döllgasts Konzeption entschied, die kraterförmige Lücke gänzlich wieder mit Ziegeln zu verschließen. So war der Architekt gezwungen, die von ihm bei den 53

Abb. 6: Hans Döllgast, Entwurf der Südfassade der Alten Pinakothek, 1952

weniger stark zerstörten Bauteilen favorisierte Methode der Wiederherstellung des Rohbaus ebenfalls im Mitteltrakt anzuwenden. Döllgast übernahm dafür die Fensteröffnungen mit ihren Bogenformen, um eine tendenzielle Einheitlichkeit zurückzugewinnen, verzichtete jedoch auf jede vorgeblendete Dekoration wie Rustizierungen, Fensterrahmungen, Säulen oder abschließende Friese. Das bei Klenze mit Mäanderband geschmückte Gebälk im Erdgeschoss beispielsweise ist einem schlichten Betonstreifen, die Schlusssteine der Bogen einfachen Betonformen gewichen. Kassettenartige Vertiefungen der unprofilierten Wand bilden die einzigen „Schmuckformen“. Die Ziegel stammten vorwiegend aus Gebäudeteilen der abgebrochenen Türkenkaserne und fügen sich harmonisch in die Außenwand ein, sind im historischen Baubestand visuell aber deutlich erkennbar. Dass die Fassadenteile wiederaufgebaut, dass sie also vormalig zerstört waren, bleibt auf den ersten Blick ablesbar. Die immer noch tragenden, zuvor jedoch frei stehenden Stahlstützen sind 54

Abb. 7: Alte Pinakothek von Leo von Klenze, ­Südfassade, ergänzte Mitte von Hans Döllgast

in der durchgeführten Lösung weniger augenfällig

(Abb. 7) .

Gerade dieser

Wandlösung verdankt die rekonstruierte Alte Pinakothek jedoch ihr „bis heute auch international[es] Interesse und [ihre] Anerkennung von Architekten und Denkmalpflegern“.15 Erich Altenhöfer wirft ein Licht auf die anscheinend äußerst heftig geführten Streitgespräche zwischen Döllgast und der ab 1955 zuständigen Gutachterkommission des Landbauamts, die als programmatischer Richtungsstreit verstanden werden können.16 Döllgast, als „Baukünstler“, wollte, wie in seinen frühen Entwürfen deutlich, die zerstörten Bauteile formal und konstruktiv modern interpretierend errichten. Er selbst prägt den Begriff des „interpretierenden Wiederaufbaus“ mit. Die von der Gutachterkommission favorisierte und letztlich ausgeführte Variante der zentralen Südfassade aber ist vielmehr einem modernen „archäologischen“ Konzept zugeneigt, welches im dritten Kapitel genauer analysiert wird. Wer also nur die Außenfassaden betrachtet, kann durchaus den Eindruck gewinnen, moderne denkmalpflegerische Leitlinien allein wären maßgeblich für den Wiederaufbau gewesen. Ein Blick in den Innenraum aber widerlegt diese Annahme. 55

Innenraum Mit der neuen zentralen Eingangshalle und dem zweiläufigen Treppenhaus im südlichen Seitenflügel schreibt Döllgast seine eigenen Ideen in den Bau ein (Abb. 8). Der hohe Eingangsraum mit seinen schlichten, unverkleideten Ziegelwänden, den vorgestellten quadratischen Pfeilern und den nur von Betonplatten abgeschlossenen Öffnungen spricht jene spartanische Formensprache, die für den Architekten so typisch ist. Drei Öffnungen von elementarer Einfachheit führen von hier zu den Treppen­ aufgängen im südlichen Seitenschiff. Die Arkadenbogen im Erdgeschoss und der ersten Etage, die nach dem Krieg noch großteils erhalten waren, wurden im Zuge der Neukonzeption 1956 abgerissen. Die ziegelsichtigen Pfeiler erstrecken sich heute mit deutlichem Vertikalzug über beide Etagen und enden in einer schlichten Flachdecke. Das Treppenhaus ist eine moderne Neuschöpfung. Die von Klenze entwickelte enge Kohärenz zwischen der inneren Raumgliederung der Loggia und der Gliederung der Außenfassade ging dabei verloren. Aber auch bei der Treppenanlage stand Döllgasts erster Entwurf in Konflikt mit der Gutachterkommission.17 Überhaupt distanzierte sich der Architekt im Nachhinein von einigen baukünstlerisch „entschärften“ Lösungen, was auf den angesprochenen Richtungsstreit hinweist. Was bedeutet interpretierender Wiederaufbau für Döllgast? „Die historische Substanz war ihm Material für einen gewandelten, selbständigen Ausdruck. Vergangenheit und Gegenwart wollte er verflechten, aber nicht verwischen.“ 18 Sein baukünstlerischer Anspruch aber lief der Position des Landbauamts zuwider. Döllgast ging es nicht um eine „archäologische“ Rekonstruktion. Zwar verwendete er erhaltene Bausubstanz; dort aber, wo sie unwiederbringlich zerstört war – wie im Mittelbau des Museums – sollte zeitgemäße Architektur Raum finden, die im Respekt für das Alte Neues schafft. „In der Würdigung dieser Leistung kann Döllgast durchaus in Vergleich mit Carlo Scarpa gebracht werden: Wo Scarpa den Gegensatz von Alt und Neu ästhetisierend im Material überhöhte und somit zu einer neuen Einheit fand, ‚ergänzte‘ Döllgast die zerstörten Bauten in einer ebenso kühnen wie selbstverständlichen Einfachheit, daß die derartig ‚schöpferisch‘ wiederhergestellten Bauten den Rang neuer Geschichtsmonumente erhalten. 56

Abb. 8: Hans Döllgast, neue Eingangshalle der ­Alten Pinakothek

Mit der zumeist im doppelten Sinne ‚restaurativen‘ Denkmalpflege unserer Tage hat diese geschichtsbewußte und lebendige Architektur deshalb auch nichts gemeinsam.“19 Den Vergleich mit dem Architekten Carlo Scarpa zieht auch Mörsch: „Vergleichbar ist zweifellos die unbedingte formale Kompetenz, mit der, bei unterschiedlichen formalen Mitteln, beide Architekten das Thema der Naht und des Bruchs formulieren.“ 20 Wie Nerdinger und Mörsch richtig bemerken, verbindet Döllgast und Scarpa – trotz gestalterischer Unterschiede – ihr Konzept 57

der Rekonstruktion, das letztlich im Konflikt mit der modernen Denkmalpflege steht. Wie sich die interpretierende Rekonstruktion als Konzept definiert, soll das folgende Kapitel intensiver beleuchten.

2.3

Carlo Scarpa: Castelvecchio, Verona (1957–75) Bauzeit: 1354–56 / 1802–06 / 1923 Architekt der Rekonstruktion: Carlo Scarpa Auftraggeber: Comune di Verona Rekonstruktionsphase: 1957–64/75 Grundfläche: 9700 m²

Carlo Scarpas Werk besticht durch eine feinfühlige Verflechtung von historischer Substanz mit Versatzstücken moderner Bauteile. Anhand des Museo di Castelvecchio in Verona soll seine Methode näher aufgezeigt werden, bevor im Anschluss die Grundprinzipien der interpretierenden Rekonstruktion benannt werden. Baugeschichte des Castelvecchio Cangrande II. aus dem im Hochmittelalter berüchtigten veronesischen Herrschergeschlecht der Scaligeri (auch Della Scala) erbaute die Burganlage von 1354–56.21 Dabei integrierte man die im Zuge der Stadterweiterung nicht mehr notwenige Schutzmauer aus dem 12. Jahrhundert. Diese Mauer aus der Zeit der kommunalen Selbstverwaltung als freie Stadt verläuft mitten durch die Anlage und teilt diese in zwei Hälften. Im Westen befand sich der eigentliche Herrschaftssitz; der dreistöckige Bau, die Reggia, ist direkt am Fluss­u fer errichtet. 1376 kam der Wohnturm, der Torre del Mastio, hinzu, der den Bereich dominiert. Der ausgedehnte östliche Bereich mit dem großen, äußeren Hof galt militärischen Zwecken. Die damalige städtebauliche Randlage der Burg, die in gewisser Weise bis heute nachvollziehbar bleibt, ist darauf zurückzuführen, dass die Burg von Anfang an nicht primär der Verteidigung ­Veronas diente, sondern dem Schutz der Scaliger vor dem Aufbegehren der 58

Veroneser Bürger. Deshalb waren die Mauern und die mächtigen Wehrtürme nach Süden und Osten – in Richtung der Stadt – ausgerichtet. Ein breiter Graben um die Umfassungsmauern sowie ein zusätzlicher im Inneren der Militärzone sicherten die Reggia. Zwischen den Bereichen wurde eine rampenartige Straße angelegt, die im Norden zu einer gleichzeitig errichteten Brücke über die Etsch führt. Dabei wurde auch die sogenannte Porta del Morbio, das Stadttor aus dem 12. Jahrhundert, zugeschüttet. Während der mailändischen und der venezianischen Herrschaft über die Stadt gab es kaum weitere bauliche Eingriffe. Dies änderte sich unter napoleonischer Besatzung, der 1797 Venedig und damit Verona eingenommen hatte. Erst ließ er, nachdem die Bürger 1799 gegen seine Truppen aufbegehrt hatten, alle Türme und die im Südwesten der Reggia gelegene Kirche San Martino in Aquaro als Strafaktion schleifen. Dann wurde das Castelvecchio als Kaserne für französische Truppen auserkoren, weshalb der östliche Militärbereich aufwendig umgebaut wurde. 1802–06 errichtete man im Norden und Osten einen L-förmigen Bauriegel. Der Innenhof diente als Truppenübungsplatz. Eine imposante, zeremonielle Treppenanlage führte im Nordwesten über die Stadtmauer. Antonio Avena, Direktor der Museen von Verona, entschied 1923, die in der Stadt verstreuten Sammlungen unter dem Dach eines neuen, im Castelvecchio zu etablierenden Museums zu vereinigen. Den Kernbereich des Museums bildete der zweistöckige Kasernenbau aus napoleonischer Zeit. Dessen schmucklose Fassaden ließ man fast vollständig abtragen und unter Verwendung von Portalen und Fenstern, die nach der Überschwemmung Veronas im Jahr 1882 aus abgebrochenen Palästen des 15. und 16. Jahrhunderts zuhauf in den Depots lagerten, vollständig neu aufbauen. Durch diese „erstaunliche Umdichtung“ 22 der Geschichte entstanden eine „spätgotische“ Fassade sowie eine „Renaissancefassade“, die eine rege Bautätigkeit über die Jahrhunderte suggerierten. Die von Napoleon abgebrochenen Türme wurden idealisierend wiederaufgebaut und den Burgmauern zudem eine Zinnenkrone aufgesetzt. Im Innenhof fand eine Gartenanlage Platz, die den Besucher auf die Museums­ erfahrung einstimmen sollte. Auch die nüchternen Innenräume, teilweise ehemals Stallungen der Kavallerie, baute man gravierend um. Tonnengewölbe wurden durch Holzbalken- und Kassettendecken ersetzt, die Ornamente des 59

17. und 18. Jahrhunderts imitierten. Neu geschaffene historisierende Wandfresken und Ausstellungsmöbel „rahmten“ die Exponate: „Stilwohnräume, in denen die Ausstellungsobjekte als dekorative Beigaben wirkten.“ 23 Avena folgte damit letztlich einer im 19. Jahrhundert durchaus üblichen musealen Inszenierungsmethode (siehe Kap. 6.1). Carlo Scarpas Rekonstruktion des Castelvecchio Carlo Scarpa (1906–1978) wurde 1957 von Licisco Magagnato, dem neuen Museumsdirektor des Castelvecchio, im Zuge einer Ausstellung mit der Neugestaltung einiger Galerieräume betraut. Sukzessive Interventionen führten schließlich zu einer umfassenden Restrukturierung des gesamten Museums (Abb. 9).24 1958 entdeckte man bei archäologischen Grabungen im Innenhof die Porta del Morbio. Scarpa plädierte für die Wiederinstandsetzung des Stadttores und in diesem Zuge für eine Verlegung des Museumseingangs an den nordöstlichen Bereich: Diese Reorganisation ermöglichte, dass die Ausstellungsräume in ­einer Reihe nach Westen hin durchschritten werden können. Dort führt die Porta del Morbio zu den Ausstellungsräumen der Reggia. Aus dem neuen Eingang heraus ragt eine weit in den Innenhof reichende Betonwand – eine „interpenetration of outside and inside“ 25, die Scarpa wiederholt als Gestaltungselement verwendet. So auch bei dem neuen „Sacellum“, einem würfelförmigen, mit einem abstrakten (von Josef Albers inspirierten) Mosaik aus Kalkstein verkleideten Ausstellungsraum, der unter einem angrenzenden Arkadenbogen herausgeschoben ist. Diese Maßnahmen pro­ duzierten eine neue Asymmetrie der Fassade. Scarpa rechtfertigt sich wie folgt: „At the Castelvecchio everything [of Avenas work] was fake […]. I de­ cided to adopt certain vertical values to break up the unnatural symmetry; the G ­ othic needed it and Gothic, especially the Venetian Gothic, isn’t very symmetrical.“ 26 Um die Fassaden als historistische „Kulisse“ aufzuzeigen, legte Scarpa die Fenster und den vormaligen Haupteingang, eine Dreierarkade in der Mittel­ achse, frei. Dahinter positionierte moderne Glasschirme mit unterschiedlich geformten Stahlrahmen setzen sich davon dezidiert ab: eine zweite, innere Fassade, welche die eigentliche Fassade subtil konterkariert. 60

Die Gartenanlage gestaltete der Architekt durch Wege, Pflasterungen und Brunnenanlagen in der für den ihn typischen Orthogonalität um. Dabei stieß man 1961 zufällig auf den an der Stadtmauer entlangführenden Burggraben aus der Entstehungszeit der Anlage, der im 17. Jahrhundert zugeschüttet worden war. Magagnato konnte die Kommune davon überzeugen, ihn wieder freizulegen. Dies war insofern bedenklich, als die Freilegung doch zugleich eine weitreichende Zerstörung erhaltener Bauteile bedeutete: Die in napo­ leonischer Zeit errichtete Treppenanlage und die an die ältere Stadtmauer ­d irekt angebaute westliche Achse der Kaserne mussten dafür abgerissen werden. Der von Scarpa daraufhin neugeschaffene Raum ist zweifelsohne seine bildhafteste Intervention im Castelvecchio (Abb. 10) . Der in Schichten herausgeschnittene Fassadenteil ermöglicht an einem offenen Stahlträger vorbei den Blick in einen semi-offenen Raum. Die Terrakotta­ ziegel der Dachkonstruktion sind abgeschnitten; schlichte Kupferplatten treten darunter zum Vorschein. Nur noch der Doppel-T-Träger des Firstes ragt bis an die Stadtmauer heran – so löst sich das Dach schrittweise in seine tragende Struktur auf. Das ehemalige Bauvolumen bleibt als Spur sichtbar. Im Erdgeschoss führen mehrere Plateaus in Kaskaden vom Museum zum niedriger liegenden Niveau der Porta del Morbio hinab. Für eine sinnvolle Zirkulation innerhalb der Anlage plante Scarpa weiterhin den Rückweg von der Reggia durch die darüberliegende Etage. Dafür legte er einen Betonschacht durch die Stadtmauer an. Die Schalungshölzer bleiben hier sichtbar, was den Bruch mit der Mauer aus Natursteinen zusätzlich betont. Auf einem weit auskragenden Betonsockel steht, von weitem sichtbar, das Reiterstandbild des Cangrande (als Replik). Der Raum kann als kontinuierlicher Übergang verstanden werden: vom napoleonischen Kasernenbau über den Burggraben der Scaligeri zur Stadtmauer des 12. Jahrhunderts. Die modernen Einbauten – Stahl, unterschiedlich behandelter Beton und Holz – verflechten sich in ihren visuellen und haptischen Qualitäten mit den historischen Stein- und Ziegelmauern. Ein vergleichbares Verfahren nutzt Scarpa auch in der nordöstlichen Ecke der Burganlage, die vom anderen Flussufer sichtbar ist. Auch hier entfernt er den Bereich der ehemaligen Kaserne, der an den mittelalterlichen Wehrturm 61

Abb. 9: Grundriss des Castelvecchio nach der ­Intervention von Carlo Scarpa

Abb. 10: Castelvecchio, Verona, ­Südansicht des Kasernenbaus

62

angrenzte. Der Bruch bleibt ostentativ sichtbar und wirkt als irritierendes Moment. Letztlich dient der Eingriff Scarpa zur natürlichen Belichtung der Ausstellungssäle im Turmbau. Innenraum Auch den Innenraum gestaltete Scarpa grundlegend um. Dies betraf insbesondere die von Avena historisierend eingerichteten Ausstellungsräume. Dessen Intervention stellte unstreitig eine eigene, relevante Zeitschicht des Baus dar. Scarpa wertete sie als fake 27 und damit jeden Eingriff als gerechtfertigt. Die als Enfilade angelegten Räume im Erdgeschoss des Museums präsentieren sich heute ganz in der Handschrift Scarpas. Die Wände sind mit Kalkmörtel verputzt. Die Böden sind aus poliertem Beton, gerahmt von veronesischem Kalkstein. Ein ostentativ sichtbarer Stahlträger in der Mittelachse stützt die (leicht niedriger) neu eingezogene Decke. Dort, wo der Stahlträger auf die Wand trifft, weicht Letztere zurück. Die eingeschnittene Fuge ist eines von Scarpas wiederkehrenden Motiven. Sie grenzt unterschiedliche Bauteile oder Materialien voneinander ab und verbindet sie zugleich. Das erwähnte Sacellum, ein niedriger Ausstellungsraum mit Stahlboden, dunklen Wänden und schmalem Oberlicht, die stählernen Fensterrahmen und ein ebensolches vergittertes Schiebetor am Ende der Sichtachse tragen zusätzlich zur gänzlich modernen Erscheinung bei. In diesen Sälen geben nur noch die Rundbogen einen Hinweis auf die frühere, historistische Inszenierung. Die mittelalter­ lichen Skulpturen und Bildwerke sind hier wie in allen Ausstellungsräumen auf von Scarpa entworfenen Sockeln, Rahmen und Schirmen aus zum Teil farblich gefasstem Stahl ausgestellt. Jeweils individuell auf das Kunstwerk abgestimmt, besitzen sie eigene skulpturale Qualitäten. In der mittelalterlichen Reggia treten moderne Neubauelemente dagegen vielfach der erhaltenen Substanz gegenüber. Um das im Zuge der Verbindung durch die Stadtmauer neu erschlossene Erdgeschoss des Torre del Mastio mit dem darüberliegenden Museum zu verbinden, ließ Scarpa das historische Tonnengewölbe teilweise abbrechen und eine massige Treppenanlage einrichten, die vorwiegend aus Ziegeln errichtet ist. Mehrere asymmetrisch 63

platzierte Schlitze brechen die Schwere des Volumens auf. Die stählernen Geländer mit eleganten, hölzernen Handläufen lassen sie als modernes Bauelement erkennen. In den oberen Räumen treffen freigelegte Wandfresken, historische Holzdecken und roh belassene Ziegel auf rau verputzte Wände und Stahlprofile. Besonders spannungsreich ist die überdachte Brücke zwischen der Reggia und dem Wohnturm: In die Ziegel sind die abgestufte Decke und die Rückwand aus rauem Sichtbeton eingesetzt. In der Schalung bleiben die Spuren der hölzernen Maserung deutlich ersichtlich und übertragen die Holzdecken der Reggia sinnbildlich in die zeitgenössischen Bauteile. Ein breites Fensterband gibt nach Süden den Blick auf den kleinen Garten frei. Auf dem Rückweg von der Reggia gelangt der Besucher in der oberen Etage noch einmal in den halboffenen Raum des Cangrande. Ein diagonal gesetzter Steg aus Beton und Holz führt direkt am Reiterstandbild vorbei; ein ­Balkon aus Stahl ermöglicht die Betrachtung aus der Nähe. Mehrere, in der Dachkonstruktion eingehängte hölzerne Paneele schirmen die weiteren Ausstellungsräume ab. Eine Betontreppe mit keilförmigen Stufen führt links hinauf zum schmalen, offenen Laufgang, der den Fluss entlangführt. Resümierend lässt sich festhalten: Die vielfältigen modernen Einbauten durchziehen die unterschiedlichen Zeitschichten des Castelvecchio – sie sind ihr eigentlich verbindendes Element. Dieser architektonischen Kontinuität des neuen Museums steht der offensichtliche Kontrast entgegen, der zwischen den eingesetzten Beton- und Stahlteilen und der historischen Substanz eta­ bliert wird. Die Neubauteile sind der historischen Bausubstanz radikal gegenübergestellt. Zugleich nehmen sie den historischen Bau auf. So lassen sie sich als Elemente lesen, welche die Wehrhaftigkeit der mittelalterlichen Burg kongenial interpretieren. Sie sind die konsequente gestalterische Weiterentwicklung einer historischen Idee. In seiner architektonischen Formensprache war Scarpa maßgeblich von seiner Heimatstadt Venedig geprägt. Die Mosaike der byzantinischen Bautradition mit ihren vielfältigen Verbindungen zum östlichen Mittelmeerraum, die asymmetrische Gotik, die oftmals mit dekorativer, geometrischer Verkleidung durch farbige Steininkrustationen arbeitet, und schließlich die (moderne) 64

morbide Rätselhaftigkeit der Lagunenstadt finden Eingang in Scarpas Gestaltung. Trotzdem sind seine Architekturen in Beton, Stahl und Glas mit ihrem offenen Raumverständnis und den abstrahierenden, geometrischen, in sich oftmals verschachtelten Formen niemals historisierend: „To a degree unmatched by any other Modern architect, Scarpa stood in two worlds: the ­a ncient and the modern – the particular historical place and the larger contemporary world. Through his work he forever joined these two worlds, con­ structing an entirely new interpretation of architectural preservation and ­renovation by producing works that integrate, engage and transform their place.“ 28 Manfredo Tafuri diagnostiziert, Scarpa leide weder an „Chronophilie“ noch an „Chronophobie“, vielmehr gehe seine Interpretation moderner Architektur eine fast natürliche Verbindung mit der Formenvielfalt vergangener Epochen ein. Er spricht, in Anlehnung an Maurice Blanchot, von einer offenen Organisation gebrochener Sätze, die fragmentarisch bleiben, zugleich aber eine andere Ebene der Vollendung erreichen.29 Es sind diese Prämissen, die Scarpas Werk zum sprechenden Beispiel für das Konzept der interpretierenden Rekonstruktion werden lassen. Kritikwürdig bleibt, dass sich Scarpa nicht zuerst an die Maxime der Erhaltung des historischen Baus gebunden fühlt. Aus Sicht der Denkmalpflege ist dies abzulehnen, denn „[d]as Alte bleibt sichtbar, aber nur noch als Träger des Neuen, das sich mit ihm und in der Spannung zu ihm ausstellt. Die postulierte Erneuerung ist damit ein weiterer Schritt zur Zerstörung des Alten.“ 30 Auch Mörsch mahnt: „Die geistvollen Eingriffe des Architekten sind für den Denkmalpfleger nur dann ein Vorbild, wenn er die Wunden, die er heilte, nicht vorher selbst geschlagen hat, um seiner Kreativität Raum zu geben.“ 31 Robert McCarter sieht diese Problematik ebenfalls, argumentiert aber: „Scarpa found himself increasingly in conflict with the official definition of ‘restorat­ ion’ […]. This is reflected in Scarpa’s conception of building renovation as a process of learning from what others before us have made, related to Vico’s aphorism Verum Ipsum Factum, which put special emphasis on the way build­ ings and their constituent elements are put together in different historical per­ iods.“ 32 Ähnlich fasst Nicholas Olsberg zusammen:

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„He taught architects, by his example, to look more respectfully at the banalities, and less solemnly at the monuments of the past, and to weave new work into the ongoing dialogue of an evolving fabric. At the same time, he reopened the possibility of an architecture constructed like painting or ­poetry around questions of memory, allegory, narrative, and metaphor. ­Together, these innovations helped […] to generate a new historical sen­ sibility that lay outside the sentimental agendas of restoration and revival, and to reawaken architecture to its lyric potential.“33 Begriff der interpretierenden Rekonstruktion In der interpretierenden Rekonstruktion wird die historische Substanz eng mit modernen Konstruktionen verwoben. Die modernen Bauformen entwickeln historische Ideen weiter und können als Interpretationen verstanden werden. Sie ist ein baukünstlerisches Konzept: Weil sie nicht notwendigerweise der Prämisse der Erhaltung folgt, steht sie im Konflikt mit der modernen Denkmalpflege und überschneidet sich in diesem Punkt mit der historistischen ­Rekonstruktion. Die interpretierende Rekonstruktion verfolgt aber kein „synthetisches“ Gesamtkunstwerk, sondern nutzt die Technik der Collage, in der Elemente der Geschichte und der Gegenwart kontrastierend zusammenge­­ setzt und gegenübergestellt werden. Ein neues Gesamtbild entsteht, welches durch akute Brüche gezeichnet ist. Die interpretierende Rekonstruktion definiert sich über eine Dialektik von Kontrast und Kontinuität.

2.4

Tadao Andō: Punta della Dogana, Venedig (2007–09) Architekt: Giuseppe Benoni Bauzeit: 1677–82 Architekt der Rekonstruktion: Tadao Ando¯ Auftraggeber: François Pinault Foundation Rekonstruktionsphase: 2007–09 Grundfläche: 5000 m² Kosten: 20 000 000 Euro

66

Die von Tadao Ando¯ rekonstruierte Punta della Dogana bildet das dritte Baubeispiel der interpretierenden Rekonstruktion. Der Japaner verwandelte das historische Zollamt von Venedig im Auftrag des Unternehmers und Kunstsammlers François Pinault in ein Museum für dessen private Sammlung zeitgenössischer Kunst. Baugeschichte der Punta della Dogana von Giuseppe Benoni Die Punta della Dogana in exponierter Lage an der äußersten Landspitze des Canal Grande und gegenüber der Piazzetta von San Marco diente bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Zollamt. Schon vor 600 Jahren, in den Glanzzeiten der Serenissima, wurden an dieser Stelle alle von See eingehenden Waren in einer Reihe von Lagerhäusern kontrolliert.34 Nach der großen Pest von 1630 wurde das gesamte Viertel neu gestaltet. Mit der oktogonalen Votivkirche Santa Maria della Salute von Baldassare Longhena (errichtet 1631–1687) entstand eine große, neue Stadtdominante an dieser schwierigen, weil vielansichtigen und in der spitz zulaufenden Insel beengten Lage. Im Schatten dieser Großbaustelle wurde nach einem Wettbewerb, den nicht Longhena, sondern sein Konkurrent Giuseppe Benoni (1618–1684) gewann, von 1677–82 die Neugestaltung der „Dogana di Mare“ organisiert. Benoni übernahm Grundriss und Volumen des Vorgängerbaus mit den zehn je zehn Meter breiten „Navatas“ (Jochen). Die Kon­ struktion aus Stein und Ziegel fand ihr Fundament auf den in Venedig üblichen in den Boden gerammten Holzpfählen. Die in die Lagune ragende Spitze des Baus besitzt einen quadratischen Turm, der auf einer von rustizierten Säulen und Pfeilern in dorischer Ordnung getragenen Portalloggia thront. Sie bildet von der Piazetta aus gesehen, vor allem aber für die eintreffenden Schiffe, die Frontfassade. Ihre Rhythmisierung durch die dreifache Öffnung der Loggien und der daraus resultierenden Kontrastierung von Licht und Schatten löst die problematische Vielansichtigkeit und wirkt vor allem aus der Fernsicht (Abb. 11) . Im Inneren verbarg sich eine Raumaufteilung in schlichte, parallel zueinander stehende queroblonge Lagerhallen. Jedes Navata besaß zwei Zugänge: einen auf der Seite des Canale della Guidecca, von wo aus die Güter von den anlegen­ den Schiffen in das Zollhaus gebracht, einen auf der Seite des Canal Grande, von wo die Waren wieder hinaus und in die Stadt transportiert wurden. 67

Abb. 11: Giovanni Antonio Canal, gen. Canaletto (Werkstatt), Eingang des Canal Grande mit Punta ­della Dogana und Santa Maria della Salute (Detail), 1730–45

Im 19. Jahrhundert, die Republik Venedig war zuerst unter französische, dann unter habsburgerische Kontrolle geraten, war die Punta della Dogana in i­ hrer Existenz infrage gestellt. Mit dem Bau der (Eisenbahn-)Brücke durch die Österreicher 1845, der aus logistischen Gründen die Verlegung der kommerziellen Hafenanlagen samt Lagergebäuden und Magazinen nach Santa Croce ans westliche Ende der Stadt nach sich zog, wurde das alte Zollamt obsolet. Um das Gebäude für Büros und administrative Zwecke umzunutzen, wurden ab 1873 im Innenraum mehrere einschneidende Maßnahmen unternommen.35 Die bisher von Mauern getrennten Lagerräume verband nun ein alle Joche bis zum Turm hin mittig durchziehender Korridor. Diese Änderung der inneren Struktur war der parallelen Orientierung der Räume, wie sie am Außenbau ablesbar ist, direkt entgegengesetzt. Zudem richtete man ein weiteres Stockwerk ein, welches über mehrere Treppenanlagen erschließbar war. In der Mitte des Gebäudes entstand ein über zwei Navatas führender quadratischer Innenhof. Hier legte man eine breite Galerie an, die – damals durchaus progressiv – auf 30 schmiedeeisernen Bogen ruhte und von einer ebensolchen Balustrade geziert war. Eine weitere Änderung hatte gewissermaßen städtebaulichen Charakter: die Verlegung des Eingangs hin zum 68

Vorplatz der Santa Maria della Salute und damit eigentlich zur „Rückseite“ des ehemaligen Zollamts. Noch 1958, der Bau war längst als historisch wichtiges Denkmal eingestuft, konnte das Seminario Patriarchiale das Gebäude erwerben. Der Einrichtung von Dormitorium, Refektorium und Aufenthaltsräumen fiel wiederum histo­ rische Substanz zum Opfer. In der zentralen Halle beispielsweise wurde die hölzerne Dachkonstruktion durch eine eingezogene Flachdecke mit Oberlicht und die gusseiserne Galerie durch eine moderne Variante ersetzt. Die zweite Etage wurde in einer modernen Betonkonstruktion neu errichtet. Die Räumlichkeiten wurden weiter unterteilt, sodass aus den ursprünglich zehn parallel zueinanderstehenden Navatas 58 zumeist kleinere Räume entstanden waren.36 1993 war eine erneute Umnutzung geplant: Die Guggenheim Foundation wollte ihre im unweit gelegenen Palazzo Venier dei Leoni befindlichen Räumlichkeiten mit der Punta della Dogana vergrößern. Die Stadt intervenierte und beanspruchte sie nun für das Finanzministerium. 2005 schließlich konnte Pinault – er hatte gerade erst den Umbau des Palazzo Grassi in ein Museum für zeitgenössische Kunst organisiert – den neu gewählten Bürgermeister von Venedig von einer Nutzung als Museum überzeugen. Im Wettbewerb setzte sich Pinault mit den von Tadao Ando¯ entworfenen Plänen gegen die Guggenheim Foundation mit der Architektin Zaha Hadid durch. Tadao Andōs Rekonstruktion der Punta della Dogana Unter der Leitung Tadao Ando¯s (*1941) wurden über zwei Jahre Bestandsaufnahmen und archäologische Untersuchungen unternommen, das inzwischen stark baufällige Gebäude strukturell verstärkt und Sicherheitsmaßnahmen für das Aqua Alta, das periodisch auftretende venezianische Hochwasser, eingebaut.37 Der hölzerne Dachstuhl und das Dach wurden aufwendig rekon­ struiert.38 Das Amt für Denkmalpflege gab strenge Richtlinien für die Umgestaltungen vor. So ist der Außenbau in seiner Dekoration konserviert, zum Teil auch restauriert. Ando¯s an den Längsfassaden sowie am Turm eingebauten Tore sind die einzigen am Außenbau ablesbaren, neu hinzugefügten ­Elemente. Diese, zwei leicht versetzte, ineinander verwobene und genutete 69

metallene Raster grenzen den Innenraum wirkungsvoll von der Lagune ab und geben doch die Sicht nach außen frei. Als direktes Vorbild für diese Tore diente Ando¯ die Arbeit eines anderen Architekten der Moderne, der sich ebenfalls mit seinen Projekten in der Lagunenstadt verewigt hat: Carlo Scarpa, der exakt diese Gitterverstrebungen für den Olivetti Showroom (1957–58) am unweit entfernt gelegenen Markusplatz entworfen hatte – und diese auch im Castelvecchio verwendete. Über diese formalen Elemente hinaus ist letztlich Scarpas gesamtes Konzept der Rekonstruktion ein inspirierender Ausgangspunkt für Ando¯, wie sich im Innenraum zeigt. Innenraum Im Innenraum konnte der Architekt weitreichende Umgestaltungen realisieren. Die kleinteilige Raumaufteilung ist zurückgebaut und die ursprünglich parallele Ausrichtung der einzelnen Navatas durch die Schließung des mittleren Korridors wiederhergestellt. Lediglich die im 19. Jahrhundert eingefügte große Halle bleibt bestehen. Das westliche Navata (Abb. 12) zeigt beispielhaft Ando¯s Vorgehen in den Lagerhallen. Die konstruktiven Strebepfeiler und die unverkleideten Ziegelmauern sind wieder sichtbar. Details wie Holzbalken, die in den Umbauten des 19. Jahr­hunderts als Türsturz dienten, sind ebenso erhalten wie mit Beton ausgefüllte Markierungen des ehemals eingezogenen ersten Stockwerks. An der Wand bleibt der Bogen des zuvor durch das Gebäude führenden Korridors als Spur sichtbar. Er ist durch neue Ziegelsteine geschlossen, die im sogenannten Scuci-Cuci Verfahren der traditionellen venezianischen Maurer hergestellt sind. Diese sind in ihrer makellosen Erscheinung leicht von den historischen Ziegeln zu unterscheiden. Die Erschließung der parallelen Räume erfolgt nun durch schmale, in Edelstahl gerahmte Durchgänge. Der Fußboden, zuvor in den typisch venezianischen Masegni-Steinplatten aus Trachyt gestaltet, ist durch einen neuen Belag aus Beton und Kunstharz ersetzt. Augenfällig ist die mit den für Ando¯ typischen, an der Größe der japanischen Tatami-Matte orientierten und standardisierten Sichtbetonschalungselementen errichtete Wand. Die hellgrauen Wände sind handwerklich hervorragend gearbeitet; die glatten, polierten Oberflächen besitzen haptische Qualitäten. 70

Abb. 12: Westliches Navata der Punta della Dogana mit Blick nach Süden

Gerade durch die feinfühlige Behandlung des Betons wirkt das Material nicht wie ein moderner Fremdkörper in den backsteinernen Lagerhallen, sondern stellt ein zwar klar eigenständiges, aber stimmiges Element dar. Alle von Ando¯ eingesetzten Betonwände gliedern die Hallen für die neue museale Funktion. Teilweise sind sie in ihrer gesamten Höhe wiederhergestellt, was die Präsentation großformatiger Wandarbeiten und Objekte ermöglicht. Teilweise ist eine zweite Etage eingezogen; hier können kleinformatige Arbeiten gezeigt werden. Zentrale Halle Der in den zentralen überdachten Innenhof eingesetzte Betonkubus ist sicherlich Ando¯s umfangreichster Eingriff. Er bildet einen dezidiert zeitgenössischen Raum (Abb. 13) . Die Wände stehen frei und übernehmen keine tragende Funktion. Alle Raumöffnungen sind unprofiliert und aus den standardisierten Betonquadern „herausgeschnitten“. Die Pfeiler und der Dachstuhl – die strukturellen Elemente – bilden die einzigen historischen Elemente. Historische und moderne Bauteile sind streng voneinander abgegrenzt, was beispielsweise durch das Anschneiden der Betonblöcke auf Höhe des hölzernen Dachbalkens visuell unterstrichen ist. 71

Abb. 13: Der eingesetzte Betonkubus in der zentralen Halle

Abb. 14: Zwischen den ­historischen Außenmauern und dem modernen Betonkubus (obere Etage)

72

Da der Kubus proportional verkleinert in den Innenhof eingesetzt ist, entsteht eine „Zweischaligkeit“

(Abb. 14) .

Der umlaufende Gang dient der Zirkulation,

­separiert aber wiederum die modernen Betoneinbauten von der Substanz. Der Türsturz aus Beton bezeugt die subtile Übernahme von historischen Bauelementen: Er ist eine Interpretation der vielfach im Mauerwerk sichtbar gebliebenen hölzernen Türsturze. Die Spannung zwischen alt und neu wird immer wieder offensichtlich: Die historischen Bauelemente bilden den Bezugsrahmen für den modernen Betonkubus. Die Betonelemente verbinden sich in ihrer Schlichtheit und den kleinen Unregelmäßigkeiten mit dem historischen Gefüge. Eine harmonische Gesamt­ erscheinung ist Ando¯s primäre Leitmaxime aber sicherlich nicht. Der Japaner schreibt seine eigene Architektursprache in die historische Punta della Dogana ein. „Between the building that took shape in the seventeenth century and the additions or substitutions that have been made now, there is no attempt at mediation or dissemblance. It is almost as if Ando¯ had decided that the vol­ umes and surfaces inserted within the building should mark out the stratifications which already existed within it, offering us a coherently-organized spectacle of the flow of time itself.“ 39 Neu und alt sind dialektisch gegenübergestellt, Nahtstellen und Brüche betont. Inwiefern die interpretierende Rekonstruktion damit im Konflikt zu modernen denkmalpflegerischen Leit­ linien steht, soll das nächste Kapitel klären.

73

Anmerkungen

zur todernsten Gegenwart wurden.“ Mörsch 2005, S. 118 f. 21 Für die Geschichte der verschiedenen Bauphasen des Castelvecchio siehe u. a. Murphy 1990,

1

Riegl 1903, S. 4 und S. 17.

2

Ebd., S. 6.

3

Schon zu Beginn des Textes unterscheidet er ­zwischen den im ursprünglichen Sinne gebräuch­ lichen „gewollten Denkmalen“, also Kunst- und/oder Schriftdenkmale wie beispielsweise Herrscher­ statuen mit/oder Inschriften, die „menschliche Taten oder Geschicke […] im Bewußtsein der nachlebenden Generationen“ gegenwärtig halten sollen, und den „ungewollten Denkmalen“, den „kunst- und ­historischen Denkmalen“ im Sinne der modernen Denkmalpflege, von denen im Weiteren die Rede ist. Ebd., S. 1.

4

Ebd., S. 7.

5

Huse 1984, S. 126.

6

Riegl 1903, S. 22.

7

Ebd., S. 22 f.

8

Ebd., S. 24 f.

9

Ebd., S. 17.

10 Huse 1984, S. 126. 11 Ebd., S. 129 f. 12 Riegl 1903, S. 50 f. 13 Ebd. 14 Dieses Vorgehen stieß lange auf Widerstand: Noch zwei Jahrzehnte nach der Wiedereröffnung wurden den Quertrakten schließlich doch die ursprünglich gebauten Walmdächer des Vorkriegs­ zustandes ­aufgesetzt, die bis heute sichtbar bleiben. 15 Altenhöfer 1988, S. 70. 16 Ebd., S. 68 ff. 17 Ebd., S. 71 ff. 18 Kießling 1988, S. 37. 19 Nerdinger 1988, S. 21. 20 Mörsch betont aber auch ihre formalen Unterschiede, die sich bei Döllgast in erster Linie aus dem anderen (nämlich moralischen) Verständnis des Zerstörten im Angesicht der „selbstverschuldeten K ­ atastrophe“ des Weltkriegs ableitet. „Der gewaltige Unterschied besteht darin, dass Carlo Scarpa und seine Nach­ folger dieses Thema artifiziell weitgehend verselb­ ständigt haben, mit den steinernen Überresten von Geschichte geistreich spielen, während für Hans Döllgast diese steinernen Überreste durch die an ­ihnen wirksam gewordene allgemeine Katastrophe

74

Mc­Carter 2013, S. 136–159. 22 Hoh-Slodczyk 1987, S. 30. 23 Ebd., S. 31. 24 Ab 1964 konnte das neue Castelvecchio der ­Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die ­Arbeiten im Bereich der Bibliothek wurden 1968–69 durchgeführt, der letzte, Avena gewidmete, ­Ausstellungsraum wurde 1975 eröffnet. 25 Murphy 1990, S. 8. 26 Carlo Scarpa, zitiert in ebd., S. 8. 27 Carlo Scarpa, zitiert in ebd., S. 8. 28 McCarter 2013, S. 4. 29 Tafuri 2006, S. 77 ff. 30 Hoh-Slodczyk 1987, S. 29. 31 Mörsch 2005, S. 79. 32 McCarter 2013, S. 162. 33 Olsberg 1999, S. 9. 34 Die Venedigansicht von Jacopo de’ Barbari zeigt den Bau im Jahr 1500. 35 Für die Baugeschichte der Punta della Dogana siehe insbesondere Romanelli 2010. 36 Finch 2009, S. 75. 37 Für den Hochwasserschutz wurde eine innovative Sicherheitsdämmung aus traditionellen Holzpfählen und Beton entwickelt, um das Gebäude vor bis zu 220 cm über den Meeresspiegel ansteigendem Wasser zu bewahren. 38 130 Fachwerkträger wurden erneuert. Für die Dachdeckung konnten 45 000 Ziegel und damit ­ungefähr die Hälfte des Bestands restauriert und wieder eingesetzt werden, die übrigen wurden ­ausgetauscht. Desportes 2009, S. 28. 39 Dal Co 2009, S. 26.

3 Archäologische Rekonstruktion

Falls ein ruinöses Baumonument überhaupt wiederaufzubauen ist, favorisiert die moderne Denkmalpflege eine archäologische Rekonstruktion. Dieses Konzept lehnt grundsätzlich jede historisierende oder zeitgenössische baukünstlerische Intervention im historischen Bestand ab. Die Erhaltung der Bausubstanz aller Zeitschichten ist maßgeblich. Um diese möglichst zu konservieren oder wieder am ursprünglichen Ort einzufügen, wird weder die Gestalt des Baus wiederhergestellt, noch ein moderner Neubau geschaffen. Rekonstruiert werden – aufbauend allein auf bauarchäologischer Dokumentation – ein materialansichtiges Bau- und ein möglichst zurückhaltend gestaltetes Raumvolumen. Nachdem sich diese Ideen in der Denkmalpflege des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten, wurden sie mit der Charta von Venedig zu ihren nahezu weltweit geltenden Grundsätzen. Die Charta bildet die bis heute vielfach angeführte theoretische Grundlage der archäologischen Rekonstruktion.

3.1

Charta von Venedig (1964)

Die 1964 in Venedig verabschiedete International Restauration Charter oder Internationale Charta über den Erhalt und die Restaurierung von Bauwerken und Kulturstätten, kurz Charta von Venedig,1 definiert in wenigen Artikeln den Begriff des Denkmals und stellt international gültige Standards für den konservatorischen und architektonischen Umgang mit historischer Substanz auf. Denkmäler vermitteln als „lebendige Zeugnisse […] in der Gegenwart eine geistige Botschaft der Vergangenheit“, die „im ganzen Reichtum ihrer Authentizität“ zu tradieren ist. Der Begriff Denkmal umfasst sowohl das ­einzelne Baumonument als auch ein städtisches oder ländliches Ensemble (Art. 1).2 Ein Denkmal wird darüber hinaus auch durch seinen städtebaulichen Rahmen definiert, dessen Maßstäblichkeit gewahrt bleiben muss (Art. 6). 77

Die im Kontext der Arbeit entscheidenden Artikel 5 und 9 ff. behandeln die Möglichkeiten und Grenzen eines verantwortungsbewussten architektonischen Umgangs mit Denkmälern: „Die Erhaltung der Denkmäler wird immer begünstigt durch eine der Gesellschaft nützliche Funktion. Ein solcher Gebrauch ist daher wünschenswert, darf aber Struktur und Gestalt der Denkmäler nicht verändern. Nur innerhalb dieser Grenzen können durch die Entwicklung gesellschaft­ licher Ansprüche und durch Nutzungsänderungen bedingte Eingriffe geplant und bewilligt werden.“ (Art. 5) Die Umnutzung eines Baumonuments, das seine ursprüngliche Funktion verloren hat, ist nicht nur eine Notlösung, sondern wird in der Charta von Venedig durchaus positiv bewertet. Eine Rekonstruktion ist aber nur ausnahmsweise möglich („Ausnahmecharakter“) und muss stets auf streng wissenschaft­ licher Methodik aufbauen: „Ihr Ziel ist es, die ästhetischen und historischen Werte des Denkmals zu bewahren und zu erschließen. Sie gründet sich auf die Respektierung des überlieferten Bestandes und auf authentische Dokumente. Sie findet dort ihre Grenze, wo die Hypothese beginnt. Wenn es aus ästhetischen oder technischen Gründen notwendig ist, etwas wiederherzustellen, von dem man nicht weiß, wie es ausgesehen hat, wird sich das ergänzende Werk von der bestehenden Komposition abheben und den Stempel unserer Zeit tragen. Zu einer Restaurierung gehören vorbereitende und begleitende ­a rchäologische, kunst­- und geschichtswissenschaftliche Untersuchungen.“ (Art. 9) Im Denkmal müssen die Beiträge aller Epochen gleichermaßen geschützt werden, also auch Veränderungen und Eingriffe späterer Zeiten: „Stileinheit ist kein Restaurierungsziel.“ (Art. 11) Modern eingefügte Elemente, die fehlende Teile ersetzen sollen, „müssen sich dem Ganzen harmonisch einfügen und vom Originalbestand unterscheidbar sein, damit die Restaurierung den Wert des Denkmals als Kunst und Geschichtsdokument nicht verfälscht“. (Art. 12) Hinzufügungen sind aber überhaupt nur zulässig, „soweit sie alle 78

interessanten Teile des Denkmals, seinen überlieferten Rahmen, die Ausgewogenheit seiner Komposition und sein Verhältnis zur Umgebung respektieren“. (Art. 13) Zerstörtes darf nur durch solche zeitgenössischen Elemente ersetzt werden, die sich dem historischen Bau gestalterisch unterordnen. Die Charta von Venedig gilt als „Grundgesetz“ oder „Magna Charta“ der ­modernen Denkmalpflege und bleibt bis heute wegweisender Leitfaden.3 Ihre Definition steht damit diametral dem entgegen, was Viollet-le-Duc ein Jahrhundert zuvor unter „Restaurierung“ verstanden hat und von Denkmal­ pflege-Architekten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts praktiziert wurde. In Venedig wurde darüber hinaus die Schaffung der ICOMOS (International Council on Monuments and Sites, der Internationale Rat für Denkmalpflege) als handlungsfähiges Organ zum Schutz und zur Konservierung von Kultur­ erbestätten verabschiedet. Die im Folgejahr offiziell gegründete Organisation untersteht der UNESCO. Als interdisziplinärer Rat setzt sich das Gremium aus Architekten, Archäologen, Ethnologen, Geografen, Ingenieuren, Kunsthistorikern und Städteplanern zusammen. Mit dem Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt von 1972 beginnt „im Hinblick darauf, dass das Kulturerbe und das Naturerbe zunehmend von Zerstörung bedroht sind“, sowie in dem Bewusstsein, „dass der Verfall oder der Untergang jedes einzelnen Bestandteils des Kultur- oder Naturerbes eine beklagenswerte Schmälerung des Erbes aller Völker der Welt darstellt“ und in „der Erwägung, dass der Schutz dieses Erbes auf nationaler Ebene […] oft unvollkommen ist“ das Zeitalter des Weltkulturerbes. In dessen Wirkungsbereich fallen Denkmäler wie Architekturen, Großplastiken, Mo­ numentalmalerei, archäologische Überreste, Inschriften, die für sich „aus ­geschichtlichen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Gründen von außergewöhnlichem universellem Wert sind“, aber auch Bauensembles oder archäologische Stätten.4 Worin aber liegt die zu tradierende authentische Zeugenschaft, die in der Charta von Venedig noch gar nicht weiter ausdefiniert ist? Sie ist begründet in der materiellen Substanz des Denkmals als unwiederbringliches Dokument 79

der Geschichte, wie in den Operational Guidelines for the Implementation of the World Heritage Convention 1977 in § 9 zusammengefasst: „[T]he property should meet the test of authenticity in design, materials, workmanship and setting; authenticity does not limit consideration to original form and structure but includes all subsequent modifications and additions, over the course of time, which in themselves possess artistic or historical values.“ 5 Dies gilt in der Denkmalpflege letztlich bis heute: „Die Gesamtheit der historischen Substanz ist in entscheidendem Maße, wenn nicht sogar fast ausschließlich, für die Definition als Denkmal verantwortlich; mit dem Verlust der Substanz erlischt die Existenz des Denkmals. Sein Urkundencharakter, der seinen historischen Wert begründet, kann nicht in eine Nachbildung übergehen.“ 6 Eine historistische Rekonstruktion oder die Simulation historischer Formen (siehe Kap. 5) wird in der Charta von Venedig ausgeschlossen. Eine daraus resultierende archäologische Rekonstruktion eines ruinösen Baus soll das folgende Kapitel beleuchten.

3.2

Andrea Bruno: Castello di Rivoli, bei Turin (1979–84 / 1993–99) Architekt: Castellamonte (Manica Lunga) / Filippo Juvarra (Schloss) Bauzeit: ca. 1644–70 (Manica Lunga) / 1714–34 (Schloss) Architekt der Rekonstruktion: Andrea Bruno Auftraggeber: Region Piemont Rekonstruktionsphasen: 1979–84 (Schloss) / 1993–99 (Manica Lunga) Grundfläche: 2300 m² (Schloss) / 4000 m² (Manica Lunga) Kosten: 9 000 000 Euro (Schloss) / 11 000 000 Euro (Manica Lunga)

Der in Turin geborene Andrea Bruno (*1931) studierte an der Architekturfakultät des Politecnico di Torino und betätigt sich gleichermaßen als Architekt und Restaurator. Sein erstes Restaurierungsprojekt in Europa war im Jahre 1960 das Castello di Rivoli. Damals schlug Bruno erstmals eine umfassende Instandsetzung des Bauwerks vor, für die jedoch keine Mittel bereitgestellt werden konnten. Erst knapp zwei Jahrzehnte später sollte die Region von 80

Piemont den Vorschlag aufgreifen, erweitern und mit einer kulturellen Nutzung als Museum für zeitgenössische Kunst realisieren. Die bis ins Mittel­a lter nachvollziehbare Baugeschichte mit den unterschiedlichen baulichen Erweiterungen ist im Zusammenhang der archäologischen Rekonstruktion relevant und soll kurz dargestellt werden. Baugeschichte des Castello di Rivoli Ein auf der Anhöhe im Westen Turins gelegenes Kastell wurde als „Castrum Rivollum“ 1159 erstmals urkundlich erwähnt und spielte während dynastischer Streitereien im Hause Savoyen im Mittelalter über mehrere Jahrhunderte eine zentrale Rolle. Als der Herrscher Emanuele Filiberto 1563 die Hauptstadt vom im französischen Stammland gelegenen Cambéry nach Turin verlegen ließ, begann er auch mit dem Aufbau einer Reihe von Landschlössern, die sternförmig um die neue Residenzstadt angelegt wurden. Sein auf Rivoli geborener Sohn Carlo Emanuele I. ließ das Kastell vom Architekten Castel­ lamonte von 1644–70 durchgreifend erneuern. Aus dieser Zeit ist bis heute die Manica Lunga, der Galerietrakt, der eine umfangreiche Kunstsammlung ­beherbergte, erhalten. Mit seinen ca. 140 x 8 Metern Grundfläche besitzt der vierstöckige Bau ungewöhnliche Proportionen. Die Vierflügelanlage des danebenliegenden Schlosses wurde jedoch schon wenige Jahre später, 1693, von einmarschierenden französischen Truppen schwer beschädigt. Im spanischen Erbfolgekrieg engagierte sich Vittorio Amedeo II. dagegen erfolgreich und konnte in den schwierigen Friedensverhandlungen von Utrecht 1713 die Krone des Königs von Sizilien für sein Haus Savoyen beanspruchen. Mit dem neu gewonnenen Sizilien (das er 1719 gegen das weniger prestigeträchtige, aber ebenfalls mit einem Königstitel verbundene Sardinien eintauschen musste) änderte sich sein architektonischer Repräsentationsanspruch, der mit der Berufung Filippo Juvarras an den Hof eine Entsprechung fand. Sein Entwurf sah eine großartige neue Schlossanlage vor, welche den Corps de Logis des bestehenden Baus als Ostflügel integrierte. Dieser sollte anhand eines westlich angebauten Atriums achsensymmetrisch gespiegelt werden, womit sich die Ausmaße des Baus verdoppelt hätten

(Abb. 15 und Abb. 16) .7

Die

­a r­c hitektonische Vorgabe, den alten Bau in die neue Schlossanlage zu 81

Abb. 15: Castello di Rivoli: Grundriss der heutigen Anlage; Juvarras geplante Erweitung in gestichelten Linien. Umzeichnung nach Gritella 1986

Abb. 16: Filippo Juvarra, Entwurf der Südfassade des Castello di Rivoli

82

integrieren – womöglich ein bewusstes Anknüpfen an die historische Bedeutung des Kastells für das Haus Savoyen –, bedeutete einen für das beginnende 18. Jahrhundert unüblichen Aufbau: Der Palast breitete sich nicht wie barocke Vorbilder in Frankreich dreistöckig aus, sondern besitzt eine weitere, vierte Etage. Grundriss und Skizzen des Architekten, mehrere Veduten sowie ein großes Holzmodell des Schlosses sind erhalten und geben Aufschluss über Juvarras grandiose Pläne. Doch diese mussten alsbald den finanziellen Realitäten weichen; nach dem Herrscherwechsel 1731 wurden die Bauarbeiten eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt war lediglich der Corps de Logis so weit umgebaut, dass er als östlicher Flügel funktionierte. Durch den Baustopp blieb aber die Manica Lunga erhalten. Diese war durch die besondere topografische Lage von jeher leicht aus der Achse nach Nordosten verschoben und stand nun dem Neubau Juvarras im Osten beziehungslos gegenüber. Ein weiterer Versuch des Architekten Carlo Randoni, Ende des 18. Jahrhunderts das Schloss nach Juvarras Entwürfen zu vollenden, wurde wiederum 1796 durch Napoleons Italienfeldzug verhindert. Mit den Rundbogen und den Pilastern mit mächtiger Bossenquaderung im nördlichen Bereich des Atriums war man lediglich bis zur ersten Etage gelangt. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde das Castello di Rivoli wiederholt als Garnisonsstützpunkt genutzt und stark in Mitleidenschaft gezogen. 1978 waren die Baustrukturen in einem derart dramatischen Zustand, dass durch Wassereinbrüche die Wände, Decken und damit die Fresken und Stuckaturarbeiten im Inneren massiv gefährdet und ab Herbst durch Einstürze der Gewölbe zum Teil zerstört wurden.8 Rekonstruktion des Castello di Rivoli von Andrea Bruno Die skizzierten Bauphasen zeigen die historische Komplexität der Anlage auf, die Andrea Bruno vorfand, als er 1979–84 und 1993–99 umfangreiche Maßnahmen unternahm, um das Castello di Rivoli in ein Museum für moderne und zeitgenössische Kunst zu transformieren. Neben Ausstellungsräumen beherbergt es ein Theater, Restaurierungswerkstätten, Konferenz- und Kunstvermittlungsräume, eine Bibliothek, einen Museumsshop und eine Cafeteria. 83

Der Eingang in die beiden gegenüberliegenden Museumsbauten des Castello di Rivoli erfolgt – wie von Juvarra ursprünglich geplant – von Norden her. Vom inneren Hof erschließen Besucher sowohl das Schloss als auch die ­Manica Lunga (Abb. 17 und Abb. 18) . Im nördlichen Bereich stehen die Arkadenreihen und die im ersten Obergeschoss abrupt endende Treppenanlage des von Juvarra entworfenen Atriums: eine in der Zeit eingefrorene Baustelle. Um sie vor weiterer Beschädigung durch Umwelteinflüsse zu bewahren, ließ sie Bruno mit dünnen Kupferplatten belegen. In Abgrenzung zu den Begriffen Wiederherstellung, Umbau oder Restrukturierung bezeichnet Sergio Polano diese Vorgehensweise schlicht als „designing the existent“.9 Im südlichen Teil des Atriums ist eine andere Strategie des Architekten erkennbar. Hier war die räumliche Aufteilung der von Juvarra konzipierten Sala Terrena durch den frühen Baustopp nur schwer verständlich. Um sie dem Besucher dennoch zugänglich und direkt im Bauensemble ablesbar zu machen, „zeichnet“ Bruno den aus Plänen bekannten Grundriss mit von Porphyr umrahmten Marmor- und Steinplatten in den gepflasterten Bodenbelag des Museumsvorplatzes ein. Diese Platten zeigen die Positionen der geplanten Säulenpaare und die der Gewölbe tragenden Bogen auf. Das architektonische Planungsmittel Grundriss ist von Bruno somit als Modell im Maßstab 1:1 auf den Boden übertragen. Die Grundrisslinien sind wie Fundamente aus dem Erdreich ausgegraben. Damit ist die Spur einer niemals zur Wirklichkeit gebrachten Geschichte freigelegt, durch welche eine Vollendung des Schlosses im Geiste nachvollzogen werden kann. Außenbau Auch die vom Hof aus sichtbare Westfassade des Schlossbaus ist in ihrem provisorischen und unfertigen Zustand konserviert. Fenster wurden erneuert, der obere Teil der Fassade wartet weiterhin auf seine Verkleidung aus Marmor und Stuck. Insgesamt eine behutsame Restaurierung der Situation, wie sie zwei Jahrhunderte zuvor aufgegeben wurde. „From the outside I want it to look as if it were still under construction and that work will be continuing tomorrow. I don’t propose to try to complete anything at all started by Juvarra; everything that belongs to that phase of 84

Abb. 17: Sicht auf das ­nördliche Atrium und die Manica Lunga rechts

Abb. 18: Südlicher Bereich des ­Atriums mit dem in den Boden eingelassenen Grundriss der von Juvarra geplanten Sala Terrena

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the building will be authentic, historically and artistically, and visitors will be able to appreciate how he designed the building and how he was constructing it.“10 Brunos erklärtes Ziel ist es, die Entstehungsphasen des Bauwerks für die Gegenwart zu erhalten. In einer Hinsicht verändert er dennoch wesentlich die vorhandene Situation der Westfassade: durch den im linken oberen Bereich eingefügten, schmalen, aber weit vorkragenden Balkon. In seiner Konstruktionsweise – einem eingehängten Stahlrahmen mit Vollverglasung zu allen Seiten – ist er auf den ersten Blick als zeitgenössische Intervention erkennbar. Die weithin sichtbare Plattform wird zum Signet für die gesamte von Andrea Bruno vorgenommene Intervention. Sie ist aber nicht nur Aussichtsplattform: Für Luc Tessier ist sie ein „observatory of the past“, denn von hier kann der Besucher den von Bruno in das Atrium eingesetzten Grundriss der Sala Terrena nachvollziehen.11 Die schmale Ostansicht der Manica Lunga steht, aus der Achse leicht versetzt, dem Schlossbau von Juvarra gegenüber. Bruno ließ die erst 1967 behelfsmäßig neu zugemauerte Front abtragen und fügte stattdessen eine Glasfassade ein. Bogen aus Stahlbeton verstärken und betonen visuell die historischen Gewölbe. Damit wirkt die Fassade selbst wie ein „Aufriss“ des Gebäudes. Auch hier ist ein zeichnerisches Konstruktionsmittel gestalterisch angewendet. Für die neue Funktion wurden zudem neue Erschließungsmöglichkeiten und Notausgänge notwendig: Die vom Hof aus sichtbare Treppenanlage befindet sich im Norden. Sie ist an einem Stahlträger eingehängt und von der historischen Fassade abgesetzt. Es galt, die Konstruktion visuell abzugrenzen und den substanziellen Altbestand möglichst nicht zu beeinträchtigen; ein späterer Rückbau in den Vorzustand sollte gewährleistet bleiben. Die leichte Verschiebung der Treppenanlage hebt zugleich die vorhandene axiale Beziehungslosigkeit zwischen Manica Lunga und Juvarras Schlossbau auf. Bruno gelingt damit das Kunststück, der Disparität der beiden Baukörper durch diese Achse entgegenzuwirken.

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Innenraum In den meisten Ausstellungsräumen des Schlosses entschied sich Bruno ­dafür, sie in ihrer zum Teil von den Zeiten gezeichneten Erscheinung zu bewahren (Abb. 19). Man unternahm notwendige Reparaturen der Fußböden und verschie­dene Erhaltungsmaßnahmen für den Dekor. Freskomalereien und Stuckaturen sind in ihrem oftmals nur noch fragmentarischen Charakter erhalten. Fehlstellen wurden monochrom gefasst, sodass sie den Ausstellungsraum harmonisieren und zugleich als moderne Ausbesserungen ersichtlich bleiben. Der Prozess des Verfalls wurde so in die Innenrauminszenierung i­ ntegriert.12 Gezeigt wird eine dokumentarische Bestandsaufnahme des Vorgefundenen. Die innere Zirkulation im Museum verläuft über eine moderne Treppenanlage in einem engen, 26 Meter hohen Schacht, der schon von Randoni angelegt wurde. Bruno entschied sich für eine vorfabrizierte, an zwei Stahlkabeln frei hängende Konstruktion, die während der Erneuerung des Dachstuhls von oben eingesetzt wurde und keine Verankerungen im historischen Bau benötigt. Dies ermöglicht – wie schon bei der Außentreppe der Manica Lunga – einen späteren Rückbau und verleiht dem temporären Charakter der Intervention visuell Ausdruck. Außergewöhnlich ist der im dritten Obergeschoss an das Treppenhaus angrenzende Raum. Auch hier war in den Jahren vor Brunos Umbauarbeiten Wasser eingedrungen und hatte die Struktur empfindlich angegriffen. Der Architekt hat die ziegelsteinerne Gewölbekonstruktion des darunterliegenden Stockwerks repariert und anschließend sichtbar gelassen. Der Raum selbst ist nur über einen schmalen Steg betretbar, der die Assoziation einer archäologischen Ausgrabungsstätte weckt.13 Das darüberliegende Dach wurde während des Zweiten Weltkriegs stark beschädigt und von der lokalen Abteilung für Ingenieurwesen im Jahre 1947 „restauriert“, wobei Betonelemente eingesetzt wurden. Da die ursprünglichen Holzträger als Schalungshölzer dienten, bezeichnet der Architekt die modernen Stützen als „a memory“ des Baus.14 Bruno strich sie in auffälligem Rot, sodass sie als aufgezeigte „Kriegswunde“ verstanden werden können.15

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Abb. 19: Der Saal der Kontinente mit der Arbeit Croce (1965–86) von Luciano Fabro

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Andrea Brunos Intervention bringt im Ergebnis einen Bau hervor, der seine Funktion nicht nur erfüllt, sondern seinerzeit zugleich ein innovatives museales Inszenierungskonzept jenseits des modernen „White Cube“ verfolgt: ein Museum, in dem sich die moderne und zeitgenössische Kunst fortdauernd mit der Geschichte des Baus bricht. Insbesondere die Werke der Arte Povera, die eine zentrale Säule der Sammlung darstellen, wirken in den historischen Sälen überraschend reizvoll. Und die im Eingangsbereich ins Nirgendwo führende Treppenanlage liest sich vor diesem Hintergrund selbst wie ein surreales Gemälde von Giorgio de Chirico.16 Begriff der archäologischen Rekonstruktion Der Architekt stellt mit seinem Konzept alle historischen Schichten – von den ältesten noch erhaltenen Spuren bis zu Castellamontes Bau, von Juvarras unterbrochener Intervention über Randonis späteren Versuch der Vollendung bis hin zur Vernachlässigung im 19. und 20. Jahrhundert – gleichermaßen aus, ohne eine Bauphase zu favorisieren. Alle Teile sind für ihn gleichwertige Zeugnisse der Geschichte. Die von Bruno neu hinzugefügten Bauelemente sind dezidiert modern. Wie es Benjamin Moray zusammenfasst, sind es damit drei, letztlich auf der Charta von Venedig basierende architektonische Prinzipien, die für Brunos Umgang grundlegend sind: 1. das Prinzip der Authentizität des Baus, also der Wahrung seiner Materialität, Form und Farbe sowie der Spuren der Geschichte, 2. das Prinzip der zeitgenössischen Intervention, d. h. der formalen Abgrenzung jedweder architektonischer Neuerung und 3. das Prinzip der Reversibilität dieser Hinzufügungen, also einer möglichen Rückführung in den Zustand vor der Intervention.17 Brunos Anliegen ist nicht, seine eigene Architektursprache in das Bauwerk einzuschreiben: „Andrea Bruno is right when he says that his projects resemble him, they elude classifications of typology and fashion; they are not objects but moments that capture time as it passes.“ 18 Brunos archäologische Rekonstruktion steht damit im Einklang mit den Leitlinien der Charta von Venedig: Alle Zeitschichten und der Verfall bleiben fragmentarisch ablesbar.

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Könnte man diese Form der archäologischen Rekonstruktion in einer ästhetischen Tradition mit der romantischen Inszenierung von Ruinen sehen? In der Romantik galten verfallene mittelalterliche Anlagen nicht primär ob i­ hrer historischen Substanz, sondern wegen ihrer malerischen und symbolischen Wirkung als eindringliche Zeugnisse. Künstlich erschaffene Ruinenbauten waren als Memento mori Teil des englischen Landschaftsgartens. Freilich waren es gerade moderne Denkmalpfleger, die sich in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der historistischen Rekonstruktion für die Erhaltung eines Baus auch in ruinösem Zustand vorwiegend deshalb aussprachen, weil es die historisch authentische Substanz zu schützen galt. Hassler sieht dabei jedoch, dass die „Bereitschaft zur Erhaltung […] durch Sehgewohnheiten und architektonische Vorlieben der Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ vorgeprägt waren.19 Es seien die, sich in den denkmalpflegerischen Theorien des 20. Jahrhunderts herausbildenden Ideale der „Konservierung der Ruine“ zum einen und der „Liebe für die ‚Oberfläche des Rohbaus‘ als Synonym für ‚Materialwahrheit‘ und Ausdruck langer Dauer (als ein Phänomen schon des 19. Jahrhunderts, in der Architekturästhetik der Moderne neu interpretiert)“ zum anderen, die in einer „Ästhetisierung des Fragments“ münden.20 Für Hassler bleibt das Prinzip der Wertschätzung des Verfalls aber eine „Utopie“: Denn die „Grenze zwischen notwendigen Stabilisierungsmaßnahmen zur Verlangsamung des Verfalls und inakzeptablen Eingriffen“ ist objektiv kaum zu bestimmen.21 Die archäologische Rekonstruktion bedeutet nicht die Konservierung des Verfalls: Dieser ist in seinem natürlichen Ablauf, der unweigerlich zum endgül­ tigen Verlust führen würde, gestoppt und in der Zeit „eingefroren“. In ihren ­ästhetischen Prämissen ist die archäologische Rekonstruktion deshalb als zeitbedingte Lösung zu begreifen. In der Respektierung möglichst aller Zeitschichten artikuliert sie im Bauwerk eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem; sie ist gewissermaßen eine „Metaerzählung“ des Baumonuments. „Dass der neu entstandene ‚Fragmentzustand‘ ein durchaus künstliches und intellektuell gewolltes Ergebnis eines aufwendigen Prozesses ist“,22 darf dabei nicht vergessen werden. Die archäologische Rekonstruktion erhält historische Bauelemente nicht nur, sie stellt sie gewissermaßen als museale Artefakte aus. 90

3.3

Eberhard Burger: Frauenkirche, Dresden (1994–2005) Architekt: George Bähr Bauzeit: 1726–43 Baudirektor der Rekonstruktion: Eberhard Burger Auftraggeber: Stiftung Frauenkirche Dresden Rekonstruktionsphase: 1993–2005 Grundfläche: 1850 m² Kosten: 179 700 000 Euro

Der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden wurde explizit als archäologische Rekonstruktion bezeichnet und soll deshalb als zweites Baubeispiel des Kapitels behandelt werden. Nach einem Blick auf die Baugeschichte und das Schicksal der Kirche im 20. Jahrhundert soll im Folgenden geklärt werden, inwieweit der unter Baudirektor Eberhard Burger (*1943) realisierten Rekonstruktion dieser Titel tatsächlich zugesprochen werden kann. Baugeschichte der Frauenkirche von George Bähr Die von George Bähr entworfene und ausgeführte Frauenkirche erhob sich auf einem quadratischen Grundriss mit eingeschriebener Kreisform. 1729, schon drei Jahre nach Baubeginn, war die Kirche bis zum Hauptgesims errichtet; das elegante, wegen seiner Statik anspruchsvolle und problematische steinerne Gewölbe war 1743 fertiggestellt. Die mächtige Mittelkuppel mit hoher Laterne dominierte den Bau; vier in den Ecken des Quadrats positionierte Türme waren, wie Fritz Löffler, Kenner der Dresdner Kunstgeschichte, formuliert, „in einem solchen Verhältnis, daß sie die Mittelkuppel nicht beeinträchtigten, sondern durch ihren kleineren Maßstab wie auch ihre freie, lockere Silhouette vielmehr steigernd wirkten“.23 Im Osten schloss der halbkreisförmige Altarraum an. Zwischen den acht Pfeilern waren im Inneren geschwungene hölzerne Emporen eingezogen, die den Zentralraum kreisrund rahmten. Zum Altarraum führten von beiden Flanken geschwungene Treppenläufe. Dieser besaß mit dem Hauptaltar und der darüber angebrachten Orgel eine reiche Ausstattung, „die weniger der protestantischen Lehre als der rauschenden 91

barocken Festlichkeit und der Repräsentationsfreudigkeit der augustäischen Epoche entsprach“.24 Prachtvoll war auch die Ausmalung der inneren Kuppel, ausgeführt vom Venezianer Giovanni Battista Grone. Heinrich Magirius legt umfassend die in den folgenden Jahrhunderten unternommenen Restaurierungen dar.25 Der Zustand vor dem Zweiten Weltkrieg ist hier von besonderem Interesse: Denn in den letzten 15 Jahren vor ihrer Zerstörung war der Innenraum der Kirche in nicht weniger als drei verschiedenen Fassungen zu erleben. Bis 1930 existierte die Ausmalung von 1868 in hellen Grautönen. Nach der Restaurierung durch Paul Rößler 1932 war die Raumschale neu gefasst, die zuvor übertünchten barocken Kuppelgemälde wieder freigelegt und die barocken Wandfassungen teilweise nach Befund rekonstruiert, jedoch aus finanziellen Gründen nicht vollendet. 1940–42 war es wiederum Rößler, der nun nicht nur seinen „Befund“ – den Hubel überhaupt anzweifelt – endlich vollenden konnte, sondern durch fiktive schöpferische Eingriffe (z. B. Vergoldungen) die barocke Erscheinung zusätzlich steigerte.26 In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 fielen weite Teile der Dresdner Innenstadt britischem und amerikanischem Bombardement zum Opfer. Die Frauenkirche stürzte am folgenden Tag ein. Lediglich die Chorapsis mit Hochaltar und die nordwestliche Außenwand blieben stehen. Erste Versuche des Wiederaufbaus 1949 mussten im Folgejahr aus politischen Gründen eingestellt werden. Als 1958/59 über ihren Abriss diskutiert wurde, trat das In­ stitut für Denkmalpflege vehement für den Erhalt der Ruine ein. Um 1980 entdeckten junge Christen die Ruine als Mahnmal gegen den Krieg – sie wurde zum Symbol für die faschistische Terrorherrschaft und ihren Untergang. Nach der Wende entstand in Teilen der Bevölkerung neue Hoffnung, die lange verzögerte Rekonstruktion als Symbol des Friedens endlich realisieren zu können. Eine Bürgerinitiative formulierte sie in ihrem Ruf aus Dresden 1990: „45 Jahre nach ihrer Zerstörung ist auch für uns die Zeit herangereift, die Frauenkirche als einen verpflichtenden Besitz der europäischen Kultur ­w iedererstehen zu lassen.“ 27 Sie forderte nicht nur den Wiederaufbau der Kirche, sondern zugleich ihre Aufnahme in die Welterbeliste der UNESCO, was ­Hubel empört als „groteske Verkennung der Sachverhalte“ beanstandet: 92

„Wiederhergestellt werden kann die Frauenkirche nur als Abbild und Symbol, nie als Baudenkmal.“ 28 Rekonstruktion der Frauenkirche unter Eberhard Burger Der sächsische Landeskonservator Hans Nadler prägte bald nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff des „archäologischen Wiederaufbaus“, explizit als Forderung in Hinblick auf die Frauenkirche. Auch sein Nachfolger Gerhard Glaser nennt die ein halbes Jahrhundert später schließlich begonnene Rekonstruktion archäologisch und bezieht sich dabei explizit auf Art. 9 der Charta von Venedig.29 Mit dem als „archäologische Enttrümmerung“ subsumierten Verfahren wurden 1993–94 zuerst die der Ruine entnommenen Steine messtechnisch erfasst und kategorisiert, „mit dem Ziel der Erhaltung und Rettung von möglichst viel Originalmaterial und Gewinnung von Informationen über das Bauwerk, seine Baustoffe, seine Konstruktion, seine Erstellung und seine Gestalt“. Der leitende Baudirektor Eberhard Burger bekräftigt, dass damit „die Grundlage geschaffen werden [sollte], das Kirchengebäude ‚archäologisch‘ zu rekonstruieren, d. h., sie in originaler Form unter Verwendung der noch stehengebliebenen oder unter den Trümmern verborgenen […], noch nutzbaren Steine und Großsteine wieder so aufzubauen, wie George Bähr […] gebaut hatte.“ 30 Dafür wurde unter anderem auch der Einsturz der Kuppel theoretisch nachvollzogen, um die ursprünglichen Positionen der Steine so gut wie möglich zu bestimmen. 1996 begann die eigentliche Rekonstruktion. Außenbau Die von George Bähr überlieferten Bauzeichnungen und die 1944–46 von Architekt Arno Kiesling angefertigten Aufmaße dienten als programmatische Grundlage für die Wiedergewinnung der exakten Dimensionen des Baus (Abb. 20). Durch den Brand beschädigte Steine, die nach Hitzeeinwirkung eine deutlich rötliche Färbung des Tonminerals aufwiesen, mussten aussortiert werden. Wo es bauphysikalisch möglich war, wurden die alten Steine wiederverwendet und in den Neubau integriert. Mit ungefähr 8400 Funden konnte ein Viertel der Fassadensteine geborgen werden, wiederum ein Viertel davon 93

Abb. 20: Rekonstruierte Frauenkirche in Dresden, Außenbau

fanden letztlich ihren angestammten Platz im Neubau.31 Die wieder eingesetzten, durch die lange Witterung gezeichneten Steinblöcke bleiben an ihrer dunkleren Färbung erkennbar. Vor allem großteilige geborgene Steine kamen vielerorts aber nicht wieder zum Einsatz, obwohl sie als tragfähig eingestuft wurden. Grund dafür war nach Glaser eine „echte statisch-konstruktiv-bauphysikalische Grenze, steinmörtel-fugentechnisch bedingt“.32 Die Wasserundurchlässigkeit der Fugen zwischen historischer und neuer Substanz konnte nicht gewährleistet werden. Kritisch bemerkt jedenfalls Magirius: „Von einer ‚Anastylose‘ ist der Wiederaufbau der Frauenkirche weit entfernt.“ 33 Die 94

stehen gebliebene, durch den Einsturz der Kuppel nach außen gedrückte Nordwestwand ist in ihrer leichten Schiefstellung aber ebenso in den Neubau integriert wie die erhaltene Chorapsis. Durch die Zerstörung entstandene Risse sind so behandelt, dass sie am Außenbau als historische Spuren ablesbar bleiben. Für die Neubauteile verwendete man Sandsteine aus Steinbrüchen, die schon Bähr für den Bau genutzt hatte. Die Bezeichnung „materialauthentisch“ 34 ist in diesem Zusammenhang zwar treffend, weist jedoch auf ein entscheidendes Problem hin. Die archäologische Rekonstruktion möchte ja keinen authentischen „Originalbau“ wiederherstellen, sondern gerade die unterschiedlichen Zeitschichten, das meint auch die der Zerstörung, anschaulich machen. Sie zielt dabei auf eine sichtbare Differenzierung von authentischer Substanz und rekonstruiertem Material. Auf den ersten Blick scheint diese Maxime bei der Frauenkirche erfüllt. Es ist jedoch zu konstatieren, dass sich das Material mit der Verwendung von materialgleichem Sandstein zwar, wie von der Charta von Venedig gefordert, harmonisch einfügt, der ebenfalls postulierte „Stempel unserer Zeit“ jedoch schrittweise verblassen wird. Die Witterung wird den hellen Sandstein verdunkeln, historische Substanz und neue Hinzufügungen werden „zusammenwachsen“.35 Innenraum Die Wiederaufbaumaßnahmen im Inneren begannen mit der 1996 geweihten Unterkirche (Abb. 21) . Diese Räume wurden als Rohbau rekonstruiert. Das ursprüngliche Raumvolumen, das ein griechisches Kreuz formt, wird erfahrbar, der rekonstruierte Charakter bleibt erkennbar. Im zentralen Raum steht ein moderner Altarstein von Anish Kapoor. In den seitlichen Grabkammern ist die Zerstörung zudem durch historische Originalfragmente und zeitgenössische künstlerische Arbeiten thematisiert und ausgestellt. Überraschend ist dagegen die Erscheinung des Hauptraums der Frauen­ kirche (Abb. 22) . Eigentlich müsste er als zurückhaltend gestaltetes oder materialsichtiges Raumvolumen errichtet sein, geborgene Bausubstanz wäre fragmentarisch ersichtlich. Da, wo die Baudokumentation ihre Grenzen fand,

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müsste mit erkennbar zeitgenössischen Elementen gearbeitet werden. Diese Methode kam jedoch im Hauptraum nicht zur Anwendung. Ganz im Gegenteil stellt sich der Innenraum einheitlich in historischer Gestalt dar. Glaser fasst das Konzept für den Innenraum so zusammen: „Die bauarchäologische Begleitung hat also ein hohes Maß an Authentizität für den Wiederaufbau bewirkt. Es ging ja letztlich um die innere Wahrheit des Ganzen, es ging darum, dieser inneren Wahrheit wieder möglichst nahe zu kommen.“ 36 Genau darum aber geht es der archäologischen Rekonstruktion nicht. Eine möglichst exakte, „originalgetreue“ Rekonstruktion vor der Zerstörung – die ebenfalls auf einer umfassenden Baudokumentation aufbaut – folgt dem Konzept der simulierenden Rekonstruktion (siehe Kap. 5). Inwiefern überhaupt von einer „originalgetreuen“ Rekonstruktion gesprochen werden kann, wird im Hinblick auf die Gestaltung der einzelnen dekorativen Elemente zudem fraglich. Wie oben angesprochen, erfuhr die Farbfassung in den letzten Jahren vor ihrer Vernichtung mehrfache Umgestaltungen. Ein einwandfrei „authentischer“ Zustand war, wie Hubel anmahnt, zum Zeitpunkt der Rekonstruktion keineswegs mehr zu ermitteln.37 Tatsächlich sollte von Anfang an auch nicht der (erst unter nationalsozialistischer Herrschaft entstandene) Vorkriegszustand wiederhergestellt werden, „sondern ein weitaus imaginärer, der des 18. Jahrhunderts“.38 In ihrem offenkundig fiktiven Charakter ist die dekorative Innenraumgestaltung eigentlich im Geist der historistischen Rekonstruktion aneignend nachgeschöpft. Dies zeigt auch der geborstene Altar, der im Zuge der „archäologischen Enttrümmerung“ in fast 2000 Bruchstücken geborgen werden konnte, wobei der Torso recht gut erhalten war. Der rekonstruierte Altar besteht zu 85 Prozent aus Originalsubstanz. Dem widerspricht jedoch seine Erscheinung, die keinerlei Bruchstellen mehr erkennen lässt. Er ist gänzlich in seinen barocken „Ursprungszustand“ zurückversetzt, der „optische Eindruck wurde mehr und mehr so verharmlost, dass er nicht mehr erschreckt“.39 Besondere Pro­ bleme machten die spätbarocken, aber mehrfach überformten Kuppelgemälde. Ihre Neuschöpfung durch den Dresdner Maler Christoph Wetzel muss freilich gleichermaßen als historistischer Versuch der Einfühlung bezeichnet werden, die sich nicht mehr auf eindeutige Dokumentation stützen kann.40 96

Abb. 21: Die Unterkirche der Dresdner Frauenkirche

Abb. 22: Hauptraum der Frauenkirche mit Blick auf den Chor

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Als künstlerische Leistung kann sie im besten Sinne des Wortes kitschig ­genannt werden. Betrachtet man sie als zeitgenössisches Werk – und damit im zeitgenössischen Kunstkontext –, besitzt sie darin sogar eine gewisse ­A ktualität. Entgegen aller Beteuerung folgt die Gestaltung im Inneren (abgesehen von der Unterkirche) summa summarum nicht den Prinzipien der archäologischen Rekonstruktion. Der Innenraum oszilliert vielmehr zwischen simulierenden und historistischen Tendenzen der Rekonstruktion.41 Diese Konzepte stellen – im Bewusstsein sorgfältiger Erfassung der historischen Reste und im Besitz (scheinbar) eindeutiger, bauarchäologischer Dokumentation – das Prinzip der archäologischen Rekonstruktion auf den Kopf. Für den eintretenden Besucher, der schon am Außenbau den zerstörten und rekonstruierten Charakter des Baus ablesen kann, entsteht im Hauptraum die inkonsistente Situation, sich in einem scheinbar unversehrten Barockraum zu befinden. Der Wechsel vom archäologischen Konzept (Außenbau) zum si­mu­ ­l ierenden beziehungsweise historistischen Konzept (Innenraum) lässt eine widersprüchliche Spannung entstehen, die sich als kritikwürdig darstellt. Der Innenraum ist aber keine historische „Fälschung“, denn jeglicher Täuschungsabsicht wirkt schon der Außenbau entgegen. Dass Außen und Innen nicht in Übereinstimmung gebracht werden können, macht die rekonstruierte Frauenkirche insgesamt zu einem offensichtlich nicht historischen, sondern sich vom Original „befreienden“, durchaus zeitgenössischen Bau. Gerade weil die Rekonstruktion als archäologisch bezeichnet wurde, muss schließlich der Verlust der gesamten historischen Fundamente des Baus durch die Einrichtung einer unter der Kirche liegenden Tiefgarage als ausgesprochen heikel beurteilt werden. Falser spricht hier von „zerstörerische[r] Rekonstruktionspraxis“.42 Zerstörerisch ist die Rekonstruktion für ihn aber auch aus einen anderen Grund: Denn die Ruine selbst wird vernichtet und geht verloren. Richtig stellt Falser sie als Mahnmal des Antifaschismus und der friedlichen Revolution von 1989 heraus. Jede Form von Rekonstruktion zerstört unweigerlich den Status quo. Allein deshalb, also unabhängig vom architektonischen Konzept, kann sie im Zweifelsfall abgelehnt werden. 98

Der Trümmerberg erhielt im Laufe des 20. Jahrhunderts seine eigene Bedeutung. „Dabei handelte es sich nicht einfach um eine neue Sinnschicht, die der alten hinzugefügt worden wäre, sondern um eine konkurrierende Deutung des Bestandes.“ 43 In der Frage um Rekonstruktion, dies zeigt sich bei der Frauenkirche deutlich, geht es auch um unterschiedliche Interessen und ­moralische Be-Deutungshoheiten. Während Falser die Rekonstruktion wegen der Zerstörung des Ruinenmahnmals ablehnt, empfindet Dolff-Bonekämper die von internationaler Anteilnahme und Spendenbereitschaft (insgesamt kamen ca. 100 Mio. Euro zusammen) getragene Wiederaufbauleistung letztlich als richtig: „Der Ersatz übertrifft in dieser Hinsicht das Ersetzte.“ 44 Tatsächlich prägt eine für Unbeteiligte nur schwer nachvollziehbare Aufbruchstimmung den Wiederaufbau. Gerade der Fall konkurrierender Bedeutungsschichten zeigt das Potenzial und die Grenzen der archäologischen Rekonstruktion auf. Die Grenzen, weil die Maxime der Reversibilität gerade bei starker Zerstörung praktisch kaum erreichbar scheint. Das Potenzial, weil sie die historischen Zeitschichten als Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem ausstellt. Insbesondere im Hinblick auf die sich im Ort überlagernden Bedeutungen ist also bedauernswert, dass dieses Konzept im Innenraum nicht konsequenter verfolgt wurde.

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Anmerkungen

27 Zitiert nach Löffler und Magirius 1991, S. 23. 28 Hubel 2005, S. 254. 29 Glaser 2007, S. 9. 30 Burger und Schöner 2001, S. 14.

1

Ein entscheidender Vorläufer der Charta von ­Venedig ist die Charta von Athen (1931) (nicht zu verwechseln mit Le Corbusiers berühmter Charta über „die funktionelle Stadt“ gleichen Namens), die auf dem First International Congress of Architects and Technicians of Historic Monuments for­ muliert wurde, der damals noch von der ICOM (­International Council of Museums) organisiert war.

2

Die Charta ist abgedruckt in der deutschen Über­ setzung von 1989 u. a. in Langini, Lipp, Müller und Petzet 2012, S. 47–52.

3

Krause 2011, S. 63 f.

4

Zitiert nach Langini, Lipp, Müller und Petzet 2012, S. 53.

5 Die Operational Guidelines von 1977 und alle in den folgenden Jahrzehnten vorgenommenen Überarbeitungen sind abrufbar unter http://whc.unesco.org/ en/guidelines/ (abgerufen am 15.09.2015). 6

Hubel 2011, S. 314.

7

Gritella 1986, S. 66 ff.

8

Bruno 1984, S. 75.

9

Polano 1996, S. 150.

10 Andrea Bruno, zitiert in Bruno und Linstrum 1984, S. 165. 11 Tessier 1996, S. 89. 12 Bruno 1984, S. 112 f. 13 Hier bietet sich die Gelegenheit, die technischen ­Lösungen für die Überwölbung größerer Räume im 18. Jahrhundert nachzuvollziehen. 14 Bruno zitiert nach Bruno und Linstrum 1984, S. 169. 15 Diese Interpretation findet sich in Castello di Rivoli 2008, S. 51. 16 Bruno, zitiert in Bruno und Linstrum 1984, S. 65 f. 17 Moray 2009, S. 38 ff. 18 Tessier 1996, S. 89. 19 Hassler 2010a, S. 180 f. 20 Ebd., S. 178. 21 Ebd., S. 179. 22 Ebd., S. 187. 23 Löffler und Magirius 1991, S. 8. 24 Ebd., S. 15. 25 Ein chronologischer Überblick zu Restaurierungen findet sich in Magirius 2005a, S. 122 ff. 26 Hubel 2005, S. 236.

100

31 Diese Angaben finden sich in Jäger 2007, S. 22. Andere Quellen geben einen höheren Anteil historischer Substanz an, Nadler spricht sogar von „etwa 50 Prozent“. Nadler 2001, S. 5. 32 Glaser 2007, S. 12. 33 Magirius 2005a, S. 7. 34 Hertzig 2010, S. 326. 35 Glaser 2007, S. 16. 36 Ebd., S.11 f. 37 Hubel 2005, S. 236. 38 Magirius 2005a, S. 7. 39 Ebd., S. 7. 40 Fokus auf die Ausgestaltung des Innenraums legt Magirius 2005b. 41 Auch die historistische Rekonstruktion und die ­historische Simulation bedienen sich bauarchäo­ logischer Dokumentation; sie kommen aber mit ­dieser zu einer gänzlich anderen gestalterischen Schlussfolgerung. Siehe Kapitel 1 und 6. 42 Falser 2009, S. 94. 43 Dolff-Bonekämper 2014, S. 190. 44 Ebd.

Exkurs: Rituelle Rekonstruktion

In Das wilde Denken1 (1962) unterscheidet Claude Lévi-Strauss zwischen „heißen“ und „kalten“ Gesellschaften. Heiße Kulturen sind „durch ein gieriges Bedürfnis nach Veränderung gekennzeichnet“. Im Gegensatz dazu leben kalte Kulturen „nicht einfach außerhalb der Geschichte, sondern sie halten Geschichte draußen, sperren sie aus, vermeiden es, Geschichte zu haben“.2 Dabei ist unter Kälte nicht der Stillstand von Kultur unter Ausschluss jed­ weden Wandels zu verstehen. Sie wird vielmehr durch zyklisch wiederholte Rituale erzeugt, da nur diese die Zeit wirkungsvoll erneuern und die Fortdauer der Welt und der Gesellschaft erhalten können. Heiße und kalte Kulturen unterscheiden sich demnach durch ihr Verhältnis zur Geschichte, genauer gesagt, durch ein lineares, respektive zyklisches Zeitverständnis. Was aber folgt für Lévi-Strauss daraus? „Die einen versuchen dank den Institutionen, die sie sich geben, auf gleichsam automatische Weise die Wirkung zu annullieren, die die historischen Faktoren auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität haben könnten; und die anderen interiorisieren entschlossen das historische Wesen, um es zum Motor ihrer Entwicklung zu machen.“ 3 „Heiße“ Kulturen (mit wissenschaftlichem Denken) nutzen die allgemeine Bedingung, dass jede Gesellschaft in der Geschichte steht, um „durch das Bewußtsein, das sie von ihr erlangen, ihre Folgen (für sich selbst und für die anderen Gesellschaften) ins Unermessliche“ zu steigern. Die „kalten“ Kulturen (mit magischem oder mythischem Denken) dagegen leben nicht einfach außerhalb der Geschichte, sondern sperren Geschichte aus; sie „wollen nichts von ihr [der Geschichte] wissen und versuchen, mit einer Geschicklichkeit, die wir unterschätzen, Zustände ihrer Entwicklung, die sie für ‚primär‘ halten, so dauerhaft wie möglich zu gestalten“.4 Wichtig dabei ist, dass Lévi-Strauss beide Denkstrukturen als gleichberechtigt ansieht. Die europäische Kultur aber ist im Jahr 1962, als Lévi-Strauss sein Wildes Denken veröffentlicht, besonders „heiß“. In der unaufhaltsam voranschrei­ 101

tenden, niemals wiederkehrenden oder wiederholbaren Zeit werden kulturelle Zeugnisse wie Baumonumente in ihrer authentischen Substanz als unersetzlich und erhaltungswürdig erkannt. Diesem Geist sind auch die Charta von Venedig (1964) und die Internationale Konvention für das Kultur- und ­Naturerbe der Menschheit (1972) verpflichtet, die zugleich globale Gültigkeit anstreben. „Die weltweite Verbreitung der abendländischen Werte und Be­ deutungssysteme hat zu einer allgemeinen Expansion des Denkmalwesens beigetragen.“ 5 Diese Deklarationen bilden die Spitze eines spätmodernen Kulturkolonialismus, den Choay explizit als „Prozeß der Bekehrung zur Religion des Kulturerbes“ beschreibt.6 Insofern ist es bemerkenswert, dass innerhalb des Rahmens der ICOMOS in Japan 1994 das Nara Dokument zur Authenti­ zität vorgelegt wurde, das als postkoloniale „Revision der Kriterien der Authentizität“ 7 bezeichnen werden kann.

E.1

Nara Document of Authenticity (1994)

Die auf Anregung von Japan, das 1993 in das Welterbekomitee gewählt wurde, abgehaltene Konferenz und die abschließende Erklärung im Dokument von Nara „became a turning point in the recognition of heritage values in relation to cultural diversity“.8 Der traditionelle Authentizitätsbegriff, der zuvor fast ausschließlich von Europäern definiert wurde, wird hier als objektiver Maßstab in seiner universellen Anwendung auch auf außereuropäische Kulturkreise infrage gestellt. Das Dokument umfasst 13 Artikel und fordert in der Präambel „eine größere Achtung der Vielfalt der Kulturen und des Erbes in der Erhaltungspraxis“ (Art. 1) und eine kritische Betrachtung des Begriffs Authentizität in Abhängigkeit von „sozialen und kulturellen Werte[n]“ der einzelnen Gesellschaft (Art. 2). Um „alle Facetten des kollektiven Gedächtnisses der Menschheit“ nicht nur zu schützen, sondern auch zu fördern, müsse die kulturelle und spirituelle Vielfalt „ebenso in räumlicher wie in zeitlicher Dimension in den Kulturen und den mit ihnen verbundenen Lebensformen“ erkannt und respektiert werden. „Die Urteile über die dem Kulturerbe zuerkannten Werte […] können 102

sich von Kultur zu Kultur, ja sogar innerhalb einer Kultur unterscheiden. Es ist deshalb nicht möglich, Urteile über Werte und deren Authentizität auf ­einheitliche Kriterien zu stützen.“ 9 (Art. 11) Nicht nur materielle Zeugnisse können demnach authentisch sein, sondern ebenso immaterielle Dinge wie ein Ort, ein Ritual, Tanz, Musik, handwerkliche Tradition und Sprache (oral ­h istory). Der Norweger Knut Einar Larsen, der als wissenschaftlicher Koordinator der Konferenz das Dokument mitverfasst hat, subsumiert: „The Nara Document reflects the fact that international preservation doctrine has moved from a euro­ centric approach to a post-modern position characterized by recognition of cultural relativism.“  1 0 Auch Falser unterstreicht, dass das Nara Dokument und die darum entstandene Diskussion „als ein elementarer Versuch eines Paradigmenwechsels in der internationalen Denkmalpflege betrachtet werden [muss]: weg von einer in der Tat eurozentristischen, materialfixierten und elitären Herangehensweise hin zu jener eines weltweiten Respekts kultureller Diversität und einer höheren Flexibilität in der regional-spezifischen Interpretation von Authentizität.“ 11 Mit dem Nara Dokument ist keine Abkehr vom Begriff Authentizität vollzogen, sondern eine radikale Erweiterung seiner traditionellen Bedeutung. „Dem Begriff der Authentizität wurde […] die zentrale Rolle in der Wertbestimmung von globalem Kulturerbe zugeschrieben, auch wenn von einer dogmatischen (eurozentristischen) Anwendung fixierter Definitionen zugunsten einer regionalen Wertekonstruktion dezidiert Abstand genommen wurde.“ 12 Authentizität wird pluralistisch definiert. „As a result, the Nara Document could be seen as an effort to reach consensus on the essence of heritage in its diversity, the relativity of cultural values, and the approaches to apply in safeguarding practices.“ 13 Der Begriff Kulturerbe transportiert, anders als der Begriff Denkmal, also ein durch den kulturellen Kontext bedingtes Verständnis von Authentizität, das nicht nur von Kultur zu Kultur variabel ist, sondern sich auch innerhalb einer Kultur mit der Zeit verändern kann; er ist damit von einer strengen Syste­matik weit entfernt und wird letztlich immer neu verortet. Inwiefern 103

Authentizität im Ort und sogar in der mit dem Ritus verbundenen Rekonstruktion liegen kann, soll am berühmten Beispiel der japanischen Ise-Schreine b ­ eleuchtet werden.

E.2

Ise-Schreine, Ise (690-∞)

Die hölzernen Ise-Schreine im Süden Japans sind das höchste Heiligtum der Shinto -Religion, die sich im 6. und 7. Jahrhundert aus der Vermischung urtümlicher Mythen mit dem chinesischen Buddhismus entwickelte. Die weitläufige Tempelanlage inmitten einer bewaldeten Hügellandschaft besitzt zwei „der himmlisch scheinenden Sonnengöttin“ und der „Nahrungsgottheit“ geweihte Hauptheiligtümer. Diese sind von insgesamt 90 Nebenschreinen umgeben. Beide sind durch Mauern abgeschieden und den Pilgern nicht direkt zugänglich. Der innere Schrein (naiku) wird seit 690, der äußere Schrein seit 692 in regelmäßigen Abständen von 20 Jahren auf einem benachbarten Bauplatz rituell wiederaufgebaut.14 Anhand des inneren Schreins von Ise soll dieser Vorgang des fukugen (jap.: Wiederholung der ursprünglichen Gestalt) betrachtet werden. Das nach Süden ausgerichtete Hauptgebäude und die zwei flankierenden Schatzhäuser sind durch insgesamt vier Bohlenzäune umfriedet. Die inneren Bereiche sind durch Tore (torii) erreichbar (Abb. 23) . Das innerste Tor jedoch ist durch weiße Tücher verhängt, das Sakrosanktum ist dem Heiligen allein vorbehalten. Der Pfahlbau mit von der Erde emporgehobenem Fußboden wird durch zehn hölzerne Stützen getragen und von Holzwänden geschützt. Die auf der Mittelachse liegende Treppe führt zu einem außen liegenden Umgang. Das diesen überragende charakteristische traufständige Satteldach mit den kreuzenden Verlängerungen der Giebelsparren (chigi) und den quer zum Dachfirst liegenden dicken Rundhölzern (katsuogi) vollendet den archaischen, schmucklosen Habitus: „Ihre Konstruktion ist zwar einfach, aber in sich selbst logisch. Sie wird nicht durch abgehängte Decken, wie später in ­Japan, dem Auge entzogen, sondern selbst zum ästhetischen Element gemacht. Deshalb aber brauchen die Pfosten und sonstigen Hölzer nicht einer 104

Abb. 23: Luftbild des ­Ise-jingu während der ­Erneuerung 1995

statischen Berechnung zu folgen. Es handelt sich hier um Architektur und nicht nur Ingenieurbau […]; der menschliche Geist [hat] die reinste tektonische Form geschaffen.“ 15 Alle 20 Jahre wird die Tempelanlage bis in die heutige Zeit auf einem frei­ gehaltenen, nebenstehenden Baugrund nach überlieferter handwerklicher Tradition detailgetreu „kopiert“.16 In einer feierlichen nächtlichen Zeremonie werden die symbolischen Objekte der Sonnengöttin – ihr geheiligter Körper (shintai) wird durch einen antiken Spiegel, der allein niemals erneuert wird, repräsentiert – in den neuen Tempel transferiert und im Anschluss die alte Anlage abgerissen.17 Das Baumaterial des alten Tempels wird nun in ebenfalls regelmäßig stattfindenden Wiederaufbaumaßnahmen in Nebenschreinen von Ise und anderen Schreinen und Torii verwendet. Die Platzierung des Duplikats direkt neben dem „Original“ ist wohl das anschaulichste Beispiel einer Kontinuität im Wandel. Zugleich wird deutlich, wie wenig sinnvoll in diesem Zusammenhang die Idee von „Originalität“ ist. Beim Wiederaufbau der Ise-Schreine handelt es sich um eine rituelle Rekonstruktion. Der mythisch aufgeladene Ort ist dabei elementar. Die bauliche Substanz wird zwar durch ihre Verwendung im Ise-Schrein geweiht, wie in der nachfolgenden Verwendung in anderen Heiligtümern ersichtlich wird. Die Erhaltung des historischen Baumaterials aber spielt für die beiden 105

Hauptheiligtümer von Ise selbst eine untergeordnete Rolle. Schon Bruno Taut schreibt in Das japanische Haus und sein Leben: „Es [die Architektur der Ise-Schreine] ist nicht die Versteinerung menschlicher Ideen und Vorstellungen, des menschlichen Werkes zur erwünschten Ewigkeit hin. Es ist ganz im Gegenteil dazu das ewig Vergängliche, das in den Generationen immer weiter lebt. Es ist die Verfeinerung des Vor­ übergehenden, die Projizierung des Augenblicks ins Universum, und nicht die Herabziehung des Universums zum schwachen Menschen, zu seinem Werk, damit es möglichst die Jahrtausende überlebt.“18 Das rituelle Ereignis ist ein sich ewig wiederholender Vorgang. In seiner ­Regelmäßigkeit ist es strukturelles Zentrum des Lebens, Teil der naturge­ gebenen Gesetze, um das sich alle vorherigen und nachfolgenden praktischen Ereignisse gruppieren. Ganz allgemein wird das Erleben von Zeit räumlich strukturiert, während das wissenschaftliche Denken das Erleben von Raum grundsätzlich zeitlich strukturiert. „Die mythische Geschichte zeigt uns also das Paradox, von der Gegenwart zugleich losgelöst und mit ihr verbunden zu sein.“ 19 Entscheidend ist: Die rituelle Rekonstruktion der Ise-Schreine findet, mit ­Lévi-Strauss gesprochen, nicht mittels wissenschaftlichen Denkens und eben nicht im historischen Bewusstsein statt – gerade deshalb hat sie keine Beziehung zu den in dieser Arbeit besprochenen Konzepten der Rekonstruktion; sie ist aus demselben Grund letztlich überhaupt kein „Konzept“. Fukugen umfasst mehr als die schlichte Übersetzung „Wiederholung der ursprünglichen Gestalt“. Es ist eine tief im rituellen japanischen Kult verwurzelte Praxis. Was ist historische Substanz: Wesen und Abwesen Die Erhaltung materieller Bausubstanz ist offensichtlich nicht maßgeblich. Inwiefern könnten die Ise-Schreine aber bei einer Erweiterung des Begriffs als authentisch bezeichnet werden? Der rituellen Rekonstruktion geht es gewissermaßen um eine authentische Gestalt, die dem Vergehen der Zeit enthoben sein soll. Es ist, was Günter Nitschke als „yearning for sacred authority and sacred architecture to be extremely ancient, yet always pristinely 106

fresh“ beschrieben hat.20 Auch kann man von einem authentischen Geist sprechen, welcher sich im ewig wiederholten Ritus der Erneuerung erhält. Gestalt, Ort und ritueller Vorgang sind demnach Träger einer solchen authen­ tischen „Substanz“. Die Ise-Schreine zeigen beispielhaft ein kulturell anderes Verständnis von Authentizität auf. Als authentisch kann damit generalisierend etwas für eine Kultur Wesentliches beschrieben werden, das deshalb als schützenswert gilt. Die Frage ist, ob ein erweitertes Verständnis von dem, was das „Wesen“, die „Substanz“ einer außereuropäischen Kultur bestimmt, nicht ein neues universelles Verständnis von Authentizität schafft? „Die Substanz (lat. substantia, griech. hypostasis, hypokeimenon, ouisa) ist ­gewiß der Grundbegriff des abendländischen Denkens. Nach Aristoteles bezeichnet sie das Dauerhafte in aller Veränderung. Sie ist konstitutiv für die Einheit und Selbigkeit des Seienden. […] Sie ist das Selbe, das Identische, das in sich verharrend sich vom Anderen abgrenzt und dadurch sich behauptet.“ 21 Jedes – immaterielle oder materielle – Verständnis von Authentizität beruht auf einer Konstruktion von „Substanz“. Dem Buddhismus aber ist, wie der koreanische Philosoph Byung-Chul Han in seiner Philosophie des Zen-Buddhismus (2002) bemerkt, die Vorstellung von Substanz durchweg fremd, ja, dessen „Zentralbegriff sûnyatâ (‚Leerheit‘) stellt in vielfacher Hinsicht den Gegen­ begriff zur Substanz dar“.22 Der Zen-Buddhismus sperrt sich gegen jedes diskursive Denken; dennoch enthält er philosophische Einsichten, „die auf ­i nteressante Weise mit abendländischen Denkmustern kontrastieren“, die sogar tatsächlich das Potenzial besitzen, diese radikal zu hinterfragen. Han setzt als Gegenverständnis zum abendländischen „Wesen“ das fernöstliche „Abwesen“. Der Zen-Buddhismus ist eine atheistische Religion; die „Leere“ der Welt ­bedeutet für ihn keine Weltflucht: Sie verneint nicht den Aufenthalt in der diesseitigen, besser, in „dieser Welt“. Zugleich unterscheidet sie sich von der Différance Jacques Derridas oder dem Rhizom von Gilles Deleuze. Beide entlarven die sustanziale Geschlossenheit als geistiges Konstrukt, aber beide entgegnen dieser mit einem intensiven Zerstreuungseffekt. „Sie zerstreuen die Identität, forcieren die Mannigfaltigkeit. Die Sorge um die Ganzheit, um 107

deren Harmonie und Einklang ist nicht ihre Sorge. Das fernöstliche Denken der Leere lässt die Dekonstruktion hinter sich, um zu einer besonderen Rekonstruktion zu gelangen.“ 23 Die buddhistische Leere (kong) ist „sammelnd“. „Die Welt ist ‚inhaltlich‘ dieselbe. Aber sie ist gleichsam um die Leere leichter geworden.“ 24 In Abwesen (2007) präzisiert Han diesen Gedanken: „Entscheidend ist diese Differenz von Sein und Weg, von Wohnen und Wandern, von Wesen und Abwesen. […] Im Gegensatz zum Sein lässt der Weg keine sub­ stanziale Geschlossenheit zu. Seine endlose Prozesshaftigkeit verhindert, dass etwas subsistiert, insistiert oder persistiert. So entstehen keine festen Wesenheiten. […] Das Abwesen löscht sie aus. Darin besteht die Leere.“ 25 Das kong entleert das Wesen zum Abwesen. „Das Wesen ist unterscheidend, bringt Differenzen hervor. Das aktivisch zu verstehende Abwesen macht aus der Dif­ ferenz eine In-Differenz. Es nichtet die Differenz.“ 26 Der Haiku als Form der Erkenntnis läuft dem analytischen Wesen des abendländischen Denkens entgegen. Es ist hier nicht der Ort, tiefer in die Lehre des Zen-Buddhismus einzutauchen. Relevant in unserem Zusammenhang ist nur, dass Substanz, Wesen oder Authentizität für ihn keine Kategorien darstellen. Kurz gesagt: Ein „authentischer“ Zen-Buddhismus ist kein Zen-Buddhismus mehr. Leere lässt sich nicht erhalten. Hier ist die Grenze des Begriffs Authentizität erreicht. Die Vorstellung der Substanz aber „beherrscht die abendländische Metaphysik“ 27 seit Jahrtausenden. Ein im (buddhistisch geprägten) japanischen Nara verfasstes Dokument zur Authentizität bleibt insofern paradox, als das Wort „Authentizität“ im Japanischen gar nicht existiert, wie Nobuo Ito, der japanische Delegierte beim Welterbekomitee formuliert: „‘Authenticity’ is a word originating in ancient Greek and Latin. […] Unfortunately, the Japanese language, and probably many other Asian langu­ ages, has no proper word for ‘authenticity’, but has only new equivalent words for it which do not make a one-to-one correspondence. Consequently, we can not understand the true meaning of ‘authenticity’ without the help of a dictionary. Also we are not sure if our language can be properly translated into European languages.“28 108

Bedeutungen des Begriffs, die sich nach Ito am ehesten ins Japanische übersetzen lassen, sind „genuineness“ und „reliability“. Beide Wörter, die für sich wiederum eine unterschiedliche Bedeutung besitzen, müssen also parallel, abhängig vom Kontext, verwendet werden. Nach Ito ist die zyklische Rekon­ struktion der Ise-Schreine „[with] no doubt a good system to transmit the traditional culture, especially the architectural culture“.29 Aber auch die Gründe für die Tradierung alter, nicht eigentlich „historischer“ Bausubstanz baue im Buddhismus auf einem „Fundament“ auf, welches mit dem modernen Kultur­ erbe nicht in Einklang zu bringen ist: „With the introduction of Buddhism, the preservation of art and architecture was recognized. Of course, preservation was motivated not by the modern concept of cultural heritage, but of the belief in Buddha or the ­respect for the high priest who founded the temple or the great man who sponsored the establishment of the temple. Sculpture, painting and other art objects were thought as the images of Buddha or the holy things dedicated to Buddha or left by the priest and founder. Buildings were respected for almost the same reasons.“30 Es ist nicht das Material, es ist gewissermaßen der „Geist“, den es zu erhalten gilt; dieser „Geist“ ist aber nicht architektonisch zu verstehen und sollte keinesfalls mit einem „baukünstlerischen Ideal“ gleichgesetzt werden. Das Verständnis der Ise-Schreine als ein authentisches Zeugnis ihrer Kultur entsteht in Japan erst in der Auseinandersetzung mit europäischem Gedankengut und seinen denkmalpflegerischen Prinzipien.31 Schließlich eröffnet sich mit dem Nara Dokument ein Problem der Übersetzung, das im folgenden Kapitel zur Sprache kommen soll.

109

Anmerkungen

31 Einen ersten Schritt zum Schutz des Kulturerbes ­unternimmt die japanische Regierung 1872, zur ­Erhaltung von Baumonumenten 1897. In vielen anderen Ländern Asiens sind es die Kolonialherrscher,

1

Erschienen im Französischen 1962 unter dem Titel Pensée sauvage. Die deutsche Erstübersetzung ist von 1968.

2

Lévi-Strauss 1973, S. 270.

3 Ebd. 4

Ebd., S. 271.

5

Choay 1997, S. 171 (Hervorh. i. O.).

6 Ebd. 7

Falser 2012, S. 67.

8

Jokilehto 2013, S. 328.

9

Das Nara Dokument zur Authentizität (1994), in: Langini, Lipp, Müller und Petzet 2012, S. 140–145.

10 Larsen 1995, S. xiii. 11 Falser 2012, S. 85. 12 Ebd., S. 69. 13 Jokilehto 2013, S. 328. 14 Die Schreine wurden ursprünglich alle 19 Jahre neu errichtet, seit 1609 im Rhythmus von 20 Jahren. Unterbrechungen gab es lediglich während des ­langen Bürgerkriegs von 1465–1585, zeitliche ­Verzögerungen etwa nach dem Zweiten Weltkrieg. Siehe Gutschow 2010, S. 192. Für eine Unter­ suchung der Frage, warum dieser zeitliche Abstand gewählt wurde siehe auch Nitschke 1993, S. 30. 15 Taut 1936, S. 16 f. 16 Für eine detaillierte Beschreibung der handwerk­ lichen Tätigkeiten, siehe Gutschow 2010, S. 195. Den stark ritualisierten Charakter der handwerk­ lichen Arbeiten betont Hvass 1999, S. 98 ff. 17 Für eine Beschreibung der Zeremonie siehe Hvass 1999, S. 7. 18 Taut 1997, S. 143 f. 19 Lévi-Strauss 1973, S. 273. 20 Nitschke 1993, S. 10. 21 Han 2002, S. 43 (Hervorh. i. O.). 22 Ebd., S. 44 (Hervorh. i. O.). 23 Han 2007, S. 29 f. 24 Han 2002, S. 93 ff. (Hervorh. i. O.). 25 Han 2007, S. 15. 26 Ebd., S. 153. 27 Ebd., S. 8. 28 Ito 1995, S. 35. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 40 f.

110

die diesbezüglich erste Regelwerke einführen. Vgl. Ebd., S. 41 ff.

4 Konzeptuelle Rekonstruktion

Der Begriff der Übersetzung ist im Kontext dieser Arbeit von besonderem Interesse. Als „kulturelle Übersetzung“, wie sie Homi Bhabha definiert, kann er zum einen die im vorangegangenen Abschnitt diskutierte Erweiterung des Authentizitätsbegriffs prägnant begreiflich machen. Zum anderen liefert er ein theoretisches Fundament für die konzeptuelle Rekonstruktion. Der einleitende Theorieabschnitt klärt die Grundlagen des Begriffs.

4.1

Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur (1994)

Der indische Theoretiker Homi Bhabha (*1949) ist einer der wichtigsten postkolonialen Denker in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Mit post­ kolonial bezeichnet er nicht die Epoche nach dem Kolonialismus – weder „ein[en] neu[en] Horizont noch ein Zurücklassen der Vergangenheit“ 1 –, sondern in kulturellen Verhandlungen der Gegenwart wirksame Kontinuitäten. Bhabhas inzwischen weit über die Postcolonial Studies hinaus viel zitierten Begriffe des Dritten Raums und der Hybridität begründen ein dynamisches Modell, das (Macht-)Positionen zwischen Kulturen oder innerhalb einer ­Kultur erklärbar und analysierbar macht. Bhabha verortet die Entwicklungs­ prozesse kultureller Differenz im (nicht in erster Linie räumlich zu verstehenden) Dritten Raum. Der Dritte Raum ist „Erfahrungsbereich im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz; er ist Ort des Aushandelns von Differenzen mit dem Ziel der Überwindung von Hierarchisierungen und damit Ort und Möglichkeit der Hybridisierung“.2 Der Dritte Raum ist ein „Verhandlungsraum“. Für diesen etabliert Bhabha das Konzept der kulturellen Übersetzung.

113

Begriff der Übersetzung Traditionell – so insbesondere bei Friedrich Schleiermacher oder Wilhelm von Humboldt – wird Übersetzung binär verstanden: Es gibt einerseits einen Originaltext und andererseits eine zweite Fassung in einer anderen Sprache. Walter Benjamin stellt diese Theorie in seinem Essay Die Aufgabe des Übersetzers (1921) grundlegend infrage. Eine Übersetzung solle ihrem Wesen nach nicht „Ähnlichkeit mit dem Original“ anstreben, denn „in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original“. Damit ist allerdings zugestanden, „daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist“,3 eine immer zeitbedingte Lösung. Benjamin benutzt das anschauliche Bild eines Kreises für den Originaltext und einer Tangente für die Übersetzung. Die Übersetzung berühre das Original folglich nur in einem einzigen Punkt, flüchtig, „um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen“.4 Benjamin entledigt sich damit „der klassischen Idee des Originals und damit auch des gesamten Binarismus der traditionellen Übersetzungstheorie. Eine Übersetzung bezieht sich für Benjamin nicht auf den originalen Text, sie hat nichts mit Kommunikation zu tun, ihr Ziel ist nicht die Übermittlung von Bedeutung usw.“ 5 Zudem sei auch die Sprache selbst permanenten Wandlungen unterworfen: „Weder das Original noch die Übersetzung, weder die Sprache des Originals noch die Sprache der Übersetzung sind fixierte und dauerhafte Kategorien. Sie haben keine essenzielle Qualität und werden in Raum und Zeit ständig verwandelt. Das ist der Grund, warum Benjamins Essay so wichtig für die dekonstruktivistische Theorie geworden ist: Er stellte die Idee eines essenziellen Ursprungs vehement infrage.“ 6 Tatsächlich wurden Benjamins hier skizzierte Überlegungen von der dekonstruktivistischen Theorie aufgegriffen und weitergedacht. In dieser Tradition versteht Bhabha Übersetzung, die bei ihm als kulturelle Übersetzung ihrer eigentlichen sprachlichen Dimension enthoben und auf kulturelle Prozesse sowie zwischenmenschliche Interaktionen übertragen wird. Kultur baut für Bhabha nicht mehr auf einem ihr zugrunde liegenden, überzeitlichen Wesen 114

auf. Seine kulturelle Übersetzung ist deshalb nicht mit dem „interkulturellen“ Dialog zu verwechseln, der „reine“ Kulturen voraussetzt. Denn eine Kultur ist Bhabha zufolge dynamisch; kulturelle Identität entstehe erst in der Wirkung von Differenzen. In der Distanzierung zum „Anderen“ objektiviere sich die eigene Kultur. Diese Aushandlungen finden nach Bhabha im Dritten Raum statt, einem Zwischenraum des Übergangs, in dem Kulturen (oder Gruppierungen innerhalb einer Kultur) zusammenkommen. Er ist der Ort kultureller Hybridisierungen: „Die gesamte Kultur ist rund um Verhandlungen und Konflikte konstruiert. In allen kulturellen Praxen gibt es den – manchmal guten, manchmal schlechten – Versuch, Autorität zu etablieren. Selbst bei einem klassischen Kunstwerk […] geht es um die Etablierung kultureller Identität. […] Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen […].“ 7 Eine kulturelle „Autorität“ lässt sich also im Dritten Raum nicht direkt auf eine andere Kultur übertragen; auch bedeutet der Dritte Raum kein notwendiges „Vermischen“ von Kulturen. Er ist ein diskursiver Ort, in dem Positionen erstritten werden. Der Akt der Übersetzung besitzt für Bhabha subversives Potenzial, da er Neues hervorbringt. Hybridisierung des Begriffs Authentizität Bhabhas Theorie zufolge kann ein Begriff wie Authentizität nicht auf einen immerwährenden Sinn reduziert werden, sondern entsteht in einem Prozess kultureller Aushandlungen, wie ihn auch Nabuo Ito auf der Konferenz von Nara unternommen hatte: „Again, what is ‘Authenticity’? If ‘authenticity’ is defined as genuineness, even the replacement of one timber would result in the violation of authenticity. However, if the meaning of authenticity can include reliability, the situation will become more flexible. If minute examination is made before replacement, the quantity of replaced parts is minimized, the size, quality and species of new material are the same as previous ones, the workmanship is the same, and the report is published after the work, the replacement would never violate authenticity. Thus, the definition of 115

authenticity should not be strict but should be more flexible and changeable.“8 Ito zeigt hier die Neuaushandlung von Bedeutung im Übersetzungsakt prägnant auf. Die Übersetzung von „Authentizität“ in einen außereuropäischen Kontext, wie sie sich im Dokument von Nara ausdrückt, kann als „Hybridisierung“ des Begriffs verstanden werden. In den kulturübergreifenden Verhandlungen des internationalen Welterbekomitees wurde sein traditioneller, in der europäischen Kultur verwurzelter Sinngehalt – festgehalten in der Charta von Venedig und den Operational Guidelines – „subversiv“ angeeignet und erweitert. Zugleich werden die kulturellen Differenzen offengelegt und bewusst gemacht. Die Übersetzung von Authentizität ins Japanische stellt eine konzeptuelle, Sinn neu verortende Schöpfung dar. Eine „hybridisierte“ Authentizität ist explizit nicht als eine „verunreinigte“, ihrer „ursprünglichen“ Bedeutung entledigte Authentizität zu verstehen. Zudem kann Bhabha zufolge eine derartige Begriffsbestimmung niemals abgeschlossen sein, denn die miteinander verhandelnden Kulturen sind in sich selbst ständigen Wandlungsprozessen unterworfen. Authentizität kann so nicht in ihrem „Wesen“, sondern gewissermaßen immer nur „vorläufig“ definiert werden. Begriff der konzeptuellen Rekonstruktion Die vorliegende Arbeit überträgt Bhabhas Konzept der kulturellen Übersetzung auf die Architektur. Die konzeptuelle Rekonstruktion orientiert sich – wie jede Form der Rekonstruktion – in Grundriss, Außenbau und Innenraum am historischen Monument. Die Rekonstruktion ist insofern konzeptuell, weil sie die Übersetzung von und zwischen Architektur- und Formensprachen meint. Eine architektonische Übersetzung ist eine selektive Aneignung des Vorgängerbaus. Sie umfasst die Neuerfindung – statt der bloßen Abbildung – des Originals. Die konzeptuelle Rekonstruktion operiert dabei in bruchlosen, hybriden Formen, die das Baumonument in einer zeitgenössischen Archi­ tektursprache neu verorten. Die Verwendung historischer Bausubstanz ist ­deshalb von untergeordnetem Stellenwert. Darin liegt der Unterschied zur 116

interpretierenden Rekonstruktion, die Bruch- und Nahtstellen zwischen historischer und neuer Substanz herausstellt und betont. Hinter der konzeptuellen Rekonstruktion verbirgt sich letztlich ein subversives Verhältnis zum traditionellen Authentizitätsbegriff. In ihrem Verständnis liegt das Wesentliche eines Bauwerks, die Substanz, eben nicht im (unwiederholbaren) Material, sondern in der Gestalt. Nur sie ist „übersetzbar“. Die Gestalt wird nicht in ihrer „idealen“, „ursprünglichen“ Form rekonstruiert. Die übersetzte Gestalt geht aus dem Original hervor, „ohne ihm etwas zu bedeuten“.9 Der baukünstlerische Geist soll nicht wieder zum „Leben“ erweckt werden, er kann, mit Benjamin gesprochen, nur „fortleben“ oder „überleben“. Um dieses theoretische Verständnis der konzeptuellen Rekonstruktion als Übersetzung zu veranschaulichen, wird im Folgenden eine Reihe von Baubeispielen herangezogen.

4.2

Schilling & Gräbner: Kreuzkirche, Dresden (1897–1900) Architekten: Johann George Schmidt, Christian Friedrich Exner, Gottlob August Hölzer Bauzeit: 1764–1800 Architekten der Rekonstruktion: Schilling & Gräbner Rekonstruktionsphase: 1897–1900 Grundfläche: 2500 m²

Die um 1200 als Nikolaikirche gegründete Kreuzkirche am Altmarkt in Dresden wurde mehrfach neu errichtet. Zuerst 1491–99 nach einem Brand, zuletzt 1950–55 nach Zerstörung durch Bombentreffer. Im Kontext der Arbeit soll nur die Rekonstruktion des Baus von 1897–1900 durch Rudolf Schilling und Julius Gräbner genauer analysiert werden, weshalb zuerst der Vorgängerbau aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts näher betrachtet wird.

117

Baugeschichte der Kreuzkirche Die Ende des 15. Jahrhunderts in gotischen Formen errichtete dreischiffige Halle, durch mehrere Ansichten Canalettos überliefert, wurde 1760 im Siebenjährigen Krieg durch preußischen Artilleriebeschuss zerstört. Der kurz darauf begonnene Neubau zeichnet sich besonders durch einen vier Jahrzehnte währenden Richtungsstreit zwischen spätbarocker – durch Johann George Schmidt, einem Schüler George Bährs, vertreten – und französisch-klassizistischer Bauauffassung aus – verfolgt von Friedrich August Krubsacius, Hofbaumeister und Professor der just gegründeten Akademie. Der entstandene Kompromiss ließ sich schließlich auch im Bauwerk ablesen: Verwirklicht wurden die von Schmidt entworfenen spätbarocken Grundrisspläne sowie die Innenraumgestaltung. Der Außenbau, entworfen von C. F. Exner, mit hoch über dem Altmarkt aufragendem Westturm aus der Feder von G. A. Hölzer, ist dagegen in klassizistischen Formen gestaltet.10 Der Grundriss baute auf einer für den Barock typischen Verbindung von Zentral- und Longitudinalbau auf. Die quadratische Halle mit dominierendem ovaloiden Mittelschiff wurde durch zwei Reihen von je drei schlanken, durch Rundbogen verbundenen Pfeilern getragen. Drei Emporenreihen befanden sich in jedem Seitenschiff, Obergadenfenster beleuchteten das Innere. Im Osten schloss ein halbkreisförmiger Chor mit konvex in das Mittelschiff ausschwingender Vortreppe an. Die 1792 geweihte, 1800 endgültig fertiggestellte dritte Kreuzkirche ist heute nur noch in ihrer äußeren Erscheinung erhalten. Denn 1897 brannte das Bauwerk innen komplett aus, nur der Turm und die Umfassungsmauern blieben stehen. Rekonstruktion der Kreuzkirche von Schilling & Gräbner Die Zerstörung hätte man als Chance begreifen können, die Kirche im Sinne der historistischen Rekonstruktion in einen gotischen „Urzustand“ zurückzuversetzen. Alternativ stand auch die Möglichkeit einer „originalgetreuen“ Rekonstruktion im Raum, wie sie bei der wenige Jahre später ebenfalls durch Brand zerstörten St. Michaelis Kirche in Hamburg in Angriff genommen wurde.11 Stattdessen wählten die Architekten Schilling & Gräbner für die Kreuzkirche eine Ausgestaltung in avantgardistischen Jugendstilformen. 118

Diese Lösung erscheint im Kontext dieser Arbeit insofern interessant, als dass kein vollkommen neuer Raum im „reinen“ Jugendstil entstand, sondern ein Raum, in dem eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Vorgänger nachvollziehbar bleibt. Obwohl der Innenraum zerstört war – auch die sandsteinernen Säulen waren verglüht –, ist er in seinem Aufbau wiederhergestellt (Abb. 24 und Abb. 25) . Die Architekten übernahmen die Stützeneinteilung, wobei sie die Säulen leicht nach außen rückten. Sie wurden mit T-Trägern und neuartigem Betonverfahren nach Monier errichtet und im Dach mit Eisenbindern verankert. Gipsschichten verkleideten die moderne Konstruktion. Stilisierte Rank- und Blattornamente wuchsen aus der wuchtigen Kämpferzone heraus und breiteten sich bis über die Gewölbefelder aus. Auf den weit ausschwingenden Kapitellen saßen vier die Evangelisten symbolisierende Skulpturen. Ihre moderne Entstehungszeit war, wie beim gesamten plastischen Schmuck, deutlich ersichtlich. Die Raumstruktur jedoch – die Säulenstellung, die Kuppelkonstruktion, die übereinanderliegenden Emporenreihen – blieb dem barocken Vorgängerbau verpflichtet. Es galt, wie der Philologe und Kunsthistoriker Paul Schumann 1901 zusammenfasst, „innerhalb der alten Grundformen und im alten Raum ein Neues zu schaffen und […] sich an das alte Barockgepräge […] nach Möglichkeit ­a nzuschließen und dabei doch die Kraft des modernen Stils zu zeigen“. Er kommt zu dem Urteil: „Die Kreuzkirche beweist, daß der moderne Stil in ganz hervorragender Weise fähig ist, ernstes, kirchliches, religiöses Empfinden auszudrücken. […] Wir halten es dafür für ausgemacht, daß das Beispiel der dresdener Kreuzkirche epochemachend sein wird. Auch bei Restaurirungs- und Erneuerungsbauten wird man von dem alten historischen Zopf abgehen, und bald wird die Zeit kommen, da es als selbstverständlich gelten wird, wenn die Architekten auch neues in alten Bauten im Geiste der Gegenwart und ihrer Individualität schaffen.“ 12 Alfred Barth, der 1907 eine umfassende Baugeschichte zur Kirche herausgab, schreibt ähnlich euphorisch: „Die ersten Pläne zeigten in Anlehnung ans Alte eine reiche Durchbildung in den Stilformen der Epoche Louis XVI. Unter der Hand wandelten sich 119

Abb. 24: Innenraum der Kreuzkirche von Schilling & Gräbner, Blick nach Osten

dem ausführenden Architekten die Formen, erfüllten sich mit modernem Geist in individueller künstlerischer Gestaltung. ‚Selten ist, schreibt der berufene Kritiker, in der Gegenwart ein nicht in voller Unabhängigkeit befindliches Werk geschaffen worden, bei welchem die künstlerische Erfindung eine so freie und neue und dabei doch wieder eine so einheitliche und in den gegebenen Rahmen sich einordnende war, wie die heute in schöner Harmonie vor uns stehende verjüngte Kreuzkirche.‘ […] Der Grundsatz pietätvoller Anpassung ans Alte ist nicht zu schemenhafter, kunstwidriger, bloßer Kopie des Verlorenen erniedrigt worden.“13 120

Abb. 25: Innenraum der Kreuzkirche von Schilling & Gräbner, Blick nach ­Westen

Letztlich subsumiert der große sächsische Kunsthistoriker und Denkmal­ pfleger Cornelius Gurlitt mit einigem zeitlichen Abstand zur Fertigstellung: „Schilling & Gräbner gestalteten das Innere der Dresdner Kreuzkirche im Stil der Zeit um 1900, nämlich im viel verhöhnten Jugendstil um und ich halte ihr Werk für eines der besten Arbeiten dieses Stils, namentlich hinsichtlich der ornamentalen Behandlung. Es ist natürlich nicht mehr modern, wohl weil es dies seiner Zeit zu sehr war.“ Die Rekonstruktion ist für Gurlitt gelungen, weil sie ihren eigenen „Zeitausdruck“ besitzt. Sie ist im denkmalpflegerischen Sinne „fachgemäß“, weil sie „solche Formen wählte, die zwar durchaus 121

zeitgemäß, doch in der Gesamthaltung auf diese [die historischen Formen] eingestimmt wurden“.14 Für Gurlitt stellte die Kreuzkirche damit ein rühmliches Beispiel der modernen Denkmalpflege dar. Während diese frühen Kritiker den überaus modernen Charakter der Kirche betonten, bezeichnet Fritz Löffler 1984 die Innenraumausstattung als „Neubarock mit Jugendstilelementen“.15 Die Architekten gaben seiner Ansicht nach dem Inneren der Kreuzkirche „ein üppiges neubarockes Gesicht, das sich in seiner Festlichkeit glücklich in den spätbarocken Raum Schmidts eingliederte“.16 In der historischen Distanz scheinen die Jugendstilformen an Modernität verloren zu haben, sodass die Anpassung an die spätbarocke Struktur in der Baubeschreibung in den Vordergrund rückt. Für beide Sichtweisen finden sich stichhaltige Argumente. In der Tat darf der Innenraum der Kreuzkirche von Schilling & Gräbner als eine merkwürdige Verbindung von barocken und Jugendstilformen gelesen werden. Er macht jene Idee architektonischer Übersetzung verständlich, die konstituierend für die konzeptuelle Rekonstruktion ist. Diese greift den historischen Bau auf und schafft ihn, mit Schumann gesprochen, im „Geiste der Gegenwart“ neu. Die konzeptuelle Rekonstruktion ist baukünstlerisch zeitgemäß und dezidiert zeitgebunden. Wie von Gurlitt bemerkt, ist sie deshalb in ihrer Architektursprache auch kritisierbar. Aus moderner denkmalpflegerischer Sicht wiederum ist sie begrüßenswert, denn sie versucht nicht, einen historisch fiktiven „Urzustand“ zu erreichen: „Die Ausstattung war insofern ein Ereignis, als sie die traditionell neugotischen Elemente überwunden und eine zeitstilige neue Lösung gefunden hatte.“ 17 Im Übrigen ist auch die von Fritz Streudtner bis 1955 durchgeführte Rekon­ struktion nach der erneuten Zerstörung des Innenraums durch Bombardement als konzeptuell einzustufen. Von der materiellen Substanz der inno­ vativen Jugendstilkirche von 1900 (deren Formen Mitte des 20. Jahrhunderts wie erwähnt ohnehin nicht in hohem Ansehen standen) sind deshalb kaum Spuren erhalten. Vieles, was den Krieg überstanden hatte, wurde sogar ­bewusst beseitigt. Zwar wurden einzelne historische Fragmente in den Neubau integriert, dennoch präsentiert sich das Kircheninnere in der visuellen 122

Erscheinung heute größtenteils einheitlich. Die rau verputzten Oberflächen lassen die Entstehungszeit auf den ersten Blick erkennen, während Raumaufbau und -struktur noch immer deutlich an ihre Vorgänger erinnern. Streudtners Kreuzkirche ist nur ein Beispiel für eine konzeptuelle Rekon­ struktion nach dem Zweiten Weltkrieg. Gerade dort, wo die Substanz zu einem hohen Grad zerstört war, kam sie vielerorts zur Anwendung. Nicht selten beschränkte man sich auf eine konzeptuelle Fassadenrekonstruktion. Ein späteres Beispiel soll diese genauer beleuchten: Das Haus Liebermann von Josef Paul Kleihues.

4.3

Josef Paul Kleihues: Haus Liebermann, Berlin (1992–99) Architekt: Friedrich August Stüler Bauzeit: 1844–46/47 Architekt der Rekonstruktion: Josef Paul Kleihues Auftraggeber: Rheinische Hypothekenbank / Harald-Quandt-Grundbesitz KG Rekonstruktionsphase: 1992–99 Grundfläche: 4000 m² Kosten: 15 400 000 Euro

Josef Paul Kleihues prägte in den 1980er-Jahren den Begriff der „kritischen Rekonstruktion“ als städtebauliche Leitmaxime für Berlin (siehe folgender Exkurs). Nach der Wende wurde unter anderem der Pariser Platz kritisch rekonstruiert und sein durch die innerdeutsche Grenze zerstörter historischer Grundriss und Stadtraum wiederhergestellt. Die konkrete architektonische Rekonstruktion des Hauses Liebermann, das hier stellvertretend für die von Kleihues rekonstruierten Zwillingsbauten Haus Sommer und Haus Liebermann steht, folgt jedoch weniger den Prinzipien der kritischen Rekonstruktion als vielmehr denjenigen der konzeptuellen Rekonstruktion.

123

Haus Liebermann von Friedrich August Stüler Die klassizistische Neugestaltung der am Pariser Platz gelegenen barocken Palais begann 1829 durch Karl Friedrich Schinkel. Die zu beiden Seiten des Brandenburger Tores errichteten Zwillingsbauten entwarf sein Schüler Friedrich August Stüler 1844–46/47 für den Stadtrat und Zimmerermeister Carl August Sommer. Die dreistöckigen Bauten mit Mezzaningeschoss schlossen je mit einem flachen Dach mit Attikazone ab, die mit einem gusseisernen Geländer verziert war (Abb. 26) . Die unteren beiden Etagen besaßen Rechteck-, die obere Etage Rundbogenfenster. Die zurückhaltend gestalteten Fassaden waren streng symmetrisch durch einen Mittelrisalit mit Eingangsportal gegliedert; nur im dritten Stockwerk der an das Brandenburger Tor angrenzenden Achse fand sich je eine Dreierarkade. Der Kaufmann Louis Liebermann erwarb das nördlich des Tores am Pariser Platz 7 gelegene Palais im Jahre 1857. 1892 vererbte er es an seinen Sohn, den Maler Max Liebermann (1847–1935). Das Haus ist eng mit der Biografie des großen Künstlers verknüpft. Als Präsident der auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes gelegenen Preußischen Akademie der Künste konnte Liebermann hier Zeiten großer Erfolge feiern. Vom Fenster musste er am 30. Januar 1933 den Fackelzug der Nationalsozialisten ansehen und schloss daraufhin die Fensterläden für immer. Nach Hitlers Machtergreifung als Jude diffamiert und als „entartet“ gebrandmarkt, verbrachte er die letzten Lebensjahre zurückgezogen im Haus. Seine Frau fand dort kurz vor ihrer Deportation den Freitod. Das Haus wurde anschließend beschlagnahmt.18 Im Zweiten Weltkrieg wurde es zerstört, die Ruine nach 1945 abgerissen. Das Grundstück lag dann direkt auf dem 1961 errichteten Mauerstreifen. Das zwar stark beschädigte, jedoch stehengebliebene Brandenburger Tor wurde Symbol der Teilung der Stadt in West- und Ost-Berlin, später aber auch der Wiedervereinigung, als am 9. November 1989 auf den umgebenden Mauern die Menschen tanzten. Rekonstruktion des Hauses Liebermann von Josef Paul Kleihues Die Rekonstruktion des Hauses Liebermann wurde wie erwähnt im Zuge der kritischen Rekonstruktion der gesamten Platzanlage beschlossen. Josef Paul 124

Abb. 26: Brandenburger Tor mit dem angrenzenden Haus Liebermann

Kleihues (1933–2004) entwarf ein zeitgenössisches Bauwerk, das sich jedoch in vielfältiger Weise aus dem Vorgängerbau ableitet und deshalb als Rekon­ struktion verstanden werden muss. Der Grundriss des alten Palais ist wiederhergestellt.19 Die Orientierung am Vorgängerbau ist auch im Aufbau evident (Abb. 27): Das Bauvolumen, die Dreiteilung der Fassaden in Sockelzone, Hauptgeschosse und Attika, die symmetrische Vertikalgliederung in elf Fensterachsen mit dezentem Mittelrisalit und in der Mittelachse gelegenem Eingangsbereich, die rechteckigen Fenster mit schmalen, vorspringenden Überdachungen und das abschließende Kranzgesims mit Brüstung sind allesamt nachgebildet. Das verwendete Material – weißer portugiesischer Sandstein – „harmoniert mit dem Sandstein des Brandenburger Tors und hebt sich zugleich von diesem ab“.20 Dennoch ist offensichtlich kein (neo-)klassizistischer, sondern ein zeitgenössischer Bau entstanden. Die Fassaden des bei gleicher Höhe viergeschossigen Baus sind in ein strenges Raster eingepasst, in dem die Fenster in den oberen Etagen kontinuierlich an Höhe verlieren. Das obere Stockwerk kann so als das historische Mezzaningeschoss gelesen werden. Die Fassaden sind in ihrer dekorativen Ausschmückung auf das Wesentliche reduziert. Einzelne Elemente wie die im Sockelgeschoss horizontal verlaufenden Hohlrillen oder die 125

Abb. 27: Haus Liebermann von Josef Paul Kleihues

nur noch angedeuteten Stockwerksgesimse sind scharfkantig artikuliert. Damit lassen sie sich mit anderen Bauten des Architekten vergleichen; seine Handschrift bleibt ablesbar. Die von Stüler angebrachte Dreierarkade nimmt Kleihues ebenfalls auf und formuliert sie in drei gerahmten, eng beieinander gestellten Rechteckfenstern streng abstrahierend um. Dennoch kann man diese Dreiergruppe nicht als „Stüler-Zitat“ werten, denn sie wird nicht „buchstabengetreu“ übernommen, sondern sie wird „übersetzt“ und fügt sich sinnvoll in das bestimmende Gesamtkonzept der Rekonstruktion ein. Das Haus Liebermann von Josef Paul Kleihues ist eine „abstrahierende, Masse, Kontur und Anmutung, nicht aber alle Details berücksichtigende“ 21 Rekonstruktion. Adrian von Buttlar empfindet Kleihues’ Konzept deshalb aus denkmalpflegerischer Sicht als „richtige Strategie“, steht das Haus Liebermann doch „gleichermaßen in der historischen wie in der gegenwärtigen Zeit“.22 Es kann als Übersetzung eines historischen Baus in der für Kleihues typischen Formensprache gelesen werden. Während sich jedoch der Außenbau konzeptuell am Vorgänger orientiert, basiert die innere Raumdisposition schon im Grundriss auf einem modularen System von größtmöglicher rationaler Strenge. Der Innenraum ist gänzlich neu geplant. Kleihues selbst richtete nur die Räume von Haus Sommer ein. 126

Für das Haus Liebermann zeichnet die Innenarchitektin Margit Flaitz verantwortlich. Nur in einem Zimmer erinnert noch ein „originalgetreu“ rekonstruierter Kamin an den berühmten Maler. Damit ist das Haus Liebermann eine konzeptuelle Fassadenrekonstruktion, hinter der ein unabhängiger Neubau steht. Das Haus Liebermann besaß als Gebäude eine eigene kunst- und historische Bedeutung. Darüber hinaus war es durch seine direkte Nachbarschaft zum bedeutenden Wahrzeichen von Berlin, dem Brandenburger Tor, und als westlicher Endpunkt der Straßenachse Unter den Linden zugleich im städtebaulichen Kontext von besonderer Relevanz. Deshalb kann auch die Rekonstruktion „nur“ der Fassade als sinnvoll verstanden werden: mit dem von Stüler an der Gesimshöhe des Brandenburger Tors orientierten Bauvolumen fügt sich der Bau angemessen in den Platz ein. In Kleihues’ Œuvre stellt das Projekt der Zwillingsbauten Haus Sommer und Haus Liebermann für Thorsten Scheer dennoch eine Ausnahme dar, da es „unter dem Druck der Auftraggeber und denkmalpflegerischer Interessen so weit angepasst werden musste, dass aus heutiger Perspektive eher die traditionellen, dem Original nachempfindenden Elemente im Vordergrund stehen. […] Rückwärts gewandte Erinnerungskultur ist im Prinzip genau das, was Kleihues ablehnte. Er sah in ‚Aktualität‘ und ‚Augenblick‘ Instanzen der Gegenwärtigkeit, die Bauten zu lebendigen Zeugnissen dieses Reflexionsprozesses werden lassen.“ Scheer bemerkt trotzdem anerkennend, dass Kleihues mit den Zwillingsbauten bewies, „welche Qualitäten trotz dieser massiven Einschränkungen zu erreichen sind“.23 Das Haus Liebermann von Kleihues „aktualisiert“ den historischen Bau. ­Damit formuliert es tatsächlich eine deutlich eindringlichere Auseinandersetzung mit einem Vorgängerbau, als es Kleihues mit der „kritischen Rekonstruktion“ selbst fordert. Auch Kleihues’ Berliner Museumsprojekt, der Hamburger Bahnhof, kann als konzeptuelle Rekonstruktion aufgefasst werden. Im Folgenden steht jedoch ein anderes Beispiel im Fokus, um die Grenzen der konzeptuellen Rekonstruktion genauer auszuloten.

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4.4

Herzog & de Meuron: Tate Modern, London (1995–2000) Architekt: Sir Giles Gilbert Scott Bauzeit: 1947–63 Architekten der Rekonstruktion: Herzog & de Meuron Auftraggeber: Tate Gallery Projects Ltd. Rekonstruktionsphase: 1995–2000 Grundfläche: 16 100 m² Kosten: 134 500 000 GBP

Eine konzeptuelle Rekonstruktion verfolgen auch Herzog & de Meuron bei ­i hrer Transformation der Bankside Power Station zur Tate Modern, insbesondere im Fall der Turbine Hall. Sie ist inzwischen selbst zu einer Ikone zeitgenössischer Museumsarchitektur geworden. Baugeschichte der Bankside Power Station von Sir Giles Gilbert Scott Die Bankside Power Station war ein Ölkraftwerk am südlichen Themseufer im Londoner Stadtviertel Southwalk. Der englische Architekt Sir Giles Gilbert Scott (1880–1960) hat es 1947 geplant und errichtet. Im Grundriss teilte er das querrechteckige Bauwerk in drei längliche, parallel zueinander liegende Bereiche ein: Kesselhaus (Boiler House), Turbinenhalle (Turbine Hall) und Umspannwerk (Switch House). Südlich davon wurden drei kreisrunde, in einer Dreipassform arrangierte Öltanks in den Boden eingelassen.24 Die Nordfassade war symmetrisch gestaltet. Sie besaß eine „Sockelzone“ sowie ein ungegliedertes „Gebälk“ mit dekoriertem Kranzgesims und Attikazone. In die glatte Backsteinwand setzte Scott schmale Fensterzonen mit markantem Vertikalzug, die an gotische Kathedralfenster erinnern. Sie rhythmisieren die Fassade und heben die ausgeprägte Horizontalität des massiven Bauriegels auf. Scott drängte die Ingenieure, die Abzugsschächte der im Inneren gelegenen Dampfkessel so zu verlegen, dass lediglich ein Kamin notwendig war. So konnte er schließlich durchsetzen, dass dieser mittig im Bauwerk positioniert wurde. Er führt nicht aus dem Gebäude heraus, sondern beginnt als eigenständiges Bauelement schon auf Bodenniveau: „[an] elegant, tapering tower of 128

brickwork“, den Gavin Stamp als „Campanile“ bezeichnet.25 Mit 99 Metern Höhe hat ihn Scott bewusst als Antwort auf die Kuppel der St. Paul’s Cathedral konzipiert, die direkt auf der gegenüberliegenden Seite der Themse steht. Die Westseite besaß drei der großen Vertikalfenster. Hier befand sich der Eingang für die Arbeiter. Dafür war im Bereich der Sockelzone ein eingeschos­ siger Vorbau angesetzt, der ebenfalls durch dezente, abstrahierende Ornamentik geschmückt war. Die Erschließung wurde so auf ein menschliches Maß herabgesetzt und der in der Fernwirkung riesenhafte Eindruck des Baus beim Eintreten abgemildert. Im Zentrum des Innenraums befand sich die große Turbinenhalle. In der über die gesamten 152 Meter Länge des Baus verlaufenden Halle trieben die gigantischen 60 Megawatt Turbinen die wasserstoffgekühlten Generatoren an (Abb. 28) .

Die natürliche Beleuchtung erfolgte über ein durchgehendes großes

Oberlicht, an den beiden Schmalseiten zusätzlich über die Fenster. Im Norden verband eine offene Stahlstruktur die Turbinenhalle mit dem Kesselhaus. Dort waren auf mehreren Ebenen Galerien eingezogen. Zusammenfassend kann die architektonische Erscheinung des Kraftwerks nicht dem damals gängigen Funktionalismus zugeschrieben werden. Stattdessen sind Anleihen von Arbeiten Frank Lloyd Wrights und des Art déco, aber auch von Ingenieur- und Industriebauten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Insofern wirkt der Monumentalbau deutlich älter, als seine Fertigstellung 1960 im zweiten Bauabschnitt vermuten lässt. Im Zentrum Londons erbaut, galt er als spätes Symbol des englischen Industriezeitalters. Um 1970 war das Kraftwerk eines der wichtigsten Energieerzeuger des Landes und speiste das Doppelte der ursprünglich geplanten Menge in das staatliche Stromnetz. Um die Leistung zu erhöhen, wurde direkt vor dem zentralen Schornstein ein zweites, niedrigeres Kesselhaus gebaut. Obwohl es sich gestalterisch dem Hauptgebäude unterordnete, blieb es doch ein additives Bauteil. Es beeinträchtigte die weithin sichtbare solitäre Erscheinung des Kamins und letztlich die gesamte von Scott geplante Nordansicht des Baus. Der klare architektonische Ausdruck des Kraftwerks war geschmälert. 129

Abb. 28: Bankside Power Station, Turbine Hall vor der Transformation durch Herzog & de Meuron, ­Aufnahme von 1994

Trotz dieser umfangreichen Erweiterungsmaßnahmen wurde das Kraftwerk schon 1981 stillgelegt. Die steigenden Ölpreise hatten weitere Aktivitäten unrentabel werden lassen. Als monumentale Ruine ragte es in die Silhouette der Finanzmetropole; von der Bevölkerung wurde es vergessen.26 Lediglich das südliche Umspannwerk blieb noch in Betrieb. Schon direkt nach der Stilllegung des Kraftwerks wurde auf Initiative von SAVE Britain’s Heritage die Möglichkeit einer alternativen Nutzung als Industriemuseum diskutiert. Gründe damals waren sowohl die architektonische Qualität als auch der sehr 130

gute Erhaltungszustand.27 Weitergehende Bestrebungen, das Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen, konnten sich jedoch bis zum Zeitpunkt der Umgestaltung nicht durchsetzen.28 Herzog & de Meurons Rekonstruktion der Tate Modern Nicholas Serota, 1988 zum neuen Direktor der Tate Gallery ernannt, lancierte erste Überlegungen eines Museumsneubaus, um die stark angewachsene Sammlung der Moderne adäquat präsentieren zu können. Diese mündeten schließlich in die Entscheidung für die Umnutzung der Bankside Power Station als Tate Modern. Den ausgeschriebenen Wettbewerb gewannen 1995 Herzog & de Meuron, die damit ihren Ruf als eines der weltweit führenden Architektenbüros begründen konnten. Craig Martin, Mitglied des Komitees der Tate Trustees, begründet die Entscheidung: „[It was] the only proposal that completely accepted the existing building – its form, its materials and its industrial characteristics – and saw the solution to be the transformation of the building itself into an art gallery. They proposed a true union of their design with that of Giles Gilbert Scott, turning the box into a new building. Open, flexible and pragmatic, ­Herzog & de Meuron’s approach to the project was concept rather than design based […].“ 29 Inwiefern die konzeptbasierte Umgestaltung die Gestalt des ehemaligen Kraftwerks tatsächlich akzeptierte, soll die folgende Bauanalyse ­k lären. Erste von Herzog & de Meuron unternommene Maßnahmen bedeuteten nämlich einen weitreichenden substanziellen Eingriff in das ehemalige Kraftwerk. Konkret wurden zwei Gebäudeteile gänzlich abgerissen: zum einen das später angebaute Kesselhaus im Norden, wodurch der zentrale Kamin wieder freigelegt wurde; zum anderen der Eingangsbereich im Westen. Die geome­ trische Primärform des Baukubus wurde damit nicht nur wiederhergestellt, sondern noch zusätzlich hervorgehoben. Daraufhin wurde das Gebäude komplett entkernt. 1997, während des Bauprozesses, standen vom ehemaligen Kraftwerk nur die äußeren Ziegelsteinfassaden mit ihrem konstruktiven Stahlrahmen und der Kamin. 131

In der Rekonstruktion übernommen wurde die innere Raumdisposition. Das nördliche Boiler House beherbergt nun in sieben Stockwerken die verschiedenen Funktionen des Gebäudes: Ausstellungsräume, ein Auditorium für Film- und Theaterinszenierungen, Restaurants und Cafés, Buchläden und Shops, Räume für die Kunstvermittlung, für Veranstaltungen und die Verwaltung. Die Turbine Hall ist Eingangshalle und stadträumlicher Aufenthaltsund Begegnungsort zugleich.30 In der vom Fluss aus sichtbaren Nordfassade lässt sich unmittelbar eine maßgebliche Neuerung festmachen: der zweistöckige gläserne Aufbau, von den Architekten als „Light Beam“ bezeichnet. Als moderner Obergaden spendet er den Galerien der oberen Stockwerke natürliches Licht; abends wird er durch die innere Beleuchtung zu einem sprechenden Signet in der Londoner Skyline. Der Light Beam ist auch an der Westfassade sichtbar. Er ist hier zwar kein dominierendes Element, besitzt aber dennoch eine relevante gestalterische Aufgabe: Der Glaskubus dient als „Gegengewicht“ zur südlich gelegenen Rampe, die als neuer Hauptzugang des Museums in die Turbine Hall führt. War die Fassade bei Scott streng symmetrisch angelegt, kann bei Herzog & de Meuron von einer ausgewogenen Ponderation von gläsernen Öffnungen und geschlossenen Wandflächen gesprochen werden. In ihrer die Verhältnisse zwischen historischem Bau und zeitgenössischen Eingriffen abwägenden Komposition schaffen die Architekten eine neue, durch Brüche gekennzeichnete Erscheinung. Während diese Interventionen am Außenbau als interpretierende Hinzufügungen verstanden werden können, ist die im Folgenden analysierte Turbine Hall eine archetypische konzeptuelle Rekonstruktion. Innenraum Nukleus des Museums ist die neue Turbine Hall31 (Abb. 29) . Diese bleibt ein monumentaler Freiraum und erinnert schon ihrem Namen nach an die ehemalige Funktion des Baus als Kraftwerk. Die von Westen her abfallende Rampe senkt den Innenraum konstant bis unter das Wasserspiegelniveau der Themse ab (Level 0). Dafür entfernten die Architekten den Boden des Erdgeschosses. Wie eine Brücke spannt sich auf Erdgeschossniveau (Level 1) in der Mitte des 132

Abb. 29: Ansicht der ­Turbine Hall nach der ­Rekonstruktion, Blick nach Osten

Raums eine Plattform über die darunterliegende Ebene. Sie greift ein ehemals hier existierendes Plateau im Kraftwerk auf, das zwischen den beiden Strom produzierenden Turbinen lag. Durch die Absenkung des Boden­n iveaus wird die ohnehin angelegte Monumentalität des Raums forciert, die neue Halle misst in ihrer Höhe nun 35 Meter. Dies bemerkt auch Loderer, der das Vorgehen der Basler Architekten als „achtungsvolle Respektlosigkeit“ beschreibt: „Da die Halle überhoch ist, mach sie höher! […] Einen Augenblick lang verliert man den Halt, die Rampe und der Höhensprung machen schwindlig.“ 32 Wie beim Außenbau folgen Herzog & de Meuron der Strategie der ­F rei­legung. 133

Die nördliche Wandgliederung der Turbine Hall verdient eine weitergehende Analyse. Hier ist lediglich die alte Stahlstruktur des Kraftwerks erhalten. Die genuteten Stahlstützen sind in ihrer Form und Materialität eine Reminiszenz an die industrielle Funktion des Baus. Am horizontalen Stahlträger im dritten Obergeschoss (Level 4) war früher eine Kranbrücke angebracht. Dennoch ist die Stahlstruktur keine historische „Spur“, da sie durch ihre schwarze Lackierung im neuen, ästhetisch einheitlichen Gesamtkonzept aufgeht. Innerhalb des erhaltenen konstruktiven Rahmens ist eine Wand eingezogen, die den ehemaligen Übergang zwischen Turbinenhalle und Kesselhaus schließt. Durch ein gestalterisches Mittel findet aber eine neue Form der Öffnung statt: Die „Bay Windows“, horizontal geführte Erker mit durch Lichtröhren gerahmten Fensterbändern, durchbrechen die Innenraum-„Fassade“. Formal sind sie dem Light Beam der Außenfassade verwandt. Sie rhythmi­ sieren die Wandfläche und konterkarieren den Vertikalzug der Stahlträger. Gleichzeitig machen die Bay Windows die verschiedenen Bereiche in den Etagen des Boiler House und die Erschließungsmöglichkeiten – die durchsichtigen Rolltreppenröhren und die Fahrstühle – von der Turbine Hall aus ersichtlich. In der Gesamtwirkung ist die Turbine Hall ein gänzlich zeitgenössischer Raum, der die Turbinenhalle des Kraftwerks konzeptuell aufnimmt und neu erfindet. Die Tate Modern von Herzog & de Meuron zeigt, dass eine konzeptuelle Rekonstruktion nicht notwendigerweise ein umfassend zerstörtes Bauwerk vor­ aussetzt. Die von den Architekten für ihr Rekonstruktionskonzept genutzte Methode der Freilegung wurde als typisch für die historistische Rekonstruktion beschrieben. Diese Nähe formulieren Herzog & de Meuron selbst: „Möglichst viel eines Vorgängerbaus zu erhalten ist nur dann sinnvoll, wenn tatsächlich eine ausserordentliche Qualität vorhanden ist oder wenn es technisch, finanziell oder politisch nicht möglich ist, alles auszuräumen. […] Viel sinnvoller ist es eine Form zu finden, um diese Elemente des Bestehenden in die eigene Arbeit zu integrieren und somit Teil des eigenen Werks werden zu lassen. Diese Auffassung von alt – neu ist nicht dialektisch und steht den Bemühungen der Moderne, etwa eines Scarpa gegenüber […]. Unsere Auffassung entspricht eher jener von Viollet-le-Duc, 134

ergänzt mit einer Prise asiatischer Kampftechnik. Wir vergleichen dieses Vorgehen mit der Strategie des Aikidokämpfers, der die Energie des Angreifers für seine eigenen Zwecke nutzt. Durch diese Taktik entsteht etwas Neues, das im Idealfall doppelt wirkungsvoll ist. Die Tate Modern hat nichts mehr mit dem ehemaligen Kraftwerk zu tun, sie ist durch und durch ein neues Museum. Unser Interesse galt der alten Backsteinsubstanz nicht im Sinne einer Spurenlese. Viel spannender war die Frage, inwieweit sie für einen neuen Bau eine Bereicherung sein könnte.“33 Das Zitat zeigt den Ansatz einer konzeptuellen Rekonstruktion prägnant auf. Um ihr gestalterisches Potenzial zu entfalten, befreit sie sich nötigenfalls auch von erhaltener Bausubstanz. Die von Herzog & de Meuron angesprochene Übereinstimmung mit der Restauration von Viollet-le-Duc findet sich weiterhin im Ideal der Aneignung. Ihr Ziel ist aber sicher kein „Gesamtkunstwerk“ im Sinne der historistischen Rekonstruktion. Die baukünstlerische Idee des Vorgängers wird aufgegriffen und „subversiv“ unterwandert. Sie wird damit den Architekten zufolge zur Bereicherung für den zeitgenössischen Neubau. Die Dialektik von Kontrast und Kontinuität hingegen, die die interpretierende Rekonstruktion eines Carlo Scarpa definiert, strebt die konzeptuelle Rekonstruktion gerade nicht an: „We think this is the challenge of the Tate Modern as a hybrid of tradition, Art Deco and super modernism: it is a contemporary building, a building for everybody, a building of the 21st century.“ 34 Im Hybriden stehen die verschiedenen Elemente nicht wie in einer Collage nebeneinander, sondern verschmelzen zu einer neuen zeit­ genössischen Einheit. So gesehen kann die Turbine Hall tatsächlich als ­gebauter „Dritter Raum“ verstanden werden, als Ort, in dem unterschied­ liche Architektursprachen aufeinandertreffen, verhandelt und neu verortet werden. Grenzen der konzeptuellen Rekonstruktion Die Tate Modern beeindruckt mit der Turbine Hall gerade dort am nach­ haltigsten, wo sie mit der Turbine Hall ihren Ausgangspunkt konzeptuell im historischen Bau findet. Die Galerieräume dagegen lassen diese Aneignung 135

vermissen. Sie ergeben sich nicht aus dem Prinzip der Übersetzung, sondern aus der Vorstellung eines „idealen Museums“. Einflussreich für Herzog & de ­Meurons Museumsentwürfe ist dafür Rémy Zaugg, der ein solches in seiner Schrift Das Kunstmuseum, das ich mir erträume oder der Ort des Werkes und des Menschen (1987) vorgedacht hat. Die Galerieräume der Tate Modern finden ihre direkten architektonischen Vorbilder in eigenen früheren Bauten der Architekten, beispielsweise der Sammlung Goetz in München (1989–92) oder dem Atelier von Rémy Zaugg im französischen Mulhouse (1995–96). Letzteres beschreiben Herzog & de Meuron explizit als „a kind of prototype for the planning of the Tate Gallery of Modern Art“.35 Der Besucher bewegt sich also – verlässt er die Turbine Hall – in kontextfreien, weißen Räumen, die eine Zeit- und Ortlosigkeit suggerieren. Es sind „White Cubes“, die innerhalb des monumentalen Industriebaus eine letztlich inkonsistente Situation erzeugen. Im musealen Kontext funktionieren sie durchaus und bieten maximale Flexibilität in der Präsentation der Werke, nur lassen sie sich eben nicht aus dem historischen Vorgängerbau ableiten. Sie sind keine, die Bankside Power Station konzeptuell aufnehmenden Räume, sondern unabhängige Neuschöpfungen.

4.5 Bruno Fioretti Marquez: Direktorenhaus Walter Gropius, Dessau (2010–14) Architekt: Walter Gropius Bauzeit: 1925–26 Architekten der Rekonstruktion: Bruno Fioretti Marquez Architekten Auftraggeber: Stadt Dessau-Roßlau Rekonstruktionsphase: 2010–14 Grundfläche: 300 m² (Direktorenhaus) / 200 m² (Haus Moholy-Nagy) Kosten: 4 180 000 Euro Die Rekonstruktion der beiden Meisterhäuser in Dessau durch die Architekten Bruno Fioretti Marquez ist das jüngste abgeschlossene Projekt, das in 136

dieser Arbeit Betrachtung findet. Zugleich fasst sie die Position der konzeptuellen Rekonstruktion anschaulich zusammen. Meisterhäuser von Walter Gropius In einem kleinen Kiefernwald in Dessau, unweit des Bauhauses gelegen, entstanden unter der Ägide des Direktors Walter Gropius die Meisterhäuser. Bis 1926 waren das Direktorenhaus und die drei Doppelhäuser für László Moholy-Nagy / Lionel Feininger, Georg Muche / Oskar Schlemmer sowie Wassily Kandinsky / Paul Klee fertiggestellt. Hier lebten diese und die späteren Lehrer des Bauhauses. Die zweistöckigen Bauten mit Flachdächern waren beziehungsweise sind von „der Durchdringung von funktional gegliederten, kubisch klaren Baukörpern geprägt“.36 Die horizontal ausgelegten Kuben sind in jeder Haushälfte durch den Vertikalzug des über die gesamte Höhe verglasten Treppenhauses gebrochen. Konstruktiv verwendete Gropius Ziegel, setzte aber auch Steineisendecken und, bei den großen Atelier- und Treppenhausfenstern, Stahlkonstruktionen mit Kristallspiegelglas ein. Aufsehenerregend war der scheinbar gegen jede Schwerkraft vorkragende Bauteil im ersten Stock des Direktorenhauses – dies zumindest suggerierten die kontrastreichen Schwarz-Weiß-Fotografien von Lucia Moholy geschickt, auf denen die verschatteten Stützen kaum sichtbar waren (Abb. 30) . Ihre Aufnahmen trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass die Meisterhäuser bald als Prototypen des modernen Bauens galten. Was die Bilder nicht zeigen konnten, war die farbliche Ausgestaltung. Die Häuser waren nicht durchgängig weiß; Fensterlaibungen waren in rot oder blau, die Unterseiten von Balkonen gelb oder orange, teilweise ganze Wandflächen in grau oder orange gestrichen. Die Innenraumgliederung des Direktorenhauses war, wie die der anderen Meisterhäuser, trotz der überschaubaren Größe des Baus vielfach unterteilt (Flur, Anrichte, Wohnraum, Speiseraum etc.) und „in ihrer axialen Ausrichtung […] eher traditionell“.37 Nach der durch die NSDAP erzwungenen Schließung des Dessauer Bau­hauses 1932 wurden die Gebäude von der Stadt an die Junkers-Werke verkauft. Dessau wurde zur Gauhauptstadt erhoben und Zentrum der Rüstungsindustrie. 137

Abb. 30: Direktorenhaus Walter Gropius, Ansicht von Südwesten. Fotografie von Lucia Moholy um 1926

Aus diesem Grund fiel ein Großteil der Stadt alliiertem Bombardement zum Opfer. Am 7. März 1945 wurden das Direktorenhaus sowie die Doppelhaushälfte von Moholy-Nagy getroffen. Letzteres wurde komplett abgeräumt; an seiner Stelle klaffte seither eine Lücke. Das ebenfalls schwer beschädigte Direktorenhaus erfuhr ein anderes Schicksal. Auf dem noch intakten Sockelgeschoss wurde 1956 ein schlichtes Einfamilienhaus, das sogenannte Haus Emmer, mit traditionellem Satteldach aufgesetzt. Der für die Entwicklung der modernen Architektur in historischer Perspektive so wichtige Ort wurde radikal neu besetzt. Die Bauhaus-Moderne galt innerhalb der Führung der DDR lange als „bourgeois“ und „formalistisch“, weshalb 1960 die an das Grundstück angrenzende Trinkhalle von Mies van der Rohe abgerissen wurde. Die übrigen Meisterhäuser verfielen. Erst nach der Wende begann eine groß angelegte Initiative zur langfristigen Erhaltung der bestehenden Bauten. Ausschlaggebend war die Ernennung des Bauhauses und des Ensembles der Meisterhäuser zum UNESCO Weltkultur­ 138

erbe im Jahr 1996. Mit Fertigstellung der Sanierungsarbeiten des Hauses Muche-Schlemmer konnte die Restaurierung des Ensembles 2002 abgeschlossen werden. Nun galt zu klären, wie mit der „Fehlstelle“ des ehemaligen Hauses Moholy-Nagy und dem „überschriebenen“ Direktorenhaus Gropius zu verfahren sei. Drei Optionen kamen in Betracht: Für eine Konservierung des Status quo sprach, dass das Haus Emmer zwar selbst keine Denkmalwürdigkeit beanspruchen konnte, aber auf diesem Ort ein sprechendes Beispiel für den ideologisch vorbelasteten Umgang mit dem Bauhauserbe in der damaligen DDR darstellte. Argument für eine Konservierung war weiterhin, dass neben dem separat stehenden Garagenbau direkt an der Straße auch das gesamte Sockelgeschoss „einschließlich bauzeitlicher Türbeschläge und einem Weinregal aus Tonröhren“ – und damit ein nicht unerheblicher Teil originaler Substanz des Direktorenhauses noch erhalten war, die bei einem Eingriff immer gefährdet war.38 Dagegen sprach, dass das Haus Emmer im Gesamtensemble als „Störfaktor“ wahrgenommen wurde, oder, wie es Peter Eisenman formuliert: „You can’t save that. That’s just terrible. There are plenty of examples of […] East German architecture, still standing, we don’t see. This is junk. It’s not of any value.“ 39 Eine (simulierende) Rekonstruktion dagegen würde das Direktorenhaus zwar nicht substanziell zurückbringen, es aber in seiner Gestalt – als wichtige Position der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts – ausstellen. In seiner Rekonstruktion wäre der „revolutionäre Impetus“, für den das Haus stand, als Symbol einer historischen Epoche zugleich musealisiert. Nicht nur das Direktorenhaus, sondern auch das Ensemble der Meisterhäuser als Gesamtleistung würde wieder erfahrbar. Dass eine Rekonstruktion erfolgreich sein kann, hatte nicht zuletzt das Bauhaushauptgebäude gezeigt, welches nach schweren Kriegszerstörungen insbesondere des Werkstattflügels 1976 unter Leitung des Architekten Wolfgang Paul „originalgetreu“ wiederhergestellt wurde. ­A ndererseits meint Oswald Mathias Ungers: „Wiederaufbauen geht nicht, ist retro, hat keinen Sinn.“ 40 Darüber hinaus stand die Aktualisierung der Moderne zur Debatte. Dabei liegt die „Wahrheit des Handelns an diesem Ort […] in der gestalterischen 139

Auseinandersetzung mit den aktuellen Formen der Erinnerung an Gebäude und Idee des Bauhauses. Mit einem Wort: Die Wahrheit liegt in der Aktualisierung des historischen Bauhauses und seiner Gestaltungsprinzipien.“ 41 Sieht man das Bauhaus als Verbindung von handwerklicher und industrieller Gestaltung, ist seine Philosophie sicherlich ihrem Wesen nach fortschritts­ orientiert. Ihr liegt die Idee der Avantgarde zugrunde, wie sie beispielsweise Mies van der Rohe in seinen Arbeitsthesen (1923) zusammenfasst: „Baukunst ist raumgefaßter Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu. Nicht das Gestern, nicht das Morgen, nur das Heute ist formbar. Nur dieses Bauen gestaltet. Gestaltet die Form aus dem Wesen der Aufgabe mit den Mitteln unserer Zeit.“ 42 Insofern kann es durchaus als sinnvoll bezeichnet werden, dass sich die Idee einer Aktualisierung der Moderne schließlich durchsetzte. Die langjährigen Diskussionen mündeten 2010 in einen Architekturwettbewerb. Rekonstruktion des Direktorenhauses von Bruno Fioretti Marquez Das Berliner Architektenbüro Bruno Fioretti Marquez (bfm) gewann die Ausschreibung mit dem Konzept der „Unschärfe“. Entstanden sind zwei Bauten in zeitgenössischen Formen, die sich aber in Grundriss, Außenbau und bedingt im Innenraum eng an den beiden Meisterhäusern von 1926 orientieren: konzeptuelle Rekonstruktionen (Abb. 31) . Das neue Direktorenhaus dient seither als Eingangsbau für Besucher, die das Ensemble der Meisterhäuser besuchen, und wird auch für Ausstellungen genutzt. In der Doppelhaushälfte Moholy-­ Nagy soll das Kurt-Weill-Zentrum mit Veranstaltungsräumen und einer Mediathek Platz finden. Im Folgenden soll das rekonstruierte Direktorenhaus stellvertretend genauer untersucht werden. Als Vorbedingung sollten das historische Sockelgeschoss von 1926 und die ebenfalls erhaltene Garage in die Rekonstruktion integriert werden. Beim Direktorenhaus handelt es sich damit – anders als beim Haus Moholy-Nagy – nicht um eine Totalrekonstruktion. Dass überhaupt historische Substanz verwendet wurde, ist für das gestalterische Konzept jedoch von untergeordnetem Interesse. Weder wird sie ausgestellt, noch dialektisch den Neubauteilen gegenübergestellt. Das historische Material geht im einheitlichen Charakter des Neubaus auf. 140

Direktorenhaus Gropius

Direktorenhaus Gropius

1926 rektorenhaus aus Gropius, Gropius,

2014 Gropius, Direktorenhaus Direktorenhaus Gropius,

26 Gropius, rektorenhaus Gropius,

2014 2014 Direktorenhaus Direktorenhaus Gropius, Gropius,

Boden

26

Boden

Boden Dachterasse Dachterasse

Zimmer

Dachterasse Dachterasse

Zimmer

Flur Gast-, Wohn-, SchlafGast-, zimmer Wohn-, Schlafzimmer

Flur Gast-, Wohn-, SchlafGast-, Bad zimmer Wohn-,

SchlafBad zimmer

2014

2014

Boden Zimmer Zimmer

Wasch- Waschküche küche Flur Waschküche Flur

Waschküche

Bad Mädchen Mädchen Mädchen Bad

Mädchen

Obergeschoss Obergeschoss

Obergeschoss Obergeschoss Obergeschoss

Terrasse Terrasse Terrasse Schlafzimmer Schlafzimmer

Schlafzimmer

WohnraumWohnraum Speiseraum Speiseraum Schlafzimmer Wohnraum Wohnraum Speiseraum Speiseraum Flur

Schlafzimmer Schlafzimmer

Terrasse

Flur

Anrichte Anrichte

Flur Flur Anrichte Anrichte Schlafzimmer Bad WCBad WC Küche Küche SchlafSpeisek. Speisek. zimmer Bad WC Bad WC Küche Küche Speisek. Speisek.

Erdgeschoss Erdgeschoss Erdgeschoss Erdgeschoss

Erdgeschoss

Garage Garage

Garage Garage

Abb. 31: Grundriss des historischen und des von bfm rekonstruierten Direktorenhauses

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Der Grundriss ist in den äußeren Dimensionen den historischen Plänen getreu wiederhergestellt. Der Haupteingang befindet sich wieder im Norden, eine schmale Treppe im Westen, eine breite, über Stufen erreichbare Terrasse im Süden. Außenbau Ziel für den Außenbau war es laut bfm, „die exakte Wiedergabe der Hülle der Vorgängerbauten und ihrer opaken und transparenten Teile“ 43 zu erreichen. Das Bauvolumen ist so genau wie möglich wiederhergestellt (Abb. 32) . Auch alle Fenster sind wieder an gleicher Stelle angebracht. In seiner Gestaltung aber ist das neue Direktorenhaus offensichtlich nicht historisch (modern), sondern zeitgenössisch. Der Neubau zeigt nicht die weißverputzten Wände mit den vielfach verwendeten Farbflächen, sondern durchgehend hellgraue, in Dämmbeton gegossene Fassaden, die mit einer Lasur versiegelt sind. Die Fenster in milchigem Gussglas aus Kunstharz sind darin so eingelassen, dass sie keinerlei Relief bilden. Durch die weichen, glatten Oberflächen und die scharfkantigen Kubaturen entsteht eine beinahe „virtuelle“ Erscheinung. An der Südfassade dominiert als markanter Höhepunkt wieder der im ersten Obergeschoss vorkragende Raumwürfel. In der Rekonstruktion schwebt er nun tatsächlich und wird nicht mehr zusätzlich gestützt

(Abb. 34) .

Für diese

­Gestaltung dienten nicht historische Pläne als Vorbild, sondern die Schwarz-­ Weiß-Fotografien, die Lucia Moholy in den 1920er-Jahren aufnahm. Das heißt, die Rekonstruktion aktualisiert im übertragenen Sinn die oben erwähnte strategische Dramatik der Bilder. Bestimmte Details, konkret die zwei damals aus statischen Gründen notwendigen Stützpfeiler, wurden bewusst ausgeblendet. Da die Fotografien – die mit dazu beigetragen hatten, dass den Meisterhäusern ihr legendärer Status in der Architekturgeschichte der Moderne zugesprochen wurde – Ausgangspunkt der Rekonstruktion waren, oszillieren die neuen Meisterhäuser Florian Dreher zufolge „zwischen ideal und real“.44 „Ideal“ beschreibt die Nähe zur historistischen Rekonstruktion, denn auch die konzeptuelle Rekonstruktion verfährt baukünstlerisch aneignend. Wie in ­K apitel 1 dargelegt, ist es für Viollet-le-Duc durch Einfühlung tatsächlich 142

Abb. 32: Direktorenhaus von bfm, Nordfassade

Abb. 33: Direktorenhaus Walter ­Gropius von bfm, Südfassade

143

möglich, den Bau wieder zum „Leben“ zu erwecken. Die konzeptuelle ­Re­konstruktion strebt jedoch keine baukünstlerisch „ideale“, will meinen „verbesserte“ oder gar „vollendete“ Version der Gestalt des Baus von 1926 an. Zugleich ist sie kein eigenständiges baukünstlerisches Werk. Sie verortet sich im Grenz­bereich, im „Dazwischen“. Sie bedeutet gewissermaßen ein „Fortleben“ des Baus. Dafür verfolgen die Architekten das, was sie als „das Prinzip der Unschärfe als Komponente des Erinnerns“ bezeichnen. Konkret beziehen sie sich dabei auf die Architecture Series von Hiroshi Sugimoto und die fotografischen Arbeiten von Thomas Demand: „Die Unschärfe, die, wie Demand und Sugimoto uns lehren, die formale Abstraktion und den Materialkontrast unterstützt, ermöglicht uns eine zeitgenössische Architektur. Gleichzeitig bleibt die Verbindung zur Erinnerung bestehen.“ 45 Die unscharfe Erinnerung greift in der Rekon­ struktion nicht auf eine wissenschaftlich-archäologisch fundierte Baudokumentation zurück; sie ist vielmehr selbst ein – hier über das künstlerische ­Medium der Fotografie transportiertes – imaginiertes Bild des Baus. Der historische Bau wird bewusst nur „mittelbar“ rezipiert und rückt so den Umstand in den Fokus, dass eine (Total-)Rekonstruktion immer über einen „Umweg“ stattfindet. Sie ist von einem „kopierenden“ Verfahren anhand eines noch bestehenden Baus grundverschieden, wie auch die Architekten herausstellen: „Eigentlich sind uns die Bauten nur durch lückenhafte historische Dokumente bekannt: durch einige Zeichnungen, Pläne, Modell und Fotos. Gerade die Fotografien von Lucia Moholy haben das kollektive Gedächtnis am tiefsten geprägt. In diesem Projekt steht […] nicht die Dokumentation eines historischen Zustands im Vordergrund, es geht um etwas Subtileres und Komplexeres, es geht um Gedächtnis und um Erinnerung. Und diese Erinnerungen leben eben von Unschärfe und Ungenauigkeiten.“46 Das Konzept der Unschärfe unterstreicht, dass die Idee eines „Originals“ keine feststehende Kategorie darstellen kann. Genau aus diesem Grund kann die konzeptuelle Rekonstruktion der Meisterhäuser als Verfahren der Übersetzung verstanden werden, wie es Benjamin metaphorisch umschreibt. Das neue Direktorenhaus orientiert sich zweifellos am Vorgänger, berührt das 144

Original, den „Kreis“, aber als „Tangente“ mit eigener Laufbahn nur noch in einem Punkt. Eine Übersetzung ist kein präzises sekundäres Abbild, sondern ein unscharfes, eigenständiges „Fortleben“ einer Idee. Sie ist, wie jede Übersetzung, mit Benjamin gesprochen, nur vorläufig, oder, anders gesagt, in ihrer eigenen Architektursprache zeitbedingt. Innenraum Inwiefern sich die Übersetzung als „Tangente“ vom Original entfernt, zeigt insbesondere der Innenraum. Das Obergeschoss, in welchem Gropius der Dachterrasse beträchtliche Bedeutung beigemessen hatte und dennoch höchst beengt ganze acht Räume unterbrachte, entfaltet sich in der Rekonstruktion als ein übergreifender Raum. Die Fußböden sind entfernt; mehrere Galerien ermöglichen Durchblicke in die untere Etage. Die traditionelle Raumaufteilung des Wohnhauses wäre bei der neuen Funktion des Direktorenhauses ohne­h in wenig sinnvoll, da der Innenraum als Entree für Besucher keine praktischen Funktionen mehr erfüllen muss. Die von Gropius angelegte kleinteilige Raum­ aufteilung weicht einem frei fließenden Raumkontinuum. Ist der rekonstruierte Innenraum aber vom Vorgängerbau gänzlich unabhängig? In diesem Fall müsste von einer Fassadenrekonstruktion gesprochen werden. Doch vergleicht man die historischen und die zeitgenössischen Grundrisse, ergeben sich entscheidende Überlagerungen. Nicht nur befinden sich Eingangsbereich und Treppenhaus an historischer Stelle, auch sind fast alle Räume durch mindestens eine Wand angedeutet – es sind gewissermaßen die in Auflösung begriffenen historischen Räume sichtbar. bfm übernehmen den inneren Grundriss nicht „getreu“. Vielmehr übertragen sie das am Außenbau aufgezeigte Konzept der unscharfen Erinnerung auf den Innenraum und führen es, ihrer eigenen Bahn folgend, konsequent fort. Beide neuen Meisterhäuser, das Direktorenhaus und das Haus Moholy-Nagy, sind einheitlich zeitgenössisch und ästhetisch anspruchsvoll rekonstruiert. Sie passen sich durch die Wiederherstellung der exakten historischen Bau­ volumen in den Ensemblekontext sinnvoll ein. Auch wenn bfm mit dem neuen Direktorenhaus in der Summe eine überzeugende Lösung für den historisch 145

besetzten Ort liefern, ist mit der konzeptuellen Rekonstruktion ein entscheidender Abschnitt seiner Geschichte im 20. und frühen 21. Jahrhundert, nämlich die Existenz des Hauses Emmer, ausgelöscht. Aus denkmalpflegerischer Sicht muss die Zerstörung einer wichtigen Zeitschicht, und damit einer relevanten Bedeutung des Ortes, als Verlust gewertet werden. Eben diese Debatte wurde auch bei der Dresdener Frauenkirche (Kap. 3.3) und dem Berliner Stadtschloss (Kap. 6.2) intensiv geführt. Erst in Abwägung verschiedener – baukünstlerisch-ästhetischer, moralischer und denkmalpflegerischer – Standpunkte kann die Neuschöpfung der Meisterhäuser als gelungen bewertet w ­ erden. Das neue Direktorenhaus von Bruno Fioretti Marquez ist eine sich am Vorgänger von 1926 orientierende konzeptuelle Rekonstruktion, die sich reflektiert mit der „originalgetreuen“ Rekonstruktion – als einem von vielen Unschärfen und Ungenauigkeiten geprägten Prozess – auseinandersetzt. Es ist interessant, wie vehement die Architekten im Zusammenhang mit dem Projekt den Begriff der Rekonstruktion vermieden wissen wollen, den sie als simulierende Rekonstruktion verstehen. Sie bevorzugen den Begriff Reparatur. Dieser wiederum ist widersprüchlich, wird doch das Direktorenhaus offensichtlich nicht im Bestand repariert, sondern in zeitgenössischen Formen gänzlich neu gebaut. Selbst (vor-)städtebaulich, also in Hinblick auf das Ensemble („Die reparierte Siedlung“), kann nicht von einer Reparatur beschädigter, aber noch erhaltener Strukturen gesprochen werden. Nennt man das Ergebnis beim Namen – nämlich Rekonstruktion –, dann beschreiben die Architekten das Resultat als „ein konzeptuelles Gleichgewicht zwischen der Reparatur und dem Erhalten von Erinnerung“ 47 überaus trefflich. Der „Geist“ der Meisterhäuser, ihre fortlebende Erinnerung, ist das, worauf sich die Rekon­struktion bezieht. bfm haben mit ihrem Konzept der Unschärfe einen kritischen Kommentar zum Thema der „originalgetreuen“ Rekonstruktion geschaffen. Ihre Lösung ist aber keine Reparatur – und sie sollte nicht mit dem Begriff der „kritischen Rekonstruktion“ verwechselt werden. Wie dieser definiert ist, beleuchtet das folgende Kapitel kursorisch. 146

Anmerkungen

29 Craig-Martin 2010, S. 47. 30 Das „Switch House“ behielt seine ursprüngliche Funktion auch nach Eröffnung des Museums vorerst bei und wurde nicht integriert.

1

Bhabha 2000, S. 1.

2

Babka und Posselt 2012, S. 12.

3

Benjamin 1977, S. 53 ff.

4

Ebd., S. 60.

5

Buden 2008, S. 16 f.

6

Ebd., S. 17.

7

Bhabha 2007 (abgerufen am 20.10.2016).

8

Ito 1995, S. 44.

9

Benjamin 1977, S. 51.

10 Löffler und Böhm 1984, S. 11 f. 11 Gurlitt bemerkt, dass im Falle der Kreuzkirche „­völlig ausreichende Aufmessungen [vorhanden ­waren], um den alten Bau genau nach diesen wieder herstellen zu können“. Gurlitt 1919, S. 63. 12 Schumann 2005, S. 33. 13 Barth 1907, S. 147 f. 14 Gurlitt 1919, S. 63. 15 Löffler und Böhm 1984, S. 17. 16 Löffler 1974, S. 70. 17 Löffler und Böhm 1984, S. 16. 18 Ciré 2013, S. 280. 19 Der Bau schließt jedoch im Süden nicht wie zuvor direkt am Brandenburger Tor an. Ein geringer Zwischenraum war notwendig, um die Bausubstanz des Tores nicht zu beeinträchtigen und seine Autonomie zu gewährleisten. Die geschlossene Wirkung der Platzanlage ist dennoch wiederhergestellt.

31 Die Idee, die Turbine Hall als Freiraum zu erhalten, entwickelte zuerst Renzo Piano in seinem letztlich nicht verwirklichten Entwurf. Sie wurde daraufhin von Herzog & de Meuron übernommen. Siehe ­Sabbagh 2000, S. 31. 32 Loderer 2000, S. 12. 33 Jacques Herzog und Pierre de Meuron in Herzog, De Meuron und Ursprung 2002, S. 152 f. 34 Herzog und De Meuron 2000 (abgerufen am 15.09.2015). 35 Herzog und De Meuron 1996 (abgerufen am 15.09.2015). 36 Thöner und Markgraf 2014, S. 29. 37 Ebd., S. 53. 38 Markgraf 2007. 39 Peter Eisenman, zit. in Hollwich und Weisbach 2004, S. 68. 40 Oswald Mathias Ungers, zit. in ebd., S. 25. 41 Prigge 2004, S. 47. 42 Mies van der Rohe 1964, S. 23. 43 Kern, Fioretti und Marquez 2014, S. 28 f. 44 Dreher 2014, S. 16. 45 Interview von Ingolf Kern mit bfm unter http://www. bauhaus-dessau.de/interview-mit-den-architekten. html (abgerufen am 15.09.15) 46 Kern, Fioretti und Marquez 2014, S. 26 f. 47 bfm, zitiert in ebd., S. 28.

20 Ciré 2013, S. 281. 21 Buttlar 2011, S. 183. 22 Ebd. 23 Scheer 2013, 11. 24 Auf diesen steht heute der zeitgenössische Anbau, ebenfalls von Herzog & de Meuron, der in dieser ­Arbeit keine weitere Beachtung finden kann. 25 Stamp 2000, S. 182. 26 Den außergewöhnlichen Fakt „that Bankside was an incredible chance, which for some unbelievable­ ­reason was not discovered before“, betont Jaques Herzog, in Herzog, Serota und Moore 2000, S. 37. Auch Ryan bekräftigt: „Despite its size and pro­minent position, and in contrast with the same architect’s Battersea Power Station, many Lon­doners were ­unaware of its existence.“ Ryan 2000, S. 17. 27 Stamp 2000, S. 188. 28 Sabbagh 2000, S. 16.

147

Exkurs: Kritische Rekonstruktion

Die kritische Rekonstruktion kann aus verschiedenen Gründen nur bedingt als architektonisches Konzept der Rekonstruktion verstanden werden, wie der folgende Exkurs darlegt. Dennoch sollen ihre Prinzipien näher erläutert werden, um Missverständnissen vorzubeugen. Der Begriff geht maßgeblich auf Josef Paul Kleihues zurück, der mit der Internationalen Bauausstellung Berlin (IBA) 1984/87 als Planungsdirektor die Reparatur und Rekonstruktion der Stadt einleitete. Unüblich für eine Bauausstellung und anders als beispielsweise bei der Berliner Interbau 1957 wurde kein zusammenhängendes Grundstücksareal vorgegeben, das Modellcharakter besitzen sollte. Thema waren integrative architektonische Möglichkeiten im vorhandenen städtebaulichen Kontext, konkret in den Kreuzberger Vierteln Luisenstadt und SO36, in der südlichen Friedrichstadt und im südlichen Tiergartenviertel, dem Prager Platz und dem Hafen Tegel (Abb. 34) .1 Die sogenannte „Reparatur der kaputten Stadt“ hatte zum Ziel, die noch erhaltene, aber überalterte oder heruntergekommene Gebäudesubstanz aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert behutsam zu erneuern. Was der Krieg oder die moderne Stadtplanung vernichtet hatten, wo historische Spuren ausgelöscht und vergessen wurden, sollte im historischen Stadtgrundriss möglichst wiederhergestellt werden. So wollte es die „Rekonstruktion der zerstörten Stadt“, die Kleihues im Begriff kritische Rekonstruktion erfasst: „Ich habe den Begriff der ‚Rekonstruktion‘ für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt gewählt, obgleich er zu Missverständnissen Anlaß geben könnte. Der Begriff der Rekonstruktion geht von der den Städten innewohnenden Kraft und Hoffnung aus, sich stets zu erneuern, ohne die Spuren der Geschichte zu verleugnen. Denn natürlich geht es nicht um die Rekonstruktion der Stadt des 18. oder 19. Jahrhunderts. Das wäre ebenso töricht wie die blinde Akzeptanz sogenannter moderner Ansprüche an Wohnung und Stadt. Die Rekonstruktion der Stadt meint daher nicht die Wiederherstellung des status quo ante, sondern die kritische und liebevolle Prüfung

Abb. 34: Städtebaulicher Rahmenplan der IBA Neubaugebiete. Südliches ­Tiergartenviertel und südliche Friedrichstadt

149

der historischen und gegenwärtigen Zustände, der natürlichen Bedingungen und künstlich vollzogenen Eingriffe.“2 Die Struktur der Stadt gliedert sich für ihn in drei Bereiche. Der zweidimensionale Grundriss prägt die Stadt von ihrer Gründung an über die Jahrhunderte. Der dreidimensionale Aufbau bestimmt das Verhältnis zwischen Körpern und Räumen, zwischen Bauwerken und Straßen, Plätzen sowie Parks. Das Bild der Stadt schließlich wird definiert durch die „Physiognomie ihrer Häuser“ 3, also die tatsächlichen Fassadenansichten in ihren stilistischen Formen, welche die geistigen und kulturellen Wurzeln genauso zum Ausdruck bringen sollen wie den Wandel der Zeit. Alle drei Bereiche sind gleichermaßen bedeutend. Die „Vermessung der Stadt“ für eine Rekonstruktion kann konkret anhand noch vorhandener Bauten, aber auch anhand historischer Pläne, Stiche oder archivarischer Dokumente erfolgen. Wesentlich ist für Kleihues, den historischen Grundriss als Grundlage der Stadtentwicklung einzusetzen. Es geht ihm nicht primär darum, Grundrisse einzelner Gebäude oder Parzellen im Detail zu rekonstruieren. Die kritische Rekonstruktion möchte „die räumliche Ordnung der historischen Stadt“ 4 wiederherstellen: den Stadtraum, der in der modernen Stadtplanung nicht mehr ausreichend definiert war. Ein entscheidendes Instrumentarium dafür war die Wiedereinführung der Blockrandbebauung, die mit den Regeln des konventionell gewordenen funktionalistischen Städtebaus brach. Eine von mo­ deraten Bauvolumina umrahmte Platzanlage besitze nach seiner Meinung höhere Aufenthaltsqualitäten als eine grüne Wiese zwischen Autobahn und Hochhaus oder Zeile in der modernen, frei fließenden „Stadtlandschaft“. Neubauten sollten sich aber nur sehr beschränkt an konkreten historischen Fassaden und Formen orientieren. Kleihues fordert zeitgenössische Bauformen, die sich aus dem Kontext der historischen Stadt entwickeln. Auf dieser Basis könnte man annehmen, dass Kleihues eine Rekonstruktion der historischen Stadt als „Übersetzung“ in zeitgenössische Formen fordert, wie sie mit dem Prinzip der konzeptuellen Rekonstruktion verbunden ist. Wer sich den verschiedenen realisierten Projekten beispielsweise der Südlichen Friedrichstadt widmet, erkennt jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Hier 150

finden sich unterschiedliche Spielarten postmoderner Architektur. Diese kann, ihrer Definition nach, mehrdeutige, ironisch gebrochene historische Anspielungen und Zitate integrieren, die jedoch immer fiktional bleiben – und aus heutiger Sicht ästhetisch zumeist fragwürdig sind.5 Zwar war es Kleihues an einem Wiederanknüpfen an den jeder Stadt und jedem Stadtviertel eigenen Genius loci gelegen, doch führt diese Verpflichtung nicht so weit, dass sich ein Neubau an einem konkreten Vorgängerbau orientieren muss.6 „Kritisch“ bedeutet bei Kleihues keine „reflektierte“ Auseinandersetzung mit einem historischen Bau oder der Aufgabe der Rekonstruktion selbst, wie sie Bruno Fioretti Marquez mit dem Dessauer Direktorenhaus Walter Gropius geleistet hat. Begriff der kritischen Rekonstruktion Kleihues fordert eine Rückbesinnung auf den historisch gewachsenen – vormodernen – Stadtgrundriss. Ziel ist die Rekonstruktion des Stadtraums: Wichtige historische Plätze, Straßenverläufe und Sichtachsen werden meist mittels Blockrandbebauung neu definiert. Die ausführenden Architekten arbeiten in ihren je eigenen Formensprachen. Die kritische Rekonstruktion ist daher in erster Linie ein städtebauliches Konzept. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit in der Fassadengestaltung orientiert sie sich, anders als die in diesem Buch besprochenen Konzepte, nur sehr begrenzt am historischen Bau. Sie rekonstruiert „weniger“ als eine Fassaden­ rekonstruktion, die zumindest Grundriss und Außenbau wiederherstellt. Die kritische Rekonstruktion kann allein dazu führen, dass ein historischer Bau in seinem Volumen wieder erfahrbar wird, sodass sie an der äußeren Grenze des Felds der architektonischen Konzepte der Rekonstruktion zu verorten ist. Pariser Platz, Berlin Eine erneute Betrachtung des Pariser Platzes in Berlin hilft, die Prinzipien der kritischen Rekonstruktion begreiflich zu machen. Dieser wurde nicht während der IBA Berlin – zu diesem Zeitpunkt lag er noch in der Grenzzone zwischen Ost- und Westberlin –, sondern im Zuge der Neuplanungen des 151

Areals unter Senatsbaudirektor Hans Stimmann seit den frühen 1990er-Jahren errichtet. Die Platzanlage ist in historischen Dimensionen wieder fassbar; zugleich bietet sie ein Sammelsurium unterschiedlicher architektonischer Lösungen der Rekonstruktion. Das DZ-Bank-Gebäude (1996–2001) von Frank Gehry und die Akademie der Künste (1993–2005) von Günter Behnisch können als kritische Rekonstruktionen verstanden werden. In ihrer Gestaltung des Außenbaus und Innenraums sind sie zwar unabhängig und dezidiert zeitgenössisch, aber sie übernehmen Grundriss und Bauvolumen der Vorgängerbauten, die wieder erfahrbar werden. Das angrenzende Hotel Adlon (1995–97) von Patzschke, Klotz & Partner wiederum ist in seiner Dreigliederung der Fassade, dem rustizierten Sockelgeschoss etc. eine historistische Rekonstruktion: Auf den ersten Blick scheint es sich um den Bau aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zu handeln, bei eingehendem Studium zeigt er sich als eine „verbesserte“, spezifisch zeitgenössische Variante des historischen Baus am Ende desselben Jahrhunderts. Kleihues’ eigene Projekte, die in Kapitel 4.3 untersuchten Zwillingsbauten Haus Sommer und Haus Liebermann, stellen durch die entschiedene Nähe zu den Vorgängerbauten wiederum eine konzeptuelle Rekonstruktion dar: Sie orientieren sich nicht nur in Grundriss und Volumen, sondern auch in der Fassadengliederung und in formalen Motiven explizit am architektonischen Vorbild von Stüler, verweigern sich jedoch eindeutig einer historisierenden Gesamterscheinung. Das Beispiel der unterschiedlichen Bauten des Pariser Platzes verdeutlicht die Grenze zwischen der kritischen – städtebaulichen – Rekonstruktion und den architektonischen Konzepten der Rekonstruktion.

152

Anmerkungen

1

Die Forderung einer integrierten Ausstellung for­ mulierte Kleihues erstmals mit Wolf Jobst Siedler im Artikel „Modelle für eine Stadt“ in der Berliner ­Morgenpost vom 18. Januar 1977. Der Artikel ist wiederabgedruckt in Kleihues 1984, S. 199–202.

2

Ebd., S. 203.

3

Kleihues 1986, S. 128.

4 Ebd. 5

Lampugnani fasst lapidar zusammen: „Inzwischen haben sich die Spielereien gegeben, und die ­Geschichten, die die Häuser unbedingt erzählen ­wollten, haben ihren Witz eingebüßt.“ Lampugnani 2012, S. 159.

6

Prägend dafür ist Kleihues’ typologische Architekturauffassung, die wesentlich mit seinem Verständnis von Architektur und Stadt zusammenhängt. ­Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihn besitzt dabei Aldo Rossis Theorie der Permanenz, die dieser in L’architettura della città (1966) dargelegt hat. Schon Rossi fordert ein Wiederanknüpfen an die historische Stadt. Die Straßenzüge und ihre, die Zeiten überdauernden Monumente, werden zum Maßstab der zeitgenössischen Stadtplanung. Wenn Kleihues meint, „daß sich im Laufe der europäischen Geschichte Konventionen entwickelt haben, die für die architektonischen und städtebaulichen Kulturen prägend waren“, spielen Rossis Ideen der Typologie der Architektur eine Rolle. Rossi wie Kleihues beziehen sich dabei auf einen Genius loci, der die Architektur einer jeden Stadt auf spezifische Weise prägt. Zitat in Kleihues 1984, S. 202.

153

5

Historische Simulation

Der einflussreiche deutsche Denkmalpfleger Georg Dehio (1850–1932) urteilt, „die Vertreter der Kunstwissenschaft sind heute darin einig, das Restaurieren grundsätzlich zu verwerfen“, und kommt zu seiner berühmten, vielzitierten Devise „nicht restaurieren – wohl aber konservieren“. Dieser Doktrin fügt Dehio hinzu: „Man konserviere, solange es irgend geht, und erst in letzter Not frage man sich, ob man restaurieren will.“1 Dehio schließt also Rekonstruktion nicht per se aus, sondern erkennt eine gewisse Flexibilität in der Praxis an. So hat er bekanntlich den Wiederaufbau der 1906 bei einem Feuer ausgebrannten St. Michaelis Kirche in Hamburg unterstützt. Nicht nur aber soll die Restaurierung ein Ausnahmefall bleiben, auch die Art und Weise – das von Dehio geforderte Konzept – ist der damals üblichen, an Viollet-le-Duc orientierten Haltung entgegengesetzt. Polemisch unterscheidet er: „Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat aber außer seiner echten Tochter, der Denkmalpflege, auch ein illegitimes Kind gezeugt, das Restaurationswesen.“ 2 Die Arbeitsweise des modernen Denkmalpflegers sei geprägt von technischer Fachkenntnis und archäologischem Wissen: „[Jedwede] Künstlerschaft hat zu schweigen. […] Aus der Betrachtung des bisherigen Ganges der Dinge ziehe ich den Schluß: das Gebot ‚konservieren, nicht restaurieren‘ auszuführen ist der Beruf nicht sowohl von Künstlern, als von künstlerisch und technisch gebildeten oder von Künstlern und Technikern unterstützten Archäologen.“3 St. Michaelis in Hamburg wurde aber nicht, wie demnach vermutet werden könnte, archäologisch rekonstruiert. Der Anspruch des Wiederaufbaus war der einer „originalgetreuen“, möglichst identischen Rekonstruktion der ­h istorischen Gestalt.4 Die originalgetreue Rekonstruktion basiert wesentlich auf einer bauarchäologischen Dokumentation und arbeitet technisch, das heißt, explizit nicht baukünstlerisch-schöpferisch. Eine in dieser Weise „perfekt“ ausgeführte Rekonstruktion ist nicht fiktiv, wie es das Ideal der 155

historistischen Rekonstruktion vorgibt: „Mit der systematischen, durch Befunduntersuchungen wissenschaftlich belegbaren Suche nach dem Authentischen, dem ursprünglichen Zustand, formierte sich ein neuer Anspruch für Maßnahmen der Denkmalpflege.“ 5 Die „originalgetreue“ Rekonstruktion stellt die authentische Gestalt eines Baumonuments wieder her. In diesem, und nur in diesem einen Punkt lässt sie sich mit der rituellen Rekonstruktion vergleichen. Letztere, die „Wiederholung der ursprünglichen Gestalt“, gründet jedoch in einem mythischen Kult außerhalb eines historischen Bewusstseins (siehe Kap. E.2). Die „originalgetreue“ Rekonstruktion bedient sich dagegen der wissenschaftlichen Bauaufnahme, um eine ganz konkrete Zeitschicht des Baus wiederaufzubauen: als Rekonstruktion einer historischen Gestalt ist sie nicht mythisch, sondern modern. Was ist historische Substanz: Aura und „Hier-und-Jetzt“ Ist eine originalgetreue Rekonstruktion aber historisch „echt“? Walter Benjamin geht in seinem grundlegenden Text Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36) von einer hypothetischen, zu einem zukünftigen Zeitpunkt erreichten Perfektion der Reproduktion aus, die keine materielle Unterscheidung zwischen Original und Kopie mehr zulässt. Benjamin spricht von „der höchstvollendeten Reproduktion“, die auch „den Bestand des Kunstwerks unangetastet läßt“.6 Ist dann aber eine Unterscheidung zwischen beiden noch möglich? Ja, laut Benjamin liege der Unterschied in der Aura. Eine Reproduktion entbehre des „Hier-und-Jetzt“, der „Echtheit“. „Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache.“7

156

Für Benjamin bedeutet der Verlust der Aura eine „gewaltige Erschütterung des Tradierten“. Was er aber lediglich in einer Fußnote8 zu bedenken gibt, greift Boris Groys auf und folgert daraus, dass die Aura eigentlich „erst dank der modernen Technik des technischen Reproduzierens entsteht, – daß heißt, sie entsteht gerade in dem Moment, in dem sie verloren geht. […] Und das bedeutet, daß der Begriff der Aura – und die Aura selbst – allein der Moderne angehören. Der unsichtbare Unterschied durch die Aura – ein seelischer Unterschied, wenn man so will – wird erst dann nötig, wenn es den körperlichen, materiellen Unterschied nicht mehr gibt.“ 9 Als einer der Ersten hat Marcel Duchamp diese Idee der Aura thematisiert. Seine Erfindung des Ready-Made Anfang des 20. Jahrhunderts hat im musealen Ausstellungskontext die Idee der Echtheit radikal unterwandert. Als in dieser Hinsicht bis heute besonders relevant müssen auch die Arbeiten von Marcel Broodthaers gelten, die immer wieder Themen wie Reproduktion, museale Ausstellung, Kunstwerk, Signatur und Be-Zeichnung umkreisen. Insgesamt wird die Aura in der modernen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist mit Skepsis betrachtet: „Die Aura wird dabei als etwas Überlebtes und eigentlich Falsches verstanden – als leer gewordener Anspruch, der entlarvt und entmystifiziert werden soll.“  1 0 In der Denkmalpflege hingegen besitzt Benjamins Konzept der Aura bis in die jüngste Zeit hinein hohe Autorität, erklärt sie doch theoretisch überzeugend die Notwendigkeit denkmalpflegerischer Erhaltung.11 Letztlich stellt die „­originalgetreue“ Rekonstruktion aber genau jenes Prinzip der Aura radikal infrage, produziert sie doch gerade einen historisch nicht „echten“ Bau. Sie unterwandert damit scheinbar die geschichtliche Zeugenschaft und die Autorität der Sache: die Denkmalwerte. Dieser These geht das folgende Kapitel nach. Um den problematischen Begriff der „originalgetreuen“ Rekonstruktion zu vermeiden, fasst die Arbeit das Konzept als simulierende Rekonstruktion beziehungsweise historische Simulation. Daher soll zunächst der Begriff Simulation kurz näher bestimmt werden.

157

5.1

J  ean Baudrillard: Agonie des Realen (1978) und Simulation (1988)

Der französische Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard (1929–2007) diagnostiziert in Agonie des Realen (1978) eine Abkehr von der Repräsentation der Wirklichkeit. Diese werde durch die Simulation des Realen ersetzt, die einer Liquidierung aller Referenziale gleichkomme. Jeder Referent könne in verschiedenen Zeichensystemen künstlich wiederauferstehen. Der Signifikant verweist nach Baudrillard also nicht mehr auf ein Signifikat (im Sinne Ferdinand de Saussures), sondern nur noch auf weitere Signifikanten. „Es geht nicht mehr um die Imitation, um die Verdoppelung oder um die Parodie. Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen.“ 12 Während die Repräsentation das Prinzip der Äquivalenz von Zeichen und Realen unangetastet lasse, sei die Differenz zwischen „Realem“ und „Imaginärem“ – und damit das Realitätsprinzip – mit der Simulation aufgehoben: Im „Hyperrealen“ habe die Wirklichkeitsproduktion die Wirklichkeit verdrängt. In Simulation (1988) fasst Baudrillard diese Gedanken zum Realen und Hyperrealen noch einmal zusammen. Das Reale definiert sich für ihn als „das, wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann. Sie entsteht zur gleichen Zeit wie die Wissenschaft, die postuliert, daß ein Vorgang unter gegebenen Bedingungen exakt reproduziert werden kann, und wie die indus­ trielle Rationalität, die ein universelles System von Äquivalenzen postuliert (die klassische Repräsentation ist keine Äquivalenz, sie ist Transkription, Interpretation, Kommentar).“ 13 Am Ende dieses Prozesses der Reproduzierbarkeit steht für ihn das Hyperreale, „das, was immer schon reproduziert ist“. Das Ende des Realen sei also nicht mit dem Ende der Kunst gleichzusetzen, denn in der Hyperrealität würden die Phänomene des Realen durch Zeichen der Phänomene ersetzt. Es ist diese „Euphorie der Simulation, die Ursache und Wirkung, Ursprung und Ziel aufheben und durch die Verdoppelung ersetzen will“. 14 Übertragen auf den Kontext dieser Studie: Eine „originalgetreue“ Rekon­ struktion ist für Baudrillard die hyperreale Version des historischen Baus – eine Simulation. Wo der historische und der rekonstruierte Bau deckungs158

gleich werden, tue sich ein Abgrund auf, der beunruhigend sei. Diese Kon­ gruenz bedeutet, in der Terminologie Baudrillards gesprochen, eine Agonie der Geschichte, ein Verlust von „Realem“ und historischer Authentizität als Prinzip. In diesem Sinne argumentieren auch Denkmalpfleger. „‚Rekonstruktion zerstört‘ die vielschichtige Wirkung der Denkmäler, seine Werte, weil es das potentielle Gegenüber des Denkmals […] mit dem vordergründigen Erfolg einer Rekonstruktion davon abbringt, sich dem Denkmal in seiner ganzen Wirklichkeit zu widmen. […] Rekonstruktion aus dem Nichts produziert also am Ort der Baustelle nicht nur kein Denkmal, sondern stiftet […] generell eine Bereitschaft zu oberflächlicher Pseudodenkmalproduktion.“ 15 Auch Johannes Habich meint: „Rekonstruktionen aus dem Nichts sind Denkmal-Simulationen. Man mag ihnen einen oberflächlichen Erinnerungswert beimessen, der jedoch kein Ersatz für den verlorenen vielschichtigen Denkmalwert sein kann. Wenn sie, wie es gegenwärtig scheint, nicht verhindert werden können, dann muß um so entschiedener Widerstand dagegen geleistet werden, daß mit ihnen ein neues Denkmalverständnis durchgesetzt wird, in dem sich die (verwertungsresistente) materielle Denkmalexistenz als etwas Verzichtbares der reproduzierbaren bildhaften Oberflächenwirkung der Denkmale als des vermeintlich eigentlichen Denkmalwertes unterordnet.“16 Gemeint ist hier: Sobald das Prinzip der materiellen Authentizität aus der Wahrnehmung der Gesellschaft verschwunden ist – sobald ein Denkmal und seine Rekonstruktion in der Wahrnehmung nicht mehr unterschieden werden –, sei die Einmaligkeit des Denkmals und damit auch der Denkmalschutz selbst infrage gestellt. Eine Simulation („aus dem Nichts“) zerstöre nicht ein konkretes Denkmal – welches in seiner materiellen Substanz schon zerstört ist –, sondern das Denkmal an sich. Eine simulierende Rekonstruktion bedeute zugleich den Untergang der traditionellen Denkmalwerte und der Prinzipien der Denkmalpflege. „Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, […] wird [es] zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin, Fetischismus des verlorenen Objekts – nicht mehr Objekt der 159

Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal.“ 17 Angesichts dieser „Agonie des Denkmals“, des Niedergangs der Denkmalwerte, muss der Denkmalpfleger laut Habich Widerstand leisten. Baudrillards Begriff des „Realen“ lässt sich indessen in gewisser Weise mit der „Aura“ Benjamins vergleichen. Deshalb kann, den Gedanken von Groys aufgreifend, gefolgert werden, dass bei Baudrillard die Realität erst im Moment ihres Verlustes, im Hyperrealen, überhaupt fassbar wird. Diese Parallelität lässt sich weiterführen: Auf den zweiten Blick ist die Simulationstheorie von Baudrillard – anders als sein teilweise literarischer, nicht selten iro­n ischer, scheinbar subversiver Stil annehmen lässt – eine klassische geschichtsphilosophische Erzählung, die, sich über Stufen entwickelnd, auf ein apo­k alyp­t isches Ende hinausläuft. Baudrillard konstruiert hier einen umfassenden – spezifisch defätistischen – Entwicklungsverlauf des Realen. Ein in sich logisches Gedankenkonstrukt von nicht zu unterschätzender Anziehungskraft. Die „originalgetreue“ Rekonstruktion in dieser Arbeit trotzdem als historische Simulation zu bezeichnen soll den Begriff gewissermaßen als „Befreiung“ vom Original verstehen. Es ist Baudrillards Idee, dass die Simulation nicht mehr auf etwas historisch „Reales“, sondern nur noch auf sich selbst verweise, die im Kontext der Arbeit brauchbar wird: Inwiefern zeichnet sich in der Simulation eine Überwindung traditioneller, im europäischen Denken des 19. Jahrhunderts verwurzelter Authentizitätsvorstellungen ab? Derlei Fragestellungen begleiten die im Folgenden untersuchten Baubeispiele. Zuvor aber noch eine weitere Annäherung an den Begriff der Simulation. Eine Simulation ist das, was Pierre Menard, Autor des Quijote versuchte, von dem uns Jorge Luis Borges in der gleichnamigen Erzählung von 1939 berichtet. Menard „beschloß, der Vergeblichkeit, die aller Bemühungen des Menschen harrt, zuvorzukommen; er machte sich an ein äußerst kompliziertes und von vornherein belangloses Unternehmen“, nämlich daran, den Don Quijote weder zu transkribieren (zu kopieren) noch durch Einfühlung in Cervan­ tes („gründlich Spanisch lernen, den katholischen Glauben wiedererlangen, 160

gegen die Mauren oder den Türken kämpfen, die Geschichte Europas zwischen 1602 und 1918 vergessen“) auf ihn zu kommen – was Borges zufolge zu einfach wäre –, sondern ihn als moderner Menard in vollkommener Übereinstimmung neu zu schreiben, ja, ihn, wie der Autor explizit formuliert, zu „rekonstruieren“. Der Text von Cervantes und der Text von Menard sind also Wort für Wort identisch, aber – so zeigt uns Borges prägnant – „der zweite ist nahezu unendlich viel reicher. (Zweideutiger, werden seine Verlästerer sagen; aber die Zweideutigkeit ist ein Reichtum.)“ 18 Der argentinische Schriftsteller kommt in seiner ausgesprochen positiven Bewertung dieses „unsichtbaren Werks“ – welches das Prinzip der Simulation verkörpert – zum erstaunlichen Schluss: „Menard hat (vielleicht ohne es zu wollen) durch eine neue Technik die abgestandene und rudimentäre Kunst des Lesens bereichert: die Technik des vorsätzlichen Anachronismus und der irrtümlichen Zuschreibungen.“ 19 Borges Kurzgeschichte darf als eine anspruchsvolle kunsttheoretische Reflexion über das Phänomen der Simulation gelesen werden.

5.2

Theo Kellner: Goethehaus, Frankfurt a. M. (1947–51) Bauzeit: 1755 / 1863 / 1926 Architekt der Rekonstruktion: Theo Kellner Auftraggeber: Freies Deutsches Hochstift Rekonstruktionsphase: 1947–51 Grundfläche: 230 m²

Als erstes Baubeispiel für die in diesem Kapitel behandelte simulierende Rekonstruktion dient das Frankfurter Goethehaus. Die Ende der 1940er-Jahre hitzig geführte Debatte, ob ein Wiederaufbau zulässig sei, wurde für die kommenden Jahrzehnte – insbesondere in der Bundesrepublik – prägend: Hier etabliert sich beispielhaft die im Nachkriegsdeutschland wirkende Idee der Rekonstruktion als „Geschichtsfälschung“. Die Argumente der Rekonstruk­ tionsgegner und -befürworter sollen im Folgenden analysiert werden.

161

Baugeschichte des Goethehauses Das Haus am Großen Hirschgraben war seit zwei Generationen im Besitz der Familie Goethe, als Johann Wolfgang dort 1749 zur Welt kam. Die Frontfassade zeigte sich damals als dreistöckiger Fachwerkbau mit traufseitigem Satteldach, schmalen Gauben und einem Zwerchhaus mit geschweiftem Giebel in einer für das Frankfurter Bürgerhaus typischen Mischung aus spätgotischen und frühbarocken Architekturelementen.20 Sein Vater Johann Caspar Goethe ließ es 1755 gänzlich umbauen. Der Außenbau erhielt zurückhaltende dekorative Ausschmückung, das zweigeschossige Zwerchhaus mit Lisenen­ gliederung wurde das dominierende Element der Dachlandschaft. Das Innere mit dem aufwendig gestalteten Treppenhaus, den stuckierten Räumen der Bel­ etage und den neuen, vierflügligen Fenstern war „durchaus hell und heiter“, wie Goethe in seinem autobiografischen Text Dichtung und Wahrheit (1811) bemerkte.21 Nach dem Tod des Vaters verkaufte Goethes Mutter das Haus 1795 mitsamt Inneneinrichtung. 1863 – das Haus hatte noch zwei weitere Male den Besitzer gewechselt und war wiederum umgestaltet worden – erwarb es der Geologe Otto Volger, um es als „Goethe’s Vaterhaus“ zum Sitz seines kürzlich gegründeten Freien Deutschen Hochstifts für Wissenschaft, Künste und allgemeine Bildung zu machen. In dem Vorhaben, das Haus „durch Wiederherstellung seiner geschichtlich merkwürdigen Räumlichkeiten zu einem bleibenden Denkmal für den großen Dichter […] zu weihen“ 22, wurde es außen und innen in einen hypothetischen historischen Zustand „zurückgebaut“. Dichtung und Wahrheit diente dafür als eine der grundlegenden Quellen. Da aber die Bereiche des Hochstifts (Bibliothek, Sammlung) erst 1897 in einem Anbau ausgegliedert wurden, war das Haus erst ab 1926 gänzlich wieder in seinem erdichteten „Urzustand“ der Zeit nach 1755 zu bewundern. Rekonstruktion des Goethehauses von Theo Kellner Am 22. März 1944 wurde das Haus durch Bombentreffer bis auf das Sockelgeschoss zerstört. Nach dem Krieg kam der Wunsch auf, es bis zu den Feierlichkeiten für Goethes 200. Geburtstag 1949 wiederaufzubauen. Rekonstruiert werden sollte nicht ein die historistischen Umgestaltungen zurückbauendes, 162

vermeintlich ursprüngliches Gebäude, wie es sich in historischen Plänen überlieferte, sondern der Vorkriegszustand. Dieser war allerdings exzeptionell gut dokumentiert: Nicht nur waren die Bücher, Kunstwerke und das gesamte Mobiliar schon vor der Zerstörung entfernt und damit gerettet, auch Pläne und Maße, Fotografien der stuckierten Decken, aus der Wand geschnittene Musterstücke der Tapeten und sogar ganze Bauteile (gusseiserne Fenstergitter, Zimmertüren etc.) waren vorhanden.23 Die Bauleitung übernahm der Maler und Architekt Theo Kellner (1899–1969), Schüler von Lyonel Feininger und Hans Poelzig, der nach dem Zweiten Weltkrieg für eine ganze Reihe von Wiederaufbauten in Frankfurt verantwortlich zeichnet. Konstruktiv kam die ursprüngliche Fachwerk-Bauweise zur Anwendung, nun allerdings auch mit Stahlträgern. Erhaltene Bausubstanz, vor allem im Erdgeschoss, wurde wiederverwendet. Die Simulation des Goethehauses ist also eine Teilrekonstruktion. Historisches und rekonstruiertes Material sind visuell jedoch nicht zu unterscheiden. Simulation als Symbol Georg Hartmann, der damalige Vorsitzende des Freien Deutschen Hochstifts, erklärte im Rahmen der Einweihungsrede: „Wenn es einen Ort in Deutschland gibt, der als Stätte wahrer Humanität Verehrung verdient, so ist es der Boden, auf dem wir stehen. […] Wir sagen ja nicht, daß dieses Haus dasjenige sei, in dem Goethe geboren worden ist. Wenn es auch nur zum Teil […] die alten Steine sind, so sind es doch überall die alten Formen und Farben, ist es überall die alte Harmonie der Maße.“ 24 Die Maße, Formen und Farben – die Gestalt eines Baus – begründen aber kein Denkmal; ein Denkmal ist an seine einmalige materielle Substanz gebunden. Als Neubau kann eine simulierende Rekonstruktion weder einen historischen Wert noch einen „relativen Kunstwert“ im Sinne Alois Riegls besitzen (siehe Kap. 2.1). Sie widerspricht aber nicht nur dem Prinzip des „Kunstwollens“. Problematisch ist, dass die Gestalt eigentlich keinen „Neuheitswert“ beanspruchen kann. Eine Simulation besitzt also keinen einzigen kunst- und historischen Denkmalwert: Die moderne Definition des Denkmals wird gesprengt.

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Hartmann urteilt allerdings, dass es „Bauwerke [gibt], die mehr sind als Bauwerke, nämlich bedeutungsvolle und weihevolle Zeichen“.25 Ein Bau könne nicht allein über die zuvor genannten Werte erfasst werden, er besitze weiterhin einen symbolischen Wert. Dass einem Denkmal ein symbolischer Wert eingeschrieben sei, formuliert zuerst der große rheinische Provinzialkonservator Paul Clemen (1866–1947).26 Er argumentiert gegen eine Reduktion des Denkmals auf seine kunst- und historischen Werte. Er schreibt – anders als Ruskin – nicht den „Steinen“, sondern dem „Gewand“ zu, Träger der „Seele“ eines Denkmals zu sein.27 Der symbolische Wert liege demnach nicht in der Bausubstanz, sondern in der Gestalt. Für Clemen ist er sogar der wesentliche Wert, die Seele: Baumonumente seien „sprechende Träger der alten und ewig sich erneuernden Symbolik […], weil in ihnen die auch auf die breiteste Volksmasse am stärksten wirkende sichtbare Verkörperung der Seele eines ganzen Stammes, eines Stadtbildes gegeben ist“.28 Die Gestalt stiftet, wie wir heute sachlicher formulieren können, Identität. Hartmann begreift den symbolischen Wert dabei nicht rückwärtsgewandt: „So haben wir das Haus wieder aufgebaut als Symbol der Eintracht der Völker, als Symbol des Friedens.“ 29 Die Rekonstruktion der Gestalt sei demnach keineswegs wertlos. Simulation als Fälschung von Geschichte Für Kritiker verknüpft sich mit der Rekonstruktion jedoch eine Schicksalsfrage. Eine „täuschende Echtheit“ sei, wie Walter Dirks in seinem eindringlichen und berühmten Plädoyer Mut zum Abschied (1947) bemerkt, zwar möglich, habe „bei einer Betätigung im Großen freilich immer etwas Zweideutiges […], wegen der innigen Beziehung zur Täuschung, zur Fälschung, zur Lüge […]. Das Ergebnis: der endgültige Verlust des Goethehauses, der geistige Verlust, die Verfälschung des letzten, was in Wahrheit noch davon geblieben ist: der an den Ort gebundenen Erinnerung.“ Worauf gründet sich dieses Urteil? „Das Wesen der echten Reliquie haftet an der wirklichen, materiellen Identität der Gegenstände.“ Allein ein Bruchteil originaler Substanz sei immer Ehrfurcht einflößender als die perfekteste Kopie. Zwar erkennt er an: „Lehrreicher ist das Modell“, aber „das ‚Numinose‘ haftet am authentischen Überrest“. Eine simulierende Rekonstruktion bewirkt für Dirks also das Folgende: 164

„Dieses Modell […] wird an der echten Stätte gerade dadurch, daß es ein Modell jenes Hauses ist, jenes Haus eben nicht sein, ja in einer besonders nachdrücklichen Weise nicht sein.“ 30 Auch der Architekt Otto Bartning macht in seinem Artikel Entscheidung zwischen Wahrheit und Lüge (1948) schon im Titel deutlich, worauf seine Argumentation abzielt: Der Wert, der „den echten Dingen selbst innewohnt“, und die „wahrhaftige Atmosphäre der Räume“ waren die Gründe, das Goethehaus zu besuchen. Der Wiederaufbau aber würde zu einem „Pseudo-Goethehaus“ führen, „in dem man nicht mehr unterscheiden könnte, was echt und was ‚echt-imitiert‘ ist, in dem man nicht mehr wüßte, ob man Dinge berührt, die auch Goethes Hand berührt hat, oder ob es die täuschend ähnliche Kopie ist“.31 Bartning unterschlägt hier, dass das Haus zwischen dem Auszug Goe­ thes und seiner Zerstörung schon mehrfach umgebaut und im historistischen Sinne „restauriert“ und reinszeniert worden war. Bei beiden Kritikern ist letztlich interessant, wie sehr die Bausubstanz als „wahr“, als „heilig“ angesehen und dabei explizit mit einer Reliquie verglichen wird. Die authentische Bausubstanz wird zur „Offenbarung“ der Historie stilisiert. Was aber macht die Rekonstruktion der Gestalt eigentlich zur „Fälschung“? Die Vernichtung des Hauses sei Folge der Abkehr „vom Geiste Goethes“, sodass „diese Aufspaltung des deutschen Wesens […], dieser hochmütige und schwäch­l iche Verrat der Geistigen an der ‚Welt‘, unmittelbar zu dem geführt hat, was über uns gekommen ist“. Da jener für Dirks aber schon in Goethe angelegt war, hatte es „seine bittere Logik, daß das Goethehaus in Trümmer sank“. Eine Rekonstruktion würde im Angesicht deutscher Schuld so tun, „als wenn nichts geschehen wäre“. Seiner Meinung nach ist nur eines „angemessen und groß: den Spruch der Geschichte anzunehmen, er ist endgültig“.32 Für Dirks ist die Ablehnung der Rekonstruktion eine praktizierte „Moralisierung des Verzichts als Leistung und Sühne“.33 Mit dem Postulat einer sich über die Jahrhunderte erstreckenden historischen Notwendigkeit der Zerstörung – der von Hegel beschworenen „List der Vernunft“ – folgt er dabei einer streng geschichtsphilosophischen Argumentation. Daraus leitet sich auch seine Schlussfolgerung ab: „Wer überhaupt verantwortlich über das zukünftige deutsche Bauen nachdenkt, verwirft […] jenes verräterische Wort 165

‚Wiederaufbau‘ und erstrebt einen Neuaufbau aus dem sachlichen, klaren, dienenden Geiste der neuen Architektur: eine Art zu bauen, die ‚funktionsgerecht‘, sachgerecht, materialgerecht, bescheiden und ehrlich ist.“ 34 Diese viel zitierte „Ehrlichkeit“ modernistischer Architektur ist nach Ernst Gombrich mit der geschichtsphilosophischen Denktradition untrennbar ver­ bunden.35 Versteht sich ihr Verlauf zielgerichtet, muss die (Architektur-)Geschichte notwendigerweise in die Zukunft streben. Was die Gegenwart auch schaffen mag, „es muß etwas Neues sein. So wird das Alte von selbst abgewertet, während das bisher unbekannte, unerprobte wenigstens die Möglichkeit in sich schließt, den Keim der Zukunft in sich zu tragen.“ 36 Letztlich operieren aber auch die von Riegl erfassten Denkmalwerte in einer derartigen Dialektik. Gombrich hat Hegels Wirkmacht auf die nachfolgenden Generationen von Kunsthistorikern – nicht zuletzt Alois Riegl – eindringlich dargelegt.37 Für Riegl ist der Neuheitswert, wie dargelegt, eine „ästhetische[] Großmacht“.38 Er ist insofern als Imperativ formuliert, als er für die Entstehung zukünftiger Denkmale Sorge zu tragen hat. Die ­moderne Denkmalpflege baut mit ihren Denkmalwerten auf einem geschichtsphilosophischen Fundament auf. Vor diesem Hintergrund wird ein Wiederaufbau zum „Verrat“. Was in dieser Zuspitzung auf den in zeitgemäßer Architektur verorteten Neuheitswert unbemerkt bleiben muss, ist, dass die simulierende Rekon­struktion ja ein dezidiert modernes Phänomen ist. Streng genommen ist eine S ­ imulation also keine Fälschung von „Geschichte“, sondern von einer spe­zifischen, geschichtsphilosophisch vorgeprägten Konstruktion von Geschichte. Eine Simulation besitzt aber keine Denkmalwerte und kann deshalb nicht als Denkmal im modernen Sinne definiert werden. Wie lässt sich das rekonstruierte Goethehaus – als ein offensichtlich physisch existierendes Baumonument – dann begrifflich fassen? Für den Denkmalpfleger Tilmann Breuer ist es die „Wiederbezeichnung eines Denkmalortes“.39 Dieser Assoziation der „Bezeichnung“ soll im folgenden Baubeispiel nachgegangen werden.

166

5.3 C. Cirici, F. Ramos, I. de Solà-Morales Rubió: Barcelona-Pavillon, Barcelona (1983–86) Architekt: Ludwig Mies van der Rohe Bauzeit: 1928–29 Architekten der Rekonstruktion: Cristian Cirici, Fernando Ramos und Ignasi de Solà-Morales Rubió Auftraggeber: Fundació Mies van der Rohe Rekonstruktionsphase: 1983–86 Grundfläche: 1026 m² Kosten: 1 500 000 USD Der heute zu besichtigende Barcelona-Pavillon ist eine Totalrekonstruktion, die über ein halbes Jahrhundert nach dessen Abriss erfolgte. Da er nicht im Krieg zerstört wurde und die Rekonstruktion eine spanische Initiative war, ist die im vorangegangenen Abschnitt beschriebene, in Deutschland geführte moralische Debatte für das Projekt kaum von Bedeutung. Ziel war es, eine Meisterleistung moderner Baukunst und eine herausragende ästhetische Raumwirkung wieder erfahrbar zu machen. Barcelona-Pavillon von Ludwig Mies van der Rohe Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) entwarf den Pavillon als deutschen Beitrag für die Weltausstellung in Barcelona 1929. Mies’ Frage „For what purpose? What is a pavilion?“ und die darauf erhaltene Antwort „We don’t know – just build a pavilion, but not to much glass!“ sind nicht nur Gegenstand einer Anekdote, sondern stellten den Architekten, wie Wolf Tegethoff anmerkt, vor ein grundsätzliches Problem: Wo lediglich die vage Vorstellung eines nationalen „Repräsentationsraums“ das Planungskonzept bestimmte, konnte von einer immer wieder betonten funktionalen Rückbindung der Architektur keine Rede sein.40 In der Tat ist der Barcelona-Pavillon, von der funktionalistischen Doktrin weitestgehend unabhängig, im Sinne Mies van der Rohes als „Baukunst“ und „räumlicher Ausdruck geistiger Entscheidungen“ zu verstehen.41

167

Abb. 35: Barcelona ­Pavillon, Grundriss

MIES VAN DER ROHE - BARCELONA 1929

Mies wählte den aus der Achse zum Nationalpalast verschobenen Standort auf dem Montjuïc selbst aus und stimmte den Pavillon in seinen Dimensionen mit der gegebenen Topografie, einem ungefähr halbkreisförmigen Grundstück, das nach Osten zum großen Platz an einer geraden Straße abschließt, ab (Abb. 35) .42

Die gesamte Anlage wurde im rechten Winkel ausgeführt. Auf einem

mit Travertinstein verkleideten Unterbau befand sich im Süden ein großes Bassin mit Seerosen, im nördlichen Bereich stand der zentrale Baukörper. Dieser war an drei Seiten durch Wände vom Außen abgeschieden; der Besucher trat von Süden ein. Insgesamt sieben nicht tragende Wandelemente gliederten den asymmetrischen, offenen Raumgrundriss. Die Wandscheiben bestanden aus farbig getöntem Glas, römischem Travertin, Vert Antique Marmor aus den Alpen, Marmor von der griechischen Insel Tinos und Onyx Doré aus Algerien. Das Dach wurde von einem zweireihigen Raster aus acht kreuzförmigen, verchromten Stahlstützen getragen. Im Norden fand sich ein schmales, nicht überdachtes Wasserbecken, in dem sich über dem unergründlichen, dunklen Grün des Tinosmarmors die Skulptur Der Morgen von Georg Kolbe spiegelte. Da der Aufbau unter empfindlichem Zeitdruck stattfand und von Budget­ kürzungen begleitet war, wurden spontane Planänderungen notwendig, die 168

Abb. 36: Barcelona ­Pavillon, ­Fotografie von Sasha Stone

teilweise direkt auf der Baustelle beschlossen wurden. So musste beispielsweise der Unterbau angepasst und verkleinert werden; die äußeren Umfassungsmauern im Norden und Osten, die von Buschwerk umgrenzt waren, wurden aus Ziegeln errichtet, verputzt und dergestalt angestrichen, dass sie dem eigentlich intendierten Material Stein ähnlich sahen. Trotz der Widrigkeiten konnte der Deutsche Pavillon von König Alfonso XIII. und Königin ­Victoria Eugenia von Spanien pünktlich am 26. Mai 1929 eröffnet werden. Im Januar 1930 wurde er demontiert und die einzelnen Bauteile auf ihren Materialwert reduziert. Seitdem waren es in erster Linie die von Mies freigegebenen Fotografien von Sasha Stone (Abb. 36), die die Rezeption des Baus für Generationen von Architekten prägen sollten und „der Legendenbildung kräftig Vorschub“ leisteten.43 Die Rekonstruktion des Barcelona-Pavillons von C. Cirici, F. Ramos und I. de Solà-Morales Rubió Schon in den 1950er-Jahren kam die Idee einer Rekonstruktion des Pavillons auf. Der in Barcelona geborene Architekt Oriol Bohigas schrieb Mies 1957 diesbezüglich einen Brief nach Chicago. Mies war von der Idee angetan und bot persönliche Unterstützung bei der Realisierung an.44 Aber erst 1980, als 169

Bohigas die Leitung der Abteilung Stadtplanung übernahm, konkretisierte sich das Projekt. Drei Jahre später verabschiedete es die Stadt unter Feder­ führung des Architektentrios Cristian Cirici, Fernando Ramos und Ignasi de Solà-Morales Rubió. Nach intensiven Studien der damaligen Planungsphasen und der Fotografien kam man zur Einsicht, dass es den „einen“ Pavillon nicht gab. Vielmehr zeigten sich deutliche Unstimmigkeiten zwischen den Plänen und dem auf Fotografien nachvollziehbaren ausgeführten Bau. Wie der Pavillon am Ende tatsächlich aussah, konnte im Detail nicht gänzlich nachvollzogen ­werden. Zudem kam die Frage auf: Wäre es sinnvoll, den Bau so wiederaufzubauen, wie Mies durch Budgetkürzungen und Zeitdruck gezwungen war – zum Beispiel mit den das edle Material nur vortäuschenden äußeren Ziegelmauern –, oder müsste eine Rekonstruktion nicht der intendierten Idee folgen und soliden Stein verwenden? Man entschied sich für Letzteres. Argument war nicht zuletzt, dass der Pavillon von Mies von Anfang an als „Demonstration“ gedacht war. Diesen Gedanken weitergedacht, ist im Barcelona-Pavillon als Konzept(-Kunst), als Aufführung einer Idee, der klassische Werkbegriff schon in Auflösung begriffen.45 Zudem war der Pavillon damals temporär angelegt. Nun galt es, ein dauerhaftes Gebäude zu errichten, das Temperaturschwankungen und der Witterung standhalten konnte. Man wählte deshalb statt der verchromten halt­barere hochglanzpolierte Edelstahlstützen. Auch das Dach, in seiner Form identisch, ist in beständigerem Material errichtet. Zudem musste der Unterbau effektiver entwässert werden, weshalb, für den Besucher nicht sichtbar, zwischen Betonkonstruktion und dem darüberliegenden Travertinpflaster ein Drainagesystem eingezogen wurde. Darüber hinaus galt es, die Sicherheit zu gewährleisten, die innerhalb des überwachten Geländes der Weltausstellung keine vordringliche Rolle gespielt hatte. Hier griff man auf Entwürfe von Mies zurück, die in der Sammlung im Museum of Modern Art, New York, aufbewahrt sind. Darin wurden herausnehmbare Türen erkennbar, die auf keiner Fotografie abgebildet sind. Letztlich blieben auch die verwendeten Materialien nur eine möglichst ­genaue Annäherung an den historischen Bau. Sandgestrahlte Farbfenster 170

Abb. 37: Der rekonstruierte Barcelona Pavillon

wurden nach den damaligen Fertigungsmethoden nicht mehr produziert, stattdessen verwendete man getönte, semitransparente Varianten.46 Die Glasscheiben dürften früher einen tendenziell geschlosseneren Raumeindruck erweckt haben. Auch bei der reichen Palette an Marmor konnte die jeweils identische Farbe und Äderung natürlich nicht wieder erreicht werden; trotzdem wurde diesem Aspekt ein hoher Stellenwert zugesprochen. Um möglichst ähnliche Steine zu finden, wurde die Fertigstellung sogar um ein Jahr verschoben.47 1986, zum 100. Geburtstag Mies van der Rohes, konnte der neu erbaute Barcelona-Pavillon eröffnet werden (Abb. 37) . Simulation als Ausstellung Für Dietrich Neumann begann damit ein „neues Kapitel in der Rezeption des Pavillons“.48 Der Architekt Paul Rudolph empfand ihn geradezu als Offenbarung für das Verständnis von Mies’ Arbeit: „I made a few sketches that are meant to illustrate the impact of the actual building […], which is very different from drawings, photos, etc. The Barcelona Pavilion is religious in its nature and is primarily a spatial experience. […] One is drawn by the sequence 171

of space through it. Multiple reflections of the twentieth century modify the architecture of light and unprecedented in architecture and the greatest of all of Mies’ buildings.“ 49 Tegethoff kommentiert, „der irreale Effekt der einander ablösenden Raumeindrücke wird durch die unterschiedliche Transparenz der getönten Glaswände, die zusätzlichen Spiegelungen auf den auf Hochglanz polierten Marmorflächen und die durch die verchromten Rahmen und Stützen­ ummantelungen erzeugten Lichtreflexe zusätzlich gesteigert. Der von einem Teil der zeitgenössischen Kommentatoren beschworene Aspekt der Klarheit, Schlichtheit, gar Nüchternheit bedarf somit einer deutlichen Relativierung.“ 50 Robert Evans dagegen nimmt in den Spiegelungen von Mies bewusst konzipierte Symmetrien wahr, die der Architekt wie ein „trojanisches Pferd“ in den asymmetrischen Aufbau des Pavillons „eingeschmuggelt“ habe.51 Rosalind Krauss greift diesen Gedanken von Evans auf und bemerkt, nicht ohne ironischem Unterton: „I came across the politically correct Mies, the poststructuralist Mies, almost, we could say, the postmodernist Mies.“ Hinter der für den International Style charakteristischen Logik von Grund- und Aufriss werde ein neuer Bau sichtbar, „a structure committed to illusionism, with every ­material assuming, chameleon-like, the attributes of something not itself – col­ umns dissolving into bars of light, or glass walls becoming opaque and marble ones appearing transparent due to their reflectivity – but even more importantly, with a mysteriousness built into the plan such that the building is […] in fact experienced as a labyrinth“.52 Diesen Kritikern ermöglicht die ­simulierte Raumerfahrung tatsächlich einen neuen Rezeptionsstandpunkt. Für Neumann bestätigt dies die Erkenntnis, „dass nicht nur jedes Kunstwerk, jeder Bau vom Kontext seiner Zeit geprägt wird, sondern auch seine kritische Rezeption von den Zeitumständen abhängt“.53 Eine kritische Hommage gewährt Rem Koolhaas, der den Pavillon auf der Triennale di Milano 1986 als Projektion „gebogen“ ausstellt. Koolhaas argumentiert „in the higher name of authenticity“ und fragt im Angesicht der zur gleichen Zeit entstandenen Rekonstruktion: „How fundamentally did it differ from Disney?“ 54 Diesen Gedanken aufgreifend, kann man bei der Rekon­ struktion des Barcelona-Pavillons von einer Ausstellung der Moderne „als Taschenausgabe“ im Sinne Colin Rowes sprechen. Rowe bezeichnet zusammen 172

mit Fred Koetter in Collage City 55 (1978) die „Stadt als Gerüst für Ausstellung und ­Demonstration“. Das Gerüst ist die „simulierte Notwendigkeit“ der Utopie, die Ausstellung ist der freie Rückgriff auf die Traditionen der Architektur­ geschichte. Ein Beispiel einer übermäßigen Betonung des Gerüsts (der Struktur) sei Le Corbusiers Plan Voisin; die übermäßige Betonung der Ausstellung (des Ereignisses) sei in Disney World oder der neuromantischen amerikanischen Vorstadt verkörpert, in der nichts mehr zusammenpasst.56 Die Collage City ist der radikale postmoderne Versuch, ein (maßgeblich auf Claude Lévi-Strauss zurückzuführendes) „prekäres Gleichgewicht“ zwischen beiden zu erreichen, eine die Stadt bereichernde Dialektik. Sie betrachtet die modernen Phänomene von „Utopie“ und „Disney“, von „Neukonstruktion“ und „Rekonstruktion“ gleichermaßen als notwendig. Colin Rowe und Fred Koetter sprechen damit aus städtebaulicher Perspektive dem Innovationswillen moderner Architektur dieselbe Berechtigung zu wie Simulationen. Im Zusammenhang mit dem Gedanken der Ausstellung soll kurz auf das Projekt Mies 1: 1 eingegangen werden. Ausgangsidee war hier die Ausstellung ­eines von Mies van der Rohe 1930 entworfenen, nie realisierten Golfclubs in Krefeld,57 die 2013 in ein „begehbares Architekturmodell“ an Ort und Stelle mündete. Wie beim Barcelona-Pavillon zeigten sich bald Uneinheitlichkeiten in Mies’ Plänen und Zeichnungen, mit denen sich Robbrecht en Daem Architekten gestalterisch auseinandersetzten. Entstanden ist schließlich ein Bau in seinen geplanten Dimensionen, der sich aber bewusst von „der anhaltenden Rekonstruktionsmode […] distanzieren“ 58 wollte und deshalb nicht in den von Mies vorgesehenen, sondern in einfachen Materialien – überwiegend Sperrholz – errichtet wurde und vor allem den Raum erfahrbar machen sollte. Paul Robbrecht gesteht: „Es war ein intellektuelles Vergnügen, im Kopf Mies van der Rohes herumzulaufen. Jetzt ist es ein physisches und emotionales Vergnügen und auch ein kleines Wunder, dass wir in den Räumen von Mies herumlaufen.“ 59 Während das Golfclub-Projekt aber einen repräsentierenden „Modellcharakter“ besitzt, gilt dies für den Barcelona-Pavillon nur bedingt. Eine Simulation sollte streng genommen nicht mit einem (Architektur-)Modell gleichgesetzt 173

werden. Sie ist „radikaler“ als ein Modell, denn sie abstrahiert nicht. Sie versucht, sich dem Vorgängerbau möglichst genau anzunähern. Diese Annäherung ist nicht gänzlich wert- und bedeutungslos, denn das im rekonstruierten Pavillon vielbeachtete Spiel der Oberflächenspiegelungen beispielsweise wäre bei der Verwendung von Sperrholz nicht nachvollziehbar geworden. Die Simulation ist die maximal erreichbare formale Annäherung. Aber selbst in einer hypothetisch erreichbaren Perfektion könnte die Simulation niemals zum „Original“ werden. Diese Einsicht führt Borges anhand des Don Quijote von Pierre Menard vor. Auch in ihrer „Vollendung“ vollzieht sie eine letzte Schleife, denn nach Gérard Genette ist „sogar die wörtlichste Abschrift eine Neuschaffung durch Verschiebung des Kontextes“. Innerhalb der Kategorisierung Genettes ist die von Borges durchgespielte „rein semantische Transformation […] nichts anderes als eine monströse Ausdehnung des Prinzips der Minimalparodie“.60 Eine Simulation wäre demnach kein hyperrealer „Fe­ tischismus des verlorenen Objekts“ 61, sondern eine „reale“ (durch die Baudokumentation zeitbedingte, in der Annäherung nie ganz vollkommene) Zweideutigkeit. In ihrer semantischen Transformation ist sie daher keineswegs als mythisch, sondern als modern zu werten. Sie begründet – wie Benjamin hellsichtig unterscheidet – keinen „Kultwert“, sondern einen „Ausstellungswert“. Er sieht das Kunstwerk in einer Polarität zum Ausstellungswert des Kunstwerks. Die Reproduzierbarkeit dränge Ersteres zugunsten des Letzteren zurück: „So wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.“ 62 Für Benjamin wäre eine simulierende Rekonstruktion niemals ein „auratisches“ Kunstwerk. Eine Simulation kann einen Bau sicher nicht wieder zum „Leben“ erwecken; auch „überlebt“ Mies’ baukünstlerische Idee dabei nicht, wie es eine übersetzende konzeptuelle Rekonstruktion anstreben würde. Aber sie besitzt den maximal erreichbaren Ausstellungswert des Bauwerks. Begreift man den Ausstellungswert eben als (bei Benjamin notwen­d igerweise zu wenig beachteten) Wert, kann auch die „Wiederbezeichnung eines Denkmalortes“ ihre Berechtigung finden. 174

Die Arbeit von Cirici, Ramos und Solà-Morales gilt jedenfalls wegen der intensiven vorbereitenden Studien und der umfassenden Dokumentation des Wiederaufbaus als vorbildlich. Franz Schulze spricht von einer „superb reconstruction“.63 Auch Tegethoff, der vor der Realisierung skeptisch war, befindet, der „Wiederaufbau [hat sich] im nachhinein als richtig und notwendig erwiesen“.64 Theodore Prudon meint: „The reconstruction of the Barcelona Pavilion was handled with great care, and all available archival and scholarly publications were consulted extensively.“ Zu Recht wendet er jedoch ein, dass mit der Rekonstruktion „an idealized version of what once was built had been newly created. The reconstruction process must therefore carefully weigh the importance of design intent against the realities of the building as built.“ 65 Je weiter eine simulierende Rekonstruktion aber einen Idealzustand zu erreichen sucht, umso mehr wird sie zu einer historistischen Rekonstruktion.

5.4

UNESCO Komitee: Alte Brücke, Mostar (1995–2004)

Architekt: Mimar Hajrudin Bauzeit: 1557–66 Architekt der Rekonstruktion: UNESCO Komitee66 Auftraggeber: Weltbank und UNESCO Rekonstruktionsphase: 1995–2004 Grundfläche: 200 m² Kosten: 15 400 000 USD Anhand des Beispiels der Stari Most, der Alten Brücke in Mostar, Bosnien-­ Herzegowina, wird die These weitergeführt, dass eine historische Simulation eine semantische Transformation des Vorgängerbaus bedeutet, und die Frage verfolgt, inwiefern ihre Form dabei als historisch „echt“ betrachtet werden kann.

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Baugeschichte der Stari Most Das in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gegründete Mostar war 1486 unter osmanische Herrschaft gefallen. Im Hinterland der Republik Ragusa (Dubrovnik) wurde der Ort wirtschaftlich und strategisch zunehmend bedeutend, sodass Süleyman der Prächtige hier den Fluss Neretva überbrücken ließ. Der Architekt Hajrudin, ein Schüler des großen Sinan, konstruierte 1557–1566 einen einzigen, eleganten, steinernen Bogen, der eine imposante Distanz von knapp 29 Metern überwand. Über Jahrhunderte verband die Bewohner von Mostar mit der Brücke eine besonders innige Beziehung: „Die Bewohner von Mostar – das waren Bosnier, Serben, Kroaten und andere – liebten die schöne alte Brücke.“ 67 Im Jahr 1990 war die Stadt ob ihrer historischen Altstadt, dessen berühmtestes Wahrzeichen die Alte Brücke war, mit etwa einer Million Besucher jährlich auch eines der großen Touristenziele auf dem Balkan. Vor dem Ausbruch der Jugoslawienkriege wohnten vor allem kroatische Christen und bosnische Muslime in Mostar. Zuerst, 1992, vertrieben beide gemeinsam die in der Stadt lebenden Serben. Bald darauf verschärften sich die Spannungen zwischen Kroaten und Bosniern. Am 9. November 1993 beschossen kroatische Verbände mit Granaten gezielt die Brücke, die nun als Symbol der osmanischen, also verhassten muslimischen Herrschaft gesehen wurde.68 Die gefilmte Szene des in den Fluss stürzenden Bauwerks ging um die Welt und wurde zu einem Sinnbild für das Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates in feindlich gesinnte Fraktionen. Rekonstruktion der Stari Most durch das UNESCO Komitee Nach dem Krieg setzten sich die Weltbank und die UNESCO finanziell und logistisch für eine Rekonstruktion ein. Anspruch war, die neue Brücke „der alten in Form, Material und Konstruktion so ähnlich, wie […] nur irgend denkbar“ 69 wiederaufzubauen

(Abb. 38) .

Die Brücke entstand unter Federführung

eines internationalen Komitees in ihren einzelnen Steinblöcken aus einem nahegelegenen Steinbruch fast vollständig neu. Lediglich die aus dem Fluss geborgenen Pflastersteine wurden wiederverwendet. Im Jahr 2004 fand die feierliche Eröffnung der Brücke statt; schon im Folgejahr wurde die Brücke 176

Abb. 38: Die neue Alte ­Brücke in Mostar

in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Welche Gründe sprachen der UNESCO zufolge für die Rekonstruktion?

„The reconstructed Old Bridge and Old City of Mostar are symbols of reconciliation, international cooperation and the coexistence of diverse cultural, ethnic and religious communities.  With the ‘renaissance’ of the Old Bridge and its surroundings, the symbolic power and meaning of the City of Mostar – as an exceptional and universal symbol of coexistence of communities from diverse cultural, ethnic and religious backgrounds – has been reinforced and strengthened, underlining the unlimited efforts of human solidarity for peace and powerful cooperation in the face of overwhelming catastrophes.“70 Herausgestellt wird der symbolische Wert der Brücke. Gabi Dolff-Bonekämper, 2003/04 selbst Teil der internationalen Expertenkommission, bezeichnet ihn zweckmäßiger als sozialen Wert. Sie argumentiert, dass „nicht zuerst die Form und die Substanz des Denkmals zerstört wurden, sondern zuerst die soziale Bedeutung. Das Gebäude mochte noch stehen, die soziale Bedeutungskonstruktion als Erbe aller Mostarer, egal welcher ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, war bereits zertrümmert.“ 71 Die soziale Bedeutung sei vom 177

materiellen Bestand unabhängig. Der Wiederaufbau wäre somit ein Versuch, an das traditionelle, friedliche soziale Netzwerk der Stadt anzuknüpfen. Nicht der Aufbau einer neuen nationalen Identität sei das Ziel der Rekonstruktion, vielmehr stünde sie im Zeichen der sozialen Interaktionen zwischen den Ethnien: Die Brücke stehe in ihrer symbolischen Kraft als Vermittler zwischen Identitäten. Die Kunsthistorikerin fragt sich, inwiefern die „neue“ Alte Brücke dabei als „echt“ bezeichnet werden kann? „Der Begriff [Echtheit] steht, wie sich bei näherer Betrachtung erweist, nicht für einen Sachverhalt, sondern für eine Bewertung, für die es einen kulturellen Bezugsrahmen gibt, der gesellschaftlich definiert wird. Es ­handelt sich eben nicht um eine dem Denkmal eigene feststehende oder ­feststellbare Eigenschaft, sondern um eine soziale Zuschreibung und ­I nwertsetzung, d. h., Echtheit bzw. ‚für echt halten‘ ist Ergebnis einer s­ ozialen Identifikation.“72 Echtheit liege nicht in der materiellen Bausubstanz. Echtheit dürfe auch nicht als objektiv bestimmbarer Wert verstanden werden. Echtheit könne, so Dolff-­ Bonekämper, nur kulturell bedingt zuerkannt werden. Bei der Stari Most findet sie diese in erster Linie in der sozialen Identifikation mit einem Bau begründet. Kann eine simulierende Rekonstruktion aber einen solchen sozialen Wert tatsächlich wiederherstellen? Selbstkritisch bemerkt Dolff-Bonekämper: „Ihre formale Perfektion verdeckt den fortbestehenden Bruch in der Stadtbevölkerung. Sie ist (nur) echt als das, was sie ist: ein Werk der internationalen Organisationen, die sie finanziert und den Bau organisiert haben. Sie hat indes, bei alledem, das Potenzial, später, in zukünftigen Zeiten, als Zeugnis der post-jugoslawischen Geschichte des Balkans eine neue lokale Erbengemeinschaft um sich zu versammeln.“ 73 Sicher kann die Rekonstruktion auch eines so symbolträchtigen Objekts wie eine Brücke nicht die tiefen Gräben überwinden, die Krieg und Vertreibung aufgerissen haben. Bis heute ist die Stadt gespalten. Die muslimische Bevölkerung wohnt mehrheitlich im Osten, die Kroaten im Westen der Stadt; die Neretva teilt sie.74 Dolff-Bonekämper spricht ihr trotzdem nicht jedweden sozialen Wert ab: Die Brücke lege zumindest den Grundstein, eine (neue) soziale Identifikation aufzubauen. 178

Simulation als Weltkulturerbe Inwiefern führt die „formale Perfektion“ der Brücke dazu, dass sie als historisch „echt“ rezipiert wird? Inwiefern kann die Simulation gewissermaßen eine Aura „generieren“? Sie wäre dann ein „subversiver“ Bau, denn sie unterwandert, mit Benjamin gesprochen, die geschichtliche Zeugenschaft. Die „Autorität der Sache“, das Denkmal an sich, geriete damit ins Wanken. Die Bauanalyse liefert dafür ein schlagendes Argument: Da die Simulation die historische Gestalt vor der Zerstörung so identisch wie möglich rekonstruiert, werden die historischen Ereignisse von Zerstörung und Wiederaufbau ausgelöscht. Reicht aber die Tatsache, dass die Zerstörung im Bau visuell nicht ablesbar ist, aus, um den Vorwurf zu rechtfertigen, dass sie für historisch authentisch gehalten wird? Zumindest hat die UNESCO die gesamte Geschichte des Baus, die Zerstörung und den Wiederaufbau dokumentiert und zugänglich gemacht. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, inwiefern eine „falsche Identifikation“ des Baumonuments entstehen kann. Wie oben beschrieben, bedeutet eine simulierende Rekonstruktion sicherlich nicht, dass die vorangegangene Zerstörung bei den Bewohnern der Stadt oder der Bevölkerung des Landes sogleich vergessen wird. Auch in einem buchstabengetreu identischen Bau lebt die Erinnerung des Verlusts weiter. Dass wiederum der historische Wissenschaftler oder der Bildungsreisende die Brücke für historisch ansieht, scheint ebenfalls kaum zu befürchten. Diese bedienen sich der zugänglichen Informationen, um sich über die Geschichte eines Baus zu unterrichten. Bleibt der moderne Tourist. Ist dieser nicht stets auf der Suche nach dem (historisch) „Echten“? Und rezipiert dieser die alte Brücke, im Unwissen ihrer Rekonstruktion, als „authentisches“ Erlebnis, gerät dann das Konzept des Denkmals an sich nicht ins Wanken? Diese Argumentation greift jedoch insofern zu kurz, als sie einen Aspekt gänzlich außer Acht lässt: Sieht beispielsweise ein Tourist aus Japan ein Bauwerk überhaupt als „authentisch“ an? Nun ist das Wort Authentizität, wie oben erwähnt, im japanischen Sprachgebrauch gar nicht üblich. Insofern ist es weiterhin problematisch, dem japanischen Touristen überhaupt eine Denkmalerfahrung zu unterstellen. Ein Denkmal mit seinen definierten Werten kann nur in einem begrenzten Raum begriffen werden, der sich aus der abendländischen Kulturtradition speist. 179

Trotzdem bleibt es erstaunlich, dass eine erst im Vorjahr fertiggestellte simulierende Rekonstruktion in das UNESCO Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Ist der Status des Weltkulturerbes nicht gewissermaßen ein Garant für die Authentizität eines Baus? Wie schon beschrieben, sind kulturelles Erbe (cultural heritage) und Denkmal aber zwei nur begrenzt in Einklang zu bringende Begriffe.75 Einerseits ist Authentizität nicht das einzige Kriterium, um ein Bauwerk zum Kulturerbe zu ernennen. Andererseits ist Authentizität hier weitaus offener konzipiert. In diesem Zusammenhang wurde eine erweiterte, „hybridisierte“ Authentizität konstatiert, die sich in der UNESCO als Entscheidungskriterium durchgesetzt hat. Sie ermöglicht eine umfassendere Würdigung menschlicher Leistungen (siehe Kap. E.2 und 4.1). Führt ein derartiges Authentizitätsverständnis des Welterbes jedoch letztlich zu einem Niedergang der traditionellen Denkmalwerte in Europa? Dies könnte aus dem von Homi Bhabha konzipierten Dritten Raum tatsächlich ­geschlossen werden. Denn er kann zu einem gewissen Grad als ein dialektischer Raum gelesen werden, in dem sich Phänomene und Ausdrucksformen zwischen Kulturen schließlich aufheben und ein hybrides Neues hervorbringen. Sollte man dem „globalisierten“ Touristen also ein „hybridisiertes“ Verständnis von Authentizität unterstellen? Han bezweifelt dies grundlegend: Der moderne Tourist sei kein „Pilger“. Der Pilger ist „zu einem besonderen Dort unterwegs“.76 Er wandere, auf der Suche nach einem „Wesen“. Der Tourist aber „bewohnt vielmehr einen Raum, der keine Asymmetrie von Hier und Dort aufweist. Er ist ganz hier. […] Die Globalisierung bedeutet nicht einfach, daß das Dort mit dem Hier vernetzt ist. Sie bringt vielmehr ein globales Hier hervor […]. Der hyperkulturelle Tourist bereist den Hyperraum von Ereignissen, der sich dem kulturellen Sightseeing erschließt. So erlebt er die Kultur als Kul-Tour.“ 77 Diesen Gedankengang soll der folgende Abschnitt verdeutlichen.

180

5.5

Byung-Chul Han: Hyperkulturalität (2005)

Der koreanische Professor für Philosophie und Kulturwissenschaften ByungChul Han (*1959) formuliert in Hyperkulturalität (2005) einen Versuch, den Kulturbegriff im Zeitalter der Vernetzung und der digitalen Datenströme, aber auch der weltumspannenden Migration und des Tourismus – der Globalisierung des 21. Jahrhunderts – neu zu denken. Die Hyperkultur verlässt dabei die dialektische Spannung, in der sich Bhabha noch immer bewegt: „Die Hybridität ist aber, schon aufgrund ihrer Begriffsgeschichte, zu sehr an den rassistischen und kolonialistischen Komplex von Macht, Herrschaft, Unterdrückung und Widerstand, an die Geometrie von Zentrum und Rändern oder von Oben und Unten gekoppelt. So erfaßt sie gerade das Spielerische nicht, das mit jenem Komplex nicht belastet ist, das also den dialektischen Zwischenraum von Herr und Knecht ganz verläßt.“ Die Hyperkultur sieht sich nicht als gänzlich machtfrei, aber „das Besondere der hyperkulturell verfaßten Welt ist der Zuwachs an Räumen, die nicht machtökonomisch, sondern ästhetisch zugänglich wären“, die im „Reich des Spiels und des Scheins“ Teilnahme finden, das dem Reich der Kräfte und Gesetze – der Macht – entgegensteht.78 Hans Konstrukt der Hyperkultur ist offen und undialektisch; sie stellt eine zentrierte Vielheit dar und bedient sich dafür des Rhizom-Modells von Gilles Deleuze: „Die rhizomatische Streuung, ja Zerstreuung, ent-substanzialisiert, ent-innerlicht die Kultur zur Hyperkultur.“ 79 Die Struktur des Rhizoms ist nicht Kontradiktion, sondern Konjunktion. Sie meint damit nicht Bhabhas zwischenräumlichen Übergang, der immer konfliktbeladen ist, sondern eine „Logik des UND “ beziehungsweise des „Und… Und… Und“, also ein entgrenzendes Nebeneinander verschiedener kultureller Phänomene eines globalisier­ ten Alltags. Diese heben sich nicht dialektisch auf, sondern ko-existieren, womit Han Kultur entschieden anti-essentialistisch denkt: „Viel Aufmerksamkeit verdient dieses rhizomatische, undialektische, ja freundliche Und.“ Hyperkulturalität meint keineswegs „Multikulturalität“. Letztere formuliert das sich tolerierende, womöglich auch schätzende, aber abgegrenzte Nebeneinander unterschiedlicher, „reiner“ Kulturen. Hyperkulturalität setzt keine homogenen Entitäten mehr voraus. Kultur ist nicht als Ganzes gedacht, 181

sondern gliedert sich in eine Vielheit von einzelnen Elementen (Phänomenen, Ausdrucksformen). Die Welt besteht aus vielen – in sich zentrierten – Kul­ turen mit einer Vielheit an Elementen. In einer Hyperkultur, die erst in der globalisierten Gegenwart möglich ist, versammeln sich viele Elemente aus vielen Kulturen. Dieses Konglomerat bildet aber keine neue, globale „Monokultur“. Sie besitzt eine rhizomatische Struktur, in der verschiedene Versatzstücke unterschiedlicher kultureller Traditionen in einem immer neuen ­Verhältnis zueinander stehen können. Sie ist niemals „vollendet“, sondern befindet sich in konstanter Veränderung. Was bedeutet dies für die Aura im Zeitalter der Globalisierung? Die Aura, das einmalige Dasein eines Kunstwerks an dem Ort, an dem es sich befindet, sein besonderes „Hier und Jetzt“, ist traditionell Ausdruck seiner Innerlichkeit, seines Wesens, seiner „Echtheit“. „Die Globalisierung von heute verändert den Ort als solchen. Sie ent-innerlicht ihn, nimmt ihm jene ‚Spitze‘, die einen Ort beseelt. Wo sich kulturelle Ausdrucksformen im Prozeß der Ent-Ortung aus ihrem ursprünglichen Ort lösen, und sich in einem hyperkulturellen Nebeneinander, in einer hyperkulturellen Gleichzeitigkeit drängen und sich anbieten, wo die Einmaligkeit des Hier und Jetzt der ortlosen Wieder­holung weicht, verfällt die Aura.“ 80 Die Hyperkultur ist eine entauratisierte Kultur. Die Vielheit der einzelnen Elemente, die in einer Kultur rhizomartig ­zentriert sind, bleiben fluide und austauschbar. Sie verweisen auf kein einer Kultur zugrundeliegendes Wesen mehr. Es ist leicht, diesen Verlust der „Echtheit“ als einen Verlust der Tiefe, der Kultur, ja des Seins zu beklagen. Sollte man ihm nicht sogar entschieden Widerstand leisten? „Sollte man dem Verlust der Aura, des Ortes, des Ursprungs, des auratisierenden ‚Hier und Jetzt‘ nachtrauern? Oder kündigte sich durch den vielfachen Verlust hindurch ein neues, auraloses Hier und Jetzt an, das doch einen eigenen Glanz hätte, ein hyperkulturelles Hiersein, das mit dem Überallsein zusammenfällt? […] Wäre es ein Gewinn oder ein Verlust, daß das ‚Hier und Jetzt‘ auch dort und später wiederholbar wird?“ 81 Die Hyperkulturalität darf also nicht schematisch auf einen „Verlust der Aura“ reduziert werden. Denn sonst wäre, wie Groys ganz ähnlich argumentiert, „der ewige Wert der Originalität bloß durch den ewigen (Un-)Wert der Nicht-­ 182

Originalität ersetzt – so, wie es in manchen Kunsttheorien in der Tat passiert. Aber ewige Kopien kann es genauso wenig geben wie ewige Originale.“ Groys beschreibt genau wie Han ein freies Spiel mit der Aura: „Vielmehr veranstaltet die Moderne ein kompliziertes Spiel der Entortungen und (Neu-)Verortungen, der Deterritorialisierungen und Reterritorialisierungen, der Entauratisierungen und Reauratisierungen. […] Die Originalität ist in der Moderne variabel geworden – aber sie ist keineswegs einfach verlorengegangen.“ 82 Eine variable Aura, die auch für Han „dort und später“ wiederholbar ist, ist nicht gänzlich beliebig, aber sie ist nicht mehr eindeutig definierbar. In ihrer undialektischen „Freundlichkeit“ besitzt die Hyperkulturalität in der Tat eine Eigenschaft, die sie für die Beschreibung einer globalisierten Kultur interessant werden lässt. Sie hinterfragt die konfliktbetonte Hybridität von Bhabha. Zugleich lässt sie die kulturpessimistische Hyperrealität Baudrillards weit hinter sich. Bei ihr begründet die simulierende Rekonstruktion keine Agonie des Denkmals als Prinzip. Vielmehr eröffnet sich die Möglichkeit eines entgrenzenden „Sowohl-als-Auch“ von denkmalpflegerischer Erhaltung und historistischen und interpretierenden und archäologischen und konzeptuellen und simulierenden Konzepten der Rekonstruktion (und zeitgenössischen Neubauten und …). Dieses bedeutet nach Han nicht den Untergang von, sondern ein Mehr an Kultur. Die materielle Bausubstanz verliert im konkurrierenden Nebeneinander der Authentizitätsprinzipien nicht ihre kunst- und historischen Werte. Die Rekonstruktion des Barcelona-Pavillons macht die denkmalpflegerische Erhaltung beispielsweise des Farnsworth House nicht obsolet. Denkmalpflege bleibt weiter­h in ökonomisch und nachhaltig. Die historische Bausubstanz ist zwar auf keiner universellen, aber auf einer abendländischen Denktradition basierend „echt“ und besitzt ihre eigene Berechtigung. D ­ aneben kann zugleich der aktualisierte baukünstlerische „Geist“ oder die rekonstruierte historische Gestalt eines Bauwerks für „echt“ gehalten werden, ohne die anderen Prin­ zipien in Frage zu stellen. Der Vorteil des rhizomatischen Modells wird evident: Eine „wahre“ Kultur müsste sich nicht mehr durch diffamierende Begrifflichkeiten („Fälschung“, „Lüge“, „Kitsch“, „Disney“ etc.) von kulturellen 183

Phänomenen scheinbar geringerer Wertigkeit und Berechtigung abgrenzen. Die „postmoderne Rekonstruktionswelle“ wäre keine „apokalyptische Sintflut“ der Simulationen mehr, die jegliche traditionelle Authentizitätsvorstellung und authentische materielle Substanz in den Untergang reißt. Sie wäre – um eine andere Metapher anzuführen – auch keine „gewaltige[] Erschütterung des Tradierten“ 83 mehr; denn die Authentizitäten bauen auf keinem gemeinsamen Fundament auf. Die rhizomatischen „Plateaus“ stehen nebeneinander. Das prophezeite, ungeheuerliche Beben bleibt aus. Das Rhizommodell, in dem sich Widersprüchlichkeiten nicht notwendig aufheben, eröffnet neue Möglichkeitsräume, um kulturelle Phänomene darzustellen. In ihm findet auch die simulierende Rekonstruktion einen gleichberechtigten Platz als prägendes Architekturphänomen der Moderne. Andersherum argumentiert: Wäre denn eine Kultur, in der die Möglichkeit einer simulierenden Rekonstruktion ausgeschlossen und verbannt ist, tatsächlich erstrebenswert, oder wäre sie nicht doch ärmer? Besitzt eine pauschalisierte Ablehnung der simulierenden Rekonstruktion als Konzept nicht einen gewissen elitären, dogmatischen Charakter, der den demokratischen Grundprinzipien unserer Gesellschaft zuwiderläuft? Es scheint sinnvoller, eine simulierende Rekonstruktion ausschließlich anhand des konkreten Einzelfalls zu kritisieren. Sieht man sie als Neubau mit eigener Semantik an, eröffnet sich diese Möglichkeit durchaus. Schließlich bietet sich noch eine letzte begriffliche Unterscheidung an: zwischen simulierender Rekonstruktion und Simulation. Erstere ist eine (zeitliche) De- und Rekontextualisierung, aber keine (räumliche) De- und Reterritorialisierung. Sie fühlt sich – wie im Begriff der Rekonstruktion fixiert – an den historischen Ort gebunden. Erst die Simulation ist nicht nur „später“, sondern auch „dort“ wiederholbar: in der (fantastischen) Stadt als Museum.

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Anmerkungen

34 Dirks 1984, S. 199. 35 Er bemerkt: „Ich glaube in der Tat, daß der Histo­riker der Kunst unseres Jahrhunderts Hegel so studieren muß, wie etwa der Erforscher der kirchlichen Kunst des Mittelalters die Bibel. Erst so wird er etwa den

1

Dehio 1914, S. 275.

2

Ebd., S. 274.

heutige Krise verstehen lernen.“ Gombrich 1977,

3

Ebd., S. 279 f.

S. 25 f.

4

Tatsächlich weicht die Rekonstruktion von St.

36 Ebd., S. 24.

­Michaelis in einigen Baudetails von den 1883–86

37 Siehe u. a. Gombrich 1967, S. 43 f. und Gombrich

von Julius Faulwasser präzise erstellten Aufmaßzeichnungen ab. Damit oszilliert sie zwischen histo-

Aufschwung der modernen Architektur und ihre

2003, S. 382. 38 Riegl 1903, S. 51.

ristischer und „originalgetreuer“ Rekonstruktion.

39 Breuer 1980, S. 25.

5

Hubel 2005, S. 236.

40 Mies van der Rohe, zitiert nach Tegethoff 1998,

6

Benjamin 1977, S. 139 f.

7

Ebd., S. 141.

41 Mies van der Rohe 1928, S. 262.

8

In Fußnote 3: „‚Echt‘ war ein mittelalterliches

42 Siehe dafür u. a. auch die Ausführungen in Cirici,

­Madonnenbild ja zur Zeit seiner Anfertigung noch

Ramos und de Solà-Morales Rubió 1998, S. 46 f.

nicht; das wurde es erst im Laufe der nachfolgenden

43 Tegethoff 1998, S. 165.

Jahrhunderte und am üppigsten vielleicht in dem

44 Cirici, Ramos und de Solà-Morales Rubió 1998,

vorherigen.“; ebd., S. 139. 9

S. 158.

Groys 2003, S. 34 f.

S. 45. 45 Als eine „transition from sensation to perception and

10 Ebd., S. 40.

from perception to concept“ beschreibt auch Solá-

11 So u. a. Hubel 2005, S. 318 und Mörsch 2011,

Morales die Architektur des Barcelona-Pavillons.

S. 22.

Siehe de Solà-Morales Rubió 1994, S. 152.

12 Baudrillard 1978, S. 9.

46 Prudon 2008, S. 192.

13 Baudrillard 1988, S. 159.

47 Cirici, Ramos und de Solà-Morales Rubió 1998,

14 Ebd., S. 159 f.

S. 48.

15 Mörsch 2011, S. 20 und 23.

48 Neumann 2015, S. 109.

16 Habich 2011, S. 16 (Hervorh. i. O.).

49 Rudolph und Blake 2003, S. 213.

17 Baudrillard 1988, S. 156.

50 Tegethoff 1998, S. 164.

18 Borges 2004, S. 43 f.

51 Evans 1990, S. 265.

19 Ebd., S. 45.

52 Krauss 1994, S. 133 f.

20 Maisak und Dewitz 1999, S. 22 f.

53 Neumann 2015, S. 111.

21 Goethe 1811, S. 44.

54 Koolhaas und Mau 1995, S. 49.

22 Volger in einem Spendenaufruf, zitiert nach Maisak

55 Der Text wurde 1973 verfasst und erstmals im

und Dewitz 1999, S. 34.

­August 1974 gekürzt im Architectural Review

23 Bartning 1948, S. 28.

­ver­öffentlicht. Die Publikation erschien nach

24 Hartmann 1984, S. 202.

Schwierigkeiten mit dem Verlag 1978, in deutscher

25 Ebd., S. 202.

Übersetzung mit Überarbeitungen von Bernhard

26 Siehe insbesondere Von der Symbolik des ­Denkmalbegriffs, in: Clemen 1933, S. 3 ff. 27 Ebd. S. 36.

Hoesli 1984. 56 Rowe und Koetter 1997, S. 199. 57 Das Projekt Mies 1:1 ist keine also Re-, sondern eine

28 Ebd., S. 5

erstmalige Konstruktion und kann deshalb nicht in

29 Hartmann 1984, S. 202.

die im Buch angeführte Reihe der Rekonstruktion

30 Dirks 1984, S. 200 (Hervorh. i. O.). 31 Bartning 1948, S. 29.

gestellt werden. 58 Lange 2014, S. 39.

32 Dirks 1984, S. 200 f (Hervorh. i. O.).

59 Ebd., S. 41.

33 Dolff-Bonekämper 2011, S. 145.

60 Genette 1993, S. 30 und S. 432.

185

61 Baudrillard 1988, S. 156. 62 Benjamin 1977, S. 147. 63 Schulze und Windhorst 2012, S. 125. 64 Tegethoff 1998, S. 176. 65 Prudon 2008, S. 193. 66 Dem UNESCO Komitee gehörten an: Prof. Leon Pressouyre (Frankreich) als Präsident, Mounir Bouchenaki (UNESCO), Azedine Beschaoush (Tunesien), Laurent Levi-Strauss (UNESCO), Prof. Cevat Erder (Türkei), Prof. Zlatko Langof (Bosnien-Herzegowina), Prof. Milan Gojkovic (Serbien und Montenegro), Prof. Radovan Ivančević (Kroatien), Ferhat Mulabegovic (Bosnien-Herzegowina), Machiel Kiel (Niederlande), Prof. Gurlu Necipoglu (Türkei), Prof. Giorgio Macchi (Italien), Prof. Eddy de Witte (Belgien), Prof. Gabi Dolff-Bonekämper (Deutschland), Prof. Mihailo Muravljov (Bosnien-Herzegowina). 67 Dolff-Bonekämper 2014, S. 191. 68 Eine Differenzierung der Motive leistet weiterhin ­Petrovic 2013, S. 76 ff. 69 Dolff-Bonekämper 2014, S. 191. 70 http://whc.unesco.org/en/list/946 (abgerufen am 15.09.15) 71 Dolff-Bonekämper 2014, S. 191. 72 Ebd., S. 185 f. 73 Ebd., S. 192. 74 Petrovic 2013, S. 63 f. 75 Schon Breuer meint übrigens, dass eine Gleich­ setzung von Kulturerbe und Denkmal „nicht nur ­erschreckende Erweiterung, sondern Auflösung“ des Letzteren bedeuten würde. Breuer 1984, S. 234. 76 Han 2005, S. 44 (Hervorh. i. O.). 77 Ebd., S. 45 ff. (Hervorh. i. O.). 78 Ebd., S. 30. 79 Ebd., S. 33. 80 Ebd., S. 40 f. 81 Ebd., S. 43 (Hervorh. i. O.). 82 Groys 2003, S. 40. 83 Benjamin 1977, S. 141.

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6 Kombinationen der Konzepte

In den vorangegangenen Kapiteln wurden verschiedene Konzepte der Rekonstruktion differenziert und beispielhaft erläutert. In der komplexen Realität aber zeigt sich, dass nicht jedes Rekonstruktionsprojekt zwangsläufig einem spezifischen Konzept folgt. Die Übergänge zwischen diesen sind nicht selten fließend: Zum Beispiel zwischen historischer Simulation – die in ihrem Anspruch nach einen historischen Bau möglichst wissenschaftlich exakt rekonstruiert – und der historistischen Rekonstruktion, die eine Idealisierung und fiktive Vollkommenheit anstrebt. Je nach Behandlung der historischen Bausubstanz verschwimmt auch die Grenze zwischen interpretierender Rekon­ struktion – die alt und neu dialektisch gegenüberstellt – und der konzeptu­ ellen Rekonstruktion – in der die Substanz in gänzlich zeitgenössischen, hybriden Formen aufgeht. Ein pragmatisches, nicht ein starres, dogmatisches Verständnis dieser Konzepte ist also durchaus wünschenswert. Die Grenzbereiche nehmen der terminologischen Gliederung der Rekonstruktion in verschiedene architektonische Konzepte nicht ihre Berechtigung und Bedeutung, sondern unterstreichen sie vielmehr. Denn genau in den Zwischenbereichen ist eine differenzierte Bauanalyse besonders hilfreich. Bei einigen der schon angesprochenen Rekonstruktionen kommen beispielsweise zwei Konzepte kombiniert zum Einsatz, so in Sankt Maria im Kapitol, in der Alten Pinakothek oder in der Dresdner Frauenkirche. Wie produktiv diese Kombination sein kann, wird in den zwei folgenden Baubeispielen noch einmal beleuchtet.

189

6.1

David Chipperfield: Neues Museum, Berlin (2003–09) Architekt: Friedrich August Stüler Bauzeit: 1843–55 Architekt der Rekonstruktion: David Chipperfield Architects Auftraggeber: Staatliche Museen zu Berlin / Stiftung Preußischer ­Kulturbesitz Rekonstruktionsphase: 2003–09 Grundfläche: 20 500 m² Kosten: 194 000 000 Euro

Ein anschauliches Baubeispiel dafür, dass eine Kombination zweier Konzepte eine ausgesprochen gelungene Rekonstruktion ermöglichen kann, ist das Neue Museum von David Chipperfield. Als Grundlage für ein solches Urteil ist eine kurze Skizzierung des Vorgängerbaus und seiner Geschichte entscheidend. Das Neue Museum von Friedrich August Stüler 1841 beauftragte Friedrich Wilhelm IV. den Architekten Friedrich August Stüler (1800–1865) mit der Gesamtkonzeption der Spreeinsel als einer „Freistätte der Kunst und Wissenschaften“. Die Grundsteinlegung des Neuen Museums auf den bereits entstandenen Fundamenten fand 1843 statt, 1855 wurde das Museum für das Publikum geöffnet. Das Neue Museum war dem Alten Museum im städtebaulichen Gefüge untergeordnet, vom Stadtschloss gesehen hinter dem Schinkelbau zurückstehend. Der Grundriss war annähernd trapezförmig und symmetrisch aufgebaut. Im Süden schloss eine von offenen Rundbogen getragene Straßenpassage an das Alte Museum an. Der nach Osten ausgerichtete Haupteingang führte durch einen einstöckigen Säulengang in das Vestibül, von dem aus sich die zentrale, über die gesamte Querseite erstreckende Treppenanlage anschließt. Um zwei rechteckige Innenhöfe (Griechischer Hof und Ägyptischer Hof) gruppierten sich die verschiedenen Säle, denen im Erdgeschoss jeweils eine eigene Sammlung zugeordnet war. Dar­ über befanden sich die Säle der Gipsabgusssammlung. 190

Am Grundriss indirekt ablesbar ist die vom Architekten angewendete, hoch innovative Bauweise. Das Gebäude war mit damals neuartiger Guss- und Schmiedeeisenkonstruktion errichtet, die Gewölbe mit hohlen Töpfen gemauert. Dies senkte das Gewicht des Baus, entlastete den weichen, sandigen Untergrund und ermöglichte, anders als im noch traditionell erbauten Alten Museum, ein zusätzliches, drittes Obergeschoss.1 Die strukturelle „Kernform“ wurde jedoch zumeist durch eine, wie es Gottfried Semper beschrieb, dekorative „Kunstform“ überdeckt. In den Räumen des oberen Stockwerks aber waren die konstruktiven Elemente, die eisernen Trag- und Bogenkonstruktionen und Gewölbebinder, sichtbar. Innenraum Eine besondere Betrachtung verdient der Innenraum, der im Gegensatz zur klaren und schlichten Gliederung des Außenbaus äußerst komplex und reich ausgestattet war. Für Stüler war, wie „in allen guten Kunstepochen die Architektur Träger der Sculptur und Malerei“.2 Erst in der Raumgestalt und ihrer dekorativen Ausschmückung, die Stüler zusammen mit Ignaz von Olfers, ­Generaldirektor der Königlichen Museen, entwickelte, wird die zugrundeliegende Idee des Museums verständlich. Stellvertretend für die Vielzahl der beziehungsreich ausgestatteten Räume sei im Folgenden die ägyptische Sammlung kurz genauer beleuchtet. Die moderne ägyptische Wissenschaft etablierte sich durch die Beschreibung Ägyptens (Description de l’Égypte, ab 1809) der vielen Gelehrten, die Napoleon Bonaparte auf seinem Ägyptenfeldzug begleiteten. Es war der „Stammvater der deutschen Ägyptologie“, Richard Lepsius, der 1845 nach über dreijähriger wissenschaftlicher Expedition im Namen des preußischen Königs aus Ägypten nach Berlin zurückkehrte und mit Stüler maßgeblich bei der Innenraumgestaltung der Ägyptischen Sammlung zusammenarbeitete. Grundlage der Sammlung waren neben den von verschiedenen Sammlern erworbenen Exponaten auch die rund 1500 Objekte, die Lepsius als Geschenk des Khediven Muhammad Ali Pascha für seine Majestät Friedrich Wilhelm IV. aus dem Land am Nil mitgebracht hatte.3 „Bei der Anordnung der Räume des Aegyptischen Museums hatte man sich die Aufgabe gestellt, nicht nur einen räumlichen, 191

sondern zugleich einen historischen und kunstgeschichtlichen Hintergrund zu gewinnen, durch welchen die einzelnen unzusammenhängenden Denk­ mäler dieser fern liegenden Kulturepoche ein leichteres Verständniß und eine größere Lebendigkeit für den Beschauer erhalten könnten.“ 4 Am greifbarsten wurde diese Vision im beeindruckenden Ägyptischen Hof (Abb. 39) .

Die Säulen um das Atrium waren denen des Ramesseum-Tempels zu

Karnak – leicht verkleinert – nachgebildet und trugen lotusblumenkelchförmige Kapitelle. Die farbenprächtigen künstlerischen Darstellungen auf den Säulen zeigten altägyptische Gottheiten mit ihren Namen in Hieroglyphenschrift. Die umlaufende Galerie über dem Säulenumgang präsentierte Teile der reichen Abgusssammlung. Im Hof selbst waren zwei kolossale Porphyr­ skulpturen sitzender Pharaonen ausgestellt, zudem Grabsteine und zwei ­Widdersphinxe, von denen einer ein Original, der andere ein Abguss war. Im Umgang des Hofes waren Artefakte präsentiert, jeweils von Wandmalereien begleitet. In den stimmungsvollen Bildern konnte man hypothetische Rekonstruktionen verschiedener ägyptischer Bauten wie dem Karnaktempel, dem Tempel von Dendera, dem Ramesseum zu Theben, den Pyramiden zu Memphis, dem Felsentempel von Abu-Simbel und vielen anderen, eingebettet in die ländliche Umgebung oder als Innenansichten, bewundern. Museum als Gesamtkunstwerk Die Malereien „in ihrer rastlosen dekorativen Polychromie“ 5 und der Überfülle der frei miteinander komponierten Zitate ergaben in ihrer Abfolge in den verschiedenen Räumen eine in jeder Sequenz hochkomplexe, durchdachte und strukturierte Zusammenstellung der ägyptischen Mythologie. Sie führten dem Besucher das gesamte Universum von der Weltschöpfung, dem Sonnenlauf, der Götterwelt und dem rituellen Kult der Pharaonen vor Augen. „Dabei verstand man das einzelne Exponat weniger als singuläres Kunstwerk, sondern präsentierte es vielmehr als Dokument eines ausführlich dargestellten, historischen Verlaufsprozesses, der in den Wandbildzyklen kontextualisiert und interpretiert wurde.“ 6 Die Wandbildzyklen und dekorativen Malereien der Ausstellungsräume sowie die darin ausgestellten Kunstwerke bildeten eine synthetische Einheit.7 192

Abb. 39: Der ägyptische Hof im Neuen Museum; ­Lithografie nach Eduard Gaertner, 1862

In der Inszenierung der Artefakte wird die Idee des Museums als Gesamtkunstwerk anschaulich. Reproduktionen, Kopien und Abgüsse, aber auch künst­ lerische Nachschöpfungen und „einfühlende“ dekorative Ausschmückun­gen gingen dafür eine enge Wechselbeziehung ein. Der Anspruch einer enzyk­ lopädischen Sammlung, in der die Entwicklung letztlich aller Epochen der Kunstgeschichte erfahrbar sein sollte, bedeutete auch, dass sie notwendigerweise unvollständig war.8 Stüler erachtete deshalb „die ausgedehnte, in stetem Wachsthum begriffene und zum Studium so höchst wichtige Gypssammlung […] als de[n] eigentliche[n] Mittelpunkt der Sammlungen“.9 Sie war durch die Aufstellung im gesamten zweiten Stockwerk prominent vertreten. Thomas Gaehtgens unterstreicht, dass die kritische Unterscheidung und Abwertung der Kopie gegenüber dem Original erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm; erst Wilhelm von Bode, der 1872 in die Verwaltung der preußischen Museen eintrat, konnte im Laufe der Jahre, nur langsam und gegen Widerstände, durchsetzen, dass von weiteren Akquisi­t ionen für die ­Kopiensammlung Abstand genommen und schließlich dem authentischen Werk allein Sammlungswürdigkeit zugesprochen wurde.10 Entscheidend ist, dass sich das Kunstwerk als originäre, nicht wiederholbare Einheit, die ­einzigartig und unverwechselbar ist, im Museum erst nach und nach 193

durchsetzte – eine Entwicklung, die zeitlich parallel zur Entwicklung der modernen Denkmalpflege verstanden werden kann. In der Idee des Gesamtkunstwerks stimmen das historistische Museum und die historistische Restauration überein. Baugeschichte des Neuen Museums Schon im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde vielfach die starre Raumkonfiguration des Neuen Museums kritisiert. Der Erwerb der umfangreichen Amarna-­ Sammlung führte schließlich 1919–23 zu ersten einschneidenden Umbaumaßnahmen des Südflügels. Insbesondere der nach oben offene, im Sinne mittelalterlicher Kreuzgänge von drei überdachten Säulengängen flankierte griechische Hof wurde grundlegend umstrukturiert. In den 1920er- und 1930er-Jahren erfolgten weitere Neuordnungen und Umbauten, wobei die Säle zum Teil massiv verändert wurden. Die Inszenierung der Artefakte erlebte einen radikalen Wandel: Der dekorative Wand- und Deckenschmuck vieler Räume wurde übertüncht beziehungsweise abgehängt und die Säle durch monochrome Wandflächen in hellen Farbtönen „neutralisiert“.11 Bombardements in der Nacht vom 23. zum 24. November 1943 und am 3. Februar 1945 sowie Kämpfe während der Schlacht um Berlin zerstörten das Neue Museum in weiten Teilen. Der südöstliche Pavillon, der gesamte Nordwestflügel mit dem Ägyptischen Hof, der Südwestflügel und das zentrale ­T reppenhaus waren besonders betroffen. Durch die verheerenden Schäden galt die Rekonstruktion des Neuen Museums nach dem Krieg als besonders kompliziert, zeit- und kostenaufwendig. Mit der neu gegründeten DDR kam das Museum 1949 unter sowjetische Regierung. 1958–60 wurden mehrere Gebäudeteile, darunter der Südkuppelsaal und große Teile des Nordwestflügels wegen Einsturzgefahr abgebrochen. Bergungsarbeiten des Bestands in den 1980er-Jahren gingen mit Schuttberäumung der Ruine einher. Nach restau­ ratorischen Sicherungskampagnen, dem Einbau eines Notdaches sowie Untersuchungen und Probebohrungen für die Ersatzgründung des Fundaments konnte am 1. September 1989 der Wiederaufbau im Sinne einer historischen Simulation beginnen. Dieser wurde wenige Wochen darauf nach der friedli194

chen Revolution aufgegeben.12 Das wiedervereinigte Berlin plante nun die Zusammenführung der jahrzehntelang getrennten Museen der Stadt. Grundlage für den 1993 ausgeschriebenen Architekturwettbewerb für das Neue Museum war das von der Senatsverwaltung veröffentlichte Denkmalpflegerische Plädoyer zur ergänzenden Wiederherstellung.13 In einem nachträglichen Gutachterverfahren 1997 wurde David Chipperfield von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Architekt beauftragt. Als Folge der Verleihung des UNESCO Welterbestatus 1999 wurde von diesem zudem der „Masterplan Museumsinsel“ konzipiert, der funktionsgerechte Lösungen und Erschließungen für das Museumsensemble mit dem Respekt vor der gewachsenen historischen Substanz vereinbaren soll.14 Rekonstruktion des Neuen Museums von David Chipperfield Das finale Konzept legte Chipperfield im Jahr 2000 vor, 2009 wurde das neue Neue Museum eröffnet. Leitender Berater der Restaurierungsarbeiten war Julian Harrap. Für das Ausstellungskonzept zeichnet der Mailänder Michele de Lucchi verantwortlich. Chipperfield stellt die Bauvolumen nach den Plänen Stülers wieder her (Abb. 40) . Der neue Südostteil orientiert sich (wie der Nordwestflügel) in seinen Dimensionen an den historischen Vorgaben; die glatte Wandfläche besteht aus wiederverwendeten, nicht verkleideten Ziegeln

(Abb. 41) .

Lediglich zwei Profilie-

rungen auf Höhe des Abschlusses der Geschosse nehmen die historische Fassadengliederung auf. Hier sind in drei Nischen drei erhaltene Statuen eingestellt. Eines der in einer Reihe darunter laufenden Tondi konnte geborgen werden und findet seinen angestammten Platz. Es ist eine reduzierte, moderne Lösung, die keinerlei dekorative Motive des ohnehin zurückhaltenden klassizistischen Baus von Stüler rekonstruiert. Farblich neutrale Aufschlämmungen geben im nördlichen Bereich der Fassade die Stellen an, wo die ursprüngliche Steinquaderung verloren gegangen ist.15 Alle neu hinzugefügte Elemente tragen den „Stempel ihrer Zeit“ und fügen sich harmonisch ins Ganze. Der als Rohbau wiederaufgebaute Außenbau folgt damit vorbildlich den in der Charta von Venedig vorgegebenen Leitmaximen, kann also als ­archäologische Rekonstruktion bezeichnet werden. 195

Abb. 40: Wiederher­gestellte Bauvolumen: „Re-establishment of form + figure“, Konzept-Zeichnung von David Chipperfield

196

Abb. 41: Rekonstruierter südöstlicher Bauteil des Neuen Museums

Wie der Architekt selbst betont, waren die von der Charta von Venedig (siehe Kap. 3.1) aufgestellten denkmalpflegerischen Prinzipien grundlegend für die Rekonstruktion des Neuen Museums.16 Nach Petzet gehört dazu „neben einem vorbildlichen konservatorischen Umgang mit vielleicht nur fragmentarisch erhaltenen authentischen Resten der Raumausstattungen auch die Bewahrung von Spuren der Zerstörung, die Dokumentation von Verlorenem oder die behutsame Rückführung von Kunstwerken an ihren ‚angestammten‘ Platz in Erinnerung an die ursprüngliche Konzeption“.17 Auch die innere Raumaufteilung ist nach den historischen Grundrissplänen wiederhergestellt. 197

Elemente der archäologischen Rekonstruktion Der Nordkuppelsaal in der zweiten Etage zeigt das archäologische Konzept beispielhaft auf. Die große Kuppel überlebte den Krieg nur partiell. Die reiche figürliche Bemalung und Ornamentik ist zum Teil noch erkennbar. Zerstörte Kassetten ließ Chipperfield mit Ziegeln wieder aufmauern. Sie bleiben unverputzt, ihre moderne Erneuerung sichtbar, dennoch fügen sie sich harmonisch ein. Gleiches gilt für die Wandbemalung und den teilweise zerstörten Mosaikfußboden, dessen Fehlstellen mit Marmorzement gefüllt sind. Auch Spuren späterer Veränderungen sind erkennbar, so zum Beispiel ein vormals existierender Übergang zum Pergamonmuseum in der Nordwand. Stülers ursprüngliches Konzept, spätere Änderungen und die Rekonstruktion bleiben allesamt fragmentarisch sichtbar. Aber auch umfassend zerstörte Räume hat Chipperfield archäologisch rekonstruiert. Der Ethnographische Saal auf der ersten Ebene wurde, wie der gesamte Südwestflügel, durch Kriegs- und Nachkriegsschäden sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Da die Decke eingestürzt war, blieb er über Jahrzehnte der Witterung ungeschützt ausgesetzt. Diesen Umstand zeigen auch nach der Rekonstruktion die größtenteils ausgewaschenen Wandmalereien, die teilweise angegriffenen Mauerziegel und die zwei Säulenreihen, deren Kanneluren vom eindringenden Wasser stark ausgewaschen sind. Sie tragen neu gemauerte Bogen aus Ziegelstein sowie die erneuerte Decke. Die Gewölbe zeigen die interessante und damals innovative Lösung der Ingenieure im 19. Jahrhundert auf, welche sie in kleinen, eng liegenden, runden Tontöpfen konstruierten, um die Belastung des Gebäudeuntergrunds zu minimieren. Hier wurden historische Konstruktionsmethoden aufwendig wiederbelebt, um die originalen Bautechniken aufzuzeigen. Die Wiederherstellung geht zugleich mit einer Materialansichtigkeit der vormals reich verzierten Decke einher.18 Der in der oberen Etage liegende Sternensaal war ähnlich schwer zerstört. Das „gotische Sterngewölbe“ war schon bei Stüler ein hochmodernes, in den Raum gehängtes Rabitzgewebe aus Draht und Putz, das aber durch die aufgetragenen Malereien den Anschein eines steinernen Gewölbes trug. Die ursprüngliche Bemalung der Decke ist in der Rekonstruktion nur noch anhand 198

weniger erhaltener Fragmente sichtbar. Diese waren geborgen und Stein um nummerierten Stein wie in einem Puzzle wieder an ihre ursprüngliche Position in der weißverputzten Decke eingefügt worden. Sie zeigt so die Stüler’sche Raumausstattung, das Schicksal des Baus und die akribische, archäologisch-­ wissenschaftliche Leistung der Wiederherstellung zugleich auf. In den archäologisch rekonstruierten Räumen ist das Neue Museum selbst zur Grabungsstätte geworden. Die archäologische Rekonstruktion versteht das Baumonument als „Palimpsest“.19 Darin ist sie artifiziell, denn es geht darum, wie Harrap formuliert, den Bau als Ruine „einzufrieren“ und die brüchige Substanz „in einem künstlichen Schwebezustand“ zu halten.20 Das Gebäude ist mit seiner „Aura des ­Authentischen“ 21 gleich einem musealen Objekt inszeniert. Die nicht nur konservatorischen, sondern zweifelsohne ästhetischen Entscheidungen der Erhaltung des Ruinencharakters, der Betonung des Fragmentarischen und die Materialansichtigkeit des Rohbaus sind im Falle des Neuen Museums nichtsdestotrotz in hohem Maße überzeugend. Dennoch weicht Chipperfield in einigen Räumen von dieser Strategie ab: „Eine kleine Ausbesserung kann sich neutral in die Umgebung einfügen und muss für sich genommen keine eigenständige Qualität aufweisen. Eine umfangreiche Ergänzung [fehlender Wände oder Raumteile] dagegen muss ihren eigenen physischen und materiellen Charakter besitzen, wenn sie nicht nur ein öder ‚Platzhalter‘ sein soll.“ 22 Wo die archäologische Rekonstruktion seines Erachtens nicht mehr sinnvoll ist, nutzt der Architekt die interpretierende Rekonstruktion. Elemente der interpretierenden Rekonstruktion Das Konzept der interpretierenden Rekonstruktion wendet Chipperfield in erster Linie in den besonders stark zerstörten Bauteilen an. Ein Beispiel ist der oben schon in seiner ursprünglichen Konzeption analysierte Ägyptische Hof

(Abb. 42) .

Bei Stüler war der Innenhof spektakuläre „Kulisse“ für den ver-

kleinerten Nachbau des Ramesseums von Karnak. Der umlaufende Säulengang trug eine Galerie im ersten Obergeschoss. Chipperfield dreht in seiner Rekonstruktion diese historischen Vorgaben durch eine „Inversion von Masse 199

Abb. 42: Neuer Ägyp­tischer Hof

und Raum“ 23 gewissermaßen um und schafft eine überdachte Struktur in der Mitte des Raumes, in der das natürliche Licht über die offenen Seiten eintritt. Der Engländer kreiert innerhalb der unverputzten Ziegelsteinmauern einen neuen Raum, der sich in seiner Grundkonzeption mit Tadao Andos modernem Betonkubus in der Punta della Dogana vergleichen lässt. Der Architekt selbst bezeichnet ihn als „Sanctuary“.24 Obwohl die quadratischen Pfeiler und die Dachkonstruktion aus Sichtbeton in ihrer Materialität und offenen Struktur 200

explizit modern sind, und obwohl Chipperfield jede ägyptisierende Form oder gar direkte Zitate ägyptischer Vorbilder vermeidet, kann diese Raumskulptur doch in ihrer Wirkung als tempelartige Säulenhalle mit darin integrierter Grablege oder als eine zeitgenössische Interpretation des Stüler’schen Ramesseums begriffen werden. Auch die neu entstandene Treppenhalle ist schon nach den Worten des Architekten „eine moderne Interpretation der Halle“.25 Das unverputzte Ziegelmauerwerk ist mit neuen Bauelementen aus Sichtbetonfertigteilen kontrastiert. Während die Form der Treppe wieder aufgenommen ist, wurde auf die Wiederherstellung des monumentalen Freskenzyklus Wilhelm von Kaulbachs, des mit Kassettendecke geschmückten Dachstuhls und der aufwendig gestalteten Geländer verzichtet. Die Treppe präsentiert sich dezidiert als eine moderne Neuschöpfung. Chipperfield ließ dafür die beschädigte, aber noch vorhandene „Korenhalle des Erechtheions“ – bei Stüler finaler Höhepunkt des emporsteigenden Raumkonzepts – sogar abreißen:26 ein Vorgehen, das sich für eine archäologische Rekonstruktion verboten hätte. Hier wird ein Konflikt mit denkmalpflegerischen Maximen offensichtlich. Auch der vollkommen neu gestaltete Südkuppelsaal ist als interpretierende Rekonstruktion zu verstehen: Über den Wänden aus grauem Kunstmarmor erhebt sich in offenen Ziegelsteinreihen ein ungewöhnliches Kraggewölbe (eine falsche Kuppel), welches in archaischer Grabarchitektur Anwendung fand. Der zentrale Okulus spendet spärlich natürliches Licht. Unter Chipperfield ist der vormals reich verzierte, quadratische Saal in einen kargen Raum bar jeder Ornamentik verwandelt. Álvaro Siza Vieira beschreibt die Konstruk­ tion, „als ob sie schon immer existiert hätte und gar nicht anders aussehen könnte; es liegt weder eine Reproduktion vor noch eine opportunistische Hervorhebung seines persönlichen Stils“.27 Ein Raum also, der den historischen Kuppelsaal und dessen ruinösen Zustand aufnimmt und modern weiterführt. In seiner atmosphärischen Aufladung greift er das dem Bau innewohnende Pathos auf, statt sich ihm zu entziehen. Nicht zuletzt im Vergleich mit seinem Pendant, dem Nordkuppelsaal, zeigt sich im Südkuppelsaal Chipperfields gänzlich anderes, nämlich interpretierend statt archäologisch verfahrendes Konzept. 201

So sieht Buttlar in Chipperfields „Mut, gestalterische Akzente im historischen Bestand zu setzen“,28 verbindende Elemente zu Carlo Scarpas ergänzenden Neuinterpretationen, die in Kapitel 2.3 archetypisch für eine interpretierende Rekonstruktion aufgeführt wurden. Fulvio Irace findet in Chipperfields Vorgehensweise sowohl das Erbe Scarpas bewahrt als auch einen starken Einfluss von Tadao Ando. Chipperfield steht damit „for a balance between innovation and conservation, and an unwavering confidence in an artistic practice of architecture“. In seiner Architektur liegen „evocations that restore the role of time and memory with contemporary vocabulary“.29 Chipperfields ausdrückliches Ziel war es, die „unterschiedlichen Aufgaben in einem ganzheitlichen Entwurfskonzept zu verbinden, und zwar so, dass Alt und Neu sich gegenseitig zur Geltung bringen können, nicht durch deren Kontrast, sondern durch eine neu geschaffene Kontinuität“.30 Kombination von archäologischer und interpretierender Rekonstruktion „Weder wollten wir der Zerstörung ein Denkmal setzen noch eine historische Nachbildung bauen. Unsere Vision war es, diese einzigartige Ruine […] zu bewahren und sinnvoll nutzbar zu machen. Diese Zielsetzung führte uns dazu, aus den Überresten des alten Gebäudes ein neues entstehen zu lassen, ein neues Gebäude, das seine Geschichte weder rühmt noch verbirgt, sondern in sich einschließt.“ 31 Chipperfields große Architekturleistung im Neuen Museum besteht in der überzeugenden Kombination aus archäologischer und interpretierender Rekonstruktion. Wie sehr der Architekt dabei ein fragiles Gleich­ gewicht erreicht hat, wird in der Raumfolge immer wieder deutlich: Die als Rohbau wiederhergestellten und in ihrem Verfall mit authentischen Fragmenten ausgestellten Säle wechseln sich überraschend mit den im selbstbewussten Gestus einer modernen Interpretation geschaffenen zeitgenössischen Räumen ab. Dabei ist die Entscheidung zwischen archäologischer oder interpretierender Rekonstruktion eigentlich nicht durch das Ausmaß der Zerstörung vorgegeben. Wie einzelne analysierte Räume – der Ethnographische Saal und der Sternensaal – gezeigt haben, ist auch die archäologische Rekonstruktion sehr schwer zerstörter Räume realisierbar. Letztlich liegt die Entscheidung für ein 202

bestimmtes Konzept der Rekonstruktion stets im Ermessen des Architekten. Gerade die Kombination von archäologischer und interpretierender Rekon­ struktion rückt Chipperfields Lösung damit in die Tradition eines Hans Döllgasts, der in der Alten Pinakothek beide Konzepte zur Anwendung brachte. Das neue Neue Museum kann als großes europäisches Museum des frühen 21. Jahrhunderts verstanden werden. Dem ursprünglich leitenden Gedanken des „Museums als Gesamtkunstwerk“ ist es als solches freilich diametral entgegengestellt. Anders als im Neuen Museum des 19. Jahrhunderts bildet die Rekonstruktion keine grandiose baukünstlerische Einheit mit den ausgestellten Artefakten, sondern betont die mannigfaltigen, heterogenen Zustände des Baus. Chipperfiels Rekonstruktion des Neuen Museums ist keine Wiederherstellung als „museologisches Monument“ des 19. Jahrhunderts und möchte dies gar nicht sein. „Die Geschichte, verstanden als große Erzählung, wie sie das Neue Museum ursprünglich prägte […], hat nichts mehr mit jenen Ansätzen zu tun, mit deren Hilfe wir heute versuchen, unsere Vergangenheit zu ordnen – diese sind soviel fragmentarischer, soviel stärker auf das Singuläre gerichtet, auf Mikro-Historien, Auseinandersetzungen und Konflikte, und soviel weniger auf einen epischen Geschichtsentwurf, der einen von Epoche zu Epoche nehmenden Fortschritt annimmt.“ 32 Chipperfields Rekonstruktion des Neuen Museums errichtet in seiner Grundkonzeption einen neuen Bau mit zeitgemäßer Bedeutung. „Wider die Chimäre der Wiederholbarkeit“ lobt Mörsch deshalb die Rekon­ struktionsleistung im Angesicht der Baustelle des in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Berliner Stadtschlosses.33 Sie „entlarvt“ seines Erachtens jeden Wunsch nach „‚originalgetreuem Wiederaufbau‘“, dem im letzten Kapitel noch einmal die Aufmerksamkeit gilt.

203

6.2

Franco Stella: Stadtschloss, Berlin (2013-) Architekten: Andreas Schlüter, Johann Friedrich Eosander, Friedrich August Stüler Bauzeit: 1699–1716 / 1845–53 Architekt der Rekonstruktion: Franco Stella Auftraggeber: Stiftung Berliner Schloss, Humboldtforum Rekonstruktionsphase: 2013–19 (vorauss.) Grundfläche: 21  000 m²

Mit dem Humboldt-Forum in der historischen Mitte Berlins erreichte die ­a ktuelle Debatte um Rekonstruktion einen neuen Höhepunkt. Die momentan im Bau befindliche Totalrekonstruktion sieht die Simulation entscheidender ­Bereiche des früheren barocken Stadtschlosses vor. Mit ihr ist zugleich ein ambitioniertes und vielschichtiges neues Nutzungskonzept verknüpft: Nach seiner planmäßigen Fertigstellung 2019 wird der Bau unter anderem die Zentral- und Landesbibliothek, die neue Bibliothek der außereuropäischen Kunst und Kulturen, das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst, Teile der Humboldt-Universität sowie diverse Ausstellungsbereiche, nicht zuletzt zur Geschichte des Ortes, beherbergen. Insbesondere weil dieser Ort mit verschiedenen, konkurrierenden Bedeutungen aufgeladen ist, soll seine Geschichte in Grundzügen in Erinnerung gerufen werden, bevor die Rekonstruktion mit ihren zum Einsatz kommenden Konzepten analysiert wird. Baugeschichte des Stadtschlosses Kurfürst Friedrich II. „Eisenzahn“ veranlasste ab 1443 den Bau des ersten Stadtschlosses in der damals noch unbedeutenden Doppelstadt Berlin-Cölln auf der Cöllner Seite der Spree. In die zum Fluss hin orientierte Ostfassade wurde unter anderem mit dem „Grünen Hut“ ein Teil der alten Stadtmauer einbezogen. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts stand an dieser Stelle also eine Residenz, als im Auftrag des Kurfürsten Friedrichs III. (seit 1701 König Friedrich I. von Preußen) mit dem Umbau des Schlosses nach Plänen von Andreas 204

Schlüter (1659–1714) ab 1699 einer der bedeutendsten Profanbauten des Barock nördlich der Alpen errichtet wurde. Im Aufbau folgte der querrechteckige Bau mit großem Innenhof (Schlüterhof) einer Vierflügelanlage. Die Nord-, West- und Südfassaden des vierstöckigen Gebäudes waren durch Fensterachsen und Pilaster rhythmisiert und jeweils durch ein dreiachsiges Mittelrisalit gegliedert. Die nördliche Lustgartenfassade besaß ein Portal (das sogenannte Portal V) mit in Superposition eingesetzten Vollsäulen. Das Südportal (Portal I) zum Schlossplatz war mit seinem rustizierten Sockelgeschoss und seinen darüber vorgestellten kolossalen korinthischen Säulen noch prachtvoller gestaltet. Die Ecken der Fassaden ­waren durch vorgestellte Rundtürme eigens hervorgehoben. An der östlichen Spreeseite übernahm Schlüter größtenteils die älteren Bauteile der Renaissance: Erhalten blieben mehrere Turmbauten, darunter der 1443 erbaute gotische Grüne Hut sowie der Apothekenflügel mit den drei Renaissancegiebeln und das davor liegende zweistöckige Hofoffiziantenhaus. 1706, wenige Jahre nach Baubeginn, wurde Schlüter aufgrund von Fehlplanungen die Bauleitung entzogen. Sein Nachfolger Johann Friedrich Eosander, gen. von Göthe vergrößerte den Bau nach Westen um einen zweiten Innenhof (äußerer Innenhof oder Eosanderhof) und damit in seinen Dimensionen um mehr als das Doppelte. Hierbei übernahm er im Norden und Süden größtenteils die Fassadengliederung von Schlüter. Für die neu zu gestaltende Westfassade entwarf Eosander ein imposantes Portal (Portal III) mit Triumphbogenmotiv, vorgestellten Säulen und mächtigem Wappenemblem. Bis 1716 war der Bau in seinem Grundriss und seiner äußeren Gestalt fertiggestellt. 1845 bis 1853 kam die von Eosander bereits angedachte zentrale Kapellenkuppel über dem Westportal hinzu, die Friedrich August Stüler nach Plänen von Schinkel im Auftrag von Friedrich Wilhelm IV. errichtete. Bis ins 20. Jahrhundert hinein bildete das Stadtschloss nicht nur den Mittelpunkt der preußischen Staatsmacht, sondern auch das städtebauliche Zentrum Berlins (Abb. 43) . Nach der Eroberung der Hauptstadt durch sowjetische Truppen im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt und schwer beschädigt, blieb es in seinen Grundmauern bestehen. Dessen ungeachtet wurde 1950 aus ideo­logischen Gründen der Abriss des Schlosses, als ungeliebtes Symbol 205

Abb. 43: Luftbild des ­Berliner Stadtschlosses um 1900. Im Vordergrund die Ostfassade mit den ältesten Gebäudeteilen

überwundener monarchistischer Herrschaft, beschlossen. Die authentische Bausubstanz des Schlosses wurde niedergerissen und war unwiederbringlich verloren. Lediglich das Portal IV wurde in originalen Bauteilen als Spolie – in Gedenken an Karl Liebknecht, der vom Balkon in der Novemberrevolution 1918 die Sozialistische Republik ausgerufen hatte – in den Neubau des Staatsratsgebäudes der DDR (1962–64) integriert. Auf dem ehemaligen Baugrund richtete man mit dem Marx-Engels-Platz eine große Freifläche ein. Im östlichen Bereich wurde 1973–76 nach Plänen des Kollektivs der Bauakademie unter Leitung von Heinz Graffunder der Palast der Republik erbaut. Hier war die Volkskammer untergebracht; zudem fanden kulturelle Veranstaltungen, Ausstellungen, Konzerte und Theateraufführungen statt. Nach der Wende wurde der Palast der Republik asbestsaniert. Die Idee einer Rekonstruktion des Schlosses ging maßgeblich auf die Initiative des Hamburger Kaufmanns Wilhelm von Boddien zurück, der 1992 den „Förderverein Berliner Schloss e. V.“ gründete. Zu dieser Zeit war das Bauwerk „aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden: […] Weil es nur noch wenige Berliner gab, die das Barockbauwerk aus eigener Anschauung kannten, und weil sich in den nachwachsenden Generationen kaum jemand fand, der sich für dessen Geschichte interessiert hätte“.34 Ein Interesse musste ­deshalb erst „konstruiert“ werden, wozu 1993 vor Ort mit einem Gerüst und 206

vorgehängten Planen eine Kulisse des Schlosses aufgebaut wurde, die eineinhalb Jahre stand. Der einflussreiche „Verein der Freunde der Preußischen Schlösser und Gärten“ leistete einige Jahre Überzeugungs- und Lobbyarbeit, um eine Rekonstruktion für die zur Disposition stehende Neuordnung der Stadtmitte zu erwirken. Der Bundestag votierte 2002 mit knapper Mehrheit dafür.35 Ab 2006 wurde der Palast der Republik wieder für kulturelle und künstlerische Interventionen genutzt; 2008 wurde er – nicht ohne Protest – abgerissen. Damit ging ein sprechendes Denkmal für ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte verloren: „Mit dem Palast der Republik war dem Schloß ein durch Namensgebung, funktionale Widmung und kulturellen Anspruch gleichgesetzter Gegenbau entstanden, mit dessen Abbruch das Schloß nun ein zweites Mal verlorengegangen war.“36 Der Abriss muss als fragwürdiges Kapitel im Streben um die Deutungshoheit der historischen Mitte Berlins gewertet werden. Ein anderes ist die (erneute) Neubesetzung des Ortes. Franco Stellas Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses Der Wettbewerb für das neue Humboldt-Forum wurde von der Vorgabe bestimmt, sich in weiten Teilen am Vorbild des Schlüter-Baus zu orientieren. Sie sah insbesondere die simulierende Rekonstruktion entscheidender Fassaden vor, die explizit nicht Bestandteil der Architekturausschreibung waren. Der Italiener Franco Stella (*1943) konnte diese für sich entscheiden. 2013 begann der Wiederaufbau des Schlosses, dem sich im Folgenden über Baubeschreibungen genähert werden soll. Der Grundriss

(Abb. 44)

der ehemaligen Residenz wird in seinen ursprüngli-

chen Dimensionen wiederhergestellt; dennoch sind einige Variationen zum Schloss aus dem 18. Jahrhundert erkennbar. Während der Schlüterhof getreu rekonstruiert wird, ist der westliche Bereich mit dem ehemaligen Eosanderhof neu geordnet. Weiterhin ist der schmale Mittelriegel zwischen beiden Innenhöfen erheblich verbreitert und bietet künftig einen in nord-südlicher Richtung verlaufenden öffentlichen Durchgang zwischen Portal II und IV. Der als „Schlossforum“ bezeichnete Zugang soll die Erschließung der einzelnen Institutionen erleichtern. 207

Abb. 44: Humboldt-Forum: Grundriss des Erdgeschosses

Am Außenbau werden die Fassaden zum nördlichen Lustgarten, zur westlich gelegenen Sichtachse Unter den Linden sowie zum südlichen Schlossplatz (mit der ebenfalls geplanten Rekonstruktion der Bauakademie) allesamt „originalgetreu“ rekonstruiert: Vom Gesamtaufbau der Fassadengliederung, der Portale und den Fensterachsen bis hin zu kleinsten Teilstücken im Skulpturenschmuck werden alle Elemente des historischen Schlosses mit einer minutiösen Detailtreue wiederhergestellt. Gleiches gilt für drei Fassaden des inneren Schlüterhofs (Abb. 45) . Neben der Nord- und Südfassade betrifft dies auch den östlichen Spreeflügel, der mit einem vorspringenden fünfachsigen Mittelrisalit von jeweils über zwei Stockwerke reichenden Kolossalordnungen besonders prachtvoll geschmückt war.37 Grundlage der Rekonstruktion sind Pläne, Detailfotos und Überreste des Schlosses sowie 40 Bildplatten von Außen- und Hoffassaden aus der Sammlung von Messbildaufnahmen preußischer Bauwerke, die zwischen 1885 und 1920 angefertigt worden sind. Mit aufwendiger Computertechnologie konnten die Lichtbilder dergestalt digital entzerrt werden, dass sich alle Fassaden des Gebäudes bis auf einen halben Zentimeter genau erfassen ließen.38 Die so erstellten Aufrisse enthalten laut Haubrich auch „alle Unregelmäßigkeiten und Beschädigungen in den Schlossfassaden, die sich über die Jahrhunderte ­a ngesammelt haben“.39 Diese Fassaden nähern sich damit dem Vorgänger zu 208

Abb. 45: Schlüterhof mit Blick nach Norden

einem bestimmten Zeitpunkt möglichst exakt an, weshalb sie als Simulationen bezeichnet werden können. Der Architekt Wilfried Kuehn liest das Schloss mit seinen simulierten Fassaden als Zeichen: „[Das] Zeichen wird nicht nur zitiert, sondern angeeignet, verwendet, neu kontextualisiert und rekontextualisiert. Das architektonische Zeichen hat weder Ursprung noch Originalzustand. Es befindet sich als Sprache in ständig differenter Wiederholung und wird dadurch laufend verändert. Das Schloss wird in Form einer doppelten Einschreibung Teil der heutigen Stadt: als Museumsgebäude ist es Teil der gebauten Stadt. Doch ist das Schloss, indem es selbst musealisiert wird, gleichzeitig Teil der Stadt als Ausstellung […].“40 Für Kuehn ist das neue Stadtschloss daher ein „simuliertes Ready-Made“.41 Er übernimmt den Begriff von Boris Groys, der ihn im Zusammenhang mit den Polyurethan-Repliken des Künstlerduos Peter Fischli / David Weiss etabliert hat. Deren Kopien banaler Alltagsgegenstände „simulieren“ nur ihren Ready-­ Made-Charakter und geben sich bei genauem Hinsehen als minutiös hergestellte Plastiken zu erkennen. Die Idee des Ready-Made wird auf den Kopf gestellt: Der langwierige künstlerische Arbeitsprozess verschwindet und ist in 209

der Rezeption nicht mehr sichtbar. Nach Groys ist dem Ready-Made die ­Erkenntnis eingeschrieben, dass die „Grenze zwischen Kunst und Realität“ letztlich „rein spirituell ausgelegt“ ist: „Diese Grenze wird durch eine innere, geistige Entscheidung des einzelnen definiert, die Dinge anders zu sehen. Dadurch bekommt diese Grenze eine mythische Dimension […]. Das klassische Ready-made-Verfahren hat die Qualität eines mystischen Erlebnisses, das für Peter Fischli / David Weiss offensichtlich suspekt ist. Ihre Strategie besteht ­a llem Anschein nach darin, die Grenze zwischen Kunst und Realität zu ­profanieren.“ 42 Ähnlich wie die Repliken des Künstlerduos werden auch die Fassaden des Humboldt-Forums von Steinmetzen handwerklich aufwendig gefertigt. Die Idee des „simulierten Ready-Made“ lässt sich anhand des „Problems Portal IV“ prägnant auf das Humboldt-Forum übertragen. Dieses Portal wurde, wie erwähnt, als einziges zusammenhängendes Bauteil des ehemaligen Stadtschlosses nicht zerstört, sondern in die Fassade des ehemaligen DDR-Staatsratsgebäudes transloziert, wo es sich noch heute befindet. Problematisch ist, dass mit dem Neubau des Humboldt-Forums in unmittelbarer Nachbarschaft ein zweites, identisches Portal entsteht. Hier entspinnt sich ein Paradox, das schon im antiken Mythos vom „Schiff des Theseus“ beschrieben ist. Dieses Paradox vom „Schiff des Theseus“ lässt sich aber in historischer Perspektive und mit einer differenzierten Begrifflichkeit letztlich leicht auflösen: Die materielle Bausubstanz des Portals aus dem frühen 18. Jahrhundert ist im nahegelegenen DDR-Gebäude zu finden. Die Simulation des Portals aus dem frühen 21. Jahrhundert befindet sich am rekonstruierten Schlossneubau. Welches Portal aber nun als das „echte“ Portal erlebt wird, definiert sich nur über die (kulturell bedingte) Grenzziehung selbst. Insofern darf man Kuehns Bemerkung durchaus ernst nehmen, der die Wettbewerbsvorgabe – die sich eben „keinen originellen Baukörper“ à la Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao wünscht – als eine „Befreiung“ 43 versteht. Kuehn folgert, dass die simulierten Fassaden „eine überfällige ben­ jaminsche Überwindung der Aura auch in der Architektur“ bedeuten.44 ­Zugleich führen sie den geforderten Neuheitswert, der in der modernen Architektur verortet ist, zu einem Ende. Als repräsentativer Bau im Zentrum 210

Berlins – im Zentrum Europas – kann er tatsächlich eine Zäsur in der Architekturgeschichte darstellen. Die simulierten Fassaden dürfen nicht als Versuch gewertet werden, den barocken Bau wieder „auferstehen“ zu lassen. Sicherlich bedeuten sie auch nicht sein „Fortleben“, wie es eine konzeptuelle Rekonstruktion anstrebt. Die konzeptuelle Rekonstruktion liegt im „Grenzbereich“. Die simulierende Rekon­ struktion ist „ent-grenzend“. Die „Aura“ spielt für sie keine Rolle mehr. Was die Simulation bedeutsam macht, ist, dass sie sich letztlich überhaupt von jeglichen Vorstellungen von „Wesenheiten“ befreit. Wie zuvor hergeleitet, besitzt sie vielmehr den maximal erreichbaren Ausstellungswert. Gerade diesem „profanierten“ Ausstellungswert jedoch kann – durch den Verlust der Aura hindurch – ein eigener ent-orteter, „ent-seelter“ Glanz zuerkannt werden. Vielleicht hat Benjamin in dem vom ihm nicht weiter ausgearbeiteten Ausstellungswert tatsächlich einen „Ausweg“ aus dem Konstrukt der Aura vermutet. Die von Kuehn formulierte „Überwindung der Aura“ trifft es womöglich nicht genau, denn der Begriff der Überwindung ist zu sehr mit der Idee der Avantgarde verknüpft. Der Bau beschreibt keine „Aufhebung“ des Hier-und-Jetzt, sondern ein „Hiersein“.45 Als entauratisierte Simulation ist sie weder Original noch Kopie. Aber auch eine Ausstellung generiert Bedeutung beziehungsweise fordert ­Bedeutungszuschreibungen. So Dolff-Bonekämper: „Das rekonstruierte, also neu hingestellte Bauwerk kann niemals dasselbe sein wie das, das vorher bestand. Es wird ein neues Werk, eine neue Setzung, deren Autoren die Akteure der Gegenwart sind. Ihnen gebührt das Urheberrecht und auch die Urheberpflicht, das heißt: Sie müssen sich und anderen erklären, was ihr Werk bedeutet. Denn Formgleichheit als solche gibt noch keinen Sinn.“ 46 Die Bedeutung von simulierten Fassaden wird durch die neue Funktion entscheidend mitbestimmt. Berühmtes „Negativbeispiel“ ist das Braunschweiger Stadtschloss. Auch dieses entstand mit simulierten Fassaden neu, jedoch als modernes Einkaufszentrum. Eine derartig alltägliche Nutzung scheint der „ehrwürdigen“ Gestalt auf den ersten Blick kaum angemessen. Die semantische Transformation geht in diesem Fall mit einer radikalen „Profanierung“ 211

einher – und ist als diese, genauer betrachtet, nicht uninteressant. Die Frage der „Angemessenheit“ der Funktion ist aber letztlich keine kunsthistorische, sondern eine moralische Frage. Die mit der Simulation einhergehende semantische Transformation hat schon Jorge Luis Borges prägnant formuliert. Wieder ist ein Blick auf sein Pierre Menard, Autor des Quijote erhellend: Am Ende seiner Betrachtungen dieses Wort für Wort identisch neu geschriebenen Textes – und damit eines Werks mit vollkommen neuer Bedeutung – fasst er zusammen: „Der Quijote – sagte mir Menard – war vor allem ein ergötzliches Buch; heute ist er ein Anlaß für patriotische Trinksprüche, grammatikalischen Hochmut, obszöne Luxusausgaben. Ruhm ist Verständnislosigkeit, und vielleicht die schlimmste.“ 47 Borges galt indes zeitlebens als großer Verehrer von Cervantes. Für ihn stellt der Don Quijote zweifelsohne das zentrale Werk spanischsprachiger Literatur überhaupt dar. Seine Kritik sollte also nicht zu wörtlich genommen, sondern vor allem so verstanden werden, dass der Kontext immer entscheidend zur Bedeutung eines Werks beiträgt. Im Humboldt-Forum stellt die hier analysierte „Formgleichheit“ der Fassaden aber nur einen Teilaspekt dar, denn der Bau folgt nicht ausschließlich dem Konzept der simulierenden Rekonstruktion. Die von der Spree aus sichtbare Ostfassade besitzt ein unprofiliertes Fassadenraster bar jeder Ornamentik. Sie weist historische Bezüge zur rationellen Architektur und zur italienischen Moderne auf; als zeitgenössischer Gegensatz zu den simulierten Fassaden angelegt, passt sie sich diesen in Gebäudeund Geschosshöhe an. Damit ignoriert sie jedoch die historische „Sonderstellung“ der Spreeseite, wo sich bis zum Abriss verschiedene Bauteile aus der Gotik und der Renaissance erhalten hatten. Sie besaß gerade keine kongruente, sondern eine uneinheitliche Fassadengliederung. Es ist festzustellen, dass die Ostfassade die historische Situation nicht konzeptuell in einer modernen Formensprache übersetzt, sondern lediglich das Bauvolumen aufnimmt. Sie muss in ihrer Gestaltung unabhängig vom Vorgängerbau gelesen werden, wie es die Leitlinien der kritischen Rekonstruktion vorgeben.

212

Das neue, den Bau mittig von Norden nach Süden durchziehende Schlossforum ist dagegen eine Hinzufügung von Stella (Abb. 46) . Die ehemaligen Innenhofportale (Portal II und IV) waren schon im historischen Bau vorhanden und werden getreu rekonstruiert. Die sich zu beiden Seiten des neuen, schmalen Hofes erhebenden Gebäudeteile passen sich diesen in Geschosshöhe an, bleiben jedoch durch Abstraktion und Verweigerung von Ornamenten in ihrer Architektursprache strikt modern. Ein ähnliches Vorgehen ist im erheblich verkleinerten Eosanderhof zu beobachten: Bauelemente der simulierenden Rekonstruktion treffen auf in moderner Formensprache ausgeführte Bauteile. Bruch- oder Nahtstellen werden jedoch nicht betont. Beide stehen vielmehr beziehungslos nebeneinander. Dies ist insofern als konsequent zu werten, weil eben keine unterschiedlichen Zeitschichten vorhanden sind, die voneinander getrennt werden müssten: Die Simulationen der Barockfassaden sind genauso „alt“ wie die nebenstehenden Bauteile in zeitgenössischen Formen; ihre Kombination verweist nur auf den einheitlichen Neubaucharakter. Betrachtet man die Innenhöfe, kann die „falsche Identifikation“ des neuen Humboldt-Forums als ein Barockbau des frühen 18. Jahrhunderts deshalb letztlich ausgeschlossen werden. Ein Besucher wird sich nicht in einem Palast der Barockzeit wähnen, zumal die Geschichtlichkeit des Baus mit Zerstörung und Wiederaufbau in Ausstellungen selbst thematisiert werden wird. Darüber hinaus fasst das neue Humboldt-Forum den Stadtraum auf sinnvolle Weise neu: Es knüpft an die vormoderne Grundrisssituation an und überschreibt im Sinne der kritischen Rekonstruktion die moderne Stadtgeschichte. Nichtsdestotrotz blendet es damit eine entscheidende Epoche deutscher ­Geschichte aus. Gerade aufgrund seines Kontextes – der Überlagerung des Ortes mit konkurrierenden, sich geradezu diametral widersprechenden Bedeutungsebenen – ist der Bau weiterhin kritisch zu bewerten. Das Humboldt-Forum ist weder als Ganzes eine Simulation noch ist es lediglich eine Fassadensimulation. Es ist sicherlich auch kein Bau, in dem sich ­h istorische und zeitgenössische Formen „hybridisieren“. Rekonstruierte und zeitgenössische Bauteile stehen sich letztlich auch nicht „gegenüber“ – sie ­entwickeln keine dialektische Spannung. In diesem undialektischen, sich 213

Abb. 46: Das „Schlossforum“

drängenden „Nebeneinander“, das keine Grenze kennt, ist es ein erstaunlicher Bau: eine Struktur der Konjunktion, die der Logik des „Und“ folgt. Als solche wird er als Kulturbau im globalisierten 21. Jahrhundert interessant. Stellas Entwurf lässt den Bau durch das beziehungslose Nebeneinander der rekonstruierten und der zeitgenössischen Bauelemente beispiellos werden. Rückblickend wird das Humboldt-Forum deshalb womöglich als ein prägendes Baumonument – nicht zwingend als ein „Denkmal“ – der Architektur­ geschichte des 21. Jahrhunderts beurteilt werden.48

214

Anmerkungen

19 Für die Metapher des Palimpsests siehe u. a. ­Frampton 2009, Keates 2009, S. 52. 20 Harrap 2009b, S. 121. 21 Geipel 2009, S. 14.

1

Eine genaue Beschreibung der Bautechnik und ihre Weiterentwicklung auf der Baustelle des Neuen ­Museums liefert Henze 2009.

2

Stüler 1862, S. 2.

3

Zorn 2009, S. 115. Für das architektonische und dekorative Konzept der Räume der ägyptischen Sammlung siehe auch Stüler 1862, S. 2 f.

4

Lepsius 1879, S. 3.

5

Buttlar 2010, S. 20.

6

van Wezel 2003, S. 71.

7

Siehe dafür auch die Ausführungen des Architekten in Stüler 1862, S. 1.

8

Joachimides 2001, S. 29.

9

Stüler 1862, o. S.

10 Gaehtgens 1992, S. 14. Die am Ende über 1000 Objekte umfassende Abgusssammlung des Neuen Museums wurde sogar 1874 noch einmal mit ­er­heblichen finanziellen Mitteln vergrößert; sie ­verblieb bis 1921 im Museum. 11 Für die Modernisierungen der Ausstellungsräume vor dem Zweiten Weltkrieg siehe u. a. Rykwert 2009, S. 32 und Bähr 2009. 12 Für die Zerstörung bis zum Wiederaufbau siehe Schade 2009. 13 Badstübner und Wolf 1994. 14 Bis 2025/26 wird hier ein neues „zukunftsfähiges Museumsquartier“ geschaffen. Entscheidendes ­Element ist der Neubau eines Eingangsgebäudes, der James-Simon-Galerie westlich des Neuen ­Museums. Diese historische städtebauliche ­Situation – die Westansicht des Baus war auch im 19. Jahrhundert durch Schinkels Packhofgebäude behindert – wird damit kritisch rekonstruiert. 15 Für die Verwendung der Schlämme an den Außenfassaden siehe auch Tietz 2009. 16 Siehe Chipperfield 2009a, S. 15 und http://www. davidchipperfield.co.uk/project/neues_museum (abgerufen am 15.09.2015). 17 Petzet 2009, S. 13. 18 Wie schwierig es war, Anfang des 21. Jahrhunderts überhaupt eine traditionelle Manufaktur zu finden, welche die im 19. Jahrhundert hoch innovativen Tontöpfe noch produzierte, berichtet Harrap 2009a, S. 62.

22 Chipperfield 2009a, S. 16. 23 Buttlar 2010, S. 51. 24 Zit. nach Wildung 2009, S. 67. 25 Geipel und Chipperfield 2009, S. 16. 26 Siehe Frampton 2009, S. 104. Für den Zustand der Korenhalle im Jahre 1989 siehe Maaz 2009, S. 42. 27 Siza 2009, S. 9. 28 Buttlar 2010, S. 33. 29 Irace 2013, S. 8 ff. 30 Chipperfield 2009a, S. 15. 31 Chipperfield 2009b, S. 11. 32 Rykwert 2009, S. 32. 33 Mörsch 2009, S. 28. 34 Haubrich 2012, S. 11. 35 CDU/CSU- und FDP-Fraktion votierten nahezu ­einstimmig für das Schloss, in der SPD knapp die Hälfte, bei den Grünen ein Viertel. Ebd., S. 55 f. 36 Dolff-Bonekämper 2011, S. 138. 37 Lediglich das von Schlüter ursprünglich über dem zentralen Rundbogen platzierte große Wappen wird nicht rekonstruiert. 38 Durch diese Technik wurde beispielsweise erkennbar, dass die Adlerplastiken unterhalb des Haupt­ gesimses leichte Abweichungen aufwiesen; auch die Bearbeitung der Steinoberflächen von unterschiedlichen Steinmetzen mit ihren individuellen Techniken wurde an den verschiedenen Bauteilen sichtbar. Haubrich 2012, S. 97 ff. 39 Ebd., S. 98. 40 Kuehn 2011, S. 242 (Hervorh. i. O.). 41 Ebd., S. 239. 42 Groys 1994, S. 28. 43 Kuehn 2011, S. 239. 44 Ebd., S. 240. 45 Han 2005, S. 43 (Hervorh. i. O.). 46 Dolff-Bonekämper 2011, S. 146. 47 Borges 2004, S. 43 f. 48 In jedem Fall bündeln sich mit der (neuen) „Schlossdebatte“ die Positionen der zeitgenössischen Architektur und Denkmalpflege schon vor Fertigstellung des Baus wie unter einem Brennglas. Allein diese Tatsache dürfte dem Humboldt-Forum seinen legitimen Platz in der Architekturgeschichte sichern.

215

Schluss

Von John Ruskin über Georg Dehio und Alois Riegl bis zu Walter Dirks und Georg Mörsch zieht sich scheinbar ein roter Faden: Aus denkmalpflegerischer Sicht ist Rekonstruktion abzulehnen. Betrachtet man allerdings den Begriff Rekonstruktion genauer, muss diese Kontinuität infrage gestellt werden. Dehio ist kein entschiedener Gegner von Rekonstruktion im Allgemeinen, sondern von einer ausufernden Praxis der historistischen Rekonstruktion, die in ihrer zeitbedingten Dimension inzwischen offensichtlich geworden war. Mit seiner Forderung nach einer modernen Denkmalpflege, die ausschließlich auf bauarchäologischer Dokumentation aufbaut, etabliert er die Voraussetzungen der simulierenden Rekonstruktion. Die für die moderne Denkmalpflege grundlegende Charta von Venedig wiederum lehnt die historistische und simulierende Rekonstruktion ab. Stattdessen befördert sie die archäologische Rekonstruktion, in der sich Neubauteile harmonisch in den Bestand einfügen. Alois Riegls Denkmalwerte stehen dagegen für ein Konzept, in dem sich die zeitgenössischen Bauformen gestalterisch ostentativ vom Altbestand abgrenzen. Die verschiedenen theoretischen Positionen bilden keine einheitliche Basis für die Denkmalpflege. Aus historischer Perspektive betrachtet wird das gemeinsame Fundament brüchig. Der denkmalpflegerische Diskurs bringt vielmehr verschiedene Methoden der Rekonstruktion historischer Bauten hervor, die in diesem Buch nacheinander betrachtet wurden. Dabei wurden fünf architektonische Konzepte der Rekonstruktion herausgearbeitet, die es in der aktuellen Debatte generell zu unterscheiden gilt: die historistische Rekonstruktion, die interpretierende ­Rekonstruktion, die archäologische Rekonstruktion, die konzeptuelle Re­ konstruktion und die historische Simulation. Sie bilden das Spektrum der ­Möglichkeiten architektonischer Rekonstruktion ab. Ihre unterschiedlichen ­P rämissen werden im Folgenden noch einmal zusammengefasst und zugleich die Kriterien herausgestellt, unter welchen Voraussetzungen ein bestimmtes Konzept sinnvoll erscheint. 216

Die historistische Rekonstruktion ist ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliertes denkmalpflegerisches Verfahren; sie basiert erstmals auf einem theoretischen Fundament und verfolgt ein stringentes architektonisches Konzept. Ihre Stoßrichtung ist explizit baukünstlerisch: Sie führt das Baumonument in einen „Zustand der Vollkommenheit“ zurück, der zuvor nie existiert hat. Zugunsten des Ideals einer der ältesten Bauepoche folgenden Stileinheit können spätere Anbauten und Veränderungen rückgebaut und zerstört werden. Das Baumonument wird in einem bewusst fiktiven „Urzustand“ wieder her- und als Anschauungsobjekt der Geschichte ausgestellt: Ein „poetisches“ Be-Nutzen der Historie. Als nicht gänzlich freie, sondern aneignend schöpferische Intervention ist sie zeitbedingt. Die historistische Rekonstruktion zielt darauf, Geschichte als „Gesamtkunstwerk“ umzubilden und wieder zum „Leben“ zu erwecken. Nicht unbedingt ihr Wille zur großen Erzählung, aber ihr radikaler baukünstlerischer Anspruch besitzt bis in die Gegenwart hinein Berechtigung. Die interpretierende Rekonstruktion interveniert ebenfalls baukünstlerisch und ist darin der historistischen Rekonstruktion verwandt. Ihr Architekt entwickelt das Baumonument weiter und benutzt dafür seine eigene, zeitgenössische Formensprache. Alt und Neu verflechten sich; zugleich sind sie wie in einer Collage durch Brüche und Nahtstellen in ihrer Differenz gekennzeichnet und betont: Die interpretierende Rekonstruktion generiert ein dialektisches Spannungsfeld aus Kontrast und Kontinuität. Die modernen Einbauten können als Interpretation des historischen Baus verstanden werden. Die interpretierende Rekonstruktion steht im Konflikt mit modernen denkmalpflegerischen Grundsätzen, schließt sie doch eine weitgreifende Freiheit im Umgang mit dem Baumonument ein. Die modernen Einbauten lassen die geschichtlichen Spuren in den Hintergrund treten. Durch die explizit etablierte Differenz zur historischen Substanz setzen sie diese aber wiederum in ihr eigenes Recht: Nicht ob ihrer unbedingt zu erhaltenden Wahrhaftigkeit, sondern als gestalterisches Potenzial für die Gegenwart bleibt sie substanzieller Bestandteil der Rekonstruktion.

217

Die archäologische Rekonstruktion stellt nicht die historische Gestalt, sondern lediglich das bauarchäologisch dokumentierte Bau- und Raumvolumen wieder her. Neu errichtete (Roh-)Bauteile heben sich ab, sind aber zurückhaltend, sich in die historische Substanz harmonisch einfügend und so weit möglich rückbaubar ausgeführt. Die archäologische Rekonstruktion baut auf den in der Charta von Venedig formulierten Prinzipien auf und steht im Einklang mit der modernen Denkmalpflege: Möglichst alle Zeitschichten des Baus – seine Veränderungen in späteren Epochen, Beschädigungen durch Umwelteinflüsse oder gewaltsame Eingriffe – sind gleichermaßen zu erhalten. Sie ­betont das Fragmentarische und etabliert eine „Metaerzählung“ des Baumonuments. Die archäologische Rekonstruktion besitzt ihr großes Potenzial dort, wo die noch erhaltene materielle Substanz kunst- und/oder historisch hohe Relevanz besitzt, aber auch, wo dem ruinösen Bau eine eigene Bedeutung eingeschrieben ist. Beide – Bausubstanz und Bedeutung – sind dabei nicht nur erhalten, sondern in der Rekonstruktion thematisiert und ausgestellt. Je weniger his­ torisches Material vorhanden ist, umso weniger kann sie dieses Potenzial entfalten. Aber auch ein wieder erfahrbares, schlichtes (Roh-)Bauvolumen ohne historische Bausubstanz stellt eine berechtigte Spielart dieses Rekonstruk­ tionskonzepts dar. Die konzeptuelle Rekonstruktion arbeitet baukünstlerisch und findet ihre Wurzeln deshalb in der historistischen Rekonstruktion. Als „Übersetzung“ des historischen Baus ist sie in einheitlich zeitgenössischer Architektursprache errichtet. Möglicherweise noch erhaltene Bausubstanz spielt eine untergeordnete Rolle. Sie orientiert sich an der Gestalt, die mittelbar rezipiert, abstrahiert und aktualisiert wird. Die konzeptuelle Rekonstruktion formuliert ein „Dazwischen“: Sie ist im Grenzbereich zwischen historischem Bau und zeitgenössischem Neubau zu verorten. Sie bedeutet nicht die Ausstellung, sondern das „Fortleben“ der Gestalt in hybriden Formen der Gegenwart. Sie ist kein Abbild, sondern eine Neuerfindung des Baumonuments. Die konzeptuelle Rekonstruktion bietet sich aus denkmalpflegerischer Sicht an, um einen vollkommen zerstörten Bau wieder erfahrbar zu machen. 218

Gerade durch dessen Aneignung kann sich ein neues gestalterisches Potenzial entwickeln, welches ein gänzlich unabhängiger Neubau entbehren muss. Eine konzeptuelle Fassadenrekonstruktion ermöglicht zumindest, eine historische Stadterfahrung zu aktualisieren. Aber auch ein noch (ruinös) erhaltener Bau kann auf überzeugende Weise konzeptuell rekonstruiert werden. Die historische Substanz wird teilweise zerstört und/oder geht in der neuen Gestalt vollkommen auf. Die kritische Rekonstruktion beschreibt in erster Linie ein städtebauliches Konzept: Sie verfolgt die Wiedergewinnung des historischen Stadtgrundrisses und -raums. Sie steht damit im Gegensatz zur modernen Stadtplanung, die historische Spuren ausgelöscht und den Stadtraum nicht definiert hat. An einem historischen Vorgängerbau orientiert sie sich nur bedingt. Sie kann nur dann als architektonisches Konzept begriffen werden, wenn sie Grundriss und Volumen eines historischen Baus wieder erfahrbar macht. Trotzdem lassen sich ihre Forderungen auch als Begründung für zeitgenössische Rekon­ struktionen begreifen, die in anderen Konzepten ausgeführt sind. Die historische Simulation arbeitet nicht baukünstlerisch, sondern beruht auf wissenschaftlicher Baudokumentation. Ihr Anspruch ist es, eine historische Gestalt archäologisch und technisch identisch zu rekonstruieren. Möglicherweise noch erhaltene Substanz wird von den Neubauelementen visuell nicht abgegrenzt. Eine Simulation kann keine kunst- und historischen Werte wiederherstellen; sie besitzt aber einen symbolischen und sozialen Wert, der Identität stiften kann. Die Simulation umfasst die Erinnerung an den Bau und seine Zerstörung, denn die historische Gestalt wird im Neubau semantisch transformiert. Sie ist deshalb nicht „mythisch“, sondern modern. Ein Bau wird nicht wieder zum „Leben“ gebracht. Insofern besitzt die Simulation keine „Aura“, denn ihr Baumaterial entbehrt der historischen Zeugenschaft. Dagegen kann man ihr den maximal erreichbaren Ausstellungswert beimessen. Im Versuch der möglichst exakten Annäherung verfährt sie „radikaler“ als ein (abstrahierendes) Modell.

219

Authentizität und Diskurs Kann eine Simulation aber als „authentisch“ bezeichnet werden? Weil sie keine geschichtliche Zeugenschaft beanspruchen kann, hinterfragt sie die Autorität der „Echtheit“ und berührt damit einen zentralen Gedanken der modernen Denkmalpflege. Denn woraus sich die Argumentationen der Konzepte von Benjamins Aura und Baudrillards Realem, von Ruskins Spirit und der modernen Authentizität der Denkmalpflege speisen, ist das Postulat einer historischen „Substanz“. Die Idee eines solchen historischen „Wesens“ als einer im Material verorteten Wahrheit lässt sich auf eine wirkmächtige geschichtsphilosophische Denktradition zurückführen. Gerade diese Tradition aber wird von poststrukturalistischen und dekon­ struktivistischen Theorien seit den 1960er-Jahren tiefgreifend in Zweifel gezogen. Michel Foucault beispielsweise untersucht das Wesen der Wahrheit als Konstruktion in historischer Perspektive. Um die divergierenden Wahrheiten fassbar zu machen, verortet er sie als „Wille zur Wahrheit“ in einem – nicht negativen oder repressiven, wohl aber strategisch-produktiven  – Machtzusammenhang. Mit der Diskursanalyse, die er in Die Ordnung des Diskurses1 (1970) in ihren Leitlinien umrissenen hat, entwickelt Foucault ein Instrumentarium, das die Wahrheit an sich als Wahrheit des Diskurses (bedingt) „aufhebt“. In einem niemals abgeschlossenen Diskurs werden nach Foucault ­dezentrale, nicht kontinuierliche, tendenziell instabile Machtverhältnisse verhandelt. Das Wesen der Wahrheit entpuppt sich für ihn als erkenntnistheoretisch zementierte Machtstruktur: „Das Ergebnis ist eine Art positiver Zweideutigkeit. Als ob er [Foucault] es vermeiden wollte, den Grund zu bezeichnen, der ihm vielleicht Halt bieten könnte, sucht er die Beständigkeit der Bewegung. Foucault vervielfacht den archimedischen Punkt […] und ­verabschiedet, einzig und allein mit dieser Streuung, eine Tradition. Die ­k ri­t ische Besinnung auf die Herkunft führt nicht zu neuen Fundamenten, ­sondern in die Permanenz der Revision, des Positionswechsels und des Neubeginns.“ 2 Gilles Deleuze wiederum liefert mit seiner Theorie des Rhizoms ein neues Modell, in dem sich kulturelle Ausdrucksformen weder notwendigerweise 220

aufheben noch auf ein deterministisches Ende zulaufen – ein undogmatisches Modell, welches sich gerade mit zunehmender Komplexität als flexibler und für die Strukturierung von Wissen in der Gegenwart als zweckdienlicher herausstellt. Auch ihm ist das Verständnis von essenziell angenommenen ­Wesenheiten fremd. Das Rhizommodell kann deshalb auf Begriffe wie „Fälschung“ verzichten und ist imstande, kulturelle Phänomene umfassender darzustellen. Deleuzes Denken in rhizomatischen „Plateaus“ ist ent-grenzend – es verweigert sich einer Hierarchisierung von „wahrer“ Kunst und „Kitsch“, es verweigert sich aber auch der Idee eines Ursprungs oder Originals. In Platon und das Trugbild3 (1969) konnotiert Deleuze die Simulation deshalb explizit positiv. Sie besitze zwar eine „äußerliche“ Ähnlichkeit, beziehe sich aber nicht wie ein Abbild auf die Idee eines Originals: „Das Trugbild ist kein degradiertes Abbild, es birgt eine positive Macht, die sowohl das Original wie das Abbild, das Modell wie die Reproduktion verneint.“ 4 Es ist, was Deleuze in Anlehnung an Nietzsche die „Umkehrung des Platonismus“ nennt, die Umkehrung eines die abendländische Kultur seit Jahrtausenden prägenden Idealismus, der ein Verständnis von Original und Abbild gebiert. Die Streitfrage um simulierende Rekonstruktion lässt sich vor dem Hintergrund des philosophischen Diskurses im 21. Jahrhundert nicht mehr ohne Weiteres auf die schlichte Frage nach Wahrheit oder Fälschung reduzieren. Denn wo die historische „Wahrheit“ keineswegs als eindeutig definierter Begriff mehr gelten kann, verliert auch die „Fälschung“ ihre bezeichnende Schärfe. In diesem Sinne gilt es, wie in diesem Buch unternommen, das Phänomen der „historischen Authentizität“ selbst historisch zu denken. Man mag es als „Krise“ der Denkmalpflege ansehen, wenn das Fundament der „Echtheit“ an sich instabil wird. Man mag sich zum Widerstand berufen fühlen, wenn die Autorität des Denkmals ins Wanken gerät. Kann man es aber nicht auch als Gewinn begreifen, wenn sich die Vielfalt der „Authentizitäten“ im 21. Jahrhundert nicht mehr auf ein gemeinsames Fundament reduzieren lässt, auf dem alles andere aufbaut? Kann man es nicht als Befreiung verstehen, wenn weder das Material noch die Gestalt noch ein baukünstlerisches Ideal mehr als an und für sich wahr gelten muss? 221

Denn was die vorangegangenen Ausführungen vor allem gezeigt haben, ist, dass die Konzepte der Rekonstruktion keiner kontinuierlichen Entwicklungsgeschichte folgen. Sie bauen auf keiner historischen Notwendigkeit auf und streben keinem letztendlichen Ziel entgegen. Sie negieren sich nicht, sondern existieren in der Moderne nebeneinander. Eben dieses Nebeneinander eröffnet neue Betrachtungsperspektiven: Die Simulation besitzt keine Aura, aber sie formuliert auch keinen Widerspruch zum Denkmal an sich. So kann man der Simulation eine andere, eine entauratisierte Authentizität zusprechen. Sie glänzt in ihrer Auralosigkeit. Im Nebeneinander der Konzepte büßt die Denkmalpflege nicht ihre traditionelle Berechtigung ein. Die Erhaltung und Tradierung unwiederbringlicher kunst- und historischer Zeugnisse bleibt ihr bestimmendes Aufgabengebiet. Ein Nebeneinander ist kein „Paradigmenwechsel“ – kein „Entweder-Oder“, sondern ein „Sowohl-als-Auch“. Die dargelegten Konzepte der Rekonstruktion bieten einen Überblick der Handlungsoptionen. Die Bewertung eines jeden Konzepts kann aber nicht allgemeingültig, sondern nur anhand des zu verhandelnden Einzelfalls vorgenommen werden. Wie gezeigt, lassen sich durchaus Kriterien finden, die jedes Konzept unter gewissen Voraussetzungen als sinnvoll erscheinen lassen. Im Nebeneinander entsteht deshalb keine postmoderne „Beliebigkeit“. Vielmehr führt es zu einem Mehr an Kultur: Es führt die europäische Tradition der Denkmalpflege weiter und erkennt zugleich andere Möglichkeitsräume architektonischer Ausdrucksformen an. Die terminologisch differenzierten und anhand von beispielhaften Bauanalysen aufgezeigten Konzepte eröffnen Handlungsräume für die architektonische Praxis. Sie sollten nicht als richtig oder falsch oder als dogmatische Schemata verstanden werden, die sich gegenseitig ausschließen. Vielmehr lassen sie sich im konkreten Rekonstruktionsprojekt jeweils neu austarieren und miteinander kombinieren und vervielfältigen so das gestalterische Potenzial der Rekonstruktion im 21. Jahrhundert.

222

Anmerkungen

1

L’ordre du discours stellt Foucaults Antrittsvor­lesung am Collège de France dar. Der Erstabdruck erfolgt 1971; für die deutschsprachige Über­setzung siehe Foucault 2014.

2

Konersmann 2014, S. 69 f.

3

Erschienen als Platon et le Simulacre in Logique des Sens. Für die deutschsprachige Übersetzung siehe Deleuze 1993, S. 311 ff.

4

Ebd., S. 320 (Hervorh. i. O.).

223

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis / Nachweise

Abb. 36: © Sasha Stone Abb. 37: © Pepo Segura – Fundació Mies van der Rohe Abb. 38: © CC BY-SA 2.5 Abb. 39: Stüler 1862

Abb. 1: © Arch. Photo. Paris/CNMHS Abb. 2: © Achim Bednorz Abb. 3: Rahtgens 1913 Abb. 4: Rahtgens 1913 Abb. 5: © Achim Bednorz Abb. 6: © Architekturmuseum der TU München Abb. 7: © Franz Wimmer, München Abb. 8: © Archiv Franz Kießling, München Abb. 9: Umzeichnung nach Murphy 1990 Abb. 10: © Ly Dieu Dao Abb. 11: Public Domain CC0 1.0

Abb. 40: © David Chipperfield Abb. 41: © Ute Zscharnt for David Chipperfield Architects Abb. 42: © SMB / David Chipperfield Architects, photo Ute Zscharnt Abb. 43: © Stiftung Stadtmuseum Berlin. Abb. 44: © Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss/ Architekt Franco Stella Abb. 45: © Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss/ Architekt Franco Stella Abb. 46: © Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss/ Architekt Franco Stella

Abb. 12: © Palazzo Grassi S.p.A, Andrea Jemolo Abb. 13: © Palazzo Grassi S.p.A, Andrea Jemolo Abb. 14: © Palazzo Grassi S.p.A, Andrea Jemolo Abb. 15: Umzeichnung nach Gritella 1986 Abb. 17: © Paolo Pellion, Turin Abb. 18: © Paolo Pellion, Turin Abb. 19: © Paolo Pellion, Turin Abb. 20: © Jörg Schöner, Stiftung Frauenkirche Dresden Abb. 21: © Volker Metzler, Stiftung Frauenkirche Dresden Abb. 22: © Stiftung Frauenkirche Dresden Abb. 23: © Mainichi Shinbun Abb. 27: © www.stiftungbrandenburgertor.de Abb. 28: © Marcus Leith, Tate Photography Abb. 29: © Tate Photography Abb. 30: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017 Abb. 31: © Bruno Fioretti Marquez Architekten Abb. 32: © Ly Dieu Dao Abb. 33: © Ly Dieu Dao Abb. 34: © Archiv Josef Paul Kleihues Abb. 35: © Fundació Mies van der Rohe

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Bauwelt Fundamente (Auswahl)

  1 Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts   2 Le Corbusier, 1922 – Ausblick auf eine Architektur   4 Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte  12 Le Corbusier, 1929 – Feststellungen  16 Kevin Lynch, Das Bild der Stadt  21 Ebenezer Howard, Gartenstädte von morgen (1902)  41 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt  50 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur  53 Robert Venturi / Denise Scott Brown / Steven Izenour, Lernen von Las Vegas 118 Thomas Sieverts, Zwischenstadt 126 Werner Sewing, Bildregie. Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur 127 Jan Pieper, Das Labyrinthische 128 Elisabeth Blum, Schöne neue Stadt. 131 Angelus Eisinger, Die Stadt der Architekten 132 Wilhelm / Jessen-Klingenberg (Hg.), Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen 133 Michael Müller / Franz Dröge, Die ausgestellte Stadt 134 Loic Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays 135 Florian Rötzer, Vom Wildwerden der Städte 136 Ulrich Conrads, Zeit des Labyrinths 137 Friedrich Naumann, Ausstellungsbriefe Berlin, Paris, Dresden, Düsseldorf 1896–1906 138 Undine Giseke / Erika Spiegel (Hg.), Stadtlichtungen. 140 Yildiz / Mattausch (Hg.), Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource 141 Günther Fischer, Vitruv NEU oder Was ist Architektur? 142 Dieter Hassenpflug, Der urbane Code Chinas 143 Elisabeth Blum / Peter Neitzke (Hg.), Dubai. Stadt aus dem Nichts 144 Michael Wilkens, Architektur als Komposition. Zehn Lektionen zum Entwerfen 145 Gerhard Matzig, Vorsicht Baustelle! 146 Adrian von Buttlar et al., Denkmalpflege statt Attrappenkult 147 Andre Bideau, Architektur und symbolisches Kapitel 148 Jörg Seifert, Stadtbild, Wahrnehmung, Design 149 Steen Eiler Rasmussen, LONDON, The Unique City 150 Dietmar Offenhuber / Carlo Ratti (Hg.), Die Stadt entschlüsseln 151 Harald Kegler, Resilienz 152 Günther Fischer, Architekturtheorie für Architekten 153 Bodenschatz / Sassi / Guerra (Hg.), Urbanism and Dictatorship 154 Dellenbaugh / Kip / Bieniok / Müller / Schwegmann (Hg.), Urban Commons 155 Anja Schwanhäußer (Hg.), Sensing the City. A Companion to Urban Antropology 156 Neil Brenner, Critique of Urbanization: Selected Essays 157 Turit Fröbe, Inszenierung eines Mythos 158 Nikolai Roskamm, Die unbesetzte Stadt Alle Titel sind auch als E-Book erhältlich: degruyter.com