Geschichte bauen: Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute [1 ed.] 9783412508357, 9783412507251


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Geschichte bauen: Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute [1 ed.]
 9783412508357, 9783412507251

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V I S U E L L E G E S C H IC H T S K U LT U R | BA N D 17

GESCHICHTE BAUEN Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute

Arnold Bartetzky (Hg.)

Geschichte bauen

Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN

GWZO Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V.

Visuelle Geschichtskultur He­raus­ge­bergremium: Stefan Troebst und Arnold Bartetzky in Verbindung mit Steven A. Mansbach und Małgorzata Omilanowska

Band 17

Geschichte bauen Architektonische Rekonstruktion und Nationenbildung vom 19. Jahrhundert bis heute Herausgegeben von Arnold Bartetzky unter Mitarbeit von Madlen Benthin

2017 BÖHL­AU VER­LAG KÖLN WEI­MAR WIEN

Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V. an der Universität Leipzig Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderschwerpunkt „Geisteswissenschaftliche Zentren“ (Förderkennzeichen 01UG1410) gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Der Großfürstliche Palast in Vilnius. Foto Arnold Bartetzky, 2016.

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50725-1

In h al t Arnold Bartetzky Rekonstruktion für die Nation in der östlichen Hälfte Europas. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adamantios Th. Skordos Antike versus Byzanz. Klassizismus und Rekonstruktion beim Ausbau Athens zur Hauptstadt des modernen Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elisabeth Crettaz-Stürzel Eine feste Burg – ein festes Reich. Die Rekonstruktion der Marienburg und der Hohkönigsburg als symbolische Grenzfesten des Deutschen Kaiserreichs und die politische Burgenrenaissance in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Radu Lupescu Geburt einer Ikone des ungarischen Mittelalters. Die Rekonstruktion der Burg Vajdahunyad in der Zeit der ÖsterreichischUngarischen Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jonathan Blower Mit Kaiser Diokletian gegen Österreich. Zerstörerische Rekonstruktion und der Streit um das Episkopium am Diokletianpalast von Split 1850–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Robert Born Funktionalisierung des römischen Erbes. Die Rekonstruktion des Siegesmonuments Tropaeum Traiani in Adamclisi und die Geschichtspolitik im Rumänien des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 132 Keya Thakur-Smolarek Im Zeichen der Renationalisierung. Administrativer und urbaner Wandel beim Wiederaufbau Polens im und nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Małgorzata Omilanowska Auf der Suche nach der polnischen Stadt. Der Wiederaufbau von Kalisz nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

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Inhalt

Piotr Korduba Selektierte Vergangenheiten. Der Wiederaufbau Warschaus nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Tomasz Torbus Zurück ins Reich der Piasten und Jagiellonen. Die Wiederbelebung der polnischen Epochen beim Wiederaufbau der „Wiedergewonnenen Gebiete“ in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . 234 Jan Randák Jan Hus als Protokommunist. Die Rekonstruktion der Prager Bethlehemskapelle und die Konstruktion nationaler Traditionen in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg . . . 272 Ernő Marosi Die restaurierte Geschichte. Denkmalpflege, Museumstätigkeit und Rekonstruktion in Ungarn seit 1990 . . . . 291 Aleksandr Musin „Geschichte bauen“ im postsowjetischen Osteuropa. Religion und Politik bei der Rekonstruktion von Kirchen in Russland und der Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Andreas Fülberth Zwischen Stadtreparatur und nationaler Selbstbehauptung. Die Rekonstruktion des Großfürstlichen Palasts in Vilnius und des Schwarzhäupterhauses in Riga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Evelyn Ivanova-Reuter Ein mittelalterliches Fundament für die späte Nation. Die Rekonstruktion des christlich-orthodoxen Erbes der Stadt Ohrid in der Republik Mazedonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Orts- und Objektregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

R ekon st ru kt i on f ü r die Na tion in d er öst l i c h en Hälfte Europa s Zur Einführung

Arnold Bartetzky Zum Thema architektonische Rekonstruktion scheint in Deutschland wirklich alles gesagt. Seit mehr als einem Jahrhundert wird hierzulande kontrovers über die Zulässigkeit der Wiederherstellung zerstörter Baudenkmäler diskutiert. Der Streit um den geplanten Wiederaufbau der Ruine des Heidelberger Schlosses zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt als Geburtsstunde der modernen, wissenschaftlichen Denkmalpflege. Das Thema Rekonstruktion konnte aber auch schon damals weit über die Fachöffentlichkeit hinaus die Gemüter erregen. Das zeigte sich etwa nach dem Brand der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis im Jahr 1906, deren Wiederaufbau lautstarke Kontroversen auslöste. Neuen Auftrieb erhielten die Debatten nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts der Zerstörungen unzähliger Baudenkmäler und ganzer historischer Stadtzentren nahm das Thema nach 1945 eine neue Dramatik an. Zugleich verlieh ihm die Frage nach der eigenen Verantwortung für den Krieg in Deutschland eine moralische Dimension, die besonders zugespitzt im Streit um die Rekon­ struktion des Goethehauses in Frankfurt am Main zum Ausdruck kam. Trotz kritischer Begleittöne wurde das Goethehaus ebenso rekonstruiert wie unzählige Bauten von hohem symbolischem, emotionalem oder architekturhistorischem Wert, und dies nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR. Seit den 1980er Jahren gab es in beiden Teilen Deutschlands eine neue Welle von Rekonstruktionsprojekten, die im Westen immer wieder von mitunter hitzigen Diskussionen begleitet waren. Nach der Wiedervereinigung wurde heftig über die Rekonstruktion der Dresdner Frauenkirche gestritten und später über verschiedene Projekte zur Wiederrichtung von Bauten, die aus ideologischen Gründen in der DDR zerstört worden waren. Gleichzeitig erlebte die Rekonstruktion aber auch in Westdeutschland eine steigende Konjunktur, was so unterschiedliche, aber durchgehend umstrittene Projekte wie das Braunschweiger Schloss, das Schloss Herrenhausen in Hannover oder die noch im Wiederaufbau befindliche Altstadt in Frankfurt am Main bezeugen. Seit dem Wiederaufbau des Berliner Schlosses, der derzeit der Fertigstellung entgegenschreitet, scheinen in Deutschland alle Schlachten um Rekonstruktion geschlagen. Die erbitterten Kontroversen scheinen allmählich der Vergangenheit anzugehören, derweil die Rekonstruktion nicht nur bei symbolträchtigen Großprojekten, sondern vielfach auch bei kleinen Bauaufgaben im Bestand triumphiert. Nach Jahrzehnten von Auseinandersetzungen um Pro und Contra mit eingeübter polemischer Schärfe folgte mit etwas Verzug die wissenschaftliche Aufarbeitung des

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Arnold Bartetzky

Phänomens Rekonstruktion in einer historischen Perspektive. Das bedeutendste Unterfangen auf diesem Gebiet war die unter Federführung von Winfried Nerdinger organisierte Ausstellung „Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte“, die 2010 im Architekturmuseum der Technischen Universität München stattfand, begleitet von einem schwergewichtigen Katalog, in dem eine Fülle von Rekonstruk­ tionsprojekten aus unterschiedlichen Epochen und Teilen der Welt analysiert wird.1 Die Publikation zielte darauf, wie es im Vorwort heißt, „das umstrittene Thema Rekonstruktion aus oftmals fixierten Denkmustern in einen offenen, differenzierten Diskurs zu führen“.2 Selbst dieses Programm löste aber in der deutschen Denkmalpflege und Kunstgeschichte heftige Debatten aus. So erschien umgehend eine Art Gegenbuch unter dem provokanten Titel „Denkmalpflege statt Attrappenkult“, das allerdings trotz seiner polemischen Stoßrichtung und gelegentlichen rhetorischen Überspanntheit ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur historisch-analytischen Erkundung des Themas liefert.3 Darüber hinaus liegt inzwischen eine kaum noch überschaubare Fülle von Publikationen vor, die sich aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Prämissen dem Phänomen Rekonstruktion widmen. Dazu gehören Sammlungen von Quellentexten,4 Aufsatzbände, die den Blick auf Geschichte und Gegenwart des Rekonstruierens in verschiedenen Ländern richten,5 Untersuchungen zu Begriffen und Kon-

1 Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Hg. v. Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl. München u. a. 2010. 2 Hassler, Uta/Nerdinger, Winfried: Vorwort. In: Geschichte der Rekonstruktion (wie Anm. 1), S. 6 f. 3 Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie. Hg. v. Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel und Georg Mörsch. Gütersloh-Berlin-Basel 2011. 4 Alle Angaben in dieser und den folgenden Fußnoten sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit. – Dehio, Georg/Riegl, Alois: Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege. Mit einem Kommentar v. Marion Wohlleben und einem Nachwort v. Georg Mörsch. Braunschweig 1988; Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten. Hg. v. Norbert Huse. München 32006; Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Texte aus Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Friedrich Hanselmann. Stuttgart 22009; Das Prinzip Rekonstruktion. Hg. v. Uta Hassler und Winfried Nerdinger. Zürich 2010. 5 Die Schleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen. Hg. v. Dieter Bingen und Hans-Martin Hinz. Wiesbaden 2005; Architekturgeschichte und kulturelles Erbe. Aspekte der Baudenkmalpflege in Ostmitteleuropa. Hg. v. Beate Störtkuhl. Frankfurt/Main u. a. 2006; Wege für das Berliner Schloss / Humboldt-Forum. Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Deutschland und Europa (1945–2007). Hg. v. Guido Hinterkeuser. Regensburg 2008; Das Prinzip Rekonstruktion (wie Anm. 4); Architecture RePerformed: The Politics of Reconstruction. Hg. v. Tino Mager. Burlington, VT 2015; Odbudowy i modernizacje miast historycznych w pierwszej połowie dwudziestego wieku w Europie. Naród, polityka, społeczeństwo / Reconstructions and Modernizations of Historic Towns in Europe in the First Half of the Twentieth Century. Nation, Politics, Society. Hg. v. Iwona Barańska und Makary Górzyński. Kalisz 2016 – die englischsprachige Version des Bandes online abrufbar unter: https://historictownsmodernizations2016.files.wordpress.com/2017/01/ reconstructionsand-modernizations-of-historic-towns-kalisz-2016.pdf (27.01.2017) (Der gehaltvolle Band ist während der Drucklegung dieses Buches erschienen. Die Ergebnisse konnten leider nicht mehr in vollem Umfang berücksichtigt werden.); Re-Konstruktionen. Stadt, Raum, Museum, Objekt. Hg. v. Piotr Korduba und Dietmar Popp [in Vorbereitung zum Druck].



Einführung

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zepten, die für das Thema von Bedeutung sind,6 streitschriftartige Bücher für oder wider die Rekonstruktion7 und nicht zuletzt eine steigende Anzahl von Monographien zu einzelnen Rekonstruktionsprojekten.

Fremdbestimmung, Herrschaftswechsel, Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen Warum also noch ein Buch zu dem Thema? Weil in den bisherigen Diskussionen und Studien just jener Teil der Welt nach wie vor unterrepräsentiert ist, in dem architektonische Rekonstruktion nicht nur eine besonders reiche Tradition, sondern bis in die unmittelbare Gegenwart immer wieder auch eine eminente politische Bedeutung hat: die östliche Hälfte Europas. Zwar gehört der Hinweis auf den Wiederaufbau historischer Stadtzentren in Polen nach 1945 zum Standardrepertoire deutscher Rekonstruktionsdebatten. Mittlerweile liegen zu dem Thema auch etliche Studien in deutscher Sprache vor.8 Gleichwohl hält sich das Wissen über die Hintergründe, Methoden und Zielsetzungen dieser Wiederaufbaukampagnen hierzulande in Grenzen, was erst recht für die lange Vorgeschichte der Rekonstruktion in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg gilt. Zwar wurden im Katalog der Münchner Ausstellung auch viele Beispiele aus verschiedenen anderen Ländern Ost- und Ostmitteleuropas einbezogen,9 zu denen zum Teil auch andere Publikationen in deutscher oder englischer Sprache zugänglich sind.10 Aber bei allem in jüngster Zeit zu beobachtenden Bemühen um eine Blickerweiterung bleiben die Länder zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer insgesamt deutlich unterbelichtet. Grund dafür sind neben dem gewohnheitsmäßig unterentwickelten Blick nach Osten in Wissenschaft und Publizistik des Westens Sprachbarrieren. Die Diskussionen und Forschungen in den betreffenden Ländern werden schon deswegen kaum zur Kenntnis genommen, weil sie meist ausschließlich in den nur für wenige verständlichen Landessprachen dokumentiert sind.

6 Wohlleben, Marion: Konservieren oder restaurieren? Zur Diskussion über Aufgaben, Ziele und Probleme der Denkmalpflege um die Jahrhundertwende. Zürich 1989; Mager, Tino: Schillernde Unschärfe. Der Begriff der Authentizität im architektonischen Erbe. Berlin 2016. 7 Welzbacher, Christian: Durchs wilde Rekonstruktistan. Über gebaute Geschichtsbilder. Berlin 2010; Maass, Philipp: Die moderne Rekonstruktion. Eine Emanzipation der Bürgerschaft in Architektur und Städtebau. Regensburg 2015. 8 Neben einigen der in Anm. 5 angeführten Publikationen sei auf eine in der Reihe „Visuelle Geschichtskultur“ erschienene Monographie hingewiesen: Friedrich, Jacek: Neue Stadt in altem Gewand. Der Wiederaufbau Danzigs 1945–1960. Köln-Weimar-Wien 2010. 9 Darin auch ein Aufsatz zur Rolle der Rekonstruktion in postsozialistischen Ländern: Bartetzky, Arnold: Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa. In: Geschichte der Rekonstruktion (wie Anm. 1), S. 138–147. 10 Zum Beispiel: Akinsha, Konstantin/Kozlov, Grigorij/Hochfield, Sylvia: The Holy Place. Architecture, Ideology, and History in Russia. New Haven-London 2007. – Siehe auch einige der in Anm. 5 angeführten Publikationen.

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Damit findet auch ein spezifischer Aspekt der Rekonstruktion nach wie vor zu wenig Beachtung, der in der östlichen Hälfte Europas mit besonderem Ertrag studiert werden kann: ihre Funktion für Nationenbildung im weiten Sinne. Dem Wiederaufbau symbolträchtiger, zerstörter Baudenkmäler und Ensembles wurde und wird bis heute immer wieder eine wichtige Rolle für nationale Bewusstseinsbildung, Emanzipation, Selbstbehauptung und oftmals auch Abgrenzung beigemessen. Dies gilt besonders für werdende, junge und im Umbruch befindliche Nationalstaaten. Die Inszenierung der Architektur vergangener Epochen wird oftmals als ein visuell wirksames Mittel der Kon­ struktion und zuweilen auch der symbolischen Korrektur der Nationalgeschichte eingesetzt, mitunter kann sie sogar der Legitimation staatlicher Souveränität und territorialer Ansprüche dienen. Rekonstruktion für die nationale Sache, oftmals gepaart mit Repräsentationsstreben der Staatsgewalt, war und ist natürlich auch in anderen Teilen Europas und darüber hinaus verbreitet. Als Beispiele führt der Münchner Ausstellungskatalog eine Reihe von Projekten des 19. und 20. Jahrhunderts an. Dazu gehören die als bauliches Exempel des französischen „génie national“ wiedererstandene Festungsstadt Carcassonne11, die als symbolisches Bollwerk des deutschen Herrschaftsanspruchs über das Elsass rekon­ struierte Hohkönigsburg12, die als „Heiligtum des deutschen Volkes“ nachgebaute Burg Trifels13 in der Pfalz, die an die verklärten Anfänge der Vereinigten Staaten erinnernde Siedlung Colonial Williamsburg14 in Virginia, die zur Selbstinszenierung des faschistischen Regimes an die imperiale Macht des antiken Rom anknüpfende Rekonstruktion der Ara Pacis15 oder der unter anderem als Symbol einstiger Reichsherrlichkeit und nationaler Einheit Spaniens wiederaufgebaute Alcázar von Toledo16, um nur einige zu nennen.17 Die Funktion für nationale Mobilisierung und staatliche Selbstdarstellung spielt allerdings gerade bei den alten und neuen Rekonstruktionsprojekten in der östlichen Hälfte Europas auffällig oft eine herausragende Rolle. Die Ursachen dafür wurzeln in den langen Phasen von Fremdherrschaft und imperialer Dominanz, den vielen Regime­ wechseln, ethnischen Spannungen und konkurrierenden Nationalbewegungen, Grenzund Bevölkerungsverschiebungen, die dieser Teil des Kontinents in den letzten Jahr-

11 Eisen, Markus: Carcassonne, Frankreich. In: Geschichte der Rekonstruktion (wie Anm. 1), S. 262–265, mit weiterführenden Literaturangaben. 12 Speitkamp, Winfried: Hohkönigsburg, bei Sélestat, Frankreich. In: ebd., S. 271–274, mit weiterführenden Literaturangaben. 13 Eisen, Markus: Burg Trifels, bei Annweiler. In: ebd., S. 279 f., mit weiterführenden Literaturangaben. 14 Minta, Anna: Colonial Williamsburg, Virginia, USA. In: ebd., S. 274–276, mit weiterführenden Literaturangaben. 15 Diebner, Sylvia: Ara Pacis, Rom, Italien: In: ebd., S. 276–278, mit weiterführenden Literaturangaben. 16 Mileto, Camilla: Alcázar von Toledo, Spanien: In: ebd., S. 283–285, mit weiterführenden Literaturangaben. 17 Siehe dazu auch zwei Aufsätze im Münchner Ausstellungskatalog: Speitkamp, Winfried: Deutschlands ,Superbauten‘? Rekonstruktionen und nationale Identität. In: ebd., S. 118–127; Minta, Anna: Denkmalpflege und historische (Re-)Konstruktion von nationaler Identität in den USA. In: ebd., S. 128–137.



Einführung

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hunderten erlebte. All dies gab und gibt es auch in anderen Regionen der Welt, allerdings kaum in dieser Dichte und Komplexität. Viele Umbrüche wurden durch den Zerfall von Imperien ausgelöst. Mit den Teilungen Polens verschwand im ausgehenden 18. Jahrhundert das polnisch-litauische Großreich von der Landkarte, das sich einst vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer erstreckt hatte. Es folgte die über ein Jahrhundert währende Herrschaft durch die Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich. Derweil verlor im Lauf des 19. Jahrhunderts das Osmanische Reich immer mehr Gebiete in Südosteuropa, bis es nach den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg nach Anatolien zurückgedrängt wurde und schließlich in der Republik Türkei aufging. Die osmanischen Gebietsverluste gingen mit der Entstehung unabhängiger Nationalstaaten wie Griechenland, Serbien, Rumänien oder Bulgarien sowie der Ausdehnung des Habsburgerreichs Hand in Hand. Die Donaumonarchie wiederum, die ebenso wie die übrigen Imperien im Mittel- und Osteuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit nationalen Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen zu kämpfen hatte, zerfiel in der Folge des Ersten Weltkriegs und machte damit Platz für weitere unabhängige Staaten wie die Tschechoslowakei, das gegenüber seiner historischen Größe stark geschrumpfte Ungarn oder den aus dem Zusammenschluss von Serben, Kroaten und Slowenen hervorgegangenen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Der Untergang des Habsburgerreichs und die gleichzeitigen Territorialverluste des Deutschen Kaiserreichs und Russlands machten die Wiedererstehung eines unabhängigen polnischen Staats und die Gründung der baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen möglich. Während im Deutschen Reich nach der Abdankung des Kaisers eine Republik ausgerufen wurde, entstand mit der Sowjetunion anstelle des Zarenreichs eine kommunistische Diktatur, die den Hegemonialanspruch in Osteuropa weiterverfolgte und bald die kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs unabhängig gewordene Ukraine unter ihre Herrschaft brachte. Die neuen Grenzziehungen hatten nach 1918 darüber hinaus zu einer Reihe weiterer bewaffneter zwischenstaatlicher Konflikte geführt, etwa Polens mit der Ukraine, der Sowjetunion und Litauen, und militante Separatismen in Südosteuropa befeuert. Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur an seinen westlichen Fronten, sondern auch in Teilen Ostmitteleuropas Verwüstungen von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß hinterlassen. In seiner Zerstörungsbilanz wurde er aber bei Weitem durch den Zweiten Weltkrieg übertroffen, der zahlreiche Städte in Trümmerlandschaften verwandelte. Mehrere Länder in der östlichen Hälfte Europas wurden besonders grausam von nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzügen und Massenmorden heimgesucht. Hinzu kamen die systematischen Verbrechen des stalinistischen Sowjetregimes und die Gewaltexzesse der Roten Armee. Für Millionen endete der Krieg mit Heimatverlust durch Flucht und Vertreibung. Neben den Deutschen aus den an Polen gefallenen Gebieten östlich von Oder und Neiße sowie der Tschechoslowakei waren davon vor allem Polen aus den von der Sowjetunion annektierten östlichen Regionen des Landes betroffen. Neben Vertreibungen und neuen Grenzverschiebungen zog der Zweite Weltkrieg auch erneut Regime­ wechsel nach sich. Die Sowjetunion dehnte ihre Machtsphäre nach Mitteleuropa aus, die meisten nach 1918 entstandenen Demokratien und Halbdemokratien in der östlichen

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Hälfte des Kontinents wurden von ihr annektiert oder als Satellitenstaaten mit aufgezwungenem sozialistischem System unter Kontrolle gebracht. Nach dem Fall der sozialistischen Regime seit 1989 kam es abermals zu Systemwechseln, neuen Grenzziehungen sowie Neu- und Wiedergründungen unabhängiger Staaten. Der Zerfall der Sowjetunion führte immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen in und zwischen ihren Nachfolgestaaten, der Jugoslawiens hatte auch Vertreibungen, Massenmorde und Bombardierungen von Städten zur Folge. Zu den Begleiterscheinungen dieser Umwälzungen gehörten Zerstörungen oder auch Umnutzungen und Entstellungen von Baudenkmälern, die von der betroffenen Bevölkerung als symbolpolitische Angriffe auf die eigene nationale Identität empfunden wurden – und zumindest im späten 19. und im 20. Jahrhundert oft auch so gemeint waren. Zugleich zogen die nationalen Emanzipationsbewegungen seit dem 19. Jahrhundert und vor allem die Staatsneu- und -wiedergründungen nach 1918, 1945 und 1989 Neubewertungen nationaler Traditionen nach sich, die vielfach auch den Ruf nach Rekonstruktion baulicher Zeugnisse einschlossen. Eines der zentralen Motive zahlreicher Rekonstruktionsprojekte in der östlichen Hälfte Europas ist dementsprechend der Wunsch nach Stärkung des Nationalbewusstseins, oftmals auch nach Überwindung von als demütigend empfundenen Ereignissen oder Phasen durch bauliche Vergegenwärtigung vermeintlicher Glanzperioden eigener Geschichte.

Ein Buch mit vielen Beteiligten und vielen Perspektiven Dieses Themenfeld hat sich die am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO, ab 2017 Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa) angesiedelte Projektgruppe „Geschichte bauen. Architektonische Rekonstruktion und Nationsbildung (19.–21. Jahrhundert)“ vorgenommen.18 Die Forschungen des seit 2014 arbeitenden, interdisziplinär zusammengesetzten Teams und eine vorausgegangene Ringvorlesung19 am GWZO, die das Themenfeld abgesteckt und dessen Potenzial vor Augen geführt hatte, bilden den Ausgangspunkt dieser Publikation. Mit ihren Kenntnissen der Geschichte der Rekonstruktion sowie ihren weitreichenden sprachlichen Kompetenzen decken die Mitarbeiter der Projektgruppe und ein weiterer, an der Publikation beteiligter Kollege aus dem GWZO weite Territorien ab, die sich vom Baltikum bis zur Ägäis erstrecken. Darüber hinaus wurden für den Band Autorinnen und Autoren aus Polen, Ungarn, Tschechien, Russland, Rumänien, Großbritannien, der Schweiz und Deutschland gewonnen, die eine besondere Expertise für 18 Informationen zur Projektgruppe „Geschichte bauen“ finden sich auf den Internetseiten des GWZO: https://research.uni-leipzig.de/gwzo/index.php?option=com_content&view=article&id=1162& Itemid=1833 (28.12.2016). 19 Das detaillierte Programm der Ringvorlesung ist online abrufbar unter: http://research.uni-leipzig.de/ gwzo/index.php?option=com_content&view=article&id=1074&Itemid=1719 (28.12.2016).



Einführung

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das Thema Rekonstruktion in weiteren Teilen Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas mitbringen. Mit diesem Gemeinschaftswerk von Kunsthistorikern, Historikern und Theologen ist es gelungen, einen thematisch kohärenten Band vorzulegen, der mit seiner Fülle von Beispielen einen weiten Bogen vom 19. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart schlägt und vielfältige Vergleiche und Querbezüge ermöglicht. Einige der hier zusammengeführten Studien werfen neue Blicke auf prominente Rekonstruktionen, vor allem wird aber eine Vielzahl von Projekten vorgestellt, die im deutschsprachigen Raum bisher kaum bekannt oder auch weitgehend vergessen sind. Der Band kann, wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit, als ein Überblickswerk zur Geschichte der architektonischen Rekonstruktion in der östlichen Hälfte Europas gelten. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die nationalpolitischen Intentionen und Ansprüche staatlicher Repräsentation. Allerdings richtet sich der Blick auch immer wieder auf andere Motive, die bei den Projekten oftmals zusammenwirken, etwa städtebauliche Leitbilder, Konzepte der Denkmalpflege, religionspolitische Intentionen, wirtschaftliche Interessen oder Bedürfnisse des Tourismus. Der Begriff „Rekonstruktion“ wird in einem weiten Sinne verstanden. Neben dem vollständigen Wiederaufbau total zerstörter umfasst er auch die rekonstruktiv-ergänzende Restaurierung überformter Bauwerke oder auch die Präparation und Zurschaustellung archäologischer Befunde. Das Interesse gilt darüber hinaus auch anderen Formen visueller Inszenierung der Vergangenheit, etwa historisierenden Architekturstilen in der jeweiligen Gegenwartsarchitektur, der Denkmalproduktion, einschließlich des Denkmalsturzes als komplementärer Praxis, oder auch Konzepten musealer Präsentation. Einen weiteren Kontext, der immer wieder einbezogen wird, bilden Narrative der Geschichts- und Kunstgeschichtsschreibung oder auch die Sprachpolitik und Namengebung für Orte und Institutionen. „Rekonstruktion“ ist ein schillernder Begriff, der in unterschiedlichen Zeiten, Sprachen und Verwendungszusammenhängen Verschiedenes bedeuten kann. Im heutigen deutschen Sprachgebrauch steht er überwiegend für eine mehr oder weniger originalgetreue Wiederherstellung eines zerstörten Bauwerks oder eines anderen nicht mehr existenten Objekts. Neben der im Zentrum dieses Buchs stehenden materiellen Wiederherstellung kann der Begriff auch eine virtuelle Nachbildung, etwa in Form einer Zeichnung oder einer Computersimulation, in anderen Zusammenhängen auch den Nachvollzug eines Geschehens bezeichnen. Noch im Sprachgebrauch der DDR indes konnte „Rekonstruktion“, oder die „Reko“ als umgangssprachliche Kurzform des Begriffs, für jede Form von Sanierung oder Modernisierung stehen. Oft waren als Rekonstruktion bezeichnete Baumaßnahmen mit der Zerstörung vorhandener Strukturen bis hin zum Flächenabriss und Neubau in moderner Form verbunden. Im Englischen wird „reconstruction“ in Bezug auf Architektur überwiegend mit einer ähnlichen Bedeutung verwendet wie im heutigen Deutschen, es kann aber auch für andere Arten des Wiederaufbaus stehen. Der Gebrauch des Terminus in einigen slawischen Sprachen, darunter „rekonstrukcija“ im Russischen, scheint eher dem Bedeutungsfeld im DDRDeutsch nahe zu sein. Das Polnische allerdings verwendet „rekonstrukcja“ meist in einem ähnlichen Sinn wie das heutige Deutsch.

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In den Publikationen der deutschen Denkmalpflege mangelt es nicht an begrifflichen Klärungsversuchen.20 Trotzdem ist „Rekonstruktion“ selbst in den heutigen Fachbeiträgen, ganz zu schweigen vom Laiensprachgebrauch, kein klar abgegrenzter Begriff. Meist wird er unterschiedslos mit „Wiederaufbau“ verwendet. Ein rekonstruierter Bau wird immer wieder auch als „Kopie“ bezeichnet, was strenggenommen falsch ist, weil es sich bei einer Kopie um die Reproduktion von etwas Existierendem, nicht um eine Wiederherstellung von etwas Verlorenem handelt. Fließend sind allerdings die Grenzen zwischen „Rekonstruktion“ und „Restaurierung“, weil letztere auch rekonstruktive Eingriffe einschließen kann. Ganz irreführend ist dagegen die Verwechslung von „Rekonstruktion“ und „Konservierung“, denn das auf Erhaltung des gewachsenen Zustands ausgerichtete Konservieren ist als denkmalpflegerische Methode das Gegenteil des wiederherstellenden Nachbauens. Wenn solche Begriffe selbst im deutschen Sprachgebrauch von Experten trotz aller typisch deutscher Definitionsversuche nicht immer trennscharf verwendet werden, darf es nicht verwundern, dass auch in diesem Band keine gänzlich einheitliche Begriffsverwendung erreicht werden konnte. Denn die Beiträge wurden von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Ländern, aus unterschiedlichen Fachperspektiven und in nicht weniger als fünf verschiedenen Sprachen verfasst. Bei der Übersetzung und Redaktion haben wir uns um eine Balance zwischen Anpassung an die deutsche Fachterminologie und Respekt vor dem originalen Wortlaut der Texte bemüht. Ein Balanceakt war auch der Umgang mit Namen. Bei Ortsnamen verwenden wir in der Regel die deutsche Variante, wobei in der Erstnennung, außer bei allseits bekannten Metropolen wie Moskau, Prag oder Warschau, die landesprachliche Variante in Klammern folgt – zum Beispiel Posen (Poznań), Breslau (Wrocław). Wenn die deutsche Namensvariante aber weitgehend aus dem Gebrauch gekommen ist, handhaben wir es umgekehrt – zum Beispiel Visegrád (dt. Plintenburg), Győr (dt. Raab). Analog verfahren wir bei Namen von Stadtteilen, Straßen oder Plätzen. Wenn es eine gebräuchliche deutsche Variante gibt, ziehen wir sie vor – zum Beispiel Rechtstadt (Główne Miasto) in Danzig (Gdańsk), Wenzelsplatz (Václavské náměstí) in Prag. Wenn die deutsche Variante weniger verbreitet ist, steht die landessprachliche an erster Stelle – zum Beispiel Krakowskie Przedmieście (Krakauer Vorstadt) und plac Trzech Krzyży (Platz der Drei Kreuze) in Warschau. Bei Personennamen aus kyrillisch geschriebenen Sprachen verwenden wir meist die wissenschaftliche Transliteration – zum Beispiel Vladimir Gel’frejch, Evgenij Trubeckoj. Bei allgemein bekannten Namen bedienen wir uns aber der in deutschsprachigen Texten gebräuchlichen Schreibweise – zum Beispiel Boris Jelzin, Wiktor Juschtschenko. Bei den Entscheidungen für eine Sprach- oder Schreibvariante waren für uns die Identifizierbarkeit des Namens und die Lesbarkeit des Textes maßgeblich. 20 Zum Beispiel ausführlich bei Mörsch, Georg: Fragen der Denkmalpflege. Grundsätzliche Leitvorstellungen, Methoden und Begriffe der Denkmalpflege. In: Schutz und Pflege von Baudenkmälern in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Hg. v. August Gebessler und Wolfgang Eberl. Köln u. a. 1980, S. 70–96.



Einführung

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In diesem Buch geht es nicht um das Pro und Contra der Rekonstruktion, sondern um historische Analyse. Nicht Lob oder Polemik, sondern das Verstehen der Motive und Prozesse steht im Vordergrund. Die Autoren schreiben aber nicht nur aus einer distanzierten Außenperspektive. Sie argumentieren zum Teil als engagierte, mitunter auch leidende Betroffene aktueller Projekte, die bestimmte Praktiken des Rekonstruierens und die ihnen zugrunde liegenden Geschichtsbilder einer kritischen Auseinandersetzung unterziehen. Dies macht das Buch über seinen historisch-analytischen Ertrag hinaus zu einem lebendigen Zeugnis der Gegenwartsdebatten, das den anhaltenden Streitwert der Rekonstruktion belegt.

Zwischen nationaler Emanzipation, staatlicher Repräsentation  und politischer Agitation Bei aller Vielfalt der in diesem Band versammelten Ansätze und Positionen lassen sich bei einer Zusammenschau der Beiträge einige spezifische Intentionen und daraus resultierende Argumentationsmuster und Praktiken bei der Realisierung der Projekte aufzeigen, die für das Rekonstruieren im Dienst von Nation und Staat in der östlichen Hälfte Europas besonders charakteristisch sind. Im 19. Jahrhundert standen viele Rekonstruktionsvorhaben im Zeichen des nationalen Erwachens. Dies gilt bereits für den 1817 begonnenen Wiederaufbau der Marienburg, ein Pionierprojekt der Rekonstruktion in Deutschland, das in diesem Band, mit einem vergleichenden Blick auf die Hohkönigsburg (Haut-Koenigsbourg) im Elsass, von Elisabeth Crettaz-Stürzel analysiert wird. Das zuletzt zur Kaserne degradierte und als Steinbruch genutzte einstige Machtzentrum des Deutschen Ordens erstand im Verlauf von mehr als einem Jahrhundert als ein zunächst preußisch, später zunehmend gesamtdeutsch konnotiertes Nationaldenkmal wieder. Eine herausragende Bedeutung für die nationale Tradition des zunehmend nach Selbstbestimmung innerhalb des Habsburgerreichs strebenden Ungarn wurde der Rekonstruktion der 1854 abgebrannten Burg Vajdahunyad (dt. Eisenmarkt, rum. Hunedoara) in Siebenbürgen beigemessen, der sich der Beitrag von Radu Lupescu widmet. Standen diese Projekte für den Mittelalterkult des 19. Jahrhunderts, so bildete die Antike den wichtigsten historischen Bezugspunkt für Griechenland, das 1830 als erster Nationalstaat in den ehemaligen europäischen Territorien des Osmanischen Reichs gegründet worden war. Beim Ausbau Athens zur Hauptstadt des Königreichs, den Adamantios Th. Skordos nachzeichnet, war der Klassizismus dementsprechend der programmatische Stil der neuen Staatsbauten, und für die ersten modernen Olympischen Spiele von 1896 wurde auf den ein Vierteljahrhundert zuvor ausgegrabenen Fundamenten das antike Panathenäische Stadion rekonstruiert. Derweil ging im dalmatinischen Split die rekonstruktive Restaurierung des stark überformten Diokletianpalasts vonstatten, die mit den Autonomiebestrebungen der Südslawen gegenüber Österreich assoziiert wurde. Wie Jonathan Blower in seinem Aufsatz aufzeigt, wurde das Streben lokaler Experten und Politiker nach einer Wiederherstellung der antiken Gestalt des Baukomplexes in Auseinandersetzung mit der rekonstruktions-

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Abb. 1  Entstellt durch Nutzung als österreichische Kaserne: Krakau (Kraków), Wawel-Schloss, Innenhof vor der Restaurierung. Aufnahme von 1905/06.

kritischen zentralen Denkmalpflegebehörde der Donaumonarchie im frühen 20. Jahrhundert zu einer politischen Protestform, die in der Rückschau als Vorbote der nationalen Befreiung erscheint. Eine Parallele dazu bietet die damals gegen dieselbe Behörde durchgesetzte rekonstruktive Restaurierung des Wawel-Schlosses in der einstigen polnischen Hauptstadt Krakau (Kraków) – ein Projekt, das in diesem Band nicht vertreten ist, aber bereits an anderer Stelle in der Reihe „Visuelle Geschichtskultur“ kurz besprochen wurde.21 Nach seiner Entstellung infolge der Nutzung als österreichische Kaserne wurde das Königsschloss, das auch in der Zeit der staatlichen Nichtexistenz als Symbol der polnischen Staatstradition galt, in seinem Erscheinungsbild aus der Renaissancezeit wiederhergestellt (Abb. 1 und 2). Nach dem Ersten Weltkrieg konnten die Arbeiten ohne die Restriktionen durch die Wiener Aufsicht fortgesetzt werden.

21 Bartetzky, Arnold: „Seid von Zeit zu Zeit auch tolerant!“ Historische Positionen der Denkmalpflege zur politisch motivierten Rekonstruktion zerstörter Baudenkmäler. In: Ders.: Nation – Staat – Stadt. Architektur, Denkmalpflege und visuelle Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. KölnWeimar-Wien 2012, S. 33–52, hier S. 44–48, mit weiterführenden Literaturangaben.



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Abb. 2  Wiederherstellung eines Symbols polnischer Staatlichkeit: Krakau, Wawel-Schloss, Innenhof nach Restaurierung. Aufnahme um 1925.

Als Monument historischer Größe spielte das Wawel-Schloss fortan eine wichtige symbolische Rolle für die Repräsentation des wiedererstandenen polnischen Staats. Diesem war es, wie Keya Thakur-Smolarek in ihrem Artikel über den administrativen und urbanen Wandel beim Wiederaufbau Polens nach 1918 aufzeigt, ein zentrales geschichtspolitisches Anliegen, durch Wiederbelebung und Konstruktion von Traditionen die Kontinuität der polnischen Kultur von der Zeit vor den Teilungen bis in die Gegenwart und damit die Legitimation der Zweiten Polnischen Republik zu betonen. Der Rückgriff auf die Tradition bestimmte auch die Pläne für den Wiederaufbau der zu Beginn des Ersten Weltkriegs zerstörten polnischen Stadt Kalisz (dt. Kalisch), mit denen sich Małgorzata Omilanowska beschäftigt. Während sich Polen seiner Architekturtradition des Mittelalters und der Frühneuzeit zuwandte, spielte im Rumänien des 20. Jahrhunderts über die historischen Zäsuren hinweg der Bezug auf die antike Vergangenheit des Landes eine zentrale Rolle bei der Konstruktion nationalstaatlicher Identität. Robert Born zeigt dies am Beispiel der geschichtspolitischen Instrumentalisierung und Rekonstruktion des Siegesmonuments Tropaeum Traiani von Adamclisi (dt. Adamklissi), das für die Verbindung des römischen Erbes mit der heimischen Tradition der Daker steht. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Rekonstruktion immer wieder im Dienst kommunistischer Nationalgeschichtskonzeptionen. Ein Beispiel dafür ist die Wiedererrich-

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tung der Prager Bethlehemskapelle, die Jan Randák analysiert. Der Bau des späten 14. Jahrhunderts, der im ausgehenden 18. Jahrhundert weitgehend abgebrochen und später überbaut worden war, wurde rekonstruiert, weil Jan Hus in ihm gepredigt hatte. Die neue Staatsmacht feierte den Reformator als Protagonisten nationaler Emanzipation der Tschechen von deutscher Dominanz und vereinnahmte ihn zugleich als Protokommunisten. Der Stärkung des Nationalbewusstseins dienten nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Wiederaufbaukampagnen in mehreren Städten Polens. Ging es beim Wiederaufbau der Altstadt von Warschau, auf den Piotr Korduba neue Blicke wirft, wie bei keinem anderen Projekt um nationale Selbstbehauptung nach der systematischen Zerstörung durch die deutschen Besatzer, so stand der von Tomasz Torbus untersuchte Wiederaufbau historischer Stadtzentren in den Polen einverleibten ehemaligen deutschen Ostgebieten nicht zuletzt im Zeichen einer polonisierenden, nationalen Umprogrammierung der Stadtbilder. Nach dem Untergang des sozialistischen Systems und des Sowjetimperiums kam es zu einer neuen Welle von Rekonstruktionsprojekten, die mit einer Neuakzentuierung nationaler Geschichte einhergingen. Ernő Marosi diskutiert in seinem Aufsatz verschiedene Rekonstruktionen und rekonstruktive Restaurierungen in Ungarn seit 1990, darunter der Königspaläste in Esztergom (dt. Gran) und Visegrád sowie der königlichen Stiftskirche in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár), in einem breiten Kontext, in den die institutionelle Entwicklung der Denkmalpflege, die Tendenzen der Kunstforschung und Museumstätigkeit sowie die aktuelle Denkmalproduktion einbezogen sind. Eine vergleichende Analyse von Rekonstruktionen prominenter, in den 1930er und 1940er Jahren gesprengter Kirchen in Russland und der Ukraine, darunter die Christ-ErlöserKathedrale in Moskau sowie das Michaelskloster und die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale in Kiew, bietet der Beitrag von Aleksandr Musin. Mit zwei Rekonstruktionsprojekten in den wiedererstandenen baltischen Staaten Litauen und Lettland beschäftigt sich Andreas Fülberth, der, ebenfalls mit einem vergleichenden Blick, die Parallelen und Unterschiede zwischen dem Wiederaufbau des um 1800 abgebrochenen Großfürstlichen Palasts in Vilnius (dt. Wilna) und dem des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Schwarzhäupterhauses in Riga herausstellt. Als Beispiel für die Bedeutung der Rekonstruktion für sich spät formierende Nationen stellt Evelyn Ivanova-Reuter abschließend die laufende Neugestaltung der archäologischen Stätten auf dem Plaošnik-Areal in der Stadt Ohrid in Mazedonien vor, bei der die slawisch-orthodoxe Tradition des Ortes exponiert und zugleich die osmanisch-muslimische Vergangenheit verdrängt wird. Dass ein Großteil der in diesem Buch besprochenen Rekonstruktionsprojekte in neu- oder wiedergegründeten Nationalstaaten verwirklicht wurde, ist kein Zufall. Rekonstruktion symbolträchtiger Bauten aus weit zurückliegender Vergangenheit dient hier oftmals als Mittel zur Inszenierung einer langen nationalen Tradition, mit der der Anspruch auf staatliche Unabhängigkeit untermauert wird. Und je brüchiger dabei das Geschichtsfundament tatsächlich ist, desto stärker scheint das Bedürfnis nach Verankerung in tiefer Vergangenheit und nach Simulation von Kontinuität zu sein. Deshalb hat Rekonstruktion als Nachweis einer altehrwürdigen Geschichte eine besondere Bedeutung für junge Staaten oder auch solche, die nach langen Zeiten der Nichtexistenz



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auf die Bühne zurückkehren. Das zeigen etwa Beispiele aus Polen nach 1918 oder Litauen, der Ukraine und Mazedonien nach 1991. Ein Anstoß für eine Rekonstruktion kann auch ein Herrschafts- oder Systemwechsel mit seinen gesellschafts- und geschichtspolitischen Implikationen sein. Ein besonders markantes Beispiel dafür bietet der Wiederaufbau der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale, der die vorsowjetische Geschichte Russlands glorifiziert. Einige Beiträge des Bandes führen aber vor Augen, dass die Rekonstruktionsprojekte, die so idealtypisch zum neuen Geschichtsverständnis nach einer Staatsgründung oder einem Herrschaftswechsel zu passen scheinen, immer wieder einen Vorlauf haben, der in die Zeit vor dem staatlichen Neubeginn zurückreicht. Das gilt etwa für Rigas Schwarzhäupterhaus, den Großfürstlichen Palast in Vilnius, die Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale in Kiew und sogar die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, wie die Beiträge von Andreas Fülberth und Aleksandr Musin zeigen. Die zum Teil tief in die Sowjetzeit zurückzuverfolgenden Rekonstruktionsbestrebungen erscheinen als Vorboten des Umbruchs, ähnlich wie die Restaurierung des Krakauer Wawel-Schlosses oder die Forderungen nach Wiederherstellung der antiken Gestalt des Diokletianpalasts in Split zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Einige Beispiele belegen die große Bedeutung von Aktivitäten der Archäologie, die bei der Konstruktion und Inszenierung der Nationalgeschichte oftmals mit der Rekonstruktionstätigkeit Hand in Hand gehen. So wurden vorausgehende Grabungskampagnen etwa beim Großfürstlichen Palast in Vilnius oder auf dem Plaošnik-Areal in Ohrid zu einem Impuls für Rekonstruktionsbegehrlichkeiten. Die Zusammenschau der Beiträge macht deutlich, dass national programmierte Rekonstruktion gleichermaßen im Dienst unterschiedlichster Regierungsformen stehen kann. Monarchien bedienten sich ihrer ebenso wie parlamentarische Demokratien, autoritäre Regime oder kommunistische Diktaturen. So können rekonstruierte Bauten auch von verschiedenen nachfolgenden politischen Formationen als Kultorte und Bühnen für Agitation vereinnahmt werden. Das in der Zeit des Königreichs Griechenland rekonstruierte Stadion von Athen etwa wurde im 20. Jahrhundert, wie Adamantios Th. Skordos zeigt, besonders gerne von Putschisten und dem faschistoiden Metaxas-Regime in Anspruch genommen. Das für Repräsentationszwecke des CeauşescuRegimes rekonstruierte Tropaeum Traiani in Adamclisi indes erlebte nach dessen Sturz eine Nachnutzung als Kulisse für Wahlveranstaltungen, wobei die auftretenden kostümierten Krieger, wie Robert Born bemerkt, an Relikte der nationalkommunistischen Propaganda denken ließen. Zugleich wurde das Siegesmonument von Adamclisi nach dem Systemwechsel auch nachträglich religiös aufgeladen. Einige nationalpolitisch motivierte Rekonstruktionsprojekte der postsozialistischen Zeit, so die Kirchenbauten in Moskau, Kiew oder Ohrid, gingen dagegen von Anfang an aus einer Allianz von Kirche und Staat hervor. Dies ist, worauf Aleksandr Musin hinweist, vor allem für den byzantinisch geprägten Raum charakteristisch, da die Verwendung religiöser Symbole und Orte für politische Zwecke hier tief in der Tradition verwurzelt ist. Gerade die von ihm besprochenen Beispiele zeigen aber auch, dass sich hinter der Rhetorik nationaler oder religiöser Wiedergeburt auch ganz profane private Interessen verschiedener Akteure verbergen können.

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Zuweilen kann Rekonstruktion auch im Dienst der Legitimation einer als fremd empfundenen Staatsmacht stehen. Im Griechenland des 19. Jahrhunderts war es, so Adamantios Th. Skordos, das vom Ausland aufgezwungene, aus Bayern stammende Königshaus, das durch die Berufung auf das antike Hellas mit Unterstützung einer prowestlichen Elite um Sympathien warb. Bei dem von einem Feuerwerk der Propaganda begleiteten Wiederaufbau Warschaus nach dem Zweiten Weltkrieg ging es, wie Piotr Korduba anmerkt, auch darum, das neue, von Moskau oktroyierte kommunistische Regime zu legitimieren.

Zwischen Selbstverteidigung, Abgrenzung und Aggression In ihrer massenpsychologischen Funktion sollten viele Rekonstruktionsprojekte der Überwindung einer nationalen Demütigung dienen. Als solche wurden im russischen Teilungsgebiet Polens vielfach die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert praktizierten Umgestaltungen katholischer Kirchen oder öffentlicher Bauten im russisch-byzantinischen Stil empfunden. Die architektonische Russifizierung mit Signalmotiven wie Kuppeln oder Zwiebeltürmen galt den Einheimischen, woran Keya Thakur-Smolarek erinnert, als imperiale Überlegenheitsgeste und Akt der Unterdrückung der polnischen Kultur. Dementsprechend wurden die überformten Bauten nach der Wiedererlangung staatlicher Unabhängigkeit unter Hochdruck in ihr früheres Erscheinungsbild zurückversetzt. Als Demütigung wurden auch und erst recht viele mutwillige Zerstörungen symbolträchtiger Baudenkmäler wahrgenommen. Das kann für so unterschiedliche Zerstörungsaktionen wie die Verwüstungen von Kalisz im Ersten und Warschau im Zweiten Weltkrieg durch die deutschen Truppen oder die Sprengung des Michaelsklosters in Kiew durch das moskautreue stalinistische Regime der Sowjetukraine gelten. Der Wunsch nach Überwindung der Erniedrigung der Nation durch Zerstörung ihres Kulturguts war dementsprechend, neben anderen Motiven, ein mobilisierendes Moment bei den Wiederaufbaukampagnen. Die Idee der Wiedergutmachung einer Erniedrigung kann aber auch dann als Argument für Rekonstruktion geltend gemacht werden, wenn die demütigende Absicht einer Zerstörung historisch nicht unbedingt plausibel erscheint, etwa im Fall des nach der Dritten Teilung Polens im Auftrag der russischen Adminis­ tration vorgenommenen Abbruchs des Großfürstlichen Palasts von Vilnius. Das Selbstverständnis einer Nation als Opfer einer fremden Macht ist der Rekon­ struktionsidee jedenfalls generell förderlich. Dass die Nationen in der östlichen Hälfte Europas in den letzten Jahrhunderten mit besonderer Häufigkeit tatsächlich zu Opfern fremder Mächte wurden und sich von diesen immer wieder zu emanzipieren suchten, ist denn auch ein Grund für die besondere politische Bedeutung der Rekonstruktion in diesem Teil des Kontinents. Rekonstruktion ist aber nicht immer nur ein Akt der Selbstverteidigung. Sie kann auch, wie eine Reihe von Beispielen vom späten 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart zeigt, im Dienst nationaler Ab- und Ausgrenzungspolitik, aggressiven Domi-



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nanzstrebens und umstrittener territorialer Ansprüche stehen. Mit Blick auf diese Funktion vergleicht Elisabeth Crettaz-Stürzel die propagandistische Bedeutung der Rekonstruktionen der Marienburg und der Hohkönigsburg, die wegen der starken Parallelen als einziges Beispiel außerhalb der östlichen Hälfte Europas Gegenstand eines Beitrags in diesem Band ist. In der Zeit um 1900 waren die beiden Projekte für Kaiser Wilhelm II. komplementäre Symbole des deutschen Herrschaftsanspruchs in den national umkämpften Grenzterritorien des Deutschen Reichs. „Möge die Hohkönigsburg hier im Westen des Reiches wie die Marienburg im Osten als ein Wahrzeichen deutscher Kultur und Macht erhalten bleiben“, sagte er 1908 anlässlich der Einweihung der in seinem Auftrag rekonstruierten Stauferfeste im Elsass, und der Architekt des Wiederaufbaus, Bodo Ebhardt, rühmte sein Werk auch ausdrücklich als „ein Wahrzeichen deutscher Kaiserherrlichkeit in der Westmark“ und damit des Machtanspruchs der Hohenzollern, das „wie die Marienburg in der Ostmark als ein Sinnbild der deutschen Macht anzusehen“ sei. Crettaz-Stürzel bezeichnet die Wiederherstellung der Hohkönigsburg zugespitzt als „architektonisches Säbelrasseln des deutschen Kaisers gegen die Franzosen“. Eine nationalpolitische Provokation erkennt Robert Born auch in der in den 1970er Jahren durchgeführten Rekonstruktion des Tropaeum Traiani in der multiethnisch geprägten Region Dobrudscha. Denn Rumänien betonte damit seinen historischen Anspruch auf das Grenzgebiet, das noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gegenstand militärischer Konflikte mit Bulgarien gewesen war. Der Untermauerung territorialer Herrschaftsansprüche hatten unter ganz anderem Vorzeichen auch die von Tomasz Torbus untersuchten Rekonstruktionen historischer Stadtzentren in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ Polens nach dem Zweiten Weltkrieg gedient. Der polnische Staat demonstrierte mit den baulichen Aktivitäten seine Entschlossenheit, die damals in ihrem Status noch umstrittenen ehemaligen deutschen Ostgebiete dauerhaft in sein Territorium zu integrieren. Dieser Absicht folgte auch das geschichtspolitische Programm der Rekonstruktionen, die, wenn auch nicht immer konsequent, auf eine Hervorhebung vermeintlich polnischer Epochen und Architekturmotive bei gleichzeitiger Zurückdrängung baulicher und visueller Zeugnisse deutscher Vergangenheit zielten. Eine antideutsche Implikation hatte nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei auch der Wiederaufbau der Bethlehemskapelle in Prag, den Jan Randák im Kontext der Tschechisierung des Prager Stadtraums nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert. Eine ausgrenzende nationalpolitische Stoßrichtung konstatiert Evelyn IvanovaReuter auch bei den Rekonstruktionsmaßnahmen in Ohrid, die sie im Zusammenhang mit anderen Aktionen zur Zurückdrängung des osmanischen Erbes und muslimischer Minderheiten im heutigen Mazedonien betrachtet. Die Indienstnahme von Rekonstruktion für ethnisch-konfessionelle Auseinandersetzungen lässt sich zum Teil deutlicher noch in jenen postjugoslawischen Territorien beobachten, die nach dem Zerfall des Vielvölkerstaats von Krieg und Vertreibungen betroffen waren. Leider ist es nicht gelungen, in diesen Band entsprechende Fallstudien einzubeziehen. Zumindest auf ein Beispiel sei deshalb an dieser Stelle hingewiesen. Im schwer zerstörten Mostar, das in der Folge des Bosnienkriegs ethnisch und für lange Zeit auch administrativ zwischen

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Abb. 3  Ein Hort des kroatischen Katholizismus: Mostar, Franziskanerkloster. Aufnahme um 1950.

muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten geteilt wurde, kam es beim Wiederaufbau der Stadt, wie es Regina Bittner formuliert, zu einem „Wettstreit um die Größe und Sichtbarkeit der religiösen Bauten, der Moscheen auf der Ostseite und der Kirchen auf der Westseite“, an dem sich „der ethnisch motivierte Streit um die Vorherrschaft in der Stadt“ erkennen lasse.22 Besonders krass zeigt sich das Streben nach visueller Dominanz im Stadtbild am Wiederaufbau der Peter-Pauls-Kirche des kroatischen Franziskanerklosters, der sich vage an die Form des im Krieg zerstörten Bauwerks aus dem 19. Jahrhundert anlehnt, dabei allerdings deutlich größer ausgefallen ist (Abb. 3–5).23 Der über der Stadt emporragende, campanileartige Turm dürfte mit seinen nunmehr über 100 Metern wohl annähernd die doppelte Höhe seines Vorgängers erreichen. Eine Betrachtung im thematischen Kontext dieses Bandes würde beispielsweise 22 Bittner, Regina: Under Construction: Mostar / Baustelle Mostar. In: UN Urbanism / UN-Urbanismus. Hg. v. Ders., Wilfried Hackenbroich und Kai Vöckler. Berlin 2010, S. 136–152, hier S. 141; zum Wiederaufbau von Mostar siehe auch Carabelli, Julia: Re-(ad)dressing Mostar. The spatial and social implications of post-war intervention and competition in rebuilding Mostar, Bosnia and Herzegovina / Spatiale und soziale Implikationen von Nachkriegsintervention und -wettbewerb beim Wiederaufbau von Mostar, Bosnien-Herzegowina. In: ebd., S. 178–187; Bijavica, Mili: Mostar. Die endlose Geschichte. Mostar 2014. 23 Marić, Ante: Das Franziskanerkloster Sankt-Petrus-und-Paulus in Mostar. Mostar 2014.

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Abb. 4  Opfer des Bosnienkriegs: Mostar, Franziskanerkloster nach Zerstörung. Aufnahme von 1992.

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Abb. 5  Kampf um Dominanz im ethnisch getrennten Stadtraum: Mostar, Franziskanerkloster nach Wiederaufbau. Aufnahme von 2016.

auch der Wiederaufbau der zwischen Serben und Kroaten umkämpften, bei der Belagerung durch die Jugoslawische Volksarmee schwer zerstörten Stadt Vukovar, ein national aufgeladenes Vorzeigeprojekt im Zeichen der Festigung der Staatlichkeit Kroatiens, verdienen.24 Jonathan Blower führt in seinem Beitrag über den Diokletianpalast in Split ein Memorandum des Kunsthistorikers Rudolf Eitelberger aus der Mitte des 19. Jahrhunderts an, in dem dieser Kulturpolitik und damit auch architektonische Rekonstruktion in die Nähe des militärischen Kampfes einer Armee rückt. Wie Recht er damit hatte, lässt sich gerade an den nationalpolitisch motivierten Rekonstruktionsprojekten bis heute immer wieder beobachten.

Rekonstruktion und Denkmalpflege – ein heikles Verhältnis Aus den übergeordneten politischen Zielsetzungen von Rekonstruktionen im Dienst der nationalen Sache resultierten immer wieder der Mut und die Entschlossenheit, sich über denkmalpflegerische Prinzipien und Standards im Umgang mit zerstörten Bauten 24 Marić, Ruža: Vukovar. Zagreb 2005.

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Arnold Bartetzky Abb. 6  Eine patriotische Vision mittelalterlicher Herrlichkeit wird aus dem Boden gestampft: Posen (Poznań), Bauplatz der Königsburg. Aufnahme von 2011.

hinwegzusetzen. Dazu gehört etwa das von Georg Mörsch, einem der maßgeblichen Theoretiker der Denkmalpflege im deutschen Sprachraum, formulierte Postulat, dass Zerstörung und Wiederaufbau „Zeitgenossen“ sein müssten, „um den zerrissenen Faden der Zeit im erneuerten Denkmal wieder verknüpfen zu können“. Mörsch zufolge „verliert in der Regel ein Wiederaufbau, der nicht in der Generation der Zeugen der Zerstörung begonnen wurde, den größten Teil seiner Glaubwürdigkeit“.25 Bei einigen der in diesem Band versammelten Beispiele beträgt der zeitliche Abstand zwischen Zerstörung und Rekonstruktion indes ein Vielfaches der Spanne einer Generation. Rekordhalter dürfte der Wiederaufbau des Panathenäischen Stadions sein, dessen antike, zwischen dem 4. Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert nach Christus geformte Gestalt bis zur Ausgrabung seiner Fundamente um 1870 wohl mehr als ein Jahrtausend lang von der Bildfläche verschwunden war. Auf immerhin rund zwei Jahrhunderte Nichtexistenz bringt es der Großfürstliche Palast von Vilnius, dicht gefolgt von der Prager Bethlehemskapelle, die über eineinhalb Jahrhunderte nach ihrem weitgehenden Abbruch rekonstruiert wurde. Im Vergleich dazu wirkt die Zeitspanne von etwas mehr als einem halben Jahrhundert, die den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses von dessen Zerstörung trennt, geradezu episodisch. Der Mut zur Rekonstruktion von Bauten, deren Zerstörung Jahrhunderte zurückliegt, hält in der östlichen Hälfte Europas bis in die Gegenwart an. So wurde erst kürzlich in Posen eine auf das Mittelalter zurückgehende Burg der polnischen Könige wiederaufgebaut, von der bereits im frühen 18. Jahrhundert nicht mehr als die Ruine der Grundmauern übriggeblieben war (Abb. 6 und 7).26 Die Rekonstruktion – wenn man die Nachschöpfung von etwas, über dessen Gestalt wenig bekannt ist, so bezeichnen will – wurde von einem bürgerschaftlichen Komitee im Bündnis mit der Lokalpolitik gegen den Widerstand und Spott vieler Fachleute durchgesetzt, um die historische Verbindung Posens zu Polen und die Bedeutung der Stadt für die polnische Nationalgeschichte zum 25 Mörsch (wie Anm. 20), S. 92. 26 Zamek Królewski w Poznaniu. Historia i restytucja [Königsburg in Posen. Geschichte und Wiederherstellung]. Hg. v. Komitet Odbudowy Zamku Królewskiego w Poznaniu. Poznań 2014; zu dem Projekt kritisch Ratajczak, Tomasz: Das Neue Schloss in Poznań vor dem Hintergrund vergleichbarer Bauten in Polen und Europa. In: Re-Konstruktionen (wie Anm. 5), o. P.



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Abb. 7  Polnisches Gegengewicht zum deutschen Kaiserschloss: Posen, Königsburg nach dem Wieder­aufbau. Aufnahme von 2014.

Ausdruck zu bringen. Ein Motiv bestand auch in dem Wunsch, im Stadtbild ein symbolisches Gegengewicht zu dem kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichteten, wuchtigen Residenzschloss Kaiser Wilhelms II. zu schaffen, das weithin als Zeichen der überwundenen preußisch-deutschen Fremdherrschaft empfunden wird. Deshalb legten die Initiatoren des Wiederaufbaus auch Wert darauf, dass der Turm der neuen Königsburg den des Kaiserschlosses überrage. So ist der heutige Burgturm um rund zehn Meter höher, als es, dem Architekturhistoriker Tomasz Ratajczak zufolge, sein schon vor Jahrhunderten verschwundener Vorgänger aller Wahrscheinlichkeit nach gewesen sein dürfte.27 Je größer der zeitliche Abstand zwischen dem Untergang eines Bauwerks und seiner Wiedererstehung, desto deutlicher tritt der artifizielle, geschichtskonstruktive Charakter der Rekonstruktion vor Augen. Der oben zitierte Georg Mörsch ist gegenüber solchen spät nachgeholten Rekonstruktionen besonders kritisch eingestellt. Denn zu der von ihm postulierten „grundsätzlichen Unangemessenheit gegenüber der Geschichte und ihrer Unwiederholbarkeit, die für Rekonstruktionen desto mehr gilt, je länger eine Zerstörung oder die Verwischung eines Zustandes zurückliegt“, komme „für viele Fälle die dokumentarische Beweisnot“, also der Mangel an Quellen hinzu, die detailliert 27 Ebd., o. P.

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Abb. 8  Reflexive Rekonstruktion mit konservierter Spur der Zerstörung – ein Denkmal der deutschen Nachkriegszeit: München, Alte Pinakothek. Aufnahme von 2012.

Aufschluss über das Aussehen des zerstörten Baus geben könnten.28 Der Wiederaufbau der Posener Burg bietet dafür ein besonders drastisches Beispiel. Aber auch einige der in diesem Band analysierten Projekte basieren auf einem lückenhaften bis dürftigen Wissensstand über die ursprüngliche Gestalt des rekonstruierten Bauwerks. Das gilt etwa für die Bethlehemskapelle in Prag ebenso wie für den Großfürstlichen Palast in Vilnius, von dem, wie Andreas Fülberth darlegt, noch nicht einmal die Hoffassaden dokumentiert waren, ganz zu schweigen von den Innenräumen, deren heutige prachtvolle Einrichtung auf einer „Vision“ der Vergangenheit beruht. Der häufig beträchtliche zeitliche Abstand zwischen Zerstörung und Wiederaufbau ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass die hier behandelten Rekonstruktionsprojekte immer wieder besonders anschauliche Beispiele für die von der Fachwelt so oft gescholtene „schöpferische Denkmalpflege“ liefern. Die Tendenz, bei der Wiederherstellung eines Baus freizügig mit Mutmaßungen und Analogieschlüssen, ja bisweilen mit phantastischen Vorstellungen und Wunschbildern zu arbeiten, hängt auch mit der politischen Intention der Projekte zusammen. Denn das Ziel ist in der Regel gerade nicht eine Wiederherstellung, die sich in Form und Umfang auf gesicherte Erkenntnisse beschränkt, sondern die Schaffung eines Idealbilds der Geschichte, das den Bedürfnissen der Gegenwart entspricht. Dazu gehört der Anschein von Vollständigkeit. Lücken, Leerstellen oder gar Spuren der Zerstörung sind deshalb unerwünscht. So rechtfertigte etwa der im Beitrag von Robert Born zitierte Museumsdirektor Adrian Rădulescu die vollständige und damit in Bezug auf ihre Originaltreue zugleich fragwürdige Rekonstruktion des Tropaeum Traiani mit ihrer allen denkmalpflegerischen Bedenken übergeordneten nationalen Bedeutung: Das „patriotische Gefühl“ verlange, „dass dieses Symbol einer Seite im Geschichtsbuch, die mit den Ursprüngen unseres Volks verbunden ist, vollumfänglich fertiggestellt werden soll“. Wenn Rekonstruktion solchen apodiktischen übergeordneten Zielen folgt, kann sie sich selbst gegenüber kaum kritisch sein. Sie soll keine Brüche zeigen, keine offenen Fragen zulassen oder gar Zweifel wecken. Sie ist zwar manchmal mit Absicht, zumin28 Mörsch (wie Anm. 20), S. 93.



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Abb. 9  Rekonstruktion mit ironischer Note – im östlichen Europa wohl undenkbar: Potsdam, „Ceci n’est pas un château“, Kunstinstallation von Annette Paul am wiederaufgebauten Stadtschloss. Aufnahme von 2014.

dest auf den zweiten Blick, auch für das Laienauge als Neubau erkennbar. So ruht zum Beispiel der Baukörper des Großfürstlichen Palasts in Vilnius auf einer mächtigen Betonkonstruktion, die sich über die in Szene gesetzten archäologischen Relikte im Untergeschoss spannt. Doch auch der Vilniuser Palast setzt, wie fast alle in diesem Band vorgestellten Projekte, auf möglichst makellose Oberflächen mit voller Prachtentfaltung des Dekors, die dem Bauwerk den Anschein von Unversehrtheit verleihen. In vielen Fällen, allen voran vielleicht bei den Kirchen in Moskau und Kiew, kommen die rekonstruierten Bauten noch glanzvoller daher, als es ihre zerstörten Vorgänger je getan hatten. Dass es auch andere, reflexivere Varianten von Rekonstruktion geben kann, lässt sich besonders, wenn auch an einer überschaubaren Zahl von Beispielen, in Deutschland beobachten, darunter an der Alten Pinakothek in München (Abb. 8), der Frauenkirche in Dresden und dem Neuen Museum in Berlin. Bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte ist diesen zwischen der frühen Nachkriegszeit und den letzten Jahren wiederhergestellten Bauten gemeinsam, dass sie mit ihren differenzierten Oberflächen das Faktum der Zerstörung zur Anschauung bringen, indem sie die neu gebauten Teile vom erhaltenen Originalbestand absetzen. In einem Fall wurde sogar durch eine künstlerische Intervention eine ironisierende Distanzierung vorgenommen. So prangt am unlängst vollständig und in nicht sonderlich reflexiver Manier rekonstruierten Potsdamer Stadtschloss in goldenen Lettern der schnörkelige Schriftzug: „Ceci n’est pas un château“ – „Dies ist kein Schloss“ (Abb. 9). So ein Anflug von Ironie, der einen Verfremdungseffekt auslöst und – unter Anspielung auf René Magrittes berühmtes Bild „Ceci n’est pas une pipe“ – zur Reflexion über

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den Abbildcharakter der Rekonstruktion anregen kann, ist bei den Rekonstruktionspraktiken in den Ländern östlich von Deutschland wohl undenkbar. Aber auch Beispiele für eine bewusste Konservierung oder gar Inszenierung von Zerstörungsspuren dürfte man dort äußerst selten finden. So widersprechen auch alle in diesem Buch besprochenen Projekte der 1964 beschlossenen Charta von Venedig, die als maßgebliche international anerkannte Richtlinie der Denkmalpflege gilt.29 Das Wort „Rekonstruktion“ kommt darin nur einmal im Zusammenhang mit archäologischen Ausgrabungen vor. „Jede Rekonstruktionsarbeit“, heißt es hier kategorisch, „soll von vornherein ausgeschlossen sein.“ Zugelassen ist allenfalls die Anastylose, also ein partielles Zusammensetzen von aus ihrem Zusammenhang gelösten Bauteilen unter Verwendung von Originalfragmenten. In der östlichen Hälfte Europas wurden Ausgrabungen indes, wie erwähnt, immer wieder zum Ausgangspunkt für die vollständige Rekonstruktion eines nur in archäologischen Resten erhaltenen Bauwerks. Mehrere Artikel der Charta widmen sich der „Restaurierung“, worunter hier auch und insbesondere Teilrekonstruktion zu verstehen ist. Diese wird als Maßnahme vorgestellt, die „Ausnahmecharakter behalten“ sollte. „Sie findet dort ihre Grenze“, heißt es weiter, „wo die Hypothese beginnt.“ Im nachfolgenden Satz wird gleichwohl die Möglichkeit eines auf Hypothesen beruhenden Vorgehens eingeräumt, allerdings unter einem wichtigen Vorbehalt: „Wenn es aus ästhetischen oder technischen Gründen notwendig ist, etwas wiederherzustellen, von dem man nicht weiß, wie es ausgesehen hat, wird sich das ergänzende Werk von der bestehenden Komposition abheben und den Stempel unserer Zeit tragen.“ Robert Born weist darauf hin, dass die Rekonstruktion des Tropaeum Traiani mit diesen Postulaten der Charta von Venedig unvereinbar ist. Gleiches stellen Aleksandr Musin für die Kirchenrekonstruktionen in Russland und der Ukraine und Ernő Marosi für viele von ihm besprochene Beispiele aus der jüngsten Zeit in Ungarn fest. Die Unverträglichkeit gegenüber den in Venedig beschlossenen Postulaten ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal von Rekonstruktionsprojekten in der östlichen Hälfte Europas. Weltweit lassen sich wohl die wenigsten Rekonstruktionen mit den Prinzipien der Charta in Einklang bringen, die in ihrem universalen Geltungsanspruch durchaus umstritten ist. Marosi zeigt allerdings darüber hinaus auf, dass die Rekonstruktionslust im heutigen Ungarn auch vor jahrhundertealten Ruinen von einer geradezu idealen, malerischen Schönheit nicht haltmacht, wofür er die mittelalterlichen Burgen Diósgyőr und Füzér oder das Renaissanceschloss Szászvár als Beispiele anführt.

Rekonstruktion, Selektion, Zerstörung Mit den Prinzipien moderner Denkmalpflege kollidiert die Rekonstruktion nicht nur in ihrem Bestreben nach Vollständigkeit und makelloser Erscheinung des von ihr geschaffenen Bildes, sondern auch in ihrem damit eng zusammenhängenden selektiven Verhältnis zur Baugeschichte. „Zu der Glaubwürdigkeit des Wiederaufbaus gehört auch 29 Wortlaut der deutschen Fassung unter: http://www.bda.at/documents/455306654.pdf (28.12.2016).



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das Wiederanknüpfen an die Gestalt des Baus unmittelbar vor seiner Zerstörung“, schreibt Georg Mörsch, der damit zumindest die Mehrheitsmeinung der Denkmalpfleger im deutschsprachigen Raum vertreten dürfte. „Jeder verbessernde, reinigende, egalisierende, spätere Zutaten ausmerzende Wiederaufbau“, führt er weiter aus, „muß die Kontinuität zwischen Original und Wiederaufbau, das Eintreten der Wiederholung in die Identität des Zerstörten, gefährden.“30 Gerade nationalpolitisch aufgeladene Wiederaufbauprojekte zielen aber entsprechend dem Wunsch nach Vermittlung eines Idealbilds der eigenen Geschichte meist eben nicht auf die präzise Nachbildung eines gewachsenen Zustands unmittelbar vor der Zerstörung, sondern auf eine bereinigte Vision früherer Stilreinheit, die spätere Veränderungen negiert. Dafür bietet dieses Buch viele Beispiele vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zuweilen geht es auch ausdrücklich um eine Korrektur der Geschichte. So eröffneten die Zerstörungen des Ersten Weltkriegs in den historischen Stadtzentren Polens nach Meinung des Architekten Stefan Szyller, wie im Beitrag von Małgorzata Omilanowska nachzulesen ist, die Chance, lange zuvor verschwundene, vermeintlich typisch polnische Architekturelemente wiederherzustellen – und zwar auch dort, wo es sie niemals gegeben hatte. Diese Wiederbelebung früherer Tradition, und zuweilen auch architektonische Traditionserfindung im Namen der Polonität, spielte nicht nur in den Projekten der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle. Sie wurde auch und gerade bei den Wiederaufbaukampagnen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg praktiziert, was dem Artikel von Tomasz Torbus zu entnehmen ist. Selektion war aber ebenso beim Wiederaufbau Warschaus Programm, wie Piotr Korduba zeigt. Nach Auffassung von Polens damaligem Generalkonservator Jan Zachwatowicz hatte das von Theoretikern der frühen modernen Denkmalpflege wie Alois Riegl, Georg Dehio und Max Dvořák etablierte zentrale Postulat, das Baudenkmal im vorgefundenen Zustand, einschließlich seiner Überformungen und Schäden zu erhalten, mit den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs seine Geltung verloren. Folgerichtig zielte der Wiederaufbau Warschaus keineswegs auf die Wiederherstellung des Bestands mit allen Zeitschichten, sondern auf eine Stärkung erwünschter und Beseitigung unerwünschter Elemente im Dienst der Konstruktion einer homogenen nationalen Kulturtradition. Das Ergebnis, so Korduba, hat genau genommen nur wenig mit Rekonstruktion zu tun. Vielmehr wurde ein Zustand kreiert, der so nie existiert hatte. Bei der dem Wiederaufbau Warschaus zugrundeliegenden Traditionskonstruktion wurden Stile wie Gotik, Renaissance und Klassizismus bevorzugt. Dies hatte einiges mit marxistisch-leninistischer Ideologie, insbesondere dem stalinistischen Kulturkonzept des Sozialistischen Realismus zu tun, in das sich die Rekonstruktionsprojekte in Polen und anderen sozialistischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg problemlos einfügten. Der Wiederaufbau Warschaus wie auch anderer Altstädte in Polen folgte aber weitgehend

30 Mörsch (wie Anm. 20), S. 92.

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auch Leitbildern, die bereits vor 1945 entwickelt worden waren.31 Die Privilegierung bestimmter Architekturepochen war in einer bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichenden gesamteuropäischen Tradition der Zuordnung historischer Stile zu Nationen verwurzelt. So konnte die Gotik als französischer, als deutscher, als englischer oder auch, wie Radu Lupescu ausgehend von der Rekonstruktion der Burg Vajdahunyad aufzeigt, als ungarischer Nationalstil gelten, wurde diese doch mit der Glanzperiode des mittelalterlichen ungarischen Königtums in Verbindung gebracht. Beim Wiederaufbau Warschaus oder Breslaus nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Gotik auch für die polnische nationale Tradition beansprucht werden – nachdem sie im polnischen Teil Schlesiens in der Zwischenkriegszeit ausdrücklich als deutsch konnotierter Baustil abgelehnt worden war.32 Die Austauschbarkeit der nationalen Deutungen historischer Architektur zeigte sich auch, wie Małgorzata Omilanowska im Anschluss an Beate Störtkuhl aufzeigt, bei den Planungen für den Wiederaufbau von Kalisz, die zunächst noch unter deutscher Besatzung und nach dem Ersten Weltkrieg in polnischer Eigenregie erarbeitet wurden. Während die Deutschen in der Stadt eine typische deutsche Siedlungsstruktur im Osten sahen, galten die städtebaulich-architektonischen Formen derselben Stadt den Polen als genuin polnisch – und so wollten die einen wie die anderen Kalisz nach ähnlichen Leitbildern als zur eigenen nationalen Tradition gehörige Stadt wiedererstehen lassen. Tomasz Torbus weist darüber hinaus auf Kontinuitäten zwischen den Restaurierungskonzepten vor und den Wiederaufbaukampagnen nach dem Zweiten Weltkrieg in Danzig und Breslau hin. Während erstere das vermeintlich zutiefst deutsche Antlitz der Stadt wiederherstellen sollten, zielten letztere auf die Erschaffung eines als polnisch deklarierten Stadtbilds, wobei sich beide frappant ähnlicher Mittel bedienten. Ein Mittel, dessen sich Rekonstruktion unabhängig von ihrer nationalen Etikettierung immer wieder bedient, ist die Zerstörung. Das liegt zum einen schlicht daran, dass oftmals ein Bau zu weichen hat, damit an seiner Stelle ein anderer rekonstruiert werden kann. Das muss man in Deutschland, wo die jahrelangen Auseinandersetzungen um Schloss und Palast der Republik in Berlin noch ganz präsent sind, nicht ausführlich erklären. Zum anderen besteht aber eine Wesensverwandtschaft zwischen politisch motivierter Rekonstruktion und politisch motivierter Zerstörung von Baudenkmälern. Denn beide Praktiken gründen in einer Haltung der Verfügungsgewalt über Geschichte. Die Beiträge dieses Bandes führen vor Augen, dass Rekonstruktion und Zerstörung vielfach geradezu zwei Seiten einer Medaille sind. Dies mag etwas zugespitzt klingen, ist hier aber nicht polemisch gemeint. Dass Rekonstruktion zum einen eine Zerstörung 31 Dazu unlängst Popiołek, Małgorzata: Keine Stunde Null. Das Wiederaufbauprogramm von Jan Zachwatowicz für die polnischen Altstädte nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Geteilt – Vereint! Denkmalpflege in Mitteleuropa zur Zeit des Eisernen Vorhangs und heute. Hg. v. Ursula Schädler-Saub und Angela Weyer. Petersberg 2015, S. 179–189. 32 Dazu unlängst Störtkuhl, Beate: „Modernisierte Gotik“ versus Neoklassizismus – konkurrierende Geschichtsbilder zwischen Deutschland und Polen in der Architektur der 1920er Jahre in Schlesien. In: Geschichtsbilder und Erinnerungskultur in der Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts. Hg. v. Kai Kappel und Matthias Müller. Regensburg 2014, S. 43–58.



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rückgängig machen soll und zum anderen oftmals bereitwillig selbst neue Zerstörung impliziert, hängt mit ihrem oben beschriebenen selektiven Verhältnis zur Vergangenheit zusammen. Weil sie in der Regel auf Wiederherstellung eines Idealzustands ausgerichtet ist, geht sie immer wieder auch mit der Tilgung missliebiger Spuren der Vergangenheit einher, die nicht zu diesem imaginierten Idealzustand passen. Die Missliebigkeit bestimmter Bauten und Zeitschichten kann aus der kulturellen Geringschätzung einer Epoche erwachsen. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit dem byzantinischen Bauerbe im Athen des 19. Jahrhunderts. Die Inszenierung des Bezugs zum klassischen Hellas durch Restaurierung und Rekonstruktion antiker Monumente und den klassizistischen Stil von Neubauten wurde von der Dezimierung osmanischer Architektur, aber auch von zahlreichen Abrissen byzantinischer Kirchen begleitet. Während man in Griechenlands Hauptstadt durch die Berufung auf die Antike, wie es Adamantios Th. Skordos in seinem Beitrag formuliert, mit den Jahrhunderten der Osmanenherrschaft auch gleich „das ebenso negativ betrachtete byzantinische Jahrtausend überspringen“ wollte, ist diese Epoche im heutigen Mazedonien ein bevorzugter Traditionsspender. Mussten in Griechenland osmanische wie byzantinische Bauten für bauliche Visionen der Antike weichen, so wird in Mazedonien, wie im Aufsatz von Evelyn Ivanova-Reuter geschildert, osmanisches Erbe zerstört, um Platz für die Inszenierung byzantinischer Architektur zu machen. Die Zerstörung eines missliebigen Bauerbes kann auch eine unmittelbare nationalpolitische Reaktion auf die Überwindung einer Fremdherrschaft sein. Ein Beispiel dafür ist die systematische Beseitigung russisch-orthodoxer Kirchen im ehemals russischen Teilungsgebiet Polens nach dem Ersten Weltkrieg, die mit der Wiederherstellung von als polnisch angesehenen Baudenkmälern Hand in Hand ging.33 Als prominentester Herrschaftsbau des Zarenreichs wurde, wie im Beitrag von Keya Thakur-Smolarek erwähnt, die erst kurz vor dem Krieg fertiggestellte Alexander-Newski-Kathedrale, das damals höchste Gebäude Warschaus, niedergelegt. Stand die Rekonstruktions- und Abrisstätigkeit in der Zwischenkriegszeit stark im Zeichen der Entrussifizierung, so ging es beim Wiederaufbau in den von deutscher Kultur geprägten Teilen Polens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt um Entprussifizierung oder Entgermanisierung der neuen Territorien. Eindeutig nationalpolitisch motivierte Abbrüche hielten sich dabei in Grenzen, allerdings wurden, worauf Tomasz Torbus hinweist, Bauten mit preußischer Symbolik immer wieder von der Sicherung oder Rekonstruktion ausgeschlossen, was ihren Ruin oder späteren Abriss nach sich ziehen konnte. Dass bei den Rekonstruktionskampagnen nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen trotz aller Not der Zeit sehr viel erhaltensfähige Bausubstanz zerstört wurde, lag weniger an deren nationaler als ideologischer Missliebigkeit. So wurden vor allem in Warschau 33 Paszkiewicz, Piotr: Spór o cerkwie prawosławne w II Rzeczypospolitej. „Odmoskwianie“ czy „polonizacja“? [Der Streit um russisch-orthodoxe Kirchen in der Zweiten Polnischen Republik. „Entrussifizierung“ oder „Polonisierung“?]. In: Nacjonalizm w sztuce i historii sztuki 1789–1950. Hg. v. Dariusz Konstantynów, Robert Pasieczny und Dems. Warszawa 1998, S. 227–233.

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viele Bauten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts abgerissen oder radikal umgestaltet, die nun als zu beseitigendes Erbe der kapitalistischen Vergangenheit galten. Die vehemente Ablehnung der Architektur des Historismus einte damals zwar Ost und West. In den sozialistischen Ländern wurde sie allerdings durch die politische Ächtung der Epoche entsprechend dem marxistisch-leninistischen Geschichtsbild zusätzlich verschärft. So wirkten beim Wiederaufbau der Warschauer Altstadt, wie im Beitrag von Piotr Korduba deutlich wird, rekonstruktive und zerstörerische Eingriffe auf eine besonders systematische Weise bei der Erschaffung eines idealisierten Bildes nationaler Baugeschichte zusammen, das zum Vorbild für die Wiederaufbaukampagnen in anderen historischen Stadtzentren Polens wurde.

Rekonstruktion im Dienst von Versöhnung  und internationaler Verständigung? Die jüngsten der in diesem Band besprochenen Projekte lassen vermuten, dass die Konstruktion exklusiver Nationalgeschichten in der östlichen Hälfte Europas bis auf Weiteres eines der zentralen Motive von Rekonstruktionsprojekten bleiben wird. Bemerkenswerterweise gibt es aber in diesem Teil des Kontinents auch einige Rekonstruk­tionen aus jüngster Zeit, die gerade nicht im Dienst nationaler Selbstbehauptung und Abgrenzung oder territorialer Ansprüche stehen, sondern Brücken zwischen ethnischen Gruppen schlagen sollen. Sie finden sich in Bosnien-Herzegowina, das bis heute von Krieg, Vertreibung und anhaltenden ethnischen Spannungen schwer gezeichnet ist. Das bekannteste Beispiel ist selbst eine Brücke. Nach ihrer Zerstörung im Bosnienkrieg im Jahr 1993 verbindet die Alte Brücke von Mostar seit 2004 wieder die Ufer der Neretva und damit die beiden ethnisch weitgehend getrennten Teile der Stadt (Abb. 10).34 Die Vernichtung des aus dem 16. Jahrhundert stammenden, als Meisterwerk osmanischer Baukunst geltenden Wahrzeichens der Stadt durch kroatische Truppen hatte eine besondere negative Symbolkraft als ein Akt, der sich gegen das Zusammenleben von Kroaten und muslimischen Bosniaken in der Stadt richtete. Dementsprechend wurde der von internationalen Organisationen vorangetriebenen und von verschiedenen Staaten unterstützten Rekonstruktion der Brücke eine umgekehrte Symbolkraft als Signal für Versöhnung beigemessen. Eine ähnliche Botschaft ging einige Jahre später von der Eröffnung eines gemeinsamen Gymnasiums aus. In der Schule, die auf Initiative der OSZEMission in Bosnien-Herzegowina im restaurierten Alten Gymnasium am Spanischen Platz (Abb. 11), einem repräsentativen Bau des ausgehenden 19. Jahrhunderts eingerichtet wurde, sollten kroatische und bosniakische Schüler zusammen unterrichtet werden – ein Pionierprojekt in einem Land, in dem auch das Schulwesen ethnisch getrennt ist.

34 Bittner (wie Anm. 22), S. 137, 145–149; Carabelli (wie Anm. 22), S. 184–186; Bijavica (wie Anm. 22), S. 97–107.



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Abb. 10  Rekonstruktion für die Versöhnung: Mostar, wiederaufgebaute Alte Brücke. Aufnahme von 2016.

Abb. 11  Pionierprojekt für die Überwindung ethnischer Spaltung durch gemeinsamen Unterricht: Mostar, Altes Gymnasium nach Restaurierung. Aufnahme von 2011.

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Abb. 12  Hoffnung auf die heilende Wirkung der Kultur: Der Cellist Vedran Smailović spielt in der zerstörten Nationalbibliothek von Sarajevo. Aufnahme von 1992.

Abb. 13  Ein verschmähtes Geschenk der internationalen Gemeinschaft: Sarajevo, Nationalbibliothek nach Wiederaufbau. Aufnahme von 2016.



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Abb. 14  Kostbare Innenräume ohne Nutzer: Sarajevo, rekonstruierte Eingangshalle der Nationalbibliothek. Aufnahme von 2016.

Solche Projekte setzten in Mostar ein Gegenzeichen zu dem oben erwähnten kroatischbosniakischen Wettstreit um die Präsenz der eigenen religiösen Bauten im Stadtraum. Bei aller Hoffnung bestand aber von Anfang an Skepsis darüber, ob die von internationalen Institutionen initiierten Versöhnungssignale die erwünschte Wirkung entfalten würden. Regina Bittner stellte nach Studien vor Ort 2006 die Frage, ob die bereits bald nach ihrer Rekonstruktion in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommene Brücke mit der wiederaufgebauten Altstadt in ihrer Nachbarschaft „in der immer noch geteilten Stadtgesellschaft verankert“ oder „nur eine Konstruktion der internationalen Gemeinschaft“ sei.35 In derselben Publikation über den „UN-Urbanismus“ schrieb Giulia Carabelli, dass die Brücke „eine Art Blase um den denkmalgeschützten Bereich“ schaffe, 35 Bittner (wie Anm. 22), S. 146.

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,,wo für die Touristen ,typisches Leben‘ inszeniert“ werde.36 Ein Besuch Mostars ein Jahrzehnt später bestätigt den Eindruck – so unbestritten die Bedeutung des Bauwerks für die Normalisierung des städtischen Lebens und so herzergreifend sein Anblick ist. Brücke und Altstadt generieren Einkünfte aus dem Tourismus, die für Mostar lebenswichtig sind. Ihr positiver Effekt ist unübersehbar. Sie wirken aber weiterhin wie eine künstlich geschaffene Insel in einer in weiten Teilen nach wie vor ruinösen Stadt, die nicht nur materiell, sondern auch mental den Krieg noch nicht ganz überwunden hat: Der Unterricht im Alten Gymnasium, so ist zu hören, findet entgegen ursprünglichem Plan in ethnisch getrennten Klassen und zu unterschiedlichen Tageszeiten statt. Besonders ernüchternd in ihrer Wirkung ist die Rekonstruktion der Nationalbibliothek in Sarajevo (Abb. 12–14).37 Der als Rathaus errichtete Großbau des ausgehenden 19. Jahrhunderts stand wie kaum ein anderes Gebäude für das gemeinsame Kulturerbe Bosnien-Herzegowinas. Mit seinem orientalisierenden Stil, der dem nahezu zeitgleich entstandenen Mostarer Gymnasium stark ähnelt, erwies er der muslimischen Tradition der Stadt Reverenz. In der ursprünglichen Funktion diente er einer Stadtverwaltung, in der alle Bevölkerungsgruppen Sarajevos vertreten waren. Mit seiner Umnutzung als National- und Universitätsbibliothek nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Prachtbau zum Speicher des kulturellen Gedächtnisses für alle Ethnien der jugoslawischen Teilrepublik. Der Beschuss während der serbischen Belagerung, deren Ziel die Vertreibung muslimischer Bosniaken und Kroaten aus der Stadt war, verwandelte ihn 1992 in eine Ruine. Die Zerstörung war vermutlich das Ergebnis eines gezielten Angriffs, der dem Bau gerade in seiner Funktion als Hort eines gemeinsamen Erbes galt. Damit hatte die serbische Artillerie zugleich ein potenzielles ideelles Fundament für einen gemeinsamen Staat getroffen. Im Jahr 1996 begann der langwierige, von der internationalen Gemeinschaft unterstützte Wiederaufbau, für den die Europäische Union in friedensstiftender Absicht den größten Teil der Kosten übernahm. Im Jahr 2016, zwei Jahre nach Vollendung der minutiösen Rekonstruktion, steht die Nationalbibliothek allerdings bis auf eine kleine Ausstellung im Untergeschoss leer, weil die Nutzungspläne bisher am Schlendrian und Gerangel zwischen den zuständigen Institutionen Bosnien-Herzegowinas gescheitert sind – ein Geisterschloss, eine gebaute Illusion, ein Sinnbild für einen gescheiterten Staat, in dem bisher so gar nicht zusammenwachsen will, was nach der Idee des Friedensabkommens von Dayton zusammenwachsen sollte. Die leere Nationalbibliothek von Sarajevo scheint bisher tatsächlich eine idealistische „Konstruktion der internationalen Gemeinschaft“ zu sein, für die in der lokalen Gesellschaft die Basis fehlt. Auch wenn die Zeit für Rekonstruktion im Dienst der Versöhnung in Bosnien-Herzegowina offenbar noch nicht reif ist, sind solche Projekte nicht falsch. Sie sind ein Angebot, mit dem künftige Generationen vielleicht besser umgehen werden. 36 Carabelli (wie Anm. 22), S. 184. 37 Bartetzky, Arnold: Sinnbild für einen gescheiterten Staat. Nur kostbare Hülle: Die im Bosnien-Krieg zerstörte Nationalbibliothek von Sarajevo steht zwei Jahre nach Vollendung ihres Wiederaufbaus leer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.8.2016. Online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/die-nationalbibliothek-von-sarajevo-steht-noch-immer-leer-14377878.html (28.12.2016).



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Abb. 15  Eine künftige Aufgabe für Rekonstruktion im Namen gemeinsamer Werte? Palmyra, Zerstörungsaktion des Islamischen Staates. Aufnahme von 2015.

Unter ganz anderen politischen Bedingungen und in einem noch weitaus schwierigeren Umfeld könnten in Zukunft weitere Rekonstruktionsprojekte im Zeichen internationaler Verständigung und Zusammenarbeit vorangetrieben werden. Denn die Zerstörungen herausragender Kulturstätten durch die Taliban und den Islamischen Staat werden weithin als Angriff auf das Erbe der ganzen Menschheit angesehen und lösen Appelle aus, menschenfeindlichem Fanatismus nicht das letzte Wort zu überlassen. So wie sich einzelne Nationen, wie in diesem Band gezeigt, immer wieder durch die Vernichtung ihres Erbes erniedrigt gefühlt haben, so sieht sich die internationale Gemeinschaft durch den islamistischen Ikonoklasmus der Gegenwart gedemütigt. So fordert der Kunsthistoriker Horst Bredekamp in Bezug auf die vom Islamischen Staat verwüstete Welt­ erbestätte Palmyra in Syrien (Abb. 15) eine „kämpferische Rekonstruktion“38 – und folgt damit einem Reaktionsmuster, für das sich in diesem Buch ebenfalls viele Beispiele finden. Ob solche Rhetorik der Herausforderung angemessen ist, steht dahin. An der Hoffnung aber, dass Rekonstruktion auch ein weltumspannendes Bewusstsein für gemeinsame Werte und gemeinsame Verantwortung stärken kann, gilt es festzuhalten. Heute vielleicht mehr denn je.

38 Bredekamp, Horst: Das Beispiel Palmyra. Köln 2016.

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Summary Reconstruction for the nation in the eastern half of Europe Introduction The reconstruction of symbolic buildings and ensembles following their destruction continues to play an important role in national awareness-building, emancipation, selfassertion and often also differentiation. This is particularly true of emerging and young national states as well as those in transition. The presentation of architecture from past eras is often employed as a visually effective means for the construction and sometimes the symbolic correction of national history. In some cases, it can even serve the legitimation of state sovereignty and territorial claims. This book spans a substantial period from the nineteenth century to the present day. It chiefly focuses on examples from the eastern half of Europe, hitherto largely underrepresented in debates and publications on reconstruction. The authors examine several, mostly relatively unknown projects in various countries between the Baltic Sea, the Adriatic and the Black Sea. Particular attention is paid to reasons of national policy which have repeatedly been the driving force behind reconstruction projects on this part of the continent until recent times. The causes are rooted in the long phases of foreign rule and imperial domination, the many regime changes, ethnic tensions, competing national movements, shifting borders and displaced populations experienced in the eastern half of Europe for hundreds of years. In addition to this central theme, other factors which have frequently also been involved are discussed such as urban development models, heritage conservation strategies, religious policy concerns, economic interests and the needs of tourism. The subject of this book is not the pros and cons of reconstruction but historical analysis. Instead of praise or polemics, priority is given to understanding motives and processes. However, as well as writing from an objective stance, some authors critically assess certain reconstruction practices and views of history propagated by projects they have direct experience of. Apart from its contribution to historical analysis, this makes the book a vibrant record of present-day debates, demonstrating the continuing importance of discussing controversial aspects of reconstruction.

An t i ke versu s B yza nz Klassizismus und Rekonstruktion beim Ausbau Athens zur Hauptstadt des modernen Griechenland

Adamantios Th. Skordos Das Königreich Griechenland war der erste Nationalstaat, der auf europäischem Gebiet des Osmanischen Reichs gegründet wurde. Die Staatsgründung im Jahr 1830 war die Folge eines 1821 auf der Peloponnes, in Mittelgriechenland und auf den Ägäis-Inseln ausgebrochenen anti-osmanischen Aufstands sowie der politischen und gemeinsamen militärischen Intervention von Russland, Großbritannien und Frankreich zugunsten der Aufständischen. Von Anfang an konkurrierten diese drei Großmächte um Einfluss auf den neuen Staat. Die Ernennung des bayerischen Prinzen Otto Friedrich von Wittelsbach zum ersten König der Griechen war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen Sankt Petersburg, London und Paris. Das Territorium des neu gegründeten griechischen Staats umfasste weniger als die Hälfte des heutigen Staatsgebiets Griechenlands. Sehr schnell wurde die „Befreiung“ der noch unter osmanischer Herrschaft stehenden „griechischen Gebiete“ in Makedonien, Thrakien und Kleinasien zum Leitmotiv des griechischen Nationalismus und zur politischen Hauptkoordinate des jungen Staats. Die sogenannte Große Idee (Megali Idea) der Griechen bestand im Wesentlichen in der territorialen „Wiederherstellung“ des Byzantinischen Reichs unter griechisch-nationalem Vorzeichen. Allerdings waren die Verfechter einer griechischen Territorialerweiterung in Richtung Nordosten in zwei Lager gespalten, in das russophile und in das prowestliche. Stark durch die Vorstellung einer Interessen- und Schicksalsgemeinschaft aller orthodoxen Balkan-Christen geprägt, betrachteten die russophilen Griechen den Zaren als den Vorreiter der „Befreiung“ Südosteuropas von dem „türkischen Joch“ und als den Hauptverteidiger der griechischen Interessen in Südosteuropa. Auf der anderen Seite befand sich das prowestliche Lager, dessen Vertreter ebenso wie die Russophilen das Ziel der territorialen Vergrößerung Griechenlands verfolgten, allerdings nicht auf russische, sondern auf britische und französische Unterstützung hofften. Die außenpolitische Orientierung Griechenlands war ein Aspekt einer allgemeinen Grundsatz- und Orientierungsfrage, mit welcher der griechische Nationalismus konfrontiert war, nämlich der Frage, ob die nationale Identitätsfindung im Vorzeichen der antiken Vergangenheit oder des byzantinisch-orthodoxen Erbes stattfinden sollte.1 Trotz dieses inneren Gegensatzes erfuhr Griechenland zwischen 1864 und 1913 in mehreren Schüben eine annähernde Verdreifachung seines Territoriums und eine Verdoppelung seiner Bevölkerung. Diese territoriale Expansion war das Ergebnis sowohl 1 Siehe ausführlicher Skordos, Adamantios Th.: Das panslawische Feindbild im Griechenland des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Südost-Forschungen 71 (2012), S. 76–105.

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kriegerischer Auseinandersetzungen als auch der Großmachtpolitik in der sogenannten Orientalischen Frage. Die „Erfolgsserie“ endete im Sommer 1922 in einem Albtraum, als die Truppen Kemal Atatürks die tief ins türkische Inland vorgerückte griechische Armee überrumpelten und bis Smyrna (türk. Izmir) vorstießen. Als Folge der Niederlage mussten über eine Million osmanische Staatsbürger griechisch-orthodoxen Glaubens ihre Heimatorte verlassen und nach Griechenland flüchten. Die sogenannte Kleinasiatische Katastrophe markierte das tragische Ende der Großen Idee und auch des damit verbundenen Traums vieler Griechen von der „Rückeroberung“ Konstantinopels und der Ernennung der „Königlichen Stadt“ (Vasilevousa) zur Hauptstadt eines Großgriechenlands der „zwei Kontinente und der fünf Meere“. Die Position Athens als Hauptstadt war spätestens dann endgültig gesichert.

Die Ernennung Athens zur griechischen Hauptstadt und der bayerische Philhellenismus Unter der einheimischen Bevölkerung rechneten unmittelbar nach der Befreiung nur die Wenigsten damit, dass das zerstörte und sich während des Unabhängigkeitskriegs abseits vom politischen und militärischen Hauptgeschehen befindliche Athen als Hauptstadt des neu gegründeten Staats infrage kommen könnte.2 Die Diskussion über Athen als mögliche neue Hauptstadt Griechenlands stießen erstmals 1831 die Architekten Stamatios Kleanthis (1802–1862) und Eduard Schaubert (1804–1860) an, als sie dem ersten Gouverneur des Lands Ioannis Kapodistrias einen entsprechenden Vorschlag unterbreiteten. Andere Städte oder Orte, die als Hauptstadt infrage kamen, waren Nafplio als bereits existierendes administratives und kommerzielles Zentrum sowie die Landenge von Korinth, die das griechische Festland mit der südlicher gelegenen peloponnesischen Halbinsel verbindet. Für letztere Option, die des sogenannten Isthmus von Korinth, stimmte schließlich die große Mehrheit der politischen Elite des neuen Staats.3 Der Vorschlag der Ernennung Athens zur Hauptstadt wurde zunächst fast ausschließlich von der bayerischen Regentschaft unterstützt. Die Hauptstadtfrage avancierte zum ersten großen Streitpunkt zwischen Griechen und Bayern und beherrschte ab Mitte 1832 die öffentliche Diskussion im Land. Schließlich beschloss im Spätsommer 1834 die bayerische Regentschaft über den Kopf der einheimischen Bevölkerung hinweg die Verlegung der königlichen Residenz und Hauptstadt von Nafplio nach Athen. Athen hatte zur Zeit seiner Ernennung als Hauptstadt ca. 12 000 Einwohner. Die wirkmächtige Vision der Wiederbelebung der glorreichen antiken Vergangenheit der Stadt hatte schließlich alle Zweifel und Gegenargumente aus dem Weg geräumt. Die Vision der Auferste2 Hering, Gunnar: Die Metamorphose Athens. Von der planmäßigen Anlage der Residenzstadt zur Metamorphose ohne Plan. In: Hauptstädte in Südosteuropa. Hg. v. Harald Heppner. Wien 1994, S. 109–132, hier S. 109. 3 Nachgedruckt in voller Länge sind die Gutachten der Minister in Papadopoulou, Parysatis: I epilogi tis Athinas os protevousas tis Ellados, 1833–1834 [Die Wahl Athens zur Hauptstadt, 1833–1834]. Thessaloniki 1996.



Antike versus Byzanz

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Abb. 1  Der Empfang König Ottos von Griechenland in Athen. Gemälde von Peter von Hess, 1839.

hung des klassischen Hellas aus den Ruinen der osmanischen „Barbarei“ sollte aus bayerischer Sicht als Legitimationsstütze einer Monarchie dienen, welche den Griechen vom Ausland auferlegt worden war (Abb. 1).4

Das Kulturerbe Athens: Antike versus Byzanz Die Entscheidung, Athen zur Hauptstadt zu ernennen, wurde außer von der bayerischen Regentschaft auch von einer kleinen, prowestlich orientierten, inländischen Elite getragen. Ihre Vertreter standen unter dem prägenden Einfluss der neugriechischen Aufklärungsbewegung, die den Weg zum griechischen Unabhängigkeitskampf geebnet und eine Rückbesinnung der Neugriechen auf „ihre“ antike Vergangenheit gefordert hatte. Während sie in der Antike die Möglichkeit zur Einordnung der neugriechischen Nation in den abendländischen Kulturraum sahen, betrachteten sie Byzanz als ein theokratisches Regime, das mit dem westeuropäisch-laizistischen Ideal eines unabhängigen Nationalstaats nicht vereinbar sei.5 Der Rückgriff auf die Antike als nationale Selbstbehauptungsstrategie fand Ausdruck in der Präferenz der prowestlichen Elite für Athen als 4 Hamilakis, Yannis: The Nation and its Ruins. Antiquity, Archaeology, and National Imagination in Greece. Oxford 2007, S. 61. 5 Ders./Yalouri, Eleana: Antiquities as Symbolic Capital in Modern Greek Society. In: Antiquity 70 (1996), S. 117–129, hier S. 122.

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Hauptstadt sowie für die städtebauliche und architektonische Gestaltung der Stadt im Zeichen des Klassizismus. Akteure aus diesem Lager zogen in der Hauptstadtfrage mit der bayerischen Königsfamilie und Regentschaft an einem Strang.6 Im aufgeklärten Lager erhoffte man sich, durch den Rückbezug auf die Antike nicht nur die „dunklen“ Jahrhunderte der Osmanenherrschaft, sondern auch das ebenso negativ betrachtete byzantinische Jahrtausend überspringen zu können.7 Eine Aussage des ersten Präsidenten der Archäologischen Gesellschaft (Archaiologiki Etairia, AE), Iakovos Rizos Neroulos, aus dem Jahr 1841 ist in dieser Hinsicht bezeichnend: „Die byzantinische Geschichte ist […] eine lange Geschichte dummer Verträge und schändlicher Brutalitäten, die in Byzanz von Rom übernommen wurden. Sie stellt ein schmachvolles Beispiel für das große Elend und den Niedergang der Griechen dar.“8 Entsprechend gering war das Interesse der 1837 gegründeten AE für die Erhaltung der byzantinischen Monumente.9 Auf der anderen Seite war sie überaus motiviert, wenn es um den Schutz der antiken Monumente Athens ging, da Neroulos zufolge „es diese Steine sind, denen wir [Griechen] zu einem großen Teil unsere politische Existenz verdanken“.10 Es ist bemerkenswert, dass sich der Auslöschung des byzantinischen Erbes Athens, welche die Verfechter eines an das westeuropäische Leitbild orientierten neugriechischen Staats vorantrieben, ausgerechnet der bayerische Beraterkreis von König Otto widersetzte. Auch wenn die bayerischen Philhellenen der Antike als die zentrale ideologischhistorische Legitimationsstütze des neuen Staats absolute Priorität einräumten, schätzten sie die politische Nützlichkeit des byzantinischen Vermächtnisses für das neu errichtete griechische Königshaus als hoch ein: Das autoritäre byzantinische Regierungssystem war der Alleinherrschaft Ottos und seiner Regentschaft signifikant näher als das demokratische Athen der Antike. Außerdem war man sich seitens der Bayern der zentralen Rolle bewusst, die der orthodoxe Glauben im Leben der großen Mehrheit der griechischen Untertanen einnahm, ebenso wie der Tatsache, dass die Kirche das lebendige Erbe von Byzanz verkörperte. Schließlich war das Königshaus ein glühender Verfechter der territorialen Expansion des neuen griechischen Staats auf den europäischen Gebieten des Osmanischen Reichs. Das Byzantinische Reich diente in diesem Zusammenhang als historische Grundlage für das expansionistische Konzept der sogenannten Großen Idee, in dessen Zentrum sich die „Rückeroberung“ Konstantinopels befand.11 Angesichts dieser vielseitigen Bedeutung, welche die Monarchie der byzantinischen Epoche beimaß, kamen 1834 außer den antiken Kulturgütern auch diese aus der „ältesten christlichen Zeit oder dem sogenannten Mittelalter“ unter den Schutz 6 Hering (wie Anm. 2), S. 109. 7 Ebd., S. 110. 8 Zitiert nach Hamilakis (wie Anm. 4), S. 112. Die Übersetzungen aller Zitate im Aufsatz stammen vom Verfasser. 9 Chlepa, Eleni-Anna: Ta vyzantina mnimeia sti neoteri Ellada. Ideologia kai praktiki ton apokatastaseon [Die byzantinischen Monumente im neuzeitlichen Griechenland. Der ideologische Hintergrund und die praktische Umsetzung der Wiederherstellung der Monumente]. Athina 2011, S. 38. 10 Hamilakis (wie Anm. 4), S. 83. 11 Hamilakis/Yalouri (wie Anm. 5), S. 122.



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Abb. 2  Athen, die byzantinische Kirche der hll. Apostel und im Hintergrund das Museum des antiken Markts, das sich in der rekonstruierten Stoa des Attalos befindet. Aufnahme von 2013.

eines „Gesetzes zur Entdeckung und Erhaltung von Altertümlichkeiten und zu deren Nutzung“. Dieses vom Regenten Georg Ludwig von Maurer entworfene Gesetz schrieb den byzantinischen, venezianischen und auch osmanischen Monumenten dieselbe Pflege wie den antiken vor (Abb. 2).12 Trotzdem unterschied sich der Umgang mit dem kulturellen Erbe in der Praxis stark. Während die staatlichen Behörden und die semi-staatliche AE das größte Engagement für den Schutz der antiken Altertümlichkeiten zeigten, ließen sie die Zerstörung der byzantinischen und osmanischen weitgehend zu.13 Athen hatte Mitte der 1830er Jahre ca. 115 orthodoxe Gotteshäuser, von denen sich allerdings nur knapp dreißig in einem Zustand befanden, der einen Wiederaufbau oder eine Renovierung zuließ.14 Die Rettung des byzantinischen Erbes wurde dem Primat des Wiederaufbaus der Stadt im Zeichen ihrer antiken Vergangenheit untergeordnet. Es ist bezeichnend für diese Hierarchisierung in der Denkmalschutzpolitik des jungen griechischen Staats, dass etliche, sich in einem 12 Chlepa (wie Anm. 9), S. 31. 13 Brouskari, Ersi: Introduction. In: Ottoman Architecture in Greece. Hg. v. Ders. Athens 2008, S. 18–21, hier S. 19. 14 Ebd.; Chlepa (wie Anm. 9), S. 34.

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ruinösen Zustand befindende byzantinische Kirchen niedergerissen wurden, um durch den Verkauf der Grundstücke die Errichtung des neuen klassizistischen Universitätsgebäudes im Zentrum der Stadt zu finanzieren. Byzantinische Ruinen wurden aber auch deshalb zerstört, weil sie zwischen antiken Monumenten standen oder diese völlig oder teilweise verdeckten. Dies war etwa der Fall mit den Überresten der Kirche des Agios Asomatos, die 1842 abgerissen wurden, um die römische Hadriansbibliothek davon zu „säubern“ und zum vollen Vorschein zu bringen.15 Selbst Eingriffe in den Baukörper intakter byzantinischer Kirchen zu deren Umgestaltung, Renovierung oder Vergrößerung hatten im Zeichen des Klassizismus stattgefunden und sind klassizistischen Vorgaben gefolgt. So fügte man etwa Gotteshäusern aus byzantinischer Zeit klassizistische Säulen, Glockentürme, Torpfosten und Fensterrahmen aus weißem Marmor hinzu.16 Treffend konstatiert die renommierte griechische Historikerin Elli Skopetea, dass die Ernennung Athens zur Hauptstadt einerseits die systematische und sorgfältige Restaurierung antiker Monumente bewirkte, andererseits einen beispiellosen Prozess der Massenzerstörung mittelalterlicher Baudenkmäler einleitete.17

Die fremde Antike Die Vorrangstellung, welche die politischen und intellektuellen Eliten im 19. Jahrhundert dem antiken Kulturerbe Athens einräumten, befand sich in einem Gegensatz zu den alltäglichen Problemen, Bedürfnissen und Prioritäten des durchschnittlichen Athener Bürgers. Im Allgemeinen übte die Antike auf einen großen Teil der griechischorthodoxen Gemeinschaft vorerst keinen starken integrativen Einfluss aus. Durch den Transmissionsriemen der Orthodoxie „bot die byzantinische Vergangenheit weit lebendigere und volksnähere Bezugspunkte als die griechische Hochkultur der Antike, deren klassizistisches Abbild ohnehin nur eine kleine Gruppe der Gebildeten ansprechen konnte“.18 Die Distanz zur Antike spiegelte sich in der Beziehung der einheimischen Bevölkerung zu den antiken Ruinen wider. Mitglieder der bayerischen Administration, die König Otto nach Athen begleiteten, waren über den respektlosen Umgang der modernen Athener mit den antiken Monumenten empört. Der von 1835 bis 1843 als Stadtarchitekt und Stadtbaurat im Dienst von Otto stehende Friedrich Stauffert schrieb später, dass während seiner Athener Zeit der zeitgenössische Grieche den antiken Ruinen völlig 15 Ebd., S. 39. 16 Thermou, Maria: To misito Vyzantio. I dyskoli ensomatosi ton vyzantinon mnimeion kai tou vyzantinou politismou sto synchrono elliniko kratos [Verhasstes Byzanz. Die schwierige Eingliederung byzantinischer Monumente und der byzantinischen Kultur in den modernen griechischen Nationalstaat]. In: To Vima, http://www.tovima.gr/PrintArticle/?aid=487465 (11.01.2016). 17 Skopetea, Elli: To „protypo vasileio“ kai i Megali Idea [Das „vorbildliche Königreich“ und die Große Idee]. Athina 1988, S. 199. 18 Zelepos, Ioannis: Die Ethnisierung griechischer Identität, 1870–1912. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der „Megali Idea?“. München 2002, S. 42.



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desinteressiert gegenübergestanden habe. Seine Empfindsamkeit sei so gering gewesen, dass er abgebrochene Teile antiker Monumente als Baumaterial für die Errichtung seines eigenen Hauses verwendet habe.19 Wenn jemand während des Baus seines Eigenheims verborgene Antiquitäten entdeckte, dann verheimlichte er diesen Fund vor den staatlichen Behörden, um sein Bauprojekt ungestört fortsetzen zu können. Bei erster Gelegenheit habe er dann sogar versucht, die Funde ausländischen Vorbeireisenden zu verkaufen.20 Die mit den zahlreichen Schwierigkeiten des Alltags konfrontierte lokale Bevölkerung konnte die Begeisterung der bayerischen Philhellenen für die antiken Ruinen nicht teilen. Ein Leserbrief in der Zeitung „Athina“ im Mai 1833 aus der Hand eines älteren Manns, der in einem Dorf außerhalb Athens lebte, ist für die mangelnde Identifikation des damaligen Durchschnittsgriechen mit der antiken Hochkultur und ihren Hinterlassenschaften beispielhaft: „Was bringen mir eigentlich […] die natürlichen Schönheiten und die glorreichen Ruinen der verewigten Antike, zwischen denen ich mich als Ausländer und Fremder fühle? Was bringt es mir, dass ich der Nachbar Agamemnons und loyaler Untertan des Königs aller Könige bin? Was für eine Rolle spielt es überhaupt, dass mein Dorf nur eine Stunde von der Hauptstadt aller griechischen Städte liegt, wenn ich keine Ahnung davon habe, was auf der Welt passiert, und wenn ich soviel über mein Schicksal und das der Griechen im Ausland weiß, wie über Marokko und Afrika. Ja es ist wahr, dass viele Reisende mein Dorf besuchen, und ich hatte immer wieder die Möglichkeit, mich mit ihnen bekannt zu machen und zu diskutieren. Aber was soll ich nur von diesen seltsamen Gentlemen lernen, die, wenn man sie über Menschen fragt, einen Haufen Steine untersuchen, und, wenn man ihnen von den Lebenden erzählt, Informationen zu den Toten verlangen.“21

Die Bauplanung Athens im Zeichen des Klassizismus Der erste Generalplan für die Neugestaltung Athens als Hauptstadt des modernen Griechenland wurde durch die Architekten Stamatios Kleanthis und Gustav Eduard Schaubert im Jahr 1832 entworfen. Die beiden kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit als Schüler Karl Friedrich Schinkels an der Berliner Bauakademie. Ein provisorisches Regierungskomitee, das unmittelbar nach der Ermordung von Kapodistrias die Regierungsgeschäfte führte, beauftragte im Mai 1832 die beiden Architekten, einen General-

19 Papageorgiou-Venetas, Alexandros: Poleis kai mnimeia stin Ellada tou Othonos. Kritiki theorisi kai scholiasmos mias martyrias tou Friedrich Stauffert, architektonos tou dimou Athinaion kata ta eti 1835–1843 [Städte und Monumente im Griechenland von König Otto. Eine kritische Darstellung der Zeugenaussage Friedrich Staufferts, des Architekten der Stadt Athen in den Jahren 1835–1843]. Athina 2010, S. 17. 20 Zitiert nach Bastea, Elena: The Creation of Modern Athens. Planning the Myth. Cambridge 2009, S. 38. 21 Ebd., S. 127 f.

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plan für Athen zu entwerfen.22 Die beiden Architekten versprachen in ihrem Exposé, „die vorteilhaftesten Standpunkte zur Betrachtung der Denkmäler zu bestimmen und die ganze Stadt als ein Museum der alten Baukunst zu präsentieren, wie die Welt kein zweites aufzuweisen habe.“23 Im Dezember 1832 reichten Kleanthis und Schaubert die endgültige Fassung ihres Plans ein, die im Juli 1833 per königlichem Dekret angenommen und zum offiziellen Generalplan für die Neugestaltung Athens erklärt wurde.24 Dieser Stadtplan klassizistischer Prägung, der den Stempel der Berliner Bauakademie trug, war durch die städtebauliche Architektur west- und zentraleuropäischer Städte in der Zeit der Renaissance stark beeinflusst. Dies war deutlich erkennbar an der dreieckigsternförmigen Gestaltung des Athener Stadtzentrums mit dem königlichen Palast in der Mitte und als Ausganspunkt eines sternförmigen Wegenetzes, das wiederum mit einem rechteckigen System von breiten Straßen kombiniert wurde. Die beiden Architekten hatten sich vor allem an dem Vorbild von Karlsruhe orientiert.25 Drei zentrale Achsen führten vom Schloss aus zur Akropolis, zum antiken Stadion und zum Hafen von Piräus. Im Einklang mit dem Kurs der prowestlichen Elite war die geringe Berücksichtigung des byzantinischen Erbes im Generalplan von Kleanthis und Schaubert. Die überwiegende Mehrheit der 135 orthodoxen Kirchen Athens wurde als „verfallen“ eingestuft und zum Abriss freigegeben.26 Es stellte sich schnell heraus, dass der Generalplan mit den vorhandenen finanziellen und technischen Mitteln nicht umsetzbar war. In Verkennung der realen Bedingungen nahm er Maß an Städten wie Washington, Madrid oder Berlin und war für das kleine Athen zu groß angelegt.27 Die zahlreichen Probleme, die bei der Realisierung des ambitionierten Generalplans auftraten, führten dazu, dass die Regentschaft im Juni 1834 die Einstellung der Arbeiten anordnete. Daraufhin beauftragte der bayerische König Ludwig I. den renommierten Architekten Leopold Franz Karl von Klenze (1784–1864) mit der Überarbeitung des Entwurfs von Kleanthis und Schaubert.28 Nachdem sich dieser von Juli bis September 1834 in Athen aufgehalten und sich einen Eindruck vor Ort verschafft hatte, nahm er eine Revision des Generalplans vor. Insbesondere führte er eine Anpassung des Plans an die tatsächliche Größe Athens und die begrenzten finanziellen Möglichkeiten des griechischen Staats durch.29 Im neuen Entwurf bildeten 22 Kallivretakis, Leonidas: I Athina ton 19. Aiona. Apo eparchiaki poli tis othomanikis aftokratorias, protevousas tou ellinikou vasileiou [Athen im 19. Jahrhundert. Von einer Provinzstadt im osmanischen Reich zur Hauptstadt des griechischen Königreichs]. In: Archaiologia tis polis ton Athninon, http://www.eie.gr/archaelogia/gr/chapter_more_9.aspx (11.01.2016); Bastea (wie Anm. 20), S. 79. 23 Hering (wie Anm. 2), S. 111 f. 24 Martos, Dimitris: Athina. Protevousa tou neou ellinikou kratous. Politiki, ideologia kai choros [Athen. Hauptstadt des modernen Griechenland. Politik, Ideologie und Raum]. Athina 2005, S. 368; Bastea (wie Anm. 20), S. 79. 25 Papageorgiou-Venetas (wie Anm. 19). 26 Martos (wie Anm. 24), S. 378. 27 Ebd., S. 375–386. 28 Hering (wie Anm. 2), S. 112; Kallivretakis (wie Anm. 22). 29 Martos (wie Anm. 24), S. 379.



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die drei vom Palast ausgehenden Boulevards ein Dreieck. Allerdings verschob Klenze die Position des Palasts und der Ministerien auf diesem Dreieck. Sie befanden sich nicht mehr direkt gegenüber der Akropolis, sondern seitlich zu dieser, angrenzend zu einer großflächigen Ausgrabungszone. Dadurch rückte der Palast sehr nah an die Akropolis heran, während der archäologische Ausgrabungsort den Eindruck eines königlichen Gartens oder Parks erweckte.30 Bei der Namensgebung von Straßen folgte Klenze dem Beispiel von Kleanthis und Schaubert und ließ sich fast ausschließlich vom antiken Griechenland inspirieren. Eine erwähnenswerte Neuerung war, dass Klenze zwei zentrale Stadtplätze nach Otto und seinem Vater, Ludwig, benannte, sodass die beiden Wittelsbacher als einzige Zeitgenossen unter den glorreichen Gestalten der Antike anzutreffen waren. Dadurch wurde das Königshaus in ein symbolisches Kontinuitätsverhältnis zum alten Griechenland gestellt.

Symbolträchtige Bauten: der Königspalast, die „Athener Trilogie“, das antike Stadion Klenze reichte seinen Entwurf im September 1834 bei der Regentschaft ein. Nachdem dieser angenommen wurde, kehrte der Architekt zurück nach München. Allerdings stand weiterhin die Frage nach der konkreten Stelle für die Errichtung des Palasts offen. Diese beschäftigte seit Längerem und intensiv die Bayern, da man dem Palast im Sinne der Legitimation der neuen königlichen Herrschaft besondere Bedeutung beimaß. Maximilian, der Bruder Ottos, hatte Athen vor seiner Ernennung zur neuen „königlichen Haupt- und Residenzstadt“ besucht und war dabei auf die Idee gekommen, den Wohnsitz des Monarchen direkt auf dem Hügel der Akropolis errichten zu lassen. Daraufhin beauftragte er den renommierten Berliner Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781– 1841) einen entsprechenden Plan zu entwerfen.31 Schinkel, der für seinen Entwurf niemals Athen besuchte, aber mit den antiken griechischen Tempeln Siziliens gut vertraut war, reichte seinen Plan 1834 ein, also noch im selben Jahr, in dem von Klenze der überarbeitete Generalplan für Athen vorgelegt und angenommen wurde. Der hinsichtlich der architektonischen Aspekte sehr gründlich ausgearbeitete Entwurf Schinkels sah die Errichtung einer klassizistischen Villa am südöstlichen Teil des Akropolis-Hügels vor.32 Allerdings lehnte Klenze die auf den ersten Blick beeindruckende Palastkonzeption Schinkels ab, da dieser in seinem Entwurf die ungünstigen geologischen Verhältnisse vor Ort, die den Bau der königlichen Residenz auf der Akropolis nahezu unmöglich machten, ignoriert hatte.33 30 Ebd., S. 381; Bastea (wie. Anm. 20), S. 85 f.; Papageorgiou-Venetas (wie Anm. 19). 31 Marmaras, Emmanouil: Gia tin architektoniki kai tin poleodomia tis Athinas. Dekatessera keimena kai ena archeio [Zur Architektur und Bauplanung Athens. Vierzehn Texte und ein Archivdokument]. Athina 2012, S. 18. 32 Bastea (wie Anm. 20), S. 89; Hamilakis/Yalouri (wie Anm. 5), S. 123. 33 Bastea (wie Anm. 20), S. 91.

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Abb. 3  Athen, Königspalast, heute Sitz der griechischen Nationalversammlung. Aufnahme von 2007.

Im November 1835 besuchte König Ludwig in Begleitung seines Hofarchitekten, Friedrich von Gärtner, schließlich selbst Athen, und befasste sich persönlich mit dem Problem der Bestimmung des Standorts des Palasts seines Sohns.34 Ludwig und Gärtner beschlossen, dass die königliche Residenz in unmittelbarer Nähe des Boubounistra-Tors erbaut werden sollte. Es handelte sich um das Gebiet am östlichen Rand der damaligen Stadt, am Fuße der beiden Anhöhen, des Lykabettus-Hügels und der Akropolis, direkt gegenüber von dem Ort, den Klenze für den Palast ausgewählt hatte. Zwei Faktoren waren für die Entscheidung ausschlaggebend: Zum einen erfüllte die Stelle die notwendigen hygienischen und geotechnischen Voraussetzungen, zum anderen bot sich von dort eine gute Aussicht auf die Stadt und die umliegenden Anhöhen.35 Das klassizistische Gebäude (Abb. 3), das im Spätsommer 1843 vom königlichen Paar bezogen wurde, setzte sich aus einem Mitteltrakt und vier, ein Rechteck bildenden Flügeln zusammen, umgeben auf der östlichen und südlichen Seite von Säulengängen dorischen Stils und auf der westlichen von einem Portikus.36 Der Bau wurde von den 34 Ebd., S. 152. 35 Martos (wie Anm. 24), S. 385; Bastea (wie Anm. 20), S. 152; Archeio neoteron mnimeion. Palaia Anaktora [Archiv neuzeitlicher Monumente. Der alte Königspalast]. In: Archaiologia tis polis ton Athinon, http://www.eie.gr/archaeologia/gr/arxeio_more.aspx?id=5 (11.01.2016). 36 Ebd.



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Athenern, aber auch von ausländischen Besuchern als „phantasielos“, „massiv“ und „geschmacklos“ verurteilt.37 Kritisiert wurde das überproportionale Gebäude auch deswegen, weil Athen andere infrastrukturelle Bauprojekte dringender nötig gehabt hätte als einen Königspalast, dessen Errichtung überdies nicht vom bayerischen Königshaus, sondern vom griechischen Staat finanziert wurde.38 Gleichwohl erfüllte der Palast wichtige symbolische Funktionen, die auch von der einheimischen Bevölkerung anerkannt wurden. Die Errichtung der königlichen Residenz verdrängte endgültig die Unsicherheit, ob Athen Hauptstadt des griechischen Königreichs bleiben würde. In der Öffentlichkeit war immer wieder in Zusammenhang mit der möglichen Erfüllung des „nationalen Traums“ der „Rückeroberung“ Konstantinopels der provisorische Charakter der Athener Lösung diskutiert worden.39 Der Palast sendete ein lautes Signal an Interessenten, in Athen zu investieren, Grund und Boden in der Hauptstadt zu kaufen, darauf Häuser zu bauen sowie den Handel und andere ökonomische Aktivitäten dorthin zu verlegen. Mit seiner durch den Portikus ausgeprägten klassizistischen Vorderseite, welche der Akropolis zugewandt war, stand der Palast für die Wittelsbacher Vision der Wiedergeburt Griechenlands und dessen Rückkehr zur alten Größe unter der Führung des jungen Königs Otto. Ein wichtiger Beitrag für die Entwicklung Athens zu einem kulturellen Zentrum wurde im Juli 1839 geleistet, als der Grundstein für das neue Universitätsgebäude von König Otto gelegt wurde. Durch zwei zusätzliche Neuerrichtungen in unmittelbarer Nähe zum Universitätsbau, nämlich die Gebäude für die Athener Akademie und für die Nationalbibliothek, entstand die „Athener Trilogie“.40 Dem Juristen, Journalisten und Politiker Athanasios A. Argyros zufolge, der 1901 eine „Geschichte Athens“ verfasste, „stellte die Universitätsgründung eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des modernen Athen als kulturelles Zentrum Südosteuropas dar“. Von nun an „kamen Serben, Bulgaren und Rumänen nach Athen und nach Abschluss ihrer dortigen Studien transferierten sie die griechische Kultur und Wissenschaft in ihre Heimatländer“.41 Die Pläne für das Universitätsgebäude erstellte im Wesentlichen der dänische Architekt Hans Christian Hansen (1803–1883), der sich seit 1833 in Athen aufhielt und die architektonische Grundstruktur des Parthenons studierte. Hansen entwarf einen klassizistischen Bau, der sehr positive Kritiken erhielt (Abb. 4).42 Aus der Vogelperspektive ergibt der Grundriss des Gebäudes, das erst 1864 fertiggestellt wurde, die Form eines doppelten „T“. Ergänzt wird es auf den Flügeln durch zwei symmetrische Höfe. Der Portikus auf der Vorderseite des Gebäudes ist ionischer Ordnung.43 37 Bastea (wie Anm. 20), S. 153 f. 38 Ebd., S. 154. 39 Ebd., S. 156. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 156. 43 Archeio neoteron mnimeion. Panepistimio Athinon [Archiv neuzeitlicher Monumente. Die Universität Athen]. In: Archaiologia tis polis ton Athinon, http://www.eie.gr/archaeologia/gr/arxeio_more.aspx?id=189 (11.01.2016).

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Abb. 4  Die Universität Athen. Aufnahme von 2015.

Abb. 5  Die Athener Akademie. Aufnahme von 2013.



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Abb. 6  Die Nationalbibliothek in Athen. Aufnahme von 2015.

Abb. 7  Das Panathenäische Stadion in seiner aktuellen Gestalt. Aufnahme von 2009.

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Zwanzig Jahre nach Baubeginn des Universitätsgebäudes folgte die Grundsteinlegung für das Gebäude der Athener Akademie, das neben der Universität, an ihrer westlichen Seite errichtet wurde (Abb. 5).44 Mit dem Bauentwurf wurde 1856 Theophil Hansen (1813–1891), der jüngere Bruder Christians, beauftragt, der schon früher mal Athen besucht hatte und zu diesem Zeitpunkt in Wien tätig war. Den Auftrag erhielt der dänische Architekt von dem ebenso in Wien lebenden griechischen Baron Simon Sinas, der in Anbetracht der fiskalischen Knappheit des griechischen Staats den Großteil der Kosten für den Bau des Akademiegebäudes übernahm. Der Grundstein wurde im August 1859 in Anwesenheit des Königspaars gelegt. Aufgrund mehrerer Unterbrechungen der Bauarbeiten konnte das Akademiegebäude erst 1885 fertiggestellt werden.45 Es handelt sich um einen imposanten Bau nach ionischer Säulenordnung, dessen Benutzerfreundlichkeit und Funktionalismus aber durch die übertriebene Monumentalität eingeschränkt wird. Hansen verstärkte zusätzlich den klassizistisch-monumentalen Charakter des Gebäudes, indem er zu beiden Seiten des Portikus zwei freistehende ionische Säulen errichten ließ, auf denen jeweils die Statue der Göttin Athene und des Gottes Apollon aufgestellt wurden.46 Die „Athener Trilogie“ nahm ihre endgültige Gestalt 1902 durch die Errichtung des Gebäudes der Nationalbibliothek auf der östlichen Seite des Baukomplexes an (Abb. 6). 1884 hatte Ministerpräsident Charilaos Trikupis erneut Theophil Hansen mit der architektonischen Planung beauftragt, obgleich zu diesem Zeitpunkt die Finanzierung des Projekts noch nicht gesichert war. Die notwendigen Mittel wurden erst 1887 bereitgestellt, als die in Russland lebenden Brüder Panagis, Marinos und Andreas Vallianatos eine großzügige Spende tätigten. Der klassizistische Bibliotheksbau ist nach dorischer Ordnung errichtet. Eine Ausnahme stellt lediglich die gewundene Rampentreppe dar, bei welcher der Einfluss der Renaissancearchitektur deutlich erkennbar ist.47 Eine zunehmend wichtigere Rolle in der Athener Erinnerungskultur spielte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das antike Stadion im Zentrum der Stadt, das Panathenäische Stadion (Abb. 7). Im Jahr 1856 spendete der wohlhabende Evangelos Zappas, ein im Fürstentum der Walachei ansässiger Grieche, dem griechischen Staat 40 000 goldene Münzen zur jährlichen Abhaltung einer sportlichen Veranstaltung in Athen. In diesem Zusammenhang schlug er die Renovierung des antiken Stadions als Austragungsort vor, und stellte zu diesem Zweck auch die Summe von 200 000 Drachmen bereit. Trotzdem wurde das Unterfangen seitens des griechischen Staats als zu kostspielig abgelehnt. Aus der ursprünglichen Idee von Zappas entstand ein modifizier44 Bastea (wie Anm. 20), S. 158. 45 Biris, Kostas: Ai Athinai. Apo ton 19. eis ton 20. Aiona [Athen. Vom 19. zum 20. Jahrhundert]. Athina 2 1995, S. 151; Bastea (wie Anm. 20), S. 160. 46 Biris (wie Anm. 45), S. 151; Archeio neoteron mnimeion. Akadimia Athinon [Archiv neuzeitlicher Monumente. Die Athener Akademie]. In: Archaiologia tis polis ton Athinon, http://www.eie.gr/archaeologia/gr/arxeio_more.aspx?id=188 (11.01.2016). 47 Biris (wie Anm. 45), S. 214–244; Archeio neoteron mnimeion. Ethniki Vivliothiki [Archiv neuzeitlicher Monumente. Griechische Nationalbibliothek]. In: Archaiologia tis polis ton Athinon, http://www.eie. gr/archaeologia/gr/arxeio_more.aspx?id=190 (11.01.2016); Bastea (wie Anm. 20), S. 160 f.



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tes Konzept. Dieses sah die Organisation einer großen Handelsmesse mit industriellen Produkten und landwirtschaftlichen Erzeugnissen namens Olympia alle vier Jahre vor, während der auch sportliche Wettkämpfe durchgeführt werden sollten. Die Wettkämpfe, bei denen dann auch tatsächlich Sportler aus ganz Griechenland im Laufen, im Speerwerfen, im Weitsprung, im Diskuswerfen und im Ringen gegeneinander antraten, trugen den Namen Zappas’sche Olympiaden und fanden 1859, 1870, 1875 und 1889 statt. Sie bereiteten den Boden für die Organisation der ersten modernen Olympischen Spiele 1896 im antiken Stadion von Athen vor, das als Austragungsort der Zappas’schen Olympiade von 1870 zum Teil renoviert wurde. Insbesondere errichtete man eine Ehrentribüne für den König und die politische Führung des Lands sowie 300 Sitzplätze für weitere prominente Gäste.48 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts übte das Panathenäische Stadion auch andere Funktionen neben der einer Sportstätte aus, indem es sich in einen der wichtigsten Austragungsorte von Demonstrationen, Kundgebungen und Feierlichkeiten für die Athener verwandelte. So versammelten sich etwa mehrere tausend Bürger unmittelbar nach Ausbruch des russisch-osmanischen Kriegs 1877 im alten Stadion, um die militärische Aufrüstung und den Eintritt Griechenlands in den Krieg zu verlangen. Es war die Hochphase der Großen Idee, in der das Ziel der Vergrößerung des griechischen Staatsterritoriums in nördliche Richtung und vor allem die „Befreiung“ Konstantinopels die hellenische Nation stark bewegte. 1893 feierte man dann im Panathenäischen Stadion zum ersten Mal in der Geschichte des Lands den Ersten-Mai-Tag und verabschiedete eine Deklaration, in der die 40-Stunden-Arbeitswoche, die Festlegung des Sonntags als Feiertag und die Einführung eines Rentensystems gefordert wurden.49 Im 20. Jahrhundert spielte schließlich das Panathenäische Stadion eine zentrale Rolle bei der Selbstinszenierung autoritärer Regime als Erben, Beschützer und Weiterführer der althellenischen Zivilisation. Darauf wird weiter unten noch eingegangen werden. Das mit Abstand wichtigste Ereignis war allerdings die dortige Abhaltung der ersten modernen Olympischen Spiele 1896. Die Idee der Wiederbelebung der Olympischen Spiele war im späten 19. Jahrhundert in Westeuropa verbreitet. Vor allem der französische Baron Pierre Fredy de Coubertin (1863–1937) hatte sich stark dafür eingesetzt. Auf der Internationalen Sportkonferenz von Paris im Juni 1894, die von Coubertin vorbereitet wurde, entschied man sich für die regelmäßige Abhaltung einer Olympiade alle vier Jahre. Es war eine große Überraschung, dass Athen statt des favorisierten Paris als Austragungsort der ersten Olympischen Spiele der Moderne gewählt wurde. Die Beauftragung Athens mit der Organisation der Olympiade von 1896 löste im kleinen Königreich Griechenland maßlose Begeisterung aus. Unverzüglich wurde in Athen ein Komitee für die Olympischen Spiele gegründet, an dessen Spitze sich Thronfolger Konstantin I. befand.50 48 Papanikololaou-Kristensen, Aristea: To Panathinaïkon stadion. I istoria tou mesa stous aiones [Das Panathenäische Stadion. Seine Geschichte durch die Jahrhunderte]. Athen 2003, S. 53–61. 49 Ebd., S. 57. 50 Ebd., S. 73.

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Das Komitee, das seine Tätigkeit im Januar 1895 aufnahm, entschied sich, die Spiele im Panathenäischen Stadion abzuhalten, auch wenn von mehreren Seiten große Zweifel an der Eignung der antiken Sportstätte für die Ausführung moderner Wettkämpfe geäußert wurden. Angesichts aber der schwierigen ökonomischen Lage, in der sich das Land seit der offiziellen Erklärung des Staatsbankrotts durch Premier Charilaos Trikoupis 1893 befand, gab es keine andere Alternative als auf die vorhandene Infrastruktur zurück­ zugreifen. Allerdings bedurfte auch das Panathenäische Stadion aufwendiger und kostspieliger Verbesserungen. Wie bei anderen symbolträchtigen städtebaulichen Projekten in Athen konnte man sich auch dieses Mal auf Spenden zahlreicher in- und ausländischer Griechen stützen. In deren Augen symbolisierte die Austragung der Olympischen Spiele im Panathenäischen Stadion die weltweite Anerkennung des modernen Griechenland als Erbe der klassischen Antike und als gleichwertiges Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft.51 Die Spendenaktion brachte insgesamt 336 000 Drachmen in die Staatskassen – fast so viel wie der griechische Staat selbst für die Organisation der Olympiade aufbringen konnte. Die zusammengetragene Summe von knapp 750 000 Drachmen reichte trotzdem nicht aus, um die Kosten einer derartig großen und wichtigen Veranstaltung zu decken. Demzufolge ersuchte Thronfolger Konstantin I. in seiner besagten Funktion als Vorsitzender des Organisationskomitees die wohlhabende griechische Diasporagemeinschaft Ägyptens, die Renovierungskosten für das Panathenäische Stadion zu übernehmen. Auf diese Anfrage reagierte Georgios Averof, der Vorsitzende der griechischen Gemeinde Alexandrias, positiv. Er war ein reicher Handelsmann mit beruflichen Aktivitäten nicht nur in Ägypten, sondern auch in der Schwarzmeerhafenstadt Odessa. Zur großen Erleichterung Konstantins erklärte sich Averof bereit, den Wiederaufbau des antiken Stadions Athens ausschließlich selbst zu finanzieren.52 In seiner Antwort an den Thronfolger äußerte er die Hoffnung, dass der Wiederaufbau des antiken Stadions aus Anlass der Olympischen Spiele von 1896 den „symbolträchtigen Beginn eines Wiederbelebungsund Erstarkungsprozesses der nationalen Kräfte zur Erfüllung der großen panhellenischen Ziele bedeuten“ würde. Damit war hauptsächlich die territoriale Vergrößerung Griechenlands im Zeichen der Großen Idee gemeint. Darüber hinaus sollte laut Averof der Wiederaufbau des Stadions all jene Philhellenen, die an das moderne Griechenland als fähiges Gastland einer großen internationalen Veranstaltung geglaubt hatten, in ihrer Überzeugung bestärken, dass dieser kleine Staat tatsächlich fähig sei, die Jugend der modernen zivilisierten Welt zu beheimaten.53 Mit den Wiederaufbau- und Renovierungsarbeiten, die im Sommer von 1895 begannen, wurde der Architekt Anastasios Metaxas (1862–1937) beauftragt. Seine anfänglichen Pläne mussten mehrmals nach der Freilegung von Teilen des antiken Stadions revidiert werden. Alle Tribünen sollten dem ursprünglichen Entwurf zufolge mit weißem 51 Ebd., S. 74. 52 Ebd., S. 74 f. 53 Olympiakes diadromes. O ethnikos evergetis Georgios Averof [Olympische Routen. Der nationale Wohltäter Georgios Averof]. In: O Mikros Romios, http://mikros-romios.gr/2861/averof/ (11.01.2016).



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Marmor ausgekleidet werden. Bis zur Eröffnung der Spiele konnte dies aber nur mit den ersten Reihen und dem hufeisenförmigen Tribünenteil erfolgen. Seitdem wird das Stadion auch das „Stadion mit dem schönen Marmor“ (Kallimarmaro Stadio) genannt. Der Teil der Tribünen, der aufgrund von Schneefällen auf dem Penteli-Hügel, aus dem der Marmor abgebaut wurde, unfertig blieb, musste provisorisch mit Holzbänken ausgebaut werden. Die fehlenden Marmortribünen konnte man erst nach der Olympiade von 1896 ergänzen, sodass das Stadion erst zu den inoffiziellen Olympischen Zwischen�spielen von 1906 komplett saniert war.54 Die Marmorbekleidung der Tribünen war extrem kostspielig, und jagte die allgemeinen Wiederaufbaukosten in die Höhe – der Gesamtbetrag von einer Million Drachmen lag weit über den damaligen ökonomischen Verhältnissen des griechischen Staats. Der ironische Kommentar der Zeitung „Estia“ (Heimat) im März 1895 über den luxuriösen Marmor brachte den Unmut der Athener über den unbedachten Umgang mit den knappen Ressourcen zum Ausdruck. Zugleich wird hierin eine Erklärung für die Beweggründe der Entscheidungsträger geliefert: „Keiner konnte sich vorstellen, dass man tatsächlich Marmor-Treppen und MarmorTribünen bauen würde. Alles [im Stadion] sollte zwar den notwendigen Standards entsprechen, dennoch aus Holz gemacht und provisorischen Charakter haben, da es für nicht länger als eine Woche im Einsatz sein würde. Es ist uns wahrlich ein Rätsel, wie sich letztendlich andere Ideen durchsetzen konnten, die von den zahlreichen Liebhabern der Antike vertreten wurden und denen der Leitgedanke zugrunde liegt, man solle doch bitte die moderne griechische Eitelkeit in Marmor ausstellen, um sich als authentischer Nachfolger von Phidias und Polyklet präsentieren zu können.“55 Diese negative Stimmung schlug rasch in eine positive um, als bekannt wurde, dass der „nationale Wohltäter“ Averof alle Kosten für den Wiederaufbau des Panathenäischen Stadions übernehmen würde. So war es dieselbe Zeitung, die kurze Zeit später nicht mehr kritisch und distanziert, sondern leidenschaftlich und euphorisch über die Rekonstruktionsarbeiten im antiken Stadion berichtete. Und nun erkannte auch sie die große Bedeutung der kostspieligen Investition für die nationale Selbstvergewisserung der jungen Nation und ihrer internationalen Inszenierung als ebenbürtige Nachfolgerin der antiken Hellenen: „Die wenigen Überbleibsel aus der antiken Zeit, Splitter von Säulen und Teile von Steinplatten, sind unter den Fundamenten dieses neu errichteten Meisterwerks begraben. Aber aus dem Grab des alten Panathenäischen Stadions ersteht gerade ein panhellenisches Stadion, das dem heutigen Hellenismus gerecht wird. Und die ganze zivilisierte Welt von dem einen bis zum anderen Ende des Globus bewundert und bejubelt uns, weil wir uns nicht nur auf die Erhaltung und die Anbetung der antiken Monumente beschränken, sondern auch diese wieder aufbauen, die durch die Zeit zerstört wurden. Auf diese Weise zeichnen wir uns selbst aus und werden unseren großen Vorfahren ebenbürtig.“56

54 Papanikololaou-Kristensen (wie Anm. 48), S. 209. 55 Bastea (wie Anm. 20), S. 207. 56 Ebd., S. 208.

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Sehr großen Wert legte man auf die Gestaltung der offenen Frontseite des Stadions. Dabei entschied man sich für ein Marmorgeländer, das sich von der einen Tribünenöffnung bis zur anderen erstreckte. In der Mitte, wo das Geländer unterbrochen war, befand sich der Haupteingang. An den beiden Enden der Balustrade stellte man Statuen der Göttin Athene und von Gott Apollon auf. Der besagte offene Eingang in der Mitte des Geländers war rechts und links mit zwei kleineren Statuen antiker Athleten verziert. Die Frontseite- und Eingangskomposition ergänzten schließlich vier Fahnenmaste, an denen die Nationalflagge hochgezogen wurde.57

Die Instrumentalisierung des antiken Stadions im 20. Jahrhundert In der Zwischenkriegszeit wurde, wie Filmaufnahmen aus den 1920er und 1930er Jahren dokumentieren, das Panathenäische Stadion zum Austragungsort ebenso zahlreicher wie verschiedenartiger Veranstaltungen. Die beiden verfeindeten Lager der republikanischen Venizelisten und der royalistischen Antivenizelisten58 instrumentalisierten es zu ihrer politischen Inszenierung. Außerdem wurden im Stadion „nationale Veranstaltungen“ abgehalten. So versammelten sich dort beispielsweise im Mai 1922, nur wenige Monate vor der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe, in Anwesenheit der Königsfamilie die Royalisten, um sich die Vorführung eines Turnprogramms der griechischen Pfadfinder anzusehen. Nachdem die Kinder und Jugendlichen vor der Ehrentribüne im Militärschritt vorbeimarschiert waren, hielt der Verteidigungsminister Nikolaos Theotokis eine Ansprache zum „gerechten Kampf“ der griechischen Armee im westanatolischen Kleinasien. Anschließend zollte man den gefallenen Soldaten Tribut. Das Stadion 57 Papanikololaou-Kristensen (wie Anm. 48), S. 90, 96 f. 58 Die sogenannte Nationale Spaltung des bürgerlichen Lagers in Venizelisten und Antivenizelisten war das Ergebnis der Unstimmigkeit zwischen Premierminister Eleftherios Venizelos und König Konstantin I. in der Frage des Eintritts Griechenlands in den Ersten Weltkrieg aufseiten der Entente. Während Venizelos ein starker Befürworter des Eintritts war, plädierte der König – auch aufgrund seiner engen persönlichen Bindung zu Deutschland – für die Neutralität seines Lands. Nach längeren Querelen wegen dieser Meinungsverschiedenheit entließ der König im Frühling 1915 seinen Ministerpräsidenten. Im Spätsommer 1915 führte dann Venizelos mit Unterstützung der ihm treuen Offiziere einen Putsch gegen die royalistische Regierung in Athen durch und bildete ein eigenes „provisorisches“ Regierungskabinett in Thessaloniki. Auf Druck der Entente musste König Konstantin im Juni 1917 schließlich Griechenland verlassen, und sein zweiter Sohn Alexander wurde zu seinem Nachfolger ernannt. Daraufhin kehrte Venizelos auf den Posten des Ministerpräsidenten zurück. Seine Regierung führte im Staatsdienst und in der Armee eine groß angelegte „Säuberungsaktion“ gegen die „Germanophilen“, also die Anhänger Konstantins, durch, wodurch sich die Kluft zwischen Venizelisten und Antivenizelisten nur noch vergrößerte. Nachdem sich die Venizelisten durchgesetzt hatten, nahm Griechenland spät an dem Ersten Weltkrieg aufseiten der Entente-Mächte teil. Dafür wurde es mit Gebietsgewinnen belohnt, wodurch die nordöstliche Staatsgrenze in unmittelbare Nähe Konstantinopels verschoben wurde. Die „Kleinasiatische Katastrophe“ von 1922, für die vonseiten der Venizelisten der Ende 1920 aus dem Exil zurückgekehrte König Konstantin und seine royalistische Regierung verantwortlich gemacht wurden, führte zu einer weiteren Radikalisierung des Konflikts, insbesondere nachdem die Venizelisten sechs königstreue Politiker und Offiziere als „Vaterlandsverräter“ hingerichtet hatten. – Glogg, Richard: A Concise History of Greece. Cambridge 22007, S. 83–91.



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kam schließlich im Rahmen offizieller Staatsbesuche zum Einsatz. Es war ausgerechnet der türkische Ministerpräsident Ismet Inönü, der während seines offiziellen Besuchs in Griechenland neun Jahre nach der „Kleinasiatischen Katastrophe“ als erster ausländischer Politiker von seinem griechischen Amtskollegen Eleftherios Venizelos zum Panathenäischen Stadion geführt wurde, um dort gemeinsam sportliche Wettkämpfe mit Athleten aus allen Balkanländern zu verfolgen und dadurch ein Zeichen der Versöhnung zu setzen.59 Am häufigsten aber wurde in der Zwischenkriegszeit das Stadion durch Putschisten aus den Reihen des griechischen Militärs in Anspruch genommen, die vor dem Hintergrund des erbitterten Machtkampfs zwischen Venizelisten und Antivenizelisten kurzoder langfristig die Macht an sich rissen. So versammelte etwa der selbsternannte Ministerpräsident und Regent Georgios Kondylis, der Anführer des am 10. Oktober 1935 durchgeführten „Putschs der Generäle“, seine Soldaten im Stadion und ließ sie dem griechischen Königshaus ihre Treue schwören und ihren Wunsch zur Wiederherstellung der Anfang der 1930er Jahre abgeschafften Monarchie bekunden.60 Kaum ein anderes Regime instrumentalisierte zu seiner politischen Legitimation und Inszenierung das Panathenäische Stadion mehr als die faschistoide Diktatur von General Ioannis Metaxas, die am 4. August 1936 mit Einwilligung des Königshauses errichtet wurde. Das antike Griechenland, insbesondere Sparta mit seinen berüchtigten Kriegern und dem starken staatlichen Eingriff in die Privatsphäre stand im Mittelpunkt einer diktatorischen Weltanschauung, die sehr stark vom italienischen Faschismus und in einem geringeren Maß auch vom deutschen Nationalsozialismus beeinflusst war. Wie bei Benito Mussolini spielten die antiken Monumente auch in der Propaganda des Metaxas-Regimes eine wichtige Rolle, wobei die Akropolis und das Panathenäische Stadion am stärksten zum Einsatz kamen.61 In letzterem wurden neben anderen Ereignissen das jährliche Jubiläum des 4. August gefeiert. Zu den festen Programmpunkten gehörte, dass junge Männer sich als spartanische Kämpfer verkleideten und eine Parade abhielten.62 Auch das stark antikommunistische Regime der nationalgesinnten Bürgerkriegssieger nutzte das Panathenäische Stadion zu seiner politischen Inszenierung. Man feierte dort jährlich Ende August den in den staatlichen Festkalender per königlichem Dekret aufgenommenen „Jahrestag des Siegs über die kommunistischen Banditen“. Dieser war im Spätsommer 1949 auf den nordgriechischen Bergen Grammos und Vitsi errungen worden. Neben einer Militärparade und akrobatischen Kunststücken, die Eliteeinheiten des griechischen Militärs und der Polizei aufführten, stellte die Rekonstruktion zahlreicher Kriegsszenen aus der „dreitausendjährigen Geschichte der griechischen Nation“ 59 To Kallimarmaro sto Mesopolemo [Das mit schönem Marmor bekleidete Stadion in der Zwischenkriegszeit]. In: ERT Archeio. Tainiothiki tileorasis. Paraskinio, http://www.ert-archives.gr/V3/public/ main/page-assetview.aspx?tid=0000006876&tsz=0&autostart=0 (11.01.2016). 60 Ebd. 61 Hamilakis (wie Anm. 4), S. 169–172. 62 Gegonota dekaetias 1930 [Ereignisse der 1930er Jahre]. In: ERT Archeio. Archeio Eidiseon Tileorasis. Istoriko Archeio ERT, http://www.ert-archives.gr/V3/public/main/page-assetview.aspx?tid=46081&ts z=0&act=mMainView (11.01.2016); To Kallimarmaro sto Mesopolemo (wie Anm. 59).

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den Höhepunkt dieser Feierlichkeiten im Panathenäischen Stadion dar. In Anwesenheit der Königsfamilie, von Regierungsmitgliedern und der militärischen und klerikalen Führung des Lands stellte man der Reihe nach folgende militärische Ereignisse dar: den Trojanischen Krieg, den heroischen Kampf und Tod der 300 Spartaner Königs Leonidas gegen die zahlenmäßig überlegenen Perser 480 v. Chr. bei den Thermopylen, den Feldzug Alexanders des Großen nach Asien, den Sieg der Byzantiner unter der Führung von Kaiser Basileios II. über die Armee von Zar Samuil Anfang des 11. Jahrhunderts n. Chr., den griechischen Unabhängigkeitskampf gegen die Osmanen 1821, die Balkankriege 1912/13, die Abwehr des italienischen Angriffs an der griechischalbanischen Grenze im Winter 1940/41 und schließlich den Kampf der „Nationalen Armee“ auf Grammos und Vitsi 1949 gegen den „Slawokommunismus“.63 Auf diese Weise wurde der Sieg im Bürgerkrieg in ein direktes Kontinuitätsverhältnis zu den glorreichsten Siegen der griechischen Nation gestellt. In der Zeit der Militärdiktatur der Jahre 1967–1974 war das Panathenäische Stadion der Hauptaustragungsort der Zelebrierung der Jahrestage und Jubiläumsfeiern des Regimes von Diktator Georgios Papadopoulos. Die zutiefst antikommunistische Junta setzte die dortige Abhaltung der Feierlichkeiten zum „Sieg der griechischen Waffen über den Kommunismus auf Vitsi und Grammos“ fort. Das Programm wurde aber den neuen politischen Gegebenheiten angepasst: Zu den ausgewählten Ereignissen aus der dreitausendjährigen Militärgeschichte der Hellenen wurde nun als abschließendes, krönendes Ereignis die „Revolution des 21. April“ hinzugefügt, da diese in den Augen der Putschisten Griechenland vor einer erneuten kommunistischen Revolte gerettet habe. Auch der Jahrestag des 21. April 1967 wurde während der siebenjährigen Militärdiktatur immer im Panathenäischen Stadion in Anwesenheit der Putschisten, des jeweiligen Regenten bzw. des Staatspräsidenten ab 1971, des Oberhaupts der griechischen Kirche sowie von tausenden, die Tribünen füllenden Zuschauern gefeiert. Auch in diesem Fall postulierte das Programm die ununterbrochene Kontinuität der hellenischen Nation von der antiken bis zur modernen Zeit. Aus Sicht der Veranstalter bildete das Stadion der antiken Athener die ideale Kulisse für derartige Inszenierungen. So ließ man etwa während des ersten Jahrestags 1968 einen Umzugswagen in Form des antiken mythischen Schiffes Argo im Stadion auffahren, mit dem der altgriechischen Saga zufolge die Argonauten unter der Führung Jasons nach Kolchis reisten und das Goldene Vlies zurückholten. Auf dem Segel war die griechische Nationalflagge abgebildet. Auf einem anderen Umzugswagen, dem „Wagen des griechischen Volks“, der ebenso 1968 bei den Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag des Regimes zum Einsatz kam, ragte aus einem bunten Blumenberg eine antike Säule ionischer Ordnung hervor. Das die „Nation 63 Τ 12573, Eorti afieromeni stin ellinoamerikaniki organosi „ACHEPAN“. Imera tis polemikis aretis ton Ellinon [Feier gewidmet der hellenoamerikanischen Organisation „ACHEPAN“. Tag der kriegerischen Tugend der Griechen], 9.8.1965. In: Ethniko Optikoakoustiko Archeio, http://mam.avarchive.gr/portal/ digitalview.jsp?get_ac_id=3119&thid=12573 (11.01.2016); Τ 16647, Tainia Epikairon, Eortasmos tis „Imeras tis polemikis aretis ton Ellinon“ [Wochenschau. Feierlichkeiten zum „Tag der kriegerischen Tugend der Griechen“], 4.9.1966. In: ebd., http://mam.avarchive.gr/portal/digitalview.jsp?get_ac_ id=3262&thid=16647 (11.01.2016); Eleftheria, 4.9.1966; Ebd., 6.9.1966.



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rettende Datum vom 21. April 1967“, wie in der Junta-Propaganda der Tag des Putsches beschrieben wurde, dominierte als Symbol die ganze Veranstaltung: Militärflugzeuge bildeten in einem gewagten Flugmanöver die Nummer 21 am Himmel über dem Panathenäischen Stadion; an den meisten Umzugswagen war eine Aufschrift mit dem besagten Datum angebracht; und als am späten Abend der abschließende Akt einer imponierenden Feuerwerksvorführung gezeigt wurde, strahlte vom gegenüberliegenden Lykabettus-Hügel die Leuchtschrift des 21. April 1967.64

Epilog Heutzutage sind es die modernen Mazedonier in Südosteuropa, die eine Antikisierung ihrer Stadtbilder, insbesondere ihrer Hauptstadt Skopje, betreiben (vgl. dazu den Beitrag von Evelyn Ivanova-Reuter in diesem Band). Interessanterweise ist es ausgerechnet die griechische öffentliche Meinung, die darüber aufgebracht ist, obgleich Griechenland diese Entwicklung mitangestoßen hat. Denn es war die Athener Infragestellung der historischen Existenzgrundlagen einer mazedonischen Nation in Verbindung mit der erpresserischen Forderung nach einer Umbenennung der Republik Mazedonien Anfang der 1990er Jahre, die maßgebend daran beteiligt war, dass man in Skopje frühere Hemmungen hinsichtlich der Eingliederung der antiken Geschichte Makedoniens in die mazedonische Nationalgeschichte endgültig überwand. Demzufolge wurde in der offiziellen Geschichtspolitik des Lands der Anfang der mazedonischen Nation vom 11. Jahrhundert n. Chr. in das 4. Jahrhundert v. Chr. zurückdatiert. Je stärker sich Athen im Namensstreit mit Skopje auf die vermeintliche Hellenizität der antiken Makedonier berief, um der benachbarten Republik eine entmakedonisierte Staatsbezeichnung aufzuerlegen, desto intensiver wurden die Bemühungen der gegnerischen Seite, eine „ethnische Linie von den Makedonen der Antike auf die Mazedonier der Gegenwart“ zu konstruieren.65 Dieser geschichtspolitische Kurswechsel Mazedoniens spiegelte sich vor allem im Städtebauprojekt „Skopje 2014“ wider, das auf eine Antikisierung der mazedonischen Hauptstadt abzielte. Michael Martens, der Südosteuropakorrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, beschrieb 2013 den damals noch im Gang befindenden Veränderungsprozess Skopjes im Rahmen dieses Projekts wie folgt: „In Skopje ist eine der größten Baustellen Europas entstanden. Bis zu dreißig Meter hohe Triumphbögen und 64 Τ 13767, Eortasmos tis 1. epeteiou tis 21. Apriliou 1967 me tin parousia tou Antivasilea Georgiou Zoitaki kai tou prothypourgou Georgiou Papadopoulou stin Athina [Feierlichkeiten in Athen anlässlich des einjährigen Jubiläums des Regimes des 21. April 1967 in Anwesenheit des Regenten Georgios Zoitakis und des Premierministers Georgios Papadopoulos], 28.4.1968. In: ebd., http://mam.avarchive. gr/portal/digitalview.jsp?get_ac_id=3453&thid=13767 (11.01.2016). 65 Troebst, Stefan: Geschichtspolitik und historische „Meistererzählungen“ in Makedonien vor und nach 1991. In: Ders.: Das makedonische Jahrhundert. Von den Anfängen der nationalrevolutionären Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893–2001. Ausgewählte Aufsätze. München 2007, S. 425–442, hier S. 439.

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Reiterstandbilder werden gebaut, Springbrunnen und antikisierende Statuen errichtet. Regierungsgebäude aus den sechziger Jahren werden mit klassizistischen Säulenfronten versehen und in Ruhmeshallen des mazedonischen Volks umgewandelt. Kritiker sprechen von einem antiken Disneyland. Anhänger sagen, [Ministerpräsident Nikola] Gruevski gebe den von allen Nachbarn bedrohten Mazedoniern ihr Selbstbewusstsein zurück.“66 Auch wenn die beiden Fälle im Allgemeinen mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten aufweisen, haben die hier ausführlich besprochene Rekonstruktion Athens im Zeichen des Klassizismus im 19. Jahrhundert und die erwähnte Antikisierung Skopjes zu Beginn des 21. Jahrhunderts eines gemein: Beide standen im Dienste eines schwierigen Prozesses von nationaler Sinnstiftung und Selbstvergewisserung.

Summary Classical antiquity versus Byzantium Classicism and reconstruction in Athens’ development into  the capital of modern Greece The paper explores the main factors in the choice of Athens as the capital of the modern Greek state founded in 1830/31. It finds that the city’s classical past was crucial in the choice of Athens over other, more geostrategically suitable places as the royal seat for Otto of Greece. Furthermore, the devastating consequences that the focus on classical antiquity had for the city’s Byzantine heritage are addressed. While ancient ruins were restored, underlining Greek nationalism’s strong orientation towards the classical past in the first half of the nineteenth century, traces of Athens’ Byzantine past, especially the many partly ruined churches, were neglected by officials. Western-focused elites, influenced by the ideas of the Enlightenment, prevailed in the orientation question over the supporters of the Greek Orthodox tradition, who viewed Tsarist Russia as a powerful protector and ally of the new small Greek Kingdom in (still) Ottoman Southeast Europe. Only towards the end of the nineteenth century was the medieval Byzantine past incorporated into the Greek historical narrative as a result of the irredentist project of the Megali Idea (Great Idea). Even so, emphasizing the classical past remained an absolute priority. This was reflected in the town planning of Athens, the imposing ruins of the Parthenon providing a point of reference for the restoration of ancient remains such as the Panathenaic Stadium as well as the construction of neoclassical buildings. Nevertheless, the ‘dream and hope of all Greeks’ to ‘liberate’ Constantinople and make her the new capital of ‘Greater Greece’ remained a significant source of uncertainty 66 Martens, Michael: Im Windschatten Griechenlands. In Mazedonien bekämpfen Regierung und Opposition einander auf unwürdige Weise. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.1.2013, S. 8. – Siehe auch Zimmermann, Tanja: „Skopje 2014“. Erinnerungsexzesse in der Republik Makedonien. In: Acta historiae artis Slovenica 18/2 (2013), S. 159–181.



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throughout the nineteenth century regarding Athens’ position as the permanent capital of the Greek kingdom. Only after the disastrous defeat of the Greek army in 1922 in Western Anatolia by Kemal Atatürk, putting an end to Greek irredentist aspirations, could the Athenians be sure that their city would remain the capital of Greece.

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Ei n e f est e Bu rg   – e in fe ste s R e ich Die Rekonstruktion der Marienburg und der Hohkönigsburg als symbolische Grenzfesten des Deutschen Kaiserreichs und die politische Burgenrenaissance in Europa

Elisabeth Crettaz-Stürzel „Im Wechsel der Zeiten und des Kriegsglücks hat der Besitz der Burg viele Wandlungen durchgemacht. Nun ist die Burg wieder Eigentum des deutschen Kaisers geworden. Möge die Hohkönigsburg hier im Westen des Reiches wie die Marienburg im Osten als ein Wahrzeichen deutscher Kultur und Macht erhalten bleiben und denen, die nach uns zu diesem Kaisersitz herauf pilgern, in pietätvollem Rückblick auf die Vergangenheit zur Freude und Belehrung dienen! Möge der Adler auf dem stolzen Bergfried seine Schwingen stets über ein friedliches Land und ein glückliches Volk breiten.“ Diese Worte sprach Kaiser Wilhelm II. anlässlich der Einweihung der Hohkönigsburg (Haut-Koenigsbourg) am 13. Mai 1908 (Abb. 1).1 Abb. 1  Die wiederhergestellte Hohkönigsburg Aus den Kaiserworten ging die poli(Haut-Koenigsbourg) mit Bodo Ebhardt als Ritter. tische Dimension des Wiederaufbaus Vorsatz zu „Die Hohkönigsburg. Deutsche der Hohkönigsburg hervor. Sie galt als Burgen“, 1908. nationales und dynastisches Symbol für die deutsche Reichseinheit.2 Wilhelm II. hatte das bereits auf einer Konferenz 1900 in Berlin deutlich gemacht, nachdem ihm 1899 die Hohkönigsburg von der kleinen Elsässer Gemeinde Schlettstadt (Sélestat) geschenkt worden war. Dass ihm als neuem Besitzer der Hohkönigsburg dabei sofort 1 Castellani Zahir, Elisabeth: Die Wiederherstellung von Schloss Vaduz 1904 bis 1914. 2 Bde. VaduzStuttgart 1993, hier Bd. 2, S. 125 f. Bodo Ebhardt überlieferte diese Kaiserworte in: Der Burgwart 4 (1908), S. 108 f. 2 Bekiers, Andreas: Bodo Ebhardt 1865–1945. Architekt, Burgenforscher, Restaurator. Leben und Frühwerk bis 1900. Berlin 1984, S. 172–194.



Eine feste Burg – ein festes Reich

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Abb. 2  Die Ordensburg Marienburg (Malbork) in Westpreußen, von der Nogatseite. Aufnahme um 1939.

Abb. 3  Marienburg, Steintischplatte mit Datum des Kaiserbesuchs: 3.10.1898. Aufnahme von 1996.

die alte Ordensfeste Marienburg (Malbork; Abb. 2) in den Sinn gekommen war, erstaunt weniger, wenn man bedenkt, dass er diese im Jahr zuvor besucht hatte, was auf einem Picknicktisch mit Wappen und Datum in Stein eingemeißelt ist: „3. Oc[tober] 1898“ (Abb. 3). Otto Piper berichtet über das Berliner Kaisertreffen von 1900 in seinen Memoiren, da er sich erhofft hatte, die Hohkönigsburger Restaurierung zu leiten, was ihm aber versagt blieb, weil diese seinem Konkurrenten im Burgenbau, Bodo Ebhardt, übertragen wurde: „Außerdem bemerkte er [der Kaiser], er denke es sich hübsch, als Gegenstück zu der Marienburg im Osten in der entgegengesetzten Ecke des Reiches die Hohkönigsburg wiedererstehen zu sehen, und sein Plan sei, diese zu einem Museum zu machen,

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in welchem die alten Familien des Landes, die schon bei den Zügen nach Italien und Palästina ihre Schuldigkeit getan hätten, je ein Zimmer mit ihrem Wappen haben sollten, in welches sie auch ihre Familienbilder hineinhängen könnten und dergleichen.“3 Dass die Restaurierung auch von den Zeitgenossen als politisches Zeichen verstanden wurde, dafür sorgte Ebhardt in seiner Zeitschrift „Der Burgwart“. Dort war 1908 zu lesen: „Auch an dieser Stelle gebührt es Seiner Majestät Dank zu sagen für die Wiederherstellung eines Baus, der nicht allein als ein Zeuge alter Burgenbaukunst vor uns steht, sondern der auch ein Wahrzeichen deutscher Kaiserherrlichkeit in der Westmark bildet, und wie die Marienburg in der Ostmark als ein Sinnbild der deutschen Macht anzusehen ist.“4

Politischer Historismus Die Wiederherstellungen der Hohkönigsburg und der Marienburg fallen in die Kategorie der zahlreichen Stammburgen, welche im 19. Jahrhundert im Sinne eines ritterlichen Neofeudalismus nicht nur in England wiederentstanden,5 sondern auch im restlichen Mitteleuropa, darunter die Wartburg in Thüringen, Burg Hohenzollern in Süddeutschland, die Marienburg bei Hannover, Schloss Vaduz im Fürstentum Liechtenstein oder Schloss Tirol bei Meran6. Sie sind Beispiele für den „politischen Historismus“7 im 19. Jahrhundert. Mit diesem Begriff ist eine Haltung gemeint, die den bewussten Rückgriff auf eine bestimmte Vergangenheit in den Dienst der aktuellen Politik stellt und dies mit den Mitteln der Architektur an einem bestimmten Ort zum Ausdruck bringt. Dabei war die konkrete Funktion der so errichteten Gebäude Nebensache; eine Nutzung als Residenz, Jagdschloss, Grabstätte oder Geschichtsmuseum war möglich und konnte sich überlagern. Deutlich erkennbar wurde die politische Dimension historistischen Schlossbaus auch bei einem weiteren Bauvorhaben von Kaiser Wilhelm II., das parallel zur Hohkönigsburg realisiert wurde: dem von Franz Schwechten um 1910 errichteten neuromanischen Kaiserschloss in Posen. Die neue Kaiserpfalz sollte im Osten des Deutschen Reichs die Erinnerung an die „großen Zeiten der deutschen Kaiser des Mittelalters“8 wachrufen.

Otto Piper. Lebenserinnerungen aus acht Jahrzehnten. Hg. v. Reinhold Piper. München [o. J.], S. 213 f. Ebhardt, Bodo: Die wiedererstandene Hohkönigsburg. In: Der Burgwart 4 (1908), S. 73 f. Girouard, Marc: The Return to Camelot. Chivalry and the English Gentleman. London 1981. Die Publikation zur Bauforschung des Schlosses Tirol ist in Vorbereitung zum Druck und wird herausgegeben vom Landesmuseum Schloss Tirol (Museo Provinciale Castel Tirolo) in Südtirol, Italien. Darin ist enthalten ein Beitrag der Autorin zum Wiederaufbau des Schlosses Tirol. 7 Zum politischen Historismus im Burgenbau Bringmann, Michael: Was heißt und zu welchem Ende studiert man den Schlossbau des Historismus? In: Historismus und Schlossbau. Hg. v. Renate Wagner-Rieger und Walter Krause. München 1975, S. 34. – Zur Bedeutung des Adels in der Burgenrenaissance siehe Castellani Zahir (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 207–254. 8 Bringmann (wie Anm. 7), S. 36. 3 4 5 6



Eine feste Burg – ein festes Reich

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Abb. 4  Marienburg, „Schloss-Kirche“ in ruinösem Zustand. Zeichnung von Friedrich Gilly, Kupferstich von Friedrich Frick, 1799.

Zum Begriff des politischen Historismus gehört die Rolle des aktiven adeligen Bauherrn. Ebhardt strich deutlich die bestimmende Rolle seines kaiserlichen Auftraggebers als Konzeptgeber heraus: „Bei der Vornahme der ersten Wiederherstellungspläne durfte ich Seiner Majestät dem Kaiser, meinem allerhöchsten Bauherrn, die Frage vorlegen: Soll ich eine Burg bauen, die zu irgendwelchem modernen Zweck benützt werden soll? Und soll ich irgendwelche Rücksicht auf persönliche und außer der Sache liegende Wünsche nehmen? Oder soll ich nach meiner Überzeugung mit allen historischen Mitteln, die mir zu Gebote stehen, die Burg aufbauen? Zu meiner großen Freude hat Seine Majestät der Kaiser ohne weiteres und endgültig entschieden, daß nur historische und nur in der Sache selbst liegende Gründe die Wiederherstellung und ihre Form bestimmen sollen.“9 Auf den Titelblättern von Ebhardts Publikationen von 1908 heißt 9 Ebhardt, Bodo: Eine Burgenfahrt. Tagebuchblätter von einer im Herbst 1901 im Allerhöchsten Auftrage Seiner Majestät des Deutschen Kaisers unternommenen Studienreise. Berlin 1901, S. 107.

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Abb. 5  Die Hohkönigsburger Ruine. Lithographie von Meunier, 1828.

es dann auch: „Die Hohkönigsburg. Nach dem Entwurf Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. gez[eichnet]. Bodo Ebhardt.“10 Im Jahr 1772 war die Marienburg nach der Ersten Teilung Polens wieder in preußischen Besitz gelangt. Die alte Ordensfeste befand sich damals aufgrund jahrhundertelanger Umnutzung unter Polen, Schweden, Russen und Franzosen in einem baufälligen Zustand (Abb. 4), sodass die ordnungsliebende preußische Verwaltung das Schloss abreißen lassen wollte. König Friedrich der Große rettete es vor dem Abbruch, indem er anordnete: „Das Schloß bleibt stehen!“ und weiter: „Die an verschiedenen Orten befindlichen Ordenshäuser bin ich nicht gewillt herunterzureißen.“11 Erst gut hundert Jahre später wurde die Hohkönigsburg in dem nun wieder deutsch gewordenen Elsass einem Nachfahren von Friedrich dem Großen geschenkt, nämlich dem letzten König von Preußen sowie in Personalunion dem letzten Deutschen Kaiser Wilhelm II. (Abb. 5). Er wurde 1899 unverhofft Besitzer einer Grenzfeste, in der Hohenstaufen, Habsburg und Hohenzollern geherrscht hatten. Die drei für die Herrscherdynastien stehenden „H“ dienen der historischen Legitimation und sind in den Steinmetzzeichenlegenden der Jahre 1901–1908 integriert. In beiden Fällen – also im Fall der Marienburg nach der ersten Teilung Polens und im Fall der Hohkönigsburg nach der Annexion Elsass-Loth10 Castellani Zahir (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 126 f. 11 Knapp, Heinrich: Das Schloss Marienburg in Preußen. Quellen und Materialien zur Baugeschichte nach 1456. Lüneburg 1990.



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ringens durch das Deutsche Reich – waren neue politische Konstellationen zugunsten Preußens nach Kriegswirren in Grenzzonen sowie hochherrschaftliche Besitzerwechsel an den jeweils regierenden König Anlass für den Wiederaufbau.

Gotik als „deutscher Nationalstil“ und Ruinenkult Zurück zur Marienburg. Ein Jahr nach der Rettung durch Friedrich den Großen veröffentlichte Johann Wolfgang von Goethe 1773 nach dem Anblick des Straßburger Münsters eine Hymne auf die Gotik als raffiniertes Architektursystem und definierte sie im Gegensatz zur antiken Klassik als geniale, typisch nordische und deutsche Kunst. In seinem Text „Von deutscher Baukunst“12 prägte er nebenbei einen neuen Denkmalbegriff, den des gewordenen Denkmals. Ein Denkmal war nun nicht mehr wie bis dahin ein bewusst gesetztes Standbild oder ein bewusst gesetzter Gedenkstein, sondern das ganze Gebäude, welches erst nachträglich und intellektuell Denkmal geworden war. In einer antiklassischen Position und den Blick auf den genialen Baumeister des Straßburger Münsters Erwin von Steinbach gerichtet, meinte Goethe: „Und nun soll ich nicht ergrimmen, heiliger Erwin, wenn der deutsche Kunstgelehrte, auf Hörensagen neidischer Nachbarn, seinen Vorzug verkennt, dein Werk mit dem unverstandenen Wort gotisch verkleinert, da er Gott danken sollte, laut verkündigen zu können: das ist deutsche Baukunst, unsere Baukunst, da der Italiener sich keiner eigenen rühmen darf, viel weniger der Franzos’.“13 Im Jahr 1804 wurde zum ersten Mal bezogen auf ein Lutherdenkmal im Deutschen das Wort „Nationaldenkmal“ verwendet.14 Zwei Jahre darauf schlug Friedrich Schlegel mit seiner Schrift „Grundzüge der gotischen Baukunst“ noch einmal eine intellektuelle Bresche für die Gotik als eine Architektur außerhalb der klassischen Norm und damit potenziell als eine Architektur der Freiheit. Nach 1800 wurde die Gotik in Europa als befreiender Nationalstil interpretiert: Den Franzosen galt sie nach der Französischen Revolution als besonders französisch, vornehmlich seit Victor Hugos 1831 erschienenem Roman „Notre-Dame de Paris“ (Der Glöckner von Notre-Dame), den Engländern als spezifisch englisch und den Deutschen als eminent deutsch. Alle waren sich einig: Die Gotik stand für Freiheit und Nation. Um 1780 kamen in Bayreuth unter Markgraf Alexander von Ansbach-Bayreuth und in Kassel unter Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel die ersten staatlichen Denkmalschutzbestrebungen in Form von Verordnungen auf.15 In den preußischen Staaten forderte das Allgemeine preußische Landrecht von 1794 vom Eigentümer bereits eine gewisse Sorgfaltspflicht gegenüber Gebäuden an öffentlichen Straßen und Plätzen, 12 Goethe, Johann Wolfgang von: Von deutscher Baukunst. D. M. Ervini a Steinbach (1773). In: Neue Gesamtausgabe des Originalverlags. Schriften zur Kunst I. Jugendschriften. Regensburg 1961, S. 11–20. 13 Ebd., S. 17. 14 Germann, Georg: Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie. Stuttgart 1972, S. 85. 15 Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten. Hg. v. Norbert Huse. München 1984, S. 21, 26–29.

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allerdings vorwiegend aus Sicherheitsgründen. Das wachsende Bewusstsein für den historischen Wert von Gebäuden als Dokumente der Kunstentwicklung und als Primärquellen der kollektiven Geschichtsbetrachtung ist unter anderem dem Kantschüler Johann Gottfried von Herder zu verdanken, der von 1762 bis 1764 an der Universität von Königsberg war und unter dem Einfluss von Goethe und Jean-Jacques Rousseau stand. Er legte zwischen 1784 und 1794 die gedankliche Basis für das neue Geschichtsverständnis des Historismus. Die neuen Helden waren bei ihm nicht mehr nur einzelne Herrscher, sondern auch ganze Völker und Kollektive, wie es das weiter unten beschriebene Nationaldenkmal der Schweizer, der Tell-Obelisk im Vierwaldstättersee, repräsentierte. Die Geschichtsaura jedes Nationaldenkmals umschrieb der Philosoph so: „In dieser Galerie verschiedener Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiss tiefer kennen als auf dem täuschenden trostlosen Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte.“16 Quellen für diese Galerie der Geschichte boten alle Künste – die Dichtung, Malerei, Skulptur, Architektur und neuerdings auch gerne Burgen. 1851 formulierte der Basler Kunsthistoriker Jakob Burckhardt das neue umfassende humanistische Geschichtsverständnis noch deutlicher: „Neben die Staatsgeschichte etc. stellt sich eine endlos weite Culturgeschichte. Plötzliche Bedeutung zahlloser einzelner Data. Alles Erhaltene wird zum redenden Zeugnis der betreffenden Epoche, zum Monument. Auf den geschichtlichen Gehalt aller Monumente hinzuweisen, wäre die Hauptaufgabe für uns.“17 Geschichte als System zu begreifen, als Macht einer epischen Einheit mit innerem Zusammenhang, war um 1800 ein Paradigmenwechsel, ohne den die Kinder des Historismus, die „illegitimen“ der Restaurierungslust des 19. Jahrhunderts wie die „legitimen“, die Denkmalpflege in der heutigen Form, kaum vorzustellen wären.18 Für die Begüterten um 1800 stellte sich folgendes Problem: Entweder man besaß ein Denkmal kollektiver Geschichte oder man baute sich eines. Die Preußen hatten mit der Marienburg schon früh eine echte Ruine mit Vergangenheit, wussten anfänglich allerdings nicht recht, was damit zu tun sei. Andere Edelleute, die keine Ruine besaßen, bauten sich falsche Ruinen und imitierten Vergangenheit, gotisch natürlich. So ließ sich der Landgraf Wilhelm von Hessen durch Heinrich Christoph Jussow mit der Löwenburg in Nachbildung einer englischen Burgruine 1793–1801 eine neue, gewollt zerfallene gotische Parkburg in seinem Landschaftsgarten Wilhelmshöhe bei Kassel bauen. Das war die ideelle Geburtsstunde künstlichen Alters und falscher Patina. Die meisten Flügel waren bewohnbar für Aufenthalte der hohen Herrschaften.19 Auch in Preußen gab es derartige Kunstruinen. Zum Beispiel stand im englischen Landschaftsgarten auf der Pfaueninsel in Berlin eine malerische gotische Burgruine, die 1794–1797 König Fried-

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 18. Castellani Zahir (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 157–205. Dies.: Von der Ruine zum Denkmal – Historisierende Burgschöpfungen. In: Burgen in Mitteleuropa. Ein Handbuch. Bd. 1: Bauformen und Entwicklung. Hg. v. Deutsche Burgenvereinigung. Stuttgart 1999, S. 165–168.



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rich Wilhelm II. errichten ließ und in der sich sein Sohn Friedrich Wilhelm III. und dessen Frau Königin Luise gerne aufhielten. Diese Parkruinen waren eine Modeerscheinung, und es gab sie überall zwischen Paris und Sankt Petersburg. Man probierte zu Beginn des 19. Jahrhunderts im free style die neu entdeckte Gotik aus. Künstler wie Caspar David Friedrich malten sie, Architekten wie Eugène Viollet-le-Duc untersuchten und imitierten sie und phantasierten mit ihr an Neubauten. Vielerorts versuchte man, Architektur und Landschaft in eine Stimmungsharmonie zu bringen. Die „Stimmung als System“ war kein Privileg der romantischen Malerei, sie war neben der „Geschichte als System“ der zweite wichtige Aspekt in der Architektur nach 1800.

Preußisches Neuenburg im Westen Als der preußische König anno 1772 im Nordosten Europas erneut in den Besitz der Marienburg kam, besaß er à titre personnel aus dem väterlichen Erbe im entgegengesetzten Südwesten an der Grenze zu Frankreich mit dem heutigen Kanton Neuenburg (Neuchâtel) bereits ein anderes politisch wichtiges Grenzterritorium, das Fürstentum Neuenburg zusammen mit der Grafschaft Valangin.20 Die alte burgundische Herrschaft

Abb. 6  Die Stadt „Neufchatel“ am Neuenburger See mit preußischem Adler 1707. Nach einem Stich von Matthäus Merian dem Älteren, 1642.

20 Sa Majesté en Suisse. Neuchâtel et ses princes prussiens. Ausst.-Kat. Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel. Hg. v. Elisabeth Crettaz-Stürzel und Chantal Lafontant Vallotton. Neuchâtel 2013. Die Assoziation Neuenburg-Berlin führt die Forschungen zum preußischen Neuenburg fort.

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in der heutigen französischen Schweiz am Jurasüdfuß war von 1707 bis 1848 (de facto) bzw. bis 1857 (de jure) 150 Jahre lang ein kleines, von der Alten Eidgenossenschaft und von Frankreich eingeschlossenes, preußisches Fürstentum mit einem Sonderstatus innerhalb der preußischen Provinzen (Abb. 6). Seit 1814 war Neuenburg zudem noch der 21. Eidgenössische Kanton. Seine Bürger waren sozusagen preußische Schweizer. Diese wohlhabenden calvinistischen Textilfabrikanten, Kaufleute und Bankiers, die neuadeligen du Peyrou, de Pourtalès und de Rougemont von Neuenburg, die in der lieblichen Weinberggegend unten am See wohnten, waren im internationalen BigBusiness des Ancien Régime inklusive Sklavenhandel so erfolgreich preußisch, dass sie noch 1856 einen pro-preußischen royalistischen Aufstand wagten, um die 1848 von den Jurahöhen verkündete Republik zu beseitigen, was allerdings misslang. Erst unter dem massiven Druck eidgenössischer Truppen verzichtete der Landesherr und Fürst von Neuenburg, König Friedrich Wilhelm IV., der persönlich sehr an Neuenburg hing, 1857 endgültig auf den Besitz seines Fürstentums, allerdings unter Beibehaltung des Titels Fürst von Neuenburg und Valangin. Gut zehn Jahre nachdem Friedrich der Große die gotische Marienburg vor dem Abriss bewahrt hatte, bauten sich seine Neuenburger Untertanen 1783 ein grandioses neues Rathaus mit dorischer Tempelfront im Stil des monumentalen Klassizismus, der heute als Revolutionsarchitektur bezeichnet wird. Den Auftrag bekam aber nicht der preußische Klassizist Friedrich Gilly. Die selbstbewussten Neuenburger Bürger holten sich den Hofarchitekten des französischen Königs Ludwig XVI., Pierre Adrien Pâris (1745–1819), aus Versailles nach Neuenburg, nachdem sie die Pläne seines Konkurrenten Claude-Nicolas Ledoux zurückgewiesen hatten.21 Der Landesherr Friedrich der Große billigte den klassizistischen Rathausbau seiner Untertanen nach dem neuesten goût grec à la français. So wie er auch nichts dagegen hatte, dass besagter Pâris, Modearchitekt der Pariser Aristokratie, Romkenner und Antikenforscher, 1783 auch das erste Schweizer Nationaldenkmal entwarf. Dieser Obelisk stand 13 Jahre lang als Touristenattraktion auf der Insel Altstadt im Vierwaldstättersee. Als Goethe ihn 1797 besuchen wollte, fand er nichts mehr vor, denn der die Freiheit symbolisierende Tell-Apfel mit Pfeil auf der Spitze war vom Blitz getroffen worden – er war aus Metall gewesen!22 Gestiftet hatte das Freiheitsmonument übrigens der französische Revolutionsschriftsteller und Rousseau-Verehrer Abbé Guillaume Thomas François de Raynal (1713–1796), der wegen Aufruhr aus Frankreich vertrieben worden war und, wie Rousseau, in Neuenburg als Protegé des preußischen Königs Aufnahme fand.

21 Castellani Zahir, Elisabeth: Ledoux oder Paris? Französische Pläne für das Rathaus im preußischen Neuenburg (1783–1790). In: Schweizer Ingenieur und Architekt 21 (1999), S. 27–32. 22 Dies.: Eine Arteplage im Vierwaldstättersee. Gedanken zum ersten schweizerischen Nationaldenkmal (1783–1796). In: Expo-Syndrom? Materialien zur Landesausstellung 1883–2002. Hg. v. Georg Kohler und Stanislaus von Moos. Zürich 2002, S. 207–215.



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Marienburg 1772–1817: Ouvertüre Im Gegensatz zur Hohkönigsburg, deren bauliche Restaurierung ab 1901 nach einem ausgefeilten Konzept in wenigen Jahren abgeschlossen war, unterlag die Wiederherstellung der Marienburg einem langen Prozess. In über 150 Jahren, zwischen 1772 und 1910/22, wurde im Umgang mit der Marienburg ein gedanklicher Weg, vom störenden Ärgernis zum gefeierten Nationaldenkmal, durchlaufen. Beide Burgwiederherstellungen wurden übrigens in weiten Teilen fast gleichzeitig kurz vor dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen. Anno 1794, inzwischen regierte der Hohenzollernkönig Friedrich Wilhelm II., dessen Tochter Julie von Brandenburg-Dönhoff (1793–1848) gerade fernab vom offiziellen Berliner Hofleben in Neuenburg (!) geboren war,23 unternahm der preußische Regierungsbaumeister David Gilly (1748–1808) in Begleitung seines Sohns Friedrich (1772– 1800) eine Dienstreise zur ruinösen Marienburg, die unter polnischer Herrschaft als Kaserne militärischen Zwecken gedient hatte und dies auch weiterhin unter Preußen tat. Die Hohkönigsburg war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine herabgekommene Halbruine, aber hier geschah bis auf Weiteres nichts. Bei der Marienburg war das anders. Vater David war aus Kostengründen für einen Abbruch, doch Sohn Friedrich erkannte durch all den äußeren Zerfall die alte Majestät der Ordensarchitektur. Er zeichnete sie und stellte 1795 seine Blätter in Berlin aus. Das dann 1799/1803 mit Kupferätzungen in Aquatintamanier von Friedrich Frick veröffentlichte Werk zeigte neben dem aktuellen Zustand auch Wiederherstellungsphantasien (Abb. 7). Diese Aktion mobilisierte die öffentliche Meinung zugunsten der Erhaltung des alten Ordensbauwerks. Romantiker erkannten deren historischen und künstlerischen Wert. Der Tilsiter Student Max von Schenkendorf legte durch einen Aufruf zur Erhaltung der Marienburg am 26. August 1803 nach, und knapp ein Jahr später erging eine königliche Kabinettsorder durch Friedrich Wilhelm III. von Preußen für Schutz und Erhaltung der Marienburg. Der geplante Abriss wurde eingestellt, und die preußische Bauverwaltung monierte hinter geschlossenen Türen, die Zeichnungen Gillys seien schöner als der Bau. Es war die erste Unterschutzstellung dieser Art in deutschen Landen und der Auftakt der preußischen Denkmalpflege, doch lange Zeit geschah trotz königlicher Order auch auf der Marienburg nichts. Während der den Wiederaufbau der Marienburg vorbereitenden Phase zwischen 1804 (formale Unterschutzstellung) und 1817 (Beginn der Bauarbeiten) nahmen in breiten Bevölkerungskreisen politische Sensibilität, historisches Bewusstsein und damit einhergehend Interesse an denkmalpflegerischen Fragen zu. 23 Eintrag vom 24. Januar 1793 im Neuenburger Taufregister: „Julie Wilhelmine Comtesse de Brandebourg […], née le 4e dit, fille de Sa Majesté Fredrich Guillaume Second Roy de Prusse, & de Madame la Comtesse, Sophie Julie Frédérique Wilhelmine de Dönhoff. Parrain, Sa Majesté Fredrich Guillaume Second, Père de l’Enfant.“ Registre des baptêmes, 1793, Nr. 9, S. 333, Archives d’Etat de Neuchâtel, Neuchâtel. Ihre Mutter war die in morganatischer Ehe mit König Friedrich Wilhelm II. vermählte Gräfin Sophie Juliane Friederike von Dönhoff (1768–1834), die später mit Tochter Julie wieder nach Ostpreußen zog.

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Abb. 7  Marienburg, „Kapitel Saal im vormaligen Zustande“. Kupferstich von Friedrich Frick, 1799.

Der bedeutendste deutsche Architekt seiner Zeit, Karl Friedrich Schinkel, war auch ihr bedeutendster Denkmalpfleger. Das oben dargestellte wachsende historische Interesse war Folge einer Zerstörungswelle, wie sie Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr gekannt hatte. Nicht nur die Heere der Französischen Revolution und Napoleons zogen Zerstörungen nach sich, mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden zudem die geistlichen Fürstentümer aufgelöst. Die enteigneten Gebäude standen leer, verfielen, wurden umfunktioniert oder geschliffen. Bis 1805 sollen laut einem Inspektionsbericht Schinkels allein um Marienwerder zwölf Deutschordensburgen abgebrochen worden sein. Kunstdenkmäler waren für Schinkel ein öffentliches Gut, ihre Erhaltung von öffentlichem Interesse. Früh erkannte Schinkel die Notwendigkeit einer im Staatsapparat verankerten Schutzbehörde und legte 1815 der preußischen Regierung sein fundamentales Memorandum über Ziel und Struktur einer sachgerechten staatlichen Denkmalpflege vor. Er forderte weit vorausblickend eine ministerielle Fachbehörde, hauptamtliche Konservatoren und die systematische Inventarisation. Denn nur wer weiß, was überhaupt vorhanden ist, kann wirkungsvoll schützen. Die große Denkschrift hatte eine königliche Kabinettsorder vom 14. Oktober 1815 zur Folge, die besagte, dass bei wesentlichen Veränderungen an öffentlichen Gebäuden oder Denkmälern die Oberbaudeputation und im Zweifelsfall der König persönlich informiert werden müsse. 1835 ging die Zuständigkeit für die preußische Denkmalpflege von den



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Baubehörden an das Kultusministerium über und der Bereich möglicher Schutzobjekte wurde merklich erweitert. Auch in Frankreich wurde in dieser Zeit (1837) eine zentrale staatliche Denkmalpflege in Paris, die Commission des monuments historiques, ins Leben gerufen. Ab 1808 beschäftigte man sich derweil am Rhein mit dem seit dem 16. Jahrhundert unvollendet dastehenden Kölner Dom. Wie kurz zuvor Friedrich Gilly für die Marienburg machten der Kölner Sulpiz Boisserée und der Darmstädter Georg Moller in Köln Aufmaßarbeiten, historische Recherchen und Rekonstruktionsvorschläge und veröffentlichten diese. Seit dem Sieg über Napoleon und der preußischen Herrschaft über den Rhein wurde die Beschäftigung mit dem Kölner Dom – anfänglich auf lokalpatriotische Mittelalterverehrer beschränkt – die Sache der Nation. Joseph Görres stellte im „Rheinischen Merkur“ das Weiterbauen der unvollendeten gotischen Kirche am Rhein als nationale Tat der Deutschen unter preußischer Führung dar, denn „wer soll Teutschland halten und schirmen, wenn Preußen es nicht schirmt und hält“.24 Das entsprach dem neuen Denkmalkonzept, denn nicht ein eigens errichtetes Monument, wie noch der Schweizer Tell-Obelisk, sondern eine zu vollendende Bauruine sollte Zeugnis der neu gewonnenen nationalen Einheit und Freiheit werden. Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., ließ sich 1815, beflügelt von den Pariser Kapitulationsverhandlungen mit Napoleon, für die Domvollendung begeistern, auch Schinkel war aus politischen Gründen dafür, und Wilhelm von Humboldt riet: „Es wäre das schönste Monument, das die preußische Herrschaft über den Rhein sich selbst setzen könnte.“25 Es stand bald außer Frage, dass der Kölner Dom das Nationaldenkmal der Deutschen schlechthin war, wovon und wofür er Denkmal sein sollte, war dann schon weniger klar. Die konkreten Wiederaufbauarbeiten wurden 1842 begonnen, nachdem Friedrich Wilhelm IV. 1840 den Thron bestiegen hatte. Der Dom wurde 1880 fertiggestellt, kurz bevor 1882 die zweite Etappe auf der Marienburg unter Conrad Steinbrecht beginnen sollte. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Wiederherstellung der Denkmalkirche am Rhein im Westen und der Denkmalburg an der Nogat im Osten sich in ihrer Geschichte der Denkmalwerdung gegenseitig befruchtet haben, zumal teilweise dieselben Personen wie etwa Schinkel beteiligt waren.

Marienburg 1817–1839: erster Akt des Wiederaufbaus  unter Schinkel (Phase 1) 1813 wurde beschlossen, die Marienburg zu erneuern. Ihr offizieller Wiederaufbaubeginn war der Geburtstag von Friedrich Wilhelm III. am 3. August 1817. Im Jahr 1819 erschien der erste Schlossführer. Gleichzeitig besuchte der Gilly-Schüler Schinkel die Marienburg. Er verwandte sich bei Staatskanzler Karl August von Hardenberg für die Wiederherstel24 Rathke, Ursula: Preußische Burgenromantik am Rhein. Studien zum Wiederaufbau von Rheinstein, Stolzenfels und Sooneck. München 1979, S. 10. 25 Denkmalpflege (wie Anm. 15), S. 41.

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lung des „höchst originellen Monuments altdeutscher Baukunst“.26 Schinkel verglich die Marienburg mit dem Dogenpalast zu Venedig, den Rathäusern zu Löwen (fläm. Leuven, frz. Louvain) und Brüssel und der Burg Karlstein (Karlštejn) bei Prag. Er urteilte über die gotische Architektur der Marienburg: „Die Schönheit der Verhältnisse, die Kühnheit der Gewölbe im Remter und Rittersaale, die Originalität und Consequenz der Facaden am Hauptgebäude des Mittelschlosses sucht man anderswo überall vergeblich. […] Leute aus allen Ständen erbauen sich in den bereits herrlich prangenden Sälen und erfreuen sich am Fortgange und an den neuen Gestaltungen, welche man nach und nach ans Licht zu ziehen sucht. Es wird die sorgfältige Wiederherstellung des Schlosses einen bedeutenden Einfluss auf den Kunstsinn in diesem Lande haben.“27 In dieser ersten Bauphase beschäftigte man sich ausschließlich mit dem Mittelschloss. Der Marienburger Pfarrer Wilhelm Ludwig Häbler hatte seit 1794 eine mehrbändige historische Baudokumentation zusammengestellt. Schinkel entwarf 1822–1828 den Sommerremter im Hochmeisterpalast, der Architekt Johann Conrad Costenoble aus Magdeburg hatte auf Anregung Schinkels die Pläne gezeichnet. Vor Ort war Theodor von Schön rührig, der sich als preußischer Oberpräsident von Danzig für den Wiederaufbau einsetzte und erfolgreich an die Spendenfreudigkeit des Bürgertums für diese als Gegenstück zum Kölner Dom angesehene nationale Aufgabe appellierte. In dieser ersten Phase wurden der Große Remter sowie der Hochmeisterpalast mit Sommerremter, Winterremter, der Hochmeisterwohnung und den Glasmalereien zur Ordensgeschichte wiederhergestellt. Alles andere hielt man zu diesem Zeitpunkt für nicht mehr erneuerungsfähig. Außerhalb Ostpreußens stand die Zeit nicht still. Das Burgenbaufieber hatte auch anderswo um sich gegriffen. In der nun preußischen Rheinprovinz im Westen Deutschlands wurde die Ruine Rheinstein 1825–1829 als erste Burg am Rhein für Prinz Friedrich von Preußen wiederaufgebaut. Beteiligt waren hierbei neben Schinkel die Architekten Johann Claudius von Lassaux und Wilhelm Kuhn. Die Burg war für die Sommerfrische und für Jagdaufenthalte der hohen Besitzer vorgesehen, es wurden Ritterspiele abgehalten und das neu entdeckte Mittelalter spielerisch inszeniert, denn wie ein zeitgenössischer Bediensteter einem neugierigen Touristen berichtete: „Wenn der Prinz da ist, gehen wir alle im Mittelalter!“28 Mit dem zwischen 1834 und 1849 erbauten Schloss Babelsberg bei Potsdam hatte Schinkel den neugotischen Tudorstil aus England nach Deutschland getragen. In Anlehnung an das 1824 begonnene britische Windsor Castle von Jeffry Wyatville entstanden auf dem Kontinent nach dem Vorbild von Babelsberg dann eine Reihe von königlichen und kaiserlichen Residenzen wie Hohenschwangau in Bayern, Pierrefonds in Frankreich oder die welfische Marienburg bei Hannover (Abb. 8 und 9). Die Aufzählung dieses gothic revival ist bei Weitem nicht vollzählig. Gleichzeitig mit Babelsberg entstand im Rahmen der preußischen Burgenromantik am

26 Ebd., S. 49. 27 Ebd., S. 51. 28 Rathke (wie Anm. 24), S. 33.



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Abb. 8  Die Marienburg der Welfen bei Hannover, Bibliothek. Postkarte.

Abb. 9  Die Marienburg der Welfen bei Hannover, Ansicht. Postkarte.

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Rhein Schloss Stolzenfels.29 Die Rheinruine wurde 1836–1842 für Kronprinz Friedrich Wilhelm (den späteren König Friedrich Wilhelm IV.) in englischer Neugotik wiederhergestellt. Der spätere „Romantiker auf dem Thron“ wollte seinem Vetter Prinz Friedrich nicht nachstehen. Angesichts einer Burg an den Rheinufern rief er schon 1815 begeistert aus: „Nein welch ein Schloss, welch eine Lage!!! Welch eine Wohnung!!!! O Dio – dies ist die schönste Gegend von allen deutschen Landen!!!!!!!“30 1842 thronte die Burg in neuer Frische über dem Rhein. In dem Jahr, als Stolzenfels frisch restauriert dastand, besuchte Friedrich Wilhelm IV., inzwischen regierender Monarch, in Begleitung seiner Gemahlin Elisabeth sein Besitztum Neuenburg und wurde dort von der wohlhabenden Bourgeoisie, die reichlich mit preußischen Adelstiteln versehen war, mit allem Prunk empfangen. Hier, im calvinistischen Welschland, dem es unter der preußischen Herrschaft wirtschaftlich gut ging, wurde das Königspaar bejubelt und, so berichten Zeitgenossen, „le sentiment monarchique est profondément enraciné dans le cœur de son peuple.“31 Rheinaufwärts war das Verhältnis der katholischen Rheinländer zu Preußen weniger euphorisch, Stolzenfels aber wurde gerade deshalb in seiner politischen Bedeutung und symbolischen Denkmalhaftigkeit in den nun preußisch gewordenen Rheinlanden durchaus als westliches Gegenstück zur Marienburg begriffen. Was in der Marienburg in einem Denkmal vereinigt war, das Sakrale einer Kirche und das Wehrhafte einer Burg, war am Rhein sozusagen zweigeteilt im Kölner Dom und im Schloss Stolzenfels. 1837, ein Jahr nach Beginn des Stolzenfelser Wiederaufbaus, rückte der vielbeschäftigte Ferdinand von Quast, der in den 1840er Jahren auch Pläne für den Wiederaufbau der thüringischen Wartburg32 vorlegte und 1843 unter Friedrich Wilhelm IV. der erste amtliche preußische Denkmalpfleger wurde, in einem „Pro Memoria in bezug auf die Erhaltung der Altertümer in den Königlichen Landen“ die Marienburg als Vorbild einer beendeten Restaurierung ins rechte Licht: „Die anbefohlene und zum großen Teil beendete Restauration des Schlosses zu Marienburg, der prächtigsten Ritterwohnung, welche vielleicht jemals existierte, gibt uns die schönste Gewährleistung der Munificenz gerade in dieser Beziehung. Der schirmenden Sorgfalt unseres Königs sind die Denkmale anvertraut, welche teils die heiligsten Erinnerungen unserer gemeinsamen vaterländischen Geschichte bezeugen, teils aber die höchste Blüte der früheren Kunst offenbaren.“33 Quast formulierte in seinem Text eine sehr weitsichtige, auf Bestandserhalt und vorsichtige Ergänzungen angelegte Denkmalpflegetheorie, wie sie erst sehr viel später – nach 1900 – mit Georg Dehio, Alois Riegl und Albert Naef offizielle Doktrin werden

29 Von der Dollen, Busso: Preußische Burgenromantik am Rhein. In: Burgen in Mitteleuropa (wie Anm. 19), S. 169 f. 30 Rathke (wie Anm. 24), S. 47. 31 Anonym: Relation du séjour de LL. MM. le Roi et la Reine de Prusse, dans leur Principauté de Neuchâtel et Valangin. Neuchatel 1842, S. 166. 32 Neuromanischer Wiederaufbau der Wartburg unter Hugo von Ritgen 1853–1859. 33 Ferdinand von Quast zitiert nach: Denkmalpflege (wie Anm. 15), S. 83.



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sollte.34 1839 war mit der Erneuerung des Mittelschlosses auf der Marienburg die erste Phase beendet; der Rest der riesigen Anlage lag noch in seiner ganzen Verwahrlosung darnieder.

Marienburg 1839–1882: Erfrischungspause vor dem zweiten Akt Es verstrichen 43 Jahre, bevor die zweite Restaurierungsphase auf der Marienburg 1882 beginnen sollte. Es war die Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. von Preußen und nach dessen Tod 1861 die seines jüngeren Bruders Wilhelms I. In diesen Jahren des Luftholens agierte der „Romantiker auf dem Thron“. Im Westen stand die Hohkönigsburg noch auf französischem Boden und dominierte als romantische Großruine die Vogesen über dem oberen Rheintal. Sie war 1821 ins Visier des Architekten Eugène Viollet-le-Duc gerückt, Poeten und Maler würdigten die romantischen Baureste in Wort und Bild, doch erste französische Wiederaufbauträume verliefen mangels Geldmitteln im Sand.35 Im Osten aber schlief man nicht. Auf der Marienburg wurden Schritt für Schritt die Grundlagen für weitere Wiederherstellungsmaßnahmen vorbereitet. 1844 würdigte der Dichter Joseph Freiherr von Eichendorff die bisherigen Wiederherstellungsarbeiten als Zeugen der Wiedergeburt des deutschen Patriotismus. Auch waren verschiedene historische Studien entstanden – etwa zum Bau selbst oder zur Ordensarchitektur als solcher.36 1850 publizierte Ferdinand von Quast die Baugeschichte der Marienburg, und der Berliner Stadtbaumeister und Professor für mittelalterliche Architektur Hermann Blankenstein machte 1855 mit seinen Studenten Bauaufnahmen.37 Dieses gesteigerte Interesse für die Marienburg kam vor dem Hintergrund einer sich in Europa stetig ausbreitenden Burgenrenaissance auf, die im mittleren 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt verzeichnen konnte. Einige Bauten sollten das hier illustrieren. Die Burg Hohenzollern wurde 1850–1865 für König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen und Hechingen als Hohenzollernstammburg in Württemberg im Süden Deutschlands, dem Kernland der Hohenzollern, von Friedrich August Stüler neugotisch errichtet. Diese national-dynastische Denkmalburg war an den Stammburggedanken gebunden, mit dem die adeligen Bauherren ihrem 34 Wohlleben, Marion: Konservieren oder restaurieren? Zur Diskussion über Aufgaben, Ziele und Probleme der Denkmalpflege um die Jahrhundertwende. Zürich 1989. 35 1856 träumte der Elsässer Louis Spach von einem Wiederaufbau der Hohkönigsburger Ruine. 1857 fand in Straßburg der Congrès archéologique de France statt, die Frage einer Restaurierung wurde aufgeworfen. 1870 legte der Architekt Charles Winkler eine Rekonstruktionsidee vor. 36 Zwischen 1819 und 1824 Studien von Ludwig Lucas, Johann Gustav Gottlieb Büsching, Johannes Voigt, Friedrich Wilhelm Schubert. 37 Hermann Blankenstein (* 1829), Lehrer an der Berliner Bauakademie für mittelalterliche Architektur, war befreundet mit Friedrich Adler, dessen Schüler Heinrich von Geymüller aus Basel mit Jakob Burckhardt in Kontakt stand. Blankenstein konnte also Äußerungen aus Burckhardts Basler Vorlesungen gekannt haben. Denkmalpflege (wie Anm. 15), S. 18.

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Abb. 10  Das wiederaufgebaute Pierrefonds bei Compiègne. Aufnahme kurz vor 1900.

aristokratischen Selbstdarstellungsbedürfnis nachkamen und um die Anciennität ihrer Herkunft konkurrierten. Denn eines hatte der gesellschaftlich absteigende Aristokrat den historischen Newcomern aus dem Bürgertum voraus: Stammbaum und Geschichte, die ins Mittelalter zurückreichten. Auch Stile hatten ihre symbolische Bedeutung und waren Identitätsträger. So wurde das Schloss Pierrefonds bei Compiègne (Abb. 10) in Nordfrankreich 1856 bis 1864 von Violett-le-Duc in programmatischer wissenschaftlicher Neugotik des 14. Jahrhunderts für Kaiser Napoleon III. auf einigen Ruinenresten neu erbaut. Sein 1854–1868 erschienenes „Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle“ war jedem Architekten vertraut, der etwas auf sich hielt. Nur wer die Geschichte und ihre Baustile gut kannte, konnte sie anwenden, wenn nicht gar verbessern. Diese idealisierende Stildoktrin, die unité de style (Stileinheit, Stilreinheit), war denkmalpflegerisches Gebot des reifen Historismus. Zeitgleich mit Pierrefonds wurde die niedersächsische Marienburg südlich von Hannover durch den Neugotiker Conrad Wilhelm Hase errichtet. Als Freizeitresidenz des hannoverschen Königshauses 1858 begonnen, wurde das Welfenschloss allerdings nicht fertiggestellt, da Hannover 1866 gegen seinen Willen preußisch und damit dieser Dynastensitz politisch obsolet wurde. Die heute dank Walt Disney weltweit berühmteste Wiederherstellung ist ohne Zweifel das bayerische Schloss Neuschwanstein. Die Burg wurde unter dem Einfluss Richard Wagners von dem Münch-



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ner Bühnenmaler Christian Jank für den bayerischen König Ludwig II. vor einer atemberaubenden Bergkulisse in den 1870er Jahren von Grund auf neu errichtet. Neuromanik und Neugotik wurden hier phantasievoll zu einem Gesamtkunstwerk aufgemischt, in welchem die Inszenierung von Geschichte und Mythen zu einer märchenhaften Theaterburg nachhaltig gelang. Auf einen kunsthistorisch abgesicherten „wissenschaftlichen“ Idealstil, wie bei Pierrefonds, wurde zugunsten stimmungsvoller Fernwirkung verzichtet.

Marienburg 1882–1922: zweiter Akt des Wiederaufbaus  unter Steinbrecht (Phase 2) Mit Conrad Steinbrecht (1849–1923) begann 1882 die zweite Restaurierungsphase auf der Marienburg, die durch die Blankenstein’schen Bauaufnahmen am Hochschloss und die Forschungen an anderen Ordensburgen durch Steinbrecht selbst gut vorbereitet war. Was passierte im restlichen Deutschland? Mit Neuschwanstein hatte sich der Späthistorismus mit seiner Stilvielfalt angebahnt, der nicht mehr den „reinen“ Stil, sondern das stimmungsvolle Alter an und für sich suchte. Diese Sucht nach Stimmung konnte sich um 1900 auch in einem neuen denkmalpflegerischen Ruinenkult niederschlagen, bei dem, wie im Fall des Heidelberger Schlosses, auf eine weiterführende Rekonstruktion verzichtet wurde. Das aber blieb die Ausnahme, meist wurde doch irgendwie „rekonstruiert“, nur musste man das jetzt begründen. Steinbrecht ging daher in seiner Rechtfertigung der zweiten Wiederherstellungsphase der Marienburg auf den Heidelberger Streitfall ein und erklärte, warum man die Heidelberger Entscheidung gegen den Wiederaufbau und für die Bewahrung der pittoresken Ruinenteile nicht auf die Marienburg anwenden könne, denn „das mag durch Gegenüberstellung der grundverschiedenen Bedingungen dort und hier beantwortet werden. Die eigenartige Schönheit des Heidelberger Schlosses beruht wesentlich in der malerischen Wirkung der Ruinen und in deren landschaftlich bevorzugter Lage. Eine völlige oder theilweise Wiederherstellung des Schlosses würde diese Reize vernichten. […] Die Marienburg dagegen war, wie wir gesehen, zum Kornspeicher erniedrigt, zum nüchternen überputzten Steinkasten, an dem das schärfste Auge, die kühnste Phantasie machtlos abglitten. Ringsum starrte das Bauwerk vom Schmutz der Verwahrlosung und ragte schwer über Äcker und Triften der Niederung hervor: ein packender Eindruck, aber verbunden mit einer drückenden Empfindung, dass hier arge Vernachlässigung an dem Bau und an der deutschen Sache gut zu machen sei!“38 Ähnlich hatte auch Graf Hans von Wilczek, ein dem Habsburgerhof nahestehender österreichischer Aristokrat, Kunstsammler und Mäzen, für sich selbst argumentiert, als er den Wiederaufbau seiner Ruine Kreuzenstein bei Korneuburg an der Donau (Abb. 11 und 12), von der nur noch kümmerliche Baureste auszumachen waren, 1874 in Angriff nahm und nach vierzig Jahren Bauzeit 1914 38 Steinbrecht, Conrad: Die Wiederherstellung des Marienburger Schlosses. In: Centralblatt der Bauverwaltung 36 (1896), S. 405 f.

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Elisabeth Crettaz-Stürzel Abb. 11  Kreuzenstein als Ruine vor dem Wiederaufbau mit Graf Wilczek und Hund. Aufnahme von Wilhelm Burger, um 1865.

Abb. 12  Kreuzenstein nach der Wiederherstellung, Nordseite. Aufnahme von Wilhelm Burger, 1913/14.

abschloss.39 Wilczek rechtfertigte sein neumittelalterliches Bauwerk in seiner Schrift „Meine Ansichten über Konservierung und Restaurierung alter Kunstwerke“ (1908), indem er den Kreuzensteiner Wiederaufbau nicht zu der „Kategorie der Restaurierungen“ rechnete, denen wie bei der Hohkönigsburg, der Marienburg oder Schloss Tirol archäologische, kunsthistorische oder patriotische Zwecke zugrunde lägen, sondern ihn als Neubau darstellte, bei dem es keine denkmalpflegerischen Rücksichten einzuhalten gelte.40 Sein château composé war eine private Museumsburg und vereinigte in bewusster Stilvielfalt Teile von der Romanik bis zur Renaissance. Es entstand ein stimmungsvolles Mittelalter, das Riegls Kategorie des Alterswerts im Grunde ad absurdum führt. Nach Bedarf wurde durch künstliche Patina, beispielsweise durch gekochte Spinnenweben, die Neuanfertigungen „echt alt“ aussehen ließen, der Harmonie des atmosphä-

39 Nierhaus, Andreas: Kreuzenstein. Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne. Wien 2014. 40 Castellani Zahir (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 28.



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Abb. 13  Marienburg, Gesamtansicht von der Nogatseite, Conrad Steinbrecht, 1896.

rischen Alten (Aura) nachgeholfen.41 Kreuzenstein diente Graf Wilczek als Repräsentationssitz und Familiengrabstätte. Er ließ sich inspirieren von den Wiederherstellungen der Wartburg, Neuschwansteins und der ungarischen Burg Vajdahunyad (dt. Eisenmarkt, rum. Hunedoara, heute in Rumänien – siehe den Beitrag von Radu Lupescu in diesem Band). Wilczek war Mitglied der Wiener Zentralkommission für Denkmalpflege und unterhielt persönlichen Kontakt zu den Promotoren der neuen Denkmalpflegedoktrin um 1900 – Georg Dehio (Straßburg), Alois Riegl (Wien) und Albert Naef (Lausanne) – wie auch zu den beiden verfeindeten Burgenforschern Otto Piper (München) und Bodo Ebhardt (Berlin). Da der Wiener Graf, reiselustig und polyglott, alle wichtigen Burgwiederherstellungen seiner Zeit kannte, mit Kaiser Wilhelm II. in regelmäßigem Austausch stand und beide Männer sich gegenseitig besuchten, muss davon ausgegangen werden, dass Wilczek die Steinbrecht’sche Restaurierung der Marienburg im Osten des Deutschen Reichs aufmerksam verfolgte. Die Rechtfertigung der Fortführung der viele Jahre unterbrochenen Bauarbeiten auf der Marienburg ab 1886 (Abb. 13–15) wurde anhand der Auseinandersetzung um das Heidelberger Schloss geschärft. Im Mittelpunkt von Steinbrechts Argumentation standen die überragende historische Bedeutung für die Nation und der noch relativ intakte Baubestand der Marienburg. Dazu kam, wie auf der Hohkönigsburg, eine reichhaltige archivalische Quellenlage mit Amtsinventaren, Gebäudebeschreibungen und Wirtschaftsrechnungen, in denen die ehemaligen festen wie beweglichen Einrichtungen 41 Wilczek berichtet: „Der Künstler teilte mir auch ein ganz unbekanntes Rezept mit, der Mosaikoberfläche eine schöne Patina zu geben: man nimmt so viel Spinngewebe, als es möglich ist aufzubringen, kocht es und bestreicht mit dieser schleimigen Flüssigkeit das Mosaik – probatum est!“ Zit. nach: ebd., S. 18.

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Elisabeth Crettaz-Stürzel Abb. 14  Marienburg, restauriertes Hochschloss, Conrad Steinbrecht, 1896.

Abb. 15  Marienburg, Grundriss des zweiten Obergeschosses im Hochschloss, Conrad Steinbrecht, 1896.



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verzeichnet waren. Diese historischen Ortsquellen wurden ergänzt durch eine vergleichende Erforschung anderer Ordensbauten „wie in den Schlossruinen Rheden, Schwetz, Balga und Brandenburg“.42 Steinbrechts Originalton im „Centralblatt“ der preußischen Bauverwaltung 1896 (gekürzt): „Ohne Frage ist der geschichtliche Hintergrund der Marienburg ein wichtigerer und wuchtigerer als der Heidelbergs. In der Marienburg verkörpert sich das Wesen des aus ganz Deutschland hervorgegangenen Ordensstaates, die Geschichte des deutschen Ostens überhaupt. Es geht ein kühner Zug durch Maßstab und Constructionsweise; da ist jeder Raum durch sorgfältigen, sinnigen Schmuck beschaulich und vornehm gestimmt. Es ist mit einem Wort ein Schöpfungsbau, und den müssen wir uns mit allen Mitteln handgreiflich wiederherstellen: nicht bloß verständlich für den Kenner, sondern anschaulich für das Volk. Schließlich liegen auch die technischen Bedingungen für eine archäologisch getreue Erneuerung in Marienburg günstiger als in Heidelberg. In Heidelberg fehlt zu viel Gemäuer. Wetterunbilden und Materialverschleppungen nahmen es zu sehr mit. Dagegen gab ein Backsteinbau wie die Marienburg kein lohnendes Abbruchmaterial; der Bestand an Mauern ist daher größer geblieben. Sie lagen auch mit geringer Ausnahme immer unter Dach. Die bei Umbauten herausgeschlagenen Zierrathen und Formen blieben als Füllmaterial in Mauerhöhlen, Kellern und Gräben liegen und können aus dem Schutt wiederhervorgezogen werden.“43 Steinbrecht war nicht so naiv zu glauben, aufgrund der günstigen Voraussetzungen eine unfehlbare Rekonstruktion vornehmen zu können, und gab unumwunden zu, dass „auch in Marienburg bei den 1882 begonnenen Arbeiten zunächst manche Unvollkommenheiten sich herausstellten. Die Voruntersuchungen genügten nicht, eben Gebautes erwies sich hinterher als falsch, die Ergänzungen an Malereien und Glasfenstern in der Kirche wollten nicht befriedigen, die Ziegel- und Mauertechnik fielen bei aller Sorgfalt und gerade wegen übertriebener Sorgfalt unangenehm gegen das Alte ab.“44 Neue Bauuntersuchungen und vergleichende Forschung sollten Abhilfe schaffen. Der Dom in Kulmsee (Chełmża) wurde unter die Lupe genommen sowie die alte Backsteintechnik an der Marienburg genauer untersucht und die Herstellungsverfahren verbessert. 1885 besichtigte Kronprinz Friedrich, der nachmalige 99-Tage-Kaiser Friedrich III. (1888), die Marienburg. Sein Interesse gab der Restaurierung neuen Elan, und sein Einfluss ließ die notwendigen Staats- und Lotteriegelder fließen, sodass ab 1886 der Baubetrieb zur „gründlichen Wiederherstellung“ (Steinbrecht) des ganzen Hochschlosses anlief. Es ist in einzelnen Bauabschnitten vorgegangen worden, etwa einem Gebäudeflügel, einem Saal oder einem Turm. Dieses Teilstück wurde nach der für Staatsbauten vorgeschriebenen Form veranschlagt, ausgeführt und abgerechnet, sodass jeder Zeit eine klare Übersicht herrschte. Für das Hochschloss kamen bis 1896 allein vierzig derartige Bauanschläge zusammen. Die Arbeit wurde in jährlichen Kommissionssitzungen besprochen und, wie in dem noch weiter unten zu erwähnenden Schloss Chillon, 42 Steinbrecht (wie Anm. 38), S. 406. Steinbrecht publizierte 1885–1920 in Berlin sein mehrbändiges Werk „Die Baukunst des deutschen Ritterordens in Preußen“. 43 Ebd. 44 Ebd.

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durch eine Art Baujournal mit Fotografien dokumentiert. Die Marienburger Ansichten gehören zu den ältesten systematischen Aufnahmen der Messbildanstalt Berlin. Man begann mit dem äußerlich am besten erhaltenen Teil des Hochschlosses, dem Kapitelsaal mit dem Schlosstor unten. Interessant ist die Arbeitsweise, die Steinbrecht genau beschreibt: „Erst nahm man, von oben beginnend, alle späteren, nicht dem Mittelalter entstammenden Zuthaten heraus, versteifte alle überbleibenden alten Mauerbrocken sorgfältig mit Holz, sichtete die Fundstücke und beseitigte unten die Schuttmassen. Dann wurde von unten nach oben die gröbste Unterfangung der Mauern bzw. der Ersatz der Holzstreifen vorgenommen und oben Dach und Giebel in ursprünglicher Form aufgesetzt. Wieder von oben nach unten arbeitend, besserte man nun die Einzelheiten der Wände mit den unterdes nachgebildeten Formsteinen und Zierrathen aus, um schließlich zum vierten und letzten Mal den Weg zu machen, indem die Einwölbung der verschiedenen Geschosse sich von unten nach oben vollzog.“45 Wiederhergestellt wurden zwischen 1886 und 1910 die Marienkirche, die Gewölbe im Kapitelsaal und Kreuzgang, die Burgkapelle, der Pfaffenturm (neues Obergeschoss), die Nord- und Ostflügel, die Großkomturei, die Lorenzkapelle und die Hofmeisterkapelle. Es schlossen sich weitere Arbeiten in der Gesamtanlage an, im Westflügel des Mittelschlosses beispielsweise an der Bartholomäuskapelle. Über die Kriegsjahre hinweg bis 1922 wurde mit der Wiederherstellung der Dächer die Restaurierungsphase unter Steinbrecht abgeschlossen, der kurz darauf verstarb. Auf Darstellung und Bewertung einzelner Baumaßnahmen soll an dieser Stelle verzichtet werden. Heinrich Knapp und verschiedene polnische Forscher nach 1945 haben hierzu hinreichend Material veröffentlicht.

Konkurrenz im Welschland: Schloss Chillon am Genfer See Um 1900 hatte die Burgenrenaissance hinsichtlich der Anzahl von Burgwiederherstellungen ihren Höhepunkt erreicht. Ein Beispiel, das an den Rändern der Gebiete deutscher Zunge lag, soll den internationalen Aspekt der grenzüberschreitend vernetzten Burgenrenaissance illustrieren: Schloss Chillon in der französischen Schweiz (Abb. 16). Das malerisch auf einem Felsen am Ostufer des Genfer Sees gelegene Schloss wurde von der Republik und vom Kanton Waadt in den Jahren 1890 bis 1908 unter Leitung einer Baukommission im Sinne der sich formierenden neuen Denkmalpflegedoktrin unter dem Aspekt des Bestanderhalts bei zurückhaltenden Ergänzungen restauriert.46 Die mittelalterliche Bausubstanz dieser ehemaligen Savoyerburg, die in den Reformationswirren im 16. Jahrhundert an das protestantische Bern gelangte, war wie bei der Marienburg noch relativ gut erhalten. Die Wiederherstellung war politisch motiviert, denn Schloss Chillon wurde in den Waadtländer Befreiungskriegen gegen Bern 1803 45 Ebd., S. 412. 46 Bertholet, Denis/Feihl, Olivier/Huguenin, Claire: Autour de Chillon. Archéologie et restauration au début du siècle. Lausanne 1998.



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Abb. 16  Schloss Chillon, Ansicht vom See. Aufnahme von Frédéric Boissonnas, 1908.

der Berner Herrschaft entrissen und alsbald zum Wahrzeichen des neuen republikanischen Kantons hochstilisiert.47 Stolz prangte im 19. Jahrhundert das weiß-grüne Waadtländer Kantonswappen Patrie et Liberté auf der Seefassade. Die beteiligten Fachleute Johann Rudolf Rahn, Albert Naef und Heinrich von Geymüller, ein Schüler von Jakob Burckhardt, verkehrten in internationalen Denkmalpflegekreisen. Der Archäologe Naef aus Lausanne, ein republikanischer waadtländischer Patriot, verehrte Kaiser Wilhelm II. und dessen Architekten Bodo Ebhardt48, den Wiener Grafen Hans von Wilczek und Georg Dehio. Sie kannten sich alle zwischen Danzig, Straßburg, Berlin, Wien und 47 Zur „preußischen“ Burgenrenaissance in der Schweiz siehe Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Der Traum vom eigenen Schloss. Burgenrenaissance in der Schweiz 1800 bis 1920 [erscheint voraussichtlich 2017 in Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters, hg. v. Schweizerischem Burgenverein]. 48 Naef, Albert: Souvenir du dimanche 28 avril 1907 au Château de Hohkönigsburg. Lausanne 1907.

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Lausanne. Der Kreis der Burgenerneuerer um 1900 verband Republikaner und Royalisten, Bürger und Adelige, Katholiken und Protestanten, Laien und Professionelle aufs Seltsamste. Ebhardt besuchte 1901 Chillon und ließ sich von dem archäologisch fundierten Restaurierungsansatz für seine Hohkönigsburg inspirieren, zum Beispiel übernahm er bei Ergänzungen die in die Steine eingemeißelten Jahreszahlen von 1901 bis 1908, um korrekt alt und neu zu unterscheiden.49

Die Hohkönigsburg Die Hohkönigsburg wurde als westliche Grenzfeste am Fuße der Vogesen und als Gegenstück zur Marienburg durch Ebhardt von 1901 bis 1908 für Kaiser Wilhelm II. restauriert. Zu diesem Zeitpunkt waren auf der Marienburg die Hauptarbeiten unter Steinbrecht im Großen und Ganzen abgeschlossen, und es war inzwischen eingetreten, was dieser noch 1896 als Wunsch formuliert hatte: „So dürfen wir bei solcher Zeiten Gunst wohl hoffen, daß in absehbaren Jahren auch das Hochmeisterschloß seine Vollendung erfährt: getreu in alter Gestalt, erhaben aber zu neuen, monumentalen Würden als kaiserliches Schloß.“50 Die Wiederherstellung der alten Stauferfeste Hohkönigsburg in den enormen baulichen Ausmaßen der spätgotischen Zeit um 1500, als sie unter dem Basler Rittergeschlecht der Thiersteiner hoch über der Rheinebene ihren baulichen Höhepunkt erreicht hatte, war architektonisches Säbelrasseln des deutschen Kaisers gegen die Franzosen. Die kleine Gemeinde Schlettstadt hatte die Großruine 1899 dem Kaiser geschenkt, und zwar mit der Bitte sie wiederaufzubauen. Das ausgefeilte Restaurierungskonzept lag 1900 in einer Studie von Ebhardt vor und wurde von Kaiser Wilhelm II. in Berlin gutgeheißen. Es war gut durchdacht, basierte auf historischen Studien und archäologischen Sondierungen und erlaubte mithilfe einer gut durchorganisierten Großbaustelle und ausreichender finanzieller Mittel einen zügigen Bauablauf. Nach nur sieben Jahren stand die Burg fertig da. Dieser schnelle Wurf unterschied sie von Wilczeks Kreuzensteiner Bastelei und von der Langzeitbaustelle Marienburg. Am 13. Mai 1908 war die feierliche Einweihung der wiederhergestellten Hohkönigsburg, die als alte Stauferfeste und Habsburgerfestung historische Kontinuität des Reichs symbolisieren sollte. Die Worte Kaiser Wilhelms am verregneten Einweihungstag 190851 (Abb. 17 und 18), zu dem auch der Erbauer von Chillon, Albert Naef aus Lausanne, sowie Graf Hans von Wilczek mit seiner Tochter Gräfin Elisabeth Kinsky-Wilczek aus Wien geladen waren, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sie haben im Nachhinein einen subtileren 49 Ebhardt, Bodo: Die Hohkönigsburg. Deutsche Burgen. 1. Supplementbd. Berlin 1908, S. 48. 50 Steinbrecht (wie Anm. 38), S. 413. 51 Hansi: Die Hohkönigsburg im Wasgenwald und ihre Einweihung. 16 Bilder von Hansi. Text von Prof. Dr. Knatschke. Mülhausen 1908. „Prof. Dr. Knatschke“ war ironisierend auf den nationaldeutschen Historiker Professor Heinrich von Treitschke (1834–1896) bezogen, der auch in Freiburg und Heidelberg lehrte.



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Abb. 17  Die Hohkönigsburg von „Hansi“ (Hans bzw. Jean-Jacques Waltz) am Tag der Einweihung 1908: Der hl. Petrus und die hl. Odilia lassen es regnen.

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Abb. 18  Die Hohkönigsburg von „Hansi“ (Hans bzw. Jean-Jacques Waltz) am Tag der Einweihung 1908: Es regnet vom Himmel in Strömen auf die Festgemeinde, vor dem Eingang der restaurierten Burg ist das Kaiserzelt aufgebaut.

Wahrheitsgehalt angenommen, da der Lauf der Geschichte den ersten Kaisersatz – „im Wechsel der Zeiten und des Kriegsglücks hat der Besitz der Burg viele Wandlungen durchgemacht“52 – inzwischen fortgeschrieben hat. Die Restaurierung der Hohkönigsburg war schon kurz nach ihrer Vollendung stark umstritten, für frankophile Elsässer aus politischen und für die modernen Restaurierungsgegner aus denkmalpflegerischen Gründen. Viele Einzelheiten des Wiederaufbaus waren freie Erfindungen und wissenschaftlich, das hieß burgenkundlich, nicht wirklich belegbar. Ebhardt rechtfertigte sich in vielen Schriften, Piper griff ihn immer wieder an, Geymüller blieb kritisch, Graf Wilczek und Naef wechselten die Seite und wurden von Gegnern des Wiederaufbaus zu Befürwortern. Der Streit um die Hohkönigsburg beschäftigte bis 1914 die Gemüter. Er fand Eingang in zeitgenössische Karikaturen. Die bekannteste dürfte die von „Hansi“ (Jean-Jacques Waltz) sein, einem frankophonen Elsässer, der unter Pseudonym schrieb und malte und für seine anti-deutschen Überzeugungen öfters im Gefängnis saß. Die Kritik an der 1908 fertiggestellten „Denkmalburg des Deutschen Reiches“ war in Frankreich, nachdem das Elsass 1918 wieder französisch geworden war, bis vor wenigen Jahren noch gang und gäbe, wobei, Ironie 52 Castellani Zahir (wie Anm. 1).

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der Geschichte, die Haut-Koenigsbourg heute eines der meist besuchten Nationaldenkmäler Frankreichs außerhalb von Paris geworden ist. Inzwischen haben aber auch französische Fachkreise einen sachlicheren Zugang zu der Hohkönigsburg gefunden und sie ist besonders durch die Publikationen der Historikerin Monique Fuchs als großartiges Bauwerk des politischen Historismus der Kaiserzeit rehabilitiert worden.53

Resümee Im Jahr 1772 wurde die Marienburg dem Königreich Preußen einverleibt. Die alte Ordensfeste befand sich nach jahrhundertelanger Fremdnutzung in einem baufälligen Zustand. Friedrich der Große rettete sie vor dem Abbruch, sein Nachfolger stellte sie 1804 unter Schutz. Die Marienburg leitete die Burgenrenaissance ein und mutierte vom missliebigen Erbschaftsstück zum Nationaldenkmal der Deutschen, das sich baukünstlerisch wie politisch zuerst an der Kölner Domvollendung und der Rheinburgenromantik, später an der Hohkönigsburg zu messen hatte. Die in zwei großen Phasen unter mehreren preußischen Königen erfolgte Wiederherstellung zwischen 1817 und 1922, die mit illustren Namen wie Schinkel und Steinbrecht verbunden ist, wird gespiegelt in der europäischen Burgenrenaissance und in der sich formierenden preußischen Denkmalpflege. Beide Phänomene basierten auf der Wiederentdeckung der Gotik als eines vermeintlich nationalen Baustils und auf einem damit verbundenen neuen patriotischem Geschichts- und Denkmalverständnis. Ein Seitenblick auf die heutige Schweiz illustriert, dass die junge Monarchie Preußen seit ihrem ersten König Friedrich I. (reg. 1701–1713), ab 1707 in Personalunion Fürst von Neuenburg, früh im Westen ihren Einfluss ausbaute. Mit dem preußischen Fürstentum Neuenburg besaß sie unter sechs Preußenkönigen 150 Jahre eine wirtschaftlich wie politisch wichtige Grenzfeste nach Frankreich, die unter Friedrich dem Großen sogar ein Freiheitsmonument der europäischen Aufklärung schuf. Die Restaurierung der Hohkönigsburg, nicht weit von Neuenburg entfernt, war ein Spätzünder und stand am Ende der preußischen Burgenrenaissance. Von Ebhardt und Kaiser Wilhelm II. ab 1900 gut vorbereitet und mit entsprechenden finanziellen Mitteln versehen, erfolgte die Wiederherstellung, ganz im Gegensatz zur weit über hundert Jahre dauernden Restaurierung der Marienburg, in einer Rekordzeit von nur sieben Jahren. Die Wiederherstellungen dieser 1772 bzw. 1871 an Preußen gefallenen neuen Grenzfesten im Osten und Westen des ehemaligen Deutschen Reichs waren politisch motiviert und resultierten aus territorialen Herrschaftsverschiebungen zugunsten Preußens bzw. Deutschlands. Marienburg und Hohkönigsburg trennten Hunderte von Kilometern sowie über hundert Jahre Auseinandersetzungen in der Denkmalpflege. Strukturell gemeinsam war ihnen, wie auch dem schweizerischen Neuenburg, die Zugehörigkeit zu Preußen. Beide neualten Wehrburgen haben im 20. Jahrhundert einmal mehr Land und Besitzer 53 Fuchs, Monique: Die Hohkönigsburg – Beispiel einer Restaurierung um 1900. In: Burgen in Mitteleuropa (wie Anm. 19), S. 48–67.



Eine feste Burg – ein festes Reich

Abb. 19  Marienburg, Ansicht von der Westseite. Postkarte.

Abb. 20  Hohkönigsburg über der Rheinebene. Aufnahme von Yann Arthus Bertrand, 1996.

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gewechselt. Heute stehen sie auf polnischem bzw. auf französischem Boden und sind Attraktionen für ein internationales Publikum (Abb. 19 und 20). Und, was viel wichtiger ist, man ist stolz auf diese großartigen Bauwerke des politischen Historismus, die den Bogen schlagen vom Anfang bis zum Ende der europäischen Burgenrenaissance.

Summary Powerful castles for a powerful empire The reconstruction of Malbork Castle and Château du Haut-Kœnigsbourg  as symbolic border fortresses of the German Empire and the political castle revival in Europe In 1772, Malbork Castle (Ordensburg Marienburg) ushered in the political cult of castles in Prussia almost by chance, mutating from an unwanted legacy into a national monument of the Germans competing with Cologne Cathedral and the romantic castles on the Rhine as well as later Château du Haut-Kœnigsbourg. Malbork Castle’s lengthy restoration under several Prussian kings between 1817 and 1922 is associated with illustrious names like Karl Friedrich Schinkel and Conrad Steinbrecht. It was reflected in the emerging European castle revival and Prussian heritage conservation, which was based on the rediscovery of Gothic as a national architectural style and a new patriotic view of history and monuments. The young monarchy of Prussia had expanded its influence in the west ever since the Principality of Neuchâtel in Switzerland (now the Swiss Canton Neuchâtel) had passed to King Frederick I in 1707. For 150 years, Prussia possessed an economically and politically significant region on the French border comprising Neuchâtel and the county of Valangin. Château du Haut-Kœnigsbourg in Alsace (now France), not far from Neuchâtel, was only restored at the end of the Prussian castle revival in record time of just seven years, being completed in 1908. The restoration of these border fortresses hundreds of kilometres apart which had fallen to Prussia was politically motivated by Prussian expansion. Both castles changed hands, language and state more than once. Today, they are on Polish and French soil and attract visitors from around the world. These magnificent structures spanning the period of the European castle revival justifiably instil a sense of pride.

G e b ur t e i n er Ikon e d es u n g a rische n Mitte la lte rs Die Rekonstruktion der Burg Vajdahunyad in der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie

Radu Lupescu Die Burg von Vajdahunyad (dt. Eisenmarkt, rum. Hunedoara, heute in Rumänien) gilt als Ikone unter den ungarischen mittelalterlichen Burgenbauten. Sie unterscheidet sich nicht nur durch ihr malerisches Erscheinungsbild von den übrigen Burgen, sondern auch in ihrer Bedeutung als altehrwürdiger Familiensitz der Hunyaden. Die Dynastie nahm im Nationalbewusstsein der Ungarn während des 19. Jahrhunderts einen besonderen Platz ein, wobei der Burg eine wichtige Rolle zukam. Ihre Wiederherstellung wurde – ohne Beispiel unter den ungarischen Baudenkmälern – ausnahmslos staatlich finanziert. Man hatte vor, sie als Jagdschloss für das Habsburger-Königspaar einzurichten und ihr dadurch eine einzigartige Funktion zuzuweisen. Der Burg ist eine der ältesten Denkmalmonographien gewidmet, ihr Abbild wurde in zahlreichen Stichen und Gemälden verewigt, ihre repräsentativen baulichen Elemente waren sogar bei den ungarischen Pavillons der Pariser Weltausstellung von 1900 zu erkennen. Es ist also kein Zufall, dass die Burg Vajdahunyad zur Ikone der ungarischen Denkmäler, ja sogar der mittelalterlichen Geschichte Ungarns schlechthin wurde. Der Umgang mit ihr im Lauf des 19. Jahrhunderts veranschaulicht die Rolle, welche die Verarbeitung historischer Erinnerungen mit Mitteln der Architektur im Kontext konkreter geschichtlicher Ereignisse bei der Ausformung nationaler Identität spielen kann.1

Die Burg Vajdahunyad in der frühen Denkmalpflege Die Burg Vajdahunyad wurde erst nach der schweren Beschädigung beim Brand vom 13. April 1854 zum zentralen Objekt des ungarischen Denkmalschutzes (Abb. 1 und 2). Die Abfolge der Ereignisse, die zum Brand geführt hatten, konnte zwar nicht geklärt werden. Es ist aber unter anderem die Ansicht geäußert worden, dass die Burg vorsätzlicher Brandstiftung zum Opfer gefallen sei.2 Nach dem Brand interessierte sich zunächst keine Einrichtung für die Reparatur der Anlage. Ihre Restaurierung erschien lange als ein nahezu unmögliches Unterfangen, zumal sich diese nicht in Privatbesitz befand. 1 Zur Forschungsgeschichte der Burg siehe Lupescu, Radu: Vajdahunyad, a vár kutatástörténete (19– 20. század) [Die Burg von Vajdahunyad, Forschungsgeschichte (19.–20. Jahrhundert)]. In: Korunk 15/7 (2004), S. 43–57. 2 Schulcz, József/Ángyán, György: A vajda-hunyadi vár restaurálásának története. Különös tekintettel az ott történt károk és visszaélésekre! [Restaurationsgeschichte der Burg von Vajdahunyad. Insbesondere die damaligen Schäden und Missbräuche!]. Pécs 1876, S. 2; Kővári, László: Erdély régiségei és történelmi emlékei [Antiquitäten und Baudenkmäler Siebenbürgens]. Kolozsvár 1892, S. 93.

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Radu Lupescu Abb. 1  Vajdahunyad (dt.􀀁Eisenmarkt,􀀁􀀁 rum.􀀁Hunedoara), die Burg vor dem Brand von 1854. Holzschnitt von Pap Károly Szathmári, 1854.

Abb. 2  Vajdahunyad, die Burg nach dem Brand von 1854. Aufnahme von 1854.

Zudem waren damals der Begriff einer Denkmalpflege und ihre Institutionalisierung mit dem Ziel des Schutzes und der Verankerung der Denkmäler im öffentlichen Bewusstsein erst im Entstehen. Der erste Schritt auf diesem Weg war die Bildung der KaiserlichKöniglichen Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale Ende 1850 in Wien und deren Tätigkeitsbeginn im Jahr 1853.3 Die Kompetenz der Kommission umfasste zwar das gesamte Gebiet der Habsburgermonarchie, ihre Arbeit war jedoch nicht effizient genug. Es fehlte der Kommission nämlich nicht nur an finan3 Debreczeni-Mezey, Alice/Szentesi, Edit: Az állami műemlékvédelem kezdetei Magyarországon. A Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale magyarországi működése (1853–1860) [Die Anfänge der staatlichen Denkmalpflege in Ungarn. Die Arbeit der Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale in Ungarn (1853–1860)]. In: A magyar műemlékvédelem korszakai. Tanulmányok. Hg. v. István Bardoly und Andrea Haris. Budapest 1996, S. 47–67.



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ziellen Mitteln, sondern auch an einem klar profilierten Kreis kompetenter Mitarbeiter. Die Kommission betätigte sich in der Regel als eine Art Makler, der die Denkmäler an potenzielle Kapitalgeber vermittelte. 1859 erlangte Friedrich Schmidt, zugleich Lehrer an der Wiener Kunstakademie, eine Schlüsselrolle in dieser Institution und wurde zur prägenden Figur des österreichischen Historismus. Schmidt ist aber nicht nur wegen seiner bedeutenden Rolle in der Denkmalpflege wichtig, sondern auch, weil seine Schüler Ferenc Schulcz, Imre Steindl und Frigyes Schulek den im mittelalterlichen Stil verwurzelten, puristischen Historismus in Ungarn einführten, wie es Schmidt zuvor im österreichischen Raum getan hatte. Die damalige Resonanz auf die Initiativen der Central-Commission hielt sich in Grenzen. So war allein das Handelsministerium bereit, von den ursprünglich verlangten 1700 Forint 400 für den Bestandsschutz der Burg Vajdahunyad nach dem Brand beizusteuern. Sie wurden für eine provisorische Überdachung verwendet. Die nächste Periode begünstigte auch nicht die Restaurierung des Denkmals. Denn nach 1860 war die Wiener Central-Commission in Ungarn immer weniger durchsetzungsfähig, und zugleich fehlte dort noch ein eigenständiger institutioneller Rahmen für die Denkmalpflege. Erst die ab 1863 erneut organisierten Sitzungen des Vereins der Ungarischen Ärzte und Naturforscher (Magyar Orvosok és Természetvizsgálók Egyesülete) wurden zu einem Schauplatz für Debatten und Aktivitäten auf dem Gebiet der Denkmalpflege, wobei die Burg Vajdahunyad dank Lajos Arányi eine zentrale Rolle spielte. Eine einschlägige Institution war damals auch das Komitee der Archäologischen Akademie, es hatte aber in Bezug auf die Denkmalpflege nur eine beratende Funktion und diente niemals als institutioneller Rahmen für Wiederaufbaumaßnahmen. Die Schritte zur Restaurierung der Burg Vajdahunyad sind in erster Linie bestimmten Personen und nicht den zuständigen Einrichtungen zu verdanken. Arányi und Schmidt zählen dabei zu den bedeutendsten. Arányi kam erstmals im Jahr 1863 mit der Burg in Kontakt, als er bei seiner Heimreise von Târgu Mureș (dt. Neumarkt am Mieresch, ung. Marosvásárhely) nach Budapest einen Umweg über Vajdahunyad machte. Die imposante Burg hat ihn stark beeindruckt, bot aber ohne Dach und mit ihren ungeschützten Mauern einen stark verwahrlosten Anblick dar (Abb. 2). Arányi war fest entschlossen, die Burg vor dem Verfall zu retten, und widmete diesem Ziel von nun an viel Zeit und Aufmerksamkeit. Sein Einsatz in dieser Sache brachte ihm 1873 sogar den Adelstitel und den Namen Hunyadvári ein. So scheute er nicht davor zurück, rund sechsmal das fern gelegene Vajdahunyad aufzusuchen, um gründliche Dokumentationen durchführen zu können. Auf einer 1866 in Bratislava (dt. Preßburg, ung. Pozsony) abgehaltenen Versammlung des Vereins der Ungarischen Ärzte und Naturforscher wurde dank der Initiative von Arányi beschlossen, ein Komitee mit folgendem Auftrag zum Kaiser zu entsenden: „Diese Delegation soll einen ehrfürchtigen Antrag einreichen, wonach die nötigen Vorkehrungen [bestimmt werden mögen,] um die Burg Vajdahunyad vor dem weiteren Verfall zu bewahren […].“4 4 „[…] mely küldöttség hódolatteljesen oly értelmű kérvényt nyújtana át, miszerint V.-Hunyad várának a további romlástóli megóvására szükséges intézkedéseket elrendelni kegyeskedjék.“ Zit. nach Arányi,

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Arányi erstellte auf eigene Kosten drei Modellbauten der Burg, einen wollte er sogar dem Kronprinzen Rudolf überreichen. In dieser Phase sah man in dem Monarchen noch einen eventuellen Förderer der Burgrestaurierung. Zur Zukunft der Burg gab es mehrere Vorstellungen. Henrik Finály hielt es für möglich, dass der Siebenbürgische Museumsverein (Erdélyi Múzeum-Egyesület) die Burg in Pflege nimmt und mit internationaler Unterstützung restauriert. Die Bevölkerung vor Ort wollte die Burg vor allem von innen herrichten. Diese Initiativen wurden aber schnell von einem anderen, genauso ambitionierten Plan abgelöst. Er wurde auf einer Sitzung der Ungarischen Gesellschaft für Geschichte (Magyar Történelmi Társulat) im Jahr 1868 ins Leben gerufen: „Bezüglich der lange nicht mehr aufzuschiebenden Re­staurierung der Burg Vajdahunyad ist bei der Sitzung unserer Gesellschaft der Gedanke entsprungen: Ob es wünschenswert sei, diese Burg mit heiligem Andenken aus staatlichen Mitteln so herzurichten, dass sie dem ungarischen König als Sommerresidenz und Jagdschloss dienen könnte. Seine Majestät hat ja sowieso in ganz Siebenbürgen keinen Aufenthaltsort. Dazu wäre Vajdahunyad äußerst geeignet dank seiner romantischen Lage sowie dank der ebenfalls günstigen Umstände, dass die Burg und die dazugehörigen Ländereien mit ihren unzähligen Wäldern in jeder Richtung reich an Wild sind […], zumal das alles bis zum heutigen Tag Herrschaftsgut ist. Würden nur unsere Gesetzgeber diesen edlen Gedanken unterstützen, könnte die trauernde [Burg] Vajdahunyad mit Ruhm aus ihren dunklen Ruinen emporsteigen!“5 Aus dem Bericht geht hervor, dass der Vorschlag auch auf einer kühlen Kalkulation beruhte, denn auf Kosten des Staats ließ sich die Burg mehrere Jahre früher wiederherstellen als mit anderen Finanzierungsquellen. Dieses Konzept wurde auch von Finanzminister Menyhért Lónyay unterstützt, der zeitgleich den Verkauf des Besitztums in Gödöllő an das königliche Paar vermittelte.

Der Plan für ein königliches Jagdschloss Durch die Entstehung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im Jahr 1867 sah sich Ungarn in mehrerer Hinsicht mit einer neuen Situation konfrontiert. Hierzu gehörten auch die Fragen der königlichen Residenzen und der königlichen Hofhaltung, die erstmals nach mehreren Jahrhunderten dringend einer Lösung bedurften. Seitens der Lajos: Vajda-Hunyad várának hajdani és jelen álapota [Ehemaliger und heutiger Zustand der Burg zu Vajdahunyad]. In: Magyar orvosok és természetvizsgálók nagy-gyülésének munkálatai 9 (1866), S. 353– 424 und S. 443–453, hier S. 452. 5 „Vajda-Hunyad várának sokáig semmiesetre sem halasztható helyreállítása ügyében Kolozsvártt, társulatunk gyűlésekor azon eszme merült föl: óhajtandó volna-e szent emlékű várat országos költségen s oly módon felépíteni, hogy a magyar királynak nyári mulatóhelyűl s vadászkastélyúl szolgálna. Úgy sincs ő felségének egész Erdélyben sehol mulatóhelye, – erre pedig Hunyad mind regényes fekvésénél s mind azon körűlménynél fogva fölötte alkalmas lenne, minthogy a vár és a hozzátartozó uradalom, melynek rengeteg erdői mindenfelé vadakban bővelkednek – Tököly Imre nótája folytán kincstári birtok mind e mai napig. Bár felkarolnák e szép eszmét honatyáink, s a gyászoló Hunyad dicsően kelne ki újra sötét romjaiból!“ Zit. nach: o. A.: Vegyes hírek [Gemischte Nachrichten]. In: Századok 1 (1868), S. 591.



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ungarischen Behörden sowie des gesamten Landes war die Erwartung groß, dass sich Franz Joseph I. nach dem Prinzip der Parität für längere Zeit in Ungarn aufhalten und von dort aus regieren würde. Erst allmählich gelangten sie zur Einsicht, dass der Herrscher sein Reich weiterhin von Wien aus lenken wird, was zu beträchtlichen Irritationen und staatsrechtlichen Komplikationen führen sollte. Die ungarische Regierung versuchte zunächst, die nötigen Voraussetzungen für einen regelmäßigen Aufenthalt des Herrschers zu schaffen. In dieser anfänglichen, von Optimismus und Hoffnung gekennzeichneten Periode sind zahlreiche Pläne entstanden, die neben dem bereits zur Verfügung stehenden Hof zu Buda (dt. Ofen) auch andere Residenzen einbezogen, in denen sich das Herrscherpaar von den Amtsgeschäften und Repräsentationspflichten hätte ausruhen können. Dabei wurde immer wieder auf andere Herrscher verwiesen: „Wenn wir bedenken, dass die französischen Könige 85 herrliche Paläste hatten, wieso sollten denn die ungarischen Könige keine Residenzschlösser besitzen, um dabei die verschiedenen Teile des Lands besuchen zu können?“6 Mehrere Herrscher ließen sich, der damaligen Mode entsprechend, Residenzen nach historistischen Leitbildern herrichten. Schloss Pierrefonds wurde für Napoleon III. rekonstruiert und erweitert, Ludwig II. ließ für sich selbst das Schloss Neuschwanstein bauen, Friedrich Wilhelm IV. förderte mit dem Bau der Burgen am Rhein den mittelalterlichen Herrschaftsstil. Franz Joseph I. erwies sich hingegen als nicht sehr baufreudig und begnügte sich mit den Burgen und Palästen, die ihm bereits früher schon zur Verfügung gestanden hatten. Nur die Hermesvilla bei Wien wurde auf Kosten des Herrschers für seine Frau Elisabeth zwischen 1882 und 1885 neu errichtet. Bau- und Umbauten, die darüber hinausgingen, wurden aus dem Staatshaushalt finanziert – so war es auch in Ungarn.7 Neben dem Burgpalast in Buda erwarb die Regierung 1867 aufgrund einer Entscheidung des ungarischen Landtags das Schloss in Gödöllő und erhob es anschließend in den Bestand der unveräußerlichen ungarischen Krongüter.8 Der Herrscher verfügte lediglich über das Nutzungsrecht und über die Jagderlaubnis in den dazugehörigen Wäldern, die in den nächsten Jahren wiederholt erweitert wurden. Beide Residenzen wurden vom Finanzministerium betreut.9 Schloss Galgamácsa, das vom ungarischen Staat separat erworben wurde, war wegen der Nähe zu Gödöllő attraktiv geworden. Mithilfe staatlicher Gelder entstand dort 1869/70 ein ansehnliches Jagdschloss. Da aber das Parlament den Kauf beanstandete, hat es Franz Joseph I. niemals in Anspruch genommen.10 Die 6 „Ha meggondoljuk, hogy a franczia királyoknak 85 fényes palotájuk volt, miért ne legyenek a magyar királynak is várlakjai, hogy az ország egyes részeit is meglátogathassa?“ Zit. nach: o. A.: Egyveleg [Gemischtes]. In: Archeológiai Értesítő 3 (1870), S. 91. 7 Sisa, József: Kastélyépítészet és kastélykultúra Magyarországon. A historizmus kora [Schlossbau und Schlosskultur in Ungarn. Die Epoche des Historismus]. Budapest 2007, S. 19. 8 Magyar Törvénytár. Corpus Iuris Hungarici 1836–1868. Hg. v. Dezső Márkus. Budapest 1896, S. 133. 9 Varga, Kálmán: A gödöllői kastély évszázadai [Die Jahrhunderte des Schlosses von Gödöllő]. Budapest 2003, S. 41–44. 10 Sisa, József: Egy eltűnt kastély nyomában (A galgamácsai királyi vadászlak) [Auf der Spur eines verschwundenen Schlosses (Das königliche Jagdschloss Galgamácsa]. In: Műemlékvédelem 30/1 (1986), S. 15–20, hier S. 19; Ders. (wie Anm. 7), S. 172 f.

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ungarische Regierung plante zudem die Errichtung weiterer Schlösser. Eines sollte den Gerüchten von 1874 zufolge im Komitat Ung entstehen.11 1876 gab es auch ein Projekt für ein Schloss in Káposztásmegyer.12 Parallel zum Erwachen der ungarischen Denkmalpflege wurde auch über den Umbau und die Einrichtung der schon bestehenden Burgen und Schlösser für den Herrscher diskutiert. Dazu gehörten der sogenannte Salomon-Turm in Visegrád (dt. Plintenburg) und die Burg Vajdahunyad. Die Verbindungen, die dadurch zwischen Herrscher und der Burg hätten entstehen können, wären vielfältig gewesen. Die Nutzung des Baus durch das Königspaar hätte die Habsburger-Herrschaft in Ungarn bekräftigt und die Bedeutung des zunehmenden Kults um mittelalterliche Baudenkmäler für die Machtrepräsentation vor Augen geführt. Zugleich wäre die Verteilung der königlichen Residenzen im gesamten Herrschaftsgebiet ganz im Sinne des Anspruchs der ungarischen Behörden gewesen, der Herrscher möge sein Land mehr bereisen und besser kennenlernen. Die Einbeziehung der genannten Baudenkmäler in das Residenzprogramm hatte gewiss auch finanzielle Gründe, denn nach den ursprünglichen Plänen hätten etwa die Wiederherstellung der Burg Vajdahunyad und ihre Einrichtung weniger gekostet als die Errichtung oder sogar der Kauf einer neuen Burg. Die Gesamtkosten der Instandsetzung in Vajdahunyad betrugen im Jahr 1869 rund 250 000 Forint. Die Anlage von Gödöllő hingegen hat samt dem Schloss 1 880 000 Forint gekostet, wobei diese Kosten nicht einmal den Umbau beinhalteten. Zudem hätten die Vertreter der ungarischen Denkmalpflege auf diese Weise trotz des Fehlens eigener Institutionen und Mittel einen festen Finanzrahmen für die Restaurierung der Denkmäler schaffen können. Die Interessen und Absichten waren in diesem Fall also äußerst vielschichtig und anscheinend hätte jeder davon profitiert. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Schloss Galgamácsa und die Burg Vajdahunyad im Stil der Neugotik aufgebaut bzw. umgebaut werden sollten. Kann man denn über eine Stilpräferenz im Schlossprogramm der ungarischen Herrscher sprechen? Eine klare Antwort auf diese Frage fällt schwer, da es dafür nur wenige Anhaltspunkte gibt. Der Umbau des Schlosses Gödöllő erfolgte bis Ende der 1880er Jahre in erster Linie aufgrund funktioneller Überlegungen und nicht im Sinne einer historisierenden Stilrichtung. Im Fall von Galgamácsa, Vajdahunyad und Visegrád hat sich aber eindeutig die romantische Perspektive durchgesetzt, die den Mittelalterkult mit der Entstehung eines neuartigen Habsburgerkults verknüpfte. Wären die Schlösser in Ung und Káposztásmegyer erbaut worden, hätte ihr Stil vielleicht eine finale, klare Antwort ermöglicht. Dafür, dass die starke Präsenz der Neugotik bei den Habsburger-Residenzen in Ungarn kein Zufall gewesen sein dürfte, sondern einer Präferenz folgte, spricht auch der Vergleich mit der von Franz Joseph I. erbauten Hermesvilla zu Wien, bei der nicht auf mittelalterliche Formenmuster zurückgegriffen wurde. Die Gotik als künstlerischer Ausdruck der Glanzperiode des mittelalterlichen ungarischen Königtums war akzeptabler, freundlicher und 11 O. A.: Vadászterület a király számára [Ein Jagdrevier für den König]. In: Vasárnapi Újság, 21.4.1874, S. 60. 12 Bauzeitung für Ungarn 5/22 (1876), S. 164.



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vertrauter. Sie wurde eher als heimisch betrachtet. Es darf daher auch nicht verwundern, dass Imre Steindl, der spätere Restaurator der Burg Vajdahunyad, das Budapester Parlamentsgebäude am Ende des Jahrhunderts ebenfalls vorrangig im Stil der Neugotik geplant hat.

Ferenc Schulcz als Architekt der romantischen Entwürfe Im Jahr 1867 begannen die Studenten der Wiener Bauhütte unter der Leitung des berühmten Architekten-Restaurators Friedrich Schmidt mit der Vermessung der Burg.13 Somit lag es auf der Hand, Schmidt mit der gestalterischen Planung und später auch mit der Leitung des Wiederaufbaus zu beauftragen. Er legte ein Sanierungsprogramm für fünf Jahre vor und veranschlagte ein Jahresbudget von jeweils 50 000 Forint, und zwar ausschließlich für die Restaurierung der Burg, nicht aber für ihre Einrichtung als Wohnstätte. Die Ausführungsarbeiten übernahm er jedoch nicht. Er schlug für die Leitung der Aufgaben vor Ort stattdessen, wie schon des Öfteren, einen seiner Schüler vor, nämlich den aus Ungarn stammenden Ferenc Schulcz. Interessant ist, dass alle drei bedeutenden ungarischen Schüler von Schmidt zu einem bestimmten Zeitpunkt Restau­ ratoren der Burg zu Vajdahunyad waren. Unmittelbar nach Schulz kam Imre Steindl, dann Gyula Piátsek und etwas später Frigyes Schulek.14 Somit wirkte Schmidt in Vajdahunyad zumindest indirekt, auch wenn seine gestalterischen Leitlinien – wie im Folgenden noch näher erläutert wird – von den Schülern stark uminterpretiert wurden. Es war nicht leicht, das von Schmidt veranschlagte Restaurationsbudget im ungarischen Parlament durchzusetzen; es fehlte in diesem Punkt schlichtweg an Einvernehmen: „[…] darf man denn in solch einem armen Land so viel Geld für unnütze Dinge ausgeben? […] sollten wir nicht lieber Schulen und Volksbildung unterstützen?“15 Die nationale Bedeutung des Projekts bezwang schließlich den Pragmatismus einiger Abgeordneter und der Haushaltsplan wurde samt den Restaurierungskosten verabschiedet. Für den Nachwuchsarchitekten Schulcz war das zweifelsohne eine große Herausforderung, aber zugleich auch eine enorme Belastung.16 Es handelte sich um die erste vom ungarischen Staat unterstützte Wiederinstandsetzung eines Baudenkmals, welche die Fachleute, die über die Finanzierung bestimmenden Politiker und die breitere Öffent13 Friedrich von Schmidt (1825–1891). Ein gotischer Rationalist. Ausst.-Kat. Historisches Museum der Stadt Wien. Hg. v. Historisches Museum der Stadt Wien. Wien 1991, S. 227. 14 Sisa, József: Steindl, Schulek und Schulcz – drei ungarische Schüler des Wiener Dombaumeisters Friedrich von Schmidt. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien 3 (1985), S. 1–8; Ders.: Neo-Gothic Architecture and Restauration of Historic Buildings in Central Europe: Friedrich Schmidt and His School. In: The Journal of the Society of Architectural Historians 61/2 (2002), S. 170–187. 15 „[…] ily szegény országban szabad-e annyi pénzt szükségtelen dologra fordítani? […] miért nem költünk inkább iskolákra és népnevelésre?“ Zit. nach Schulcz/Ángyán (wie Anm. 2), S. 436. 16 Sisa, József: Vajdahunyad várának 19. századi restaurálásáról [Über die Restauration des Schlosses zu Vajdahunyad im 19. Jahrhundert]. In: Ars Hungarica 28 (2000), S. 97–108.

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lichkeit mit großer Aufmerksamkeit begleiteten. Der steigende Ruhm der Burg, gesichert durch den ebenfalls stetig zunehmenden Kult um die Hunyaden-Dynastie sowie das neue, ambitionierte Ziel der Errichtung eines königlichen Jagdschlosses, haben die Bedeutung der Aufgabe noch weiter erhöht. Schulcz tat alles, um den Erwartungen zu entsprechen. Seine Arbeit ging er mit großem Elan und großer Hingabe an. Das rasante Tempo der Restaurierungsarbeiten scheint aber schließlich seine Gesundheit aufgezehrt und zu seinem frühen Tod mit nur 32 Jahren geführt zu haben. Die Aktivitäten von Schulcz in Vajdahunyad bestanden größtenteils in der Vorbereitung der Erneuerungsarbeiten sowie in verschiedenen Abbrucharbeiten. Parallel dazu reifte der Gedanke einer Königsburg heran und erreichte nun sogar seinen Höhepunkt. Dieser Gedanke wurde vor allem von intellektuellen und politischen Kreisen unterstützt, darunter befand sich auch Schulcz selbst. „Als Ziel der Wiederherstellung der Burg dient vor allem der Gedanke, diese als Teil der Geschichte sowie als Denkmal des Landes zu bewahren; im Nachhinein eine Institution darin unterzubringen wäre für das Gebäude an sich schädlich, da jegliche Institution mehreren Änderungen unterworfen ist, und diese Änderungen das Gebäude beeinflussen könnten. Dieses Denkmal aber soll in all seiner Ganzheit gepflegt werden, genauso wie damals, zur Zeit der Hunyaden. Ein einziger Zweck wäre, auch ihrer lieblichen Lage wegen geeignet: königliche Burg! So war es damals, und dazu sollte es auch in der Zukunft dienen! Vom Reichsverweser gebaut, vom König fortgesetzt. Dieses Gebäude ist so sehr heilig, dass darin nur die höchste Person, der König selbst wohnen dürfte. Dennoch stellt sich die Frage, ob diese nicht allzu große Burg genug Raum für den ganzen Hofstaat sichern könnte? Meine Antwort darauf heißt ja. Für die königliche Familie und für ihre Gefolgschaft gibt es genug Platz; die Dienerschaft und das Stallpersonal könnten, wie in der Zeit der Hunyaden so auch heute, in der Vorderburg wohnen; außerdem würden die siebenbürgischen Exkursionen seiner Majestät eher den höfischen Jagden dienen – wozu die zur Burg gehörenden Kronwälder ja überaus geeignet sind – und sie müssten deshalb kaum mit allzu großer Gefolgschaft zustande kommen.“17 Schulcz hat die Umbaupläne für das Jagdschloss 1869 ausgearbeitet, zu den von Schmidt ursprünglich kalkulierten 250 000 Forint kamen noch einmal so viel. Der 17 „A vár helyreállításának czélja mindenekfölött az, hogy az mint történeti és műemlék a nemzetnek megtartassék; később benne bármely intézetet elhelyezni az épületre nézve káros lenne, minthogy minden ilyes intézet sok változáson megy keresztül, mely változások az épületre is befolynának. Ezen monumentumnak pedig a maga teljes épségében kell fenntartani, úgy a hogy a dicső Hunyadyak korszakában volt. Egy czélja lehetne csak e várnak, melyre kies fekvésénél fogva is nagyon alkalmas: királyi vár! Az volt és az legyen a jövendőben is! Kormányzó építtette, király folytatta. Ezen épület oly szent, hogy abban csak a legmagasabb személy, a király lakhatik. De kérdés, hogy az udvar részére lenne-e ezen nem igen nagy várban elég helyiség? Erre azt felelem, hogy igen. A királyi család és környezete részére van elég hely, a szolgák serege és az istálló személyzet pedig, mint a Hunyadyak korában, úgy ma is az elővárban tanyázhatik; különben is, ő Fölségének erdélyi kirándulásai – leginkább udvari vadászatokra szánhatók, mire a várhoz tartozó koronai erdőségek igen alkalmasak – aligha fognának nagyon számos kísérettel tartani.“ Zit. nach Schulcz, Ferencz: Vajda-Hunyad váráról [Über die Burg zu Vajdahunyad]. In: Századok 3 (1869), S. 437 f. [Hervorhebungen im Original].



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Abb. 3  Grundriss des Entwurfs von Ferenc Schulcz für das Jagdschloss zu Vajdahunyad, 1871.

Umbau und die Einrichtung der Burg als Residenz sollten also nun insgesamt 500 000 Forint kosten. Das Projekt für die königliche Burg konnte Schulcz, dank der Fürsprache von Finanzminister Lónyay, auch der Königin Elisabeth höchstpersönlich vorstellen. Über dieses Treffen ist nur bekannt geworden, dass der Königin die Entwürfe gezeigt wurden und sie „die prächtigen Zeichnungen mit großem Interesse beobachtete“.18 Es sind heute leider nur noch Bruchteile des Projekts von Schulcz bekannt. Drei Zeichnungen hat er im Anzeigenblatt der Vereinigung Ungarischer Ingenieure und Architekten (Magyar Mérnök- és Építész-Egylet) veröffentlicht, einige Blätter mit seiner Signatur befinden sich im Planarchiv der Nationalen Denkmalkommission (Műemlékek Országos Bizottsága), der wesentliche Teil wird aber in Vajdahunyad aufbewahrt.19 Gemäß dem empfohlenen Projekt hätte der Burgkomplex aus drei Teilen bestehen sollen: der königlichen Burg, der Vorderburg und dem königlichen Park (Abb. 3). Die Vorderburg entspricht im Wesentlichen dem sogenannten Husarenhof, den die Dienerschaft bewohnen sollte. Über den Husarenhof hätte man die königliche Burg betreten können, also das Gebäude der mittelalterlichen Burg. Südlich und östlich 18 O. A.: Egyveleg [Gemischtes]. In: Archeológiai Értesítő 3 (1870), S. 90: „nagy érdekeltséggel nézte ezen pompás rajzokat“. 19 A Magyar Mérnök és Építész-egylet Közlönye 4 (1870), S. 552, Tafeln XLI–XLIII.

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der Burg war ein eigens entworfener Park geplant, dessen Umfang mittels Landenteignungen erweitert werden sollte. Nach den neuen Plänen wäre die Burg in ihrer Gesamtform zwar nicht verändert worden, die Details hätten aber vor allem durch den Bau der Fassaden ihren ursprünglichen Charakter verloren. Die geplanten Eingriffe waren also die größte Gefahr für die Originalsubstanz der Burg. Aus den Zeichnungen geht hervor, dass mit Maßwerk verzierte Wehrgänge für die visuelle Einheit zwischen den verschiedenen Burgflügeln sorgen sollten (Abb. 4,2 und 5,1). Ein Wehrgang verbindet nicht nur verschiedene Basteien und Türme, sondern krönt auch die äußere Fassade des Palastflügels, oberhalb der Erker, wo er eindeutig fremd wirkt. Die Höhe der Bedachung ist hier etwas zurückhaltender als bei den späteren Plänen von Steindl. Für den Turm ist die Eisenstatue von Johann (János) Hunyadi geplant. Besonders kühne Lösungen zeigt die Zeichnung vom Nord-Süd-Querschnitt der Burg mit dem Fokus auf die Westfassade (zum Innenhof) des Ostflügels (Abb. 5,1). Die Fassade des alten Portalturms wird dort durch eine Schildmauer mit verschiedenartig strukturierten gotischen Fenstern auf der ersten und zweiten Etage verdeckt, die Fassade des Bethlen-Flügels wiederum durch einen zweigeschossigen Arkadengang mit Wappen auf der Brüstung. Der obere, auf Kragsteinen gesetzte Gang führt über die Fassade der Kapelle zum Matthiasflügel (Loggia Matia). Dadurch bricht Schulcz die ursprünglich einheitliche Fassade der Kapelle in der Mitte auf. Er belastet sie zudem mit einem unverhältnismäßig großen Fenster sowie mit den Wappen der Dynastien Hunyadi und Szilágyi. Der sehr beliebte Wehrgang ist auch an der Wandkrone des alten Portalturms und des Bethlen-Flügels zu sehen. Da der Wehrgang, seiner Funktion gemäß, eindeutig zur äußeren Burgfassade gehört, steht seine Anwendung auf der Hoffassade für einen in Anachronismus mündenden Missbrauch gotischer Formen und Konstruktionen. Die Fassade des Matthiasflügels bleibt von den Plänen im Wesentlichen unberührt, da sie wohl schon hinreichend gotische Formelemente aufwies. Es handelt sich hier um eine puristisch konzipierte Wiederaufbau-Variante, welche die ursprünglichen Details mit fiktiven neugotischen Elementen ergänzt, so wie bei Eugène Emmanuel Viollet-leDuc, dem für seine Restaurierungen mittelalterlicher Bauten berühmten französischen Architekten. Die Entwürfe von Schulcz hätten vielleicht Zustimmung gefunden, wenn die neugotischen Teile einfallsreich und vernünftig gewesen wären und mit der ursprünglichen Masse der Burg in Einklang gestanden hätten. Im Vergleich zu den zurückhaltenden Rekonstruktionszeichnungen von Schmidt sind seine Eingriffe aber sehr dominant. Das ist auch den Zeitgenossen aufgefallen. Arányi bezeichnete – nach dem Tod von Schulcz – die Pläne für die neu zu errichtende Burg als ein „falsum historicum“.20 Schulcz starb am 22. Oktober 1870, noch bevor er seine eigentliche Arbeit hatte aufnehmen können. Interessanterweise wurde er in einem Nachruf nicht nur als Architekt, sondern auch als ein Archäologe bezeichnet: „[…] aufgrund vernichtender Krankheit verstarb in der Gestalt von Ferenc Schulcz die Blüte der ungarischen Archäologie und Architektur […]. Der frühe Tod von Schulcz ist für unser Land wahrhaftig eine

20 Forster Központ (Forster-Zentrum), Budapest, Manuskripte-Archiv, MOB Manuskripte 117/1873.



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Katastrophe.“21 Die letzte Feststellung deutet auf den Mangel an Fachkräften hin, der um 1870 in Ungarn noch ein akutes Problem darstellte. Ganz unabhängig von dem Urteil der Nachwelt hat Schulcz aufrichtig an seine Entwürfe geglaubt, genauso wie die meisten seiner Zeitgenossen.

Wiederherstellung und Umbau der Burg unter Imre Steindl Noch im Jahr 1870 wurde Imre Steindl vom Finanzminister mit der Durchführung der Wiederherstellungsarbeiten beauftragt. Er war ebenfalls Schüler von Friedrich Schmidt und ein guter Freund von Ferenc Schulcz. Seine Ernennung wurde allgemein begrüßt.22 Unter Steindl kam es jedoch zu bedeutenden Änderungen. Ihm erging es ähnlich wie Schulcz, er blieb nur relativ kurz in Vajdahunyad, aber nicht wegen seines Tods, sondern wegen anderweitiger unglücklicher Zufälle. Was die Arbeiten an der Burg betrifft, so beanstandete Steindl zwei Sachen: die für die Restaurierung zur Verfügung gestellte Summe und den von Schulcz ererbten Restaurierungsplan. Die Jahressumme von 50 000 Forint bezeichnete er im Vergleich zu den Summen, die andere Nationen für die Restau­ rierung von Baudenkmälern ähnlicher Bedeutung zur Verfügung stellten, als „geizig berechnete Almosen“. Als zu befolgende Beispiele führte er die von den Deutschen für die Wartburg und für die Marienburg (vgl. dazu den Beitrag von Elisabeth CrettazStürzel in diesem Band) bewilligten Summen an.23 Er verlangte für den Ausbau der königlichen Burg nun fast 2 000 000 Forint, somit das Vierfache im Vergleich zu Schulcz und das Achtfache zu Schmidt. An den Entwürfen von Schulcz nahm Steindl Änderungen vor.24 Er verzichtete dabei zwar auch auf einige kühne Eingebungen seines Vorgängers, legte dafür aber neue und ähnlich gewagte, ästhetisch jedoch annehmbarere Vorschläge vor. Nach den heute einsehbaren Dokumenten ist eindeutig, dass Steindl zwei Entwürfe zum Wiederaufbau bzw. zum Umbau ausgearbeitet hat: den ersten 1871, den zweiten ein bisschen später. Grundlegende Unterschiede bestehen zwischen ihnen nicht, im Wesentlichen wurde nur die Architekturplastik und die Dekoration neu durchdacht. Zudem ist leicht zu erkennen, dass trotz des geringen zeitlichen Abstands der beiden Pläne Steindls Stil schnörkelloser, seine Neugotik wissenschaftlicher und mit authentischeren gotischen Strukturen versehen wurde – freilich im Rahmen der neugotischen Ideologie der Zeit. Steindls Eingriffe in die Baustruktur sind jedenfalls, im Vergleich zu denen von Schulcz, noch stärker, allerdings im positiven Sinn. Er verzichtet in seinen Plänen auf die Wehrgänge seines Vorgängers, welche die äußeren und inneren Fassaden 21 „[…] hervasztó kór folytán elhúnyt Schulcz Ferenczben a magyar régészettudomány és műépítészet virága hullott le […]. Schulcz korai halála országunkra nézve valóságos csapás.“ Zit. nach: o. A.: Tárcza [Feuilleton]. In: Századok 4 (1870), S. 655. 22 Sisa, József: Vajdahunyad – ein Musterbeispiel der Burgenrestaurierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Burgen und Schlösser 45/3 (2004), S. 143–147, hier S. 146. – Monographische Übersicht der Arbeiterschaft von Imre Steindl bei Ders.: Steindl Imre. Budapest 2005, S. 79–84. 23 Forster Központ (Forster-Zentrum), Budapest, Manuskripte-Archiv, MOB Manuskripte 5/1873. 24 O. A.: Vajda-Hunyad. In: Vasárnapi Újság 28/48 (1881), S. 760.

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Abb. 4  Pläne zum Umbau der Nordfassade der Burg von Vajdahunyad: Restaurierungsplan von Friedrich Schmidt (1), Pläne für das Jagdschloss von Ferenc Schulcz (2) und Imre Steindl (3).



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Abb. 5  Pläne zum Umbau der Südfassade der Burg von Vajdahunyad: Ferenc Schulcz (1) und erster (2) sowie zweiter (3) Vorschlag von Imre Steindl.

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der Gebäude krönen sollten (Abb. 4,3), und auf die Veranda an der Burgkapelle, die ihre schöne Gestalt ganz verschattet hätte (Abb. 5,2 und 5,3). Ein charakteristisches Element der Entwürfe von Steindl sind die sogenannten königlichen Gemächer. Diese hatte er zunächst für den eher schlichten, südlichen Zólyomi-Flügel vorgesehen, wodurch sich der Schwerpunkt auf diese Seite verlagert hätte. Aber nicht nur der Flügel an sich sollte ausgebaut werden, sondern auch die Fassade mit einer festlich wirkenden dreistöckigen Loggia; ein mächtiger Wendeltreppenturm sollte dabei den Zugang zu den einzelnen Etagen erleichtern. Für den südlichen Flügel der östlichen Ecke sah er einen kleineren Turm vor, der zwischen Loggia und altem Torturm vermittelt hätte. Die neuen Anlagen wurden schließlich mit den zu den neuen Funktionen passenden Bezeichnungen versehen: Königsgemächer, Königsloggia, Königstreppe. Im Gegensatz zum Entwurf von Schulcz, der bloß die Fassade des Bethlen-Flügels mit einer Art Loggia verdeckt, weitete Steindl dieses Prinzip auf die Fassade des Zólyomi-Flügels aus. Das störendste Element der neuen Ergänzungen ist zweifelsohne der Wendeltreppenturm, der nicht nur neben den dazugehörigen Flügeln, sondern auch neben dem eher kleinen Burghof unverhältnismäßig groß erscheint. Ebenso zu bemängeln ist an dem Entwurf von Steindl die übertrieben hohe Bedachung. Damit beabsichtigte er, die Burg monumentaler erscheinen zu lassen. Obwohl die Idee des königlichen Jagdschlosses letztendlich nicht verwirklicht wurde, ist die Bedachung teilweise dennoch ausgeführt worden. Das bedeutete in der Folge eine zu große Last für die Wände, die im Lauf der Zeit dann auch eingerissen sind. Somit hat Steindl an den Entwürfen von Schulcz zwar Einiges verbessert, aber zugleich auch Einiges verschlechtert. Wie bereits erwähnt, hat Steindl zwei Entwürfe angefertigt, wobei der zweite seine zunehmende Kennerschaft der gotischen Formensprache belegt. Insbesondere die Fassade der Burgkapelle erwies sich als eine gute Oberfläche für die Verwirklichung seiner gotisierenden Vorstellungen (Abb. 5,2). Über dem Rundfenster stellte er sich eine unter einem Baldachin stehende betende Gottesmutter vor und daneben die Wappen der Dynastien Hunyadi und Szilágyi, flankiert von zwei betenden Engeln. Das Figurenprogramm in Höhe des Giebels ist ebenfalls dreigliedrig angelegt: in der Mitte als Nischenstatue Maria mit dem Jesuskind, an den beiden Seiten, etwas niedriger gelegen, die zwei heiligen ungarischen Könige Stephan I. und Ladislaus I. Der Platz zwischen den beiden Herrschern ist für das ungarische Wappen reserviert, rechts ist das Wappen der Habsburger und links das Bayerns angebracht. Die Ehrerbietung gegenüber der herrschenden Dynastie verbindet sich hier mit einer Reverenz an die ungarische Geschichte. In seinem zweiten Entwurf revidierte Steindl teilweise seine Vorstellungen. Die ziemlich durcheinander geratene untere Figurengruppe verbindet er nun stärker zu einer Einheit. So platziert er die Gottesmutter mit den zwei Engeln unter demselben gotischen Bogen. Kompositionell ist das zweifellos eine Verbesserung, die Figurengruppe an der Fassade wirkt aber nach wie vor wie ein Fremdkörper. Der vor dem Goldenen Haus errichtete Matthiasflügel (Abb. 6) gehört zu den wertvollsten Hoffassaden, worauf Steindl ganz besonders Rücksicht nahm. Dem Plan (Abb. 6,3) zufolge wollte er im Erdgeschoss die ursprünglichen Fensterumrahmungen erhalten und nur für die schlichten Türen ein neues, verziertes Portal mit dem Wappen



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Abb. 6  Vajdahunyad, Matthiasflügel des Burghofs: Zustand vor der Wiederherstellung (1), Rekonstruk­ tionsvorschlag von Friedrich Schmidt (2), Plan zum Umbau von Imre Steindl (3) und dessen Umsetzung (4).

Siebenbürgens im Bogenfeld errichten. Die Arkaden des Obergeschosses blieben unverändert, die ursprünglich darüber befindlichen drei Fenster sind aber nun vermauert. Der gesamten Fassade verleihen drei vom Erdgeschoss bis nur Zone oberhalb der Arkaden aufragende Strebepfeiler eine schwungvolle Einheit. Steindl bricht diesen Vertikalismus jedoch mit mehreren Gesimsen auf. Die so entstandenen kassettenartig-rechteckigen Flächen sollten zwischen Erdgeschoss und Obergeschoss mit historischen Szenen und oberhalb der Arkaden mit Wappen verziert werden. Darüber befindet sich dann ein besonders kräftiges Gesims. Beeinflusst von seinem ehemaligen Lehrer beabsichtigte

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Radu Lupescu Abb. 7  Vajdahunyad, die Burg nach der Wieder­ herstellung durch Imre Steindl. Aufnahme aus den 1880er Jahren.

er, die Fassade mit vier dreieckigen Giebeln zu bekrönen, welche die ins Pfettendach eingelassenen kleinen Türen verdecken. Auch wenn der von Schulcz entworfene Wiederaufbauplan des Matthiasflügels nicht bekannt ist, besteht kein Zweifel, dass dort ebenfalls Giebel vorgesehen waren. Steindl plante für das Goldene Haus, wie zu erwarten, ein viel höheres Dach als zuvor Schmidt. Jenseits der großen Pläne gestaltete sich der tatsächliche Wiederaufbau in diesen Jahren ausgesprochen minimalistisch. In der Zwischenzeit hatte auch die ungarische Regierung bei der Frage der Habsburger-Residenzen zu einer ausgewogeneren Sichtweise gefunden. Zudem wurde langsam offensichtlich, dass das Königspaar keinen Anspruch auf die Burg Vajdahunyad erhob. 1873 versuchte die Regierung, die für die Restaurierung der Burg festgelegte Summe herabzusetzen, zumal das von Schmidt ausgearbeitete Restaurierungsbudget noch im selben Jahr auslaufen sollte. Steindl ging im Hinblick auf die Verabschiedung des neuen Budgets ganz anders vor und verlangte stattdessen eine Erhöhung. Die Parlamentsdebatte zu dem Thema veranschaulicht sehr gut den Standpunkt der anwesenden Politiker zu dieser staatlich finanzierten Denkmalrestaurierung. Regierung und Landtag witterten in Steindls seit 1870 andauernder Tätigkeit einerseits eine Ausgabenüberschreitung. Andererseits vermochte man sich nicht vorzustellen, in welchen Zustand die Burg durch den Restaurierungsplan versetzt werden würde. Steindl löste weitere Kritik aus, indem er ein neues, großzügiges Budget forderte, anstatt die laufenden Erneuerungsarbeiten zu Ende zu führen. Da das Ende der Arbeiten noch lange nicht abzusehen war, wären die zukünftigen Kosten nicht kalkulierbar gewesen, wenn der Landtag an dem Restaurierungsprojekt festgehalten hätte. Die heikle Budgetfrage wurde inmitten der Wirtschaftskrise und in dem Wissen verhandelt, dass der Kaiser die Burg niemals benutzen wird. So ist es nicht verwunderlich, dass der Landtag schließlich beschloss, den weiteren Ausbau zu beenden, die angefangenen Arbeiten aber noch so schnell wie möglich ausführen zu lassen.25 25 Országgyűlési Napló [Parlamentarisches Journal], 20.3.1875, S. 348–356.



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1873/74 beschränkte sich Steindl somit auf die Fertigstellung der angefangenen Arbeiten. Ein Teil seiner beeindruckenden Pläne zum königlichen Jagdschloss konnte trotzdem verwirklicht werden. Das betrifft die enormen, mit Zsolnay-Glasur verzierten bunten Kacheldächer, die große Reiterstatue auf dem Buzdugan-Turm mit der Gestalt von Johann Hunyadi sowie den Matthiasflügel, wenn auch in bescheidenerer Ausführung, und den neugotischen Bethlen-Flügel (Abb. 6,4 und 7). Angesichts der Aufgabe der Pläne für ein königliches Jagdschloss und der schwindenden Unterstützung durch die Regierung trat Steindl, der auch schon zuvor seine finanziellen Bedenken geäußert hatte, schließlich im Oktober 1874 zurück. Man könnte aber auch sagen, dass er seines Amts enthoben wurde: „[…] der Finanzausschuss hat eindeutig dazu Stellung genommen, dass man den Architekten Imre Steindl wegen der großen Verluste am abweichenden Bauplan entlassen muss, und somit wurde er dazu gezwungen, seinen Rücktritt einzureichen.“26

Eine Burg wird zur Ikone Angesichts dieser Entwicklungen in den 1870er Jahren erscheinen die früheren Entwürfe von Schulcz und die Begegnung mit Kaiserin Elisabeth eindeutig als eine Blütezeit in der Geschichte des Jagdschloss-Projekts. Die Rekonstruktion und der Ausbau der Burg Vajdahunyad sind zwar weitgehend im Entwurfsstadium stecken geblieben. Die Entwürfe sind aber aufschlussreich in Bezug auf die Auffassungen zur Residenzenfrage nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867. Bemerkenswert ist, dass im Fall der Burg Vajdahunyad die Initiative von unten ausging, und es dürfte kein Zufall sein, dass sie gerade von Historikerkreisen unterstützt wurde. Als der Wiederaufbau begann, glaubten viele an die Perspektive der Umnutzung zu einem Jagdschloss. Die geplanten Eingriffe hätten die mittelalterliche Gestalt der Burg stark verändert. Daher kann man heute das, was man damals als Misserfolg wertete, als glückliche Wendung bezeichnen: Der ursprünglichen Gestalt der Burg wurde so weniger Schaden zugefügt. Nach dem Rücktritt Steindls hat einer seiner Nachwuchsarchitekten, Gyula Piátsek, die begonnenen Arbeiten zu Ende gebracht und die anschließenden Instandhaltungsarbeiten geleitet. Die Burg wurde erst in den 1880er Jahren wieder zum Thema. Damals ging es speziell um die Wiederherstellung und Dekoration der Inneneinrichtung. Dazu legten bekannte Künstler Entwürfe vor. Zu ihnen gehören die Karton-Zeichnungen von Ferenc Storno zur Verzierung eines der beiden Jagdzimmer. Für die Gemälde sah er Jagdszenen in der Manier der deutschen Romantik vor.27 Diese Pläne wurden allerdings nicht verwirklicht. Gleiches gilt für die 1902 angefertigten Entwürfe des bedeutenden ungarischen Kunstmalers Bertalan Székely für den Flur des Matthiasflügels. Die Sage 26 „[…] a pénzügyi bizottságban egyhangúlag kimondatott, hogy Steindl Imre építészt, a tervtőli eltérésekből származott nagy károk miatt, melyeket az államnak okozott, el kell bocsátani, tehát ő kényszerítve volt lemondását benyújtani.“ Zit. nach Schulcz/Ángyán (wie Anm. 2), S. 24. 27 Sisa (wie Anm. 22), S. 93.

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vom Wunderhirsch, also die Geschichte über die Landnahme und die Herkunft der Ungarn, sollte malerisch aktualisiert werden. Diese Arbeit wäre wahrscheinlich die monumentalste malerische Abbildung der Sage geworden.28 Allerdings entdeckte man im Matthiasflügel Wandbildfragmente aus dem 15. Jahrhundert, deren Entfernung keiner verantworten wollte. Obwohl die Wiederherstellung seit den 1870er Jahren ins Stocken geriet, wuchs der Kult um die Burg parallel zu dem der Hunyaden. Sie wurde allmählich zu einem der bekanntesten ungarischen Baudenkmäler. Die Grundlage hierfür bildeten József Telekis Monographie über die Hunyaden und weitere Gesamtdarstellungen zur ungarischen Geschichte, worin den Hunyaden unter den Königen aus Mischehen wegen ihrer heimischen Herkunft eine besondere nationale Bedeutung zugeschrieben wurde.29 Die Burg Vajdahunyad wurde zur Ikone – zur Verkörperung des Hunyaden-Kults schlechthin.30 Zudem galt sie als Musterbeispiel einer mittelalterlichen Burg. Während dieser Idealisierungsphase diente Vajdahunyad auch wenig verwunderlich als Vorlage für die Burg Kreuzenstein und schaffte es sogar in das Handbuch der deutschen Architektur.31 Einen Höhepunkt des Kults um die Burg stellte die Jahrtausendfeier der ungarischen Landnahme im Jahr 1896 dar. Wegen der ungünstigen wirtschaftlichen Lage war die Realisierung des damals sehr populären Weltausstellungsprojekts nicht möglich. Stattdessen hielt man im Stadtwäldchen von Budapest eine Landesausstellung ab (vgl. dazu den Beitrag von Ernő Marosi in diesem Band). Unter den dafür errichteten Pavillons war zweifelsohne der Gebäudekomplex mit den geschichtlichen Ausstellungen besonders eindrucksvoll. Entworfen hatte ihn Ignác Alpár. Er kombinierte dabei vermeintlich typisch ungarische Gebäude- und Dekorationselemente aus der Zeit der Romanik, Gotik, Renaissance und des Barock.32 Die ungarische Gotik repräsentierte bemerkenswerterweise kein Kirchenbau, wie sonst üblich, sondern ein partieller Nachbau der kurz zuvor wiederaufgebauten monumentalen Burg Vajdahunyad, womit dem Profanbau eine besondere Ehre erwiesen wurde (Abb. 8). Alpár ließ sich in erster Linie von den Türmen 28 Lyka, Károly: Székely Bertalan új kartonjai [Die neuen Karton-Zeichnungen von Bertalan Székely]. In: Művészet 1 (1902), S. 1–10; Basics, Beatrix: A nemzettudat változása a magyar történelmi festé­ szetben és grafikában 1848–49 után [Wandel im Nationalbewusstsein anhand der ungarischen Malerei und Graphik 1848–49]. In: Magyarok kelet és nyugat között. A nemzettudat változó jelképei. Hg. v. Tamás Hofer. Budapest 1996, S. 148–150. 29 Teleki, József: A Hunyadiak kora Magyarországon [Die Epoche der Hunyaden in Ungarn]. Bd.1–4. Pest 1852–1854. 30 Keserü, Katalin: Várábrázolások. Táj és történelem a historizmus festészetében Magyarországon [Burgdarstellungen. Landschafts- und Historienmalerei im ungarischen Historismus]. In: A historizmus művészete Magyarországon. Hg. v. Anna Zádor. Budapest 1993, S. 223–241, hier S. 232–235. 31 In beiden Fällen spielten wahrscheinlich die Zeichnungen der Wiener Bauhütte eine wichtige Rolle. – Stiehl, Otto: Der Wohnbau des Mittelalters (Handbuch der Architektur). Bd. 2.4. Leipzig 1908, S. 81–83, 276 f., 363 f. – Zur Burg Runkelstein vgl. Crettaz-Stürzel, Elisabeth: Network à la Wilczek. Burgenrenaissance um Schloss Vaduz im Herzen Europas (1870 bis 1914). In: Burgen und Schlösser 45/1 (2004), S. 41–51, hier S. 45. 32 Magyar művészet 1890–1919 [Ungarische Kunst zwischen 1890–1919]. Hg. v. Lajos Németh. Budapest 1981, S. 196, 637.



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Abb. 8  Budapest, historischer Gebäudekomplex der Landesausstellung von 1896. Aufnahme um 1900.

Abb. 9  Paris, ungarischer Pavillon auf der Weltausstellung von 1900. Aufnahme von 1900.

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der Burg und der Erkerreihe am Palastflügel inspirieren. Diese und weitere Burgdetails haben das Gesamtbild des Gebäudekomplexes auf der Landesausstellung derart geprägt, dass ihn die Budapester nach der Burg Vajdahunyad benannt haben. Das damals eigentlich nur provisorisch errichtete Bauwerk wurde mit solchem Enthusiasmus angenommen, dass es am Ende der Ausstellung nicht mehr abgebaut wurde. Es nahm danach das ungarische Landwirtschaftsmuseum auf und wurde zwischen 1902 und 1907 mit dauerhaftem Baumaterial in seine endgültige Form gebracht. Die Burg Vajdahunyad hat aber nicht nur diesen Bau inspiriert, sondern auch den ungarischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung von 1900 (Abb. 9). Ähnlich wie bei der Ausstellung in Budapest bildete man auch in Paris einen Großteil der Erkerreihe des Palastflügels nach.33 Obwohl ein gewisser Kult um die Burg Vajdahunyad schon eher zu beobachten ist, erreichte sie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit der Entstehung der Denkmalschutzbewegung und parallel zur Ausformung des ungarischen Nationalbewusstseins, ihre höchste Anerkennung als ungarischer Symbolbau des Mittelalters. Ihr Wiederaufbau wurde entgegen der vorwiegenden Praxis ausschließlich staatlich finanziert. Die leitenden Architekten sahen in der Burg ein gotisches Gebäude par excellence und haben es im Sinne des damaligen puristischen Ideals – und im Rahmen des knappen Budgets – neu gestaltet. Obwohl die Arbeiten nie wirklich abgeschlossen werden konnten, verwandelte sich die Burg im 19. Jahrhundert in ein monumentales Gebäude in gotischen Formen und wurde so zur Ikone der ungarischen Gotik und des Burgenbaus schlechthin. Es ist kein Zufall, dass man die Burg zu einem königlichen Jagdschloss umgestalten wollte und dass sie als Denkmal-Relikt im Mittelpunkt der Budapester und Pariser Ausstellungspavillons stand. Ihre internationale Karriere zeigt sich auch darin, dass sie zum Vorbild für mehrere historisierende Bauten und in architekturgeschichtlichen Monographien immer wieder als Inbegriff des mittelalterlichen Burgenbaus dargestellt wurde. Aus dem Ungarischen von Kinga Éva Moritz

33 Sisa (wie Anm. 22), S. 147.



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Summary Birth of an icon of the Hungarian Middle Ages The reconstruction of Vajdahunyad Castle in the era of the Austro-Hungarian Monarchy After the creation of the Austro-Hungarian Monarchy in 1867, the Hungarian authorities called for royal residences to be established in the kingdom for the ruling Habsburg dynasty – to encourage the rulers to spend more time getting acquainted with the various regions of Hungary and to strengthen their bond with its people. At first, Emperor and King Franz Joseph and his family were assigned Gödöllő Palace near Buda Castle and a new hunting lodge in Galgamácsa. Moreover, the possibility of transforming two medieval castles emerged: Visegrád and Vajdahunyad (Hunedoara). After Vajdahunyad Castle had been devastated by fire in 1854, the campaign for its restoration headed by Lajos Arányi, a professor of medicine, received both public and later official backing. In 1868, the idea of turning it into a hunting lodge for the Habsburgs was first raised at a meeting of the Society of Hungarian Historians and later accepted by the government. The restoration of Vajdahunyad Castle was begun in 1868 by Ferenc Schulcz and Imre Steindl, regarded as the foremost specialists of their day. But after five years of work which involved transforming the castle into a Neo-Gothic residence, in 1873 the Hungarian government and parliament questioned the wisdom of spending so much money on royal residences. With the ruling dynasty unlikely to ever use this remote castle, parliament finally agreed to finance only the restoration of Vajdahunyad Castle, insisting on its rapid completion. The cancellation of the residence programme enabled the original fabric of the monument to be preserved. Even so, documentation of the entire project has survived, providing fascinating insights into planning for the midnineteenth century royal residences.

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Mi t Kai ser D i okl et i an ge ge n Öste rre ich Zerstörerische Rekonstruktion und der Streit um das Episkopium am Diokletianpalast von Split 1850–1918

Jonathan Blower Im Januar 1924 – nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs und der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, des späteren Jugoslawien – brannte im historischen Zentrum der dalmatinischen Küstenstadt Split ein nicht besonders großes Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert ab. Zurück blieb nur ein Trümmerhaufen (Abb. 1). Dieses recht bescheidene Gebäude, ein vormaliger Bischofssitz oder ein Episkopium, war unbedeutend im Verhältnis zur Architektur der römischen Kaiserzeit in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, den monumentalen Überresten des Diokletianpalasts, für die Split zu Recht berühmt ist. Doch trotz seines minderen bauhistorischen Stellenwertes hatte das Episkopium in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie im Mittelpunkt einer hitzigen Kontroverse gestanden. Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Feuer von einem Ortsansässigen gelegt wurde – in der Formulierung eines deutschen Denkmalpflegers handelte es sich um „niederträchtige Brandstiftung“.1 Die sich um das Episkopium rankende Frage muss also lauten, warum ein höchstwahrscheinlich kroatischer Einwohner von Split auf den Gedanken kam, sein eigenes architektonisches Erbe in Schutt und Asche zu verwandeln. Da ich kein Kroatisch lese, kann ich diese Frage nicht mit letzter Gewissheit beantworten; im Folgenden werde ich also nur eine vorläufige Antwort geben. Mir erscheint jedoch plausibel, dass die Brandstiftung am Bischofssitz 1924 ein verspätetes, lokales Aufflackern der Nationalitätenfragen war, die wenig zuvor das Habsburgerreich zu Fall gebracht hatten. Um diese Annahme zu belegen, möchte ich hier Österreichs Schirmherrschaft über den Diokletianpalast nachzeichnen, eine Geschichte, die in eine Periode der Restaurierung von etwa 1850 bis 1903 sowie in eine Periode der Konservierung nach 1903 unterteilt werden kann. Dem Nichtspezialisten zuliebe werde ich zunächst in groben Strichen den politischen Kontext skizzieren, daraufhin kurz den Diokletianpalast beschreiben und den Unterschied zwischen den denkmalpflegerischen Begriffen Restaurierung und Konservierung darlegen. Diese Unterscheidung ist an dieser Stelle wichtig, weil – wie ich zeigen möchte – der erste Begriff mit dem Freiheitsdrang der südslawischen Bewegung assoziiert wurde, während der zweite für die Repressionen des österreichischen Imperialismus stand. 1 Hubel, Achim: Positionen von städtebaulicher Denkmalpflege und Heimatschutz. Der Umgang mit dem Ensemble 1900–1975. In: Jahrestagung 2005: Gemeinsame Wurzeln – getrennte Wege? Über den Schutz von gebauter Umwelt, Natur und Heimat seit 1900. 73. Tag für Denkmalpflege. Verbundprojekte – Stiftungen zum Schutz von gebauter Umwelt, Natur und Heimat, 2. Juli 2005. Dokumentation. Münster 2007, S. 178 f. Es ist nach wie vor unklar, ob es sich um Brandstiftung handelte; dazu auch wenig Aufklärung bei Bulić, Frane: Kaiser Diokletians Palast in Split. Zagreb 1929.

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Abb. 1  Split,  Dom/Mausoleum Diokletians, im Vordergrund die Trümmer des Episkopiums kurz nach dem Brand von 1924.

Das Episkopium als denkmalpflegerischer Streitfall An der Wende zum 20. Jahrhundert befand sich der Bischofssitz noch an derselben Stelle wie bereits seit fast dreihundert Jahren: inmitten des Diokletianpalasts von Split, einer wichtigen Stadt an der dalmatinischen Küste. Dalmatien bildet einen langgestreckten, schmalen Abschnitt des östliches Ufers der Adria und war damals das südlichste Kronland Zisleithaniens, der österreichischen Hälfte des Österreichisch-Ungarischen Reichs. Seine Bevölkerung war vorwiegend kroatisch, wenn auch die gebildeten Schichten daneben Italienisch und Deutsch sprachen. Kroatien selbst gehörte dagegen zu Transleithanien, also der ungarischen Reichshälfte, und wurde nicht von Wien, sondern von Budapest aus regiert. Bis zum frühen 20. Jahrhundert waren die Dalmatier für ihre Loyalität gegenüber dem Habsburgerkaiser bekannt und hatten den Ruf, einige der besten Matrosen der k. u. k. Marine zu stellen. Doch ebenso wie die Zentrifugalkräfte des Nationalismus im 19. Jahrhundert von den anderen Nationen der Doppelmonarchie

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Abb. 2  Split, Rekonstruktion des Diokletianpalasts nach George Niemann, 1910.

Abb. 3  Split, Plan der Altstadt mit der noch vorhandenen Bebauung des Diokletianpalasts, Anton Schindler, um 1900.



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Besitz ergriffen hatten, wurden schließlich auch die Dalmatier davon erfasst. Während die Ungarn für sich Unabhängigkeit forderten und die Tschechen und Slowaken sprachliche Gleichstellung, begannen die Südslawen Österreich-Ungarns nationale Einheit und Unabhängigkeit von österreichisch-ungarischer Herrschaft zu verlangen. Österreich erschien als Überherr, der mit harter Hand über ein verarmtes Dalmatien herrschte, seine Marionetten in Ungarn als die Unterdrücker der Slawen in Kroatien und die Grenze zwischen den beiden Reichshälften als nicht mehr denn ein künstliches Hindernis für die südslawische Einheit. Anstatt das brennende Nationalitätenproblem zu ersticken, ließ die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 die Flammen noch höher schlagen. Kaiser Franz Joseph war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Vor diesem Hintergrund bot den Kroaten Dalmatiens die klassische Antike eine verlockende Alternative. Die gut erhaltenen Überreste des berühmten Palasts in Split bildeten eine beeindruckende Hinterlassenschaft eines Kaisers, mit dem sie sich problemlos identifizieren konnten. Diokletian war in Dalmatien geboren und aufgewachsen. Abb. 4  Split, Grundriss des Diokletianpalasts, Teilrekonstruktion nach George Niemann, 1910.

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Was ihn des historischen Lobes besonders würdig machte, war der Umstand, dass er als einziger römischer Kaiser abgedankt hatte. Doch noch wichtiger war für die Kroaten, dass er für seinen Palast in Split berühmt war, und dessen altehrwürdige Quader schrien förmlich danach, als Monument vergangener dalmatinischer Größe ausgelegt zu werden (Abb. 2). Der Diokletianpalast wurde ungefähr zur Zeit der Abdankung seines Erbauers, das heißt im Jahr 305 unserer Zeitrechnung fertiggestellt. Er umfasst einen Gebäudekomplex, der von einer trapezförmigen Wand aus Scheinmauerwerk umschlossen ist, die dem rechteckigen Grundriss einer typischen römischen Befestigungsanlage (castrum) nahekommt (Abb. 3 und 4). Der Palast ist von beträchtlichen Ausmaßen: Die Längsseiten betragen 216 Meter, die Schmalseiten 175 Meter im Norden und 181 Meter auf der dem Meer zugewandten südlichen Seite. Die äußeren Mauern sind mit Türmen verstärkt und von vier Toren durchbrochen. Im Innern sind die Tore durch die einander kreuzenden Achsen des cardo und des decumanus, der in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung durchlaufenden Straßen einer römischen Stadt, miteinander verbunden. Die wichtigste Anhäufung von bis heute überdauernden Gebäuden liegt zentral, genau südlich des Kreuzungspunkts der beiden Achsen. Der Hauptplatz in der Mitte ist ein offenes Peristyl, also ein von Säulen umgebenes Rechteck, mit einem von einem Ziergiebel abgeschlossenen Portikus auf der Südseite. Dieser führt zu einer Rotunde, die als vestibulum oder Vorhof zu Diokletians Privatgemächern diente. Westlich des Peristyls, umschlossen von einer dichten Bebauung aus jüngerer Zeit, steht ein kleiner Tempel mit einem Tonnengewölbe, von dem angenommen wird, dass er Jupiter geweiht war. Dieser wurde später als Baptisterium, das heißt als Taufkapelle genutzt. Östlich des Peristyls befindet sich Diokletians Grablege, das Mausoleum; dessen Peripteros, also von Säulen umgebener Umgang, schließt ein achteckiges Bauwerk ein, das wiederum eine halbrunde Krypta und einen hohen, überwölbten Innenraum umfasst. Wie der Jupitertempel wurde auch das Mausoleum später für den Gebrauch der Kirche geweiht. Daraus wurde schließlich ein Dom. Im Spätmittelalter wurde ein Glockenturm hinzugefügt, der im ausgehenden 19. Jahrhundert wiedererrichtet wurde. Im Laufe der Jahrhunderte wurde auch das Mausoleum von späteren Bauwerken dicht umschlossen; zu diesen gehörte das Episkopium aus dem 17. Jahrhundert (Abb. 5). Ähnlich der Kontroverse um die Restaurierung des Heidelberger Schlosses im ausgehenden 19. Jahrhundert entzündete sich am Episkopium von Split eine Debatte um zwei entgegengesetzte denkmalpflegerische Ansätze: Restaurierung und Konservierung. Die Befürworter der Restaurierung, des im 19. Jahrhundert verbreiteten Ansatzes, plädierten dafür, Baudenkmäler in ihren Ursprungszustand zurückzuversetzen, indem spätere Zusätze entfernt und verlorengegangene Bestandteile erneuert wurden. Im Extremfall konnte das Abrisse ganzer Gebäude mit sich bringen. Die Befürworter der Konservierung, eine seit Anfang des 20. Jahrhunderts Zulauf gewinnende Minderheit, wollten Baudenkmäler und städtische Bebauungen als sich ständig wandelnde Gesamtheiten behandeln, die Zeugen der historischen Entwicklung waren. Die über die Jahre eingetretenen Verluste, Überformungen und Hinzufügungen hatten als integraler Bestandteil des Baudenkmals zu gelten. Der Konservator sollte nur dafür sorgen, weiteren



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Abb. 5  Split, Plan mit dem Mausoleum (Domkirche), Peristyl (Domplatz) und Episkopium, George Niemann, 1907.

Zerfall oder nicht vertretbare Veränderungen zu verhindern. Kurzum: Restauratoren drehen die Uhr zurück, Konservatoren halten sie an. Im Fall von Split kam die Vollrestaurierung des Diokletianpalasts nicht infrage, und so blieben Pläne für eine umfassende archäologische Rekonstruktion zwangsläufig in der Schublade. Aber auch wenn verlorengegangene Substanz nicht wiederhergestellt werden konnte, so konnten doch verborgene Strukturen durch die Entfernung oder den Abriss vieler späterer Zufügungen zutage gefördert werden. Diese Politik der „Befreiung“ herausragender Baudenkmäler wie der Taufkapelle und des Mausoleums nannte man isolamento, das heißt Freilegung von Bauwerken der klassischen Antike durch Entfernung späterer Anbauten. Diese Vorgehensweise wurde Mitte des 19. Jahrhunderts initiiert und von wohlmeinenden österreichischen kulturpolitischen Akteuren gutgeheißen, die dabei offenbar die Unterstützung der ortsansässigen Bevölkerung genossen. Als sich ihre Nachfolger im 20. Jahrhundert von dieser Politik zugunsten der Konservierung distanzierten, brachte sie das in der inzwischen völlig veränderten politischen Lage in Dalmatien in Opposition zur Mehrheit der Einwohner.

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Isolamento: 1850–1903 Die Provinz Dalmatien befand sich mit einer kurzen Unterbrechung bereits seit 1797 im Besitz der Habsburger, als der junge Kaiser Franz Joseph I. 1850 die Kaiserlich Königliche Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale gründete, die Vorgängerin des heutigen österreichischen Bundesdenkmalamts. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass sich bis zu diesem Zeitpunkt in Österreich niemand sonderlich für den Diokletianpalast interessiert hatte. Als erster tat dies der Kunsthistoriker Rudolf Eitelberger, der sich große Verdienste um die dalmatinischen Baudenkmäler erwarb. 1856 veröffentlichte er einen ersten kurzen Bericht über den Diokletianpalast in der Zeitschrift der Zentral-Kommission, und fünf Jahre darauf, nach einem Besuch der Region, verfasste er eine umfangreiche Arbeit zur Kunst Dalmatiens im Mittelalter. Darin war notwendigerweise auch von dem Palast die Rede.2 Mit diesen Schriften machte Eitelberger seine Regierung ebenso wie die gebildete österreichische Öffentlichkeit auf die einzigartige Bedeutung von Split aufmerksam. Darüber hinaus setzte er sich aber auch für praktische Verbesserungen ein, etwa die Instandsetzung eines stillgelegten römischen Aquädukts und die Ausräumung der eine hygienische Gefahr darstellenden Palastgewölbe, die offenbar zu dieser Zeit voller Abwasser standen. Es war zum Teil auf Eitelbergers Einsatz zurückzuführen, dass der Aquädukt seit 1883 Split wieder mit Frischwasser versorgte. Die Einwohner dieser damals stark vernachlässigten Grenzprovinz dürften diese Maßnahmen zu schätzen gewusst haben. Was das Erscheinungsbild des Palasts betraf, forderte Eitelberger die Räumung des Bauschutts, der vor dem Nordtor angehäuft war, und er hoffte, eines Tages die baufälligen Anbauten zu entfernen, welche die Südfassade verunstalteten. Ansonsten scheint er damit zufrieden gewesen zu sein, die Erhaltung des Palasts den Einwohnern von Split zu überlassen, allen voran dem ortsansässigen Architekten Vinko Andrić. Andrić fällt die aus heutiger Sicht zweifelhafte Ehre zu, die Praxis des isolamento in Split eingeführt zu haben. Er hatte seine architektonische Ausbildung in napoleonischer Zeit teilweise in Rom erhalten, wo er möglicherweise Zeuge der restaurativen Freilegung des Titusbogens war.3 Bei der Rückkehr in sein heimatliches Dalmatien brachte Andrić die französische Praxis der Restaurierung durch Rückbau nach Split, indem er daranging, ein ehrgeiziges Restaurierungsprogramm für den Diokletianpalast zu entwerfen. Dieses Programm sanktionierte die vollständige Entfernung aller Gebäude um den oktogonalen Dom, einschließlich des Abbruchs des im 17. Jahrhundert angebauten Chors. Es ist anzunehmen, dass das Episkopium zu diesem Zeitpunkt auch für den Abriss vorgesehen war. 2 Eitelberger, Rudolf: Die Unterbauten des Diocletianischen Kaiserpalastes in Spalato. In: Mittheilungen der K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 1/7 (1856), S. 135–137, hier S. 137; Ders.: Die mittelalterlichen Kunstdenkmale Dalmatiens in Arbe, Zara, Traù, Spalato und Ragusa. In: Jahrbuch der Kaiserl. Königl. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 5 (1861), S. 129–312. 3 Brückler, Theodor/Nimeth, Ulrike: Personenlexikon zur Österreichischen Denkmalpflege. Wien 2001, S. 10; Pfanner, Michael: Der Titusbogen. Mainz 1983, S. 8.



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Es zeugt von der zumindest impliziten Zustimmung zu diesen Plänen in Wien, dass Andrić 1854 Mitglied der Zentral-Kommission wurde und Eitelberger seine Pläne dafür lobte – dass sie „den Dom selbst nach außen von den Zubauten“ befreien würden.4 Im Allgemeinen war Eitelberger damit einverstanden, dass die hervorragenden römischen Monumente von Split von ihren mittelalterlichen Zusätzen befreit werden sollten, was vielleicht ein wenig überrascht, war doch Eitelbergers größte Passion die mittelalterliche Kunst. Doch im Fall des Diokletionpalasts war er aufgeschlossen genug, um festzustellen: „Nur eine blinde Bewunderung des Mittelalters kann den ungeheuren Unterschied verkennen, der die antiken Bauten Dalmatiens von den romanischen scheidet.“5 So fand also die Praxis des isolamento in Österreich anfänglich vorbehaltlose Unterstützung, wobei Eitelbergers Eintreten für diese Art von Denkmalpflege dem damaligen Mainstream entsprach, der sich schließlich in ganz Europa durchgesetzt hatte. Daher ist vielleicht weniger interessant, was Eitelberger befürwortete, als wieso er dies tat; das heißt die Begründung, die er seinem Kaiser dafür gab, warum dieser sich überhaupt für die Kulturangelegenheiten des slawischen Südens engagieren sollte. Er formulierte die unverhohlen politische Begründung Punkt für Punkt in einem Memorandum von 1859, in dem er argumentierte, gutes Regieren und substanzielle Investitionen in Dalmatien würden dem österreichischen Kaisertum vier Vorteile bringen. Erstens würden sie eine ökonomisch benachteiligte Provinz in eine Quelle des Staatseinkommens verwandeln; zweitens würden sie ein Volk loyaler und kriegerischer Soldaten hervorbringen; drittens würden sie der Propaganda der italienischen Irredenta, also der Bewegung für den Anschluss an ein national geeintes Italien, an der Adria entgegenwirken; viertens würden sie die Slawen im benachbarten, damals noch osmanischen Bosnien davon überzeugen, eines Tages die österreichische Herrschaft willkommen zu heißen.6 Was dieser letzte Punkt über jeden Zweifel erhaben implizierte, war eine expansionistische Politik auf Kosten des Osmanischen Reichs. Dies war ein kühner Ansatz, wenn auch nicht ganz untypisch für Eitelbergers Generation. Das besonders Merkwürdige an seinem Memorandum war jedoch, dass er es im Vorwort zu seinen „Gesammelten kunsthistorischen Schriften“ veröffentlichte. Dadurch implizierte er, dass Kulturangelegenheiten wie Museumsgründungen oder Denkmalpflege als Avantgarde im ursprünglichen Sinne dienen konnten, nämlich als Vorhut für die reguläre Armee. Wie sich erweisen sollte, besetzte die österreichische Armee in der Tat Bosnien, auch wenn die von Eitelberger empfohlenen umfangreichen Investitionen in Dalmatien ausgeblieben waren. Ein Projekt, in das Österreich im Dalmatien des ausgehenden 19. Jahrhunderts doch viel Geld steckte, war die Restaurierung des Diokletianpalasts. 1876 wurde aus Wien ein neuer Dombaumeister nach Split entsandt: Alois Hauser, Mitglied der Zentral4 Eitelberger, Rudolf: Die mittelalterlichen Kunstdenkmale Dalmatiens in Arbe, Zara, Nona, Sebenico, Traù, Spalato und Ragusa. Wien 1884, S. 249; dies ist eine Buchausgabe des in Anm. 2 genannten Zeitschriftenbeitrags. 5 Ebd., S. 267. 6 Ebd., S. 25 f.

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Jonathan Blower Abb. 6  Split, Glockenturm, vom Peristyl aus gesehen. Zeichnung von W. Zimmermann, 1860.

Kommission und Professor für „Stillehre“ an der Kunstgewerbeschule des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie.7 Auch Hauser genoss Eitelbergers volle Unterstützung und begann rasch damit, seine Vorstellung von isolamento auf dem zentralen Palastgelände umzusetzen, wobei er häufig Berichte über erfolgreiche Abbrucharbeiten an die Zentral-Kommission schickte. Hauser verfolgte das Ideal einer vollständigen „Bloßlegung des Domes in Spalato“ (Split), und für den „freien Anblick“ des Mausoleums erwarb und zerstörte er eine Anzahl von Gebäuden um den überfüllten Peripteros und in den Säulenzwischenräumen des Peristyls.8 7 Schlosser, Julius von: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich. Nebst einem Verzeichnis der Mitglieder bearbeitet von Hans Hahnloser. In: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Ergänzungs-Band 13/2 (1934), S. 141–228, hier S. 158. 8 Hauser, A[lois]: [Bloßlegung des Domes in Spalato = Notiz 103]. In: Mittheilungen der K. K. CentralCommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale 2 N. F. (1876),



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Abb. 7  Split, der eingerüstete Glockenturm, von Osten gesehen, um 1908.

Doch hat sich Hauser selbst am ehesten ein Denkmal durch die 1890 begonnene Restaurierung des Glockenturms gesetzt (Abb. 6 und 7). Leider wurde aus der Restaurierung aufgrund von Baufälligkeit alsbald eine vollständige Rekonstruktion; der Turm musste aus statischen Gründen fast vollständig abgerissen und neu aufgebaut werden. Hauser erlebte die Fertigstellung nicht mehr. 1898 bezeichnete das Journal der Zentral-Kommission die Unternehmung als „Zeugnis der Hochherzigkeit unserer Regierung“.9 Schon die nächste Generation von Denkmalpflegern betrachtete den Turmneubau als Fälschung.

S. CXLII; Eitelberger (wie Anm. 4), S. 259 (Fußnote); Hauser, Alois: Spalato und die Römischen Monumente Dalmatiens. Die Restaurierung des Domes zu Spalato. Wien 1883, S. 52. 9 Siehe den anonym veröffentlichten Bericht in: Mittheilungen der K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale 24 N. F. (1898), S. 243 f.

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Fairerweise sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Hauser sich bei aller Neigung zum Rückbau intensiv mit der Architektur von Split befasste. In späteren Lebensjahren veröffentlichte er eine Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen über die Geschichte des Palasts,10 die in gewissem Maße Alois Riegls Untersuchung der „Spätrömischen Kunst­ industrie“ von 1901 vorwegnahmen. Zuvor hatte Hauser bereits zwei fundierte Vorträge über den Diokletianpalast im Österreichischen Museum in Wien gehalten. Im ersten aus dem Jahr 1876 rechtfertigte er eloquent seine zerstörerische Form von Restaurierung dadurch, „daß die Domkirche im Laufe der Zeit von allen Seiten her mit kleinen Häusern verbaut wurde, welche ganz unregelmäßig bis in die Säulenhallen des Peristyls einschnitten. Das Monument wurde hiedurch nahezu unsichtbar oder blickte nur hie und da zwischen den späteren Zubauten hervor, mit den letzteren ein höchst malerisches Gesammtes bildend.“11 Hauser war also offenkundig nicht völlig unempfänglich für den pittoresken Anblick, der seine Nachfolger als Denkmalpfleger so ansprechen sollte. Gleichwohl vertrat er die feste Ansicht: „Hat sich aber der Beschauer an dem malerischen Gesammteindrucke sattgesehen, dann wird er sich davon überzeugen können, daß der Hauptwerth seiner Bilder der Größe und Macht der erhaltenen römischen Bauten zu danken ist. Diese sehen hier mit gerechtem Stolz auf die vielen Zu- und Neubauten zu ihren Füßen herab, denn sie sind technisch von musterhafter Ausführung, und während die Schmarotzerbauten schon heute theilweise baufällig sind und alle möglichen Gebrechen zeigen, stehen die römischen Reste unbeweglich da, als wären sie gestern erst beendet worden.“12 Hauser stand nicht allein damit da, den römischen Überresten Splits den Vorzug vor den späteren „Schmarotzerbauten“ zu geben. Wie schon gesagt, teilten Vinko Andrić und Rudolf Eitelberger seine Auffassungen, ganz zu schweigen von dem populären napoleonischen Gouverneur Dalmatiens, dem französischen Marschall Auguste-FrédéricLouis Viesse de Marmont. Als die Konservierungspolitik schließlich 1903 eine völlige Kehrtwende machte, wurde dies in Split keineswegs bereitwillig nachvollzogen.

Die konservatorische Kehrtwende von 1903 Wenn wir uns nunmehr dem entscheidenden Jahr 1903 zuwenden, sind drei Begleitumstände bei der konservatorischen Auseinandersetzung um das Episkopium zu berücksichtigen. Erstens wurde im Frühjahr durch den österreichischen Unterrichtsminister in Wien endlich eine Sonderkommission zur Konservierung des Diokletianpalasts eingerichtet. Diese Kommission tagte erstmals vom 11. bis 17. April. Zweitens gab es zeitgleich in der anderen Reichshälfte eine Anzahl von gewaltsamen anti-ungarischen Protesten in Kroatien, auf welche die Regierung in Budapest wiederum mit gewaltsamen 10 Insbesondere Hauser, Alois: Die Kunst in Dalmatien. In: Oesterreichisch-Ungarische Revue 2/9 (1886), S. 52–60. 11 Hauser, Spalato (wie Anm. 8), S. 45. 12 Ebd., S. 31 f.



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Repressionsmaßnahmen reagierte. Diese Phase der Unruhen sollte in Dalmatien erheblichen Widerhall finden. Drittens veröffentlichte im Oktober 1903 Alois Riegl, ein Pionier des Denkmalschutzes, seinen kritischen Bericht zu den Vorschlägen, welche die Sonderkommission im April vorgelegt hatte. Die Sonderkommission scheint fast ausnahmslos aus klassischen Archäologen zusammengesetzt gewesen zu sein, deren ausschließliches Interesse an den römischen Denkmälern von Split sie dazu brachte, eine Fortsetzung der Rückbaupolitik des isolamento zu befürworten. Die Zentral-Kommission wurde von Wilhelm Kubitschek repräsentiert, der als Archäologe ziemlich radikale Anschauungen vertrat. Er sprach sich für die vollständige Exmittierung der Nutzer des Palastensembles aus und verwies auf das aktuelle Beispiel der französischen Ausgrabungen in Delphi als Präzedenzfall für seine radikalen Auffassungen – dort hatten die Franzosen ein ganzes Dorf dem Erdboden gleichgemacht, um ihre Grabungen durchführen zu können.13 Entsprechende Grabungen innerhalb der Mauern des Diokletianpalasts hätten vorausgesetzt, das gesamte nachantike Split abzureißen, ganz zu schweigen von der Umsiedlung von mehr als dreihundert Haushalten. Glücklicherweise fand Kubitschek kein Gehör. Die Zwangsumsiedlung einer so großen Zahl von Südslawen hätte einen regionalen Konflikt wohl auslösen können. Während die Beschlüsse der Aprilkommission nicht ganz so weit gingen, wie sich Kubitschek das vorstellte, sahen sie doch eine Anzahl von Abbruchmaßnahmen vor: eine Kaserne am Osttor, zwei Häuser hinter dem Baptisterium, eine Anzahl von Häusern in der Nachbarschaft des Doms und das Episkopium an dessen Nordseite. Erklärtes Ziel dieser Abbrüche war wiederum, archäologischen Zugang zur antiken Architektur des Kaisers Diokletian zu erhalten und den Blick auf diese freizulegen. Einige Wochen nach der Rückkehr der Wiener Mitglieder der Aprilkommission aus Split geschah in Zisleithanien etwas Bemerkenswertes. Eine parteiübergreifende Gruppe von nicht weniger als dreißig Abgeordneten des dalmatinischen Landtags reiste nach Wien, um eine dringliche Audienz beim Kaiser zu erbitten.14 Dieser höchst ungewöhnliche Vorgang hatte nichts mit Archäologie zu tun, sondern war durch die beunruhigenden politischen Entwicklungen in der ungarischen Reichshälfte veranlasst. Im Jahr 1903 hatte die Bevölkerung Kroatiens bereits zwanzig Jahre lang unter der quasi diktatorischen Herrschaft des Ban Khuen-Héderváry gelitten, des ungarischen Gouverneurs, der eine ziemlich unverhohlene Magyarisierungspolitik betrieb, um die ungarische Hegemonie in Transleithanien zu stärken. Zudem hatte sich Kroatien seit dem Ungarisch-Kroatischen Ausgleich von 1868 in einer spürbar benachteiligten Finanzlage im Verhältnis zu Ungarn befunden. Diese lange schon schwelenden politischen Konflikte traten im März 1903 zutage, als der ungarische Reichstag den Vorschlag einer Revision der wirtschaftlichen 13 Kubitschek, Wilhelm: Zum Schutze des Palazzo di Diocleziano. In: Mittheilungen der K. K. CentralCommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale 1 N. F. (1902), Sp. 23–26, hier Sp. 25. 14 Seton-Watson, Robert William: The Southern Slav Question and the Habsburg Monarchy. London 1911, S. 114. Dieser engagierte schottische Historiker bewegte möglicherweise diplomatisch so viel für Dalmatien wie sein Landsmann Robert Adam auf kulturellem Gebiet für Split.

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Vereinbarungen mit dem kroatischen Landesteil abwies. Infolgedessen kam es zu Protesten in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, und das Khuen-Héderváry-Regime reagierte gewaltsam, nahm dutzende Festnahmen vor und führte die Pressezensur ein. Doch die Proteste der Kroaten gingen den April hindurch unvermindert weiter und eskalierten soweit, dass die österreichische Presse schon von der „kroatischen Krise“ sprach. Die Kroaten von Dalmatien sympathisierten mit ihren Landsleuten jenseits der Grenze zwischen den Reichshälften, umso mehr, als den Kroaten unter Khuen-Héderváry der Weg verwehrt war, ihren Souverän über die Ungerechtigkeiten zu informieren, denen sie ausgesetzt waren. Die einzige Möglichkeit, Eingaben an Franz Joseph I. zu richten, führte über Budapest, was ihnen de facto von der ungarischen Regierung verwehrt wurde. So erklärt sich die außergewöhnliche Delegation der dreißig Abgeordneten aus Dalmatien: Während ihre Landsleute aus Kroatien Franz Josephs Ohr nicht finden konnten, war dies den Kroaten aus Dalmatien gestattet, daher reisten sie nach Wien, um eine Audienz beim Kaiser zu erbitten, der ihrer festen Überzeugung nach die Ungarn zur Räson bringen würde. In der dalmatinischen Delegation befanden sich drei prominente Politiker aus Split: Josip Smodlaka, Vinko Milić und Ante Trumbić.15 Sie sollten eine schwere Enttäuschung erleiden. Aus Angst vor einer Erschütterung seiner Beziehungen zu Ungarn verweigerte der Kaiser der Delegation eine Audienz. Als diese mit leeren Händen nach Hause kam, fand sie eine radikal veränderte politische Stimmung vor. Die Weigerung Franz Josephs I., das Anliegen seiner dalmatischen Untertanen auch nur anzuhören, hatte die traditionell loyale Provinz Dalmatien gegen ihn und gegen Österreich aufgebracht. Es lohnt sich, den Bericht des britischen Journalisten und Historikers Robert William Seton-Watson zu zitieren, der Augenzeuge dieses Stimmungswandels wurde: „One of those strange frenzies which at rare intervals seize upon a whole nation ran through the population of Istria and Dalmatia. [They] interpreted it [die Abweisung durch den Kaiser] as a clear proof of hostility on the part of the dynasty towards the Southern Slavs. A great revulsion of feeling took place. In the Diet in Dalmatia violent speeches were delivered against ,Vienna‛ and Austria. Khuen’s henchmen and the instruments of Magyarization in Croatia were openly denounced as the agents of Vienna.“16 In diesem belasteten politischen Kontext schrieb Alois Riegl seine engagierte Verteidigungsschrift für die nachantiken Baudenkmäler von Split. Mit allem ihm zu Gebote stehenden diplomatischen Takt räumte der an den Präsidenten der Zentral-Kommission gerichtete Bericht das archäologisch-wissenschaftliche Primat des Diokletianpalasts ein, stellte zugleich jedoch die zerstörerische Politik des isolamento infrage, indem er die Existenzberechtigung der mittelalterlichen und neuzeitlichen Bebauung innerhalb des Palastareals ebenso rechtfertigte. Im Gegensatz zu Hauser und allen seinen Vorgän15 Eine Liste der Delegationsmitglieder in: Die Wirren in Kroatien. In: Neue Freie Presse, 29.5.1903, Morgenblatt, S. 4; ein lebendiges Porträt von Josip Smodlaka bei Bahr, Hermann: Dalmatinische Reise. Berlin 1909, S. 111 f., dort auch ein düsteres Bild von Dalmatiens wirtschaftlicher Lage am Vorabend der bosnischen Annexionskrise. 16 Seton-Watson (wie Anm. 14), S. 114. – Bahr (wie Anm. 15) bestätigt diese allgemeine Stimmung aus der Sicht eines österreichischen Patrioten.



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gern sah Riegl die historische Bedeutung Splits nicht nur in seinen römischen Baudenkmälern begründet, sondern in dem über Jahrhunderte angehäuften historischen Erbe, im „Stimmungsreiz“ der dichtbebauten, malerischen Stadtlandschaft. Diese müsse um jeden Preis bewahrt werden, selbst dann, wenn der Blick auf den Diokletianpalast verstellt bleibe. Zwar gestand Riegl ein, dass das Episkopium relativ unbedeutend war, dennoch war er unbedingt für seine Erhaltung: „Das Episkopium ist ein niederer Bau aus der beginnenden Barockzeit, dessen regelmäßig geschichtete Steinquadern an den Fugen sorgfältig geglättet sind. Die Fensteröffnungen der Straßenseite erheben weder durch ihr Verhältnis zur Wand noch durch ihre Detailbehandlung Anspruch auf künstlerische Würdigung. Nur die Portalumrahmung mit ihren bossierten Quadern und dem inschriftgeschmückten Gesimse darüber zieht das Auge auf sich; wer durch das Portal in den Flur eintritt und denselben durchschreitend den Hof betritt, gewahrt hier über der Durchgangsöffnung ein Fenster mit Balustrade und seitlichen Konsolen. Das Episkopium besitzt hienach zweifellos einen bestimmten kunstgeschichtlichen Wert, der nur durch den Umstand verringert wird, daß sich in Spalato noch mehrfache Zeugnisse der gleichen Stilrichtung, jedoch von reicherer Ausführung vorfinden. Ohne Einschränkung entfaltet sich der ansehnliche Alterswert des Gebäudes, der hauptsächlich in der sympathischen Färbung der alten bräunlichgelben Steinquadern beruht, aber auch in den anspruchslosen Verhältnissen, die fast noch an die mittelalterliche Weise erinnern, eine Stütze findet. Auch als eine wesentliche Komponente des für Alt-Spalato so charakteristischen engen Straßenbildes genießt das Episkopium einen Alterswert. Das Episkopium muß hienach als ein Denkmal von einem bestimmten Erinnerungswerte bezeichnet werden, und es empfiehlt sich daher, alle für und gegen seine Abtragung sprechenden Argumente sorgfältig zu prüfen, bevor man sich entschließt, an das Gebäude die zerstörende Hand zu legen.“17 Riegl war kein starrsinniger Dogmatiker. Er stimmte zu, die Kaserne am Westtor und die Häuser hinter dem Baptisterium abzureißen. Hinsichtlich der baulichen Umgebung des Doms war er jedoch unnachgiebiger. Hier waren drei verschiedene Gebäudegruppen in Betracht zu ziehen. Die Aprilkommission hatte vorgeschlagen, das Episkopium im Norden, ein Haus im Westen und eine ganze Häuserreihe an der Südseite des Doms abzureißen. Die üblichen Begründungen für diese Abbruchmaßnahmen waren unterdessen bei den Einwohnern von Split völlig geläufig. Lokalpolitiker brachten sanitätspolizeiliche Argumente ins Spiel; Split brauche im Interesse der öffentlichen Hygiene mehr Licht und Luft in seinem Zentrum, und der Wunsch nach einem freien Fluss des Verkehrs wurde alsbald diesen Vorwänden hinzugefügt. Riegl nahm die Hygienefragen ernst und stimmte dem Abbruch der Häuserreihe an der Südseite zu. Dies sollte den gewünschten freien Luftdurchgang ermöglichen und 17 Riegl, Alois: Bericht über eine im Auftrage des Präsidiums der k. k. Zentral-Kommission zur Wahrung der Interessen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Denkmale innerhalb des ehemaligen Diocletianischen Palastes zu Spalato durchgeführte Untersuchung. In: Mitteilungen der K. K. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale 2 N. F. (1903), Sp. 333–341, hier Sp. 336 f.

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zugleich den Abriss des Episkopiums überflüssig machen. Aber wie gezeigt, verteidigte er das Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert auch aus ästhetischen Gründen, da es „eine wesentliche Komponente des für Alt-Spalato so charakteristischen engen Straßenbildes“ sei. Er stellte die dominierende Ansicht infrage, ein freier Blick auf den Dom sei vorteilhaft, und stellte dem die Nahsicht aus dem umschlossenen Hinterhof des Episkopiums gegenüber. Riegls Argumentation überzeugte den Präsidenten der Zentral-Kommission, woraufhin Riegl im folgenden Jahr Kubitschek als Mitglied der Palastkommission ersetzte. Aber als Riegl im Oktober 1904 zur zweiten Kommissionssitzung nach Split reiste, stieß seine innovative Konservierungspolitik vor Ort auf unerwartet heftigen Widerstand. Bei diesem Treffen wurde Wien durch den Archäologen Otto Benndorf und den Architekten George (oder Georg) Niemann vertreten; letzterer hatte gerade die Arbeit an seiner schließlich 1910 veröffentlichten, umfassenden Darstellung „Der Palast Diokletians in Spalato“ aufgenommen. Die Stadt Split wurde repräsentiert durch den Archäologen Frane Bulić, einen Abgeordneten aus dem dalmatinischen Landtag, und Bürgermeister Milić, den wir bereits als Mitglied der vom Kaiser abgewiesenen Delegation vom Vorjahr kennengelernt haben.18 Den protokollarischen Mitschriften der Palastkommissionssitzungen zufolge hatten sich die Wiener Archäologen 1904 Riegls Ansichten bereits angeschlossen. Sie widersetzten sich nunmehr auch den Abrissen, da diese nachteilig in die Stadtstruktur eingreifen würden. Als der geplante Abriss des Episkopiums auf die Tagesordnung kam, wurde die Diskrepanz zwischen den Vertretern aus Split und Wien greifbar. Bürgermeister Milić bestätigte, dass die Stadtverwaltung immer noch den Abbruch auszuführen beabsichtigte, und erklärte sich bereit, die Maßnahme selbst auf Kredit durchzuführen. Dieser Vorschlag fand die Unterstützung des Repräsentanten des dalmatinischen Landtags, und ein Schreiben der katholischen Diözese erklärte ebenfalls das Einverständnis mit dem Abrissvorhaben. Wie es schien, wollte ganz Dalmatien das Bauwerk dem Erdboden gleichmachen. An dieser Stelle verzeichnen die Mitschriften, dass Riegl seine Gründe für den Erhalt des Episkopiums kurz wiederholte. Darauf reagierte Bulić mit folgender Tirade: „Mit Bezugnahme auf den in der Enquête des vorigen Jahres über den Diokletianischen Palast ausgesprochenen Wunsch betreffend die Abtragung des alten, ehemaligen Episkopiums, in Anbetracht der Umstände, daß dieses Gebäude erst im Jahre 1677 auf den Fundamenten des älteren, vom Feuer zerstörten Episkopiums gebaut, schon vor 80 Jahren als unbewohnbar von den Spalatiner Bischöfen verlassen und erst vor einigen Jahren zu Geschäftelokalen adaptiert wurde, in der Erwägung, daß es vom historischen und kunsthistorischen Standpunkte keinen Wert hat, weil das Haupttor, das einzige bemerkenswerte Stück am Gebäude, nichts Besonderes bietet, in Anbetracht der von mir und meinen Vorgängern seit 30 Jahren gestellten Vorschläge auf Abtragung, welcher Standpunkt vom Unterrichtsministerium und von der Zentral Kommission immer 18 Protokoll. In: Mitteilungen der K. K. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunstund Historischen Denkmale 3 N. F. (1904), Sp. 409 f., hier Sp. 409.



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gebilligt wurde, in Anbetracht des Umstandes, daß in den Mauern und in den Fundamenten dieses Gebäudes antike Überreste der Arkaden zwischen Ost- und Westtor des Palastes zu finden wären, und mit Rücksicht auf den für den Staat vorteilhaften Antrag der Gemeinde Spalato betreffend die Niederlegung des ganzen Hauses unterstütze ich den Antrag auf absolute, rasche Abtragung des alten Episkopiums.“19 Eine Abstimmung zu diesem Zeitpunkt hätte einen klaren Riss offenbart: Die Vertreter aus Wien waren strikt gegen den Abriss, die lokalen Kommissionsmitglieder unbedingt dafür. Glücklicherweise wurde nicht abgestimmt. Der Architekt Niemann entschärfte die Situation, indem er anbot, einen Kompromissentwurf anzufertigen, der nur Teile des Episkopiums betreffen würde. Alle Parteien stimmten dieser provisorischen Lösung zu, und das Schicksal des Bauwerks blieb offen. Als Riegl im Sommer 1905 verstarb, wurde er in der Palastkommission von Max Dvořák ersetzt, der in der Frage des Episkopiums sehr viel unnachgiebiger als sein Mentor war. Dvořák schrieb: „Noch auf seinem Sterbebette bat mich mein Lehrer und Vorgänger im Amte, […] in der Episkopiumfrage keine Konzessionen zu machen.“20 Dvořák hielt sein Wort.

Politik und Denkmalpflege Dvořák leistete einen beträchtlichen Beitrag zum Erhalt des historischen Split. Er stoppte allmählich die Immobilienkäufe und Abbrüche und lenkte stattdessen die Gelder aus Österreich in dringlichere Konservierungsaufgaben wie etwa die Restaurierung der Domtüren und die Sicherung des Vestibüls, also der Eingangshalle.21 Zwar wurden die Häuser hinter dem Baptisterium abgerissen, aber Dvořák gelang es, die Frage des Episkopiums einige Jahre aus der Diskussion zu halten. Anscheinend überzeugte er sogar Bulić und einige andere Mitglieder der Palastkommission, dass es keine so gute Idee sei, das architektonische Erbe freizulegen.22 Doch die politischen Geschehnisse auf dem Balkan und die öffentliche Meinung in Split machten seine Aufgabe noch schwerer, als sie ohnehin war. Kurz nach der kroatischen Krise und der kaiserlichen Zurückweisung von 1903 kam es in der südslawischen Politik zu zwei weiteren Konfrontationen. Zum einen gelangten Serben und Kroaten aus Dalmatien und Kroatien zu der Einsicht, ihre seit Langem 19 Ebd., Sp. 415 f. 20 Dvořák, Max: Restaurierungsfragen. Spalato. In: Kunstgeschichtliches Jahrbuch der der K. K. ZentralKommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale 3 (1909), Beiblatt, Sp. 117–142, hier Sp. 117. 21 Ders.: Die Restaurierung des Buvinatores am Dome in Spalato. In: Mitteilungen der K. K. Zentralkommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale 7 N. F. (1908), Sp. 347– 353; zum Vestibülprojekt vgl. Ders.: Der Diokletianische Palast in Spalato. In: Ebd. 8 N. F. (1909), Sp. 520–538. 22 Bulić (wie Anm. 1), S. 171, ist voll des Lobes für Dvořák, den er als einen Mann „mit der Erudition eines Gelehrten und dem Gefühl eines Künstlers“ bezeichnet.

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bestehenden religiösen Differenzen beiseitezulegen und ihren gemeinsamen Interessen durch Einigkeit zu dienen. Zum anderen kam eine kleine Gruppe scharfsinniger Politiker in Dalmatien dahinter, dass Österreich die Interessen der Kroaten niemals über diejenigen der Ungarn stellen würde, weshalb diese beschlossen, sich der ungarischen Opposition anzuschließen, die 1905 lautstark nach Unabhängigkeit von Österreich rief. Durch die Unterstützung ungarischer Forderungen nach vollständiger Autonomie glaubten die Kroaten, ihre eigene Lage verbessern zu können. Diesen beiden politischen Neuentwicklungen, also dem serbisch-kroatischen Bündnis und dem Zusammengehen mit der ungarischen Opposition, wurde im Oktober durch die Resolutionen von Fiume und Zara formalisierte Gestalt gegeben. Diese lösten in Wien schwere Besorgnis aus, denn sie riefen zu slawischer Einheit auf, forderten Verfassungsrechte in Kroatien und verlangten sogar die Eingliederung des zisleithanischen Dalmatien in das transleithanische Kroatien und damit eine österreichische Gebietsabtretung an Ungarn.23 Tatsächlich war der Tonfall in Fiume entschieden anti-österreichisch. Und wieder waren Milić und Trumbić zwei der treibenden Kräfte hinter den Resolutionen von Fiume und Zara. Beide waren im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zeitweise Bürgermeister von Split, damit hatten beide Erfahrung als Mitglieder der Palastkommission in Opposition zu den Wiener Mitgliedern, den Kulturrepräsentanten des nunmehrigen politischen Feinds. Trumbić sollte einer der Gründungsväter Jugoslawiens werden. Die unmittelbare Konsequenz der Resolutionen von Fiume und Zara war eine starke serbisch-kroatische Koalition, die beide Reichshälften umspannte und anscheinend eine schwere Bedrohung für die Integrität des Reichs darstellte. Die neue Einheit der Südslawen wurde in Wien mit großem Misstrauen gesehen. Als im Sommer 1908 das österreichische Außenministerium Vorbereitungen für die formelle Annexion Bosniens einleitete, begann der ungarische Gouverneur in Kroatien, vermeintliche serbische Verschwörer in seinem Zuständigkeitsbereich in Haft zu nehmen. Nachdem Österreich schließlich im Oktober 1908 die Annexion Bosnien-Herzegowinas verkündet hatte, wurden etwa fünfzig angebliche serbische Verschwörer in Zagreb wegen Hochverrats vor Gericht gestellt, um die notwendige Rechtfertigung für diesen offenen Bruch des Vertrags von Berlin (1878) zu liefern, der Serbien und Österreich an den Rand des Kriegs brachte. Serbien ließ erst im März 1909 nach Verhandlungen hinter verschlossenen Türen von seiner drohenden Haltung ab, doch in der Zwischenzeit hatte der namhafte österreichische Historiker Heinrich Friedjung öffentlich die gesamte serbischkroatische Koalition verräterischer Kontakte mit Serbien geziehen. Nachdem nicht weniger als 52 Angehörige dieser Koalition Friedjung wegen Verleumdung verklagt hatten, kam 1910 heraus, dass dessen Anschuldigungen auf Fälschungen beruht hatten, die das österreichische Außenministerium angefertigt und ihm zugespielt hatte.24 Damit 23 Seton-Watson (wie Anm. 14), S. 142–149. 24 Diese Fälschungen wurden von keinem Geringeren aufgedeckt als von Masaryk, Tomáš Garrigue: Vasić, Forgách, Aehrenthal. Einiges Material zur Charakteristik unserer Diplomatie. Prag 1911. Es lohnt sich, diese Faksimiles in Originalgröße auszufalten, weil die „originalen“ Fälschungen bewusst lächer-



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war die serbisch-kroatische Koalition entlastet und Alois Lexa von Aehrenthals Außenpolitik diskreditiert. Zerstört war nun auch Friedjungs Reputation als ein im Umgang mit Quellen glaubwürdiger Historiker. Kroaten, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter österreichisch-ungarischer Herrschaft lebten, hatten gerade in der Zeit von der kaiserlichen Abweisung der dalmatinischen Delegation 1903 bis zu den Hochverratsvorwürfen und ihrem krönenden Fiasko im Friedjung-Prozess, reichlich Gründe, den Herren aus Wien zu misstrauen. In Anbetracht der Behandlung der Südslawen des Habsburgerreichs in der Zeit der bosnischen Annexionskrise war es kaum überraschend, dass die Öffentlichkeit in Split Wiener Einmischungen in Kroatiens Nationalerbe nicht gerade gerne sah. Tatsächlich notierten die Protokolle der Palastkommission 1909 eine Reihe explizite Proteste gegen das Episkopium: Einer kam beispielsweise von einer Gruppe von Ärzten aus Split, ein anderer vom Dalmatinischen Architektenverband. Offenbar wurde sogar eigens ein Verein zu dem Zweck gegründet, das Episkopium abzureißen.25 Es ist unwahrscheinlich, dass diese Protestwelle ganz zufällig in diese Zeit fiel. 1908/09 war der archäologische Wunsch, Diokletians Mausoleum von späteren Zubauten zu befreien, eine politische Protestform geworden, welche die Befreiung Dalmatiens von Österreich vorwegnahm. Erinnert sei daran, dass Rudolf Eitelberger 1859 gehofft hatte, dass eine gute Regierung und ein sorgfältiger Umgang mit den Baudenkmälern in Dalmatien die reibungslose Angliederung des benachbarten Bosnien und der Herzegowina erleichtern würden. Fünfzig Jahre darauf geschah das genaue Gegenteil: Ungarns Repressionen, Österreichs Balkanpolitik und die Annexion von Bosnien-Herzegowina verwandelten die Schirmherrschaft über die Baudenkmäler von Split für die Herren aus Wien in eine sensible und politisch hochbrisante Aufgabe. Zum Abschluss möchte ich kurz auf Margaret Olins Feststellungen zu den von den Zeitgenossen wahrgenommenen Parallelen zwischen dem späten Römischen Reich und dem späten Habsburgerreich zu sprechen kommen. Ihr zufolge sahen Riegl und andere Diener des Habsburgerreichs viele Ähnlichkeiten zwischen ihrem eigenen Staat und dem zeitlich entlegenen Imperium, auf das sie so viel intellektuelle Energie verwandten.26 Aus der peripheren Perspektive von Split im frühen 20. Jahrhundert werden diese Parallelen jedoch zu Kollisionen, die Kongruenzen prallen aufeinander. Die Bewohner des römischen Palasts aus der späten Kaiserzeit, die zufällig auch im späten Habsburgerreich lebten, stellte die Frage des Episkopiums vor die Wahl zwischen zwei Herren: einem Kaiser, der fünfhundert Kilometer entfernt wohnte, dessen Türen sich demonstrativ vor seinen Untertanen schlossen und dessen Regierung bitter wenig für Dalmatien getan hatte, und einem anderen Kaiser, der zwar seit Langem tot, doch immer noch präsent lich groß angefertigt wurden, damit bei der fotografischen Wiedergabe Qualitätsverluste eintreten. Eines der Dokumente misst 977 mm x 346 mm. Zu Friedjung und den Fälschungen Seton-Watson (wie Anm. 14), S. 209‒287. 25 Dvořák, Der Diokletianische Palast (wie Anm. 21), Sp. 534. 26 Olin, Margaret: Alois Riegl: The Late Roman Empire in the Late Habsburg Empire. In: The Habsburg Legacy: National Identity in Historical Perspective. Hg. v. Ritchie Robertson und Edward Timms. Edinburgh 1994, S. 107–120.

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Abb. 8  Split, Mausoleum mit seiner Umgebung, Rekonstruktion nach George Niemann, wahrscheinlich 1907/08.

in seinem teilweise der Sicht entzogenen Mausoleum im Zentrum von Split (Abb. 8) war – der Stadt, die er, ohne es zu wollen, gründete, als er die Last der Macht ablegte, um, wie die Legende behauptet, Kohlköpfe in seiner heimatlichen Erde zu züchten. So ist es geradezu bemerkenswert, dass das Episkopium noch so lange Zeit überdauerte. Seine Zerstörung im Jahr 1924 ist ein frappierender Beleg des engen und oft belasteten Zusammenhangs zwischen Politik und kulturellem Erbe. Aus dem Englischen von Andreas R. Hofmann



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Summary With Diocletian against Austria Destructive reconstruction and the episcopium controversy  at the Palace of Diocletian in Split, 1850–1918 This contribution traces the history of Austria’s custodianship of the Palace of Diocletian, with a particular focus on a seventeenth-century bishop’s residence that once stood at the centre of the palace complex, partially obscuring the mausoleum of its imperial Roman patron. While the mausoleum of Diocletian still stands, the bishop’s residence does not – it was destroyed by fire in 1924, several years after the creation of Yugoslavia. The general consensus now is that the fire was started deliberately, probably by a local resident, although the reasons for the supposed arson attack remain obscure. This contribution moots political motivations, citing separatist and anti-Austrian sentiment in the Balkans as the principal aggravating factors. Until about 1903, Austrian cultural politics and destructive restoration work at the Palace of Diocletian were generally well received in Split. After 1903, archaeologists and conservators from Vienna suddenly found that their presence in Dalmatia was less welcome. This change in attitudes likely had as much to do with nationality politics as it did with the major shift in preservation policy introduced that year by Alois Riegl, whose conservative innovations might have been beneficial for Split under different political circumstances. In the event, his energetic involvement only inflamed an already heated situation as Dalmatian allegiances started to abandon a distant Austrian emperor in favour of his third-century counterpart, Diocletian.

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F un kt i on al i si eru n g d es römische n Erbe s Die Rekonstruktion des Siegesmonuments Tropaeum Traiani in Adamclisi und die Geschichtspolitik im Rumänien des 20. Jahrhunderts

Robert Born

In der Folge des russisch-türkischen Kriegs von 1877/78, in dem Rumänien auf der Seite des Zarenreichs kämpfte, wurde dem sogenannten Altreich, dem 1859 durch die Vereinigung der Walachei mit der Moldau geschaffenen Fürstentum Rumänien (Principatele Române), der zentrale und nördliche Teil der Dobrudscha zugesprochen. Das neue Gebiet zwischen dem Unterlauf der Donau und dem Schwarzen Meer war über mehrere Jahrhunderte Teil des Osmanischen Reichs gewesen und wurde mehrheitlich von Türken und Tataren bewohnt. Nach 1878 wandelte sich die ethnische und konfessionelle Zusammensetzung durch die massive Auswanderung der muslimischen Bevölkerung ins Osmanische Reich und die sukzessive Ansiedlung rumänischer Kolonisten. Parallel zu diesen bevölkerungspolitischen Umschichtungen förderte die Bukarester Regierung die wirtschaftliche Erschließung der kargen Landschaften in dem neuen Territorium.1 Zeitgleich setzte eine wissenschaftliche Erforschung des neuen Landesteils ein. Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei die Erfassung der antiken Strukturen, die aufgrund der dünnen Besiedlung und des damit einhergehenden Ausbleibens mittelalterlicher und neuzeitlicher Überbauungen in einer beachtlichen Dichte vorhanden waren. Zu den prominentesten Bestandteilen dieser Denkmallandschaft zählten die vormaligen griechischen Kolonien an der Schwarzmeerküste wie Tomis (heute in Constanţa), Histria/Istros (Istria) oder Callatis (Mangalia) sowie die Städtegründungen der römischen Kaiserzeit und die spätantiken Militärlager. Nach 1880 setzten die ersten Grabungen in der Dobrudscha ein, zudem entstanden in Constanţa, Mangalia und Tulcea die ersten archäologischen Museen.2 Die Antike bildete ab Mitte des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Referenzpunkt der Geschichtspolitik in dem noch jungen Nationalstaat. Im Lauf der Zeit kristallisierten sich zwei bedeutende Narrative heraus. Eine Linie wies den Dakern, ein den Thrakern verwandtes Volk, das seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. im Bereich zwischen der westlichen Schwarzmeerküste und der Pannonischen Tiefebene siedelte, die Hauptrolle im Prozess der Herausbildung des rumänischen Volks zu. Im Unterschied dazu sahen 1 Iordachi, Constantin: Internal Colonialism. The Expansion of Romania’s Frontier into Northern Dobrogea after 1878. In: National Borders and Economic Disintegration in Modern East Central Europe. Hg. v. Uwe Müller und Helga Schultz. Berlin 2002 (Frankfurter Studien zur Grenzregion 8), S. 77–108. 2 Vulpe, Radu: Activitatea arheologică în Dobrodgea în cei cincizeci de ani de stăpânire românească [Die archäologische Tätigkeit in der Dobrudscha in den fünfzig Jahren rumänischer Herrschaft]. In: Analele Dobrogei 9/1 (1928) = Sonderheft: 1878–1928. Dobrodgea cincizeci de ani de viaţă românească. Bucureşti 1928, S. 117–144.



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Abb. 1  Adamclisi (dt. Adamklissi), Reste des originalen Kernbaus des Tro­paeum Traiani in der Zwischenkriegszeit.

die sogenannten Latinisten in der knapp zwei Jahrhunderte währenden Zugehörigkeit zum Römischen Reich (102–275 n. Chr.) die prägende Phase für die Genese des rumänischen Volks. Vor diesem Hintergrund übernahm die noch junge Disziplin der Archäologie eine immer wichtigere Rolle im Kontext der nationalen Historiographie.3 Dies illustrieren exemplarisch die Aktivitäten von Grigore G. Tocilescu (1850–1909), der 1880 nach Studien in Prag und Wien auf den Lehrstuhl für Alte Geschichte und Epigraphik an der Bukarester Hochschule berufen wurde und 1881 die Leitung des Nationalmuseums für Altertumskunde (Muzeul National de Antichităţi) übernahm.4 Das prominenteste Forschungsprojekt dieser Einrichtung in der Dobrudscha waren die Untersuchungen der antiken Reste in dem etwa fünfzig Kilometer südwestlich von Constanţa gelegenen Dorf Adamclisi (dt. Adamklissi). Die markanteste Struktur vor Ort war ein massiver zylindrischer Bau aus Bruchsteinmauerwerk mit einem Durchmesser von etwa dreißig Metern, der auf einem Unterbau mit sieben Stufen lagerte (Abb. 1).5 Der bis auf eine Höhe von vierzehn Metern erhaltene Kernbau war ursprünglich mit Kalksteinplatten und figürlich verzierten Tafeln bzw. Zinnen ausgekleidet. Diese Elemente waren ebenso wie die zentrale Bekrönung in Form eines skulptierten, mehrere 3 Gheorghiu, Dragoş/Schuster, Cristian F.: The Avatars of a Paradigm. A Short History of Romanian Archaeology. In: Archäologien Europas. Geschichte, Methoden und Theorien. Hg. v. Peter F. Biehl, Alexander Gramsch und Arkadiusz Marciniak. Münster u. a. 2002 (Tübinger archäologische Taschenbücher 3), S. 289–301, hier S. 291; Boia, Lucian: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft. Köln-Weimar-Wien 2003 (Studia Transylvanica 30), S. 101–121. 4 Mecu, Mijomir: Grigore G. Tocilescu (1850–1909) iniţiatorul arheologiei clasice ştiinţifice în România [Grigore G. Tocilescu (1850–1909) – Begründer der wissenschaftlichen Klassischen Archäologie in Rumänien]. In: Arheologia clasică în România. Primul secol. Hg. v. Alexandru Barnea. Cluj-Napoca 2003, S. 71–124. – Zum Nationalmuseum für Altertumskunde vgl. Preda Constantin: Muzeul National de Antichităţi [Nationalmuseum für Altertumskunde]. In: Enciclopedia istoriografiei românesti. Hg. v. Ştefan Ştefănescu und Adolf Armbruster. Bucureşti 1978, S. 384 f. 5 Florescu, Bobu Florea: Das Siegesdenkmal von Adamklissi, Tropaeum Traiani. Bukarest-Bonn 1965; Sâmpetru, Mihai: Tropaeum Traiani 2. Monumentele romane [Tropaeum Traiani 2. Die römischen Denkmäler]. Bucureşti 1984 (Biblioteca de arheologie 45).

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Meter hohen Tropaions, an dessen Basis gefesselte weibliche Figuren lagerten, infolge der in dieser Region häufigen Erdbeben herabgestürzt. Die schweren Stücke verblieben rund um den Kernbau, während die leichteren Teile in die benachbarten Siedlungen gelangten und dort als Grabsteine bzw. Teile von Brunnenanlagen sekundär verwendet wurden.6

Interpretationen und Rekonstruktionsvorschläge  vor dem Ersten Weltkrieg Die von Tocilescu zwischen 1882 und 1890 vor Ort durchgeführten Arbeiten konzentrierten sich auf Prospektionen zur Erfassung der zerstreuten Architekturfragmente und Sondagen im Umfeld des Kernbaus. Seine Berichte an die rumänische Akademie der Wissenschaften und vor allem die ausgehend von verschiedenen Inschriftenfragmenten vorgeschlagene Interpretation des Zentralbaus als ein von Kaiser Trajan in Erinnerung an seinen Sieg über die Daker erbautes Denkmal wurden insbesondere von Mihail Kogălniceanu (1817–1891) mit lebhaftem Interesse verfolgt.7 Der liberale Politiker hatte in Berlin studiert und prägte anschließend in unterschiedlichen politischen Ämtern, darunter als Ministerpräsident, maßgeblich die Entwicklung Rumäniens zum unabhängigen Nationalstaat. In seinen historischen Schriften wies er den Dakern eine besondere Rolle in der antiken Geschichte des Landes zu. Damit bewegte er sich in einer gewissen Opposition zur älteren Linie der „Latinisten“, die für die nationale Emanzipationsbewegung von zentraler Bedeutung gewesen war und – wie bereits erwähnt – eine entscheidende Rolle der Römer im Prozess der Ethnogenese postulierte.8 In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte sich Kogălniceanu intensiv mit den archäologischen Zeugnissen aus der Dobrudscha. Dabei zeigte er Verständnis für den Transfer der figürlich verzierten Architekturglieder nach Bukarest.9 Tocilescu hatte 1887 und 1888 die ersten Transporte von Originalstücken in die rumänische Hauptstadt veranlasst, auf die weitere Translationen 1893/94 sowie 1898 folgten. Ein Argument für die Verlagerung war der Schutz der Originale vor einem Verbauen durch die lokale Bevölkerung.10 Die im Nationalmuseum für Altertumskunde gelagerten Stücke regten die Phantasie der Historiker und Archäologen an. Bereits 1888 publizierte Alexandru Ioan Odobescu (1834–1895) einen ersten Rekonstruktionsvorschlag.11 Die Veröffentlichung dieser 6 Florescu (wie Anm. 5), S. 45–50. 7 Barbu, Vasile/Schuster, Cristian: Grigore Tocilescu şi chestiunea Adamclisi [Grigore Tocilescu und die Adamclisi-Angelegenheit]. Tîrgovişte 2005, S. 113–133; Zur Rekonstruktion der Inschrift vgl. Florescu (wie Anm. 5), S. 61–63. 8 Boia (wie Anm. 3), S. 106–108; Jelavich, Barbara: Mihail Kogălniceanu: Historian as Foreign Minister, 1876–8. In: Historians as Nation-Builders. Central and South-East Europe. Hg. v. Dennis Deletant und Harry Hanak. Basingstoke 1988 (Studies in Russia and East Europe), S. 87–105. 9 Zub, Alexandru: Mihail Kogălniceanu, istoric [Mihail Kogălniceanu, Historiker]. Iaşi 1974, S. 797 f. 10 Barbu/Schuster (wie Anm. 7), S. 191–206. 11 Florescu (wie Anm. 5), S. 368–371 und Abb. 161.



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Überlegungen koinzidierte mit den Anfängen eines weiteren Projekts. Im Jahr 1886 beauftragte das rumänische Kulturministerium den deutschen Architekten Heino Schmieden (1835–1913) mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für einen Großkomplex, in dem neben dem Nationalmuseum auch noch eine Bibliothek, das Staatsarchiv und die Akademie der Wissenschaften untergebracht werden sollten. Vor dem Gebäude sollte eine Nachbildung der in Rom stehenden Trajanssäule entstehen.12 Die Aufstellung einer Kopie dieses aufgrund der detaillierten bildlichen Schilderung der Daker-Kriege des Kaisers für das rumänische Nationalbewusstsein zentralen Denkmals wurde von Kogălniceanu bereits 1867 in einer Sitzung des rumänischen Parlaments gefordert.13 Eine vergleichbare Position vertrat Odobescu ein Jahrzehnt später.14 Im Jahr 1890 wurde dann im Parlament auch die Frage eines Wiederaufbaus des trajanischen Triumphdenkmals von Adamclisi in Bukarest unter Rückgriff auf die aus der Dobrudscha dorthin gebrachten Originalstücke diskutiert. Hierbei unterstützte Kogălniceanu den entsprechenden Vorschlag von Tocilescu.15 Dessen Zuversicht hinsichtlich der Realisierbarkeit des Vorhabens basierte wohl zu einem großen Teil auf den Ergebnissen der im selben Jahr in Adamclisi durchgeführten Bauforschungen. Für die Durchführung dieser Arbeiten konnte Tocilescu zwei der profiliertesten Spezialisten auf diesem Gebiet, den Architekten George Niemann (1841–1912) und den Wiener Archäologie-Professor Otto Benndorf (1838–1907), gewinnen. Beide hatten bereits 1881/82 auf einer Expedition nach Karien und Lykien zusammengearbeitet. Die dabei erstellten Rekonstruktionszeichnungen sorgten für Aufsehen in der Fachwelt.16 Im Jahr 1895 präsentierte Tocilescu gemeinsam mit Niemann und Benndorf die Ergebnisse der Untersuchungen in einer opulenten Publikation, die zeitgleich auf Deutsch und Rumänisch erschien und von dem Wiener Kunstmäzen Nikolaus Dumba (1830–1900) finanziert wurde.17 Die graphische Rekonstruktion des Denkmals in Adamclisi erfolgte in Anlehnung an das kurz vor der Zeitenwende bei La Turbie an der ligurischen Küste errichtete Tropaeum Alpium sowie den kaiserzeitlichen Mausoleen in Rom und zeigt einen zylindrischen Baukörper auf einem Podium, das durch sieben Stufen erhöht ist. Die Außenflächen des Zylinders weisen im unteren Bereich eine Verkleidung mit Stein12 Peters, Oleg: Heino Schmieden: Leben und Werk des Architekten und Baumeisters 1835–1913. Berlin 2016, S. 263 f., Kat.-Nr. 35. 13 Tzigara-Samurcaș, Alexandru: Columna Traiană [Die Trajanssäule]. In: Convorbiri Literare 67/4 (1934), S. 331–336, hier S. 334. 14 Vulpe, Radu: Columna lui Traian. Monumentul etnogenezei Românilor [Die Trajanssäule. Denkmal der Ethnogenese der Rumänen]. Bucureşti 1988, S. 246. 15 Florescu (wie Anm. 5), S. 26 f. 16 Szemethy, Hubert: From Samothrace to Spalato/Split. The Architectural Drawings of Ancient Buildings and Sites by George Niemann (1841–1912). In: Cogitata tradere posteris. Figurazione dell’architettura antica nell’Ottocento. Hg. v. Francesca Buscemi. Acireale-Roma 2010, S. 87–109, hier S. 96; Kenner, Hedwig: Otto Benndorf (1838–1907). In: Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von klassischen Archäologen deutscher Sprache. Hg. v. Reinhard Lullies und Wolfgang Schiering. Mainz 1988, S. 67 f. 17 Das Monument von Adamklissi. Tropaeum Traiani. Hg. v. Grigore George Tocilesco unter Mitwirkung v. Otto Benndorf und George Niemann. Wien 1895.

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Robert Born Abb. 2  Rekonstruktion des Tropaeum Traiani nach George Niemann.

Abb. 3  Rekonstruktion des Tropaeum Traiani nach Adolf Furtwängler mit dem neu konzipierten Oberbau.



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platten auf, die ein Quadermauerwerk imitieren, während die obere Zone als eine Abfolge von 54 metopenartigen Feldern, die mit Pilastern alternieren, gestaltet wurde. Als Traufgesims fungiert ein Kranz von Zinnen, die jeweils mit Figuren von Gefangenen verziert sind. Der obere Abschluss des Zentralbaus ist in Form eines runden geschuppten Dachs gestaltet, aus dem die sechseckige Basis für das monumentale Tropaion emporragt (Abb. 2). Dieser Rekonstruktionsvorschlag wurde mit Blick auf einzelne Details kritisiert,18 die Grundstruktur allerdings weitgehend akzeptiert und bei den meisten nachfolgenden Rekonstruktionen nur punktuell variiert. Gleichzeitig beförderten die hochwertigen Abbildungen der Bauplastik in der von Tocilescu herausgegebenen Monographie neue Diskussionen mit Blick auf die Datierung und die ursprüngliche Funktion der Anlage. Hierbei spielten formal-ästhetische und ikonographische Überlegungen eine zentrale Rolle. Gerade die wiederholt angestellten Vergleiche mit den Reliefs der Trajanssäule in Rom ließen die Besonderheiten der Darstellungen in Adamclisi deutlich hervortreten. So zeichnen sich letztere durch geschlossene Kompositionen aus, die eine kontinuierliche Erzählung und damit auch eine Rekonstruktion der Reihenfolge der Bildfelder erschweren. Die handwerklich wenig anspruchsvoll gestalteten Figuren weisen nahezu geometrisch geformte Körperkonturen auf. Nichtdestotrotz kennzeichnet die figürlichen Reliefs der Hauptbildfelder wie auch auf dem Zinnenkranz eine expressive Wirkung. Zu den einflussreichsten Arbeiten, die eine neue Interpretation des Befunds ausgehend von stilkritischen Überlegungen im Verbund mit bautechnischen Erwägungen unternahmen, zählen die Beiträge des Münchener Archäologen Adolf Furtwängler (1853–1907). Dieser versuchte ausgehend von Beobachtungen zu einzelnen Details der Darstellungen vor allem der Haartracht und Kleidung, die ethnische Zugehörigkeit der Figuren zu bestimmen. Dabei identifizierte er germanische Bastarnen unter den Gefangenen und datierte das Bauwerk in die augusteische Zeit, also annähernd ein Jahrhundert früher als in der Publikation von Tocilescu, Niemann und Benndorf. Somit galten die Gefangenenfiguren mit dem Haarknoten als früheste bekannte Darstellungen von Germanen.19 Die frühe Datierung konnte sich zwar nicht durchsetzen, dafür erfuhr die Verknüpfung des Monuments mit den Germanen eine weite Verbreitung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.20 Weit länger Bestand hatte die von Furtwängler rekonstruierte Form der zentralen Partie des Denkmals (Abb. 3).21 Sowohl die steileren Proportionen dieses Bauteils als auch dessen zweiteilige Gliederung und die neue Position der Inschrift wurden auf den nachfolgenden graphischen Rekonstruktionen übernommen.22 Eine praktische Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen 18 Florescu (wie Anm. 5), S. 374–377. 19 Furtwängler, Adolf: Das Monument von Adamklissi und die ältesten Darstellungen von Germanen. In: Ders.: Intermezzi. Kunstgeschichtliche Studien. Berlin-Leipzig 1896, S. 49–77. 20 Krierer, Karl R.: »truces vultus« im Blick der Wissenschaft. Zur Geschichte der Germanenbildforschung. Eine Vorausschau. In: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Anzeiger der philosophischhistorischen Klasse 134/2 (1997–1999), S. 97–126, hier S. 101 f. 21 Furtwängler, Adolf: Das Tropaion von Adamklissi und die provinzialrömische Kunst. München 1903 (Denkschriften der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 74/3). 22 Florescu (wie Anm. 5), S. 381.

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erfolgte jedoch nicht, was retrospektiv am Tod von Grigore Tocilescu im Jahr 1909 festgemacht worden ist. Dieser hatte in seinen letzten Lebensjahren die Reste des in der Nachbarschaft des Triumphdenkmals errichteten Altars, an dessen Außenseiten die Namen der gefallenen Soldaten verzeichnet waren, und den vermutlich für einen gefallenen Feldherrn angelegten Grabhügel untersucht. Die dabei gemachten Beobachtungen ermöglichten eine Interpretation dieser Strukturen als eines einheitlich geplanten Memorialkomplexes, der nach einer für die Römer sehr verlustreichen Schlacht im Verlauf des ersten Feldzugs gegen die Daker (102/3 n. Ch.) erbaut wurde.23 Parallel koordinierte Tocilescu auch die Erforschung der befestigten Anlage auf dem Plateau in der Nachbarschaft des kommemorativen Ensembles. Hierbei handelte es sich um die Reste einer Siedlung, die sich ab der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. entwickelt hatte.24 Die Grabungen wie auch das vor Ort eingerichtete kleine Museum wurden jedoch vor 1918 von der rumänischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Darüber klagte der Historiker, Schriftsteller und Politiker Nicolae Iorga (1871–1940) rückblickend voller Bitterkeit.25 Die Originale des Triumphdenkmals verbrachte man zwischen November 1912 und März 1913 vor den sogenannten Kunstpalast.26 Das im neurumänischen Stil errichtete Gebäude bildete durch seine erhöhte Lage auf dem Filaret-Hügel eine Dominante der Landesausstellung von 1906. Der neue Stil, bei dem zum Beispiel offene Arkaden, steile, weit vorkragende Überdachungen, die vor allem bei den Sakral- und Residenzbauten des 16. und 17. Jahrhunderts verbreitet waren, mit landesüblichen Dekorationselementen wie Holzpfosten sowie farbige Keramik- und Steinornamente mit geometrischen oder stilisierten pflanzlichen Motiven kombiniert wurden, war ein Manifest des erstarkten Nationalbewusstseins. Im Rahmen der Schau, die man anlässlich der 1800-JahrFeier der Ankunft Kaiser Trajans in Dakien sowie der 25 Jahre seit der Ausrufung des Königreichs und des 40-jährigen Regierungsjubiläums König Carols I. (reg. 1866–1914) ausrichtete, entstand im Kunstpalast auch das „Museum unserer Vergangenheit“ (Muzeul trecutului nostru).27 Die Originalstücke des Triumphdenkmals von Adamclisi überdau23 Sâmpetru (wie Anm. 5), S. 32–35. 24 Barnea, Ion: Aşezarea geografică. Numele. Istoricul cercetărilor [Die geographische Lage. Der Name. Geschichte der Erforschung]. In: Tropaeum Traiani 1. Cetatea. Hg. v. Dems. Bucureşti 1979 (Biblioteca de arheologie 35). S. 13–34, hier S. 15–24. 25 Iorga, Nicolae: România mamă a unităţii naţionale cum era până la 1918 [Rumänien, die Mutter der nationalen Einheit, wie dieses bis 1918 war]. Bd. 1–2. Bucureşti 1939–1940, hier Bd. 2: Moldova şi Dobrogea [Die Moldau und die Dobrudscha], S. 342. 26 Păunescu, Alexandru: Strădaniile lui Vasile Pârvan pentru salvarea şi recuperarea obiectelor preţioase din Muzeul Naţional de Antichităţi precum şi a pieselor arheologice din Dobrogea [Die Anstrengungen von Vasile Pârvan zur Rettung und Wiederbeschaffung der Wertobjekte aus dem Nationalmuseum für Altertumskunde sowie der archäologischen Stücke aus der Dobrudscha]. In: Carpica 23/1 (1992), S. 15–39, hier S. 21, Anm. 4. 27 Kallestrup, Shona: Art and Design in Romania; 1866–1927. Local and International Aspects of the Search for National Expression. Boulder 2006 (East European Monographs 684), S. 88–100 (zur Jubiläumsausstellung 1906) und S. 161–186 (zum neurumänischen Stil); Sora, Andrei-Florin: L’Histoire à l’Exposition / L’histoire dans l’Exposition. L’Exposition Nationale Roumaine de 1906. In: In Medias Res. Studii de istoria culturii. Hg. v. Adrian Cioflâncă und Andi Mihalache. Iaşi 2007, S. 491–503, hier S. 498–501.



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Abb. 4  Bukarest, Aufstellung der Originalfragmente aus Adamclisi auf der Terrasse des Militärmuseums in der Zwischenkriegszeit.

erten vor dem Kunstpalast den Ersten Weltkrieg (Abb. 4), in dessen Verlauf Rumänien von Dezember 1916 an für anderthalb Jahre durch die Truppen der Mittelmächte besetzt wurde. In dieser Periode stellten die Reliefs in Bukarest aufgrund ihrer Deutung als wichtige Quellen zur germanischen Frühgeschichte einen Fixpunkt der kulturellen Aktivitäten der deutschen Besatzer dar.28 Bereits unmittelbar vor der Einnahme der rumänischen Hauptstadt äußerte sich Gustaf Kossinna (1858–1931), ein prominenter Vertreter der deutschen Vorgeschichtsforschung und gleichzeitig ein Exponent rassisch konnotierter Konzepte innerhalb dieser Disziplin,29 wie folgt: „[…] mögen die Bomben unserer Flieger, die Bukarest in gerechte Strafe genommen haben, diese Schätze verschonen, die auch unsere Heiligtümer sind. […] Der seinerzeit von rumänischer Seite geäußerte Gedanke, das Denkmal von Adamklissi in Bukarest selbst vollständig von Neuem wieder erstehen zu lassen und dieser Stadt damit einen einzigartigen, glanzvollen Schmuck zu schenken, wird nunmehr, ganz abgesehen von seiner geschichtlichen Unwahrheit, infolge des Verlustes der Dobrudscha für Rumänien in Bukarest wohl für immer begraben bleiben.“30 Der von Kossinna geäußerte Wunsch, die originalen Strukturen mögen in Adamclisi die Kampfhandlungen unbeschadet überstehen, erfüllte sich nur teilweise. Zwar blieb der Kernbau intakt, dafür wurde aber das lokale Museum – wohl durch Plünderungen der dort einquartierten bulgarischen Truppen – weitgehend zerstört.31 28 Born, Robert: Von Besatzern zu Besetzten. Kunstschutz und Archäologie in Rumänien zwischen 1916 und 1918. In: Kunstschützer oder Apologeten der Vernichtung? Kunsthistoriker der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg. Hg. v. Dems. und Beate Störtkuhl. Köln-Weimar-Wien 2017 (Visuelle Geschichtskultur 16) [in Vorbereitung zum Druck]. 29 Grünert, Heinz: Gustaf Kossinna. Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Rahden/Westf. 2002 (Vorgeschichtliche Forschungen 22). 30 Kossinna, Gustaf: Das früheste Germanendenkmal an der Dobrudschafront. In: Alldeutsche Blätter 62 (1916), S. 459–461, hier S. 461. 31 Boroneanţ, Adina: Vasile Pârvan şi patrimoniul arheologic dobrogean în timpul Primului Război Mondial. Documente în Archiva Muzeului Naţional de Antichităţi [Vasile Pârvan und die archäologischen

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Das Tropaeum Traiani und der politische Totenkult der Zwischenkriegszeit Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Bestimmungen der Pariser Vorortverträge markierten den Ausgangspunkt für eine semantische Neucodierung des römischen Siegesdenkmals von Adamclisi und dessen Rekonstruktion. In dem durch die Angliederung von Siebenbürgen (Transsylvanien), der Bukowina, Bessarabien sowie dem Banat an das Altreich geschaffenen Groß-Rumänien übernahm der Rekurs auf die antike Vergangenheit eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion einer neuen staatlichen Identität.32 Das Denkmal in Adamclisi bildete gemeinsam mit der Trajanssäule in Rom und den in Turnu Severin erhaltenen Pfeilerresten der von Apollodor von Damaskus geplanten Donaubrücke, über welche die Legionen Trajans nach Dakien gelangten,33 einen wichtigen Referenzpunkt der staatlichen Geschichtspolitik. Im Fall des Monuments von Adamclisi zeichnet sich eine deutliche Verzahnung mit der Kommemoration der Kämpfe der rumänischen Armee zwischen 1916 und 1918 ab, die man als wichtigsten Beitrag zur „Wiederherstellung des Vaterlandes“ präsentierte. Als zentrale Plattform für diese Inszenierung diente das Militärmuseum in Bukarest, das 1923 in dem vormaligen Bau des Kunstpalasts eingerichtet wurde.34 In Anbetracht des dort kurzzeitig angesiedelten „Museums unserer Vergangenheit“ und der seit 1913 dort aufgestellten Originalfragmente des Triumphdenkmals aus Adamclisi erscheint die Wahl dieses Standorts für die Gedenkstätte an den Unbekannten Soldaten wenig überraschend. Bei der Implementierung dieser neuen Form der Verehrung der Helden des Ersten Weltkriegs orientierte man sich an den zeitgleichen Inszenierungen in Westeuropa.35 Eine spezifisch rumänische Note der Kommemoration wurde durch die Grabinschrift eingebracht. Diese hebt die Opferleistung des Soldaten für die Wiederherstellung der territorialen Einheit Rumäniens, der Heimat eines durch den griechisch-orthodoxen Glauben geeinten Volks hervor.36 Diese somit primär ethnisch (rumänisch) definierte

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Bestände in der Dobrudscha während des Ersten Weltkriegs. Dokumente aus dem Archiv des Nationalmuseums für Altertumskunde]. In: Studii şi cercetări de istorie veche şi arheologie 58 (2007), S. 229–264, hier Dokument 9, S. 249. Born, Robert: Römer und/oder Daker. Zur symbolischen Funktionalisierung der Antike in Rumänien von 1918 bis 1989. In: Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienste staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918. Hg. v. Arnold Bartetzky, Marina Dmitrieva und Stefan Troebst. Köln-Weimar-Wien 2005 (Visuelle Geschichtskultur 1), S. 257–271, hier S. 258–263. Light, Duncan/Dumbrăveanu-Andone, Daniela: Heritage and National Identity. Exploring the Relationship in Romania. In: International Journal of Heritage Studies 3/1 (1997), S. 28–43, hier S. 36–39. Udrea, Traian: Muzeul Militar Central [Das Zentrale Militärmuseum]. In: Enciclopedia istoriografiei românesti (wie Anm. 4), S. 383. Zur Ausbildung dieser Form der Kommemoration in Westeuropa vgl. Koselleck, Reinhart: Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus 7 (2003), S. 137–166; Jagielski, Jean-François: Le soldat inconnu; invention et postérité d’un symbole. Paris 2005. Bucur, Maria: Heroes and Victims. Remembering War in Twentieth-Century Romania. Bloomington-Indianapolis 2009, S. 119–122.



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Abb. 5  Mărăşeşti, Mausoleum, erbaut nach dem Vorbild des Tropaeum Traiani, 1923–1938.

Identität des neuen Staats wurde durch die rahmende Aufstellung der Originalfragmente aus Adamclisi in einer Traditionslinie verortet, an deren Anfang Kaiser Trajans militärischer Triumph stand. Eine vergleichbare Verzahnung der Tradition der Romanität mit der orthodoxen Konfession begegnet in dem Mausoleum von Mărăşeşti. Die ursprünglichen Planungen vom Ende der 1920er Jahre sahen die Errichtung einer „Kirche der Nation“ vor.37 Der Mitte der 1930er Jahre realisierte Komplex steht allerdings deutlich in der Tradition der römischen Architektur (Abb. 5). Das Herzstück der Anlage, der von George Cristinel (1871–1961) und Constantin Pomponiu (1887–1945) entworfene Zentralbau, offenbart sowohl durch seine Form als auch durch seine Dimensionen eine deutliche Verwandtschaft zum Tropaeum Traiani, ein Aspekt, der in den Presseberichten anlässlich der Einweihung 1938 hervorgehoben wurde.38 Die programmatische Bezugnahme auf die römische Vergangenheit spiegelt die neuen politischen Realitäten unter dem autokratischen Regime von König Carol II. (reg. 1930–1940) wider. Dieser förderte einen neuen Baustil als Medium der staatlichen Repräsentation, bei dem klassizisierende und modernistische Elemente miteinander kombiniert wurden und der formal eine deutliche Ähnlichkeit zu dem im faschistischen Italien verbreiteten stile littorio aufweist.39 In dem gewandelten Klima jener Jahre wurde auch das Vorhaben zur Aufstellung einer Kopie der Trajanssäule in Bukarest wiederaufgenommen. So sollte entsprechend dem Regulierungsplan von 1934 der Aufschwung des Landes wie auch dessen außergewöhnliche Vergangenheit in der Hauptstadt durch eine Kombination modernistischer Verwaltungsbauten mit monumentalen Achsen und Platzanlagen veranschaulicht wer-

37 Ebd., S. 127. 38 Voiculescu, Zefira: Întru slava eroilor neamului. Istoricul Mausoleului de la Mărăşeşti [Zum Ruhme der Helden des Volkes. Die Geschichte des Mausoleums von Mărăşeşti]. Bucureşti 1971, S. 50 und S. 57. 39 Popescu, Carmen: King Carol II and the Built Image of New Nationalism. In: Matica Srpska 36 (2008), S. 207–224.

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den.40 Entsprechend sah ein Entwurf Duiliu Marcus, des Hofarchitekten Carols II., für die Neugestaltung der Piaţa Victoriei (Siegesplatz) die Aufstellung der Trajanssäule im Zentrum einer kreisförmigen Anlage vor.41 Im Jahr 1937 nahm die Rumänische Schule in Rom erste Kontakte mit dem Lateran-Museum auf, in dem gerade Abgüsse der Trajanssäule aus Stahlbeton angefertigt wurden. Die vom rumänischen Staat bestellten und bezahlten Kopien wurden 1939 fertiggestellt und blieben aufgrund des Kriegsausbruchs zunächst in Rom.42 Die Anfertigung der Abgüsse wurde durch die guten Beziehungen zwischen Italien und Rumänien begünstigt. In der Kulturpolitik wie auch der Publizistik spielte der Verweis auf die gemeinsame römische Abkunft eine immer wichtigere Rolle. Rumänien galt als „Tochter Roms“.43 Die bereits am Ende des Ersten Weltkriegs verbreitete nationalistische Idee der Romanità wurde unter dem faschistischen Regime in Italien zu einem bedeutenden Bestandteil der staatlichen Propaganda.44 So schenkte der italienische Staat Rumänien in den 1920er Jahren mehrere Kopien der Lupa Romana, die für eine Aufstellung in den bedeutendsten Städten des Landes gedacht waren. Dies erfolgte dann unter rumänischer Regie vorrangig in den Zentren der Regionen, die erst kurz zuvor in den rumänischen Staatsverband integriert worden waren. Die Kopien der Statuengruppe vom Kapitol und die in Rumänien damit assoziierte Idee der Latinität dienten somit primär der symbolischen Markierung und historischen Legitimierung der neuen Staatsmacht.45 Parallel hierzu gelangten Abgüsse der Reliefs des Tropaeum Traiani nach Italien und wurden dort prominent in der 1937/38 in Rom gebotenen Schau „Mostra Augustea della Romanità“ (Augusteische Schau des Römertums) inszeniert.46 Zudem kombinierte man auf Fotomontagen das Denkmal in Adamclisi mit weiteren antiken Triumphbauten wie dem Konstantinsbogen und dem von Marcello Piacentini (1881–1960) entworfenen Siegesdenkmal in Bozen (Bolzano). Außerdem fügte man den Text der zu Ehren der gefallenen römischen Legionäre in Adamclisi gesetzten Inschrift mit weiteren epigraphischen Zeugnissen der Kaiserzeit und zeitgenössischen Texten zu einer Reihe zusammen. Somit stellte man die gefallenen Schwarzhemden in eine Traditionslinie, an deren Anfang die unter großen Opfern erkämpften Siege der römischen Kaiser standen.47 40 Machedon, Florin/Machedon, Luminiţa/Scoffham, Ernie: Inter-War Bucharest. City in a Garden. In: Planning Perspectives 14 (1999), S. 249–275, hier S. 254 und 263. 41 Marcu, Duiliu: Architecture. 20 travaux exécutés de 1930 à 1940. Bucarest 1946, S. 173–175. 42 Vătăşianu, Virgil: I calchi della colonna traiana. In: Il Veltro 13/1–2 (1969), S. 119 f. 43 Pomilio, Marco: Romenia figlia di Roma. In: Rassegna Nazionale 57 (1935), S. 192–202; Lugli, Giuseppe: La Romanità della Dacia. In: L’Illustrazione Italiana 66/4 (1939), S. 141–144. 44 Perelli, Luciano: Sul culto fascista della romanità. In: Quaderni di storia 5 (1977), S. 197–224. 45 Born (wie Anm. 32), S. 259. 46 Mostra Augustea della Romanità Catalogo. Roma 1937, S. 287–290, Kat.-Nr. 79, 80 und 86. Abgüsse der Reliefs aus Adamclisi wurden in Italien erstmals auf der Internationalen Ausstellung in Rom 1912 präsentiert, vgl. Tzigara-Samurcaș (wie Anm. 13), S. 335. 47 Welge, Jobst: Fascism Triumpans. On the Architectural Translation of Rome. In: Donatello among the Blackshirts. History and Modernity in the Visual Culture of Fascist Italy. Hg. v. Claudia Lazzaro und Roger J. Crum. Ithaca u. a. 2005, S. 83–94, hier S. 86.



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Auch die zeitgenössische italienische Publizistik präsentierte das Triumphdenkmal in Adamclisi als wichtiges Denkmal der provinzialen Strömung der römischen Kunst. Neben Publikationen in den populären Illustrierten48 entstanden auch wissenschaftliche Studien, deren Autoren durchaus bemüht waren, ein differenzierteres Bild zu zeichnen. Ein interessantes Fallbeispiel ist Silvio Ferris (1890–1978) Überblicksdarstellung zur römischen Kunst entlang dem Lauf der Donau, die im „Popolo d’Italia“ (Die Menschen Italiens), dem offiziellen Organ der faschistischen Partei, erschienen ist. Im Vorwort versuchte der Autor, sich von den Zielen dieser Bewegung abzusetzen, und präsentierte sein Werk als ein Angebot zum Dialog mit den Forschern aus den Gebieten der vormaligen römischen Donauprovinzen.49 Einen entsprechenden Versuch hatte Ferri bereits 1931 in einem Artikel unternommen, in dem er die Problematik der Rekonstruktion des Triumphdenkmals von Adamclisi erörterte.50 In dem bereits ein Jahr später ins Rumänische übersetzten Beitrag51 argumentierte er für eine neue Form der Präsentation der skulpturalen Ausstattung des Denkmals, die eine adäquate Würdigung dieser Zeugnisse ermöglichen sollte. Grundsätzlich äußerte Ferri Verständnis für eine Rekonstruktion, die der Stärkung des patriotischen Bewusstseins in der Bevölkerung dient, wies jedoch gleichzeitig darauf hin, dass eine Würdigung der ästhetischen Qualitäten der Skulpturen nicht minder wichtig sei. Daher wäre ihm zufolge eine Rekonstruktion auf einem der Plätze in Bukarest ebenso problematisch wie am ursprünglichen Standort, da man in beiden Fällen die Originale der Witterung aussetzen würde. Eine Rekonstruktion in Adam­clisi hätte zwar den Vorteil, dass man bereits den vor Ort existierenden Kern des Monuments mit einbeziehen könnte. Allerdings erschien Ferri eine adäquate Würdigung der Rekonstruktion aufgrund der abseitigen Lage des Ortes und der fehlenden touristischen Infrastruktur kaum möglich. Als praktikabelste Lösung schlug er eine Form der Präsentation vor, wie sie in dem damals gerade eröffneten Neubau des Pergamonmuseums in Berlin praktiziert wurde. Entsprechend sollten in Bukarest die Skulpturen des Triumphdenkmals, gemeinsam mit den noch zu überführenden originalen Stufen, in einem von einem Glasdach überfangenen Raum präsentiert werden. Die Originalstücke sollten zur Verringerung der Last möglichst dünn zugeschnitten und anschließend auf einer Ziegelkonstruktion befestigt werden. Darüber hinaus regte Ferri eine Ergänzung der Originale durch Abgüsse weiterer bedeutender Denkmäler aus der Epoche des Kaisers Trajan an, etwa der Säule in Rom und des Bogens in Benevent. So sollte ein Museum mit einem sehr eigenen Charakter entstehen.52 Bei der formalen Einord48 Lugli (wie Anm. 43). 49 Ferri, Silvio: Arte romana sul Danubio. Considerazioni sullo sviluppo sulle derivazioni e sui caratteri dell’arte provinciale romana. Milano 1933 (Biblioteca della Rivista Historia del „Popolo d’Italia“ 3), Prefazione [o. P.] sowie S. 372–378 (zu den Skulpturen aus Adamclisi). 50 Ders.: Per il „Traianeum“ di Bucuresti. In: Bulletino del Museo dell’Impero Romano 2 (1931), S. 59–71. 51 Ders.: Pentru un Traianeum la Bucureşti [Für ein Traianeum in Bukarest]/Vulpe, Radu: Despre propunerea d-lui Ferri cu privire la reliefele dela Adamclisi [Zu Herrn Ferris Vorschlägen mit Blick auf die Reliefs aus Adamclisi]. In: Analele Dobrogei 13–14 (1932/33), S. 29–31. 52 Ferri (wie Anm. 50), S. 66–71.

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nung der Skulpturen plädierte Ferri jedoch für eine Datierung ins 4. Jahrhundert n. Chr.53 Diesem Datierungsvorschlag schloss sich auch der bereits genannte Nicolae Iorga an.54 Dieser prägte als Politiker, Historiker und Vorsitzender der Denkmalkommission maßgeblich die nationalistischen Diskurse der Zwischenkriegszeit in Rumänien.55 Die von Ferri vorgeschlagene neue Form der Präsentation der Originale in Bukarest wurde kaum diskutiert, was wohl auch daran lag, dass dieser Lösungsvorschlag aus dem Ausland kam. Diesen Schluss legt das von Alexandru Tzigara-Samurcaş 1945 gezogene Fazit der Forschungen zum Tropaeum Traiani nahe, in dem er die Hoffnung auf eine künftige „richtige Deutung“ des Monuments durch rumänische Spezialisten und „ohne fremde Einmischung“ äußerte.56 Der Kunsthistoriker Tzigara-Samurcaş (1872–1952) hatte in Deutschland studiert und wirkte als Pionier der Museumswissenschaften in Rumänien. Zu seinen wichtigsten Projekten zählt die Schaffung und Leitung des Nationalmuseums in Bukarest. Für die 1906 gegründete Einrichtung entstand zwischen 1912 und 1938 ein Gebäude nach den Entwürfen des Architekten Nicolae Ghika-Budeşti (1869–1943), das zu den bedeutendsten Beispielen des sogenannten neurumänischen Stils zählt.57 Als Leiter der zweiten nationalen musealen Einrichtung neben der Sammlung nationaler Altertümer kritisierte Tzigara-Samurcaş die geplante Aufstellung einer Kopie der Trajanssäule, in der er lediglich ein „Faksimile“ sah, und forderte dafür eine Wiederherstellung des einzigartigen Originals, des Tropaeum Traiani, an seinem angestammten Ort in Adamclisi. Dies erschien ihm sowohl aus patriotischen als auch aus allgemeinen künstlerischen Erwägungen geboten.58 Das Vorhaben einer Rekonstruktion des trajanischen Siegesmals wurde Anfang der 1940er Jahre konkreter, allerdings erneut mit Blick auf den Standort Bukarest. Nach dem Kriegseintritt Rumäniens an der Seite Hitlerdeutschlands und nach den verlustreichen Kämpfen in der Sowjetunion suchte das Regime des Marschalls Ion Antonescu nach einer propagandistisch effektiven Form des Gedenkens an die gefallenen Soldaten.59 Die zentrale Stätte dieses neuen Totenkults sollte auf dem Gelände des Militärmuseums entstehen, das nach einem Brand und weiteren späteren Schäden durch ein Erdbeben abgetragen worden war. Auf der höchs-

53 Ebd., S. 69. 54 Iorga, Nicolae: Explicaţia monumentului de la Adamclisi [Erklärung zum Denkmal in Adamclisi]. In: Analele Academiei Române. Memoriile Secţiunii Istorice, III. Reihe 17 (1936), S. 201–214. 55 Boia (wie Anm. 3), S. 77–81. 56 Tzigara-Samurcaș, Alexandru: Trofeul de la Adam-Klissi [Das Triumphdenkmal von Adamclisi]. In: Revista Fundaţiilor Regale 12/3 (1945), S. 604–612, hier S. 612. 57 Die Einrichtung fungierte zwischen 1906 und 1912 als Museum für Volkskunde, nationale Kunst, Kunsthandwerk und Kunstindustrie (Muzeului de Etnografie, de Artă Naţională, Artă Decorativă şi Artă Industrială), dann als Museum für Volkskunde und nationale Kunst (Muzeul de Etnografie şi Artă Naţională) und schließlich als Carol-I.-Museum für nationale Kunst (Muzeul de Artă Naţională Carol I). Vgl. Popovăţ, Petre: Muzeul de la Şosea [Das Museum an der Chaussee]. Bucureşti 1999 (Colecția Martor 4). 58 Tzigara-Samurcaș, Columna Traiană (wie Anm. 13), S. 336. 59 Bucur (wie Anm. 36), S. 150–154.



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ten Stelle des Filaret-Hügels sollte das rekonstruierte Tropaeum Traiani als Mausoleum fungieren. Die Zuschreibung des Konzepts dieser Anlage an Tzigara-Samurcaş60 bleibt problematisch, da die Quellenlage unklar ist und das Projekt zudem während der kommunistischen Herrschaft verschwiegen wurde. Einzelne Dokumente sprechen eher dafür, dass Tzigara-Samurcaş wie bereits bei anderen repräsentativen staatlichen Bauprojekten als künstlerischer Berater hinzugezogen wurde.61 Kritik an dem Vorhaben äußerte der Architekt Spiridon Cegăneanu, ein bedeutender Vertreter des neurumänischen Stils. Dieser befürchtete den Einbau einer Treppe im Inneren des Mausoleums, was angesichts des massiven Kerns des Originalbaus einen unentschuldbaren Eingriff, geradezu ein Sakrileg darstellen würde. Zudem würde die Errichtung einer weiteren Treppe als Zugang und die Einbettung in die städtische Landschaft der rumänischen Hauptstadt dem Bau seine monumentale Wirkung rauben, die dieser in der Landschaft der Dobrudscha entfalte. Weitere Gründe, die gegen eine Rekonstruktion sprächen, sah Cegăneanu in der nicht gesicherten Abfolge der metopenartigen Bildfelder. Des Weiteren seien Ergänzungen im Geist der ursprünglichen Fragmente nicht realisierbar, da einerseits die entsprechenden Fachleute fehlen und andererseits sich deutliche Unterschiede in der Farbigkeit des Gesteins zeigen würden. In Anbetracht dieser langen Liste von Einwänden regte Cegăneanu einen Entwurf an, der unter Rückgriff auf national geprägte Formen die Gestalt des Tropaions in Adamclisi variiert.62 Diese Anregungen scheinen teilweise auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. So orientierten sich die Architekten Horia Maicu (1905–1975) und Nicolae Cucu (1907–1994) bei einigen Details eines Denkmalentwurfs daran. Es handelte sich um das „Denkmal für die Helden des Kampfes für die Freiheit des Volkes und des Vaterlandes, für den Sozialismus“, das zwischen 1958 und 1963 auf der Spitze des Filaret-Hügels erbaut wurde. Das Bauwerk diente fortan als Grablege für die Spitzen der Partei und des Staats. Die sterblichen Überreste des Unbekannten Soldaten verbrachten die neuen Machthaber heimlich in das Mausoleum von Mărăşeşti.63

60 Teodorescu, Virgiliu Z.: Actul de cultură în viziunea lui Antonescu [Die kulturelle Tätigkeit aus der Sicht von Antonescu]. In: Mareşalul Antonescu la judecata istoriei. Contribuţii, mărturii şi documente. Hg. v. Gheorghe Buzatu. Bucureşti 2002 (Românii în istoria universală 96), S. 162–188, hier S. 184–187. 61 Alexandru Tzigara-Samurcaş. Biobibliografie adnotată [Alexandru Tzigara-Samurcaş. Eine kommentierte Biobibliographie]. Hg. v. Carmen Goaţă. Bucureşti 2004, S. 281, Nr. 2839. 62 Cegăneanu, Spiridon: Tropaeum Traiani şi Mausoleul Eroilor [Das Tropaeum Traiani und das Heldenmausoleum]. In: Arhitectura 9–10 (1943–1944), S. 52 f. 63 Gomboș, Mira: Eșecurile istoriei în momentele Monumentului Eroilor [Die Niederlagen der Geschichte in den einzelnen Phasen des Heldendenkmals]. In: http://artoteca.ro/momentele-monumentului-eroilorreinterpretarea-amprentei-lui-horia-maicu-4332 (18.12.2016).

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Die Vollendung der Rekonstruktion im Zeichen der nationalkommunistischen Politik Die Skulpturen aus Adamclisi waren bereits 1948, unmittelbar nach der kommunistischen Machtübernahme, auf Betreiben von Horia Teodoru (1894–1976) in den Innenhof des vormaligen Carol-I.-Museums für nationale Kunst überführt worden.64 Der Architekt Teodoru hatte in Paris und Rom studiert und war seit 1924 Mitarbeiter der technischen Abteilung der Kommission für historische Denkmäler (Comisiunea Monumentelor Istorice) gewesen.65 Diese traditionsreiche Institution wurde von den neuen Machthabern 1948 aufgelöst und 1954 unter anderem Namen neu gegründet.66 Trotz dieser widrigen Umstände gelang es Teodoru, die Bauplastik des Monuments im Innenhof des Museums systematisch zu ordnen und somit eine dem Original nahekommende Situation zu simulieren. Aus der Not heraus entstand somit eine Konstellation, die konzeptionelle Analogien zu der von Ferri in der Zwischenkriegszeit vorgeschlagenen Lösung zeigt, allerdings mit dem Nachteil, dass die Stücke weiterhin den Wettereinflüssen ausgesetzt blieben. Die Originale überdauerten auf diese Weise die erste Phase der Umgestaltung des Landes in eine Volksrepublik unter sowjetischem Einfluss, in der auch ein Paradigmenwechsel in der Geschichtsforschung und -politik vollzogen wurde. Sämtliche nationalen Bestrebungen und somit auch die in diesem Kontext häufigen Rekurse auf die Antike fielen in Misskredit, während das Frühmittelalter und darin die Slawen eine Überbetonung erfuhren. Sichtbares Zeichen dieser Wende war die Umbenennung des Museums für nationale Kunst, in dem die Stücke aus Adamclisi lagerten, in LeninStalin-Museum im Jahr 1953 und dessen spätere Umwandlung in das Museum der Geschichte der Kommunistischen Partei, der revolutionären und demokratischen Bewegung in Rumänien (Muzeul de Istorie al Partidului Comunist, a Mişcării revoluţionare şi democratice din România).67 Zu Beginn der 1960er Jahre wurden unter Federführung der rumänischen Akademie der Wissenschaften erste Expertengespräche mit Blick auf eine Rekonstruktion geführt, auf die eine Rückführung der Originale nach Adamclisi folgte. Dieser Schritt basierte

64 Popovăţ (wie Anm. 57), S. 83; Rădulescu, Adrian: Monumentul de la Admaclisi în actualitate [Das Denkmal von Adamclisi in der Gegenwart]. In: Revista muzeelor şi monumentelor. Seria Muzee 12/4 (1975), S. 39–41, hier S. 41. 65 Filip, Anca: Horia Teodoru (1894–1976). In: http://www.horia-teodoru.ro/ (18.12.2016). 66 Greceau, Eugenia: Reluarea activităţii de protecţie a monumentelor istorice din România după desfiinţarea în 1948 a Comisiunii Monumentelor Istorice [Die Wiederaufnahme der Aktivitäten zum Schutz der historischen Denkmale in Rumänien nach der 1948 erfolgten Auflösung der Kommission für Historische Denkmale]. In: Buletinul Comisiunii Monumentelor Istorice 6/1–2 (1995), S. 87–95. 67 Georgescu, Vlad: Politică şi istorie. Cazul comuniştilor Români 1944–1977 [Politik und Geschichte. Das Fallbeispiel der rumänischen Kommunisten 1944–1977]. München 21983 [11981], S. 11–34; Udrea, Traian: Muzeul de Istorie al Partidului Comunist, a Mişcării revoluţionare şi democratice din România [Museum der Geschichte der Kommunistischen Partei, der revolutionären und demokratischen Bewegung in Rumänien]. In: Enciclopedia istoriografiei românesti (wie Anm. 4), S. 371 f.



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wohl zu einem nicht unerheblichen Teil auf ökonomischen Überlegungen.68 In jenen Jahren mobilisierte die Parteiführung erhebliche Mittel für die Erschließung der Dobrudscha für den Tourismus. Diese Initiativen waren Teil der Bemühungen zur Erlangung wirtschaftlicher Autarkie. Die Bestrebungen in Richtung einer politischen und wirtschaftlichen Emanzipation von der Sowjetunion setzten Ende der 1950er Jahre ein und wurden nach der sogenannten Unabhängigkeitserklärung vom April 1964 intensiviert. Die mit der öffentlichen Ablehnung einer Unterordnung der nationalen Bedürfnisse unter die supranationale Comecon-Planung von dem Chef der Rumänischen Kommunistischen Partei (Partidul Comunist Român, PCR) Gheorghe Gheorghiu-Dej (1905– 1965) initiierte Politik zielte auch auf eine Förderung der staatlichen Integration, da die Legitimation der Partei nicht ausreichte.69 Diese Linie wurde von Nicolae Ceauşescu (1918–1989), der nach der Übernahme der Parteiführung 1965 und des Amts des Vorsitzenden des Staatsrats 1967 zum alleinigen Herrscher aufgestiegen war, weiter forciert. Nach der sogenannten Balkonrede vom 21. August 1968, in der Ceauşescu die Intervention des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei kritisierte und gleichzeitig die eigenen Staatsbürger auf eine militärische Verteidigung des Landes im Fall des Einmarsches der Truppen des Warschauer Pakts in Rumänien einschwor, bildete die Betonung der nationalen Unabhängigkeit einen Fixpunkt der staatlichen Propaganda.70 Bei dieser Neuausrichtung wurden einige Schwerpunkte der Geschichtspolitik der Zwischenkriegszeit wieder aufgenommen und die mit diesen Positionen verbundenen bürgerlichen Geschichtsschreiber rehabilitiert.71 Im Rahmen dieser Erneuerung des Nationalen spielten die Rekurse auf die Antike eine Schlüsselrolle. Sichtbare Zeichen hierfür waren die Rückkehr zur latinisierten Schreibweise des Landesnamens „România“ (1964) anstelle der kurzzeitig in der Stalin-Zeit instaurierten Form „Romînia“ sowie die Einordnung Kaiser Trajans und des Dakerkönigs Decebalus in das Narrativ der Dauerausstellung im Museum der Rumänischen Kommunistischen Partei.72 In diesem gewandelten Klima wurde ein neuer Versuch zur Wiederherstellung des Monuments in Adamclisi gestartet. Einen ersten praktischen Schritt bildete sicherlich die neue Präsentationsform der Originale. Diese wurden nach ihrer Rückführung aus 68 Consfătuire organizată de secţia de ştiinţe istorice a Academiei R. P. R. şi de Muzeul Regional din Constanţa cu participarea academicianului Constantin Daicoviciu [Die von der Abteilung für Geschichtswissenschaften der Akademie der Volksrepublik Rumänien und dem Regionalmuseum Constanţa unter der Teilnahme von Akademiemitglied Constantin Daicoviciu organisierte Konferenz]. In: Dobrogea nouă, 31.5.1960, S. 1. (Bericht zu den ersten Beratungen); Rădulescu (wie Anm. 64), S. 40. 69 Höpken, Wolfgang: Zwischen „Klasse“ und „Nation“: Historiographie und ihre „Meistererzählungen“ in Südosteuropa in der Zeit des Sozialismus (1944–1990). In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 2 (2000), S. 15–60, hier S. 35; Verdery, Katherine: National Ideology Under Socialism. Identity and Cultural Politics in Ceauşescu’s Romania. Berkeley 1991 (Societies and Culture in East-Central Europe 7), S. 105. 70 Petrescu, Dragoş: Communist Legacies in the ,New Europe‘. History, Ethnicity, and the Creation of a ,Socialist‘ Nation in Romania, 1945–1989. In: Conflicted Memories: Europeanizing Contemporary Histories. Hg. v. Konrad H. Jarausch und Thomas Lindenberger. New York 2007, S. 37–54, hier S. 46. 71 Georgescu (wie Anm. 67), S. 41–45. 72 Ebd., S. 65.

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Robert Born Abb. 6  Adamclisi, die über den originalen Kernbau des Tropaeum Traiani errichtete Trägerkon­struktion mit den applizierten Abgüssen der Originalteile während der Bauzeit.

Bukarest in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kernbau aufgestellt. Die kreisförmige Anordnung auf Höhe der Betrachter unter einem Schutzdach erinnerte an die von Ferri vorgeschlagene Präsentationsform eines Architekturmuseums. In den ersten Diskussionen mit Blick auf die Rekonstruktion kristallisierten sich zwei Positionen heraus. Die erste sah einen Wiederaufbau unter Einsatz der Originalfragmente vor. Bei dem zweiten Vorschlag blieben die Originalteile unberücksichtigt. Sämtliche bauplastischen Elemente sollten in Form von Kopien ausgeführt werden. Eine Weiterentwicklung dieses Konzepts stellte der Mitte der 1960er Jahre in die Diskussion eingebrachte Vorschlag eines Wiederaufbaus mit einer sogenannten selbsttragenden Konstruktion dar. Dieses Verfahren wurde dann auch zwischen 1975 und 1977 praktisch umgesetzt.73 Als Grundelement des von dem Architekten Dan Rusovan ausgearbeiteten Entwurfs entstand zunächst eine Schutzkonstruktion um den originalen Kernbau, die auf dem oberen Umgang des originalen Treppenpodiums lagert. Zur Sicherung der Stabilität 73 Rădulescu (wie Anm. 64), S. 40.



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Abb. 7  Adamclisi, das rekonstruierte Tropaeum Traiani unmittelbar nach der Fertigstellung. Aufnahme von 1977.

wurde zusätzlich ein Betonpfeiler in den antiken Kernbau eingelassen. Hierfür nutzte man einen von Grabräubern angelegten Schacht. An das Metallskelett wurden dann die Abgüsse der erhaltenen Originalstücke sowie die Ergänzungen der fehlenden Partien aus Zement appliziert (Abb. 6). Lediglich im Podiumsbereich wurden die fehlenden Stufen aus massivem Stein errichtet, der wie die antiken Werkstücke aus einem nahe gelegenen Steinbruch stammte.74 Abweichend zu den Rekonstruktionsvorschlägen von Tocilescu und Furtwängler wurden die umlaufenden metopenartigen Felder in niedrigerer Höhe angebracht (Abb. 7). Diese neue Positionierung erfolgte ausgehend von Spuren im Mörtelbeton des Kernbaus.75 Die Abfolge der Bildfelder am rekonstruierten Bau bleibt allerdings umstritten. Dieser Umstand wurde bei den Präsentationen des 74 Rusovan, Dan: Conservarea și valorificarea muzeistică a monumentului tiumfal Tropaeum Traiani [Die Erhaltung und museale Nutzung des Triumphdenkmals Tropaeum Traiani]. In: Pontica 10 (1977), S. 15–20. 75 Papuc, Ghiorghe/Bodolică, Vitalie: Despre amplasarea metopelor de la monumentul triumfal Tropaeum Traiani [Über die Anordnung der Metopen am Tropaeum Traiani]. In: Pontica 41 (2009), S. 393–402.

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Projekts in den unterschiedlichsten Medien im Vorfeld und während der Bauarbeiten nur sehr vage thematisiert.76 Zudem widersprachen mehrere Komponenten der Wiederherstellung den 1964 in der Internationalen Charta über die Konservierung und Restau­ rierung von Denkmälern und Ensembles verankerten Prinzipien. Die sogenannte Charta von Venedig wurde in Rumänien zunächst diskutiert,77 geriet jedoch im Zuge der Verschärfung des nationalen Kurses unter Ceauşescu zunehmend in den Hintergrund. Diese Akzentverlagerung veranschaulichen die Erläuterungen des Projekts durch Adrian Rădulescu (1932–2000), dem damaligen Direktor des Museums in Constanţa. Er führt als Begründung für die Abweichung von den geltenden Prinzipien der Denkmalpflege „gewichtige Argumente“ an: „Dies ist an erster Stelle das berechtigte patriotische Gefühl, das verlangt, dass dieses Symbol einer Seite im Geschichtsbuch, die mit den Ursprüngen unseres Volks verbunden ist, vollumfänglich fertiggestellt werden soll.“78 Die Rekonstruktion des Triumphdenkmals und die damit einhergehende Verlagerung der Originalstücke in ein neu geschaffenes Museum diente nicht nur dem Schutz der Originalsubstanz und der „patriotischen Erziehung“ der Besucher,79 sondern zielte darüber hinaus auch darauf ab, die Zugehörigkeit der Dobrudscha zu Rumänien historisch zu untermauern. Das Mitte der 1960er Jahre initiierte Programm umfasste neben der Wiederherstellung des Triumphdenkmals und der Errichtung eines Museums in Adamclisi auch Restaurierungsarbeiten und Ausgrabungen der spätantiken Strukturen in der Festung. Zeitgleich mit diesen Maßnahmen förderten die staatlichen Stellen das Erscheinen einer neuen, mehrbändigen Geschichte der Dobrudscha.80 Die beabsichtigte Fertigstellung der Rekonstruktion in Adamclisi zum 100-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Rumäniens beinhaltete sicherlich auch eine Invektive gegen Bulgarien, da die Dobrudscha wie eingangs dargelegt erst in der Folge des Kriegs 1877/78 Teil des rumänischen Staatsgebiets und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch wiederholt zum Gegenstand militärischer Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern geworden war.81 76 Rădulescu (wie Anm. 64), S. 40. 77 Ionescu, Grigore: O nouă cartă internaţională privind conservarea şi restaurarea monumentelor istorice [Eine neue internationale Charta bezüglich der Erhaltung und Restaurierung historischer Denkmale]. In: Monumente istorice. Studii şi lucrări de restaurare 2 (1967), S. 9–12. 78 Rădulescu (wie Anm. 64), S. 41: „Totuşi în cazul Monumentului de la Adamclisi sînt motive puternice care impun o derogare de la rigiditatea acestor principii. Este mai întîi legitimul sentiment patriotic, care cere ca acest simbol al unei pagini de istorie legate de înseşi originile poporului nostru să fie refăcut în formele sale pline.“ Die Übersetzung des Zitats stammt vom Verfasser. 79 Ders.: Un act de semnificaţie patriotică: Reconstruierea monumentului tiumfal de la Adamclisi [Ein Akt von patriotischer Bedeutung. Die Wiedererrichtung des Triumphdenkmals von Adamclisi]. In: Pontica 10 (1977), S. 9–14. – Ein vergleichbarer Tenor war bereits in der Berichterstattung zur Fertigstellung der Rekonstruktion allgegenwärtig, vgl. dazu Caranfil, Mihai: Istoria patriei-flacara vie a constiinţei socialiste. La Admclisi. Meditaţii de reporter pe şantierul monumentului [Die Geschichte des Vaterlandes, eine lebendige Flamme des sozialistischen Bewusstseins. In Adamclisi. Überlegungen eines Reporters auf der Baustelle des Monuments]. In: Scînteia, 15.6.1976, S. 1. und 4. 80 Barnea, Alexandru/Panaite, Adriana: Tropaeum Traiani. Monument şi propaganda [Tropaeum Traiani. Monument und Propaganda]. In: Caietele ARA 1 (2010), S. 223–234, hier S. 226. 81 Vgl. Schmidt-Rösler, Andrea: Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg. Die Grenzziehung in der Dobrudscha und im Banat und die Folgeprobleme. Frankfurt/Main u. a. 1994 (Europäische Hochschulschrif-



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Die ursprünglich mit den Projekten in Adamclisi verbundenen Ziele erfuhren eine Umformung durch die sich rasant radikalisierende nationalistische Politik des CeauşescuRegimes. Die Wende in diese Richtung wurde 1971 durch die sogenannten Julithesen eingeläutet. Das im Anschluss an eine Reise Ceauşescus nach Nordkorea, China und Nordvietnam verkündete 17-Punkte-Programm forderte die Formung eines „Neuen Menschen“. Das Erreichen dieses Ziels sollte in Abgrenzung zu den äußeren kosmopolitischen Einflüssen erfolgen.82 Durch diese Kulturrevolution im Kleinen wurde der Weg in einen kulturellen Autochthonismus vorgezeichnet. Bei der Umsetzung dieser Vorgaben hatten die Historiographie und die Geschichtsvermittlung eine Schlüsselfunktion inne. Dies verdeutlicht die über dreißig Seiten starke historische Einleitung des 1974 verabschiedeten Parteiprogramms „zum Aufbau der vielseitig entwickelten sozialistischen Gesellschaft und zum Voranschreiten Rumäniens zum Kommunismus“. Die in diesem Rahmen betonten konzeptuellen Elemente wie die antiken Wurzeln des rumänischen Volks, seine Kontinuität seit der Antike auf dem Gebiet Rumäniens und dessen durchgängige Einheit und steter Kampf zur Verteidigung der Unabhängigkeit bildeten die Matrize sämtlicher bis 1989 verfassten geschichtlichen Darstellungen.83 Den besonderen Stellenwert der Geschichtspolitik jener Jahre illustriert auf institutioneller Ebene die Gründung eines Nationalmuseums der Geschichte Rumäniens (Muzeul National de Istorie a Romaniei) in Bukarest. Die Einweihung dieser Institution im Jahr 1972 wurde als Teil der Feierlichkeiten aus Anlass der 95 Jahre seit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit inszeniert. Das Herzstück dieser für die „patriotische Erziehung der Massen“ wichtigen Einrichtung bilden die Abgüsse der Trajanssäule, die in der Presse zur „Geburtsurkunde des rumänischen Volks“ stilisiert wurde.84 Die Überführung der durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Keller des LateranMuseums verbliebenen Abgüsse konnte allerdings erst nach einer gewissen Normalisierung der Beziehungen zum Vatikan erfolgen.85 Die Integration der Trajanssäule in das Museum offenbart deutliche Analogien zu den eingangs vorgestellten Projekten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die nahezu zeitgleiche Realisierung des Nationalmuseums mit den Faksimiles der Säule und des Denkmals in Adamclisi, eines Projekts, das Ende des 19. Jahrhunderts erstmals geplant wurde, illustriert die ideologische Verwandtschaft zwischen den geschichtspolitischen Projekten aus der Frühphase der rumänischen Monarchie und des national-kommunistischen Ceauşescu-Regimes. Den erzieherischen Funktionen des Museums ordnete man in Adamclisi sogar die Neugestaltung des Ortes unter.86 Im Gegensatz zu den meisten antiken Stätten der ten, Reihe III Geschichte und Hilfswissenschaften 622). 82 Verdery (wie Anm. 69), S. 101 und 107 f. 83 Papacostea, Şerban: Clio: Romanian Historiography under Communist Rule. In: European History Quarterly 26/2 (1996), S. 181–208. 84 Vgl. den Bericht in: Scînteia, 9.5.1972, S. 1–4, und 11.5.1972, S. 3–5. 85 Muşeţean, Cristian: The National History Museum of Romania. Achievements and Perspectives. In: Medelhavsmuseet 1 (2004), S. 34–39, hier S. 35. 86 Dumitrașcu, Gh.: Complexul muzeistic Tropaeum Traiani și influența lui asupra dezvoltării localității și teritoriului înconjurător [Der museale Komplex Tropaeum Traiani und dessen Einfluss auf die Entwick-

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Dobrudscha, in denen seit Mitte der 1960er Jahre fast nur sogenannte Grabungsmuseen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den antiken Strukturen gebaut wurden,87 entschied man sich in Adamclisi dafür, das Museum zum Nukleus einer neu konfigurierten Siedlung zu machen. Adamclisi steht dadurch auch stellvertretend für die vom CeauşescuRegime verfolgte Politik einer Systematisierung des ländlichen Bereichs durch die Schaffung landwirtschaftlich-industrieller Zentren.88 Die Einweihung des rekonstruierten Denkmals und des Museums wurde in das Festival „Cîntarea României“ (Loblied Rumäniens) eingebettet. Diese zwischen 1976 und 1989 in jährlichen Auflagen durchgeführte Veranstaltung bildete gleichsam ein ideologisches Dach aller kulturellen Aktivitäten im Land und leistete nicht zuletzt durch die fast ausschließliche Beteiligung von Amateuren einen immensen Beitrag zur Verbreitung und Festigung des von der Partei entworfenen Geschichtsbildes an der Basis der Gesellschaft.89 In diesem Rahmen entstanden lyrische Werke und Prosastücke, in denen das Triumphdenkmal an die Ethnogenese des rumänischen Volks gekoppelt wurde.90 Diese Momente bildeten auch den inhaltlichen Schwerpunkt der Feierlichkeiten zur Einweihung am 28. Mai 1977, die dramaturgisch als Teil des Arbeitsbesuchs von Parteichef Ceauşescu im Kreis Constanţa präsentiert wurden.91 Die Inszenierung vor Ort und nicht zuletzt die Anwesenheit der Staatsspitze verliehen dem Ganzen die Aura eines Staatsakts. Die aufwändige Zeremonie, bei der Soldaten mit den Landes- und Parteifahnen auf dem Dach des rekonstruierten Gebäudes postiert wurden, fand kurze Zeit nach der zentralen Hundertjahrfeier der staatlichen Unabhängigkeit Rumäniens vom 9. Mai 1977 und nur zwei Monate nach einem verheerenden Erdbeben mit über 1000 Opfern allein in der rumänischen Hauptstadt statt (Abb. 8). In seiner Festrede auf der feierlichen Sitzung des Zentralkomitees der Rumänischen Kommunistischen Partei, der Nationalversammlung und der Partei- und Staatsspitzen in Bukarest am 9. Mai 1977 hatte Ceauşescu das Argument der Siedlungskontinuität mit demjenigen der staatlichen Unabhängigkeit verknüpft. Dabei erwähnte er zwar die militärische Niederlage der Daker als Vorstufe zur Herausbildung des rumänischen Volks, hob aber im gleichen Atemzug das Weiterleben typisch dakischer Tugenden hervor wie „den unstillbaren Freiheitsdurst, den festen Willen, das Haupt unter kein fremdes Joch zu beugen, die Entschlossenheit, sich selbst immer treu zu bleiben, sein eigenes Leben und Schicksal lung des Ortes und der Umgebung]. In: Pontica 10 (1977), S. 21–24. 87 Zimmermann, Konrad: Das Grabungsmuseum: Struktur und Funktion. In: Forschungen und Berichte 27 (1989), S. 257–262, hier S. 260–262. 88 Barnea/Panaite (wie Anm. 80), S. 227; Turnock, David: Romanian Villages: Rural Planning under Communism. In: Rural History 2/1 (1991), S. 81–112. 89 Petrescu, Dragoş: 400 000 de spirite creatoare: „Cântarea României“ sau stalinismul national în festival [400 000 schöpferische Geister: „Cântarea României“ oder der nationale Stalinismus als Feier]. In: Miturile comunismului românesc. Hg. v. Lucian Boia. Bucureşti 1998, S. 239–251. 90 Tulbure, Victor: Trofeul lui Traian. Evocare [Trajans Siegesmal. Eine Würdigung]. In: Dacica. Antologie lirică românească. Hg. v. Chirata Iorgoveanu-Dumitru. Bucureşti 1978, S. 216–221. 91 Vgl. die Berichte in: Scînteia, 28.5.1977 und 29.5.1977.



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Abb. 8  Adamclisi, Ein­weihung der Rekon­ struktion in Anwesenheit der rumänischen Parteiund Staatsspitzen am 28. Mai 1977.

alleine zu bestimmen“.92 Im Sinne einer Visualisierung dieser Traditionskonstruktion kombinierte man im Rahmen des Arbeitsbesuchs die Einweihung des wiedererrichteten trajanischen Triumphdenkmals mit dem Stapellauf des ersten rumänischen Großtankers „Independenţa“ (Unabhängigkeit) und dem Besuch der Baustelle des Donau-Schwarzmeer-Kanals. Diese Prestigeprojekte des nach wirtschaftlicher Autarkie strebenden kommunistischen Rumänien wurden somit ideell mit den antiken Denkmälern in Beziehung gesetzt. Die Fertigstellung der Rekonstruktion des Tropaeum Traiani in Adamclisi erfolgte an einem Wendepunkt der national-kommunistischen Politik des CeauşescuRegimes. Nur wenige Monate nach den Feierlichkeiten in Adamclisi setzte die Staatsführung per Dekret die Auflösung der staatlichen Denkmalkommission durch. Dieser Schritt ebnete den Weg für eine forcierte Industrialisierung sowie für den megalomanen Plan zur Umgestaltung der Hauptstadt, die zu massiven Zerstörungen im Bestand der historischen Denkmäler führten.93 Die Ereignisse im Dezember 1989 beendeten zwar diese systematischen Zerstörungen. Die von dem Ceauşescu-Regime propagierte nationalistische Ideologie, allen voran die kultische Verehrung der dakisch-römischen Vergangenheit, überdauerte jedoch den Systemwechsel.94 Durch Verbrämung mit Elementen der griechisch-orthodoxen Religion 92 Vgl. den Bericht in: ebd., 10.5.1977. 93 Giurescu, Dinu C.: The Razing of Romania’s Past. Washington, D. C. 1989. 94 Grancea, Mihaela: Dacismul și avatarurile discursului istoriografic postcomunist [Der Daker-Kult und die Avatare des postkommunistischen historiographischen Diskurses]. In: Studia Politica 7/1 (2007), S. 95–115.

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entstanden neue Narrative und damit verbundene Rituale. Hierfür nutzte man das rekonstruierte Triumphdenkmal in Adamclisi mehrmals als Bühne.95 Ein besonders illustratives Beispiel für diese Tendenz waren die Feierlichkeiten, mit denen der 1890 Jahre (!) seit Trajans erstem Krieg gegen die Daker gedacht wurde. Während der Veranstaltung legte der rumänische Präsident Ion Iliescu einen Kranz für die gefallenen Krieger nieder. Im Anschluss daran zelebrierte eine Gruppe orthodoxer Priester vor dem einst Mars Ultor, dem Schutzgott der römischen Truppen geweihten Monument eine Seelenmesse für die im Kampf gefallenen dakischen Krieger.96 In der Folgezeit wurde die mittlerweile im kollektiven Gedächtnis fest verankerte Rekonstruktion auch als Folie für Wahlveranstaltungen genutzt. Die bei dieser Gelegenheit anwesenden als Daker und Römer verkleideten Komparsen wirkten wie Relikte aus der Hochzeit der national-kommunistischen Propaganda.97 Die vom Ceauşescu-Regime vorgenommene Rekonstruktion erwies sich im Vergleich dazu als weniger stabil und war in jüngster Zeit Gegenstand konservatorischer Arbeiten. Der Austausch eines Teils der 1977 eingebauten Konstruktion wurde – eine Ironie der Geschichte (?) – größtenteils aus Mitteln der Europäischen Union finanziert.98

95 Barnea/Panaite (wie Anm. 80), S. 228–230. 96 Babeş, Mircea: Die rumänische Archäologie und die Versuchung des Nationalen vor und nach der Wende. In: Auf der Suche nach Identitäten: Volk – Stamm – Kultur – Ethnos. Hg. v. Sabine Rieckhoff. Oxford 2007, S. 193–195, hier S. 195. 97 Barnea/Panaite (wie Anm. 80), S. 228 f. 98 Vgl. den Bericht in: http://observator.ro/monumentul-de-la-adamclisi-complet-renovat-cu-banieuropeni-218467.html (20.11.2016).



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Summary Functionalization of Roman heritage The reconstruction of the Tropaeum Traiani victory monument in Adamclisi and the politics of memory of twentieth-century Romania Alongside Trajan’s Column in Rome, the remains of the Tropaeum Traiani – an ancient victory monument in Adamclisi near the Lower Danube – are regarded as one of the most important records of the genesis of the Romanian people. Accordingly, this triumphal monument erected by order of Emperor Trajan in c. 108/109 AD was repeatedly the subject of archaeological excavations and various studies. Following an act of parliament in 1890, the original parts were moved to Bucharest, where a reconstruction of the Tropaeum Traiani was planned, primarily for educational purposes. In 1943, rebuilding the Tropaeum Traiani in Bucharest was proposed again, this time as a mausoleum for the soldiers who had fallen during the ongoing war. However, this initiative did not get beyond the competition phase. The original sculptures were returned to Adamclisi in the 1960s. The reconstruction carried out between 1975 and 1977 was based on a self-supporting steel structure bearing casts of the surviving original pieces and the missing elements which encircles the original core of the monument. The inauguration was held on 28 May 1977, shortly after the central celebrations marking the centenary of Romania’s independence. In his speech at this event, Nicolae Ceaușescu drew a link between the settlement’s continuity and Romanian independence. The completion of the reconstruction of Trajan’s victory monument in Adamclisi was an important milestone in the regime’s policies of National Communism. It is also important to note that the execution of this project coincided with the dissolution of the state conservation institutions by order of the Communist Party leadership. The political symbolism of the reconstruction of the Tropaeum Traiani survived the collapse of Communism in Romania in 1989 unscathed. Over the past two decades, images of it have repeatedly provided a backdrop to ceremonies involving the country’s leadership and election campaign events.

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Im Zei c h en d er Re na tiona lisie rung Administrativer und urbaner Wandel beim Wiederaufbau Polens im und nach dem Ersten Weltkrieg

Keya Thakur-Smolarek In Kongresspolen, dem 1815–1915 vom Russländischen Reich verwalteten Territorium der ehemaligen Adelsrepublik, zeigte sich die Ambivalenz von Zerstörung und Modernisierung, die oft mit dem Ersten Weltkrieg verbunden wird, in besonders ausgeprägter Weise. Die Kriegszerstörungen, die lokalen politischen Konstellationen und der Herrschaftswechsel 1915 führten dort zum tiefgreifenden Wandel der städtischen Topographien, Verwaltungen und Öffentlichkeiten. Die partielle Selbstverwaltung, die Russland im ersten Kriegsjahr den Städten zugestanden hatte, legalisierten die Besatzungsmächte nach 1915 und bauten sie aus. Dies bedeutete auch, dass die lokale Bevölkerung bereits während des Kriegs mitbestimmen konnte, wie die wiederaufzubauenden Städte und Baudenkmäler gestaltet werden sollten. Nach und nach verschwanden aus dem öffentlichen Raum die Symbole und architektonischen Formen, mit denen die zaristischen Machthaber ihre Dominanz demonstriert hatten und durch welche die urbane Öffentlichkeit politisiert worden war. Nachdem Russland, Preußen und Österreich das Territorium der polnischen Adelsrepublik 1772, 1793 und 1795 geteilt und ihren jeweiligen Anteil unter ihre Verwaltung gestellt hatten, nachdem das polnische Staatwesen als Folge der dritten Teilung aufgehört hatte zu existieren, führte die lokale Bevölkerung in allen drei Teilungsgebieten einen langwierigen Kampf um politische Mitsprache und Teilhabe an der Exekutive. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entließen die zaristischen Behörden in Kongresspolen (offizielle Bezeichnung: Königreich Polen) Polen aus den höheren öffentlichen Ämtern und ersetzten sie durch Beamte anderer ethnischer Zugehörigkeit. Polen waren lediglich in der niederen Verwaltung beschäftigt und stellten um 1900 an die 60 Prozent der Beamten. Auch beseitigten die zaristischen Behörden das polnische Schul- und Bildungswesen, indem sie russische Dozenten und Lehrer einstellten und sukzessive das Polnische als Lehrsprache und Unterrichtsfach abschafften. Zudem wurde das Russische Amtssprache. Das Vorherrschen des Russischen im öffentlichen Raum sollte den Polen ihren untergeordneten Status vor Augen führen.1 Die Einheimischen brachten die weitgehende Entfernung des polnischen Personals aus dem Behörden-, Unterrichts- und Gerichtswesen weithin mit dem Verlust ihrer politischen Souveränität in Verbindung. Die Zeitgenossen prägten für den Vorgang das Wort rusyfikacja (Russifizierung), das rasch zu einem politischen Kampfbegriff avancierte und den Widerwillen gegen die russische und imperiale Durchdringung des öffentlichen Lebens implizierte. 1 Rolf, Malte: Imperiale Herrschaft im Weichselland. Das Königreich Polen im Russischen Imperium (1864–1915). Berlin-München-Boston 2015, S. 58.



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Es war auch ein Kulturbegriff, da die Russifizierung die Zurückdrängung der polnischen Sprache, eine rigide Zensur der polnischen Medien und ästhetische Umgestaltungen im öffentlichen Raum einschloss.2 In seiner polemischen Bedeutung blendete das Wort jedoch Petersburgs zentrales politisch-strategisches Motiv aus, nämlich die Herrschaftssicherung in dem Gebiet, das aus imperialer Sicht einen Unruheherd darstellte.3 Die Behörden schränkten im Laufe des 19. Jahrhunderts auch die städtische Selbstverwaltung immer mehr ein, wohingegen die Städte des Russländischen Reichs Selbstverwaltungsorgane erhielten.4 Um 1900 hatten sämtliche Städte Kongresspolens die Stadtrechte verloren. Vergeblich verlangte der Polenklub in der russischen Duma, der gewählten Volksversammlung und der neben dem Reichsrat zweiten Kammer, am Vorabend des Ersten Weltkriegs deren Wiedereinführung. Das Imperium aber kommunizierte seine Macht verstärkt seit Ende des 19. Jahrhunderts in der städtischen Öffentlichkeit durch Herrschaftssymbole und symbolische architektonische Umformungen. Dabei wurde auf das altrussisch-byzantinische Formenrepertoire zurückgegriffen, was auf eine damals in Russland aufkommende Tendenz gründete. In den 1880er Jahren ließ Zar Alexander III. (1845–1894) in Russland russisch-orthodoxe Kirchen im altrussisch-byzantinischen Stil des 17. Jahrhunderts bauen, wodurch der Monarch die Kontinuität des Russischen Reichs vom Großfürstentum Moskau bis in die Gegenwart visualisieren und die Beständigkeit der russischen politischen und russisch-orthodoxen Traditionen inszenieren wollte. Wichtiger Beweggrund war die Wiederherstellung der zaristischen Autorität – und dies auch in der durch Aufstände destabilisierten peripheren Region Kongresspolen –, wozu nicht zuletzt das Attentat auf Alexander II. im Jahr 1881 einen Anlass geboten hatte.5 Andererseits durchlief Kongresspolen um 1900 eine rasche industrielle Entwicklung. Bei Kriegsausbruch war Warschau ein wichtiges Wirtschaftszentrum Ostmitteleuropas und Russlands, in dessen Innenstadt repräsentative kommerzielle Bauten standen. Nach Kriegsbeginn aber stagnierte das Wirtschaftsleben Kongresspolens fast gänzlich, und in den Städten breitete sich eine gravierende sozioökonomische Krise aus. Am dramatischsten war die Lage in den Ballungsgebieten Warschau und Łódź (dt. Lodz). Zudem flohen im ersten Kriegsjahr, in dem Russland und die Mittelmächte Kongresspolen und Galizien zu ihrem Kriegsschauplatz machten, zahlreiche Menschen aus dem flachen Land und dem verbissen umkämpften Łódź in die größeren Städte. Dabei zog es viele nach Warschau. Da die Stadt das Zentrum der zaristischen Herrschaft in Polen war, galt sie als besonders geschützt.6 Von den militärischen 2 Gasimov, Zaur: Einleitung. In: Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa 19.–20. Jahrhundert. Hg. v. Dems. Göttingen 2012, S. 9–25, hier S. 10 und 13. 3 Ebd., S. 11; Rolf (wie Anm. 1), S. 57–60. 4 Ebd., S. 55. 5 Wortman, Richard: Scenarios of power: myth and ceremony in Russian monarchy. Princeton 2000, S. 202, 235–237, 244. 6 Najdus, Walentyna: Uchodźcy polscy w Rosji. Sprawa polska w polityce caratu [Polnische Auswanderer in Russland. Die polnische Frage in der Politik des Zarentums]. In: Historia Polski. Bd. 3. Teil 3. Hg. v. Żanna Kormanowa und Ders. Warszawa 1974, S. 257–286; Hertz, Mieczysław: Łódź w czasie wielkiej wojny [Łódź während des Großen Kriegs]. Łódź 1933, S. 25; Bankiewicz, Józef/Domosławski,

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Operationen wurden die Großstädte im Allgemeinen weitaus weniger als die Dorfsiedlungen und kleineren Städte in Mitleidenschaft gezogen. Ausnahmen bildeten Kalisz (dt. Kalisch) und die befestigten Städte Modlin, Brest (Brześć), Przemyśl und Iwangoród (heute Dęblin, dt. Demblin), die teils gewaltige Schäden davontrugen. In vielen Kleinstädten und ländlichen Regionen vernichteten Brandschatzungen und Beschuss Wohnund Wirtschaftsgebäude, Schlösser und zahlreiche Kirchen teilweise oder ganz.7 Nach dem Krieg schätzten die polnischen Behörden die Zahl der ganz oder teilweise zerstörten Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Polen auf knapp zwei Millionen (1 884 000); 18 Prozent aller Wohngebäude waren vollständig vernichtet.8 Die Stadtverwaltungen wurden daher unvermittelt mit völlig neuartigen Problemen konfrontiert. In vielen Städten änderten sie bereits in den ersten Kriegstagen ihre Arbeitsweise, indem sie wichtige Arbeitsbereiche den von den Einheimischen gegründeten Hilfskomitees überließen. Die Hilfs- und Bürgerkomitees kooperierten mit den staatlichen Institutionen und spielten eine wichtige Rolle bei der Milderung der Kriegsfolgen.

Kriegsfolgen und administrative Umgestaltung in Kongresspolen  im ersten Kriegsjahr Die Komitees gründeten führende Bürger in den Groß- und Kreisstädten Kongresspolens für die unmittelbare Versorgung der Kriegsopfer und zur Eindämmung des Kriegs­ chaos. Sie bauten ein flächendeckendes Organisationsnetz auf. Die zaristischen Machthaber statteten sie mit weitgehenden Befugnissen aus, was sie zu semiautonomen Behörden machte, wenngleich in einigen Komitees zaristische Beamte mitarbeiteten. Im Laufe des ersten Kriegsjahrs übernahmen sie in einigen Städten die Leitung. Dadurch besaßen erstmals seit mehreren Jahrzehnten Einheimische wichtige behördliche Kompetenzen, was für weitere Modernisierungen noch im Krieg die Weichen stellen sollte. Ende März 1915 gestand der russische Ministerrat den Städten Kongresspolens die Selbstverwaltung formal zu, jedoch kam es wegen des Kriegsverlaufs nicht mehr zu deren Umsetzung. Das russische Behördenwesen brach in der letzten Kriegsphase zusammen, die Bürgerkomitees aber konnten in dieser Zeit provisorische Infrastrukturen aufbauen, die langfristig für die Errichtung einer Sozialfürsorge in dem Gebiet bedeutend waren. Es entstanden Heime für die Kriegswaisen, Unterkünfte für die Obdachlosen, provisorische Spitäler und Kinderkrippen, Kantinen und Teeküchen, später auch Handelsgesellschaften. In den größeren Städten stellten die Komitees Bürgerwehren auf und errichteten Zivilgerichte, um die ansteigende Kriminalität in SchranBohdan: Zniszczenia i szkody wojenne [Die Kriegsschäden und die Kriegszerstörungen]. In: Polska w czasie wielkiej wojny (1914–1918). Bd. 3. Hg. v. Marceli Handelsman. Warszawa 1936, S. 5, 15. 7 Landau, Zbigniew/Tomaszewski, Jerzy: Bilans gospodarczych skutków I wojny światowej dla ziem polskich [Eine Bilanz der wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs]. In: Historia Polski (wie Anm. 6), S. 489 f.; Zniszczenia wojenne i odbudowa Polski [Die Kriegszerstörungen und der Wiederaufbau Polens]. Warszawa 1929, unpag.; Bankiewicz/Domosławski (wie Anm. 6), S. 6, 12 f. 8 Ebd., S. 10 f.



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ken zu halten, wodurch sie quasistaatliche Funktionen ausübten. Dem Warschauer Komitee fiel die Versorgung der zahlreichen Flüchtlinge zu, die verstärkt gegen Ende des ersten Kriegsjahrs aus den Gebieten östlich der Weichsel in die Stadt strömten. Der Abzug der zaristischen Machthaber aus dem Gebiet markierte eine historische Zäsur für Kongresspolen und für Polen im Allgemeinen. Die Besetzung durch die Mittelmächte im Spätsommer des Jahrs 1915 bildete den Auftakt für eine Reihe struktureller Wandlungen in den Städten, die über das Kriegsende hinaus fortwährten. Obwohl die Besatzungsherrschaft de facto eine Militärdiktatur war, führte sie eine Reihe von Liberalisierungen ein. Dies geschah auch in der Absicht, den Herrschaftswechsel als eine positive politische Wende zu präsentieren. Die Besatzungsbehörden gewährten den Polen eine gewisse Eigenständigkeit in kulturellem, nationalem, sozialem und administrativem Bereich, um sich vom repressiven Herrschaftsstil der vorigen Machthaber abzuheben, aber auch, um unter ihrer Aufsicht eine neue politische und soziale Verfassung zu etablieren. Die Mittelmächte betonten immer wieder, dass sie das Gebiet von der russischen „Zwingherrschaft“ befreit hätten. Die meisten polnischen Publizisten stimmten in die Verdammung des russischen Regimes ein und feierten die Besiegung Russlands als einen historischen Wendepunkt. Gleich zu Beginn der Besatzung unternahmen beide Seiten vieles, um die russische Prägung visuell, kulturell und politisch zu beseitigen.

Rückgängigmachung der russischen Überformungen von Baudenkmälern nach August 1915 Die deutsche Besatzungsverwaltung hatte ihre Zentrale in Warschau, in dem sich sogleich Wandlungen vollzogen, die für einen Herrschaftswechsel typisch sind. Die Umnutzung von Gebäuden, die von hohen zaristischen Beamten benutzt worden waren, war zugleich politisches Symbol. In den Statthalterpalast (Pałac Namiestnikowski), der bislang Sitz des russischen Generalgouverneurs war, zog der deutsche Generalgouverneur.9 Einige Monate später wurde im nahe gelegenen Palais Staszic ein Wohnheim für deutsche Soldaten untergebracht. In diesem Fall mochte die neue Verwendung manchen polnischen kulturbewussten Patrioten provoziert haben: Das Palais war in den 1820er Jahren für die Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften (Towarzystwo Przyjaciół Nauk) erbaut worden. Die Einrichtung hatte sich vorrangig der Pflege der polnischen Sprache gewidmet und war dadurch einem wichtigen national-kulturellen Auftrag gefolgt. Nach dem Novemberaufstand von 1830/31 war die Institution von den zaristischen Behörden geschlossen worden. Danach wandelte das Gebäude seine Funktionen mehrmals, bis es in den 1890er Jahren als russisch-

9 Bania, Zbigniew/Jaroszewski, Tadeusz S.: Pałac Rady Ministrów [Der Palast des Ministerrats]. War­ szawa 1980, S. 121.

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Abb. 1  Warschau, Palais Staszic nach der Überformung in russisch-byzantinischem Stil. Kolorierte Aufnahme um 1900.

orthodoxe Kirche für die russische Jugend fungierte.10 In dieser Zeit wurden die Fassaden mit Ornamenten aus dem altrussisch-byzantinischen Formenrepertoire geschmückt, sodass von der ursprünglichen Gestaltung nichts mehr sichtbar war (Abb. 1). Das Baudenkmal hatte die russifizierte Form, als es die Soldaten der Besatzungsarmee bezogen. Da im dritten Jahr der Besatzung die einheimischen politischen Wortführer immer häufiger Parallelen zwischen dem deutschen Besatzungsregime und der zaristischen Herrschaftspraxis zogen, ist es möglich, dass seitens der Warschauer Bevölkerung im Wohnheim auch ein Symbol für die angebliche Wesensverwandtschaft zwischen den beiden Regimes gesehen wurde. Die neuen Machthaber setzten ihrem Triumph über Russland aber auch durch die Umwidmung der russisch-orthodoxen Kirche auf dem Sächsischen Platz (plac Saski) ein Zeichen. Bereits diese Geste veränderte die Bedeutung des Platzes: Nach der Errichtung Kongresspolens im Jahr 1815 hatte er der zaristischen Armee als Exerzier- und

10 Dettloff, Paweł: Odbudowa i restauracja zabytków architektury w Polsce w latach 1918–1930 [Der Wiederaufbau und die Restaurierung von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1918–1930]. Kraków 2006, S. 228.



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Abb. 2  Warschau, Sächsischer Platz mit Obelisk, russischem Feldlager und Sächsischem Palais. Aufnahme um 1870.

Abb. 3  Warschau, Alexander-Newski-Kathedrale mit Umgebung, im Hintergrund das Sächsische Palais und der Sächsische Garten. Luftaufnahme um 1920.

Paradeplatz gedient.11 Außerdem war Ende November 1841, am 11. Jahrestag des Novemberaufstands, in dessen Mitte ein Obelisk errichtet worden. Das übergroße Denkmal sollte an die sieben polnischen Offiziere erinnern, die während des Novemberaufstands auf russischer Seite gekämpft hatten und durch die Hand der Aufständischen gefallen waren (Abb. 2). Das Eisen, das dafür verwendet wurde, entstammte zum Teil eingeschmolzenen Schwertern der Aufständischen. Die Aufschrift lautete „Den Polen, die aus Loyalität gegenüber ihrem Monarchen fielen“ (Polakom poległym za wierność swemu monarsze). Es kann davon ausgegangen werden, dass der zaristische Staat mit dem Denkmal – einem Mahnmal gleich – eine disziplinierende Absicht hatte, und es ist leicht nachzuvollziehen, dass es nicht nur den polnischen Patrioten ein Dorn im Auge war. Ein halbes Jahrhundert später ließen es die russischen Behörden auf den nahe gelegenen Grünen Platz (Plac Zielony) verschieben. In der Mitte des Sächsischen Plat11 Hübner-Wojciechowska, Joanna: Grób Nieznanego Żołnierza [Das Grab des Unbekannten Soldaten]. Warszawa 1991, S. 23.

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zes entstand die kolossale russisch-orthodoxe Kirche, die dem russischen Nationalhelden Alexander Newski (um 1220–1263) geweiht war. Newski hatte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Kampf gegen den Deutschen Orden die russischen Truppen angeführt und dem Orden 1242 eine militärische Niederlage bereitet. Die Kathedrale wurde 1912 fertiggestellt (Abb. 3). Ihr Glockenturm war das höchste Gebäude in Warschau,12 die Außenwände waren mit weißen Ziegeln verkleidet, die Kuppeln vergoldet.13 Die Errichtung fiel in den Zeitraum, in dem das Russländische Reich in Kongresspolen seine Repressionspolitik verschärfte. Der monumentale Prachtbau, der auf manchen Passanten einschüchternd gewirkt haben mochte, machte den Sächsischen Platz zum Sinnbild der Macht der russisch-orthodoxen Kirche und der zaristischen Autokratie. Nachdem die deutschen Truppen im Sommer 1915 die Stadt erobert hatten, widmeten sie die Kirche um, indem sie diese dem deutschen Heiligen Kaiser Heinrich II. (973–1024) weihten, und nutzten sie als Garnisonskirche. Ein paralleler Vorgang vollzog sich in Lublin auf dem historischen Litauischen Platz (Plac Litewski). Die dortige russisch-orthodoxe Kirche in der Mitte des Platzes wandelten die k. u. k. Behörden in eine Garnisonskirche um, und in die Amtsgebäude um den historischen Platz zog die Leitung des österreichisch-ungarischen Militärgeneralgouvernements Lublin. Nach dem damals geltenden Kriegsrecht (Haager Landkriegsordnung) setzte die Besatzung die Herrschaftsgewalt der früheren Regierung des besetzten Lands nur bis zum Friedensschluss, nicht aber dauerhaft außer Kraft. Dennoch begannen die Besatzer und die halbautonomen Behörden, russische Aufschriften aus der Öffentlichkeit zu beseitigen. Sie nahmen russische Laden- und Straßenschilder ab, und im Oktober 1916 ordnete der Warschauer Stadtrat die Umbenennung Warschauer Straßen an.14 Bereits im September 1915 entfernten Besatzungsbeamte die zaristischen Hoheitszeichen von der Hauptpost in Warschau (Abb. 4). In dieser Zeit bekamen einige Städte auch ihre ursprünglichen Namen wieder, welche die Behörden nach 1831 durch russische ersetzt hatten (Iwangoród hieß wieder Dęblin, Nowo-Aleksandryja wieder Puławy). Freilich gab es bei der einheimischen Bevölkerung, vor allem in Warschau, einflussreiche Gruppen, die sich des Transitorischen der Besatzung stärker als andere bewusst waren und die Rückkehr der zaristischen Beamten während des Kriegs nicht kategorisch ausschlossen. Die visuell-symbolische Entrussifizierung setzten die Besatzungsmächte und die halbautonomen Behörden fort, indem sie die Formensprache und die Ornamente beseitigten, mit denen die zaristischen Behörden Baudenkmälern eine russische Prägung verliehen hatten. Diese hatten gerade solche Bauten mit dem russisch-byzantinischen Stil überformt, die wichtige polnische Institutionen beherbergten, wie das Palais Sta­szic 12 Bartetzky, Arnold: „Wiedergutmachung für historische Verluste.“ Der Wiederaufbau von Baudenkmälern im östlichen Europa als Akt nationaler Selbstbehauptung. In: Ders.: Nation – Staat – Stadt. Architektur, Denkmalpflege und Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Köln-Weimar-Wien 2012, S. 17–32, hier S. 25 f. 13 Hübner-Wojciechowska (wie Anm. 11), S. 24. 14 Dunin-Wąsowicz, Krzysztof: Warszawa 1914–1918 [Warschau 1914–1918]. Warszawa 1989, S. 81.



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und katholische Kirchen. Auf katholische Kirchen ließen sie seit Ende des 19. Jahrhunderts Kuppeln im russisch-byzantinischen Stil setzen.15 Die Verfremdung der Außengestaltung fassten die Einheimischen weithin als Ausdruck des imperialen Überlegenheitsgefühls auf und ordneten sie den zahlreichen Versuchen zu, das polnische Selbstbewusstsein zu zermürben. Bald nach dem Abzug der zaristischen Behörden gründeten Architekten ein Komitee, das sich mit der Restaurierung der Außenfassade des Palais Staszic befasste.16 Jedoch ließen sie während des Kriegs lediglich die byzantinische Kuppel entfernen und verlegten die Restaurierungsarbeiten auf einen späteren Zeitpunkt. In der Phase der Staatsgründung bezog das Gebäude die Warschauer Wissenschaftsgesellschaft (Towarzystwo Naukowe Warszawskie),17 die 1907 als Abb. 4  Warschau, Entfernung des russischen Hoheitszeichens von der Hauptpost im September Nachfolgerin der Gesellschaft der 1915 auf Anordnung der deutschen Besatzungs­ Freunde der Wissenschaften gebildet behörden. worden war, sodass das Gebäude wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt wurde. Nach der russischen Februarrevolution 1917 konnten bedenkenlos zwei wichtige Denkmäler demontiert werden, die beide als Ausdruck der zaristischen Repressionspolitik gegolten hatten: der Obelisk, der an die russlandtreuen polnischen Offiziere erinnern sollte, und das Paskewitsch-Denkmal. Den Abriss des Obelisken beantragten Warschauer Stadträte bei den Besatzungsbehörden, nachdem der Zar abgedankt hatte.18 Im Oktober ließen die städtischen Behörden auch das Paskewitsch-Denkmal abtragen. Iwan Paskewitsch (1782–1856) hatte die russischen Armeen bei der Niederschlagung des Novemberaufstands 1830/31 angeführt und war danach von Zar Nikolaus I. zum Statthalter des Königreichs Polen ernannt worden. In dieser Funktion hatte er die drastischen Anordnungen von Nikolaus I. zur Bestrafung der Aufstandsteilnehmer und seinen Beschluss zum Bau der Zitadelle in Warschau umgesetzt, welche die Polen zur Regierungstreue mahnen sollte, und selbst ein rigides Regime geführt. Im polnischen Gedächt15 Bartetzky (wie Anm. 12), S. 25. 16 Ebd. 17 Dunin-Wąsowicz (wie Anm. 14), S. 196. 18 Ebd., S. 86.

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Keya Thakur-Smolarek Abb. 5  Warschau, Paskewitsch-Denkmal vor dem Statthalterpalast, Sitz des deutschen Generalgouverneurs. Aufnahme vom Spätsommer 1915.

Abb. 6  Warschau, Demontage des PaskewitschDenkmals vor dem Statthalter­palast im Oktober 1917. Aufnahme von Zdzisław Marcinkowski.

nis verkörperte Paskewitsch die Militanz und den polenfeindlichen Aspekt des zaristischen Regimes. Von Zar Alexander II. aber war der General 1870 nochmals posthum geehrt worden, indem er das Paskewitsch-Denkmal vor dem Palais des russischen Generalgouverneurs in Warschau aufbauen ließ.19 Sicherlich war diese Anordnung als Drohgebärde gedacht, und es kann davon ausgegangen werden, dass die polnischen Zeitgenossen sie auch als eine solche wahrnahmen. Das Denkmal blieb zunächst vor 19 Bania/Jaroszewski (wie Anm. 9), S. 108.



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dem Palais stehen, nachdem es der deutsche Generalgouverneur bezogen hatte, und dürfte auch dann seine abschreckende Wirkung nicht ganz verloren haben (Abb. 5). Das Jahr 1917 aber war auch in Polen ein Wendejahr: Im November 1916 hatten die Mittelmächte das besetzte Kongresspolen formal zu einem eigenständigen Staat erhoben und im März 1917 gestand das revolutionierte Russland den Polen das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht zu. Bis Mitte 1917 aber waren die Besatzerstaaten Österreich-Ungarn und Deutschland vollkommen in Misskredit geraten. Die eigenständige staatliche Existenz nahm konkrete Formen an, sodass sich die Demontage des Denkmals im Klima des politischen Aufbruchs vollzog (Abb. 6).

Entrussifizierung der Verwaltung 1915/16 Die Entfernung von Spuren der zaristischen Repression und von Symbolen, mit denen sich Russland in der städtischen Öffentlichkeit als imperiale Macht inszeniert hatte, war lediglich ein Aspekt der Entrussifizierung, die weitaus umfassender gedacht war. Die Besatzungsbehörden führten eine groß angelegte Propaganda, um die politische Einstellung der Bewohner des Gebiets in ihrem Sinne zu formen, gemäß dem unmittelbaren Kriegsziel des Kaiserreichs, Russland zurückzudrängen. Die deutsche Führung hatte außerdem vor, im Sinne einer neu ausgerichteten Außen- und Ostpolitik, den ostmitteleuropäischen Raum politisch neu zu ordnen und das Territorium langfristig zum „Schutzwall“ gegen Russland zu machen. Als erste Maßnahme der politischen Entrussifizierung lösten die Besatzungsbehörden die Bürgerkomitees auf, die im ersten Kriegsjahr mit den zaristischen Behörden zusammengearbeitet hatten, weil die Mehrheit ihrer Mitglieder – tatsächlich – für ein Zusammengehen mit Russland plädiert hatte. An deren Stelle entstanden neue Komitees, die ähnlich aufgebaut waren wie ihre Vorgänger. Die Besatzungsbehörden legten Wert darauf, dass sich das Personal aus Vertretern unterschiedlicher sozialer Gruppen und politischer Richtungen zusammensetzte, sodass in den neuen Hilfskomitees das politisch gemäßigte Bürgertum, frühere Anhänger Russlands und konservativ Eingestellte neben Mitgliedern der sozialistischen Parteien arbeiteten. Institutionell, politisch und gesellschaftlich war es langfristig bedeutend, dass sich die Einheimischen in den Hilfsaktionen eigenständig organisierten, dadurch eigene Institutionen aufbauten und zivilgesellschaftliche Ansätze entwickelten. Das Nachgeben gegenüber den Eigenständigkeitsforderungen der lokalen Bevölkerung erstreckte sich aber auch auf die Kultur. Den Polen sprachen die deutsche und die österreichische Besatzungsmacht in den ersten Monaten der Besatzung das Recht zur Entfaltung ihrer Kultur zu. Derartige Zusicherungen äußerten der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in seiner Rede vom 19. August 1915 vor dem Reichstag20 sowie der k. u. k. Gene-

20 Sitzung vom 19.8.1915. In: Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. Bd. 306. Berlin 1915, S. 219.

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ralgouverneur des Militärgeneralgouvernements Lublin, Erich von Diller.21 Die Besatzungsmächte erwarteten, dass die Einführung des Polnischen in der Öffentlichkeit und die Entfaltung polnischer Kultur unter ihrer Ägide dazu beitragen würden, den Polen die Einbindung des Territoriums in ihre Herrschaftssphäre schmackhaft zu machen, aber auch, eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen. Ein weiteres wichtiges Motiv für die Polonisierung bildete die preußische Germanisierungspolitik, welche die zaristischen Behörden im ersten Kriegsjahr in die Kriegspropaganda einbezogen hatten und bei der sie von den prorussischen polnischen Gruppen unterstützt worden waren.22 Während die deutschen Truppen im Frühjahr und Sommer 1915 immer mehr Gebiete Kongresspolens eroberten, hatten Warschauer Zeitungen gefragt, ob sie die Germanisierung in dem unterworfenen Territorium fortsetzen würden.23 Mit der Polonisierung beabsichtigte die deutsche Besatzungsmacht daher unmittelbar, das polnische Misstrauen gegenüber den deutsch-preußischen Behörden abzubauen. Andererseits hatte der Abzug der zaristischen Behörden eine neue Sprachpolitik möglich gemacht. So bildete die Einführung des Polnischen als Amtssprache eine der ersten Maßnahmen der Mittelmächte. Die Schulgesetze für das Kaiserlich Deutsche Generalgouvernement Warschau vom Oktober 1915 stützten sich auf die Vorschläge der polnischen Abteilung für Bildungsfragen, die das Zentrale Bürgerkomitee in Warschau ins Leben rief, sowie auf eine Anordnung Paul von Hindenburgs. Die Schulordnung bestimmte, dass der Schulunterricht in polnischer Sprache abgehalten sowie das Russische als Unterrichtsfach und Lehrsprache abgeschafft werden sollte.24 Zudem gründeten und bauten die Besatzungsmächte zahlreiche neue Schulen. Im österreichisch-ungarischen Besatzungsgebiet gab es Ende 1915 noch 1600 Schulen, ein Dreivierteljahr später existierten dort 2600 Schulen.25 Im Herbst 1915 wurden die beiden Warschauer Hochschulen und die Polnische Bildungsorganisation (Polska Macierz Szkolna) wiedereröffnet. Die nationale Einrichtung war 1906, während einer politischen Tauwetterperiode, gegründet, aber wenige Jahre später von den zaristischen Behörden wieder geschlossen worden. Außerdem setzten sich die Besatzungsbehörden für die Erhaltung der lokalen Kulturdenkmäler ein, indem sie die Schäden an den Kulturgütern erfassten und Statuen, Kircheninventar, Altäre, Bilder und Bibliotheken sammelten.26 Auch mit der Errichtung der Selbstverwaltung in den Kommunen verfolgten die Besatzungsmächte kurz- und langfristige Ziele. Zunächst waren die Besatzungsmächte 21 Hausner, Arthur: Die Polenpolitik der Mittelmächte und die österreichisch-ungarische Militärverwaltung in Polen während des Weltkrieges. Wien 1935, S. 36. 22 Holzer, Jerzy/Molenda, Jan: Polska w pierwszej wojnie światowej [Polen während des Ersten Weltkriegs]. Warszawa 1963, S. 47 f. 23 Gazeta Warszawska, 23.2.1915, S. 1; ebd., 22.6.1915, S. 1. 24 Czas, 29.10.1915, S. 1. 25 Lewandowski, Jan: Królestwo Polskie pod okupacją austriacką [Das Königreich Polen unter österreichischer Besatzung]. Warszawa 1980, S. 64. 26 Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002, S. 167.



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Abb. 7  Warschau, Enthüllung der Jan Kiliński gewidmeten Gedenkplakette an seinem Wohnhaus in der Gasse Szeroki Dunaj im April 1916.

dazu verpflichtet, die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen (Haager Landkriegsordnung, Art. 43). Die Besetzung von Posten in der Verwaltung und im Gerichtswesen durch Einheimische geschah aber auch aus purer Notwendigkeit, da die zaristischen Beamten abgezogen waren und es den Besatzerstaaten an Personal fehlte. Im Juli 1915 führten die deutschen Truppen eine Städteordnung ein, die sich an die liberale preußische Städteordnung anlehnte, und wenige Monate später trat die preußische Kreisordnung in Kraft. Wichtiges Grundprinzip dieser Verwaltungsordnungen war die Rechtsgleichheit, wodurch sie der Partizipationsforderung der breiten Bevölkerung entgegenkamen. Die Heranziehung sozial und politisch heterogener Gruppen hatte auch den Zweck, die prorussisch eingestellten Beamten zu majorisieren, wie der deutsche Generalgouverneur Hans von Beseler in seinem Bericht über die Verwaltung des Generalgouvernements Warschau 1916 an den Reichskanzler darlegte. Zentrales Motiv der politischen Liberalisierung war indes, „die wirkliche Stimmung und politische Stimmung der Bevölkerung“ zu eruieren.27 Nun war es den Polen erlaubt, Nationales öffentlich zu präsentieren. Mit einer öffentlichen Gedenkplakette gedachten die Warschauer im Frühjahr 1916 Jan Kilińskis, eines Kämpfers des KościuszkoAufstands von 1794. Der Aufstand hatte sich gegen Russland gerichtet, und Kiliński, ein Schuster, hatte die Angehörigen der breiten Schichten angeführt. Die Plakette wurde an sein damaliges Wohnhaus in der Warschauer Altstadt angebracht (Abb. 7). Die neue Verwaltungsstruktur, die eine wichtige verfassungspolitische Wende auf lokaler Ebene bildete, stieß weitere Entwicklungen an. An den Stadtratswahlen durften sich alle Parteien beteiligen, sodass selbst die bisher verbotenen Linkssozialisten und die latent prorussischen Rechtsparteien öffentlich agitieren konnten und zuvor unterdrückte politische Diskurse ‒ auch mittels der Printmedien ‒ wieder in Gang kamen.

27 4. Bericht des Generalgouverneurs über die Verwaltung des Generalgouvernements Warschau zum Zeitraum 1.4.–30.6.1916, S. 13. Bundesarchiv-Lichterfelde, Sign. 119760.

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Die städtische Öffentlichkeit war zunehmend Ort zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Gewerkschaften jeder politischer Ausrichtung durften wieder wirken,28 und in mehreren Städten – in Warschau, Łódź, Lublin, Płock (dt. Plozk) und Włocławek (dt. Leslau) – entstanden Genossenschaften, die Lebensmittel- und Großhandelsgeschäfte sowie Bäckereien einrichteten.29 Das Arbeiterwirtschaftskomitee (Robotniczy Komitet Gospodarczy), das den linkssozialistischen Parteien Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy) und Sozialistische Partei Polens – die Linke (Polska Partia Socjalistyczna-Lewica) sowie dem jüdischen Bund angegliedert war, betrieb Armenküchen. Ein vom Hauptfürsorgerat, der Warschauer Nachfolgeorganisation des Zentralen Bürgerkomitees, mitfinanzierter Literatenfond unterstützte verarmte Künstler.30 Die Warschauer Theater, welche nun die Stadt verwaltete, konnten ihren Betrieb wieder aufnehmen und erstmals ein breites Spektrum polnischer Stücke auf ihre Spielpläne setzen.31 Jedoch kontrastierten mit dem Aufleben der Kultur und des Schulwesens die Arbeitslosigkeit und die Versorgungsengpässe. Die Requirierung von Produktionsmitteln sowie neue Steuern32 hemmten den Wiederaufbau, und das Bauwesen in Warschau kam vollständig zum Erliegen.33

Wiederaufbau während der Besatzung 1915–1918 Über Art und Umfang der Wiederaufbauarbeiten während des Kriegs entschied die Kriegsführung der Besatzerstaaten. Die Behörden bauten auf, was dem Krieg an der Ostfront nützte und half, die Zivilbevölkerung einigermaßen zu versorgen. Straßen wurden „im militärischen Interesse“ erneuert,34 die von den Truppen vorsätzlich zerstörten Eisenbahnlinien wiederhergestellt und neue Linien gebaut.35 Die medizinische Versorgung geschah im Sinne der „Befriedung und Entseuchung des Verwaltungsgebiets“,36 wofür die deutsche Zivilverwaltung ein aufwändiges Gesundheitswesen errichtete. Eine Sanitätspolizei ließ Straßen reinigen und tiefere Brunnen bohren, die Zivilverwaltung 28 Tych, Feliks: PPS-Lewica w latach wojny 1914–1918 [Die PPS-Lewica in den Kriegsjahren 1914–1918]. Warszawa 1960, S. 35. 29 Ebd., S. 224. 30 Dunin-Wąsowicz (wie Anm. 14), S. 168. 31 Ebd., S. 172 f., 176. 32 Jabłoński, Henryk: Pisma wybrane – Polityka Polskiej Partii Socjalistycznej w czasie wojny 1914–1918 [Ausgewählte Schriften – die Politik der Polnischen Sozialistischen Partei in der Zeit des Kriegs 1914–1918]. Wrocław u. a. 1986, S. 49. 33 Dunin-Wąsowicz (wie Anm. 14), S. 81. 34 1. Vierteljahrsbericht [im Folgenden: VJBer] der Zivilverwaltung für Russisch-Polen für die Zeit vom 5. Januar bis zum 25. April 1915, S. 26. Hauptstaatsarchiv Stuttgart [im Folgenden: HStA Stg], Sign. E 40/72 Bü 716; Kries, Wolfgang von: Deutsche Staatsverwaltung in Russisch-Polen. In: Preußische Jahrbücher 233 (1933), S. 130–158, hier S. 132. 35 2. VJBer der Kaiserlich Deutschen Zivilverwaltung für Polen links der Weichsel, S. 28. HStA Stg, Sign. E 40/72 Bü 716. 36 Kries (wie Anm. 34).



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richtete provisorische Spitäler ein.37 Auch über den Fabrikbetrieb entschied die Kriegsführung: Der Chef der Zivilverwaltung berichtete Ende 1915 an die Reichsleitung: „Es wurden Fabriken wieder in Betrieb gesetzt, deren Erzeugnisse mittelbar oder unmittelbar dem Heeresinteresse zugutekommen. Unmittelbar geschieht dieses zum Beispiel in Warschau bei einigen Stacheldrahtfabriken, Maschinenwerkstätten, Eisenbahnwaggonbau-Fabriken […].“38 Dachpappenfabriken durften „im Interesse des Wiederaufbaus des Landes“ weiterarbeiten.39 Da der Kriegsbedarf Vorrang hatte und Mittel wie Infra­ strukturen fehlten, bauten die Besatzungsbehörden viele zerstörte Gebäude nur provisorisch wieder auf. Auf dem flachen Land wurden die zerstörten Wohnhäuser oft nur durch Baracken ersetzt.40 Die Rekonstruktion der ländlichen Holzhäuser in ihrer traditionellen Form war einigen Architekten ein besonders wichtiges Anliegen.41 Sie forderten die Bewahrung der regionalen Holzbauweise und „soweit möglich ‒ die Kontinuität […] der Topographien der Dörfer, Siedlungen und Städte“.42 In der Weise äußerte sich auch der renommierte Warschauer Architekt Stefan Szyller, für den die Zerstörung der typischen regionalen Baukunst Anlass bot, die polnische Volkskultur zu erforschen und ihren Wert zu erkennen. Noch während sich die Armeen bekämpften, reflektierte Szyller vor dem Warschauer Architektenklub (Koło Architektów), welche Richtlinien für den Wiederaufbau der ländlichen Häuser anzuwenden seien, und plädierte dafür, beim Wiederaufbau die traditionelle einheimische Baukunst wiederherzustellen.43 Im Jahr darauf veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Gibt es eine polnische Architektur?“, das Spezifika und Qualität der ländlichen Baukunst und Baukultur deutlich zu machen beabsichtigte (Abb. 8–10).44 Zeichnungen gaben auch Einzelheiten des weit entwickelten ländlichen Zimmerhandwerks wieder (Abb. 11). Der Intelligenz warf Szyller indes Desinteresse am Thema vor, führte dies aber darauf zurück, dass die polnische Kunstgeschichte damals wissenschaftlich noch nicht erschlossen gewesen sei. Zwar verhinderte der Krieg die Verwirklichung von Szyllers Vorstellungen, sie nahmen aber in gewisser Weise die Nachkriegsarchitektur voraus. Beim Wiederaufbau der historischen Stadt Kalisz ging es in hohem Maße um dessen symbolischen Wert, was auf die Umstände der Zerstörung zurückging (siehe dazu den 37 2. VJBer (wie Anm. 35), S. 19–22. 38 2. (4.) VJBer des Verwaltungschefs bei dem Generalgouvernement Warschau [im Folgenden: VJBer VerwGGW] für die Zeit vom 1.10. bis 31.12.1915, S. 45. HStA Stg, Sign. E 40/72 Bü 716; 3. (5.) VJBer VerwGGW für die Zeit vom 1.1. bis 31.3.1916, S. 31. Ebd. 39 2. (4.) VJBer (wie Anm. 38), S. 45. 40 Landau/Tomaszewski (wie Anm. 7), S. 490; Bankiewicz/Domosławski (wie Anm. 6), S. 11. 41 Szyller, Stefan: Czy mamy polską architekturę? [Gibt es eine polnische Architektur?]. Warszawa 1916; Piotrkowski, Józef: Ochrona zabytków a odbudowa kraju [Denkmalschutz und Wiederaufbau des Landes]. Lwów 1916. 42 „Czuwanie nad możliwą niezmiennością […] krajobrazów pojedynczych wsi, osad i miast.“ Zit. nach: ebd., S. 7. 43 Omilanowska, Małgorzata: Stefan Szyller (1857–1933). Warszawski architekt doby historyzmu [Stefan Szyller (1857–1933). Ein Warschauer Architekt in der Phase des Historismus]. Warszawa 1995, S. 57. 44 Szyller (wie Anm. 41).

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Abb. 8  Deckblatt von Stefan Szyllers Schrift „Czy mamy polską architekturę?“ (Gibt es eine polnische Architektur?), 1916.

Abb. 9  Typische Katen des Lubliner Lands (oben) und Masowiens (unten). Aus Stefan Szyllers Schrift „Czy mamy polską architekturę?“ (Gibt es eine polnische Architektur?), 1916.

Beitrag von Małgorzata Omilanowska in diesem Band).45 In den ersten Tagen des August 1914 war die Grenzstadt von einer preußischen Landwehr kampflos eingenommen worden. Aus ungeklärter Ursache feuerte in der ersten Nacht der Besatzung ein Unbekannter einen Schuss auf einen deutschen Soldaten ab, und die anschließenden Vermutungen über den Heckenschützen, seine Nationalität und seine Motive lösten eine ganze Serie von planlosen Gewalttaten aus. Die preußischen Truppen beschossen die Stadt mehrmals, wobei sie überwiegend auf die historischen Stadtteile zielten. Weitgehend unversehrt blieben Kirchen und Synagogen, das jüdische Viertel und die meisten Fabriken.46 Trotz der Kriegszensur wurden die Ereignisse in Polen rasch bekannt. Einhellig verurteilten die Publizisten die Brandschatzung der Stadt und knüpften dabei an die Vorstellung vom kontinuierlichen polnisch-preußischen Gegensatz an. Vor diesem Hintergrund sollte der Wiederaufbau der Stadt ein Zeichen setzen für die Beständigkeit der Nation, die sich seit der letzten Teilung Polens kontinuierlich für den Erhalt ihrer 45 Bartetzky (wie Anm. 12), S. 24. 46 Zarębska, Teresa: Problemy prekursorskiej odbudowy Kalisza [Probleme beim wegweisenden Wiederaufbau von Kalisch]. In: Odbudowa miast historycznych. Dokonania przeszłości. Potrzeby i możliwości współczesne. Wyzwania przyszłości. Hg. v. Maria Lubocka-Hoffmann. Elbląg 1998, S. 13.



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Kultur und ihrer Traditionen eingesetzt hatte. Er richtete sich gegen die Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses, die jahrzehntelang durch die Russifizierungsund Germanisierungspolitik versucht worden war. Schließlich sollte damit auch der Mythos von der unerschöpflichen Energie der nationalen Psyche gepflegt werden.47 Insofern war die Wiederherstellung mit einer wichtigen nationalpolitischen Mission verbunden. Nicht lange nach der Zerstörung der Stadt gründete sich das Komitee für den Wiederaufbau von Kalisz (Komitet Odbudowy Kalisza). Ein Jahr später fand ein Architekturwettbewerb statt, deren Teilnehmer die Aufgabe hatten, konservatorische Aspekte und moderne Stadtentwicklung in Einklang zu bringen.48 Entsprechend sahen einige eingereichte Papiere vor, moderne Technik in die wieAbb. 10  Kleinpolen, Wohnhäuser aus Holz in deraufgebaute Stadt zu integrieren.49 Muszyna und Wiśnicz. Nach Zeichnungen von Jan Außerdem brachten Stadtplaner vor, dass Matejko. Aus Stefan Szyllers Schrift „Czy mamy bereits vor der Zerstörung wichtige Moderpolską architekturę?“ (Gibt es eine polnische Architektur?), 1916. nisierungen fällig gewesen wären, etwa bei den Wohnungen in den älteren Stadtteilen, die völlig unzureichende Bedingungen geboten hätten, und bei der Straßenführung. Eine Expertenkommission, die ein Jahr nach Kriegsende einberufen worden war, entschied, dass beim Wiederaufbau fortschrittliche Technik und neue Verfahren im Bauwesen angewendet sowie ein modernes Hygienewesen errichtet werden sollten.50 Die Bauanordnung des Kaliszer Magistrats von 1917 erlaubte zwar eine originalgetreue, enge Bebauung, bestimmte aber, dass die engen Souterrainwohnungen in der Altstadt nicht wieder entstehen sollten. Die Straßenführung passte sich den modernen Verkehrsbedingungen an, der mittelalterliche Grundriss und das frühere Stadtbild wurden aber im Wesentlichen beibehalten. Architekturhistoriker haben die These formuliert, dass der Wiederaufbau von Kalisz damals für den anderer polnischer Städte als Vorbild dienen sollte. Dafür spricht eine Broschüre, die das polnische Ministerium für Kunst und Kultur zwei Jahre nach der Staatsgründung herausgab. Sie führte aus, dass die

47 Bartetzky (wie Anm. 12), S. 24. 48 Ebd.; Dettloff (wie Anm. 10), S. 137 f. 49 Zarębska (wie Anm. 46), S. 15. 50 Ebd., S. 18.

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Keya Thakur-Smolarek Abb. 11  „Details polnischen Zimmerhandwerks“. Lubliner Land, Tomaszów (oben) und Bełżyce (unten). Nach Zeichnungen von Jan Sas-Zubrzycki. Aus Stefan Szyllers Schrift „Czy mamy polską architekturę?“ (Gibt es eine polnische Architektur?), 1916.

Altstädte und alten Stadtteile in Polen wichtige historische Werte bewahren würden und zu den wertvollsten Baudenkmalensembles des Lands gehörten.51 Die Frage, ob eine originalgetreue Wiederherstellung von Baudenkmälern und städtischen Topographien überhaupt wünschenswert sei, bildete den Kern eines Diskurses, den Architekten, Stadtplaner und Denkmalpfleger miteinander führten. Der Traditionalist Szyller gehörte zu denjenigen, die an den einheimischen Bautraditionen festhalten wollten. Der anderen Position zufolge war der Wiederaufbau an die modernen Lebensformen anzupassen. Zwar sollte die einheimische Baukunst in ihren Grundzügen umgesetzt werden und das Stadtbild im Wesentlichen erhalten bleiben, jedoch sollte das Frühere nicht schlichtweg kopiert werden, und das Funktionale war der Wiederherstellung überzuordnen.52 Einig waren sich die meisten Architekten und Denkmalpfleger dahingehend, dass beim Wiederaufbau die ganze jeweilige Topographie zu berücksichtigen sei.53 Mit diesen Fragen befassten sich auch die Berufsvereinigung der Bauindustrie im Königreich Polen (Stowarzyszenie Zawodowe Przemysłowców Budowlanych w Królestwie Polskim), der Verein der Polnischen Techniker (Stowarzyszenie Techników Polskich) und die Organisation der Polnischen Hygieniker (Hygieniści Polscy).54 51 52 53 54

Ebd., S. 19. Dettloff (wie Anm. 10), S. 135–137. Ebd., S. 132; Zarębska (wie Anm. 46), S. 16. Omilanowska (wie Anm. 43), S. 58.



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Wiederaufbau im 1918 rekonstituierten Staat Nach der Staatsgründung im Jahr 1918 wuchs indes das Interesse an der Konservierung und originalgetreuen Rekonstruktion historischer Bauten, die nun in der Hand des polnischen Ministers für Bildungs- und Religionsangelegenheiten sowie der für die Stadtkreise jeweils zuständigen Konservatoren lagen. Das Ende der Teilungszeit veränderte die Perspektive und die politische Leitidee: Während der Zeit der Denationalisierungsversuche war es bei der Konservierung von einheimischen Kulturgütern vor allem darum gegangen, die polnische Kultur am Leben zu erhalten. Im wiederhergestellten Polen hingegen war es der Öffentlichkeit und dem Staat ein wichtiges Anliegen, mittels der Überreste und Traditionen die Kontinuität der polnischen Kultur und Staatlichkeit von der Zeit vor den Teilungen Polens bis in die Gegenwart nachzuweisen. Dadurch sollte der Nationsbau fortgesetzt, das nationale Selbstbewusstsein untermauert und die Legitimität der nationalstaatlichen Existenz unterstrichen werden.55 Diese Vorstellungen bereiteten dem Traditionalismus den Boden, der bis Mitte der 1920er Jahre auch die Baustile weitgehend bestimmte. Darauf hatte die Vernichtung von nationalen Kulturgütern im Krieg Einfluss, die auch bei anderen europäischen Nationen den Wunsch weckte, ihre Kultur vor dem Untergang zu retten. Ein weiterer Grund war das gewachsene Nationalbewusstsein nach der Staatsgründung. Der Traditionalismus gründete aber auch auf eine geistesgeschichtliche Strömung, die als Gegenbewegung zur zuvor sich ausbreitenden Technikgläubigkeit aufkam. Der Krieg hatte die destruktive Seite von Technik, Wissenschaft und menschlicher Ratio offengelegt, weshalb sich nach dem Krieg europaweit eine Technik- und Vernunftskepsis verbreitete.56 Der Antimodernismus führte mitunter zu recht weit reichenden Forderungen. Der polnische Konservator Józef Dutkiewicz sprach sich dafür aus, dass sich die Neubauten der historischen Bausubstanz vollständig angleichen und die Bewohner ihre Lebensweise an die historischen Wohnhäuser anpassen sollten.57 In Polen wurde der Neoklassizismus als urbaner historischnationaler Baustil deklariert. Architekten wandten ihn beim Wiederaufbau und bei der Restaurierung der Repräsentationsbauten in den 1920er Jahren vielfach an,58 so beim Rathaus von Kalisz und beim Palais Staszic. Für den Wiederaufbau von Warschauer Gebäuden, Straßenzügen und Plätzen waren bereits während des Kriegs Pläne entstanden. Als besonders produktiv erwies sich dabei die Warschauer Technische Hochschule, die im November 1915 wiedereröffnet worden war. Das der Hochschule angegliederte Institut für Architektur war bei der architektonischen Gestaltung der Hauptstadt tonangebend.59 Jedoch war die Hauptstadt vom Krieg

55 Dettloff (wie Anm. 10), S. 46 f., 150. 56 Ebd., S. 130; Olszewski, Andrzej: Nowa forma w architekturze polskiej 1900–1925 [Neue Form in der polnischen Architektur 1900–1925]. Wrocław u. a. 1967, S. 116. 57 Dettloff (wie Anm. 10), S. 131. 58 Bartetzky (wie Anm. 12), S. 24. 59 Dunin-Wąsowicz (wie Anm. 14), S. 81.

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Keya Thakur-Smolarek Abb. 12  Warschau, Palais Staszic nach der Wiederherstellung des klassizistischen Erscheinungsbilds. Aufnahme von 1926.

wirtschaftlich noch bis Mitte der 1920er Jahre stark geschwächt,60 und die Versailler Friedensverträge sahen für Polen keine Kriegsentschädigung vor,61 sodass der Staat die Mittel für den Wiederaufbau selbst aufbringen musste und sich dieser verzögerte.62 Dennoch begann bereits in der Zeit der Staatsgründung die Restaurierung des Statthalterpalasts, in dem bis 1915 der russische und von 1915 bis 1918 der deutsche Generalgouverneur ihre Büros gehabt hatten und das staatlich-repräsentative Funktionen erfüllt hatte.63 Nach 1918 war das Gebäude Sitz der polnischen Regierung und des Staatspräsidenten. Gegenwärtig ist es als „Präsidentenpalast“ bekannt. Manche Baudenkmäler wurden mit Symbolen des polnischen Staats geschmückt, als Zeichen dafür, dass die darin untergebrachten Institutionen für den polnischen Nationalstaat arbeiteten. Das Gebäude der Bank der Kreditgenossenschaften (Bank Towarzystw Spółdzielczych) in Warschau war 1917 fertiggestellt worden und fungierte auch während der Zweiten Republik als deren Sitz. Anfang der 1920er Jahre wurden zur Symbolisierung des polnischen Staats Adler aufgesetzt, denen das Gebäude die Bezeichnung „Haus unter den Adlern“ (Dom pod Orłami) verdankte. Die Anbringung des nationalen Symbols an dem Gebäude sollte die Bedeutung des Genossenschaftswesens für den Nationsbau betonen. Die Genossenschaftsbewegung war Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und Teil der Arbeit an den Grundlagen gewesen, einer Bewegung, deren Ziel es war, die sozialen Grundlagen eines polnischen Gemeinwesens zu erarbeiten. Stanisław Wojciechowski, 1919/20 polnischer Innenminister und von 1922 bis 1926 Staatspräsident, war einer der Gründer der Genossenschaftsbewegung. Im Klima der politischen Unabhängigkeit machten der Staat, die Architekten und Stadtplaner die Russifizierung von Gebäuden und Plätzen rückgängig, sodass das Palais 60 Drozdowski, Marian M.: Warszawiacy i ich miasto [Die Warschauer und ihre Stadt]. Warszawa 1973, S. 8. 61 Bankiewicz/Domosławski (wie Anm. 6), S. 50–52. 62 Zarębska (wie Anm. 46), S. 17. 63 Bania/Jaroszewski (wie Anm. 9), S. 109, 121–136.



Im Zeichen der Renationalisierung

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Abb. 13  Warschau, Poniatowski-Denkmal vor dem Sächsischen Palais. Postkarte, um 1924.

Staszic seine ursprüngliche, klassizistische Form zurückerhielt (Abb. 12). Für den Schmuck der Frontfassade griffen die Restauratoren jedoch auf Lisenen anstelle auf die ursprünglichen Pilaster zurück.64 Die russifizierten Kirchen wurden wieder in katholische Kirchen verwandelt und die byzantinischen Türme und Kuppeln abgetragen. Große Sorgfalt wendeten die Konservatoren beim Wiederaufbau und der Konservierung von Kirchen auf, die eine lange Tradition besaßen und unter kunsthistorischem Blickwinkel besonders wertvoll waren.65 Der Sächsische Platz in Warschau erfuhr eine Reihe von Umwandlungen politisch-symbolischer Natur. Eine antirussische Stoßrichtung wohnte der Wiederaufstellung des Denkmals für General Józef Poniatowski (1763–1813) inne. Poniatowski hatte mehrmals gegen russische Truppen gekämpft, im russisch-polnischen Krieg von 1792, während des Kościuszko-Aufstands von 1794 und der Völkerschlacht von Leipzig im Jahr 1813, bei der er gefallen war. Nicht lange nach dem Tod des Generals beauftragte ein Komitee aus polnischen Adeligen den dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen mit dem Bau des Poniatowski-Denkmals, wegen des Novemberaufstands aber verhinderte Zar Nikolaus I. seine Errichtung. Er schenkte es dem Statthalter Paskewitsch, der damit nach 1842 seinen Palast im polesischen Homel schmückte. Es verblieb dort, bis es kraft des Vertrags von Riga (1922) nach Polen rückgeführt wurde. Bei dessen Wiederaufstellung auf dem Warschauer Sächsischen Platz 1923 verwendeten die Architekten den Sockel des 1917 abgetragenen Paskewitsch-Denkmals (Abb. 13).66 Nach und nach wurde die russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kirche abgerissen, welche die Einheimischen als imperiale Selbstdarstellung des Zarentums gestört hatte. Der Vorgang zog sich über mehrere Jahre hin. Währenddessen entstand das Grab des Unbekannten Soldaten, das in die Kolonnaden des Sächsischen Palais integriert wurde (Abb. 14). Das Monument war den polnischen Soldaten gewidmet, die während des Ersten Weltkriegs in den Armeen der Teilungsmächte gekämpft hatten, sowie den pol64 Dettloff (wie Anm. 10), S. 231. 65 Ebd., S. 157–172. 66 Bania/Jaroszewski (wie Anm. 9), S. 121.

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Keya Thakur-Smolarek Abb. 14  Warschau, Grab des Unbekannten Soldaten, Innenansicht. Aufnahme um 1930.

nischen Einheiten, die zwischen 1918 und 1921 in den östlichen Grenzgebieten gegen Sowjetrussland angetreten waren. Generell sollte es das Gedächtnis an den bewaffneten Unabhängigkeitskampf aufrechterhalten, mit dem die Polen während der Teilungszeit Zeugnis ihrer nationalen Existenz abgelegt, ihr Heldentum – das als polnische Nationaltugend galt – immer wieder auf das Neue bewiesen und sich nach landläufiger Meinung das Recht zur eigenständigen staatlichen Existenz erworben hatten. Das Memorial bildete daher ein weiteres Symbol für die unermüdlich um ihre politische Unabhängigkeit kämpfende Nation und die Legitimität des neuen polnischen Staats. Durch das Grab des Unbekannten Soldaten und das Poniatowski-Denkmal erfuhr der Sächsische Platz eine grundlegende Umdeutung. Der Platz, der zuvor der zaristischen Herrschaftsrepräsentation gedient hatte, fungierte in den ersten Jahren nach Erringung der Unabhängigkeit als Ort nationalen Triumphs. Ab Mitte der 1920er Jahre hielt darauf die Polnische Armee Paraden ab und fanden dort politische Kundgebungen statt. Der Sächsische Platz war seitdem Erinnerungsort, Raum staatlicher Repräsentation und ein Forum für die Öffentlichkeit.67 Ein weiteres Zeichen für den politischen Umbruch setzte der Staat mit der Lokalisierung des Sejms, des polnischen Parlaments. In dem Gebäude war vor dem Krieg das Alexander-Maria-Institut für Frauenerziehung (Aleksandryjsko-Maryjski Instytut Wychowania Panien), ein Internat für junge Polinnen, untergebracht gewesen, die darin zu loyalen Untertanen Russlands erzogen werden sollten. Die Einrichtung war Sinnbild für den Versuch Russlands gewesen, die polnische Jugend durch ein bestimmtes Erziehungssystem ideell zu beeinflussen. Die Innenräume organisierten die Architekten vollständig neu, sodass dort fortan der Sejm tagen konnte. Das Gebäude wurde nach Mitte der 1920er Jahre sowie nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebaut, wodurch es seine heutige Form erhielt.68 67 Hübner-Wojciechowska (wie Anm. 11), S. 26. 68 Kiliańska-Przybyło, Grażyna: Co łączy sejm z wychowaniem panien? Dzień otwarty w Sejmie RP [Was verbindet das Parlament mit der Bildung junger Frauen? Tag der offenen Tür im Parlament der Republik Polen]. In: http://www.wiadomosci24.pl/artykul/co_laczy_sejm_z_wychowaniem_panien_ dzien_otwarty_w_sejmie_rp_182028.html (04.08.2016).



Im Zeichen der Renationalisierung

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Das unabhängige und vereinigte Polen schuf schließlich ein einheitliches Verwaltungssystem. Es führte die Verwaltungsbezirke aus der Zeit der Adelsrepublik wieder ein – Woiwodschaften und, auf der Kreisebene, Starosteien ‒, nicht zuletzt um die historische Kontinuität des polnischen Staatswesens zu betonen.69 Die kommunale Selbstverwaltung, welche die deutsche und die österreichische Besatzungsmacht aufgebaut hatten, hielt der neue polnische Staat im Prinzip bei, obgleich sich ihre Form regional differenzierte. In ihren Grundzügen lehnten sich die Verfassungen für die neuen lokalen Verwaltungen an diejenigen an, die zuvor jeweils in den drei polnischen Teilungsgebieten bestanden hatten. Der Wiederaufbau und die Konservierungsarbeiten setzten sich noch in den 1930er Jahren fort. Sie wurden von den lokalen Behörden und Konservatoren geleitet und waren dadurch Angelegenheit der jeweiligen lokalen Öffentlichkeit.70 Auch entwickelten Staat und Gesellschaft das Schulwesen weiter. Manche Schulen, die während des Ersten Weltkriegs provisorisch erbaut worden waren, wurden ausgebaut oder bekamen neue Gebäude.71 Der Auszug der zaristischen Behörden aus Kongresspolen im Spätsommer 1915 und die Anerkennung der polnischen kulturellen und – formell – der politischen Eigenständigkeit durch die Besatzungsmächte schufen die Hauptvoraussetzungen für die Renationalisierung des öffentlichen Raums, die mit dem Wiederaufbau der zerstörten Gebäude, Topographien und Verwaltungen verknüpft wurde. Im wiedererrichteten polnischen Staat beruhte die städtebauliche und künstlerische Gestaltung der Hauptstadt und anderer Städte praktisch und ideell auf der Wiedergewinnung der politischen Selbstbestimmung und staatlichen Souveränität.

69 Kaczmarek, Ryszard: Historia Polski 1914–1939 [Geschichte Polens 1914–1939]. Warszawa 2010, S. 130 f., 176. 70 Dettloff (wie Anm. 10), S. 46 f., 91, 302. 71 I Liceum Ogólnokształcące im. ks. A. J. Czartoryskiego: O szkole [Über unsere Schule]. In: http://www. czart.pulawy.pl/o-szkole.html (04.08.2016).

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Keya Thakur-Smolarek

Summary Under the banner of renationalization Administrative and urban change during the reconstruction of Poland  during and after World War I In the cities and towns of Congress Poland (the Polish territory under Russian rule between 1815 and 1915), political transitions and reconstruction during and after World War I led to a profound transformation of municipal government and the public sphere. After Poland had lost its statehood in 1795, the local population constantly fought for a stronger role in executive functions and the perpetuation of the Polish language. When war broke out, locals founded civil committees to alleviate the repercussions while local municipalities carried out important public services. The German and Austro-Hungarian occupying forces which assumed control of Congress Poland after August 1915 allowed Polish culture to flourish and implemented a new education and language policy. Moreover, the symbols and architectural forms with which the Russian Empire had emphasized its supremacy were removed. Administrative reform granted equal status to the different social and political groups within the executive. Furthermore, the members of the civil committees were replaced and made politically diversified, and other civil society organizations were permitted. Although the reconstruction of residential and commercial buildings was shaped by the necessities of war and the basic needs of the population, architects discussed the extent to which traditional architectural forms ought to be preserved. The reconstruction of the historical town of Kalisz was intended to reflect the nation’s will to outlast the partitioning power’s efforts to eradicate cultural memory. After the Polish state was reconstituted in 1918, the desire to preserve its historical architecture intensified. Traditionalism evolved with the intention of demonstrating the continuity of Polish culture, and the recovery of political self-determination inspired national pride. National monuments were erected to commemorate Poland’s struggle for independence and national virtues. And although the administrative system implemented by the occupying powers was largely preserved, the administrative districts of Poland from the pre-partition era were reintroduced.

A u f d er Su c h e n ac h d er polnische n Sta dt Der Wiederaufbau von Kalisz nach dem Ersten Weltkrieg

Małgorzata Omilanowska Die durch den Ersten Weltkrieg verursachten Zerstörungen haben in vielen Ländern große Diskussionen über den Wiederaufbau der verlorenen Baudenkmäler und ganzer städtischer Ensembles ausgelöst. Diese Diskussionen brachten eine Überprüfung der vor dem Krieg verbreiteten Ansichten zu Wiederaufbau, Rekonstruktion und legitimen Eingriffen in Baudenkmäler mit sich, die sich aus den von Denkmalschützern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gemachten Erfahrungen herauskristallisiert hatten. Angesichts der enormen Zerstörungen urbaner Substanz sah man sich schließlich gezwungen, vorhandene Einstellungen zu den Grundsätzen einer modernen Urbanistik zu überdenken. Das Beispiel des kriegszerstörten Kalisz (dt. Kalisch) sollte in den Diskussionen polnischer Denkmalschützer und Architekten über Urbanistik und Wiederaufbau verlorener Baudenkmäler noch in den folgenden hundert Jahren als Referenz dienen.1 Das historische Zentrum von Kalisz hatte bereits in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs erhebliche Zerstörungen erlitten, und sein Wiederaufbau fand schon während des Kriegs das Interesse sowohl polnischer Architekten und Politiker als auch der deutschen Besatzungsbehörden. Kalisz, als an der Bernsteinstraße gelegene Ansiedlung Calisia bereits im 2. Jahrhundert in der „Geographia“ des Claudius Ptolemäus von Alexandria erwähnt, war vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Mittelstadt von 65 000–70 000 Einwohnern im russischen Teilungsgebiet von Polen, unweit der Grenze zu Preußen. Kalisz fiel als 1 Griesebach, H.[elmuth]: Zum Wiederaufbau von Kalisch. In: Der Städtebau 15/1 (1918), S. 12–15, 15/2 (1918), S. 22–27; Zakrzewska, Janina: Odbudowa Kalisza [Der Wiederaufbau von Kalisz]. Kalisz 1936; Zarębska, Teresa: Sprawa odbudowy zabytkowego centrum Kalisza po zniszczeniu w 1914 roku [Der Wiederaufbau des historischen Zentrums von Kalisz nach dessen Zerstörung im Jahr 1914]. In: Rocznik Kaliski 10 (1977), S. 121–177; Dies.: The Reconstruction of Kalisz, Poland, following its Destruction in 1914. In: Planning for Conservation. Hg. v. Roger Kain. London 1981, S. 75–96; Dies.: Znaczenie odbudowy Kalisza po zniszczeniach z 1914 r. dla rozwoju urbanistyki polskiej [Die Bedeutung des Wiederaufbaus von Kalisz nach den Zerstörungen von 1914 für die Entwicklung der polnischen Urbanistik]. In: Rocznik Kaliski 24 (1992/93), S. 129–143; Dies.: Problemy prekursorskiej odbudowy Kalisza [Die Probleme beim bahnbrechenden Wiederaufbau von Kalisz]. In: Odbudowa miast historycznych. Dokonania przeszłości. Potrzeby i możliwości współczesne. Wyzwania przyszłości. Hg. v. Maria Lubocka-Hoffmann. Elbląg 1998, S. 12–24; Omilanowska, Małgorzata: „Wie der märchenhafte Phönix aus der Asche werden sie auferstehen.“ Haltungen zum Wiederaufbau und zur Restaurierung von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1915–1925. In: Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert. Hg. v. Andrea Langer. Warszawa 2004, S. 79–91; Dettloff, Paweł: Odbudowa i restauracja zabytków architektury w Polsce w latach 1918–1939. Teoria i praktyka [Wiederaufbau und Restaurierung von Architekturdenkmälern in Polen, 1918–1939. Theorie und Praxis]. Kraków 2006; Störtkuhl, Beate: Art Historiography during World War I: Kunstschutz and Reconstruction in the General Government of Warsaw. In: Kunstiteaduslikke Uurimusi. Studies on Art and Architecture. Studien für Kunstwissenschaft 23/3–4 (2014), S. 157–182.

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Abb. 1  Kalisz (dt. Kalisch), Marktplatz in Ruinen. Aufnahme von 1916.

eine der ersten polnischen Städte dem Krieg zum Opfer. Von der russischen Garnisonsbesatzung am 1. und 2. August 1914 verlassen und ohne einen einzigen Schuss an die Deutschen übergeben, wurde es zwischen dem 3. und 16. August zum Schauplatz dramatischer Ereignisse. Deutsche Einheiten unter dem Befehl des Majors Hermann Preusker, später des Generals Günther von Kirchbach, plünderten, bombardierten und brannten die Stadt ohne militärische Begründung nieder, legten ihr Zentrum komplett in Ruinen und zwangen den Großteil der Bevölkerung zur Flucht.2 Gerüchte, Polen hätten mit Schüssen auf deutsche Soldaten den Angriff provoziert, konnten in einer von den deutschen Besatzungsbehörden in den folgenden Jahren durchgeführten Untersuchung nicht bestätigt werden. Fast zwanzig Prozent der städtischen Bausubstanz wurde völlig zerstört, davon allein 486 Häuser in der Altstadt, außerdem eine Kirche, neun Industriebetriebe und fünf öffentliche Gebäude, darunter auch das Rathaus und das Theater (Abb. 1).3

2 Zakrzewska (wie Anm. 1), S. 15 f. 3 Ebd., S. 17 f.



Auf der Suche nach der polnischen Stadt

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Polnische Initiativen zum Wiederaufbau unter deutscher Besatzung Kalisz befand sich seit dem 2. August 1914 unter deutscher Besatzung und unterstand der am 23. August 1914 installierten Zivilverwaltung für Russisch-Polen, die im Januar 1915 in Zivilverwaltung beim Oberbefehlshaber Ost und schließlich am 16. Juni desselben Jahres in Kaiserlich Deutsche Zivilverwaltung für Polen links der Weichsel umbenannt wurde. Die Mehrzahl der Bewohner von Kalisz verließ die Stadt nach deren Zerstörung. Eine größere Gruppe von Vertretern der Kaliszer Industrie- und Handelsvereinigung (Towarzystwo Popierania Przemysłu i Handlu) begab sich nach Warschau, das sich zunächst noch in russischer Hand befand. Es war diese Personengruppe, aus der sich die ersten Stimmen für einen Wiederaufbau von Kalisz erhoben. Die Initiative ging von dem Rechtsanwalt und Vorsitzenden der Kaliszer Industrie- und Handelsvereinigung Kazimierz Rymarkiewicz aus. Er fand eine Gruppe von Unterstützern, die ein Komitee zum Wiederaufbau von Kalisz (Komitet Odbudowy Kalisza) gründete und bereits im Herbst 1914 eine Kampagne für den Wiederaufbau startete. Auch unter Warschauer Architekten setzte die Zerstörung von Kalisz und anderen polnischen Städten während des deutschen Sommerfeldzugs eine Debatte um den Wiederaufbau verlorener Baudenkmäler und städtebaulicher Ensembles in Gang. Auf einer Sitzung des Warschauer Architektenverbands (Koło Architektów) am 26. November 1914 stellten Czesław Domaniewski, Zdzisław Kalinowski und Czesław Przybylski eine Unterstützerinitiative zur „Verteidigung unserer heimischen Architektur als eines wichtigen Ausdrucks der Kreativität, des Denkens und der Kultur Polens gegen den Ansturm der fremden Kultur“ vor.4 Im Rahmen dieser Initiative schlugen sie vor, eine Ausstellung zur polnischen Baukunst zu organisieren, „[…] sowohl von bereits in beträchtlicher Zahl zusammengetragenen Relikten alter Bauten als auch von Entwürfen neuer Bauwerke, die einen eigentümlich polnischen Charakter besitzen und die Anstrengungen zur schrittweisen Rückkehr zu einer Heimatarchitektur zur Geltung bringen“.5 Begleitend sollte der Architektenverband einen Katalog und einen speziellen „Appell der polnischen Architekten an die Gesellschaft“ veröffentlichen, um die Notwendigkeit „[…] zur Bewahrung unserer Tradition und zur Weiterentwicklung unserer baukünstlerischen Errungenschaften, zur Verteidigung unserer schönen Heimat und der Einmaligkeit unseres Landes“6 zu verdeutlichen. Der von den Initiatoren verfasste Appell wurde auf der folgenden Versammlung am 4. Dezember verabschiedet und an die Presse versandt. Während einer weiteren Sitzung am 18. Dezember informierte Przybylski die 4 „[…] obrony swojskiej architektury, jako jednym z wielkich przejawów twórczości myśli i kultury polskiej, przed namułem obcej kultury“. Zit. nach: Koło Architektów. Sprawozdanie z posiedzenia z dnia 26 listopada r. z. [Architektenverband. Sitzungsbericht vom 26. November 1914]. In: Przegląd Techniczny 3–4 (1915), S. 29. 5 „[…] tak zabytków dawnych budowli, zebranych już w pokaźnej ilości, jak również i projektów budowli nowych, mających cechy swojskości i uwydatniających usiłowania stopniowego powrotu do rodzimej architektury“. Zit. nach: ebd. 6 „[…] odezwy do społeczeństwa od architektów Polaków o potrzebie zachowania tradycyi i rozwijania dorobku naszego w budownictwie, w obronie rodzimej piękności i odrębności kraju“. Zit. nach: ebd.

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Małgorzata Omilanowska

Verbandsmitglieder, dass sich die aus Kalisz stammenden Alfons Parczewski, Kazimierz Rymarkiewicz und Bronisław Bukowiński mit der Bitte an ihn gewandt hätten, sich um die Ausarbeitung eines Plans zum Wiederaufbau von Kalisz zu kümmern.7 Auch die folgende Sitzung am 22. Dezember 1914 war Kalisz gewidmet. In Abstimmung mit dem Kaliszer Komitee beschloss der Architektenverband einen Wettbewerb für den Wiederaufbau auszuschreiben. Zur Ausarbeitung der Vorgaben wurde eine Kommission bestimmt, der Alfons Gravier, Teofil Wiśniowski, Czesław Przybylski, Jan Heurich und Karol Jankowski angehörten.8 Hinzu kamen drei Vertreter der Abteilung für das Öffentliche Gesundheitswesen bei der Technikervereinigung (Wydział Urządzeń Zdrowotnych Użyteczności Publicznej przy Stowarzyszeniu Techników).9 Auf den folgenden Verbandssitzungen berichtete Jan Heurich von den regelmäßig stattfindenden Treffen der Kommission und deren raschen Arbeitsfortschritten,10 und am 7. April 1915 wurden die Versammelten darüber informiert, dass die Kommission das entsprechende Dokument mit den Wettbewerbsvorgaben fertiggestellt habe.11 Auf der Sitzung vom 14. April beschlossen die Versammelten die Ausschreibung des Wettbewerbs (registriert unter der Nummer 48) und wählten anschließend eine Jury aus ihrer Mitte aus.12 Die Auslobung des Wettbewerbs verzögerte sich jedoch um einige Monate, zweifelsohne wegen der sich fortwährend ändernden Kriegssituation.

Wiederaufbaupläne der deutschen Besatzungsbehörden Unterdessen befassten sich auch die deutschen Besatzungsbehörden mit dem Wiederaufbau von Kalisz und unternahmen im Mai 1915 erste Schritte in diese Richtung. Der Bezirksleiter von Kalisz, Konrad Hahn, nahm am 28. Mai 1915 mit der Breslauer Ingenieurs- und Geodäsiefirma Meltzer & Kreus Beratungen über die Planungen für den Wiederaufbau auf.13 Diese fertigte einen Stadtplan an, in dem die zerstörten Gebäude verzeichnet waren. Die nachfolgenden Konsultationen wurden gemeinsam mit der von Wolfgang von Kries geleiteten Zivilverwaltung durchgeführt. Von Kries wandte sich 7 Koło Architektów. Sprawozdanie z posiedzenia z dnia 18 grudnia r. z. [Architektenverband. Sitzungsbericht vom 18. Dezember 1914]. In: ebd., S. 30. 8 Koło Architektów. Sprawozdanie z posiedzenia z dnia 22 grudnia r. z. [Architektenverband. Sitzungsbericht vom 22. Dezember 1914]. In: ebd. 9 Rymarkiewicz, Kazimierz: Plany regulacyjne zniszczonych miast polskich [Regulierungspläne für die zerstörten polnischen Städte]. In: Kuryer dla wszystkich 97 (1915), S. 1. 10 Sprawozdanie z posiedzenia Koła Architektów w dniu 8 stycznia r. b. [Sitzungsbericht des Architektenverbands vom 8. Januar 1915]. In: Przegląd Techniczny 7–8 (1915), S. 69. 11 Koło Architektów. Sprawozdanie z posiedzenia odbytego w dniu 7 kwietnia r. b. [Architektenverband. Sitzungsbericht vom 7. April 1915]. In: ebd. 19–20 (1915), S. 204. 12 Koło Architektów. Sprawozdanie z posiedzenia odbytego w d. 14 kwietnia r. b. [Architektenverband. Sitzungsbericht vom 14. April 1915]. In: ebd. 23–24 (1915), S. 257. 13 Archiwum Państwowe w Kaliszu (im Folgenden: APK, Staatsarchiv Kalisz), Akta Naczelnika Powiatu Kaliskiego (im Folgenden: ANPK, Akten des Bezirksleiters Kalisz), Sign. 117: Odbudowa miasta Kalisza [Der Wiederaufbau von Kalisz], S. 34–39.



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mit der Bitte um eine Konsultation an den Oberbürgermeister von Posen (Poznań) Ernst Wilms, der in einem Brief vom 23. August den von der Breslauer Firma angefertigten Stadtplan mit den eingezeichneten Zerstörungen kritisiert hatte.14 Letztlich vergab der Kaliszer Magistrat die Anfertigung der Wiederaufbaupläne an die Berliner Firma Bopst & Caro, deren Mitinhaber Georg Caro sie gegenüber den Behörden vertrat.15 Währenddessen war nach der Sommeroffensive vom 24. August 1915 und der Einnahme weiterer polnischer Territorien durch die Deutschen eine neue Verwaltungseinheit ins Leben gerufen worden – das Kaiserlich Deutsche Generalgouvernement Warschau mit dem Generalgouverneur Hans von Beseler und dem zivilen Verwaltungschef Wolfgang von Kries. Bereits Ende September 1915 lagen die von Georg Caro angefertigten Wiederaufbaupläne vor, und am 1. Oktober wurden sie dem Posener Oberbürgermeister Wilms und dem Posener Stadtarchitekten Schulz zur Beurteilung übergeben. Wilms engagierte sich so sehr für das Projekt, dass er am 27. Oktober mit seiner Frau nach Kalisz fuhr, um sich dort nicht nur mit den deutschen Bezirksbehörden und dem Architekten Caro, sondern auch mit dem kommissarischen Bürgermeister Teodor Prądzyński zu treffen. Nach dem Anbringen einiger Korrekturen wurde der Entwurf nach Warschau an das Büro von Wolfgang von Kries übersandt und dort bereits im November 1915 genehmigt. In der Einleitung zu ihrem begleitenden „Erläuterungsbericht“ schrieben die Projektverantwortlichen der Firma Bopst & Caro: „Um den Wiederaufbau der verbrannten Stadt im modernen Geiste nach den neuen städtebaulichen Gesichtspunkten in gesunde zwingende Bahnen zu lenken und die kommunalpolitische und wirtschaftliche Zukunft der Stadt zu gewährleisten, ist von den Berliner Architekten […] ein generelles Vorprojekt für einen Bebauungsplan der inneren Stadt […] entworfen worden.“16 In ihrer Projektbeschreibung wiesen die Architekten auf die Notwendigkeit hin, die Hauptverkehrsadern zu verbreitern. Die Änderungen sollten sich jedoch in Grenzen halten, um den eigentümlichen Charakter „des alten Stadtbildes“ zu bewahren. Einige Straßen sollten verlängert, andere aufgegeben werden, der einstige Standort des Rathauses wiederum sollte leer bleiben, um dem am Markt vorgesehenen künftigen, großen Rathausneubau eine angemessene Perspektive zu geben. Das Zentrum sollte von zwei Grünflächenringen umgeben werden. Die Architekten schlugen eine funktionale Aufteilung der Stadtviertel vor, mit einem separaten Villenviertel im Stadtteil Tyniec und einem noch anzulegenden Friedhof in der Vorstadt Korczak. Der Plan wies außerdem ein Fabrikenviertel und einen neuen Komplex für den städtischen Schlachthof in der Umgebung des Bahnhofs aus. Am 22. November 1915 fand eine Stadtverordnetenversammlung statt, auf der sich die Ratsmitglieder zu dem Berliner Entwurf äußern sollten. Im Verlauf der Diskussion kam es schnell zu Kontroversen. Die Ratsmitglieder brachten unter anderem die Frage nach den Kosten für die Realisierung des Projekts auf und befanden, dass man sich ange14 Ebd., S. 38. 15 Ebd., S. 52, 54, 57, 60–66. 16 Ebd., S. 60.

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sichts der laufenden Vorbereitungen zum Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau, den der Warschauer Architektenverband im Begriff war auszuschreiben, mit Beschlüssen zum Projekt der Firma Bopst & Caro zurückhalten müsse, bis der Wettbewerb entschieden sei.17 Kazimierz Scholtz etwa argumentierte folgendermaßen: „Über den uns vorgelegten Plan ist es schwer im Handumdrehen einen Entschluss zu fassen, was dagegen den Warschauer Entwurf anbetrifft, so ist es bekannt, dass man sich Mühe gegeben hat, mit gewisser Pietät den Charakter der Stadt zu bewahren.“18 Zwar berief man eine Kommission zur Bewertung des zur Diskussion vorgelegten Projekts, aber auf der nächsten Ratssitzung am 14. Dezember stimmte man lediglich über die Notwendigkeit ab, sechs Straßen (Warszawska, Wrocławska, Sukiennicza, Złota, Kanonicka und Łazienna) gemäß des Vorschlags von Bopst & Caro zu verbreitern. Außerdem wurde über die Berufung einer weiteren Kommission aus den Reihen des Stadtrats abgestimmt, deren Aufgabe es sein sollte, mit dem Architektenverband zusammenzuarbeiten und sich in die Urteilsfindung und die Ankaufsentscheidungen der Wettbewerbskommission einzuschalten (der Wettbewerb war schließlich am 3. Dezember ausgelobt worden).19 Dies hatte zur Folge, dass die Vorgaben zum Wettbewerb abgeändert wurden, während dieser bereits lief; den Einreichungstermin ließ man jedoch unverändert. Die Behörden des Generalgouvernements waren über die zeitliche Verzögerung bei der Genehmigung der Wiederaufbaupläne beunruhigt, und Wolfgang von Kries schickte dem Bezirksleiter Konrad Hahn dringliche Briefe, überzeugt, dass Georg Caros Projekt zur Realisierung angenommen werden müsse.20 Der polnische Stadtrat blieb jedoch bei seinem Standpunkt. Man wollte auf das Ergebnis des vom Architektenverband ausgeschriebenen Wettbewerbs warten. In der Präambel der Wettbewerbsausschreibung war Folgendes zu lesen: „Kalisz, die uralte Stadt Mieszkos, ist in Trümmer gesunken, aber es wird wiedergeboren werden, denn unverbraucht und unbezwungen ist der Mut unseres Volks. Mögen unsere Taten der heutigen Zeit künftigen Generationen von der Ehrfurcht künden, mit der wir uns bemüht haben, eine glänzende Zukunft zu bauen.“21 Letztlich fanden sich einige im Entwurf der Berliner Architekten ausgearbeitete und von den Kaliszer Behörden akzeptierte Punkte auch in den Wettbewerbsvorgaben wieder, so unter anderem die Empfehlung zur Verbreiterung von sechs Straßen und die funktionale Aufteilung der Stadtviertel (zum Beispiel wies man Tyniec als künftiges Villenviertel aus). Außerdem griff man die Empfehlungen auf, die dem Rathaus benachbarten Parzellen mit Blick auf dessen Vergrößerung aufzukaufen, den Warenverkehr über eine Umgehungsstraße zu leiten und an der Stelle der gesprengten Bebauung neue Parks zu schaffen.22 17 Ebd., S. 69–75. 18 Ebd., Abschrift des Sitzungsprotokolls der Stadtverordnetenversammlung vom 22.11.1915, S. 72. 19 Ebd., S. 76. 20 Ebd., S. 92 f. 21 „Kalisz, prastary Mieszków gród, legł w gruzach, lecz odrodzi się, bo niespożytym i niezmożonym jest duch naszego narodu. Niech nasze dzieła doby obecnej mówią przyszłym pokoleniom o pietyzmie, z jakim staraliśmy się budować przyszłość świetlaną.“ Zit. nach: ebd., S. 78. 22 W sprawie konkursu na odbudowę Kalisza [Zum Wettbewerb für den Wiederaufbau von Kalisz]. In: Przegląd Techniczny 1–2 (1916), S. 15.



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Debatten um polnische Architekturtraditionen Für die polnischen Architekten war der Wiederaufbau von Kalisz eine wichtige, aber angesichts der enormen Kriegszerstörungen in den polnischen Städten nicht die einzige damals diskutierte Frage. Bereits 1915 wurde die Broschüre „Der Wiederaufbau architektonischer Denkmäler“ veröffentlicht, in der sich die folgenden bezeichnenden Worte Jarosław Wojciechowskis finden: „Heute also kommt uns eine andere Aufgabe zu: nicht bloß zu bewahren, sondern auch wiederaufzubauen. Ruinen sind Friedhöfe. In den untergegangenen Bauwerken wollen wir sie wertschätzen, denn sie berühren unsere Empfindungen, als ein Werk der Natur, verursacht von höheren Kräften, denen gegenüber der Mensch machtlos ist. […] Doch gegen die Ruinen, welche der gegenwärtige Moment uns aufzwingt, wollen wir uns mit der ganzen Kraft des in die Zukunft drängenden Lebens wehren […]. Denn sobald der Sturm vorüber sein und die Sonne wieder am polnischen, unerbittlichen Himmel scheinen wird, wird das Volk in Einheit stark zur Arbeit am Wiederaufbau der historischen Residenz bereitstehen. Wie der Phönix aus dem Märchen werden die niedergebrannten Dörfer und Städte aus der Asche wiederauferstehen, werden Katen und Höfe, Schulen und Kirchen, und mit ihnen auch die Architekturdenkmäler wiederaufgebaut werden. So ist es. Lasst uns deshalb gleich sagen, dass die Architekturdenkmäler, die es wert sind, deren Ruin nicht die Zeit, sondern die plötzliche Katastrophe verursacht hat, nicht bloß wiederaufgebaut werden können, sondern müssen […].“23 Und weiter heißt es: „Wenn es keine Möglichkeit gibt, sie unseren Nachfolgern vollständig, mit allem, was sich in ihnen befindet und worauf sich die Jahrhunderte abgelagert haben, d. h. in jenem Zustand zu hinterlassen, in dem sie auf uns gekommen sind, dann ist es unsere Pflicht, den Nachkommen zumindest ihr Äußeres, ihre grundsätzliche Gestalt zu überliefern. Also lasst uns, wenn wir die Kirchen wiederaufbauen, ihnen ihre einstige Silhouette mit ihren Schindel- oder Ziegeldächern zurückgeben, lasst uns den Katen, den großen und kleinen Höfen ihre einstige, so typisch polnische Form zurückgeben […]. Denn all’ das ist unser Fleisch und Blut. […] Davon hängt der Charakter unseres gesamten Landes ab. Daran auch hängt die Zukunft der polnischen Kunst.“24 23 Wojciechowski, Jarosław: Odbudowa zabytków architektury [Der Wiederaufbau architektonischer Denkmäler]. Warszawa 1915, S. 6: „Dziś więc pod innym znakiem stanąć nam wypadnie: nie tylko konserwować, ale i odbudowywać. Ruiny to cmentarze. Szanujmy je w budowlach zamarłych, gdy działają na nasze uczucie, jako twór przyrody, spowodowany siłami wyższemi, wobec których człowiek jest bezsilnym. […] Lecz od ruin, które nam narzuca chwila obecna, brońmy się całą potęgą rwącego się w przyszłość życia […]. Skoro więc przeminie nawałnica i słońce pogody zaświeci znów na polskiem bezlitosnem niebie, stanie naród w jedności swej silny do pracy nad odbudowaniem dziejowej siedziby. Jak bajeczny feniks odrodzą się z popiołów spalone wsie i miasteczka, zostaną odbudowane chaty i dwory, szkoły i kościoły, a z nimi także i zabytki architektury. Tak jest. Powiedzmy bowiem od razu, że wartościowe pomniki architektury, jeśli ruinę ich spowodował nie czas, lecz nagła katastrofa, nie tylko mogą, lecz powinny być odbudowane […].“ 24 Ebd., S. 7: „Gdy nie ma możności pozostawienia ich naszym następcom w całokształcie ich wewnętrznej treści, na którą złożyły się wieki, t. j. w stanie takim, w jakim do nas dotrwały, jest obowiązkiem naszym, przekazać potomności chociaż ich zewnętrzne, zasadnicze kształty. Więc odbudowując przy-

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Małgorzata Omilanowska Abb. 2  Wettbewerbsentwurf zum Wiederaufbau von Kalisz, 1. Preis: Tadeusz Zieliński und Zygmunt Wójcicki unter Mitarbeit von Maksymilian Bystydzieński, 1916.

Ähnliche Ansichten präsentierte 1915 auch der Architekt und Architekturforscher Stefan Szyller in seinen Publikationen.25 Er befasste sich hauptsächlich mit dem Wiederaufbau der verlorengegangenen Bebauung von Kleinstädten und Dörfern. Er plädierte dafür, Städte in ihren traditionellen Formen und mit traditionellen Techniken wiederwróćmy kościołkom ich dawne sylwety o stromych gontowych lub dachówkowych dachach, przywróćmy chatom, dworom i dworkom dawne ich polskie tak charakterystyczne formy […]. Wszystko to bowiem jest krwią z krwi i kością z kości naszych. […] Od tego zależy charakter kraju całego. Od tego też i przyszłość sztuki polskiej zawisła.“ 25 Szyller, Stefan: Jak powinna być odbudowana wieś polska [Wie soll das polnische Dorf wiederaufgebaut werden]? Warszawa 1915; Ders.: Nie zatracajmy charakteru chaty polskiej [Der Charakter der polnischen Kate darf nicht verloren gehen]. Warszawa 1915; Ders.: W obronie budownictwa drzewne­go [Für den Schutz der Holzarchitektur]. Warszawa 1915.



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Abb. 3  Wettbewerbsentwurf zum Wiederaufbau von Kalisz,  2. Preis: Zdzisław Kalinowski, 1916.

aufzubauen, insbesondere plädierte er für einen Wiederaufbau der hölzernen Architektur in Kleinstädten und Dörfern. In seinem Aufsatz „Die Wiederbelebung des polnischen Marktplatzes“ forderte er, polnischen Städten ihren „heimischen“ Charakter zurückzugeben, indem man ihnen beim Wiederaufbau ihren traditionellen Stadtgrundriss wiederverleiht, der oft gar nicht durch die Kriegshandlungen, sondern bedeutend früher, im Zuge der Umgestaltungen des 19. Jahrhunderts verlorengegangen war.26 Die Kriegszerstörungen in den Stadtzentren boten ihm zufolge die Chance, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und längst verlorengegangene Elemente, die seiner Meinung nach genuin polnisch waren, zu rekonstruieren. Überzeugt von der polnischen Provenienz 26 Ders.: Wskrzeszenie rynku polskiego [Die Wiederbelebung des polnischen Marktplatzes]. In: Tygodnik Ilustrowany 5 (1917), S. 63–65.

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von Renaissance-Attiken und -Laubengängen rund um die Marktplätze, plädierte er für deren „Rückkehr“ selbst dort, wo es sie niemals gegeben hatte (siehe dazu auch den Beitrag von Tomasz Torbus in diesem Band). Er war der Auffassung, dass eine „Wiederbelebung der Tradition“ der einzige Weg zur Schaffung eines Nationalstils und zu einer Renaissance der polnischen Architektur sei. Der Gesellschaft ins Bewusstsein zu rufen, was und wie reichhaltig die polnische Architekturtradition sei, war die Aufgabe einer 1915 vom Architektenverband und der Gesellschaft für Denkmalpflege (Towarzystwo Opieki nad Zabytkami Przeszłości) organisierten „Polnischen Architekturausstellung“ (Wystawa Architektury Polskiej). Mit ihr ging die Absicht einher, eine Serie von Bildbänden zu publizieren. Der erste (und leider auch letzte) erschien 1916 unter dem Titel „Dorf und Kleinstadt“ und widmete sich Architekturdenkmälern in der Provinz.27 Auch in Krakau beschäftigte man sich mit dem Problem des Wiederaufbaus, dort mit einem starken national-patriotischen Akzent. 1916 erschien das Werk „Für unsere Kultur. Anmerkungen zum Wiederaufbau des Landes und zur Rettung kriegszerstörter Baudenkmäler“ des Geistlichen Gerard Kowalski.28 Eine Gruppe von Architekten publizierte eine Art Musterbuch für den dörflichen Wiederaufbau – eine von Władysław Ekielski herausgegebene Mappe mit dem Titel „Der Wiederaufbau des polnischen Dorfs. Entwürfe polnischer Architekten für Katen und Gehöfte“.29 Darin fanden sich in unterschiedlichem Maßstab Vorschläge für eine dörfliche Bebauung, die alle stark an regionale Bautraditionen anknüpften. Eine weitere Mappe mit Vorschlägen zu architektonischen Lösungen im polnischen Stil erschien im folgenden Jahr in der Herausgeberschaft von Józef Gałęzowski.30 Als man dann im Frühjahr 1916 daran ging, die eingesandten Wettbewerbsentwürfe zum Wiederaufbau von Kalisz zu bewerten, war es Architekten und gesellschaftlichen Aktivisten gleichermaßen klar, dass der Wettbewerb im Ergebnis nicht nur Richtlinien für die Rationalisierung und Modernisierung der städtischen Strukturen liefern, sondern der Stadt auch einen stark in der Lokaltradition verwurzelten, polnischen Charakter verleihen müsse. Die Wettbewerbsjury setzte sich am Ende aus den Architekten Jan Heurich, Karol Jankowski, Franciszek Lilpop, Stefan Szyller, Władysław Jabłoński, Tadeusz Szanior, Jarosław Wojciechowski und Konstanty Jakimowicz sowie den städtischen Vertretern Kazimierz Rymarkiewicz, Marcin Heyman, Wincenty Młynarski, Leon Dziewulski, Jan 27 Materiały do architektury polskiej. Wieś i miasteczko [Materialien zur polnischen Architektur. Dorf und Kleinstadt]. Bd. 1. Warszawa 1916. 28 Kowalski, Gerard: O naszą kulturę. Uwagi o odbudowie kraju i ratowaniu zniszczonych wojną zabytków [Für unsere Kultur. Anmerkungen zum Wiederaufbau des Landes und zur Rettung kriegszerstörter Baudenkmäler]. Kraków 1916. 29 Odbudowa polskiej wsi. Projekty chat i zagród opracowane przez grono architektów polskich [Der Wiederaufbau des polnischen Dorfs. Entwürfe polnischer Architekten für Katen und Gehöfte]. Hg. v. Władysław Ekielski. Kraków 1915. 30 Odbudowa polskiego miasteczka. Projekty domów [Der Wiederaufbau der polnischen Kleinstadt. Hausentwürfe]. Hg. v. Józef Gałęzowski. Kraków 1916.



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Karwaciński und Alfons Parczewski zusammen. Von den 15 eingereichten Entwürfen wurden die folgenden prämiert: Der erste Preis ging an den von Tadeusz Zieliński und Zygmunt Wójcicki mit Beteiligung von Maksymilian Bystydzieński ausgearbeiteten Entwurf (Abb. 2); der zweite Preis wurde Zdzisław Kalinowski zuerkannt (Abb. 3); die erste lobende Erwähnung erhielt der Entwurf von Władysław Michalski und Edmund Bartłomiejczyk; die zweite ging an Tadeusz Tołwiński, die dritte an den Entwurf des Architektenkollektivs Kazimierz Saski, Adam Paprocki, Kazimierz Tołłoczko, Bruno Zborowski und Konrad Korecki, die vierte an Romuald Gutt und Franciszek KrzywdaPolkowski; die fünfte erhielten Antoni Dygat, Mieczysław Kozłowski und Bolesław Żurkowski; und die sechste lobende Erwähnung ging schließlich an Józef Handzelewicz.31 Trotz der ungemein kurzen Zeit, die zur Erstellung der Wettbewerbsentwürfe zur Verfügung gestanden hatte, und ungeachtet der von Grund auf neuartigen Aufgabe, vor der Architekten und Stadtplaner hier standen, war der Ertrag des Wettbewerbs sehr zufriedenstellend. Man war sich von Beginn an der Tragweite des komplexen stadtplanerischen Problems bewusst gewesen, vor das man die polnischen Architekten gestellt hatte. In der Fachpresse wurden nicht nur die vollständigen Begründungen der Juryentscheidung, sondern auch die den eingesandten Wettbewerbsentwürfen beigefügten Erläuterungen der Architekten publiziert. In der Bewertung orientierte sich die Jury in erster Linie daran, ob die präsentierten Entwürfe den Vorgaben entsprachen. Man achtete auf eine regelgerechte Verkehrsführung, eingeplante Grünflächen, die Anordnung der Bebauung und auf eine geeignete Verteilung der öffentlichen Bauten. Die Architekten der ausgezeichneten Entwürfe hoben in ihren Projekterläuterungen hervor, wie wichtig es sei, den historischen Charakter der Altstadt wiederherzustellen und den Abb. 4  Entwurfszeichnung für das Rathaus von Kalisz, Zdzisław Kalinowski, 1916.

31 Sprawozdanie z XLVIII konkursu Koła Architektów w Warszawie na odbudowę Kalisza [Bericht vom 48. Wettbewerb des Architektenverbands in Warschau zum Wiederaufbau von Kalisz]. In: Przegląd Techniczny 19–20 (1916), S. 191–210.

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wichtigsten Baudenkmälern einen angemessenen architektonischen Rahmen zu geben.32 Neben den Stadtplänen mussten die Architekten auch eine Perspektivzeichnung des Alten Markts samt Rathaus einreichen. Diese Visualisierungen zeigen fast ausnahmslos traditionelle Häuser mit Laubengängen und diverse Rathausvarianten im Stil der polnischen Renaissance, des Frühbarock oder des Klassizismus (Abb. 4–5). Die Mehrzahl der Entwürfe schlug vor, das Rathaus an anderer Stelle als vor dem Krieg zu errichten – das zerstörte Gebäude hatte an der Frontseite des Markts gestanden, nun wurde es von den meisten Architekten in dessen Mitte Abb. 5  Entwurfszeichnung für das Rathaus von platziert. Kalisz, Antoni Dygat, Mieczysław Kozłowski und Der Wettbewerb war – vor allem Bolesław Żurkowski, 1916. stadtplanerisch – ein Versuchslabor für die polnischen Architekten, und die in der Presse publizierten, ausgezeichneten Entwürfe waren ein wichtiger Beitrag zu den stadtplanerischen Diskussionen um den Denkmalschutz und die Suche nach Lösungen für eine Umgestaltung städtischer Strukturen, welche die Tradition respektieren würden.33 1916 erschienen zwei weitere wichtige Bücher zur Urbanistik, die bereits Teresa Zarębska erwähnt: Ignacy Drexlers „Der Wiederaufbau von Dörfern und Städten in unserem Land“ (Odbudowa wsi i miast na ziemi naszej) sowie der Band „Städtebau“ (Budowa miast) von Roman Feliński. Auch wenn keines von beiden direkt auf den Wettbewerb zum Wiederaufbau von Kalisz Bezug nahm, so wiesen doch beide auf die Notwendigkeit hin, die historische Raumstruktur polnischer Städte zu erforschen und den historischen, traditionellen Charakter dieser Städte zu retten bzw. zu rekonstruieren.

Gesetzliche Rahmenbedingungen, städtebauliche Konzepte, beteiligte Institutionen Unabhängig vom konkreten Projekt zum Wiederaufbau der Stadt und des Rathauses arbeiteten die deutschen Behörden schon ab 1915 an speziellen rechtlichen Regelungen, um den Wiederaufbau von Kalisz zu befördern. Dabei ging es in erster Linie darum, eine Zusammenlegung städtischer Grundstücke zu erleichtern und eine Parzellenstruk32 Zarębska, Sprawa odbudowy (wie Anm. 1), S. 132–142. 33 Dies., Znaczenie odbudowy Kalisza (wie Anm. 1), S. 129–143.



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tur zu schaffen, die den Bau besserer und funktionalerer Wohnhäuser ermöglichen würde. Als Ausgangspunkt zur Formulierung dieser Regelungen diente ein ähnliches Regelwerk für Frankfurt am Main, die sogenannte Lex Adickes von 1902, die jedoch unter Berücksichtigung lokaler Besonderheiten an die Bedürfnisse von Kalisz angepasst wurde. Schließlich trat am 1. November 1916 die „Zusammenlegungs-Ordnung für die Stadt Kalisch“ in Kraft, die nach dem Ende des Kriegs, am 2. März 1920 von den polnischen Behörden bestätigt werden sollte.34 Diese Vorschrift wurde zur Rechtsgrundlage für den in den folgenden Jahren getätigten Ankauf zahlreicher kleiner Parzellen und ihrer Zusammenlegung, dank derer die nach den Zerstörungen des Kriegs entstehende Bebauung am Markt von vielen vermeintlichen Makeln und Nachteilen befreit wurde. Keiner der ausgezeichneten Wettbewerbsentwürfe wurde realisiert, aber der Ertrag des Wettbewerbs wurde zur Grundlage des Umsetzungsprojekts, an dem man 1916 und die Hälfte des Jahres 1917 arbeitete. Durchgeführt wurden die Arbeiten von der am 1. Februar 1916 eingerichteten und von Martin Herrmann geleiteten Hochbau-Abteilung bei der Verwaltung Warschau.35 Eine maßgebliche Rolle bei der Erstellung sowohl der städtebaulichen Pläne als auch von Musterlösungen für die Häuserfassaden am Markt sowie für den Baublock des Rathauses spielte der bautechnische Referent der Zusammenlegungskommission für die Stadt Kalisch Helmuth Grisebach.36 Die von Grisebach erstellten Pläne beschränkten sich auf die von den Armen des Flusses Prosna begrenzte Altstadt im engeren Sinn, wo die Kriegszerstörungen am größten waren und ein realer Bedarf für eine Planungsgrundlage zur Durchführung der Wiederaufbauarbeiten bestand (Abb. 6). Per Beschluss der städtischen Behörden übernahm man diejenigen Lösungen aus den Wettbewerbsentwürfen in die Planung, die den Behörden gefallen hatten, vor allem die Platzierung des neuen Rathauses in der Mitte anstelle der Frontseite des Markts. Man konzentrierte sich auf eine detaillierte Planung der Verkehrsführung und der einzelnen Bebauungsblocks unter Berücksichtigung möglicher Zusammenlegungen. Die Vorkriegsstruktur der Altstadt wurde grundsätzlich beibehalten, aber man beschloss, einige Straßen zu verbreitern und Grundstücke für Plätze, Grünanlagen und neue öffentliche Bauten auszuweisen. Die verschiedenen Planversionen wurden innerhalb der städtischen Behörden diskutiert, man konsultierte aber außerdem, wie sich Grisebach erinnert, die Architekten des Warschauer Architektenverbands sowie die Zusammenlegungskommission.37 Das Wiederaufbauprojekt wurde schließlich im Juni 1917 bestätigt38 und einer detaillierten Bauordnung für Kalisz als Anlage angefügt (Abb. 7). Auch diese Bauordnung war 34 Verordnungsblatt für das Generalgouvernement Warschau = Dziennik Rozporządzeń dla JenerałGubernatorstwa Warszawskiego, Nr. 56, 1. November 1916, Pos. 211; Zakrzewska (wie Anm. 1), S. 26. 35 Deutsche Landesverwaltung in Warschau. In: Zentralblatt der Bauverwaltung 24 (1916), S. 175. 36 Grisebach, Helmuth: Zum Wiederaufbau von Kalisch. In: Der Städtebau 1 (1918), S. 12–15, 2 (1918), S. 22–27. 37 Ebd., S. 14. 38 Zakrzewska (wie Anm. 1), S. 26.

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Małgorzata Omilanowska Abb. 6  Plan des Stadtzentrums von Kalisz mit Dokumenta­ tion der Zerstörungen von 1914, Helmuth Grisebach, Juli 1917.

Abb. 7  Plan zum Wiederaufbau des Stadtzentrums von Kalisz, Helmuth Grisebach, 1. November 1917.



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Abb. 8  Entwurfszeichnung für Häuserfassaden am Markt von Kalisz, angefertigt in der Bauberatungsstelle beim Kreisamt Kalisch, undatiert (wahrscheinlich 1916/17). Abb. 9  Entwurfszeichnung für Häuserfassaden am Markt von Kalisz, angefertigt in der Hochbau-Abteilung beim Verwaltungschef in Warschau, undatiert (wahrscheinlich 1916/17).

Grisebachs Werk, als Ausgangspunkt diente ihm dabei die „Bauordnung Posener Land“. Grisebach befand jedoch, dass die preußischen Regelungen, die Erker zuließen und eine Bebauung mit rückwärtigen Werkstätten präferierten, nicht dem Charakter von Kalisz entsprächen: „Auf den in der Altstadt typischen Flügelbau musste Rücksicht genommen werden.“39 Die endgültige Version der Bauordnung für Kalisz wurde also mit der ausgeprägten Sorge um die Erhaltung des traditionellen Charakters der städtischen Bebauung verfasst. Sie wurde am 10. November 1917 vom deutschen Leiter des Bezirks Kalisz bewilligt.40 Nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens ist sie per Dekret des Staatsoberhaupts vom 17. Februar 1919 bestätigt worden.41 Sie diente 39 Grisebach (wie Anm. 36), S. 22. Fotokopien der Pläne sind im Fotoarchiv des Instituts für Kunstgeschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Instytut Sztuki Polskiej Akademii Nauk, im Folgenden: IS PAN) erhalten, Neg.-Nr. 1548, 1558, 1567–1570, 1572, 19226–19229, 99569, 99571. 40 Verordnungsblatt des Kaiserlich Deutschen Kreischefs der Kreise Kalisch und Turek = Dziennik Rozporządzeń Cesarsko-Niemieckiego Naczelnika Powiatów Kaliskiego i Tureckiego, Nr. 150, 1917. 41 Dziennik Ustaw [Gesetzblatt], Nr. 14, 1919, Pos. 176, Art. 1.

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als Grundlage zur Erteilung von Baugenehmigungen für das Stadtzentrum und bestimmte maßgeblich die architektonische Gestalt der Stadt. Der ihr angefügte, von Grisebach ausgearbeitete Plan legte die Größe der Bebauungsblocks, die Breite der Straßen und die Platzierung des Rathauses fest. Die Bauordnung enthielt detaillierte Vorschriften, die ebenso die Art der Dächer betrafen (zugelassen wurden nur große Dächer in Traufstellung und deren Eindeckung mit Keramikdachziegeln, Schiefer oder Kupfer) wie die Verwendung einer beschränkten Anzahl vorgefertigter Schmuckelemente an den Fassaden. Generell empfahl die Bauordnung Zurückhaltung bei der Verwendung von Bauschmuck und Reklamen im Bereich der Altstadt.42 Unter der Leitung von Grisebach in Kalisz (Abb. 8) sowie in der Warschauer Hochbau-Abteilung (Abb. 9) entstanden auch Entwurfsskizzen für die Häuserfassaden am Markt. Sie sahen eine geschlossene Bebauung mit dreistöckigen Häusern unterschiedlicher Breite vor, mit hohen Dächern mit Gauben und mit breiten Segmentbogenfenstern im Parterre.43 Zarębska hat diese Entwürfe als typisch „für eine traditionsverbundene Strömung in der deutschen Architektur“ und als Indiz dafür bezeichnet, dass die zuständigen Behörden „eine ‚deutsche‘ Stadt bauen“ wollten.44 Es ist heute schwer zu beurteilen, welchem Zweck diese Skizzen dienen sollten. Grisebach selbst hat erwähnt, dass sein Büro aufgrund des Mangels an privaten Architekten in Kalisz und angesichts der dringend notwendigen Entwürfe – der Stadt waren bereits die Kredite zum Wiederaufbau bewilligt worden – fortgesetzt Bauberatung geleistet und kostenfrei Entwürfe zur Verfügung gestellt habe, die dann von Investoren genutzt werden konnten. Es ist also möglich, dass die Skizzen im Zusammenhang mit diesen Entwürfen standen.45

Der Wettbewerb für das Rathaus Auf der Basis eines von den städtischen Behörden vorgegebenen, sehr weitgefassten Funktionsprogramms schuf Grisebach auch einen Vorentwurf für das Rathaus in zwei Varianten.46 Die enormen Ausmaße des projektierten Gebäudes resultierten daraus, dass in ihm nicht nur die Büros der städtischen Behörden, sondern auch nahezu alle dem Magistrat unterstehenden Dienststellen samt Polizei und Feuerwehr untergebracht werden sollten. Beide Varianten sahen einen großen dreigeschossigen, vierflügeligen Bau mit Innenhof vor (Abb. 10). In der Achse der Gebäudefront sollte ein Turm platziert werden – in der ersten Entwurfsvariante in die Fassade, in der zweiten dagegen in den hinteren Trakt des Frontflügels integriert (Abb. 11). Die Fassade mit einem dreiachsigen Scheinrisalit in der Mitte sollte eine modernisiert klassizistische Form erhalten, mit 42 Zarębska, Sprawa odbudowy (wie Anm. 1), S. 153. 43 Fotokopien der Pläne sind im Fotoarchiv des IS PAN erhalten, Neg.-Nr. 1554–1556. 44 Zarębska, Sprawa odbudowy (wie Anm. 1), S. 142: „dla ówczesnego nurtu architektury niemieckiej nawiązującej do tradycji“ und „do budowy miasta ,niemieckiego‘“. 45 Grisebach (wie Anm. 36), S. 27. 46 Fotokopien der Pläne sind im Fotoarchiv des IS PAN erhalten, Neg.-Nr. 1549–1552.



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Abb. 10  Entwurf für das Rathaus von Kalisz, Grundriss des Erdgeschosses, Helmuth Grisebach, 1917.

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Małgorzata Omilanowska Abb. 11  Entwurf für das Rathaus von Kalisz, Fassade, Helmuth Grisebach, 1917.

einem von einem Dreiecksgiebel bekrönten Scheinportikus, Eckpilastern und einem gedrungenen, an deutsche Architekturtraditionen angelehnten Zwiebelhelm auf einem oktogonalen Turm. Grisebach selbst war der Ansicht, dass es ihm mit diesem Entwurf gelungen sei, an die auf einer Abbildung aus dem 18. Jahrhundert überlieferte Gestalt des Kaliszer Rathausturms anzuknüpfen.47 Vermutlich war es das Erscheinen dieses „unpolnischen“ Projekts, das die Kaliszer Ratsmitglieder veranlasste, ihre Bemühungen um einen neuen, ihren Erwartungen entsprechenden Entwurf zu intensivieren. Bereits im Januar 1918 beschloss der Stadtrat, einen Wettbewerb für das Rathausprojekt auszuloben, der Ende März, erweitert um 47 Grisebach (wie Anm. 36), S. 27.



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ein Projekt für die Häuserfassaden am Markt, über den Architektenverband ausgeschrieben wurde.48 In der Ausschreibung hieß es: „Ziel des Wettbewerbs ist es, die Stadt in ein möglichst würdiges Gewand zu kleiden, wie es der Bedeutung und Zukunft eines uralten polnischen Fürstensitzes gebührt. […] Die Architektur des Rathauses und diejenige der Fassaden am Markt sollen eine harmonische, groß angelegte Komposition ergeben, die an die polnische Kunsttradition anknüpft, ohne diese jedoch blind nachzuahmen.“49 Die städtischen Behörden erwarteten weiterhin einen Entwurf für ein großes, aber lediglich dreigeschossiges multifunktionales Gebäude, in dem alle Dienststellen des Magistrats untergebracht werden sollten. Die Architekten mussten wohl oder übel der außergewöhnlich komplizierten Aufgabe gerecht werden, derart viele Funktionen in einem Gebäude unterzubringen, das dabei in die Mitte des Markts auf eine Parzelle von 4500 m2 passen sollte. Einsendeschluss für die Entwürfe war der 3. Mai. In der Wettbewerbsjury saßen der Kaliszer Bürgermeister Teodor Prądzyński, der Stadtrat W. Krzyżagórski, der Direktor einer Versicherungsfirma Leon Dziewulski sowie die Architekten Konstanty Jakimowicz, Karol Jankowski, Jan Heurich, Jarosław Wojciechowski, Kazimierz Loewe, Stefan Cybichowski und Karol Tichy. Von den 31 eingesandten Entwürfen zeichnete die Jury die folgenden aus: mit dem ersten Preis den Entwurf Nr. 31 von Zdzisław Kalinowski, Karol Siciński und Edward Eber; mit dem zweiten Preis den Entwurf Nr. 17 von Kazimierz Tołłoczko und Bruno Zborowski; und mit dem dritten Preis den Entwurf Nr. 23 von Tadeusz Zieliński, Zygmunt Wóycicki und Wacław Tomaszewski.50 Als Autoren des Entwurfs Nr. 7 offenbarten sich Stefan Szyller und Antoni Sygietyński.51 Leider wurden weder die Begründung der Juryentscheidung noch die Entwürfe selbst veröffentlicht. Erhalten haben sich lediglich Fotokopien zweier Projektvisualisierungen sowie ein Satz Fotokopien von Fassadenentwürfen (vier Zeichnungen) für die Häuser am Markt.52 Die ausgezeichneten Projekte sahen die Errichtung eines massiven vierflügeligen Baus mit symmetrischer Fassade und einem hohen Turm in der Gebäudeachse vor. Wahrscheinlich von Tołłoczko und Zborowski stammte der Entwurf eines viergeschossigen Baus mit einem monumentalen Turmrisalit an der Gebäudefront, bekrönt von einer Attika in einem modernisierten polnischen Renaissancestil (Abb. 12). Eine dem Entwurf von Zieliński und dessen Team zugeordnete Zeichnung sah einen viergeschossigen Rathausbau im Stil des polnischen Manierismus vor, mit einem gedrungenen Portal, einem Piano nobile an der Frontseite, dessen Fenster durch schlanke Säulen im 48 Konkurs na ratusz w Kaliszu [Wettbewerb für das Kaliszer Rathaus]. In: Gazeta Kaliska 24 (1918), S. 1 f. 49 Ebd.: „Celem konkursu jest oblec miasto w szaty jak najgodniejsze, znaczeniu i przyszłości prastarego grodu polskiego przynależne. […] Architektura ratusza wraz z architekturą fasad rynkowych powinna stanowić sharmonizowaną, monumentalnie pomyślaną kompozycję, którą nawiązać należy do tradycji sztuki polskiej, jednak bez ślepego naśladownictwa.“ 50 Rozstrzygnięcie konkursu na odbudowę ratusza w Kaliszu [Entscheidung des Wettbewerbs zum Wiederaufbau des Kaliszer Rathauses]. In: ebd. 65 (1918), S. 2. 51 Konkurs na ratusz [Rathauswettbewerb]. In: Sztuki Piękne 2 (1918), S. 39. 52 IS PAN, Neg.-Nr. 7524–7527, 7528 a–b, 7529 a–b.

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Małgorzata Omilanowska Abb. 12  Wettbewerbsentwurf für das Rathaus von Kalisz, vermutlich 2. Preis: Kazimierz Tołłoczko und Bruno Zborowski, 1918.

Abb. 13  Wettbewerbsentwurf für das Rathaus von Kalisz, vermutlich 3. Preis: Tadeusz Zieliński, Zygmunt Wóycicki und Wacław Tomaszewski, 1918.



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Abb. 14  Wettbewerbsentwurf für Häuserfassaden von Kalisz, vermutlich 3. Preis: Tadeusz Zieliński,  Zygmunt Wóycicki und Wacław Tomaszewski, 1918.

„Wawel-Stil“ gegliedert werden, und einer hohen Attika, die von dem aus Italien stammenden, im 16. Jahrhundert in Polen tätigen Architekten Santi Gucci inspiriert ist (Abb. 13). Von derselben Hand stammen die Fassadenentwürfe für die Häuser am Markt, die das Element des Laubengangs in Kalisz einführen wollten (Abb. 14). Die städtischen Behörden beschlossen jedoch, keinen dieser Entwürfe zu realisieren, stattdessen kauften sie den Entwurf von Stefan Szyller an und unternahmen Schritte, um bei ihm ein Realisierungsprojekt in Auftrag zu geben. Die Lokalpresse machte sich ebenfalls für Szyllers Entwurf stark, aber innerhalb des Stadtrats hatte dieser auch einige erbitterte Gegner.53 Schließlich übertrug man Szyller im Oktober 1918 die Anfertigung des Realisierungsentwurfs, formulierte aber von vornherein einige Änderungswünsche bezüglich der Wettbewerbsversion und bat um die Vorlage zweier Entwurfsvarianten.54 Die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens und die Bildung neuer staatlicher Behörden, aber auch neue Selbstverwaltungsstrukturen verzögerten die Arbeiten an dem Projekt, doch am 29. April 1919 legte der Magistrat den Zentralbehörden Szyllers Projektentwurf zur Bestätigung vor, und am 3. Juni 1919 nahm die Bausektion beim Ministerium für Öffentliche Aufgaben (Sekcja Budowlana Ministerstwa Robót Publicznych) dazu Stellung und befand ihn als unzureichend.55 Kritisiert wurden in erster Linie die Dimensionen des Gebäudes und dessen Architektur, die „keine einheitliche Komposition darstellt, sondern eine locker verbundene Ansammlung von Details verschiedener polnischer Baudenkmäler“.56 Szyller korrigierte seinen Entwurf und verkleinerte den Bau etwas, aber auch diese Version erwies sich als unzureichend. Dieses Mal war es das Ministerium für Kunst und Kultur, das mit einem vom Kultur53 Wystawa planów ratusza [Ausstellung der Rathauspläne]. In: Gazeta Kaliska 109 (1918), S. 3. 54 Z Rady Miejskiej [Aus dem Stadtrat]. In: ebd. 92 (1918), S. 1, und 115 (1918), S. 2. 55 Brief des Ministeriums für Öffentliche Aufgaben an den Kaliszer Magistrat vom 3. Juni 1919, APK, Akta m. Kalisza, Sprawy związane z wykończeniem gmachu II teczka [Akten der Stadt Kalisz, Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Baufertigstellung, 2. Mappe], Sign. 2913, Bl. 3. An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Maciej Błachowicz für die Vervielfältigung der archivalischen Dokumente bedanken. 56 Ebd., Bl. 3 r. – „nie przedstawia jednolitej kompozycji, lecz luźno związany zbiór szczegółów z różnych zabytków budownictwa polskiego“.

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minister Zenon Przesmycki unterzeichneten Brief vom 30. Juli 1919 seine Meinung kundtat. Gerügt wurden Planungsfehler im Gebäudeinneren, aber auch dessen Stil: „Der architektonische Charakter des projektierten Gebäudes mit seinen allzu penibel und archaisierend nachgebildeten polnischen Renaissanceelementen harmoniert nicht mit dem modernen Aussehen des Marktplatzes.“57 Empfohlen wurde die Errichtung eines kleineren Gebäudes ohne Innenhof mit einer symmetrischen Aufteilung des Baukörpers, aber auch eine Änderung des Baustils, der „an den Epochencharakter der Wende vom 18. in das 19. Jahrhundert“ anknüpfen solle. Keine von Szyllers Entwurfsversionen blieb erhalten oder wurde publiziert, aber in seinem fragmentarisch überlieferten Nachlass findet sich eine Sammlung von Skizzen im Zusammenhang mit dem Rathausprojekt, die zwei Lösungsvarianten zeigen. Bei einigen der Skizzen handelt es sich um Vorentwürfe für einen viergeschossigen Neorenaissancebau mit einem Frontrisalit in der Gebäudeachse, einem oktogonalen Turm an der westlichen Ecke und einer aufwendigen Attika als Bekrönung (Abb. 15–16). Drei weitere Zeichnungen zeigen die Rathausfassade mit unterschiedlichen Detaillösungen für das Portal, die Fenstereinrahmungen, den Attikenschmuck sowie die Gestaltung einer den Turm umgebenden Loggia. Auf allen Zeichnungen findet sich im Fassadenschmuck der Turmbläser des Kaliszer Stadtwappens. Weiteren Skizzen zufolge sollte das Rathaus ebenfalls vier mit einer Neorenaissance-Attika bekrönte Geschosse erhalten, aber der Turm wurde hier in der Achse der Fassade platziert, während an der Westseite noch eine weitere, leicht erhöhte einachsige Partie angefügt werden sollte, die womöglich zu einem höheren Seitenflügel gehörte (Abb. 17). Fünf weitere Skizzen, die den Mittelteil der Fassade mit dem Turm abbilden, zeigen verschiedene Detaillösungen für ein großes, dreigeschossiges Neorenaissance-Portal, das mit dem Kaliszer Wappen bekrönt ist (Abb. 18). Bei den Skizzen der ersten Variante mit dem Eckturm handelt es sich wahrscheinlich um Vorarbeiten zur ersten bzw. zweiten Entwurfsversion vom März bzw. Juli 1919, die der Wettbewerbsversion entsprechen bzw. diese (nach dem Einspruch der städtischen Behörden) leicht modifizieren. In der Entwurfsbewertung des Ministeriums für Kultur findet sich nämlich der folgende Satz: „Die Platzierung des Turms als eines wichtigen Gebäudeakzents an dessen Ecke bildet eine Dissonanz zur regelmäßigen, achsengerechten Platzkomposition, was einen willkürlichen Effekt erzeugt, der nicht in Einklang mit der Gesamtanlage des Platzes und des Rathauses steht.“58 Angesichts dieser Kritik erstellte Szyller den folgenden Entwurf für ein wesentlich kleineres Gebäude, was zulasten der im Funktionsprogramm vorgesehenen Räumlichkeiten für Polizei, Arrestzellen und Feuerwehr ging. „Selbstlos“, wie es hieß, überarbei57 Brief des Ministeriums für Kultur und Kunst an die Bauabteilung des Ministeriums für Öffentliche Aufgaben vom 30. Juli 1919, ebd., Bl. 4: „Charakter architektoniczny projektowanego gmachu wypowiadający się w motywach renesansu polskiego, odtworzonego zbyt ściśle i archaizująco, nie harmonizuje z współczesnym wyglądem rynku.“ 58 Ebd., Bl. 4 r – „Dysonansem w stosunku do umiarowej, osiowej, kompozycji rynku jest umieszczenie wieży, jako akcentu głównego budynku w jego narożniku, co tworzy efekt przypadkowy, nie licujący z monumentalnością układu rynku i ratusza.“



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Abb. 15  Entwurfsskizze für das Rathaus von Kalisz, Perspektivansicht, 1. Variante, Stefan Szyller, 1918.

Abb. 16  Entwurfsskizze für das Rathaus von Kalisz, Fassade, 1. Variante, Stefan Szyller, 1918.

Abb. 17  Entwurfsskizze für das Rathaus  von Kalisz, Fassade, 2. Variante, Stefan Szyller, 1918.

Abb. 18  Entwurfsskizze für das Rathaus von Kalisz, Hauptportal, 2. Variante, Stefan Szyller, 1918.

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tete er seine Zeichnungen auch stilistisch und präsentierte den neuen Entwurf bei einer Besprechung von Ministeriumsvertretern in Kalisz am 16. August 1919.59 In dieser Version, so das Urteil der Versammelten, „sieht der entworfene Bau wie ein modernes Gebäude aus, als sei es eine Kopie der in Kalisz bereits existierenden Bauten“.60 Auch der Architekt selbst war von seinem Werk nicht begeistert. Unermüdlich modifizierte er seinen Entwurf erneut und fertigte eine vierte und fünfte Version an. Die vierte war wohl wieder im Stil der Neorenaissance, und möglicherweise sind ihr die oben erwähnten Zeichnungen in der zweiten Variante zuzuordnen. In der fünften Version dagegen wurde die Attika durch ein Satteldach ersetzt.61 Es war diese Version, die am 4. März 1920 vom Ministerium für Öffentliche Aufgaben gebilligt wurde, wenn auch mit der Anmerkung, dass „es wünschenswert wäre, der äußeren Architektur einen moderneren Charakter zu verleihen“.62 Auch die Mitglieder des Stadtrats äußerten ihre Meinung, und schließlich wurde Szyllers Entwurf mit der Bitte um Bewertung und Hinweise an den Warschauer Architektenverband übersandt. Dieser empfahl in einem vom Vorsitzenden Andrzej Zieliński unterzeichneten Brief eine Vergrößerung der Fenster.63 Ein weiterer schriftlicher Austausch mit Szyller erbrachte keine Lösung, und da die Zeit drängte – der Magistrat hatte bereits die Baumaterialien besorgt – wurde der Vertrag zwischen Szyller und der Stadt schließlich am 22. Mai 1920 aufgehoben.64 Die Projektierung des Rathauses vertraute man Sylwester Pajzderski an, der zu jener Zeit das Kaliszer Bauamt leitete und der wichtigste Kritiker von Szyllers Entwürfen war, deren aufeinanderfolgende Anpassungen und Korrekturen auf ihn zurückgegangen sein dürften. Pajzderskis Vorentwurf ging bereits am 6. Juni 1920 im Ministerium ein, und er erhielt eine vorläufige Genehmigung für den Beginn der Arbeiten. Die Bauarbeiten begannen im Juli, und am 17. Oktober 1920 fand die feierliche Grundsteinlegung für das neue Rathaus statt, obgleich keine offizielle Baugenehmigung vorlag, da die entsprechenden Dokumente nicht eingereicht worden waren. 1921 begann sich eine Mauer des Rathauses zu neigen, also stoppte man die Arbeiten, und es setzte ein mehrjähriger Austausch von Baufirmen und Bauhandwerkern, Gutachten, Korrekturen und Modifikationen am Projekt ein. Am Ende wurde der Bau erst 1927 fertiggestellt (Abb. 19). Das schließliche Aussehen des Rathauses geht auf Pajzderski zurück, aber er benutzte ohne Zweifel Grundrisse und viele Raumlösungen aus den Entwürfen Szyllers und der anderen Architekten, die sich zuvor mit dieser Aufgabe befasst hatten. Es siegte ein 59 Sprawozdanie ze zjazdu przedstawicieli ministerstw w dniu 15i 16 sierpnia 1919 roku w sprawie odbudowy miasta Kalisza [Versammlungsbericht der Ministeriumsvertreter, 15. und 16. August 1919 zur Frage des Wiederaufbaus von Kalisz]. Kalisz 1919, S. 25. 60 Ebd., S. 31: „projektowany gmach wygląda jak nowoczesny budynek, tak jakby to była kopja egzystujących w Kaliszu gmachów“. 61 Brief von Stefan Szyller an den Kaliszer Magistrat vom 15. Dezember 1919, APK, Akta m. Kalisza (wie Anm. 55), Bl. 7. 62 Brief des Ministeriums für Öffentliche Aufgaben an den Kaliszer Magistrat vom 3. März 1920, ebd., Bl. 8: „że byłoby pożądane nadanie bardziej współczesnego charakteru architekturze zewnętrznej“. 63 Brief des Architektenverbands an den Kaliszer Magistrat vom 1. April 1920, ebd., Bl. 13. 64 Erklärung von Stefan Szyller an den Kaliszer Magistrat vom 22. Mai 1920, ebd., Bl. 17.

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Abb. 19  Kalisz, Rathaus, entworfen von Sylwester Pajzderski. Aufnahme von Witalis Wolny, 1958.

stilistisches Konzept, das mit den ziemlich rückwärtsgewandten, noch dem Historismus des 19. Jahrhunderts angehörenden Entwürfen der älteren Generation brach. Szyller war zum Zeitpunkt der Entwurfsarbeiten 63 Jahre alt. Stattdessen gab man einer Lösung den Vorzug, die dem in den Jahren vor Kriegsausbruch durch einen damals modischen „Stil um 1800“ geprägten Geschmack entsprach und der jüngeren Generation gefiel, aber auch von den Ministerialbeamten empfohlen wurde, da sie eher dem Gesamtstil der Stadt entspreche.

Der Wiederaufbau von Kalisz als  gesamtpolnische Aufgabe nach 1918 Die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens bewirkte, dass man sich mit neuer Energie dem Wiederaufbau von Städten und Baudenkmälern widmete (siehe dazu den Beitrag von Keya Thakur-Smolarek in diesem Band). Der Warschauer Archi-

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tektenverband organisierte bereits in den ersten Tagen des Jahres 1919 an der Warschauer Technischen Hochschule eine der „Architektur von Dörfern und Kleinstädten“ gewidmete Ausstellung, die in einem Saal die Entwürfe beider Architekturwettbewerbe für den Wiederaufbau von Kalisz zeigte.65 Nicht nur die lokale Selbstverwaltung, sondern auch zentrale Behörden kümmerten sich um Kalisz. Bereits im April 1919 erhielt die Stadt Besuch von einer Delegation des Ministeriums für Öffentliche Aufgaben mit dessen Minister Józef Próchnik an der Spitze, die beschloss, in Kalisz eine spezielle Baukommission zu berufen, deren Aufgabe es sein sollte, sämtliche Projekte zu genehmigen. Im Mai 1919 wurde mit Józef Raciborski ein Konservator für den Bezirk Kalisz berufen.66 Auch die bereits erwähnten zweitägigen Beratungen von Vertretern der Ministerien für Öffentliche Aufgaben sowie für Kultur und Kunst am 15. und 16. August 1919 sollten für das weitere Vorgehen von enormer Bedeutung sein.67 Teilnehmer waren unter anderem Juliusz Kłos, Alfred Lauterbach, Marian Lalewicz, Roman Feliński, Franciszek Krzywda-Polkowski, Stefan Szyller, Sylwester Pajzderski und Albert Nestrypke sowie Vertreter der städtischen Behörden. Besprochen wurden der geplante Abriss der russisch-orthodoxen Kirche der hll. Peter und Paul (der 1928 erfolgte) und die Errichtung des städtischen Museums an deren Standort, die Schaffung dreier städtischer Plätze sowie die Aufdeckung der Überreste der alten Stadtmauern. Auch der Rathausbau war Gegenstand der Besprechungen, und ebenso die Errichtung eines neuen Theaters sowie Pläne zur Erweiterung des Stadtgebiets um Landstücke umliegender Gemeinden. Außerdem nahm man die Beratungen zum Anlass für die Grundsteinlegung eines von Sylwester Pajzderski entworfenen neuen Schulgebäudes in der Straße des 3. Mai (ul. 3-go Maja).68 Ein Jahr später begann die Errichtung des Theaters nach den Entwürfen von Czesław Przybylski. Das im Jahr 1801 von Wojciech Bogusławski begründete Theater hatte vor 1914 seinen Sitz in einem eleganten, im Jahr 1900 nach Entwürfen von Józef Chrzanowski errichteten Neorenaissancebau gehabt, der ebenfalls zerstört worden war. Der Neubau wurde in der Schleife des Prosna-Flusses unweit der Altstadt errichtet. Der für den Neubau gewählte klassizistische Stil begründete sich in erster Linie aus der Geschichte des Theaters und aus dem Umstand, dass es zu einer Zeit begründet worden war, als der Klassizismus die öffentliche Architektur dominierte. In ähnlichem Stil hielt man auch den von Marian Lalewicz entworfenen, 1926 fertiggestellten Bau der Polnischen Bank. Eine Schlüsselfrage des Wiederaufbaus vor allem der Wohnhäuser in Kalisz war dessen Finanzierung bzw. die Schaffung einer institutionalisierten Förderung für die am Wiederaufbau ihrer Häuser interessierten Grundstückseigentümer. Ein erstes, von den deutschen Behörden aufgelegtes Kreditprogramm für den Wiederaufbau bewilligte zwischen 1916 und 1918 vierzig Privateigentümern, aber auch der reformierten Kirche, 65 Kłos, Juliusz: Wystawa Architektoniczna [Die Architekturausstellung]. In: Przegląd Techniczny 1–4 (1919), S. 9–11. 66 Zarębska, Sprawa odbudowy (wie Anm. 1), S. 159. 67 Sprawozdanie ze zjazdu (wie Anm. 59), S. 25. 68 Ebd., S. 18.



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Abb. 20  Kalisz, Bebauung am Markt. Aufnahme von Witalis Wolny, 1959.

dem Handwerkerverband und dem Magistrat Kredite – letzterer finanzierte damit die Kosten der Grundstückszusammenlegungen.69 Ab 1919 vergab der polnische Fiskus Wiederaufbaukredite, anfangs vermittelt durch die lokale Selbstverwaltung, ab 1921 dann durch die Banken. Der Wiederaufbau der Kaliszer Altstadt zog sich über beinah die gesamte Zwischenkriegszeit hin. Die Häuser wurden nach und nach errichtet, wobei der Genehmigungsprozess in einigen Fällen nicht ohne Konflikte und Diskussionen über die endgültige architektonische Gestalt verlief.70 Die städtischen Architekten achteten darauf, dass ihre genehmigten Projekte dem für Kalisz festgelegten Baurecht entsprachen, aber am Ende waren sich wandelnde Architekturauffassungen, stilistische Moden und Trends für die nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs entstandene, uneinheitliche altstädtische Bebauung ausschlaggebend (Abb. 20). Sowohl die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg (etwa von Janina Zakrzewska) als auch die in der polnischen Fachliteratur der Nachkriegszeit vor allem von Teresa Zarębska 69 Zakrzewska (wie Anm. 1), S. 31. 70 Zarębska, Sprawa odbudowy (wie Anm. 1), S. 166 f.

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angestellten Überlegungen zum Wiederaufbau von Kalisz haben den faktischen Beitrag deutscher Architekten, Stadtplaner und Verwaltungsvertreter negiert. Entgegen der Annahme von Zarębska, welche die Kaliszer Bauverordnung einer „Strömung in der polnischen Urbanistik“71 zuordnete, waren diese Vorschriften tatsächlich das Werk Grisebachs und seiner Mitarbeiter, auch wenn sie in Abstimmung mit den polnischen Mitgliedern des Stadtrats und des Warschauer Architektenverbands zustande kamen. Auch das städtebauliche Projekt zum Wiederaufbau des Stadtzentrums, das schließlich im Rahmen des generellen Wiederaufbauprogramms nach 1917 auf den Weg gebracht wurde, war in Grisebachs Büro entstanden, wenngleich es mit Beteiligung der polnischen Stadtplaner und gestützt auf die Wettbewerbsentwürfe – die wiederum durch zahlreiche Hinweise des Berliner Architektenbüros Bopst & Caro ergänzt wurden – Gestalt angenommen hatte. Sylwester Pajzderskis Rathausentwurf stützte sich auf Vorarbeiten sowohl polnischer Architekten als auch von Helmuth Grisebach. An den Diskussionen um die Bauverordnung, das städtebauliche Wiederaufbauprojekt für die Altstadt sowie die architektonische Gestalt der Wohnhäuser und des Rathauses beteiligten sich ebenfalls polnische und deutsche Vertreter der lokalen Selbstverwaltung und verschiedener anderer Ebenen der Administration. Der allen gemeinsame Ausgangspunkt war der Rückgriff auf die Tradition, bloß dass – so Beate Störtkuhl – die Polen in der städtebaulichen Struktur von Kalisz typisch polnische architektonische Lösungen erblickten, während sie für die Deutschen ein typisches Beispiel für die Ansiedlungen der Deutschen im Osten war.72 In den Interpretationen der polnischen Fachliteratur etablierte sich der Mythos von der Polonität des wiederaufgebauten Kalisz, obwohl sämtliche Vorschläge und Entwürfe, die sich eindeutig auf einen polnischen Nationalstil beriefen – wie etwa Szyllers Ideen für ein Neorenaissance-Rathaus oder die von Tadeusz Zieliński vorgeschlagenen Laubenganghäuser – im Verlauf der Diskussionen verworfen wurden. Die Polen träumten von der Wiederentstehung der genuin polnischen Stadt, die Kalisz in ihrer Vorstellung war, während die Deutschen unter Berufung auf die lokale – ihrer Ansicht nach deutsche – Tradition, die von ihnen annektierte Stadt innerhalb der Grenzen ihres eigenen Staats wiederaufbauen wollten.73 Die schließliche städtebauliche und architektonische Gestalt des Zentrums von Kalisz wurde zur Summe des Wissens,

71 Ebd., S. 153. 72 Störtkuhl (wie Anm. 1), S. 178. 73 Zu ähnlichen Feststellungen kam Małgorzata Popiołek in ihrem Beitrag, der parallel zu diesem entstanden ist: Popiołek, Małgorzata: Niemiecki Kalisz 1914–1918. Plany odbudowy i przebudowy miasta w czasie I wojny światowej [Das deutsche Kalisz 1914–1918. Pläne für den Wiederaufbau und Umbau der Stadt im Ersten Weltkrieg]. In: Odbudowy i modernizacje miast historycznych w pierwszej połowie dwudziestego wieku w Europie. Naród, polityka, społeczeństwo / Reconstructions and Modernizations of Historic Towns in Europe in the First Half of the Twentieth Century. Nation, Politics, Society. Hg. v. Iwona Barańska und Makary Górzyński. Kalisz 2016, S. 277–295. Die englischsprachige Version des Bandes ist online abrufbar unter: https://historictownsmodernizations2016.files.wordpress.com/2017/01/ reconstructionsand-modernizations-of-historic-towns-kalisz-2016.pdf (27.01.2017).



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der Erfahrungen und der Kreativität all derjenigen, die an den vielen Phasen ihres Zustandekommens beteiligt gewesen waren. Aus dem Polnischen von Heidemarie Petersen

Summary In search of the Polish city The reconstruction of Kalisz after World War I The destruction caused in numerous countries by World War I prompted renewed debate about the legitimacy of rebuilding historical structures, a subject already controversially discussed before the war. For Polish conservators and architects, the benchmark in this debate was for the next hundred years to be found in the example of Kalisz, whose historical centre was badly destroyed in the first few days of the war. Aspects of the reconstruction of Kalisz are examined, including the first moves by the German occupation administration and Warsaw architects while the war was still underway, the architectural competition held for Polish architects, new legal regulations, and loans granted to encourage reconstruction. Helmuth Grisebach’s role in the final rebuilding programme is described, as are the up-and-down efforts to design a new town hall. Although Polish research has since attempted to negate the contribution made by German experts, study of the sources reveals that their involvement was crucial to reconstruction. For example, the final layout of the town centre was designed by Helmuth Grisebach, albeit with Polish involvement. Other architectural and administrative aspects were debated by both Polish and German officials at various levels. Despite the clear rejection of all proposals referring to the Polish national style, the myth of the Polish character of the reconstruction of Kalisz was forged in Polish technical literature. The Poles dreamt of resurrecting their vision of Kalisz as a truly Polish town, whereas the Germans wanted to rebuild the newly annexed town with reference to its prewar German influences. The final urban and architectural shape of central Kalisz turned out to be the sum of the knowledge, experience and creativity of the participants of a multi-stage design process.

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Sel ekt i ert e Verga nge nhe ite n Der Wiederaufbau Warschaus nach dem Zweiten Weltkrieg

Piotr Korduba

Auf einem der zentralen Plätze Warschaus, dem plac Trzech Krzyży (Platz der Drei Kreuze) stand einst die große St.-Alexander-Kirche (Abb. 1).1 Ursprünglich in einem klassizisierenden Stil gehalten, zeigte sie nach einer Erweiterung im ausgehenden 19. Jahrhundert überwiegend Formen der Neorenaissance. Die Kirche wurde während des Warschauer Aufstands im September 1944 fast vollständig zerstört und um das Jahr 1950 wiederaufgebaut. Doch handelte es sich weder um dieselbe Kirche, noch stand sie an ihrem alten Platz. Bei ihrer Wiederherstellung wählte man einen sehr viel kleineren Baukörper und die noble Gestalt des römischen Pantheons, die ihr der Architekt des ursprünglichen Bauwerks im frühen 19. Jahrhundert verliehen hatte (Abb. 2). Anstelle einiger zerstörter Mietshäuser an der Westseite des Platzes entstand ein monumentales modernes Regierungsgebäude, das die Einmündung der Wspólna-Straße verdeckte. Dieses Beispiel ist eines von vielen dafür, in welcher Weise Warschau nach dem Krieg neu aufgebaut wurde. Die Stadt wurde materiell zwar wiederhergestellt, dabei nahm man aber verschiedenste Korrekturen architektonischer und symbolischer Art vor – so auch auf dem plac Trzech Krzyży, wo Privathäuser im historistischen Stil durch ein repräsentatives öffentliches Gebäude ersetzt und ein allzu dominantes und ebenfalls historistisches Gotteshaus verkleinert und in eine akzeptable Dimension und Stilform gebracht wurden. Solche Maßnahmen resultierten aus einigen Bedingungen, unter denen sich der Wiederaufbau der polnischen Hauptstadt nach dem Krieg vollzog. Dazu gehörten der schiere Umfang der Zerstörungen – die Altstadt (Stare Miasto) war fast zu hundert Prozent, das linksufrige Warschau zu über achtzig Prozent betroffen – und die wichtige Rolle von Ideologie und Propaganda bei der Beseitigung der Ruinen und bei dem Wiederaufbau oder der Errichtung neuer Bauwerke sowie die praktischen Bedürfnisse der wiedererstehenden Stadt. Hinzu kam noch der Konflikt zwischen den sogenannten Konservatoren, die für den Wiederaufbau von Baudenkmälern zuständig waren, und den an der Errichtung der Stadt in neuen Formen arbeitenden Architekten. Dieser Beitrag wirft anhand einiger ausgewählter Beispiele Schlaglichter auf die Prinzipien

1 Majewski, Piotr: Ideologia i konserwacja. Architektura zabytkowa w Polsce w czasach socrealizmu [Ideologie und Konservierung. Baudenkmäler in Polen in Zeiten des Sozrealismus]. Warszawa 2009, S. 96–98; Majewski, Jerzy S./Markiewicz, Tomasz: Budujemy nowy dom. Odbudowa Warszawy w latach 1945–1952 [Wir bauen ein neues Haus. Der Wiederaufbau Warschaus in den Jahren 1945–1952]. Warszawa 2012, S. 60 f., 68 f.



Selektierte Vergangenheiten

Abb. 1  Warschau, St.-Alexander-Kirche auf dem plac Trzech Krzyży. Aufnahme vor 1939.

Abb. 2  Warschau, St.-Alexander-Kirche auf dem plac Trzech Krzyży. Aufnahme von 1955.

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und Ergebnisse dieses einzigartigen Wiederaufbaus, der bis heute starke Emotionen weckt und immer wieder kontrovers diskutiert wird.2

„Konservatoren“ gegen „Modernisierer“ Es ist zunächst festzuhalten, dass es bei dem singulären Ausmaß der Zerstörungen keineswegs ausgemacht war, Warschau wiederaufzubauen und wieder zur Hauptstadt zu machen.3 Diese Entscheidung fiel nur zögerlich, zumal die für die Mehrzahl der Einwohner und in den meisten Vierteln schlechten Lebensbedingungen im Warschau der Vorkriegszeit noch in lebhafter Erinnerung waren. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatten polnische avantgardistische Milieus und linksgerichtete Architekten einen kritischen Blick auf die zeitgenössische Stadt geworfen und Diskussionen über deren urbanistische Struktur, Bebauungsdichte und Bebauungstyp sowie über das Verhältnis zwischen Nutzbebauung und Baudenkmälern ausgelöst. Nach 1945 bot die in Trümmern liegende Stadt eine Chance zur Realisierung der damals diskutierten Konzepte.4 Ein offizieller Kurswechsel bezüglich der Wiederaufbaufrage vollzog sich aufgrund einer persönlichen Entscheidung Josef Stalins vom Januar 1945. Die Vorschläge der Befürworter des Wiederaufbaus waren jedoch sehr differenziert und kamen zu teilweise ausgesprochen radikalen Lösungen. Kazimierz Wyka, ein bekannter linker Intellektueller, Literaturkritiker und Historiker, schrieb dazu: „Heute müssen wir vor allem über die Zerstörung Warschaus reden. Nicht über die, welche die Deutschen begonnen haben, sondern die, welche wir selbst zu Ende bringen müssen. […] Die Stadtmitte muss vollständig abgerissen werden.“ Wyka folgerte, die Stadt sei von Grund auf neu aufzubauen.5 Auch Privatpersonen vertraten gegenüber den neuen Machthabern die Auffassung, für den Wiederaufbau der Stadt in ihrer alten Gestalt fehle jede Grundlage, wobei sie allerdings gelegentlich maßlose Visionen einer phantasmagorischen Metropole entwarfen.6 Es gab auch die Idee, besonders stark zerstörte Viertel wie die Altstadt als Mahnmal für alle Zeiten in Ruinen zu belassen. 2 Chmielewski, Jan. M./Szczypiorska, Monika: Czy Warszawa mogła być inaczej odbudowana – alternatywna historia miasta [Hätte Warschau anders wiederaufgebaut werden können – eine alternative Stadtgeschichte]. In: Kwartalnik Architektury i Urbanistyki 1 (2015), S. 5–27. 3 Dazu ausführlicher Tołwiński, Stanisław: Czy były wątpliwości co do budowy nowej Warszawy na dawnym miejscu [Gab es Zweifel am Bau des neuen Warschau an alter Stelle]? In: Warszawa stolica Polski Ludowej. Hg. v. Jan Górski. Bd. 2. Warszawa 1972, S. 45–53; Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 29–72. 4 Trybuś, Jarosław: Warszawa niezaistniała. Niezrealizowane projekty urbanistyczne i architektoniczne Warszawy dwudziestolecia międzywojennego [Das Warschau, das es nicht gab. Nicht realisierte stadtplanerische und architektonische Projekte für Warschau in der Zwischenkriegszeit]. Warszawa 2012. 5 „Dzisiaj należy mówić przede wszystkim o zburzeniu Warszawy. Nie tym, które rozpoczęli Niemcy, ale tym, które dokończyć musimy sami. […] Śródmieście musi być do szczętu zburzone.“ Zit. nach Bojarski, Artur: Z kilofem na kariatydę: jak nie odbudowano Warszawy [Mit der Spitzhacke gegen die Karyatide: wie Warschau nicht wiederaufgebaut wurde]. Warszawa 2013, S. 64. 6 Kochanowski, Jerzy: Balast przeszłości usunęła wojna … Rok 1945: trzy pomysły na odbudowę Warszawy [Den Ballast der Vergangenheit hat der Krieg beseitigt … Das Jahr 1945: drei Gedanken zum



Selektierte Vergangenheiten

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Ohne Anspruch auf statistische Genauigkeit lässt sich allerdings zumindest davon ausgehen, dass die meisten Experten den Wiederaufbau derjenigen Stellen befürworteten, die allgemein als historisch bedeutsam galten, etwa die Altstadt, die Kathedrale, das Königsschloss und das königliche Palais im Łazienkipark. Die unterschiedlichen Auffassungen entsprangen nicht nur Gefühlsregungen des Augenblicks, sondern waren in Fachkreisen bereits während des Kriegs entwickelt worden. Bereits im Dezember 1939 wurde die Kommission der Stadtplanungsexperten bei der Warschauer Stadtverwaltung (Komisja Rzeczoznawców Urbanistycznych przy Zarządzie Miejskim Warszawy) ins Leben gerufen, die sich mit sogenannten Zukunftsaufgaben befasste. Leiter war der Architekt Tadeusz Tołwiński, Sekretär der Architekt Jan Zachwatowicz, der nach dem Krieg zu einer Schlüsselfigur des Wiederaufbaus werden sollte. Die Kommission vertrat die Auffassung, dass die Erhaltung von Baudenkmälern Vorrang vor Wirtschaft und Verkehrsführung haben und der Denkmalschutz auch die Anpassung der baulichen Umgebung an die Baudenkmäler einbeziehen müsse.7 Einen anderen Standpunkt vertraten die Avantgardearchitekten, die bei der Arbeitsstelle für Architektur und Stadtplanung (Pracownia Architektoniczno-Urbanistyczna) der Gemeinnützigen Baugesellschaft (Społeczne Przedsiębiorstwo Budowlane) und der Warschauer Wohnungsgenossenschaft (Warszawska Spółdzielnia Mieszkaniowa) angesiedelt waren und die Richtlinien für den Wiederaufbau erarbeiteten. Dieser sollte auf einem völligen Umbau Warschaus basieren, bei dem die früheren Fehler der Stadtplanung beseitigt und zeitgemäße Ansprüche der Gesellschaft zu befriedigen waren.8 Diese beiden konkurrierenden Konzeptionen, die als Streit der „Konservatoren“ und der „Modernisierer“ bekannt werden sollten, bestimmten auch den Wiederaufbau Warschaus nach dem Krieg und prägen das heutige Aussehen der Stadt maßgeblich. Berücksichtigt man die Ursprünge der Auseinandersetzung, ist die allgemein verbreitete Auffassung infrage zu stellen, die sowjetischen Machthaber hätten den Polen beim Wiederaufbau eine „fremde Stadt“ oktroyiert. Der Wiederaufbau Warschaus wurde geplant und ausgeführt vom Büro für den Wiederaufbau der Hauptstadt (Biuro Odbudowy Stolicy, BOS).9 Diese Institution ging auf die bereits 1944 durch das Lubliner Komitee, also die von Moskau eingesetzte kommunistische Regierung, eingerichtete Abteilung für den Wiederaufbau unter Leitung von Józef Sigalin zurück. Sigalin hatte vor 1939 Architektur studiert und den Krieg in

Wiederaufbau Warschaus]. In: Zbudować Warszawę piękną … O nowy krajobraz stolicy (1944–1956). Hg. v. Dems., Piotr Majewski und Tomasz Markiewicz. Warszawa 2003, S. 11–24. 7 Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 23. 8 Ebd., S. 25; Sołtys, Maria: Zanim powstało Biuro Odbudowy Stolicy – odbudowa domów przy ulicy Nowy Świat po zniszczeniach 1939 roku [Bevor das Büro für den Wiederaufbau der Hauptstadt entstand – der Wiederaufbau der Häuser am Nowy Świat nach den Zerstörungen von 1939]. In: Archiwum Biura Odbudowy Stolicy. Hg. v. Jolanta Lewińska. Warszawa 2011, S. 15–25. 9 Ebd. Das Archiv des BOS ist zu finden im Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau (Archiwum Państwowe m. st. Warszawy).

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der UdSSR überdauert. Er galt als Gewährsmann des neuen Regimes.10 Einer der wichtigsten Berater Sigalins war der bereits erwähnte Zachwatowicz.11 Das BOS wurde offiziell im Februar 1945 gegründet, mit Roman Piotrowski, einem weiteren avantgardistischen Architekten der Vorkriegszeit, als Leiter und Sigalin als zweitem Mann. Hauptaufgaben des BOS waren die Anfertigung von Plänen und die Inventarisierung der erhaltenen Reste in der zerstörten Stadt. Im BOS arbeiteten annähernd 1500 Fachleute der verschiedensten Richtungen, darunter Architekten, Stadtplaner und Bauzeichner, aber auch Journalisten und Juristen, verteilt über die verschiedenen Abteilungen, etwa die an dieser Stelle wichtige Abteilung für Baudenkmäler (Wydział Architektury Zabytkowej). Auseinandersetzungen zwischen Konservatoren und Modernisierern wurden vor allem bei den Sitzungen der Hauptarbeitsstelle und der einzelnen Abteilungen des BOS ausgetragen. Die rechtliche Grundlage bildeten das Regierungsdekret über den Wiederaufbau Warschaus vom 28. Februar 1945, welches das BOS als Staatsorgan berief, sowie das Gesetz vom Juli 1947 über den Wiederaufbau Warschaus, das den Obersten Rat für den Wiederaufbau (Naczelna Rada Odbudowy) einsetzte und die Organisation des BOS umriss. Seither begann sich die politische Führung für den Wiederaufbau zu interessieren, auch wenn noch bis 1949 spürbare ideologische Einmischungen ausblieben. Ein Schlüsseldokument sowohl für den Wiederaufbau insgesamt als auch für private Investitionen war das sogenannte Bierut-Dekret vom 26. Oktober 1945, benannt nach Bolesław Bierut, dem vormaligen Präsidenten des Landesnationalrats (des nicht gewählten Parlaments) und dem späteren Präsidenten Polens. Das Dekret bestimmte, dass sämtliche Grundstücke innerhalb der Vorkriegsgrenzen Warschaus in den Besitz der Stadt übergingen. Die darauf befindlichen Gebäude sollten dagegen in den Händen der Eigentümer bleiben, wurden de facto aber auch übernommen. Dieser Rechtsakt symbolisierte nicht nur die sich im Land vollziehende soziale Revolution, sondern war auch von grundlegender Bedeutung für den Wiederaufbau Warschaus, der nun in keiner Weise mehr durch privaten Immobilienbesitz behindert wurde.12 Für die Arbeit des BOS war auch der Beschluss vom Juni 1947 zur Strategie des Wiederaufbaus wesentlich. Im sechsten Punkt war darin von der weiteren Sicherung und dem Wiederaufbau von historisch bedeutenden Objekten, Gebäudeensembles und Quartieren die Rede.13 In den beigelegten Anträgen verwies Zachwatowicz als Leiter der Abteilung für Baudenkmäler auf die Notwendigkeit, die Wiederherstellung histo10 Odbudowa Warszawy w latach 1944–1949. Wybór dokumentów i materiałów [Der Wiederaufbau Warschaus in den Jahren 1944–1949. Eine Auswahl von Dokumenten und Materialien]. Hg. v. Jan Górski. 2 Bde. Warszawa 1977; Sigalin, Józef: Warszawa 1944–1980. Z archiwum architekta [Warschau 1944–1980. Aus dem Archiv eines Architekten]. 3 Bde. Warszawa 1986. Zu diesem und zu anderen Planern des Wiederaufbaus vgl. Murawski, Michał: Kompleks pałacu. Życie społeczne stalinowskiego wieżowca w kapitalistycznej Warszawie [Der Palastkomplex. Ein stalinistisches Hochhaus im kapitalistischen Warschau]. Warszawa 2015, S. 48–56. 11 Jan Zachwatowicz 1900–1983. Architekt. Hg. v. Andrzej Rottermund. Warszawa 2013. 12 Bereits 1944 dachte Sigalin daran, die Eigentümerrechte beim Wiederaufbau zu beschränken: Sigalin (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 42. 13 Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 66 f.



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rischer Stadtviertel in die erste Etappe des Wiederaufbaus der Hauptstadt einzubeziehen, diese Vorhaben mit den Investitionsplänen für die technische Infrastruktur zu verbinden sowie die Institutionen dazu zu ermuntern, denkmalgeschützte Objekte oder Ensembles für ihre Zwecke zu adaptieren. Im selben Jahr wurde auch ein Zeitplan beschlossen.14 In der ersten Etappe bis 1949 sollte die Sicherung denkmalgeschützter Objekte abgeschlossen sein und die „Anregung der Privatinitiative“, vor allem für die Straßen Nowy Świat (Neue Welt), Krakowskie Przedmieście (Krakauer Vorstadt) oder Miodowa, erfolgen. In einer zweiten Etappe bis 1952 sollte der Wiederaufbau des größeren Teils von Altstadt und Neustadt (Nowe Miasto) stattfinden sowie des Viertels Mariensztat und des sogenannten sächsischen Viertels, zusammen mit dem Umfeld des königlichen Trakts, das heißt der Straßen Nowy Świat und Krakowskie Przedmieście. Die dritte Etappe sollte 1958 enden; bis zu diesem Jahr sollte der Wiederaufbau der historischen Viertel abgeschlossen sein.

Rekonstruktion als Konstruktion Der Wiederaufbau Warschaus wurde nicht nur in Regierung und staatlichen Institutionen diskutiert. Auch die Gesamtpolnische Konferenz der Kunsthistoriker (Ogólnopolska Konferencja Historyków Sztuki), die 1945 in Krakau (Kraków) stattfand, lieferte dazu reichliche Anregungen. Ihre Resolution unterstützte ausdrücklich den Wiederaufbau der Baudenkmäler mit der Begründung, dass diese von der Besatzungsmacht gezielt zerstört worden waren. Damit setzte sich die Haltung von Jan Zachwatowicz durch, die dieser in die vielfach zitierten Worte kleidete: „Mit Vorbedacht wurden ganze Seiten unserer Geschichte herausgerissen, die in der steinernen Sprache der Architektur geschrieben waren. Damit können wir uns nicht abfinden. Unser Verantwortungsgefühl gegenüber zukünftigen Generationen verlangt den Wiederaufbau dessen, was uns zerstört wurde, einen vollständigen Wiederaufbau, der sich der Tragik der damit begangenen konservatorischen Fälschung bewusst ist. Die Baudenkmäler sind nämlich nicht nur für Liebhaber vonnöten, sondern sie sind eindrückliche Geschichtsdokumente im Dienste der Massen.“15 In dieser wie in vielen anderen Äußerungen von Zachwatowicz ist ein soziales und patriotisches Missionsbewusstsein nicht zu überhören. Seiner Auffassung nach hoben die gegebenen historischen Umstände die denkmalpflegerische Doktrin auf, die in Anlehnung an Alois Riegls und Max Dvořáks Konzeptionen gebot, das Baudenkmal im vorgefundenen Zustand zu erhalten, ohne Restaurierung, ohne Entfernung 14 Ebd., S. 84. 15 „Z premedytacją wydarto całe stronice naszej historii, pisane kamiennymi zgłoskami architektury. Nie możemy się na to zgodzić. Poczucie odpowiedzialności wobec przyszłych pokoleń domaga się odbudowy tego, co nam zniszczono, odbudowy pełnej, świadomej tragizmu popełnionego fałszu konserwatorskiego. Zabytki bowiem nie są potrzebne wyłącznie dla smakoszów, ale są to sugestywne dokumenty historii w służbie mas.“ Zit. nach Zachwatowicz, Jan: Program i zasady konserwacji zabytków [Programm und Grundsätze der Konservierung von Baudenkmälern]. In: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury 8/1–2 (1946), S. 48–52, hier S. 52.

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überlagernder bauhistorischer Schichten und ohne Wiederherstellung des ursprünglichen Aussehens. Diese Anschauung wurde von der auch in der breiteren Gesellschaft verankerten Überzeugung gestützt, dass Objekte, die nicht älter als fünfzig Jahre sind, keinen Denkmalwert hätten. Diese Überzeugung wiederum fand in Konservatorenkreisen Unterstützung, die eine Aufbesserung der Denkmäler forderten, worunter unter anderem zu verstehen war, die im 19. Jahrhundert erfolgten Eingriffe zu beseitigen.16 Die Begründungen für den Wiederaufbau stützten sich demnach auf entgegengesetzte Auffassungen. Denn einerseits verlangte man die Wiederherstellung einer wie auch immer zu verstehenden städtischen Atmosphäre. Andererseits überging oder entfernte man den früheren sozialen – „feudalen“, aristokratischen und bourgeoisen – Kontext der rekonstruierten Baudenkmäler.17 Diese disparaten Kriterien machten aus dem Wiederaufbau ein Projekt, das weit über die materielle Wiederherstellung Warschaus und anderer polnischer Städte hinausging. Eine auf die Beseitigung unerwünschter Elemente abgestellte, selektive Rekonstruktion sollte das kulturelle Erbe im Dienste der Gesellschaft veranschaulichen, zugleich aber in der erwünschten Weise korrigieren. Denn im neuen geopolitischen Kontext nicht mehr akzeptable, etwa deutsche Überreste wie auch solche des vorangegangenen kapitalistischen Gesellschaftssystems, die mit der historistischen Architektur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts identifiziert wurden, sollten keinen Platz mehr haben. Diese Maßnahmen hatten nicht nur zum Ziel, die Kriegszerstörungen zu kompensieren und das neue Regime zu legitimieren, sondern auch eine sehr heterogene und nach dem Krieg vielfach zur Migration gezwungene Gesellschaft zu integrieren. Es wird zu zeigen sein, dass sich die dargelegten Kriterien für den Wiederaufbau umso mehr radikalisierten, je mehr die kommunistische Führung politisch die Zügel anzog, um eine homogene Gesellschaft zu schaffen, für die eine ebenso homogene kulturelle Tradition erfunden werden musste. Zu dieser gehörten bestimmte privilegierte Epochen wie Mittelalter und Frühe Neuzeit und privilegierte Stile wie Gotik, Renaissance und Klassizismus. Erste praktische Vorbereitungen für den Wiederaufbau waren Inventarisierung und vordringliche Sicherungsmaßnahmen in ganz Warschau, die im Februar 1945 begannen. Dazu wurden Bestandsaufnahmen der Baudenkmäler erstellt, die den aktuellen Zustand beschrieben und sie überdies bestimmten Bewertungskategorien zuordneten.18 So wurde zwischen Objekten unterschieden, die für die polnische Architektur wesentliche Bedeutung besaßen, solchen, die für die lokale Architektur wichtig waren, und schließlich weniger wichtigen Bauten, die nur wegen der stadträumlichen Situation Beachtung 16 Majewski, Jerzy S./Markiewicz, Tomasz: Warszawa nie odbudowana [Das nicht wiederaufgebaute Warschau]. Warszawa 1998; Bojarski (wie Anm. 5). 17 Żuchowski, Tadeusz J.: Der Wiederaufbau der Städte in Polen nach 1945. Denkmalpflege, Wiederherstellung oder Neubau? In: Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs. Hg. v. Robert Born, Alena Janatková und Adam S. Labuda. Berlin 2004, S. 448–470, hier S. 454. 18 Zadrożniak, Aleksandra/Aleksiejuk, Maciej: Rola i zadania Wydziału Inwentaryzacji i Statystyki Biura Odbudowy Stolicy [Rolle und Aufgaben der Abteilung für Inventarisierung und Statistik des Büros für den Wiederaufbau der Hauptstadt]. In: Archiwum (wie Anm. 8), S. 26–34.



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Abb. 3  Warschau, PancerViadukt in Richtung Krakowskie Przedmieście. Aufnahme vom Ende des 19. Jahrhunderts.

verdienten. Gleichzeitig wurden die Objekte nach ihrer bevorstehenden Behandlung klassifiziert; dabei gab es sechs Kategorien, von der Erhaltung im gegenwärtigen Zustand (Konservierung) bis zum Abriss. Parallel zu diesen offiziellen Maßnahmen wurde in geringem Umfang auch von privaten Hausbesitzern ein Wiederaufbau betrieben. Diese ließen sich von anfänglichen Regierungsversprechen motivieren, die Privatinitiative zu unterstützen.19 Das erste umfassende Unternehmen von auch propagandistischer Bedeutung, über das Bierut persönlich die Schirmherrschaft übernahm, war der 1947 begonnene Bau der Ost-West-Trasse (Trasa W-Z), einer Verkehrsverbindung zwischen der ŚląskoDąbrowski-Brücke über die Weichsel und der Stadtmitte, die in der Nähe der Altstadt und des Königsschlosses durch einen Tunnel verläuft.20 Die Idee dazu stammte aus der Vorkriegszeit, und auch nach dem Krieg galt sie als wichtig zur Belebung dieses Teils der Stadt. Diese Baumaßnahme betraf zwar keine Baudenkmäler direkt, entschied aber mit über deren Schicksal und offenbarte auch erstmals im großen Stil die Kompetenzstreitigkeiten und kollidierenden Konzepte beim Wiederaufbau Warschaus. Vor allem wurde der Plan fallengelassen, die Trasse über den teilweise erhaltenen Pancer-Viadukt zu führen; stattdessen sollte die Tunnelvariante realisiert werden, und zwar in einer Version, die in die vorhandene räumlich-bauliche Situation eingreifen würde (Abb. 3). Eine Tunnelbohrung hätte es erlaubt, die darüber befindlichen Überreste der denkmalgeschützten Bebauung zu erhalten, und genau dies war die Forderung der Konservatoren. Dies war jedoch eine kostspieligere und zeitraubende Lösung, der gegenüber die Planer und Behörden die schnellere und preiswertere vorzogen, nämlich einen offenen Tunnelbau, der den Abriss der baulichen Überreste erforderte, die nach Fertigstellung des Tunnels zum Teil wiederaufgebaut wurden (Abb. 4). Im selben Zusammenhang 19 Markiewicz, Tomasz: Prywatna odbudowa Warszawy [Der private Wiederaufbau Warschaus]. In: Zbudować Warszawę piękną … (wie Anm. 6), S. 213–259. 20 Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 90–93.

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Piotr Korduba Abb. 4  Warschau, Ost-West-Trasse in Richtung Krakowskie Przedmieście. Aufnahme von Zygmunt Wdowiński, 1951.

Abb. 5  Warschau, Nowy Świat. Aufnahme von Henryk Poddębski, 1930.



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wurde auch die Auseinandersetzung um das auf der Streckenführung gelegene RadziwiłłPalais geführt. Entgegen dem Vorschlag, es abzureißen, entschied man sich für die Erhaltung; letztlich wurde es wiederaufgebaut, jedoch mit zwei sehr stark befahrenen Straßen flankiert, sodass die einstige Adelsresidenz ihren ursprünglichen stadträumlichen Kontext verlor. Auseinandersetzungen dieser Art wurden immer wieder in aller Öffentlichkeit geführt und durch Kompromisse beendet. Sie offenbarten die Spannungen zwischen den Konservatoren, die sich im Allgemeinen für den Erhalt oder den Wiederaufbau von zerstörten Denkmälern einsetzten, und den Architekten, die im Denkmalschutz des Öfteren ein Hindernis für den Wiederaufbau sahen. 1948 wurden zwei weitere Großprojekte in Angriff genommen, nämlich der Wiederaufbau der ineinander übergehenden Straßen Krakowskie Przedmieście und Nowy Świat, die den größten Abschnitt des sogenannten Königstrakts bilden. Diese beiden Straßen hatten vor der Zerstörung eine heterogene Bebauung besessen, zu der am Krakowskie Przedmieście frühneuzeitliche Kirchen und Palais, kleinere, zweistöckige Wohnhäuser aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und eine weniger zahlreiche, mehrstöckige Bebauung von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert gehörten (Abb. 5). Beim Wiederaufbau wurde beschlossen, die Höhe der Vorderfassaden anzugleichen, indem man die Wohngebäude auf zwei Stockwerke beschränkte. Dabei griff man unter anderem auf Fotografien von Karl Adolf Beyer und Konrad Brandel aus der Zeit um 1870 zurück.21 Beim Wiederaufbau des Krakowskie Przedmieście wurden auch Veduten des Bernardo Bellotto, genannt Canaletto (1721‒1780) benutzt.22 Motive und die nahezu protofotografische Technik dieses Künstlers machten seine Bilder zu einer unentbehrlichen Bildquelle für die Entwürfe zum Wiederaufbau, auch wenn klar war, dass Canaletto regelmäßig die Ansichten malerisch geschönt hatte.23 Schließlich wurde das Krakowskie Przedmieście im Stil des ausgehenden 18. Jahrhunderts neu aufgebaut, der Nowy Świat dagegen in der nach 1945 besonders geschätzten klassizistischen Ästhetik (Abb. 6).24 In diesem Fall hieß es ganz offen, es gehe um den „Wiederaufbau einer städtischen Atmosphäre“ und nicht um Baudenkmäler. Dafür wurden folgende Regeln festgelegt: „Spätere Zusätze und Verunstaltungen, die besonders auffällig gerade in den Erdgeschossen erhaltener Fassaden auftreten, werden entfernt; die Fassaden der übrigen Gebäude werden mit denen von Baudenkmälern harmonisiert. […] Es ist erlaubt, von einer denkmalgeschützten Fassade Proportionen und Fensterabstände zu übernehmen, es ist erlaubt, die allgemeine Flächengliederung zu übernehmen, nicht dagegen dekorativ-konstruktive oder rein dekorative Bestandteile […].“25 Die an dieser Arbeit 21 Bojarski (wie Anm. 5), S. 66. 22 Rizzi, Alberto: Warschauer Veduten. München 1991. 23 Omilanowska, Małgorzata: Views of Warsaw by Bernardo Bellotto called Canaletto and their Role in the Reconstructions of Warsaw’s Monuments. In: Vana Tallin 21 (2010), S. 118–136. 24 Der Klassizismus wurde in der Presse damals als ein für Warschau charakteristischer Stil ausgegeben, so besonders in den frühen fünfziger Jahren in der Zeitschrift „Stolica. Tygodniowa Kronika Budowy Warszawy“ (Die Hauptstadt. Wochenchronik des Baus von Warschau). 25 „Późniejsze naleciałości i zniekształcenia, które jaskrawo zwłaszcza występują w partiach parterowych ocalałych elewacji będą usunięte; elewacje pozostałych budynków będę zharmonizowane z elewacjami

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Abb. 6  Warschau, Nowy Świat. Aufnahme von 1960.

beteiligten Architekten schrieben, die „Säuberung“ (wyczyszczenie) der Warschauer Haupttrasse sei sehr vorteilhaft, da doch die aus dem 19. und 20. Jahrhundert stammenden baulichen Veränderungen ihren ursprünglichen Charme verdorben hätten.26

In nationaler Form Das Jahr 1949 brachte einen Richtungswechsel beim Wiederaufbau und zugleich bei dessen ideologischer Auslegung, der die politischen Rahmenbedingungen verschärfte. Den Umbruch markierte die Landesparteiversammlung der Architekten (Krajowa Partyjna Narada Architektów), die im Juni 1949 im Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) stattfand. Diese zabytkowymi. […] Z zabytkowej elewacji wolno powtórzyć proporcję okien i ich rozstawienie, wolno powtórzyć ogólne rozczłonkowanie płaszczyzn, nie należy natomiast powtarzać elementów dekora­ cyjno-konstrukcyjnych i czysto dekoracyjnych […].“ Zit. nach Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 83, siehe auch S. 303. 26 Majewski/Markiewicz (wie Anm. 16), S. 25.



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machte den Sozialistischen Realismus auch für die Architektur verbindlich und erklärte die bisherigen Arbeiten am Wiederaufbau für unsachgemäß.27 Auf der Versammlung kamen verschiedene Auffassungen von der Bedeutung der zeitgenössischen Architektur für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Staats zum Ausdruck; davon hatten zwei unmittelbare Relevanz für den Wiederaufbau Warschaus. Einerseits galt der Grundsatz, auf die besten Vorbilder der historischen Architektur zurückzugreifen, andererseits wurden Baudenkmäler auf ihre Formen reduziert, indem man möglichst große Distanz zu ihrer ursprünglichen Funktion und symbolischen Bedeutung, sei es als Kirche oder als Adelspalais, postulierte. Das „Milieu der Konservatoren“ wurde expliziter Kritik unterzogen; anstelle seiner Ideen solle eine stärkere Verbindung von historischen und modernen Teilen der Stadt hergestellt werden. Einer der Exponenten der neuen Orientierung war der Architekt Edmund Goldzamt. Dieser führte ganz im Stil der neuen Zeit aus: „Die Situierung des gesellschaftlichen Zentrums der sozialistischen Hauptstadt in den zentralen historischen Voraussetzungen bedeutet die Notwendigkeit nicht der Restaurierung, sondern ihrer gründlichen Rekonstruktion in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Funktionierens einer zeitgenössischen sozialistischen Hauptstadt (Erweiterung von Plätzen und Verkehrsadern, Abriss weniger wertvoller Häuserblöcke, Ergänzung historischer Ensembles durch neue Gebäude).“28 Bierut griff am 3. Juli 1949 das Grundprinzip dieser Bestimmungen auf, womit die Dominanz des Sozrealismus in der polnischen Architektur auch offiziell eingeläutet war.29 1951 erschien der aufwendige und für die damaligen Verhältnisse geradezu luxuriös aufgemachte Bildband „Der Sechsjahrplan für den Wiederaufbau Warschaus“, der zerstörte oder im Vorkriegszustand unattraktive Stadtviertel auswies und spektakuläre Entwürfe für ihren Wiederaufbau vorstellte.30 Die sozrealistische Doktrin wurde in Polen für die Architektur nie detailliert ausgearbeitet. Nach der Auffassung Piotr Majewskis zeigte sie sich beim Denkmalschutz in einer Art kreativer „Denkmalschaffung“ (zabytkotwórstwo), das heißt der Denkmalschützer drückte dem historischen Bauwerk beim Wiederaufbau seinen ganz persönli27 O polską architekturę socjalistyczną. Materiały z Krajowej Partyjnej Narady Architektów odbytej w dniu 20–21 VI 1949 r. w Warszawie [Um eine polnische sozialistische Architektur. Materialien der Landesparteiversammlung der Architekten vom 20.–21. Juni 1949 in Warschau]. Warszawa 1950; Baraniewski, Waldemar: Ideologia w architekturze Warszawy okresu realizmu socjalistycznego [Ideologie in der Warschauer Architektur der Zeit des sozialistischen Realismus]. In: Rocznik Historii Sztuki 22 (1996), S. 231–260; Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 117–120. 28 „Sytuowanie ośrodka społecznego socjalistycznej stolicy w historycznych założeniach centralnych oznacza konieczność nie restauracji, lecz gruntowanej ich rekonstrukcji zgodnie z wymogami funkcjonowania współczesnej stolicy socjalistycznej (rozszerzenie placów i arterii, wyburzenie mniej wartościowych bloków, uzupełnianie historycznych zespołów przez nowe gmachy).“ Zit. nach Majewski/ Markiewicz (wie Anm. 16), S. 27. 29 Baraniewski, Waldemar: Wizja lepszego miasta [Die Vision von der besseren Stadt]. In: De Gustibus. Studia ofiarowane przez przyjaciół Tadeuszowi Stefanowi Jaroszewskiemu z okazji 65. rocznicy urodzin. Hg. v. Robert Pasieczny und Antoni Ziemba. Warszawa 1996, S. 121–127. 30 Bierut, Bolesław: Sześcioletni plan odbudowy Warszawy [Der Sechsjahrplan für den Wiederaufbau Warschaus]. Warszawa 1951.

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chen Stempel auf.31 Jenseits formaler Argumente wurde dieser Ansatz damit gerechtfertigt, dass die Denkmäler in das moderne Leben zu integrieren und an neue Nutzungsanforderungen zu adaptieren waren sowie ihre ursprüngliche, beispielsweise repräsentative oder sakrale Symbolik neutralisiert werden musste. Dabei wurden bestimmte historische Epochen anderen unverkennbar vorgezogen, so die Renaissance und die Aufklärung, was selbstverständlich einen Niederschlag in der Auswahl der Stilelemente für die Rekonstruktion fand.32 Die Renaissance wurde als Ästhetik des zivilisatorischen Umbruchs gedeutet, wie er sich im „goldenen“ 16. Jahrhundert vollzogen habe, der ideologisch-politisch nicht anrüchige, nämlich italienische (und keineswegs deutsche) Wurzeln, zugleich aber im Sinne einer volkstümlichen Heimatverbundenheit eine bestimmte lokale Ausprägung gefunden habe. In diesem Geist entstand in Polen damals eine Anzahl von Studien zur Renaissance, die penetrant den lokalen Ursprung bestimmter Architekturelemente wie etwa der „polnischen Attika“ behaupteten. Sozrealistische Neubauten wurden in Variationen dieser dekorativen Dachbekrönung eingekleidet, und innenarchitektonisch suchte man die Anlehnung an die Renaissancegemächer des Königsschlosses auf dem Krakauer Wawel. Im Klassizismus hingegen wurde der letzte realistische Stil gesehen, und seine Neigung zur Monumentalität wurde in den neuen Bauaufgaben noch stärker betont. Auch bei den Planungen richtete sich der Blick auf das Monumentale, das in Kategorien ganzer Gebäudekomplexe oder Stadtteile angegangen wurde, wobei die tatsächlichen Bedürfnisse der prospektiven Bewohner und die menschliche Dimension der Raumnutzung die allergeringste Rolle spielten.33 Nicht der Alltag der Menschen lag diesen raumgreifenden Entwürfen zugrunde, sondern die „Massenmanifestation des arbeitenden Volks“. In dieser politisch-ideologischen Atmosphäre fielen die wichtigsten Entscheidungen zum Wiederaufbau. Der bedeutsamste Teil des Wiederaufbaus Warschaus und bis heute dessen Symbol schlechthin war in dieser Zeit die Altstadt.34 Dieser Stadtteil umfasst 44 Hektar und war vor seiner Zerstörung dicht bebaut, stark vernachlässigt und galt keineswegs als 31 Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 139. 32 Torbus, Tomasz: Die Rezeption der Renaissance im Nachkriegspolen – die Suche nach einem Nationalstil. In: Hansestadt – Residenz – Industriestandort. Hg. v. Beate Störtkuhl. München 2002, S. 313– 325; Bartetzky, Arnold: Auf der Suche nach der nationalen Form. Zur Architektur der Stalinzeit in der DDR und in Polen. In: Nation – Style – Modernism. Hg. v. Jacek Purchla, Wolf Tegethoff und Christian Fuhrmeister. Kraków-München 2006, S. 323–343; Ders.: Die korrigierte Geschichte. Nationalstil und Nationalerbe in der polnischen Architektur und Denkmalpflege vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen seit 1939. Hg. v. Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Dietmar Popp. Warszawa 2009, S. 123–146. 33 Majewski/Markiewicz (wie Anm. 16), S. 26. – Bartetzky, Arnold: Stadtplanung als Glücksverheißung. Die Propaganda für den Wiederaufbau Warschaus und Ost-Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Dems., Alfrun Kliems und Marina Dmitrieva. Berlin 2009, S. 51–80. 34 Rymaszewski, Bohdan: Kryteria odbudowy Starego Miasta w Warszawie [Kriterien für den Wieder­ aufbau der Altstadt in Warschau]. In: Kronika Warszawy 5 (2000), S. 31–39; Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 192–203.



Selektierte Vergangenheiten

Abb. 7  Warschau, Altstadtmarkt. Aufnahme von Maurycy Pusch, ca. 1890.

Abb. 8  Warschau, Altstadtmarkt nach dem Wiederaufbau. Aufnahme von Edmund Kupiecki, 1953.

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Abb. 9  Warschau, Altstadtmarkt, Ostseite. Aufnahme von 1950.

bevorzugte Wohnadresse. Doch schon vor dem Krieg war der historische Wert dieses ältesten Teils von Warschau anerkannt und veranlasste erste Versuche seiner Revitalisierung (Abb. 7).35 Von 500 Gebäuden überstanden gerade einmal sieben Häuser den Krieg. Am besten waren die Keller erhalten, anhand derer die Grundrisse rekonstruiert werden konnten. Die städtische Bebauungsstruktur sollte beibehalten, und sämtliche großen Baudenkmäler wie die Kirchen und natürlich das Königsschloss sollten wiedererrichtet werden. Beim Wiederaufbau sollten vor allem die äußeren Baukörper der Häuser wiederentstehen, jedoch ohne Hintergebäude und nachträgliche Anbauten (Abb. 8). Die Häuser wurden möglichst auf Grundlage der ältesten Dokumentation rekonstruiert, das heißt de facto nach den Bauformen des 18. Jahrhunderts. Der Stadtteil sollte als Wohnviertel dienen und alle modernen technischen Infrastruktureinrichtungen besitzen. Diese Zweckbestimmung zwang die Planer, die Anforderung des 35 Zwierz, Krzysztof: Zapomnienie i uznanie. Zmienne losy rynku i dzielnicy staromiejskiej w Warszawie na tle procesów modernizacyjnych do roku 1939 [Vergessen und Anerkennung. Die wechselhaften Schicksale des altstädtischen Markts und Viertels in Warschau vor dem Hintergrund von Modernisierungsprozessen bis 1939]. In: Almanach Warszawy 8 (2014), S. 117–150.



Selektierte Vergangenheiten

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standardisierten modernen Bauens und der Einrichtung möglichst vieler Wohnungen mit der Wiederherstellung der historischen Baukörper in Einklang zu bringen. Die Pläne dazu entstanden in der Arbeitsstelle Altstadt des Zentralen Planungsbüros (Pracownia Staromiejska Centralnego Biura Projektów), und zumindest am Anfang wurden die Arbeiten von dem bereits mehrfach genannten Zachwatowicz geleitet. Auch diesmal ging es nicht ohne Streitigkeiten und Kompromisse ab. Ein solcher Kompromiss war der Verzicht auf den Wiederaufbau des aus dem frühen 19. Jahrhundert stammenden Rathauses. Zum Ausgleich dafür wurde die Ostseite des Altstadtmarkts wieder aufgebaut, die zuvor zur Disposition gestanden hatte, da sie den Blick auf die Weichsel verstelle. Der Überlieferung nach sollen die Konservatoren den Wiederaufbau dieser Abb. 10  Warschau, Johanneskathedrale. Häuserreihe mit einer List sichergestellt Aufnahme von 1939. haben, indem sie in aller Eile die Fassaden bis Erdgeschosshöhe wiederherstellten, die Parteichef Bierut bei einer Besichtigung vorgeführt wurden (Abb. 9). Die in der Altstadt ausgeführten Arbeiten wurden regelmäßig von den Parteiorganen kontrolliert und die von den Planern vorgelegten Entwürfe auf deren Sitzungen begutachtet. Die Kommentare zu den Entwürfen geben den besten Einblick in das damals zwischen Konservatoren und Behörden bestehende Verhältnis und legen die eigentliche Absicht der Unternehmung offen: „Hier in der Altstadt kann man viel Romantik zulassen […]“; „den Marktplatz so einrichten, dass man sich die finstere Stimmung des Mittelalters vorstellt“; „die Wand ist finster, man muss sie schmücken – vielleicht ein Erker? Vielleicht ein großes Fenster mit verziertem Gitter?“36 Bei Gelegenheit wurde auch gleich das Programm des Fassadendekors korrigiert, in der Regel mittels Säkularisierung der Darstellungen.37 Die Fassaden wurden auch mit farbigen Wandmalereien ausgestaltet, die rein dekorativ waren oder auch irgendwie Bezug auf die Architektur nahmen. Zu den wiedererrichteten Gebäuden 36 Zitiert nach Tomaszewski, Andrzej: Legende und Wirklichkeit: Der Wiederaufbau Warschaus. In: Die Schleifung: Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen. Hg. v. Dieter Bingen und Hans-Martin Hinz. Wiesbaden 2005, S. 165–173, hier S. 168. 37 Majewski/Markiewicz (wie Anm. 16), S. 136.

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Abb. 11  Warschau, Johanneskathedrale, Wiederaufbau. Aufnahme von Alfred Funkiewicz, 1949.

der Altstadt zählte auch die Johanneskathedrale, die durch einen Umbau aus den Jahren 1836‒1848 und spätere Veränderungen neogotisch gestaltet war, bevor sie zerstört wurde (Abb. 10). Der Wiederaufbau rekonstruierte den Zustand vor diesen Veränderungen, zudem wurde ein neuer, historisierender Giebel entworfen, der in Ermangelung historischer Vorlagen einzig der Phantasie der Planer Wacław Podlewski und Jan Zachwatowicz entsprang (Abb. 11). Entgegen den Propagandaverlautbarungen war also der Wiederaufbau der Altstadt nicht gerade von wissenschaftlicher Akribie geprägt. Die Kommission zur Erforschung des Alten Warschau (Komisja Badań Dawnej Warszawy) wurde erst 1952 berufen, also als der Wiederaufbau bereits im vollen Gange war, und aus ökonomischen wie besonders auch aus ideologischen Gründen dachte niemand daran, diesen zu unterbrechen. Die Arbeitsergebnisse der Kommission wurden lediglich bei der Rekonstruktion der Wehranlagen herangezogen. Entgegen der allgemeinen Propaganda wurde die Altstadt auch nicht zu einem Arbeiterviertel. Viele Wohnungen und Ateliers erhielten damals Angehörige der freien Berufe, vielfach Künstler und Kulturschaffende. Ihre anspruchsvoll, auf eigene Weise sogar luxuriös eingerichteten Wohnungen wurden seit den 1960er Jahren in der auflagenstarken Zeitschrift „Ty i Ja“ (Du und ich) dokumentiert und beschrieben.38 Heute gilt es allgemein als Tatsache, dass 38 Korduba, Piotr: Die Wohnung im Nachkriegspolen. Eroberung des privaten Raums – oder nichts? In: Arena, Agens, Projektionsraum. Die Künste in Zeiten politischer Zäsuren und gesellschaftlicher Trans-



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Abb. 12  Warschau, Palast der Kultur und Wissenschaft. Aufnahme um 1960.

der Wiederaufbau der Altstadt wenig mit ihrer Rekonstruktion zu tun hatte. Denn erstens wurden bei den Arbeiten aus verschiedenen Gründen viele noch erhaltene Details zerstört oder entfernt. Zweitens wurden sämtliche baulichen Überlagerungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert ignoriert, um einen Zustand zu kreieren, der so eigentlich niemals existiert hatte. Dennoch wurde mit Blick auf die Vollständigkeit und Einzigartigkeit dieses Unternehmens die Warschauer Altstadt im Jahr 1980 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen.

formation. Hg. v. Katja Bernhardt, Aleksandra Lipińska und Michaela Marek [in Vorbereitung zum Druck].

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Piotr Korduba Abb. 13  Warschau, sogenannte MarszałkowskaParterrestraße. Aufnahme von Edward Falkowski, nach 1945.

Der auch im Wortsinn dominanteste sozrealistische Eingriff in die Stadt ist der Palast der Kultur und Wissenschaft (Pałac Kultury i Nauki, PKiN), der eine Grundfläche von 3,3 Hektar hat und 230 Meter hoch ist (Abb. 12).39 Den Vorschlag dafür unterbreitete 1951 der sowjetische Außenminister Vjačeslav Molotov, und in den Jahren 1952–1955 wurde der Bau nach Plänen des sowjetischen sozrealistischen Architekten Lev Rudnev in Anlehnung an die in Moskau gebauten Hochhäuser errichtet. Das Architektenteam machte sich zur Vorbereitung auf die Entwurfsarbeit mit ausgewählten Denkmälern der polnischen Architektur vor allem in Masowien und Kleinpolen vertraut, und auf dieser Wissensgrundlage sollte ein „national polnisches“ Bauwerk entstehen. Der Kulturpalast ersetzte einige Karrees mit dichter Bebauung, die bis 1944 das Handels- und Dienstleistungszentrum Warschaus gebildet hatten, und er markierte das neue Stadtzentrum. Zeitgenössische Äußerungen zu dem Projekt sprachen in aufdringlicher, propagandistischer Manier von der Umgestaltung des einstmals königlichen, bürgerlichen, bourgeoisen oder kapitalistischen Warschau in eine sozialistische Stadt. Heute erscheinen zwar der Bau des Kulturpalasts und der Wiederaufbau der Altstadt als zwei separate Unternehmungen, doch damals wurden sie hingestellt als Ausdruck der gelungenen Verbindung des modernen und des historischen Warschau.40 39 Rokicki, Konrad: Kłopotliwy dar: Pałac Kultury i Nauki [Das problematische Geschenk: Der Palast für Kultur und Wissenschaft]. In: Zbudować Warszawę piękną … (wie Anm. 6), S. 97–211; Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 134–136; Zieliński, Jarosław: Pałac Kultury i Nauki [Der Palast für Kultur und Wissenschaft]. Warszawa 2012. – In jüngster Zeit sind mehrere Arbeiten zum PKiN erschienen, die meist die Errichtung und spätere Aneignung durch die Warschauer objektiv behandeln: Baraniewski, Waldemar: Pałac w Warszawie [Der Palast in Warschau]. Warszawa 2014; Murawski (wie Anm. 10). – Daneben gibt es einige Arbeiten, die einen nostalgischen Blick auf das verlorene alte Warschau werfen: Stopa, Magdalena: Przed wojną i pałacem [Vor Krieg und Palast]. Warszawa 2015. 40 Murawski (wie Anm. 10), S. 68.



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Abb. 14  Warschau, Wohnviertel MDM. Aufnahme von Zbyszko Siemaszko, 1952.

Stadtplanerisch ist nach wie vor das Marszałkowska-Wohnviertel (Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa, MDM) die umfangreichste Hinterlassenschaft des Sozrealismus.41 Die Entscheidung für dieses gigantische Bauvorhaben war eine durch und durch politische. Sie hatte den Zweck, die Marszałkowska-Straße – einstmals die lebendige Handelsader Warschaus, nach dem Krieg eine Straße mit Kramläden zu ebener Erde (Abb. 13) – in ein repräsentatives Arbeiterviertel umzuwandeln. Gleichzeitig mit der MDM entstanden die ersten großen und eleganten staatlichen Geschäfte, die im Wortsinn und symbolisch die nach dem Krieg spontan wiederentstandenen privaten Läden und kleinen Dienstleister verdrängten. Das erforderte den Abriss der repräsentativen Häuser aus der Zeit um 1900, die mehr oder weniger zerstört waren. Investor war der Betrieb für Arbeitersiedlungsbau (Zakład Osiedli Robotniczych), und das mit den Planungen betraute Team war dasselbe, das bereits an der Ost-West-Trasse arbeitete. Bestandteil der Planungen war die Anlage eines weitläufigen Platzes für Demonstrationen und Umzüge zu den Nationalfeiertagen. Das Viertel besteht aus einigen monumentalen Wohnblöcken längs der Marszałkowska-Straße, der Achse der Anlage, die sich zum plac Konstytucji (Platz der Verfassung) erweitert (Abb. 14). Gegen die herrschende Architekturdoktrin griff der leitende Architekt Zygmunt Stępiński bei den Entwürfen für die MDM auf den neoklassizistischen Stil der Wende des 19. zum 20. Jahr41 Zieliński, Jarosław: Realizm socjalistyczny w Warszawie [Der sozialistische Realismus in Warschau]. Warszawa 2009, S. 77 f.; Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 136 f.; Obarska, Martyna: MDM – między utopią a codziennością [Die MDM zwischen Utopie und Alltag]. Warszawa 2010; Baraniewski, Waldemar: Architektura Warszawy w czasach stalinowskich. Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa: symboliczny kamuflaż [Die Architektur Warschaus in stalinistischer Zeit. Das Marszałkowska-Wohnviertel: eine symbolische Camouflage]. In: Kwartalnik Architektury i Urbanistyki 55/3 (2010), S. 49–73; MDM – KMA Warszawa – Warschau: das architektonische Erbe des Realsozialismus in Warschau = architektoniczna spuścizna socrealizmu w Warszawie = The architectural legacy of socialist realism in Warsaw. Hg. v. Monika Kapa-Cichocka. Warszawa 2011.

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Piotr Korduba Abb. 15  Warschau, Marszałkowska-Straße in Richtung Erlöserkirche. Aufnahme von Edward Falkowski, nach 1945.

hundert, also auf Formen aus einer vermeintlichen Dekadenzperiode, zurück. Dahinter standen gleichermaßen ideologische wie praktische Gründe. Denn einerseits war der Klassizismus bereits seit den 1930er Jahren in der sowjetischen Architektur ein bevorzugtes Vorbild, und weil auch in der Warschauer Baukunst des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts der Klassizismus vorgeherrscht hatte, hätte man diesen als nationalen Stil ausgeben können. Andererseits rührte dessen Rezeption auf dem Umweg über den Neoklassizismus daher, dass sich nur in letzterem lokale Vorbilder für eine großstädtische und monumentale Bauweise fanden, wie sie bei der MDM zugrunde gelegt wurden. Die vage ausformulierte Doktrin des architektonischen Sozrealismus brachte es mit sich, dass über die Wirkung der Bauten weniger der Architekturstil selbst als ihre Größe und steinerne Massivität entschieden. Bei der Planung des Viertels stellten sich ebenso stadtplanerische wie ideologische Probleme ein.42 Zu den letzteren gehörte die an der Achse der Marszałkowska-Straße am plac Zbawiciela (Erlöserplatz) befindliche, nur wenig beschädigte Erlöserkirche 42 Baraniewski (wie Anm. 41).



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(Abb. 15). Die Schwierigkeit bestand darin, wie dieses unzerstörte Objekt zu erhalten, aber doch die ideologisch unerwünschte Präsenz zu neutralisieren war. Allen Ernstes wurde diskutiert, am Südende des plac Konstytucji drei monumentale Denkmäler aufzustellen oder aber ein Hochhaus als vertikalen Akzent aufzuführen, das die Kirchtürme verdecken sollte. Schließlich entschied man sich für eine relativ neutrale Lösung in Gestalt von überdimensionierten mehrarmigen Straßenlaternen. Eine reiche Skulpturenausstattung, die für den architektonischen Sozrealismus ganz typisch war, sollte die Propagandazwecke der MDM unterstützen. Aber auch in diesem Fall blieb die Umsetzung der ideologischen Strategie doch eher halbherzig. Skulpturale Dekorationen wurden nur in den Seitenstraßen angebracht, und ihr Programm ist alles andere als kohärent. Es gab das von der Innenstadt Besitz ergreifende „Volk“ personifizierende Darstellungen, darunter Bergmann, Stahlwerker, Bauer und dergleichen; daneben gab es auch im Ausdruck idyllische und in der Form neobarocke figurale Gruppen, welche die vier Jahreszeiten und die Musik vorstellten. Die in der Aussage stärksten Darstellungen waren autoreferenziell: Eröffnung der MDM, Beratung der Architekten, Bau der MDM. Eine Verlängerung der MDM in deutlich leichterer Form und ohne propagandistische Aufladung ist die ziemlich gelungene Gestaltung des kreisrunden plac Zbawiciela mit seinen Säulengängen. Die MDM sollte zwar einen Umbruch in der architektonischen Aussage markieren, dennoch gibt es in der Gestaltung des Viertels keine klare ideelle Aussage.43 Dieses Viertel, gedacht als ein im Verhältnis zur übrigen Stadt geradezu aggressives städtebaulich-architektonisches Unternehmen, ist in Wahrheit in seiner Symbolik eher zurückhaltend. Auch hier ist bezeichnend, dass es nie wirklich als Arbeiterquartier gedient hat. Von den ersten 150 fertiggestellten Wohnungen wurden nur dreißig an Arbeiter übergeben, die übrigen gingen an andere Beschäftigte, darunter besonders solche in leitenden Positionen.

Der letzte Akkord Zum Abschluss ist nochmals auf den Wiederaufbau des Königsschlosses zurückzukommen, der zwar erst lange nach Kriegsende erfolgte, aber bis zu diesem Zeitpunkt bereits Gegenstand endloser Diskussionen gewesen war.44 Als Symbol der polnischen Souveränität wurde das Schloss bereits im September 1939 schwer beschädigt und schließlich während des Warschauer Aufstands 1944 in die Luft gesprengt. Der größte Teil der Schlossausstattung wurde geraubt, nur wenige Teile konnten gerettet und im Nationalmuseum in Warschau aufbewahrt werden. Das Schloss galt zwar als Bestandteil der wiederherzustellenden Altstadt, aber mit dem Aufkommen des Sozrealismus und der Kritik an ideologisch missliebigen Denkmälern wurde sein Wiederaufbau immer zwei43 Ebd., S. 62. 44 Majewski, Ideologia i konserwacja (wie Anm. 1), S. 158–192; Ders.: Ideologie und Denkmalpflege. Der Wiederaufbau des Warschauer Königsschlosses 1944–1980. In: Die Schleifung (wie Anm. 36), S. 107–116.

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felhafter. Die Konservatoren vertraten gegenüber den Behörden die Notwendigkeit des Wiederaufbaus, und zwar weniger mit dem Hinweis auf die vormalige Königsresidenz, als um darin ein Museum der Polnischen Kultur unterzubringen. Unter dieser Maßgabe war vorwiegend daran gedacht, die Außenfassaden zu rekonstruieren, während die Innenräume an die neue Nutzung angepasst werden sollten. Wenn auch das Politbüro sich im Juni 1949 der Grundidee anschloss, dann doch mit der entscheidenden Änderung, dass das Bauwerk Sitz der Staatsführung werden sollte. 1950 bis 1952 gab es eine ganze Reihe organisatorischer und personeller Änderungen, die für die Frage nach dem Schloss relevant waren. Die Einleitung der Planungsarbeiten und erste Entwürfe verdeutlichten schwer zu vereinbarende Diskrepanzen zwischen dem Investor, der Zivilkanzlei des Präsidenten der Republik Polen (Kancelaria Cywilna Prezydenta Rzeczypospolitej Polskiej), und dem Ziel eines den historischen Eigenheiten Rechnung tragenden Wiederaufbaus. Es gab sogar die Idee, das Schloss in sozrealistischem Stil neu entstehen zu lassen, mit dem gerade errichteten Kulturpalast als Modell. Schließlich fiel die Wahl 1954 auf den Entwurf Jan Bogusławskis, der den vormaligen Grundriss und Zuschnitt beibehielt, das Original jedoch um zweieinhalb Meter überragen sollte. Der Ausgang des Architektenwettbewerbs wurde allerdings negativ beurteilt und überzeugte die Denkmalschützer endgültig, dass der Wiederaufbau des Schlosses ohne fachliche Beratung zum Scheitern verurteilt war. Während des Tauwetters seit 1956 entstand schließlich das Büro für den Wiederaufbau des Schlosses (Biuro Odbudowy Zamku) unter Leitung von Bogusławski, doch kam die Angelegenheit bis 1970 kaum von der Stelle, obwohl sich alle Regierungen stets für den Wiederaufbau aussprachen. Allerdings bildete der Erste Sekretär der PZPR Władysław Gomułka eine Ausnahme, denn dieser widersetzte sich der Initiative, weil er im Schloss ein Symbol der Monarchie und der Fehler der alten Adelsrepublik sah. In den 1960er Jahren schienen die Chancen für den Wiederaufbau sehr schlecht zu stehen, und das Grundstück wurde schließlich als eine Art Terrasse gestaltet. Die endgültige Entscheidung für den Wiederaufbau fiel erst im Januar 1971, und sie war eine direkte Folge des von der politischen Krise erzwungenen Regierungswechsels. Nach einem Jahr wurde das Büro für den Wiederaufbau des Schlosses unter der vorherigen Leitung wiederbelebt und zudem ein Bürgerkomitee für den Wiederaufbau des Königsschlosses (Obywatelski Komitet Odbudowy Zamku Królewskiego) berufen, aus dessen Beiträgen die Arbeiten finanziert wurden. Damit stellte sich auch erneut die Frage nach der künftigen Funktion des Bauwerks. Anfänglich konnten sich selbst die Fachleute nicht recht mit der Idee eines Museums mit eigener Sammlung anfreunden. Die politische Führung dagegen wollte nicht von der Idee eines repräsentativen Sitzes lassen. Der Rohbau wurde im Jahr 1974 fertiggestellt, aber die Rekonstruktion der Innenräume dauerte bis 1988. Das Schloss wurde schließlich zu einem Museum, das auch für Zwecke staatlicher Repräsentation genutzt wird.



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Der Streit um den Wiederaufbau Hier ist nicht der Ort, die Rahmenbedingungen des Wiederaufbaus von Warschau eingehend zu behandeln. Doch bereits ein kursorischer Überblick erlaubt, einige allgemeine Schlüsse zu ziehen und zumindest teilweise gängige Vorstellungen von den Ausgangsbedingungen, Motiven und Praktiken beim Wiederaufbau Warschaus zu hinterfragen, die dieses langwierige und schwierige Unternehmen determinierten. Neben dem Ausmaß der Zerstörung war zweifelsohne die am deutlichsten von Jan Zachwatowicz repräsentierte Haltung der Konservatoren ausschlaggebend, die im Angesicht der Kriegsfolgen der Rekonstruktion Priorität gab. Nicht minder wichtige Faktoren waren auch die in Schwerpunkt und Ausrichtung über die Jahre wechselnden politischen Direktiven und die Beschneidung der privaten Eigentumsrechte. Andrzej Tomaszewski, der ehemalige Generalkonservator Polens, der als einer der ersten auch international Kritik am Wiederaufbau Warschaus äußerte, machte deutlich, dass Selektivität ein Grundprinzip des Unternehmens war.45 Demnach ging es dabei zuvorderst darum, unerwünschte Elemente zu eliminieren, und zwar diejenigen, die mit den zeitgenössischen Zweckbestimmungen und Anforderungen nicht vereinbar waren, wie auch diejenigen, die damals nicht als historisch wertvoll galten. Zum zweiten ging es darum, die älteste, wenn möglich gotische Bauphase eines Baudenkmals als wertvollste zu exponieren und anschließend die weniger wertvollen späteren Phasen sichtbar zu machen, was letztlich zu einem konservatorischen Palimpsest führte. Zum dritten wurden diejenigen Elemente korrigiert, die als Verschandelung galten oder nicht in die Chronologie der Gesamtheit passten. Im Resultat dieser sich manchmal überlagernden oder komplementären Selektionsvorgänge wurde die Bebauung des vor dem Krieg vernachlässigten und ärmlichen historischen Stadtzentrums aufgelockert und an ihrer Stelle eine pittoreske Altstadt errichtet. Zugleich verschwand aus dem Stadtbild fast vollständig das typische Mietshaus mit seinem damals als inakzeptabel geltenden ästhetischen Gewand und seiner sozialen Hierarchie. Die Stadt wurde also in selektiver Weise rekonstruiert, unter Rückgriff auf Stilelemente von der Gotik bis zum Klassizismus und bei völligem Verzicht auf die Schicht des Historismus. Der Wiederaufbau Warschaus war für Tomaszewski demnach ein Werk seiner Zeit, nicht nur mit Blick auf Material und Technik, sondern er dokumentierte auch eine ästhetisch-philosophische Konzeption oder gar Vision, die anstelle der zerstörten Stadt eine Schöpfung anbot, welche irgendwo in der Mitte zwischen alter und neuer Zeit stand. Diese Selektion geschah nach formalen Kriterien, doch war ihr Ergebnis nicht nur ein visuelles, sondern auch ein ideelles. Indem man nämlich historische Überformungen von Gebäuden, Straßen und ganzen Vierteln entfernte, indem man für diese ästhetische Kostüme wählte, kreierte man eine selektive Nationalgeschichte, die frei von unerwünschten Dimensionen wie der kirchlichen, der „feudalistischen“, der kapitalistischen und der Fremdherrschaft war. Das beim Wiederaufbau der Hauptstadt erprobte Verfahren wurde auch in anderen Städten angewandt, in denen man die historischen Zentren dem Erscheinungsbild der Warschauer Altstadt annäherte; im Fall 45 Tomaszewski (wie Anm. 36), S. 168 f.

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der Nord- und Westgebiete war dies gleichbedeutend mit ihrer „Entgermanisierung“ und „Polonisierung“ (siehe dazu den Beitrag von Tomasz Torbus in diesem Band). Eine Folge des Wiederaufbaus war die Entfernung der Großstadtarchitektur von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, die bis 1944 die Stadtlandschaft beherrscht hatte. Dieser Umstand wird heute den Maßnahmen der Nachkriegszeit besonders kritisch angelastet und hat auch seinen Niederschlag in emotional aufgeladenen Publikationen gefunden.46 Andererseits werden aber auch Leistungen des Wiederaufbaus wahrgenommen wie die materielle Wiederentstehung der Stadt, die Wiederherstellung der Hauptstadt, die Versorgung der Einwohner mit Wohnungen, die Auflockerung der Bebauung, die Anlage von bis heute wertvollen Grünarealen und weitläufigen öffentlichen Räumen. Darauf und auf die Vielschichtigkeit der Faktoren, unter denen sich der präzedenslose Wiederaufbau vollzog, machte die ausgezeichnete und preisgekrönte Ausstellung „Der Streit um den Wiederaufbau“ von 2015 aufmerksam.47 Daher gibt es heute keine eindeutige und abschließende Bilanz des Wiederaufbaus von Warschau; mehr noch, dieser bleibt ein weiterhin aktuelles Problem, sowohl im Hinblick auf seine immer noch offene Bewertung als auch auf die Tatsache, dass er nicht beendet ist. Daher nimmt es kaum wunder, dass in unterschiedlichen Bedeutungskontexten in gewissen Zeitabständen das Thema der nach 1945 nicht wieder aufgebauten Objekte aufgebracht wird, woran sich heftige Diskussionen zwischen den Generationen entzünden, etwa diejenige, die 2014 in Warschau über das verschwundene Sächsische Palais geführt wurde, dessen Überreste heute das Grab des Unbekannten Soldaten bilden.48 Aus dem Polnischen von Andreas R. Hofmann

46 Bojarski (wie Anm. 5); Majewski/Markiewicz (wie Anm. 16); Stopa (wie Anm. 39). 47 Spór o odbudowę. Warszawa w budowie (Der Streit um den Wiederaufbau. Warschau im Bau), 10.10.– 11.11.2015, Museum für Zeitgenössische Kunst (Muzeum Sztuki Nowoczesnej) und Warschauer Stadtmuseum (Muzeum Warszawy); Fudala, Tomasz: Spór o odbudowę [Der Streit um den Wiederaufbau]. In: Autoportret 2 (2016), S. 34–43. 48 Piątek, Grzegorz: Po co obudowywać Pałac Saski? Twórzmy nowe obiekty [Wozu das Sächsische Palais wiederaufbauen? Lasst uns neue Objekte schaffen]. In: Gazeta Wyborcza, 8.3.2014; Tym razem się uda. Tomasz Urzykowski rozmawia z Michałem Wonsem [Diesmal gelingt es. Tomasz Urzykowski im Gespräch mit Michał Wons]. In: ebd., 10.3.2014; Dehnel, Jacek: Nie straszmy Ruskiem, odbudujmy Pałac Saski [Machen wir nicht mit dem Russen Angst. Lasst uns das Sächsische Palais wiederaufbauen]. In: ebd., 16.3.2014; Omilanowska, Małgorzata: Historia już jest na placu [Geschichte ist nicht mehr am Platz]. In: ebd., 19.3.2014; Piątek, Grzegorz: Po co odbudowywać Pałac Saski? [Wozu das Sächsische Palais wiederaufbauen?] In: ebd., 22.3.2014.



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Summary Selected pasts The reconstruction of Warsaw after World War II Warsaw’s devastation during World War II was unprecedented, with almost the entire old town and over 80 % of the city’s left bank destroyed. The proposal to rebuild the city was perhaps unexpected given the sheer scale of destruction as well as pre-war ideas of urban corrections. However, the upshot of the debate was that historical buildings (the old town, the cathedral, the Royal Castle and the Royal Route) were to be restored. The institution responsible for this enormous undertaking was the Bureau for the Reconstruction of the Capital (Biuro Odbudowy Stolicy), which answered to the Polish government. In addition to the restoration of the building stock, the reconstruction effort was an opportunity to make both literal and symbolic corrective changes as a result of both political pressure and disputes between the ‘conservators’ (those responsible for the reconstruction of the historical parts of the city) and the architects working to give the city a new form. In effect, selected listed buildings were rebuilt without regard for their late-nineteenth and early-twentieth century influences, and their spatial and urbanistic context was altered. The mechanism of reconstruction relied on the elimination of undesirable aspects clashing with a building’s contemporary purpose or requirements or not considered ‘historical’ at the time. As a result of these overlapping and supplemental selections, the dilapidated pre-war old town was turned into a picturesque part of the city. Moreover, the typical tenement houses with their undesirable aesthetics and social connotations were practically removed from the cityscape. The reconstruction of Warsaw remains a divisive topic and an unequivocal evaluation of this endeavour is still difficult.

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Z u r üc k i n s Rei c h d er Pia ste n und Ja gie llone n Die Wiederbelebung der polnischen Epochen beim Wiederaufbau der „Wiedergewonnenen Gebiete“ in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg

Tomasz Torbus Polens Generalkonservator der Nachkriegszeit Jan Zachwatowicz, dessen Name mit dem dortigen Wiederaufbau der Denkmäler nach 1945 untrennbar verbunden ist, schrieb eine Passage, die für die folgenden Überlegungen konstitutiv ist: „Das Gefühl der Verantwortung gegenüber kommenden Generationen erfordert den Wiederaufbau dessen, was uns zerstört worden ist, einen vollständigen Wiederaufbau im Bewusstsein der Tragik, eine denkmalpflegerische Fälschung zu schaffen.“1 Der Kunsthistoriker Ksawery Piwocki forderte gar die Errichtung von Modellbauten, „eine dem Original besonders nahe kommende Kopie […], die den Nachkommen einen möglichst authentischen Nachweis des künstlerischen Schaffens der vorhergehenden Generationen überliefern wird“.2 Diese Zitate vergegenwärtigen, dass die oft innerhalb und außerhalb des Landes so apostrophierte Rekonstruktion der polnischen Städte nach 1945 in Wirklichkeit einem historisierenden Nachbau gleicht. Lediglich die wichtigsten sakralen und profanen Bauten sind originalgetreu rekonstruiert worden. Der Rest wurde in einem Kostüm, das sich an das vermeintliche Aussehen der Straßenzüge in der Frühneuzeit anlehnt und somit eher in die stilistische Kategorie des Sozialistischen Realismus einzuordnen ist, neu errichtet. Zweifelsohne setzte der bis 1953 erfolgte Wiederaufbau der Altstadt und anschließend der Neustadt (Nowe Miasto) sowie der Straße Krakowskie Przedmieście (Krakauer Vorstadt) in Warschau Maßstäbe in organisatorischer und formaler Hinsicht (siehe dazu den Beitrag von Piotr Korduba in diesem Band). Diese flächenmäßig größte in geschichtlich tradierter Form wiederaufgebaute Stadt der Welt wurde zum nationalen 1 „Poczucie odpowiedzialności wobec przyszłych pokoleń domaga się odbudowy tego co nam zniszczono, odbudowy pełnej, świadomej tragizmu popełnianego fałszu historycznego.“ Zit. nach Zachwatowicz, Jan: Program i zasady konserwacji zabytków [Programm und Grundsätze der Denkmalpflege]. In: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury 8 (1946), S. 48–52, hier S. 48. Die Übersetzungen aller Zitate im Aufsatz stammen vom Verfasser. 2 „Kopia bardzo bliska oryginałowi […] będzie przekazywać potomnym możliwie wierny ślad twórczości artystycznej poprzednich pokoleń.“ Zit. nach Piwocki, Ksawery: Uwagi o odbudowie zabytków [Anmerkungen zum Wiederaufbau der Denkmäler]. In: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury 8 (1946), S. 53–59, hier S. 59. – Die neuesten Arbeiten zur polnischen Denkmalpflege: Omilanowska, Małgorzata: Rekonstruktion statt Original – das historische Zentrum von Warschau. In: Informationen zur Raumentwicklung 3/4 (2011), S. 227–236; Popiołek, Małgorzata: Keine Stunde Null. Das Wiederaufbauprogramm von Jan Zachwatowicz für die polnischen Altstädte nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Geteilt – Vereint! Denkmalpflege in Mitteleuropa zur Zeit des Eisernen Vorhangs und heute. Hg. v. Ursula Schädler-Saub und Angela Weyer. Petersberg 2015, S. 179–189; Störtkuhl, Beate: Geschichte und Grundlagen der Denkmalpflege in Polen nach 1945. In: ebd., S. 147–158.



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und internationalen Mythos und bereits 1980 mit dem Eintrag in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes gewürdigt. Warschau gilt als Initialzünder der „Polnischen Schule der Denkmalpflege“, „die einen Schwerpunkt weniger auf die Authentizität der Bausubstanz als vielmehr auf die Aussagekraft des Bauwerks für die polnische Nation legte“.3 Ob in Lublin oder Posen (Poznań) im historischen Kernbereich des polnischen Vorkriegsstaats, ob in der Freien Stadt Danzig (Gdańsk), in Breslau (Wrocław) oder in weiteren Städten der offiziell als „Wiedergewonnene Gebiete“ bezeichneten ehemaligen deutschen Territorien im Westen und Norden des neuen Polen – das Straßenbild, die Vorgehensweise und die neue Funktionsbelegung orientierten sich stark an Warschau. Die letztgenannten Beispiele, das sei hier vorweggenommen, unterscheiden sich aber doch von den kernpolnischen Rekonstruktionsprojekten. Anhand von Fallbeispielen – Danzig, Breslau, Stettin (Szczecin), Ratibor (Racibórz), Brieg (Brzeg) und Marienburg (Malbork) – wird die These von einer nationalen Vereinnahmung der auf den ehemals deutschen Gebieten rekonstruierten Denkmäler aufgestellt und gefragt, mit welchen Mitteln Fassadenformen oder Dekorelemente „polonisiert“ werden sollten. Die Westverschiebung Polens 1945 schuf neue ethnische Realitäten. Für die Neusiedler aus Zentralpolen und die Vertriebenen aus Ostpolen, die an die Stelle der vertriebenen oder geflüchteten Deutschen nachrückten, war das vorgefundene Erbe fremd, bisweilen auch wegen der Kriegserlebnisse unbeliebt. In meinen bisherigen Publikationen zu diesem Thema konnte ich einzelne Kategorien des Umgangs mit dem fremden Erbe herausarbeiten, die von einer intendierten Vernichtung über die geduldete Verwahrlosung bis hin zur denkmalgerechten Sanierung und Rekonstruktion reichten.4 Die beiden letzteren Herangehensweisen unterscheiden sich in ihren Motiven und decken die Spanne von einer klar erkennbaren Intention der „Polonisierung der Denkmäler“ bis hin zu deren neutraler Rettung mit dem Hinweis auf ihre gesamteuropäische Relevanz ab. Die Volksrepublik Polen bediente sich der Geschichtskonstruktion auf propagandistische Weise. Dieser zufolge fand eine Rückkehr zum polnischen Staat aus der Zeit der mittelalterlichen Herrscherdynastie der Piasten statt, sodass es sich bei den ehemals ostdeutschen Ländern gleichsam um „Wiedergewonnene Gebiete“ handelt. Beim Wiederaufbau wurde zwischen den nach Vorlagen minutiös rekonstruierten architektonischen Perlen und der übrigen Bebauung, oft ganzen, mitunter prominenten Straßenzügen, die man auf „schöpferische Weise“ wiederaufbaute, unterschieden. Im Folgenden sollen ein Gerüst an Fakten erstellt, die Protagonisten des Wiederaufbaus genannt und anschließend einige generalisierende Zusammenhänge zwischen Einzelensembles herausgestrichen werden. Die Rolle der einzelnen Akteure beim Wiederaufbau konkreter Denkmäler ist meiner Überzeugung nach stärker als bisher zu betrachten. Eine Übersicht über die wichtigsten Beispiele der Nachkriegsrekonstruktionen mit ihrem 3 Roos, Julia: Denkmalpflege und Wiederaufbau im Nachkriegspolen. Die Beispiele Stettin und Lublin. Hamburg 2010, S. 102. 4 Torbus, Tomasz: Zwischen Sprengung und Modellbau. Vergleichende Anmerkungen zum Schutz des Kulturerbes in den polnischen so genannten ‚Wiedergewonnenen Gebieten‘ und den ehemals ostpolnischen Regionen nach 1945. In: Künstlerische Wechselwirkungen in Mitteleuropa. Hg. v. Jiři Fait und Markus Hörsch. Ostfildern 2006 (Studia Jagellonica Lipsiensia 1), S. 427–448.

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jeweiligen Spezifikum zeigt, mit welchen formalen Mitteln sich diese legitimatorische Ideologie in die neu errichteten Bauten einschrieb. Die folgende Skizze endet bei den Städteaufbaumaßnahmen um das Jahr 1960, als der sogenannte Plattenbau die erste Welle des Wiederaufbaus stoppte. Über diese Zäsur bewege ich mich bei jenen Baudenkmälern hinaus, deren Aufbau schon früher diskutiert, bisweilen auch beschlossen worden war, aber erst in den 1960er oder 1970er Jahren in Angriff genommen wurde – wie die Marienburg oder das Brieger Schloss.

Danzig – die schöpferische Rekonstruktion Es ist vorrangig die Stadt Danzig, die im deutschen Sprachraum spontan mit der rekonstruktiven Aufbauleistung der Polen nach 1945 in Verbindung gebracht wird. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, dass Warschau viel früher wiederaufgebaut wurde, ein weitaus größeres in historisierender Form wiederbelebtes Areal ausmacht und schon aufgrund der zentralen Bedeutung stärker als Danzig genannt und propagiert wurde. Erinnert sei an den Eintrag Warschaus in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes im Jahr 1980. Doch im Unterschied zu Warschau wird Danzig von Millionen deutscher Touristen besucht und rezipiert, seine Zerstörung wird nicht mit deutschen Verbrechen verbunden und wirkt daher nicht national belastend. Schließlich wird Danzig in Deutschland sowohl als ein Teil des eigenen Kulturerbes als auch als die kunstgeschichtlich bedeutsamere der beiden Städte erachtet. Im Übrigen ist der Wiederaufbau Danzigs in den letzten Jahren vorzüglich bearbeitet worden.5 Die Rote Armee belagerte Danzig zwischen dem 14. und dem 30. März 1945. Der Beschuss der Rechtstadt (Główne Miasto) vom nahegelegenen Bischofsberg aus war damals für die meisten Zerstörungen der Bausubstanz im historischen Stadtzentrum verantwortlich.6 Ein starkes Forschungsdefizit besteht jedoch noch im Hinblick auf Bauschäden, die erst nach der sowjetischen Einnahme der Stadt eintraten, etwa durch das Anstecken von Häuserzeilen in mutwilligen Aktionen oder in trunkenen Siegesorgien. Die Auffassungen darüber, ob und – wenn ja – in welchem Ausmaß es dazu kam, gehen dementsprechend weit auseinander. Zumindest Einzelfälle sind hierfür aber belegt.7 Der Zerstörungsgrad von Danzig wurde auf etwa 70 bis 95 Prozent geschätzt. 5 Friedrich, Jacek: Neue Stadt in altem Gewand: Der Wiederaufbau Danzigs 1945–1960. Köln-WeimarWien 2010; Ders.: Odbudowa Głównego Miasta w Gdańsku w latach 1945–1960 [Der Wiederaufbau der Danziger Rechtstadt in den Jahren 1945–1960]. Gdańsk 2015; Gawlicki, Marcin: Zabytkowa architektura Gdańska w latach 1945–1951 [Die denkmalgeschützte Architektur von Danzig in den Jahren 1945–1951]. Gdańsk 2012; Pusback, Birte: Stadt als Heimat. Die Danziger Denkmalpflege zwischen 1933–1939. Köln-Weimar-Wien 2006. 6 Bakun, Maciej: Naloty bombowe podczas II wojny światowej [Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg]. In: http://www.gedanopedia.pl/gdansk/?title=NALOTY_BOMBOWE_PODCZAS_II_ WOJNY_%C5%9AWIATOWEJ (30.12.2016). – Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 17 f.; Gawlicki (wie Anm. 5), S. 19–53. 7 Skrago, Zdzisław: Gdańsk 1945 – wyzwolenie i zniszczenia [Danzig 1945 – Befreiung und Zerstörung]. In: http://zdsk.pl/historia/6-gdansk-1945-wyzwolenie-i-zniszczenia (30.12.2016); Kto naprawdę spalił



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Abb. 1  Danzig (Gdańsk), die Frauengasse nach der Enttrümmerung und die Marienkirche nach der Bedachung. Aufnahme vom Anfang der 1950er Jahre.

Allerdings sind diese Zahlen nach unterschiedlichen Kriterien aufgestellt worden und wie im Fall Warschaus im Lauf der Zeit zu einer deklarativen, propagandistischen Leerformel geworden. Insgesamt war Danzig nach 1945 eine „menschenlose, häuserlose, lippenleere“ Stadt; „alles war Staub, Berge zerstörter Materie“ – so der chilenische Nobelpreisträger Pablo Neruda, den dieses Bild „erblinden und verzweifeln“ ließ (Abb. 1).8 Im März 1946 ernannte Stanisław Lorentz, der Leiter der Direktion für Museen und Denkmalschutz (Dyrekcja Muzeów i Ochrony Zabytków), Jan Borowski zum ersten Stadtkonservator. Ihre frühere Zusammenarbeit bei der Rekonstruktion der Burg Trakai (poln. Troki) im heutigen Litauen spielte dabei die entscheidende Rolle. Borowski stellte die Ruinen der wichtigsten Bauten sowie Architekturfragmente und -details, die in den Trümmern der Stadt gefunden worden waren, sicher und erarbeitete die Pläne für ihre

Gdańsk [Wer hat tatsächlich Danzig niedergebrannt]. In: Głos Wybrzeża 64 (2001), S. 8. 8 Neruda, Pablo: Las ruinas en el Báltico, 1950. In: Ders.: Las uvas y el viento [1950–1953]. Anonyme Nachdichtung als „Die Ruinen am baltischen Meer“ abgedruckt in Welder, Michael: Reise nach Danzig. Auf Spurensuche in Westpreußen und zur „Königin der Ostsee“. Würzburg 2002.

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Wiederherstellung.9 Er war derjenige, der im Oktober 1947 die gesamte historische Stadt innerhalb der frühneuzeitlichen Fortifikationen unter Denkmalschutz stellte. Durch seine guten Kontakte zu Lorentz und Zachwatowicz, den Vertrauten des Staatschefs Bolesław Bierut, konnten die Machthaber in Warschau für die Idee des Wiederaufbaus gewonnen werden. Zachwatowicz veranlasste ab Ende 1947 die Herstellung eines Generalplans zum Wiederaufbau der Stadt.10 Trotz diesbezüglich anderer Auffassungen11 markiert das den Zeitpunkt der Entscheidung. Es bedarf aber noch weiterer Forschungen, um dezidiert sagen zu können, ob der Entschluss zentral angeordnet wurde oder – wie Jacek Friedrich argumentiert – eher auf eine lokale Initiative zurückgeht.12 Vermutlich erfolgte hier eine Rückkoppelung und der Wiederaufbau der Rechtstadt ist synergetischen Prozessen zu verdanken. Die erste Phase, in der Borowski die Rekonstruktionsentwürfe für die wichtigsten Danziger Bauten schuf und ihre Verwirklichung begann, endete im Juni 1951. Borowski kündigte nämlich, nachdem das Amt de facto aufgelöst, in eine Stelle des Stadtkonservators umgewandelt und gänzlich der lokalen Verwaltung unterstellt worden war.13 Verändert wurde nun die ganze Struktur des Aufbaus. Man konzentrierte sich auf einen flächendeckenden Wiederaufbau der Rechtstadt als Wohnsiedlung. Federführend war dabei der Betrieb für Arbeitersiedlungen (Zakład Osiedli Robotniczych) unter der Leitung von Juliusz Goryński. Das historische Zentrum sollte durch moderne Siedlungen und von einem auf den Höhen der weiteren Umgebung gelagerten großen Kulturpalast geprägt sein.14 Der Kulturpalast ist jedoch niemals realisiert worden. 1954 wurden die wichtigsten Arbeiten im Bereich der Langen Gasse (ulica Długa) und des Langen Markts (Długi Targ), der Hauptstraßenzüge der Rechtstadt, vollendet. So erfolgte der Wiederaufbau der historischen Stadtkerne Warschaus und Danzigs fast gleichzeitig. Der Aufbau weiterer Straßen in der Rechtstadt sowie einiger Bauten in der benachbarten, historisch weniger bedeutsamen Altstadt zog sich bis etwa 1970 hin, einige Bereiche wie die Speicherinsel (Wyspa Spichrzów) warten bis heute auf ihren Wiederaufbau.15 Trotz der deklarativen Gegnerschaft nach 1945 gab es im Fall Danzig Parallelen zwischen der Praxis der deutschen und der polnischen Denkmalpflege, die weit über den für ganz Europa gemeinsamen denkmalpflegerischen Umgang mit dem ungeliebten Historismus des 19. Jahrhunderts hinausgehen. Wie von Birte Pusback herausgearbeitet, durchlief Danzig seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in der „Freien 9 Gawlicki (wie Anm. 5), S. 59–63. 10 Ebd., S. 175–182. 11 Wspomnienia z odbudowy Głównego Miasta [Erinnerungen an den Wiederaufbau der Rechtstadt]. Hg. v. Izabella Trojanowska. Gdańsk 21997, S. 8–14. 12 Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 55–83. 13 Gawlicki (wie Anm. 5), S. 283–288; Kasprzycki, Jerzy: Między Zieloną a Złotą Bramą [Zwischen dem Grünen und dem Goldenen Tor]. In: Życie Warszawy, 24.8.1953. 14 Nachrichten der Polnischen Politischen Mission, Wien, 25.6.1953, S. 3. 15 Torbus, Tomasz: Auf der Suche nach der polnischen Vergangenheit – politische Ikonographie beim Wiederaufbau der Städte und Baudenkmäler in den sog. Wiedergewonnenen Gebieten Polens nach 1945. In: Beiträge zur Kunstgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. v. Hanna Nogossek und Dietmar Popp. Marburg 2001, S. 365–386, dort weitere Literatur.



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Abb. 2  Danzig, Sgraffito mit polnischem Adel am Kino „Leningrad“, Jacek und Hanna Żuławski. Aufnahme von ca. 1955.

Stadt“ ein ambitioniertes, von Erich Volmar geleitetes Sanierungsprojekt, bei dem 1934–1941 die Höhe der Etagen vieler Häuserzeilen verringert und die reichen eklektizistischen Fassaden in schlichte, formal an das 16. Jahrhundert angelehnte Häuserfronten verwandelt wurden.16 Überdies gab es konkrete personelle Querverbindungen. Volmar, der 1943/44 zusammen mit Willi Drost die Danziger Kunstwerke in Sicherheit gebracht hatte, war auch derjenige, der von April 1945 bis Herbst 1946 den neuen Stadtherren half, diese wieder zu bergen.17 Jan Kilarski war sein direkter Vorgesetzter im Stadtamt, in dem er wiederum eng mit Borowski zusammenarbeitete. Volmar überließ Borowski sein Archiv, in dem er die Danziger Bauten dokumentiert hatte. Es ist naheliegend, dass seine Vorstellungen von einer stilistischen Purifizierung der Danziger Rechtstadt in einem heute nicht mehr zu bestimmenden Ausmaß in die Praxis der polnischen Denkmalpfleger eingeflossen waren. Dafür wurden Dutzende Häuser in der 16 Pusback (wie Anm. 5). – Volmar, Erich: Pflege und Erhaltung von Baudenkmälern in Danzig. In: Deutsche Bauzeitung 60/68 (1926), S. 553–559; Ders.: Danzigs Bauwerke und ihre Wiederherstellung. Ein Rechenschaftsbericht der Baudenkmalpflege. Danzig 1940. 17 Gawlicki (wie Anm. 5), S. 55; Erich Volmar (1887–1975). In: http://www.rzygacz.webd.pl/index. php?id=26,135,0,0,1,0 (30.12.2016).

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Langen Gasse und am Langen Markt mit einem neuen, national konnotierten Kostüm ausgestattet. Diese bereits sehr treffend von Jacek Friedrich interpretierten Dekorationen entfernten die rekonstruierten Häuser weit von ihrem Originalzustand, man fand dafür gar den Ausdruck der „schöpferischen Rekonstruktion“ (rekonstrukcja twórcza).18 Mittels Sgraffiti, Glasurdekorationen oder Wandmalereien wurden konkrete Persönlichkeiten abgebildet, welche die Vergangenheit Danzigs im Zusammenhang mit dem Meer und mit Polen veranschaulichen, darunter Nikolaus Kopernikus (Langer Markt 19), der Renaissancedichter Jan Kochanowski (Langer Markt 12), Adelige (Kino „Leningrad“, Abb. 2), Seefahrer (Lange Gasse 16) oder Schauspieler (Lange Gasse 72). Gemäß einer von Friedrich zitierten Aussage der am Wiederaufbau beteiligten Malerin Józefa Wnukowa schenkten die Künstler den prägenden Stileinflüssen der niederländischen Architektur des 16. und 17. Jahrhunderts kaum Beachtung, ganz zu schweigen – bedingt durch die politische und gesellschaftliche Situation der Nachkriegszeit – deutschen Impulsen.19 An Häuserzeilen, die architektonisch eine Neuschöpfung sind, brachte man etliche polnische Motive an. Sie gaukeln keine Historizität vor, sollten aber selbstverständlich die Stadt auch im ethnischen Sinne polonisieren. Lech Kadłubowski, der seit Anfang 1953 tätige Generalarchitekt des sogenannten Königswegs (Droga Królewska), so werden die Lange Gasse und der Lange Markt zusammen bezeichnet, äußerte sich in seinen Erinnerungen kritisch über diese Vorgehensweise. Allerdings ging es ihm dabei mehr um die generellen Eigenschaften der Epoche als um seinen eigenen Beitrag: „[…] die nationale Form war eine große Unbekannte. Die ursprüngliche polnische Architektur bildeten Dorfhütten, höchstens Landhäuser des Adels aus Lärchenholz. Alles andere war mit den Einflüssen der Gotik, der Renaissance, des Barock und anderen Importen behaftet.“ Speziell zu den Häusern der Langen Gasse führt er an: „Unsere Künstler beschlossen, mehrere Wandmalereitechniken mit figuralen Kompositionen zu verwenden. Da jedes Bürgerhaus seinen eigenen historischen Stil repräsentierte, musste man mittels Farbe und Komposition den Charakter wiedergeben, welcher der jeweiligen Epoche zu eigen war.“20 Während der Wiederaufbaumaßnahmen der 1950er Jahre hatte er den sorglosen Umgang mit der Geschichte mit dem Argument verteidigt, es handle sich hierbei um den künstlerischen Beitrag „unserer Epoche, unserer gegenwärtigen Nationalkultur“.21 18 Friedrich, Jacek: Wystrój dekoracyjny Drogi Królewskiej w Gdańsku 1953–1955 [Die Baudekoration des Königswegs in Danzig]. In: Gdańskie Studia Muzealne 6 (1995), S. 111–133. 19 Ders., Odbudowa Głównego Miasta (wie Anm. 5), S. 218. 20 Zitiert nach: Wspomnienia (wie Anm. 11), S. 233 f.: „[…] narodowa forma stanowiła wielką niewiadomą. Oryginalna polska architektura to wiejskie chałupy, co najwyżej modrzewiowe dworki szlacheckie. Na wszystkim innym ciążyły wpływy gotyku, renesansu, baroku i innych importów.“ bzw. „Nasi artyści malarze postanowili zastosować kilka technik malarstwa ściennego z wprowadzeniem kompozycji figuralnych. Ponieważ każda kamieniczka reprezentowała swój odrębny styl historyczny należało w kolorze i kompozycji oddać charakter właściwy danej epoce.“ 21 „[…] do całego zespołu ulicy Długiego Targu wnosimy sztukę naszej epoki, naszej współczesnej kultury narodowej.“ ([…] dem ganzen Ensemble der Langen Gasse und des Langen Markts fügen wir die Kunst unserer Epoche hinzu, unserer gegenwärtigen nationalen Kultur). Zit. nach Kadłubowski, Lech: Dzieła sztuki godne naszej epoki [Die unserer Epoche würdigen Kunstwerke]. In: Głos Wybrzeża, 14./15.2.1953.



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Abb. 3  Danzig, Fest zur Montage der mutmaßlichen Figur von König Sigismund II. August auf dem Rathausturm, rechts oben Jan Borowski. Aufnahme von Kazimierz Lelewicz, 1950.

Dort, wo man den Begriff der Rekonstruktion nach Vorlagen zuließ, sind mir Fälle einer bewussten Fälschung nicht bekannt, sieht man von bald fallengelassenen Ideen ab, etwa den Innenhof des Großen Zeughauses als einen Arkadenhof in Form der Krakauer Renaissance zu gestalten.22 Detailgetreu wiederaufgebaut wurden Einzelbauten – das Uphagenhaus, das Langgasser und das Grüne Tor, die Rathäuser der Rechtstadt und der Altstadt und das Große Zeughaus. Hier war eine Fälschung nicht nötig. Es gibt keine andere Stadt in Polen, in der sich so viele Reliefs mit polnischen Wappen an den Kommunalbauten finden wie in Danzig. Auf eine nationale Betonung deuten lediglich die neue Benennung und die zeitliche Voranstellung einiger wiederzuerrichtender Bauten hin, die vermeintlich deutlicher als die anderen vom polnischen Danzig kündeten. Bereits 1950 wurde der Turm des Rechtstädtischen Rathauses mit dem neu gegossenen „guldnen Kerl“ bekrönt, da dieser mutmaßlich den König Sigismund II. August abbildete (Abb. 3).23 22 Gawlicki (wie Anm. 5), S. 155. 23 1950 wurde die Kopie der Figur mit folgender Inschrift versehen: „Geleitet von der Sorge um die Sicherung der Kulturgüter, die von den Ahnen geerbt wurden, ließ das siegreiche Polnische Volk, das über seine Heimat herrscht, diese Statue Sigismunds III. [sic!] wiederherstellen, in Danzig, das für Polen mit dem gemeinsam vergossenen Blut der Sowjetischen Armee und des Polnischen Heeres wiedergewonnen wurde, diese Statue wird nun an die Nachfahren weitergereicht. Danzig, November 1950.“

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Es war wohl kein Zufall, dass bis in die 1970er Jahre die einzige Danziger Diele in dem Haus Lange Gasse 45 rekonstruiert wurde, denn das Haus trug die propagandistisch willkommene Bezeichnung „Haus der polnischen Könige“. Ob diese dort tatsächlich abgestiegen waren, bleibt letztlich ungewiss, aber der Bau konnte auf diese Weise bei seiner Wiederherstellung mit wohlwollender Unterstützung seitens der Behörden rechnen.24 Als einer der ersten Bauten wurde die Königliche Kapelle wiederaufgebaut und bereits 1949 für Kultzwecke bestimmt. Wenn auch in einer Quelle nachweisbar, ist es naheliegend, dass der Stifter, der Polenkönig Johann III. Sobieski, für die denkmalpflegerische Betreuung des Baus förderlich war.25 Dagegen entzog man den Schutz diversen klassizistischen Bauten, die nach der Einnahme der Stadt durch Preußen infolge der Zweiten Teilung Polens von 1793 errichtet worden waren. So wurden etwa die Ruinen des Theaters am Kohlenmarkt, das 1799–1801 vom Breslauer Architekten Karl Samuel Held errichtet worden war, 1957 abgebrochen. Diese nationale Politik weist allerdings Brüche und Inkonsequenzen auf. So wurden die Bürgerhäuser der „national fremden“ Patrizier aus stadtplanerischen Gründen – aber entgegen den oftmals formulierten ideologischen Leitbildern – zuerst wiederaufgebaut, während die Arbeiterhäuser, in denen Polen gelebt haben sollen, oftmals dem Verfall preisgegeben waren.26

Breslau – die Polonisierung der Stadt nach Rezepten deutscher Denkmalpflege? Der Wiederaufbau Breslaus ist bisher verhältnismäßig wenig erforscht.27 Die pointiertesten und die besten mit Archivquellen unterfütterten Aussagen dazu stammen von Gregor Thum, der diesen Themenkomplex aber nur als einen von mehreren Arbeitsschwerpunkten verfolgt.28 In den nächsten Jahren sind einige Doktorarbeiten zum Wiederaufbau

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Zit. nach Gawlicki (wie Anm. 5), S. 139, mit Angabe der Quelle. Die Inschrift im Originalwortlaut: „Zwycięski i władający swą Ojczyzną Polski Lud Pracujący kierując się troską o zabezpieczenie dóbr kulturalnych odziedziczonych po przodkach odnowił tę statuę króla Zygmunta III [sic!] w Gdańsku odzyskanym dla Polski wspólnie przelaną krwią bohaterskiej Armii Radzieckiej i Wojska Polskiego statuę tę przekazuje potomności. Gdańsk listopad 1950.“ Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 218 f.; Gawlicki (wie Anm. 5), S. 42. Ebd., S. 212 f. Archiwum Państwowe w Gdańsku (Staatsarchiv Danzig), Sign. 1164/1248, k. 409, zit. nach: ebd., S. 168. Betroffen waren die Häuser der Straßen Mniszech, Wodopoje und Katarzynki. Ältere Literatur zusammengestellt bei Torbus (wie Anm. 15). – Zur neueren Memoirenliteratur vgl. Czerner, Olgierd: Mój wiek XX. 1971–2000 [Mein 20. Jahrhundert. 1971–2000]. Wrocław 2015; Ders.: Mój wiek XX. 1900–1970 [Mein 20. Jahrhundert. 1900–1970]. Wrocław 2016. Ich bedanke mich beim Autor, den Text noch vor der Drucklegung gelesen haben zu dürfen. – Grodzka, Elżbieta: Autentyczność i wiarygodność zabytku architektury w działalności zawodowej prof. Edmunda Małachowicza [Authentizität und Glaubwürdigkeit der Architekturdenkmäler im Œuvre Professor Edmund Małachowicz’]. 2 Bde. Diss. Masch.-Schr. Wrocław 2015. Ich danke der Autorin und Marzanna Jagiełło dafür, mir die Arbeit zugänglich gemacht zu haben. Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin 2003; polnische Ausgabe: Ders.: Obce miasto. Wrocław 1945 i potem. Wrocław 2005.



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Breslaus aus dem Institut für Kunstgeschichte der dortigen Universität zu erwarten.29 So muss sich diese Übersicht auf die Herausstreichung einiger Regelhaftigkeiten beschränken. Einige Fragen können nur teilweise beantwortet werden, darunter diese: Erfolgte der Entschluss zum Wiederaufbau auf lokaler oder zentraler Ebene? Wer waren die wichtigsten Protagonisten und wie bemaß sich ihr persönlicher Gestaltungsspielraum im Hinblick auf die formale Seite des Bauvorhabens? Bestehen möglicherweise Interferenzen zu den deutschen Vorkriegskonzepten der Denkmalpflege? Und welche nationalen Vereinnahmungsstrategien mischten sich in das Breslauer Wiederaufbauvorhaben? Der Wiederaufbau der Stadt, die während der Kämpfe um die „Festung Breslau“ stark zerstört worden war, verlief sowohl chronologisch als auch stilistisch anders als der Danzigs. Zwar beschloss man schon während des Breslau-Besuchs von Staatschef Bierut im Jahr 1946 den Wiederaufbau des Doms und des Rathauses, die Straßenbebauung blieb aber noch lange in ruinösem Zustand, das Material wurde sogar zum Teil für die Rekonstruktion Warschaus abtransportiert.30 Bereits Ende der 1940er Jahre wurden die wichtigsten Kommunalbauten der Stadt – das Rathaus, das Zeughaus, die Universität – saniert und teilweise neuaufgebaut. Bei der 1949–1952 erfolgten Sanierung des Rathauses hat der dafür verantwortliche Architekt Marcin Bukowski Veränderungen am äußeren Gewand des Baus vorgenommen, die dazu führten, dass keiner der in einer bestimmten historischen Periode tatsächlich existierenden Zustände des Gebäudes wiedergegeben wurde.31 Die Wohnbauten begann man erst 1953 zu bauen, wesentlich später als in Warschau und Danzig. Gleichzeitig mit dem Wiederaufbau der Altstadt wurden an deren Rand größere Bauvorhaben im Stil des Sozialistischen Realismus realisiert wie etwa die Platzanlage am plac Tadeusza Kościuszki, die bereits in der damaligen Presse als sowjetische Bauweise angesehen wurde.32 Der historisierende Aufbau Breslaus wurde um 1960 gestoppt, als die Großplattenbauweise Rekonstruktionstechniken und traditionelle Materialien wie Backstein verdrängte. Ähnlich wie in Danzig wurde bereits vor 1953 mit der Rekonstruktion von Sakralbauten begonnen, und zwar wegen der Schwerpunktsetzung der in der Vorkriegszeit 29 Die Arbeiten betreut Rafał Eysymontt. Für diese mündliche Auskunft und auch für einige Tipps zum Thema bedanke ich mich bei Agnieszka Zabłocka-Kos. Vgl. ihren in Vorbereitung zum Druck befindlichen Aufsatz, der in diesem Beitrag leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte, Zabłocka-Kos, Agnieszka: Eine andere oder die gleiche? Die Architektur in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und ihre spezifische politische Rolle im Polen der Nachkriegszeit. In: Welche Denkmale welcher Moderne? Zum Umgang mit Bauten der 1960er und 70er Jahre. Hg. v. Frank Eckardt, Hans-Rudolf Meier, Ingrid Scheurmann und Wolfgang Sonne. [Berlin 2017]. 30 Nachrichten der Polnischen Politischen Mission, Wien, 23.7.1953, S. 23; o. A.: Każdy Wrocławianin daje 50 cegieł dła Warszawy [Jeder Breslauer spendet 50 Ziegelsteine für Warschau]. In: Gazeta Robotnicza, 29./30.08.1953. 31 Die Aussage von Edmund Małachowicz findet sich zitiert bei Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 28), S. 454. 32 O. A.: Realizujemy wspaniałe założenia programu Frontu Narodowego [Wir verwirklichen die grandiosen Programmziele der Nationalen Front]. In: Gazeta Robotnicza, 22.9.1953: „Hier wurde auf die Erfahrungen der großstädtischen Moskauer Architektur, die auf den Bauelementen der Antike basiert, zurückgegriffen.“ Im Originalwortlaut: „Wykorzystano tu doświadczenia wielkomiejskiego budownictwa moskiewskiego przy użyciu elementów architektury klasycznej.“

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Abb. 4  Breslau (Wrocław), Marienkirche auf dem Sande. Aufnahme nach 1945.

Abb. 5  Breslau, Marienkirche auf dem Sande, Innenraum. Aufnahme von 1944.

Abb. 6  Breslau, Marienkirche auf dem Sande, Innenraum. Aufnahme von 2015.



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Abb. 7  Breslau, Bürgerhaus „Zu den Sieben Kurfürsten“. Aufnahme um 1860.

Abb. 8  Breslau, Bürgerhaus „Zu den Sieben Kurfürsten“. Aufnahme um 1960.

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sozialisierten Denkmalpfleger, wegen einer allgemeingültigen Affinität zum Mittelalter und schließlich wegen einer – in Danzig nie dagewesenen – nationalideologischen Auslegung der mittelalterlichen Architektur als Hinterlassenschaft der Piastendynastie, sprich als polnisches Erbe in Schlesien. Die polnische Periode endete nach der damaligen Deutung erst mit dem durch Kasimir den Großen im Trentschiner Vertrag von 1335 erfolgten Verzicht auf Schlesien.33 So galten die monumentalen Breslauer Kirchen der Gotik, unabhängig von ihrem Baubeginn, als Symbole des Polentums. Dementsprechend wurden sie sorgfältig wiederaufgebaut. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Marienkirche auf dem Sande (Kościół Najświętszej Marii Panny na Piasku), die ihre regotisierte Form in den Jahren 1946–1948 und 1961–1963 bekam (Abb. 4–6). Bei Wohn- und Kommunalbauten wurden Objekte mit vermeintlich piastischen Wurzeln sorgfältig rekonstruiert. Die Piasten-Faszination zeigte sich an einem der besonders signifikanten Bauwerke am Ring, dem zentralen Platz der Altstadt, und zwar an dem im 17. Jahrhundert ausgebauten Haus „Zu den Sieben Kurfürsten“, dessen Fassade den Krieg überstanden hatte. Die Malereien wurden verputzt und an manchen Stellen entfernt, sodass eine freigelegte gotische Mauer, teilweise mit Blenden gegliedert, zum Vorschein kam. Selektiv wurden erhaltene Fragmente des Vorgängerbaus zur Schau gestellt, um dessen Alter zu demonstrieren (Abb. 7 und 8). Neben nationalpolitischen Motiven, die hier zur Geltung kamen, war dies auch eine blinde Wiederholung der Warschauer Praxis,34 die Piotr Korbuda als „konservatorisches Palimpsest“ bezeichnet (siehe dazu den Beitrag von Piotr Korduba in diesem Band). In die Kategorie der Architektur, die Assoziationen mit Polen wecken sollte, reiht sich die 1957–1960 erfolgte Rekonstruktion des Hauses „Zur Goldenen Krone“ an der Ostzeile des Rings ein. Um 1521 entstanden, wurde es 1903 abgebrochen. Bei dem Ende der 1950er Jahre ausgeführten Nachbau, der wegen des erhaltenen Skeletts des auf dem Grundstück errichteten Baus vom Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 4,5 Meter höher als ursprünglich ausgefallen war,35 spielten nationalideologische Gründe eine entscheidende Rolle (Abb. 9 und 10). Besondere Bedeutung kommt dabei dem Motiv der Attika zu, die das Gebäude bekrönt. Dieses Bauelement bestand meist aus einer Blendarkatur und einem phantasievollen oberen Mauerabschluss in Form von Obelisken, Voluten oder Fratzen. Die Attika taucht um 1550 zum ersten Mal an den Krakauer Tuchhallen auf. Bis Mitte des 17. Jahrhunderts wird sie an den Traufseiten zahlreicher Kommunalbauten und Patrizierhäuser in Polen-Litauen angebracht. Neben der dekorativen Funktion diente sie dem Brandschutz. Die böhmische Variante der Attika ist im Gegensatz zur polnischen meist an den Giebeln errichtet worden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Attika in Polen zum Erkennungsmerkmal der polnischen Renaissance auserkoren und fand an den Bauten des sogenannten Nationalstils Verwendung (siehe dazu auch den Beitrag 33 Maleczyński, Karol: Historia Śląska. Bd. 1: Do połowy XIV w. [Geschichte Schlesiens. Bd. 1: Bis Ende des 14. Jahrhunderts]. Wrocław 1960. 34 Gawlicki (wie Anm. 5), S. 164 f., macht diese Vorgehensweise auch in Danzig – am sogenannten Danziger Dielenhaus am Langen Markt – fest. Legte man dort die Reste einer Deutschordensphase frei? 35 Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 28), S. 473.



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Abb. 9  Breslau, Bürgerhaus „Zur Goldenen Krone“. Aufnahme vor 1903.

Abb. 10  Breslau, Bürgerhaus „Zur Goldenen Krone“. Aufnahme von 1961.

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Abb. 11  Architekturmodell des Breslauer Großen Rings um 1800, Rekonstruktion nach Rudolf Stein, vor 1945.

von Małgorzata Omilanowska in diesem Band). Zwar ist die hier angewendete Attika aus Schwalbenschwänzen von einer norditalienischen und nicht Krakauer Provenienz, aber generell fügte sich dieser Bau in die zu diesem Zeitpunkt auch in Schlesien geführte Diskussion um den generell polnischen Charakter dieses Bauelements ein, an der sich auch seriöse Kunsthistoriker beteiligten.36 Sieht man von diesen Einzelbeispielen ab, ist die Genese der Form der übrigen Häuser am Ring ganz anders. Zum großen Teil im 19. Jahrhundert umgestaltet, wurde die Ringbebauung nach dem Entwurf zur Sanierung des Altstadtmarkts von Rudolf Stein (1899–1978) wiederhergestellt, den der deutsche Architekt 1931 dem damaligen Stadterweiterungsamt in der Druckfassung seiner Dissertation mit dem Titel „Das

36 Zlat, Mieczysław: Attyka renesansowa na Śląsku [Renaissance-Attika in Schlesien]. In: Biuletyn Historii Sztuki 17 (1955), S. 48–79. Zur Polemik siehe Torbus, Tomasz: Anmerkungen zu den künstlerischen Beziehungen zwischen der Krakauer Renaissance-Architektur und der Baukunst Schlesiens. In: Die Jagiellonen – Kunst und Kultur einer europäischen Dynastie an der Wende zur Neuzeit. Hg. v. Dietmar Popp und Robert Suckale. Nürnberg 2002, S. 327–336; Ders.: Die Rezeption der Renaissance im Nachkriegs-Polen – die Suche nach einem Nationalstil. In: Hansestadt – Residenz – Industriestandort. Beiträge der 7. Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker in Oldenburg, 27.–30. September 2000. Hg. v. Beate Störtkuhl. München 2002, S. 313–325.



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Breslauer Bürgerhaus“ vorgelegt hatte (Abb. 11).37 Den Versuch, diese Denkmalsanierungskonzepte in die Praxis umzusetzen, unterbrach der Krieg, sodass Steins Visionen der barocken und neoklassizistischen Häuser erst nach 1945 von den polnischen Restauratoren in die Tat umgesetzt werden konnten.38 Ähnlich wie bei Danzig ist die Frage der Zuständigkeit einzelner Denkmalpfleger und Architekten nach 1945 und die Frage nach der Abhängigkeit der lokalen Expertenmilieus von der Warschauer Zentrale ein komplexes Thema mit Potenzial zur Polemik. Möglicherweise war es Bukowski, der auf die Schriften Steins stieß; Steins Ring-Modell wurde nach dem Krieg übrigens im Stadtamt ausgestellt und war allgemein bekannt.39 Symptomatisch dafür war die Südund Nordzeile des Rings, wo den stark beschädigten Häusern aus dem 19. und 20. Jahrhundert nach Vorlagen Steins historisierende Fassaden vorgeblendet wurden.40 Man verwendete dabei die stählernen Skelette der abgebrannten Häuser, was zu einem kuriosen Ergebnis führte: Die vorgespielte frühneuzeitliche Bebauung ist wesentlich höher, als sie damals im Original war. Anders als Danzig hatte Breslau seit dem 14. Jahrhundert keine engen politischen Verbindungen zum Königreich Polen. In den offiziellen polnischen Veröffentlichungen nach 1945 wurde propagandistisch das Vorhandensein einer deutschen Bevölkerungsmehrheit unter den Stadtbürgern mit dem Hinweis darauf heruntergespielt, dass die Stadt zunächst böhmisch und anschließend habsburgisch gewesen und erst 1741, das heißt mit der Eroberung Schlesiens durch Preußen, in „deutsche Hände“ gefallen sei. Zwar, so Thum, sei es in Breslau niemals zu einem politisch motivierten Abbruch eines gut erhaltenen Objekts gekommen, doch handle es sich bei vielen beschädigten Bauten, die nicht wiederaufgebaut und später abgerissen worden seien, um Gebäude mit offensichtlich preußischer Symbolik.41 So riss man 1969 den abgebrannten Südflügel des Breslauer Königsschlosses ab.42 Dennoch ist in Breslau die nationale Komponente 37 Stein, Rudolf: Das Breslauer Bürgerhaus. Breslau 1931; Ders.: Das Rathaus und der Große Ring zu Breslau. Breslau 1937. 38 Ich wurde durch Gespräche mit Zeitzeugen darauf aufmerksam gemacht und habe diese Erkenntnis 2001 veröffentlicht unter Torbus (wie Anm. 15), S. 387. Allen voran ist mir Mieczysław Zlat in dankbarer Erinnerung geblieben. – Grajewski, Grzegorz: Między sztuką, nauką a polityką. Ochrona zabytków na Dolnym Śląsku w czasach III Rzeszy [Zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik. Denkmalschutz in Niederschlesien während des Dritten Reichs]. Diss. Masch.-Schr. Wrocław 2014, S. 133–142, 145– 152. Online einsehbar unter: http://www.dbc.wroc.pl/Content/30240/grajewski_miedzy_sztuka_PhD. pdf (09.12.2016). Dem Autor danke ich für einige wichtige Hinweise. 39 Przyłęcki, Mirosław: Bukowski, Marcin. In: Polski słownik biograficzny konserwatorów zabytków. Heft 2. Hg. v. Henryk Kondziela und Hanna Krzyżanowska. Poznań 2006. 40 Małachowicz, Edmund: Wrocław [Breslau]. In: Miasta Historyczne. Hg. v. Wojciech Kalinowski. Warszawa 1986, S. 581–612, hier S. 589. 41 Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 28), S. 485. 42 Das Königsschloss in Breslau war 1945 abgebrannt, die Mauern blieben aber stehen. 1955 wurde gar ernsthaft ein Wiederaufbau erwogen. Angaben nach Zabłocka-Kos, Agnieszka: Dawny pałac królewski, obecnie – w zachowanych fragmentach – Muzeum Archeologiczne i Etnograficzne, ul. Kazimierza Wielkiego 34/35 / pl. Wolności 7 [Der ehemalige Königspalast, jetzt – in erhaltenem Teil – Museum für Archäologie und Ethnologie, ul. Kazimierza Wielkiego 34/35 / pl. Wolności 7]. In: Atlas architektury Wrocławia. Bd. 1. Hg. v. Jan Harasimowicz. Wrocław 1997, S. 100–103.

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beim Wiederaufbau entschieden weniger spürbar als in Danzig – für eine solche Herangehensweise gab es einfach zu wenig geschichtliche Anknüpfungspunkte. Die zeitgenössische Presse betrachtete die Nachbildungen der frühneuzeitlichen Häuser mitunter als polnische Werke, die von polnischen Handwerkern errichtet worden seien, in einer Zeit, in der das Patriziat – wie man zugab – bereits deutsch war. In einem klassen­ ideologischen Erklärungsansatz wäre es ein Zeichen der historischen Gerechtigkeit, dass diese Häuser jetzt wiederum durch polnische Hände und für polnische Bewohner wiedererstünden.43 Bereits in der „Tauwetterperiode“ um 1956 gerieten die oben erwähnten Parolen in Vergessenheit; ein Journalist schrieb sogar vom Wiederaufbau des Rings als einer „nicht sehr glücklichen Schablone der Warschauer Altstadt“.44

Stettin – die nicht wiederaufgebaute Altstadt Stettin scheint abseits vom Thema zu liegen, denn hier wurde keine „neue Altstadt“ errichtet. Auf ihrem bis heute desolat wirkenden Areal präsentieren sich die einzelnen sanierten Baudenkmäler in einem städtebaulichen Umfeld, in dem Plattenbauten vom Ende der 1950er und 1960er Jahre dominieren. Noch Jahrzehnte nach Kriegsende suchte man hier vergeblich nach rekonstruierten historistischen Bürgerhäusern; jene um den Altstadtmarkt wurden ähnlich wie in Glogau (Głogów), Kolberg (Kołobrzeg) oder Elbing (Elbląg) im Zuge der sogenannten Retroversion erst seit Mitte der 1980er Jahre erbaut.45 Trotzdem ist der Fall Stettin auch für die vorliegende Studie sehr lehrreich, weil hier nicht zuletzt das Problem der Polonisierung der wiederaufgebauten Baudenkmäler stark zum Vorschein kommt. Kurz nach 1945 stand der Anschluss Stettins an Polen auf tönernen Füssen. Bis in die 1950er Jahre kam diese Unsicherheit unter anderem in der Knappheit der Mittel, die Warschau für den Wiederaufbau der Stadt zur Verfügung stellte, zum Ausdruck. Die Ruinen der Stettiner Unterstadt, einschließlich der gotischen Backsteine, denen selbst die Legende von einer mittelalterlichen Slawenstadt nicht half, wurden abgebrochen und die gewonnenen Ziegelsteine für den Wiederaufbau der Warschauer Altstadt abtransportiert.46 Die Konstruktion einer auch nur halbwegs plausiblen historischen Legiti43 Kajewski, Piotr: Wrocław w albumie [Breslau im Album]. In: Gazeta Robotnicza, 15.11.1953. 44 Goliński, Leszek: Wrocław – problem otwarty [Breslau – das offene Problem] In: Trybuna Ludu, 14.12.1956: „nieudane naśladownictwo warszawskiej Starówki“. 45 Bartetzky, Arnold: Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa. In: Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Hg. v. Winfried Nerdinger. MünchenBerlin-London-New York 2010, S. 138–147. 46 Bądkowska, Justyna: Ochrona i odbudowa zabytków nieruchomych na terenie Starego Miasta w Szcze­ cinie po 1945 [Pflege und Wiederaufbau der unbeweglichen Denkmäler im Bereich der Altstadt von Stettin nach 1945]. In: Materiały Zachodniopomorskie 4/5 (2007/08), S. 117–170; Gwiazdowska, Małgorzata: Zum Wiederaufbau der Altstadt von Stettin nach dem Zweiten Weltkrieg – gesellschaftliche Gegebenheiten und denkmalpflegerische Maßnahmen. In: Geteilt – Vereint! (wie Anm. 2), S. 167– 178. – Szymon Kubiak und Rafał Makała danke ich für ihre umfassende Hilfe bei allen Stettiner Angelegenheiten.



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Abb. 12  Stettin (Szczecin), Ansicht der Altstadt. Aufnahme von 1931.

mation für den Wiederaufbau der Stettiner Altstadt war – anders als bei Danzig und selbst bei Breslau – nahezu unmöglich. Die Stettiner Altstadt war Anfang des 20. Jahrhunderts ein Armenviertel, mit wenigen Ausnahmen ohne Bauten von Bedeutung und jenseits des Stadtzentrums des 19. Jahrhunderts gelegen (Abb. 12). Nicht zuletzt waren keine Unterlagen vorhanden, welche die Rekonstruktion der stark beschädigten Stettiner Altstadt hätten ermöglichen können. Auf der Grundlage von Memoiren und Zeitzeugenberichten aus der Nachkriegszeit und der zeitgenössischen Sekundärliteratur kann man jedoch die These aufstellen, dass dies nicht die einzigen Gründe waren. Als Schlüsselfigur für die von anderen Großstädten abweichende Baupolitik in Stettin gilt dessen erster polnischer Bürgermeister in den Jahren 1945–1950, Piotr Zaremba (1910–1993). Sein Studium an der Technischen Hochschule in Lemberg (poln. Lwów, ukr. Lviv), das vor 1939 als „Stadt der Moderne“ bezeichnet wurde,47 erweckte in Zaremba eine modernistische Haltung gegenüber städtischer Architektur und Stadtplanung.48 Seine Ablehnung des Historismus sowie seine Distanz zum sowjetischen Kommunismus wirkten sich möglicherweise syner47 Die neueste Literatur vgl. in: Lwów: miasto, architektura, modernizm [Lemberg: Stadt, Architektur, Modernismus]. Hg. v. Bohdan Cherkes und Andrzej Szczerski. Wrocław 2016. 48 Sein Werk umfasst über 250 Publikationen, unter anderem Zaremba, Piotr: Wspomnienia prezydenta Szczecina 1945–1950 [Memoiren des Präsidenten Stettins 1945–1950]. Poznań 1977; Ders.: Urbanistyczny rozwój Szczecina [Urbanistische Entwicklung Stettins]. Poznań 1965 [zusammen mit Halina Orlińska].

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Abb. 13  Stettin, Ansicht der Altstadt. Aufnahme um 1970.

getisch aus und machten ihn immun gegen eine bloße Kopie der Altstadt, in der er im Übrigen eine formale und ideologisch inakzeptable Mutation des Sozialistischen Realismus gesehen hätte. In Anlehnung an die Ideen Zarembas wurde bis 1966 eine moderne Wohnsiedlung „Stare Miasto“ (Altstadt; Abb. 13) errichtet. Auch wenn er in seinen Erinnerungen die Verantwortung dafür abstreitet, liegt es nahe, in ihm den Entscheidungsträger für den Abbruch der Altstadtruinen und den Bau der modernen Häuser zu sehen. In Stettin, das im Bewusstsein der Polen vor allem als eine deutsche Stadt präsent war, betonte die Propaganda damals bei jeder Gelegenheit die vermeintliche Verbindung dieser Region mit der polnischen Geschichte. So begann man beim Wiederaufbau von Stettin – trotz der modernistischen städtebaulichen Auffassung – bereits 1946 mit der Kodifizierung einer neuen Version der Geschichte mithilfe von Kunstwerken. So ersann man eine „Piastengruft“ im Schloss, malte im Rathaus monumentale Bilder mit Szenen wie dem Einzug des polnischen Königs Bolesław I., des Tapferen, in die Stadt oder stellte einen gewissen Jan aus Kolno, einen legendären Reisegenossen von Christoph Kolumbus und potenziellen Mitentdecker Amerikas, im Nationalmuseum dar.49

49 Zur Ausstattung des wiederaufgebauten Schlosses und anderer Bauten mit „polnischer“ Ikonographie vgl. Kubiak, Szymon Piotr: Organizmy pionierskie. Kultura wizualna Szczecina w pierwszych latach

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Abb. 14  Stettin, Schloss. Kupferstich aus: Matthäus Merian, Martin Zeiller, Topographia Electoratus Brandenburgici et Ducatus Pomeraniae. Frankfurt am Main 1652.

Das Stettiner Schloss ist das prominenteste Beispiel der historisierenden Vorgehensweise, in der es um die politische und nationale Legitimation der Annexion ging. Der monumentale, ehemalige Sitz der Greifenherzöge wurde 1944/45 von den Westalliierten bombardiert und brannte aus. Unmittelbar nach dem Krieg entfachte sich eine Diskussion um die Zukunft des nun zum „Piastenschloss“ oder zum „Wawel des Nordens“ apostrophierten Gebäudes. Der Spiritus Rector des 1954–1960 erfolgten Wiederaufbaus po II wojnie światowej [Pionierorganismen. Visuelle Kultur Stettins in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg]. In: Pamiętnik Sztuk Pięknych 10 (2016) [in Vorbereitung zum Druck].

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des Schlosses war Henryk Dziurla (1925–2012), ein Posener Kunsthistoriker, der 1952– 1959 den Posten des Woiwodschaftskonservators für Hinterpommern (Pomorze Zachodnie) bekleidete. Als die wichtigste Bildvorlage galt dabei ein 1652 publizierter Kupferstich von Matthäus Merian dem Älteren (Abb. 14). Die dort dargestellte, bis zum Zweiten Weltkrieg nur noch partiell am Nordflügel erhaltene Attika aus den 1570er Jahren wurde rekonstruiert. Sie sollte die in Wirklichkeit eher losen Beziehungen zwischen der pommerschen Greifen-Dynastie und dem Krakauer Hof belegen. Die Attika, ein zumeist reich verzierter oberer Fassadenabschluss ist in Ostmitteleuropa oft tatsächlich polnischer Provenienz, doch ihre in Stettin abweichende Form sorgt für Zweifel bezüglich eines Direktimports dieses Elements aus Krakau.50 In Anlehnung an konkrete Wiederaufbauentwürfe und archäologische Grabungen brachte Dziurla 1954 ideelle Grundlagen für das Projekt Schloss-Wiederaufbau ins Spiel.51 Unabhängig davon, inwieweit man der Behauptung der polnischen Einflüsse auf die frühneuzeitliche Architektur des Stettiner Schlosses Glauben schenkte, wurde das Argument einer Attika von den Fachleuten bewusst verwendet, um die kommunistischen Entscheidungsträger für die Idee des Wiederaufbaus zu gewinnen. Nach der propagierten Lesart handelte es sich bei dem Schloss um ein Symbol des slawischen Pommern, exemplifiziert an dem Südflügel aus der Ära von Herzog Bogislaw X. (reg. 1474–1523), der die polnische Prinzessin Anna Jagiello heiratete: „Am Ende wird das wiederaufgebaute Schloss das Kulturleben Hinterpommerns in sich bündeln, seine architektonische Form wird dabei die vielfältige und glorreiche Vergangenheit des slawischen Pommern dokumentieren und den Hauptakzent in der Stadtarchitektur der Altstadt bilden, für die ankommenden Schiffe von Weitem sichtbar, wird es zum Symbol unserer wiedergeborenen Seemetropole Stettin.“52

Oberschlesische Altstadtmodelle – zwischen Rekonstruktion  und historisierender Phantasie Die Westseite des Marktplatzes im oberschlesischen Ratibor wurde in den Jahren 1950–1954 mit einer Zeile monumentaler Renaissance-Häuser mit aufwendigen Attiken ausgestattet. Wie bereits 1998 dargelegt,53 zeigt der Vergleich mit den Vorkriegsaufnahmen auf den ersten Blick, dass es sich hier mitnichten um Rekonstruktionen handelt. An der Stelle bescheidener Wohnhäuser errichtete der Architekt, Maler und Kunsthis50 Denkbar ist auch die Übernahme attikaähnlicher Formen aus Veneto (Schloss Capodimoste) oder ein polnischer Import über den Umweg Schlesien. 51 Dziurla, Henryk: Zagadnienie odbudowy zamku w Szczecinie [Zum Wiederaufbau des Stettiner Schlosses]. In: Ochrona Zabytków 7/3 (1954), S. 241–245, hier S. 243; Latour, Stanisław/Orlińska, Halina: Szczecin [Stettin]. In: Miasta Historyczne (wie Anm. 40), S. 437–460. 52 Dziurla (wie Anm. 51), S. 244: „Odbudowany zamek skoncentruje życie kulturalne Pomorza Zachodniego, przy czym swą formą architektoniczną będzie dokumentował bogatą i wspaniałą przeszłość słowiańskiego Pomorza, a jako główny akcent w urbanistyce starego miasta, z daleka już widoczny z przypływających do portu statków, stanie się symbolem naszego morskiego odrodzonego Szczecina.“ 53 Torbus (wie Anm. 15), S. 390 f. Siehe die Passagen zum Brieger Schloss in diesem Aufsatz.



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Abb. 15  Ratibor (Racibórz), Häuserzeile am Marktplatz. Aufnahme vor 1945.

Abb. 16  Ratibor, Häuserzeile am Marktplatz. Aufnahme von 2015.

toriker Stanisław Kramarczyk (1904–1977) Häuser im Neorenaissancestil, die an die Architektur der polnischen Renaissance erinnern sollten (Abb. 15 und 16). Dies ging Hand in Hand mit dem Zeitgeist: In der Stalinära stilisierte man die Renaissance in ihrer polnischen Variante zum Nationalstil schlechthin. So wurde ihr markantestes Dekorationselement, die Attika, auch an wichtigen zeitgenössischen Bauten angebracht, bei-

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spielsweise am Warschauer Kulturpalast und an den Häusern des Krakauer Stadtteils Nowa Huta. In Ratibor vermittelte Kramarczyk mit dem Rückgriff auf die Formen des 16. Jahrhunderts eine bestimmte politische Botschaft. Er verwendete in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ bewusst die Formen der Krakauer Renaissance, um eine künstlerische Verbindung zwischen der oberschlesischen Stadt und dem polnischen Kernland zu suggerieren. Irma Kozina, die zuletzt die Pläne des in Kattowitz (Katowice) nach 1945 tätigen Stadtplanungsbüros „Miastoprojekt Katowice“ auswertete,54 stieß auf Entwürfe von Kramarczyk für Neisse (Nysa) vom Dezember 195055 sowie weiterer Architekten, die Häuser für Marktplätze in Loslau (Wodzisław), Sohrau (Żory), Oppeln (Opole) und Gleiwitz (Gliwice) zeichneten. Der Lemberger Architekt Franciszek Mauerer schuf mehrere Konzepte für den 1945 weitgehend zerstörten Ring von Gleiwitz. Allerdings wurde der Entwurf verwirklicht, der eine homogene Zeile mit barocken Laubenganghäusern vorsah und nicht die Wiedererstehung der Häuser im Zustand um 1800.56 Ob es sich dabei um eine Variation der Entwürfe handelte, die Rudolf Stein in der Zwischenkriegszeit für den Breslauer Ring angefertigt hatte, oder um eine Anknüpfung an die ältere Bebauung des Gleiwitzer Rings, bedarf weiterer Nachforschungen. Anders als von Kozina beschrieben, verfügen die Häuser über keine Renaissanceattiken vom polnischen Typus, sondern über hohe Giebelwände.57 Die freien architektonischen Phantasien, die auf barocke Formen rekurrieren, waren allerdings für jegliche Polonisierungstendenzen in Oberschlesien ungeeignet. So blieb Ratibor ein Einzelfall, an den nicht einmal sein Schöpfer Kramarczyk bei seinen Neisse-Entwürfen anknüpfen wollte. Dort kaprizieren die Häuser ein Potpourri aus frühbarocken und klassizistischen Fassadenformen, die eher an die Breslauer Lösungen erinnern.58

Brieg – der „schlesische Wawel“ Ein Paradebeispiel für die ideologischen und nationalen Verwicklungen der polnischen Denkmalpflege nach 1945 bildet der Wiederaufbau des Schlosses Brieg in Schlesien. 54 Kozina, Irma: Der Wiederaufbau von Ratibor und Gleiwitz nach dem Zweiten Weltkrieg – die Suche nach einem spezifischen Nationalstil? In: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej / Bulletin der Polnischen Historischen Mission 7 (2012), S. 93–113. Der Autorin danke ich für den Hinweis auf den Aufsatz. 55 Rynek – Bracka – Nysa, Archiwum Państwowe w Katowicach (Staatsarchiv Kattowitz), Sign. 437, zit. nach Kozina (wie Anm. 54), S. 94 und Abb. 10. – Eine weitere Entwurfsversion bei Pierścieniak, Małgorzata: Stanisław Kramarczyk – architekt, muzealnik, artysta [Stanisław Kramarczyk – Architekt, Museologe, Künstler]. In: Nyskie Szkice Muzealne 7 (2014), S. 67–82, S. 173–175, hier S. 173. Ich danke Ewelina Kwiatkowska aus dem Bezirksmuseum Neisse (Muzeum Powiatowe w Nysie) für die Hilfe bei der Suche nach der Hinterlassenschaft von Stanisław Kramarczyk. 56 Kozina (wie Anm. 54), Abb. 6–8. 57 Ebd., S. 101. 58 Da es sich bei Oppeln, Gleiwitz und Ratibor um formal unterschiedliche Beispiele handelt, ist die bisher nicht belegte These von Jan Zachwatowicz, der „Entwürfe im Renaissance-Stil akzeptiert [und als Vorbild propagiert] hatte“, weiter unwahrscheinlich, vgl. ebd., S. 98.



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Je nachdem, wer über das Land herrschte, als „schlesisches Heidelberg“ oder „schlesischer Wawel“ apostrophiert, ist das von dem sogenannten Komasken Franziskus Parr erbaute Schloss des Piasten-Herzogs Georg II. von Brieg (reg. 1547–1586) das Renaissancebauwerk Schlesiens schlechthin, behaftet mit einer komplexen Baugeschichte, die stets eng mit der Politik verwoben war. Bei allen Deutungsschwierigkeiten handelt es sich dabei zweifelsohne um das „polnischste“ Bauwerk Schlesiens in der Frühneuzeit, vor allem bei dem Torgebäude, dessen Fassade ein Fries mit 24 Büsten polnischer und schlesischer Piasten ziert. Dies war wohl der Grund für den Wiederaufbau des 1741 von den Truppen Friedrichs II. im Ersten Schlesischen Krieg zerstörten Arkadenhofs nach dem Zweiten Weltkrieg (Abb. 17 und 18). Es ist strittig, von wem die Idee zum Wiederaufbau der Loggien stammt. Die ursprüngliche Idee zur Rekonstruktion des Bauwerks an sich, das in der Nachkriegszeit zu einem polnischen Denkmal hochstilisiert wurde und den nationalen Besitzanspruch auf die „Wiedergewonnenen Gebiete“ untermauern sollte, stammte nicht von polnischen, sondern von deutschen Denkmalpflegern. Zwei Entwürfe für den Wiederaufbau des Schlosses wurden in den Jahren 1935–1938 und 1940 angefertigt, 1941 wurde auch schon eine Arkade des Hofs in Gips ausgeführt.59 Bereits um 1950 soll dann der damalige Generalkonservator von Polen Jan Zachwatowicz die Rekonstruktion des gesamten Schlosses vorgeschlagen haben. Trotz der Proteste namhafter Kunsthistoriker wie Mieczysław Zlat oder Zygmunt Świechowski, die sich gegen derartige Modellbauten wandten, wurde das Brieger Schloss in den Jahren 1966–1978 von den Warschauer Werkstätten für Denkmalpflege (Pracownie Konserwacji Zabytków, PKZ) wiederaufgebaut. Der Beschluss des 1970 an die Macht gekommenen Ersten Sekretärs der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR), Edward Gierek, das Warschauer Königschloss nach der Blockade des Vorhabens durch seinen Vorgänger Władysław Gomułka (ab 1956) zu rekonstruieren, beschleunigte sicherlich dieses und weitere verwandte Projekte und machte sie im organisatorischen Sinne leichter durchführbar. Allem Anschein nach griff Zachwatowicz eine Idee auf, deren Verbreitung auf zwei Personen zurückzuführen ist. Einer der beiden großen Förderer war der aus Vilnius (dt. Wilna) stammende Marian Morelowski, der nach 1945 in Breslau eine Professur für Kunstgeschichte erhielt. Er agierte polnisch-national – was zu Vereinfachungen und Verzerrungen der schlesischen Kulturgeschichte führte – und negierte sämtliche Kunstbeziehungen Schlesiens zu anderen Provinzen des deutschen Reichs. Von ihm stammt der Aufruf zum Aufbau des „schlesischen Wawel“.60 War Morelowski nur ein, wenn auch einflussreicher Theoretiker, so agierte der im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau Ratibors bereits erwähnte Stanisław Kramarczyk sowohl als Theoretiker wie 59 Die Entwürfe der Architekten Erich Damek, Georg Rüth, Georg Münter und Waldemar Krause werden teilweise im Bildarchiv des Herder-Instituts in Marburg aufbewahrt. Vgl. Grajewski (wie Anm. 38), S. 256–260. 60 Morelowski, Marian: O odbudowę śląskiego Wawelu [Für den Wiederaufbau des schlesischen Wawel]. In: Kurier Polski, 8.4.1960 (Nr. 84). Mit „Wawel“ wird auf das Königsschloss in Krakau Bezug genommen.

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Abb. 17  Brieg (Brzeg), Schloss, Innenhof und Südwestflügel. Aufnahme vor 1945.

Abb. 18  Brieg, Schlosshof beim Wiederaufbau. Aufnahme von 1977.



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auch als Praktiker. Der Krakauer Maler und Ingenieur betätigte sich während des Kriegs auch als Laien-Kunsthistoriker in der Lemberger Gemäldegalerie. Im Mai 1945 wurde die Familie nach Neisse in Schlesien umgesiedelt, wo Kramarczyk von 1947 bis 1960 Direktor des städtischen Museums und Leiter einer Dependance der Denkmalpflegewerkstätten PKZ wurde. Die Persönlichkeit Kramarczyks strahlt eine seltsame Ambivalenz aus. Seine Manipulationsversuche, also der Wiederaufbau Ratibors mit nie da gewesenen Renaissancehäusern, und seine nationalistische Haltung stehen im Kontrast zu seinem ehrlichen Bemühen, die Verwahrlosung der historischen Bausubstanz von Neisse sowie dutzender Schlösser in der Neisser Gegend aufzuhalten.61 Die heute verschollenen Zeichnungen Abb. 19  Zeichnung der geplanten Loggien  des zu rekonstruierenden Brieger Schlosdes Schlosses von Brieg, Stanisław Kramarczyk, ses von Kramarczyk stammen aus den Ende der 1950er Jahre. späten 1950er Jahren (Abb. 19).62 Angeblich war Kramarczyk bereits 1958 zusammen mit Morelowski mit der Inventarisierung des Schlosses beschäftigt.63 Er publizierte 1951 einen Aufsatz zum Wawelschloss in Krakau, in dem er unter anderem für den Abbruch sämtlicher österreichischer und deutscher Bauten aus dem 19. und 20. Jahrhundert auf dem Hügel plädierte; zehn Jahre später erschien in einem renommierten Periodikum sein Aufsatz mit Rekonstruktionsvisionen für das Brieger Schloss.64 Verbindet man die Tatsachen – seine Manipulationen in Ratibor, die Idee des Wiederaufbaus von Brieg in einer Form, die sofort Reminiszenzen an den Wawel weckt, dann war Kramarczyk wahrscheinlich der Mitinitiator des späteren Wiederaufbaus der Brieger Loggien. Es entstand dabei eine freie Variation 61 Pierścieniak (wie Anm. 55), S. 73–75. 62 Ergebnislos verlief die Suche im Nachlass Kramarczyks im Museum in Neisse (Archiwum Muzeum w Nysie), Mappen: „Stanisław Kramarczyk“, 1–18. Ich danke hier Maria Kondracka. Das Museum in Brieg stellte mir schließlich die Fotoabzüge der Zeichnungen zur Verfügung, wofür ich dem Direktor Paweł Kozerski und dem Fotografen Jerzy Stemplewski zu danken habe. 63 Kozina (wie Anm. 54); Pierścieniak (wie Anm. 55), S. 70. 64 Kramarczyk, Stanisław: Odbudowa Wawelu [Der Wiederaufbau des Wawel]. In: Ochrona Zabytków 4/3–4 (1951), S. 194–198, hier S. 194; Ders.: Renesansowa przebudowa zamku piastowskiego w Brzegu i jej tło historyczne [Der Renaissance-Umbau des Brieger Schlosses und sein historischer Hintergrund]. In: Biuletyn Historii Sztuki 24/1 (1962), S. 323–343.

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zum Thema Loggien, da sie nur im Erdgeschoss auf der Grundlage eines Baubefunds vor Ort (der erhaltenen Süd-Ostarkade) rekonstruiert wurde. Der Rest, ähnlich übrigens wie die Vorkriegsentwürfe, orientiert sich an Schloss Güstrow, einem späteren Bau Parrs. Die laut Zlat ehemals existierenden Dachgauben wurden nicht wiederhergestellt,65 wahrscheinlich weil die Loggien andernfalls ihr an das Wawel-Schloss erinnerndes Aussehen verloren hätten. So steht schließlich die Frage im Raum, ob der von einem Künstler-Ingenieur angeregte Wiederaufbau Briegs tatsächlich nur der Phantasie einer Einzelperson mit einem klar entwickelten Nationalethos entsprungen ist?

Marienburg – Aneignung trotz schwerer Bürde der Vergangenheit Die Marienburg, der etwa 1280–1454 errichtete Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens, wurde im nationalsozialistischem Deutschland 1945 zur Festung erklärt und vier Wochen lang hart verteidigt. Der sowjetische Beschuss zwischen dem 23. Januar und dem 9. März verwandelte die Ostseite der Burg in ein Trümmerfeld – insgesamt fielen etwa 50 Prozent der Bausubstanz den Kriegszerstörungen zum Opfer (Abb. 20). Dieser halb ruinierte Bau war in den Augen der Polen mit gravierenden negativen geschichtlichen Konnotationen behaftet. Schwerer als die Erinnerung an den Deutschen Orden, den wichtigsten Widersacher Polens im 14. und 15. Jahrhundert, wog dabei wohl die Instrumentalisierung des Bauwerks in den deutsch-polnischen Auseinandersetzungen seit etwa 1870. Der 1817 begonnene Rekonstruktionsprozess der Burg wurde zum Politikum, unter anderem durch die Reden Kaiser Wilhelms II., der den Deutschen Orden zum Träger der gesamten Kulturentwicklung im Osten Europas erhob, zum Boten, der den ortsansässigen, „kulturlosen“ Völkern den Segen einer höheren Zivilisation gebracht habe (siehe dazu den Beitrag von Elisabeth CrettazStürzel in diesem Band). Die Bürde der Vergangenheit beeinflusste den Umgang der neuen polnischen Besitzer mit der Burg.66 Nach 1945 tobte eine nur gelegentlich öffentlich geführte Diskussion über den Sinn oder Unsinn des Wiederaufbaus, deren Fronten keineswegs nur zwischen Kommunisten und Bürgerlichen bzw. zwischen den Machthabern und Fachleuten verliefen. Der von Jan Borowski vorgenommene Eintrag in die Denkmalliste im Septem65 Zlat, Mieczysław: Zamek piastowski w Brzegu [Das Piastenschloss in Brieg]. Opole 1988. 66 Kilarski, Maciej: Odbudowa i konserwacja zespołu zamkowego w Malborku w latach 1945–2000 [Wiederaufbau und Pflege der Burganlage in Marienburg in den Jahren 1945–2000]. Malbork 2007; Mierzwiński, Mariusz: Zamek malborski w latach 1945–1960 [Die Marienburg in den Jahren 1945–1960]. In: Studia Zamkowe 1 (2004), S. 7–54; Woźniak, Michał: Die Wiederherstellung der Marienburg nach 1945. In: Architekturgeschichte und kulturelles Erbe (2006), S. 113–137; Torbus, Tomasz: Die Marienburg im polnischen Pressespiegel 1945–1973 – der Wiederaufbau und die „Domestizierung eines fremden Erbes“. In: Die Marienburg. Vom Machtzentrum des Deutschen Ordens zum mitteleuropäischen Erinnerungsort. Hg. v. Bernd Ulrich Hucker, Eugen Kothe und Christine Vogel. Paderborn-München-Wien-Zürich 2013, S. 207–221. – Der Leitung und den Mitarbeitern des Museums, vor allem Mariusz Mierzwiński, Jerzy Hochleitner, Ryszard Rząd, Bernhard Jesionowski und Lech Okoński, sei an dieser Stelle für ihre Hilfe bei meinen Recherchen gedankt.



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Abb. 20  Marienburg (Malbork), Ostseite. Aufnahme von 1946.

Abb. 21  Marienburg, Ostseite. Aufnahme von 2016.

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ber 1949 – drei Jahre nach den Stadttoren, dem Rathaus und der Pfarrkirche der Stadt Marienburg – bedeutete jedenfalls ein klares Veto gegen den Abbruch der Marienburg. Während sich also allmählich die Meinung durchsetzte, dass die Anlage allein aufgrund ihrer Architektur unabhängig von geschichtlichen Konnotationen erhaltenswert sei, beurteilte man den preußischen Wiederaufbau der Burg im 19. Jahrhundert weiterhin negativ wie folgender anonymer Autor im Jahr 1946: Die „Rekonstruktion, die im letzten Jahrhundert von Deutschen geleistet wurde, [ist] mit der für sie charakteristischen Arroganz in der Betonung der pseudomonumentalen […] Bauten“ vonstatten gegangen. Der Direktor des Warschauer Nationalmuseums Stanisław Lorentz wetterte noch 1959 gegen die „Verblendung“ (zaślepienie) der ersten Kuratoren des polnischen Museums, welche die Interieurs des 19. Jahrhunderts nicht einfach entfernt hätten.67 1950 ging die Burgruine vom Besitz des Heeresmuseums in Warschau in den des polnischen Wandervereins PTTK (Polskie Towarzystwo Turystyczno-Krajoznawcze) über, womit die Geschichte ihrer touristischen Vermarktung begann. Im September 1959 vernichtete ein Brand die noch erhaltenen Dächer im Westteil des Mittelschlosses; das traurige Ereignis beschleunigte allerdings die Renovierungsarbeiten. Im Januar 1961 erfolgte die Gründung des Burgmuseums, anschließend begannen eine umfassende Sanierung und der Wiederaufbau, die 1973 (bis auf die erst 2016 fertiggestellte Schlosskirche) abgeschlossen wurden (Abb. 21). War der Wiederaufbau mit einer ideologisch-nationalen Umdeutung der Geschichte verbunden? Abgesehen von unseriösen Versuchen, die Marienburg als Werk polnischer Maurermeister vorzustellen,68 gehörten zu den Vereinnahmungsversuchen zweifelsohne Inszenierungen wie etwa der 1967 gefeierte 510. Jahrestag des Einzugs des polnischen Königs Kasimir IV. Jagiełło in die Burg. Wie ein roter Faden zieht sich dafür durch die Geschichte der Burg nach 1945 die Idee, hier ein ideologisch verbrämtes Museum zu gründen – zunächst des Slawentums und dessen vermeintlichen ewigen Kampfs gegen das Germanentum,69 dann des Siegs über den Deutschen Orden, in dessen Konzept sich 67 A. R. In: Wiatr od Morza. Czasopismo poświęcone polskiej kulturze marynistycznej 4 (Mai 1946), S. 16: „[…] rekonstrukcja, dokonana w ostatniej połowie wieku przez Niemców z właściwą im butą w podkreślaniu pseudomonumentalnych, gotyckich zarysów budowy.“ – Lorentz, Stanisław: O Malborku – prawda i mistyfikacja [Über die Marienburg – Wahrheit und Mystifizierung]. In: Nowa Kultura 51/52 (1959), S. 15. 68 Sas-Zubrzycki, Jan: Dwa zamki polskie w Malborku [Zwei polnische Burgen in der Marienburg]. Lwów 1930. 69 Dybowski, M.: Co zrobić z zamkiem malborskim? Warownia krzyżacka sanktuarium polskiej martyrologii [Was soll man mit der Marienburg machen? Die Feste der Ordensritter als Sanktuarium des polnischen Martyriums]. In: Dziennik Baltycki, 16.7.1946 (Nr. 194), S. 3, zit. nach Friedrich, Odbudowa Głównego Miasta (wie Anm. 5), S. 63: „[…] odbudować zamek i restytuować go w całej okazałości nie tylko można, ale i trzeba. Pomimo tego, że repolonizacja Ziem Odzyskanych wymaga zburzenia wszystkich pomników władztwa germanów, zamek malborski należy traktować jako wyjątek. Bowiem żadna inna pamiątka niemieckiej przemocy na ziemiach Rzeczypospolitej nie nadaje się swoimi rozmiarami, charakterem i historyczną przeszłością do stworzenia zeń centralnego muzeum zbrodni niemieckich w Polsce tak, jak właśnie ta siedziba krzyżacka w Malborku. […] A w wielkiej sali kapituł na górnym zamku zbiorowym wysiłkiem wszystkich polskich artystów malarzy [powinna zostać stworzona] panorama cierpiętnictwa polskiego. Wszystko po to, aby nigdy w umyśle żadnego Polaka



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das 1976–1982 in der Marienburg ausgestellte Monumentalgemälde „Die Schlacht bei Tannenberg“ (Bitwa pod Grunwaldem) von Jan Matejko gut einfügen lässt. Realisiert wurde die im Juli 1960 eröffnete Ausstellung zur Geschichte der alten Woiwodschaft Malbork nach dem Konzept von Karol Górski. Sie sollte die „Fälschungen und Mythen der deutschen Propaganda beseitigen“.70 Zu den Exponaten gehörten Bildnisse der polnischen Könige, Waffen und Rüstungen der polnischen Streitkräfte und Mobiliar aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Doch angesichts der Tatsache, dass es sich bei der bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts an Polen gefallenen Marienburg um eine der polnischen Königsresidenzen handelte, die darüber hinaus im 16.–18. Jahrhundert als das wichtigste Staatsgefängnis der polnisch-litauischen Adelsrepublik fungierte, waren die Versuche, diese Ära zu präsentieren und quasi als kulturelles Gegengewicht zu der Ordenszeit aufzuwerten, seltsam inkonsequent. Die Ausstellung von 1960 überdauerte dann auch nur wenige Jahre. Erst seit 2008 gibt es im Nordflügel des Mittelschlosses wieder eine bescheidene ständige Ausstellung, die der polnischen Epoche gewidmet ist. Es wurden auch niemals Pläne verwirklicht, dem Bauwerk im Zuge des Wiederaufbaus polnische Akzente zu verleihen wie etwa durch die Rekonstruktion des in der Zeit der polnischen Herrschaft über die Marienburg hinzugefügten barocken Helms über dem Hauptturm aus dem Jahr 1756, der Anfang des 19. Jahrhunderts und dann 1889 unter preußischer Herrschaft durch einen neuen Helm ersetzt worden war. Das Konzept wurde zwar diskutiert, letztlich begnügte man sich jedoch mit dem Aufbau eines flachen Turmabschlusses mit Zinnen. Dort, am Ausgang der Treppe, wurde 1967 ein Relief angebracht, das in Anlehnung an ein Bild im Danziger Artushof den triumphalen Einzug Kasimirs IV. 1457 in die Burg darstellte; 1996 wurde es wohl wegen seines Zustands beseitigt (Abb. 22).71 Schließlich ist die Frage zu klären, ob hinter der Rekonstruktion der Marienburg auch andere Beweggründe standen als die besondere Wertschätzung der hochkarätigen nie powstały żadne złudzenia odnośnie zawsze jednako wrogich zamiarów każdego Niemca w stosunku do każdego Polaka.“ In Übersetzung des Verfassers: „Man kann, man muss geradezu die Burg in voller Pracht wiederaufbauen und sanieren. Denn unbeachtet dessen, dass die Repolonisierung der Wiedergewonnenen Gebiete den Abbruch sämtlicher Denkmäler der Germanenherrschaft erfordert, sollte man die Marienburg als eine Ausnahme behandeln. Kein anderes Mahnmal der deutschen Gewalt auf dem Gebiet der Rzeczpospolita ist aufgrund seiner Größe, seines Charakters und der historischen Vergangenheit so gut geeignet, um daraus ein zentrales Museum der deutschen Gräueltaten in Polen zu machen wie dieser Sitz der Deutschordensritter in der Marienburg. […] Und im großen Kapitelsaal des Hochschlosses [vermutlich ist der Große Remter im Mittelschloss gemeint] sollte unter Mitwirkung aller polnischen Maler ein Panorama des polnischen Leidens [geschaffen werden]. Und das alles, damit bei keinem Polen Zweifel bezüglich der stets gleich bösen Absichten jedes Deutschen allen Polen gegenüber entstehen.“ Vgl. auch Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 36, wo diese Passage etwas anders übersetzt zu finden ist. 70 Zitiert nach dem Titel des Zeitungsartikels: Wystawa w Zamku Malborskim rozwieje fałszerstwa i mity niemieckiej propagandy [Die Ausstellung in der Marienburg wird die Fälschungen und Mythen der deutschen Propaganda in alle Winde zerstreuen]. In: Wieczór Wybrzeża, 9.7.1960; o. A.: Walka słowiaństwa z naporem germańskim. Wystawa w Zamku Malborskim [Kampf des Slawentums gegen den germanischen Drang. Ausstellung in der Marienburg]. In: Trybuna Ludu, 26.7.1960. 71 Kilarski (wie Anm. 66), S. 59–69.

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Tomasz Torbus Abb. 22  Marienburg, Relief mit dem Einzug König Kasimirs IV. an der Terrasse des Schlossturms. Aufnahme  von 1972.

mittelalterlichen Architektur? Neben der Anerkennung ihres Rangs innerhalb der europäischen Architekturgeschichte herrschte nämlich auch in der polnischen Denkmalpflege eine positive Einstellung zum Mittelalter. Die volkstümliche Thematisierung des Deutschen Ordens in der Kunst- und Literaturgeschichte des Landes als größter Widersacher Polens im Mittelalter, der schließlich niedergerungen werden konnte, spielte bei der Entscheidung für den Wiederaufbau sicherlich ebenfalls eine Rolle. Die Presse betonte häufig den Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der Volksrepublik Polen im Umgang mit dem kulturellen Erbe als ein Zeichen kultureller Überlegenheit letzterer, da man sich in Polen auch der (mittelalterlichen) Kunst des einstigen Feinds annehme. Jedenfalls baute man die Burgen wieder auf, die nicht nur ein Teil der deutschen Kultur waren, sondern ebenso ihre Rolle in der polnischen Geschichte und historischen Überlieferung spielten. 1954 machte Sławomir Sierecki in der Zeitung „Głos Wybrzeża“ (Stimme der Küste) auf das Junktim zwischen der Eroberung der Marienburg und der Roten Armee aufmerksam, welche die Marienburg „befreite“ und den „Polen sein uraltes Land zurückgab“. Die Marienburg ist ihm zufolge letztlich „ein Symbol der vernichteten Macht der Deutschordensritter und seiner Nachfolger“. Daraus schöpfte sie augenscheinlich ihre Daseinsberechtigung in der Nachkriegszeit, und dies macht auch ihren Wiederaufbau verständlich.72 72 „[…] symbol rozgromionej potęgi krzyżactwa i jego naśladowców.“ Zit. nach Sierecki, Sławomir: W twierdzy siedemnastu mistrzów [In der Festung der siebzehn Hochmeister]. In: Głos Wybrzeża, 18.12.1954, weiter heißt es dort: „Aber jeder Stein, jeder Ziegel erzählt uns vor allem die düstere Geschichte dieser Burg, vom Leiden der einheimischen Bevölkerung, die unter der Peitsche des Knechts



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Rekonstruktion und politische Ikonographie Anhand der exemplarisch untersuchten Fälle wurden Mechanismen sichtbar, die einer propagandistischen Untermauerung des Wiederaufbaus, der Polonisierung der Städte oder der Domestizierung eines fremden Erbes dienten. Dies geschah durch eine formale Betonung jener Elemente, die eine kontinuierliche polnische Geschichtserzählung suggerierten. Darunter befanden sich das Mittelalter und die Piasten in Schlesien oder das im politischen Sinn polnische Danzig der Frühneuzeit. Diese Rekonstruktionen dienten in den polnischen „Wiedergewonnenen Gebieten“ einer Interpretation der Geschichte, die gelegentlich Fakten verdrehte und auf eine nationale Vereinnahmung des kulturellen Erbes hinzielte. Aber auch hier sollte man nach Motiven in den Einzelfällen suchen. Denn neben sichtbar verfälschenden Aufbauprojekten (Ratibor) gibt es auch solche, die keine bzw. nur geringe Manipulationen an der historischen Bausubstanz (Marienburg) aufweisen, und schließlich auch solche, bei denen man sich ethnischhistorischer Argumente bediente, um von den Politikern eine Entscheidung für den Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg beschädigten Bauten zu erzwingen (Stettin). Zunächst ist festzustellen, dass es die höchsten politischen Entscheidungsträger des kommunistischen Polen waren, welche die generelle Anweisung zum historistischen Wiederaufbau der Denkmäler gaben. Als Schlüsselfigur fungierte hier bekanntermaßen der Generalkonservator Polens von 1945 bis 1957 Jan Zachwatowicz. Seine persönliche Bekanntschaft mit dem ersten Mann Polens, dem Staatspräsidenten Bolesław Bierut, verhalf ihm dabei wohl zu höchstem Einfluss. Während sein Wirken in Warschau, einschließlich des Entwurfs der Altstädter Pfarrkirche, der heutigen Johanneskathedrale, mit einer völlig der Phantasie entsprungenen Fassade, allgemein bekannt ist, stellt sein Mitwirken in Städten wie Breslau, Danzig, Lublin oder Posen noch ein Forschungsdesiderat dar. Dies mag auf die lokalpatriotische Einstellung der örtlichen Forschung zurückgehen, die sich verständlicherweise auf die regionalen Akteure des Wiederaufbaus konzentriert und beispielsweise den Generalplan des Wiederaufbaus unerwähnt lässt.73 Die personenbezogene Sichtweise zeigt, dass auch in einem totalitären Staat im Rahmen der zentralistisch gesteuerten Wiederaufbaupolitik individuelle Handlungsräume bestanden, die Entscheidungen über die Form der wiederaufgebauten Denkmäler oder sogar über deren Bestandschutz oder Demontage zuließen. So sind die freien RenaissanceNachbauten in Ratibor sowie höchstwahrscheinlich auch die Rekonstruktion des Brieger Schlosses ohne das Wirken von Stanisław Kramarczyk unvorstellbar. Ebenso verdanken einige Danziger Denkmäler ihre Rettung dem Denkmalpfleger Jan Borowski und der Breslauer Ring sein heutiges Aussehen vermutlich dem Architekten Marcin des Deutschen Ordens das Baumaterial hierherschleppte, sich selbst ein Gefängnis und eine Folterkammer bauend.“ Im Originalwortlaut: „Ale każdy kamień, każda cegła tej budowy mówi nam przede wszystkim o ponurych dziejach starego zamczyska, o cierpieniach miejscowej ludności, która pod batem krzyżackiego knechta dźwigała tu budulec, wznosząc dla siebie samej więzienie i wielką izbę tortur.“ 73 Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 14, 26, 73–78; Ders., Odbudowa Głównego Miasta (wie Anm. 5), S. 7; Gawlicki (wie Anm. 5), 175–182. – Es fehlt bisher eine Monographie zum Schaffen von Jan Zachwatowicz.

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Bukowski. Eine weitere verallgemeinerbare Beobachtung – der Aufsatz versteht sich als ein Katalog von Fragen und Arbeitshypothesen – eröffnet die Frage nach einem möglichen Junktim zwischen der Herkunft der wichtigsten Protagonisten und den formalen Zügen des Wiederaufbaus. Auffallend viele von ihnen waren Vertriebene, Flüchtlinge oder Aussiedler aus den von der Sowjetunion annektierten Ostgebieten Polens, den „Kresy“, darunter Jan Borowski, Marian Morelowski und Edmund Małachowicz aus Vilnius sowie Olgierd Czerner, Piotr Zaremba, Stanisław Kramarczyk und Franci­ szek Mauerer aus Lemberg (oder sie wurden dort ausgebildet). Auch wenn sich die neuen Eliten in den „wiedergewonnenen“ Großstädten oft aus den gebildeten urbanen Schichten der Ostgebiete rekrutierten, ist diese Dominanz erstaunlich. Die Vilniuser gehörten zu den um Stanisław Lorentz vor 1939 gesammelten „Rekonstruktionisten“ der Burg Troki, heute Trakai, in Litauen. Dies erklärt partiell ihre Herangehensweise in Danzig. Der andere Zusammenhang, viel problematischer zu belegen, liegt in der psychologischen Disposition. So äußerte sich Małachowicz: „Stets rechnete ich damit, dass wenn ich mich hier [in Breslau] um die Denkmäler kümmern werde, sich dann auch jemand um die Denkmäler in Vilnius kümmern wird.“74 Setzt man den psychologischen „turn“ fort, so war die Arbeit der ersten Generation der Akteure des Wiederaufbaus von der Sehnsucht nach „ihren“ Denkmälern geprägt; verbunden mit einer vorgefundenen terra incognita begünstigte dies eine gewisse Freiheit in den Entwürfen. Im Anschluss an die bekannten Worte aus der Nachkriegszeit: „Wir bauen Danzig schöner auf, als die Stadt je zuvor war“,75 ist nach den Motiven zu fragen, die eine „schöpferische“ Vorgehensweise begünstigten. Jacek Friedrich zufolge war es in Danzig oft einfacher, eine historistische Attrappe herzurichten, als eine denkmalgerecht minutiöse Sanierung durchzusetzen. Die bauplastischen Originalbauteile seien dort durch Nachahmungen ersetzt worden; sogar ganze Zeilen ruinöser Häuser hätten weichen müssen, um an ihrer Stelle Modellbauten (ul. Straganiarska) oder Grünanlagen (ul. Korzenna) zu errichten.76 Ähnliches lässt sich auch in Breslau, Posen oder Warschau beobachten. Wie es scheint, herrschte jedoch in den altpolnischen Kerngebieten mehr Pietät gegenüber den Originalbauten als in den ehemals deutschen Gebieten. Im ersten Fall waren es die Einheimischen, die mit dem Ort verbunden waren und über eine umfassende Kenntnis der Bauten verfügten, in Danzig oder Breslau kam den Neubürgern in den ruinierten Städten kaum etwas heimisch vor, alles war fremd und bar jeglicher Erinnerungen oder Assoziationen. Es liegt nahe, dass unter solchen psychosozialen Voraussetzungen die Denkmäler in formaler Hinsicht sehr frei aufgebaut wurden.77

74 „Zawsze liczyłem na to, że jeśli ja będę dbał o zabytki tutaj [Wrocław], ktoś zadba o zabytki wileńskie.“ Zit. nach Grodzka (wie Anm. 27), S. 18, Äußerung von Małachowicz vom 12. Januar 2010. 75 Wspomnienia (wie Anm. 11), S. 14: „Odbudujemy Gdańsk piękniejszy, niż był kiedykolwiek“ – Worte des Ersten Sekretärs des Woiwodschaftskomitees der PZPR Witold Konopka, 1949. 76 Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 209–219; Przypkowski, Tadeusz: Barbarzyńskie zniszczenie najcenniejszego zabytku Gdańska [Barbarische Zerstörung des wertvollsten Danziger Denkmals]. In: Problemy 5 (1957), S. 350–354. 77 Friedrich, Neue Stadt (wie Anm. 5), S. 219.



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Des Weiteren beabsichtigte ich mit diesem Aufsatz, den Mythos einer vermeintlich einmaligen Situation im Jahr 1945, die in der Folge gleichsam Rekonstruktionen erzwungen habe, wenn nicht zu widerlegen, so doch zumindest zu hinterfragen. Das hier vorgestellte neue Material lässt vielmehr die These zu, dass die Nachkriegsrekonstruktionen eine Vorkriegstradition fortsetzten (siehe dazu den Beitrag von Małgorzata Omilanowska in diesem Band). Die Aussagen von Zachwatowicz über eine Ausnahmesituation nach 1945, in der die beispiellose Zerstörung der Städte des neuen Polen „kreative“ Rekonstruktionen erforderlich machte, treffen zwar hinsichtlich des Ausmaßes der Vernichtung zu, auf die zu reagieren war, nicht aber hinsichtlich eines etwaigen Traditionsbruchs. In sämtlichen Wiederaufbauprojekten knüpfte man an die rekon­ struktive Vorgehensweise der Vorkriegszeit an. Den Anfang setzte dabei die Warschauer Altstadt. Auch wenn die Ideen zur Stadtsanierung mittels Abriss der zu dichten Innenstadtbebauung noch aus den 1920er Jahren stammen und es solche Altstadtsanierungen oder „Stadtgesundungen“ in den späten 1920er und 1930er Jahren in Warschau ebenso wie in Breslau oder Danzig gab, resultiert die Ähnlichkeit zwischen den Baumaßnahmen des Dritten Reichs und denen der Volksrepublik Polen noch aus einem weiteren Umstand. Es waren ähnlich strukturierte Machtmittel eines totalitären Staats, schier unbegrenzte organisatorische Vorrechte und eine nationalistische Propaganda, derer sich die beiden Staaten bedienten. Das Fazit von Birte Pusback, welche die denkmalpflegerischen Maßnahmen der 1930er Jahre in Danzig untersuchte, ist verblüffend. Anders als bei den sanierten Stadtkernen bzw. Vorzeigestadtvierteln in Breslau, Frankfurt/Main oder Hamburg, die schon bald nach ihrer Fertigstellung den Bomben zum Opfer fielen, sei Danzig wohl eine „Ausnahme“. „Der Wiederaufbau dieser Stadt“, so Pusback, „folgte ähnlichen Prämissen wie denen der Wiederherstellungsaktion der 30er Jahre, so daß das heute zu besichtigende Resultat, auch wenn sich die Architektursprache unterscheidet, einen Eindruck dessen vermitteln kann, was während der NS-Zeit dort unter dem Schlagwort ,lebendige Altstadt‘ avisiert worden war.“78 Auch wenn diese Traditionslinie letztlich nur ein Episode darstellt und zudem auch nur schwer belegt werden kann, so verhilft sie doch zu einer ausgewogeneren Sichtweise, welche die These von einer Polonisierung der Denkmäler, indem man sie bewusst in polnische Kostüme gekleidet habe, relativiert oder zumindest in einen breiteren Zusammenhang stellt. Es war das neue politische und wirtschaftliche System, sprich die Abschaffung des privaten Bodeneigentums, das großangelegte Wiederaufbauprojekte ermöglichte. Auf diese Weise konnten die vom Staat gelenkten Aufbaufirmen ganze Straßenzüge in rascher Abfolge aus dem Boden stampfen, mehrere nun verstaatlichte Häuser zu einer Wohneinheit verbinden und sie der vermeintlich protegierten proletarischen Bevölkerung übergeben. Dass die Vorkriegsbevölkerung von Danzig und Breslau deutsch gewesen war, machte diesen Bruch noch rigoroser. Der private Häuserbesitz hätte den Wiederaufbau stark verlangsamt. Massive, ganze Stadtteile betreffende „Rekonstruktionen“ waren nur in einem totalitären System möglich.

78 Pusback (wie Anm. 5), S. 290.

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Abb. 23  Danzig, Langer Markt, Häuser Nr. 1–13. Aufnahme von 2016.

Neben dem Aspekt, dass der Wiederaufbau formal als ein Phänomen des Sozialistischen Realismus zu betrachten ist, wurde unlängst eine weitere Beobachtung gemacht. So verwendet Jacek Dominiczak im Anschluss an Jacek Friedrich, der über den Wiederaufbau Danzigs im Kontext der klassischen Moderne schreibt, den Begriff hybrid, um den dichotomischen Charakter der Danziger Stadtwiederherstellung zu betonen. Historistisch seien dabei das Straßennetz, die einzelnen rekonstruierten Bauten und Fassaden weiterer Bürgerhäuser gehalten, während die Räume zwischen den Häusern „entsprechend den Richtlinien einer modernistischen Wohnsiedlung gebaut wurden. Es entstanden grüne Enklaven, Kinderhorte, Kindergärten und Schulen“.79 Hinter den rekonstruierten oder nur in ein historistisches Kostüm gekleideten Fassaden baute man in Breslau, Danzig oder Warschau Häuser auf, deren Raumordnung ganz anders als vor dem Krieg gelöst wurde. Mittels eines gemeinsamen Treppenhauses verband man bisweilen sieben Vorkriegshäuser zu einem einzelnen Ensemble (Abb. 23 und 24). Den Unterschied zwischen der modernistischen „Altstadt“ in Stettin und der historisierenden 79 Dominiczak, Jacek: (Od)budowa [Wieder(aufbau)]. In: Gdańskie tożsamości. Eseje o mieście. Hg. v. Basil Kerski. Gdańsk 2014, S. 261–279, hier S. 265: „[…] zbudowano według zasad modernistycznego osiedla mieszkaniowego. Powstały enklawy zieleni, żłobki, przedszkola i szkoły.“



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Abb. 24  Danzig , Langer Markt, Häuser Nr. 1–13, Eingangshalle. Aufnahme von 2016.

Rechtstadt in Danzig machen letztlich nur die im zweiten Fall vorgesetzten historisierenden Fassaden aus. Schwindet damit nicht umso mehr die Berechtigung des Begriffs der Rekonstruktion? Dieser Begriff kann allerdings uneingeschränkt für die prominentesten Einzeldenkmäler angewendet werden. So weist das Vorgehen bei den Rekonstruktionen der mittelalterlichen Kirchen von Breslau oder Danzig, die erstaunlicherweise bereits unmittelbar nach 1945 einsetzten, schon wegen der allgemeinen Wertschätzung der Architektur des Mittelalters keinen manipulativen Charakter auf. Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang vielleicht nur der Eifer, mit dem man in der Nachkriegszeit die Geschichte Danzigs vor der Ankunft der Deutschordensritter bzw. in Breslau die ersten Fürstenresidenzen und den ersten Dom auf der Dominsel archäologisch aufzuspüren versuchte. Es ging letztlich um eine verständliche nationale Schwerpunktsetzung. In Ratibor – und bis zu einem gewissen Grad auch in Brieg – findet man hingegen eine Praxis, die sich beim Wiederaufbau bewusst einer manipulativen, da ortsfremden Formensprache bediente. Eine nationale Vereinnahmung durch die Wahl bestimmter Stilmodi und Dekors war in Breslau problematisch und an der Vorliebe zum Mittelalter oder für die Attika erkennbar. In Danzig ist die Präferenz der Architektur des ausgehen-

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den Mittelalters und der Frühneuzeit letztlich Ausdruck einer Wertschätzung von etwas, was keiner Fälschung bedurfte, nämlich der 300-jährigen Zugehörigkeit Danzigs zum polnisch-litauischen Reich. Die Bürgerhäuser Danzigs mit ihren polnischen Motiven sind an sich keine Rekonstruktionen, sie sind letztlich Teil einer neu errichteten Rechtstadt Danzig mit einer neuen eigenständigen Ikonographie des Dekors. Die nationale Vereinnahmung beim Wiederaufbau ist somit ein Aspekt einer präzedenzlosen historisierenden Bauaktion, die auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden sollte. Bei aller Anerkennung der damaligen Leistung des Wiederaufbaus, er war ein Kind seiner Epoche. Ihm lagen die Verstaatlichung der Grundstücke in den Städten – sowohl in den kernpolnischen als auch in den ehemals deutschen – zugrunde, und sein Stilkostüm war das des stalinistischen Realismus. Ohne den Wiederaufbau von Warschau ist der Danzigs undenkbar, hier wurden die ideellen und formalen Muster ausgearbeitet, die später an weiteren Orten Anwendung fanden und diese geprägt haben. Bereits an den Fassaden des Warschauer Altstadtrings begegnet man den erzieherischen, moralisierenden und patriotischen Dekorformen, die dann in Danzig und in geringerem Umfang in Breslau zu finden sind. Allerdings übernehmen sie dort eine andere Funktion: Sie sollen das Konstrukt einer kontinuierlichen polnischen Stadtgeschichte veranschaulichen. Sowohl in Danzig als auch in Breslau war es letztlich nicht nur die Form der wiederaufgebauten Häuser, sondern auch die Leistung des Wiederaufbaus an sich, die als genuin polnisch apostrophiert wurde. Der Wiederaufbau Danzigs, sowohl die Entscheidung für ihn als auch die Vorgehensweise, trägt zweifelsohne eine starke nationale Komponente. Die neuerrichteten Bauwerke sollten als Zeugnis für den polnischen Charakter der Stadt dienen. Diese Sichtweise brachte Konrad Jażdżewski 1953 auf den Punkt: „Unser Anspruch auf Danzig basiert auf zwei festen Säulen – der Geschichte und der heutigen [Wiederaufbau-]Arbeit.“80 Zu Recht weist Gregor Thum darauf hin, dass im Fall Breslaus der Wiederaufbau ein Konglomerat aus diversen Beweggründen und formalen Ideen gewesen sei. Die „Domestizierung“ fremder Formen durch einen „kreativen“ Wiederaufbau habe dabei aber das entscheidendste Motiv gebildet: „Denn wer die Rekonstruktionen als das begreift, was sie sind – Zeugnisse vom Wiederaufbaupathos der fünfziger Jahre, von den ökonomischen Zwängen dieser Zeit und der Findigkeit der Architekten, mit ihnen umzugehen, einschließlich Dokumente eines Traumes von der sozialistischen, egalitären Gesellschaft –, der wird auf seine Kosten kommen, und der wird an dieser Stelle die Hoffnung der polnischen Neuansiedler begreifen, durch die Mühen des Wiederaufbaus und mittels architektonischer Umgestaltung dem Ort die Fremdheit zu nehmen und sich Breslau zu Eigen zu machen.“81 * 80 „Nasze prawa do Gdańska opierają się na dwóch solidnych słupach – na historii i na pracy teraźniejszej.“ Zit. nach Kasprzycki (wie Anm. 13). 81 Thum, Die fremde Stadt (wie Anm. 28), S. 474; Ders., Obce miasto (wie Anm. 28), S. 396 f. * Ich danke meiner Familie für die Toleranz bei der Entstehung dieses Textes bis in die Weihnachtszeit hinein und auch dafür, dass ich den Inhalt mit meiner Frau, Beata Lejman, intensiv diskutieren konnte. Der Dank gebührt auch meinen Freunden, die mir bei zahlreichen Zweifeln bezüglich des polnischen Wiederaufbaus zurate standen – Jerzy Ilkosz, Małgorzata Omilanowska, Jacek Friedrich (der auch Bildvorlagen zur Verfügung stellte) und Sergiusz Michalski. Nicht zuletzt danke ich Arnold Bartetzky,



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Summary Return to the empire of the Piasts and Jagiellonians The revival of Polish epochs during the reconstruction of the Regained Territories in Poland after World War II The reconstruction of the old town in Warsaw completed in 1953 defined the chronological, organizational and formal criteria of reconstruction. Warsaw was the instigator of the ‘Polish School of Conservation’. Be it in Lublin and Poznań within Poland’s pre-war borders, or in Gdańsk and Wrocław in the Regained Territories, both street design and the assignment of new functions greatly resembled those in Warsaw. Then again, in the last two cities, the reconstruction concepts differed significantly from those in central Poland. Based on the examples of Gdańsk, Wrocław, Szczecin, Racibórz, Brzeg and Malbork, a thesis is developed regarding the national connotation of monuments on the former German territories. Moreover, attention is paid to the ‘Polonization’ of elevation forms and decorative details by formally accentuating elements testifying to the Polish historical narrative. Despite the general similarities, certain elements have to be analysed separately. Apart from the visibly falsified reconstruction designs (Racibórz), there are also some with few or no traces of manipulation in the historical substance (Malbork) as well as others in which by means of more or less real arguments of an ethnic and historical nature, attempts were made to force politicians to decide in favour of reconstructing certain buildings damaged during World War II (see Szczecin). The Polonization process involving the selection of adequate stylistic and decorative means proved problematic in Wrocław and the designs adopted were actually those prepared in the 1930s by German conservator Rudolf Stein, undermining the thesis of nationalistic instrumentalization during reconstruction. Mention is also made of Gdańsk burgher tenement houses adorned with Polish motifs – a decorative iconography implying the city’s ethnically Polish continuity. Essentially, in both Gdańsk and Wrocław, what mattered was not the way in which reconstructed buildings demonstrated their Polish affiliation, but the very effort of reconstruction itself.

der auf den Text sehr lange warten musste, für seine Geduld, Beate Störtkuhl für ihre kritische Durchsicht und Madlen Benthin für das Lektorat.

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Jan Hu s al s Pro tok ommunist Die Rekonstruktion der Prager Bethlehemskapelle und die Konstruktion nationaler Traditionen in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg

Jan Randák

In einer großzügig konzipierten Publikation über Prag aus dem Jahr 1948 charakterisierte der Kunsthistoriker Václav Vilém Štech die tschechoslowakische Hauptstadt als eine schicksalsträchtige Stadt, wie es auf der Welt nur wenige gebe. Für ihn war Prag ein die nationale Geschichte verkörpernder Ort sowie ein monumentales Denkmal für den Kampf um die tschechische Nationalität.1 Zugleich war Prag für ihn aber auch eine Stadt, in der sich die rasch voranschreitende Gegenwart an die Vergangenheit anschloss: In der Nachkriegszeit „verschmolzen im rein tschechischen Prag nationale und soziale Träume miteinander, das Volk trat aus der passiven Anonymität heraus in den Vordergrund und übernimmt die Verwaltung seiner eigenen Angelegenheiten und die der Nation. Das Arbeitsfieber der allgemeinen Neugestaltung ist hoch wie noch nie zuvor. […] Allerdings ist diese Unruhe eine schöpferische, ihre Richtung wird durch den großen allgemeinen Willen bestimmt. Den Willen etwas aufzubauen, eine Ordnung zu schaffen, die Stadt für ihre Einwohner umzugestalten. Eine neue Gesellschaft aufzubauen, die das Leben ihrer Mitglieder wieder in einen großen Einklang bringt und deren Tage durch einen überpersönlichen Glauben an die Zukunft des Einzelnen, der Nation und der Menschheit gesegnet sind.“2 Warum führe ich Štechs Bemerkung eigentlich an? Ich halte seine Ausführungen über das historische und über das durch eine Aufbaustimmung gekennzeichnete Prag der Nachkriegszeit für eine passende Einleitung zu diesem Beitrag über die zeitgleich – in den Jahren 1948–1954 – stattfindende Rekonstruktion der historischen Bethlehemskapelle (Betlémská kaple). Dieses Bauvorhaben ist nämlich nur im Kontext der damaligen Ideen zu verstehen. Anknüpfend an Štech sind zwei für die Darstellung Prags um 1950 typische Momente zu erwähnen: erstens die offiziellen Vorstellungen von der Gestaltung des Prager Raums und seine historisierenden Interpretationen sowie zweitens, damit eng zusammenhängend, die Geschichtspolitik der kommunistischen Staatsführung.

1 Štech, Václav Vilém/Ehm, Josef: Krásy plná, slávou i kletbou bohatá … Praho! [Voll von Schönheit, mit Ruhm und Fluch reich … Prag!]. Praha 1948, S. 5 f. 2 „[V] ryze české Praze slily se v jedno touhy národní a sociální, lid vystoupil z pasivní anonymity do popředí a ujímá se správy věcí svých i národa. Pracovní horečka obecné přestavby stoupá do výše nikdy nedosažené. […] Avšak je to neklid plodný, má směr určovaný velikou společnou vůlí. Vůlí stavět, tvořit řád, uspořádat město pro ty, kdož v něm žijí. Budovat novou společnost, která zase uvede ve veliký souzvuk život příslušníků, posvětí jejich dny nadosobní vírou v příštího člověka, národa a lidstva.“ Zit. nach: ebd., S. 18.

Jan Hus als Protokommunist



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Historisches und sozialistisches Prag Die Bethlehemskapelle befindet sich in der Prager Altstadt. In ihrer ursprünglichen Form wurde sie in den Jahren 1391–1394 als Raum für Predigten in tschechischer Sprache erbaut (Abb. 1 und 2). 1402–1413 war hier Jan Hus tätig. Im Verlauf der Geschichte wurde die Kapelle immer wieder beschädigt und im Jahr 1786 wegen ihres schlechten Zustands sogar niedergerissen. Nur die Außenmauer blieb erhalten. Nach einigen Jahren, in denen die Parzelle brach lag, wurde 1836/37 anstelle der Kapelle, teilweise in deren ursprünglichen Außenmauern, ein dreistöckiges Mietshaus gebaut. Kurz nach Entstehung der eigenständigen Tschechoslowakei 1918 wurde auf dieser Parzelle eine gründliche Untersuchung durchgeführt, welche die Unversehrtheit des ursprünglichen Mauerwerks nachwies. Im Sommer 1948 folgte der Beschluss für den Wiederaufbau der Kapelle. In welchen Zusammenhängen ist diese Rekonstruktion zu sehen? Womit wurde die Entscheidung begründet, und welche Bedeutungen wurden diesem Objekt zugeschrieben? Der Prager Raum war schon in der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 in einem erheblichen Wandel begriffen. Gleichzeitig mit den Baumaßnahmen zur Beseitigung der Kriegsschäden setzte eine Tschechisierung der Stadt ein, welche die Vertreibung der Deutschen und Umbenennungen im öffentlichen Raum einschloss. Das Bild Prags wurde zudem nationalisiert, unter Mitwirkung der Presse, der Touristenführer und verschiedener nationalpolitisch geprägter Festivitäten. Nach der kommunistischen Machtübernahme wurde Prag, bedingt durch die neue politische Lage, eine Reihe von positiven Eigenschaften zugeschrieben, allen voran hatte es eine schöne sozialistische Stadt zu sein. Des Weiteren sollte Prag ein Symbol der Innovation, der kulturellen Reife, des politischen Bewusstseins und des Fortschritts darstellen. Gustav Bareš, einer der wichtigsten Ideologen der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (Komunistická strana Československa), zögerte nicht, dabei sogar Abb. 1  Prag, Bethlehems­ kapelle mit ihrem städtebau­ lichen Umfeld. Stich von Joseph Daniel Huber, 1765–1769.

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auf nationale Mythen zurückzugreifen. Auf der Konferenz des städtischen Komitees der Kommunistischen Partei im Dezember 1950 sah er in der sozialistischen Umgestaltung Prags die Verwirklichung der Prophezeiung von Fürstin Libuše.3 Der Legende nach begründete sie zusammen mit ihrem Gatten Přemysl Oráč das böhmische Herrschergeschlecht der Přemysliden (Přemyslovci) und sah für die künftige Stadt eine ruhmreiche Zukunft voraus. Die Hauptstadt in ein Zentrum des Sozialismus umzugestalten, bedeutete – nach Auffassung der Politiker und Stadtplaner – „vor allem die Struktur der Stadt dahingehend umzugestalten, dass sie dem neuen Leben im städtischen Raum entspricht, dem Leben des neuen sozialistischen Menschen, der mit Begeisterung eine freie, freudige und hochkulturelle Abb. 2  Prag, Bethlehemskapelle. Schnittzeichgesellschaftliche Ordnung schafft. Das nung nach Franz Leonhard Herget, 1785. heißt, ein glückliches Umfeld für die Prager Arbeiter zu erzeugen.“4 Den Pragern sollten neue Dominanten beschert werden: „Neben der Burg, die auch weiterhin das wertvollste Juwel Prags bleibt, neben diesem Denkmal unserer Geschichte, dem die sozialistische Epoche eine neue Bedeutung, nämlich die des noblen Symbols der Regierung der Arbeiterklasse in unserem Land, verliehen hat, neben der Burg, dem Sitz des Präsidenten, dem Vorarbeiter im Staate und dem Schöpfer des Sozialismus in der Tschechoslowakei, werden in Prag auch andere einmalige städtische Räume entstehen, welche die Kraft und die Größe des Sozialismus in die ganze Welt verkünden werden.“5

3 Chamrád, Vladimír: Za novou krásnou Prahu [Für ein neues schönes Prag]. In: Nová Praha. Časopis pražské lidové správy 54/1 (1951), S. 3–5, hier S. 3. 4 „[P]ředevším přetvořit strukturu města tak, aby odpovídala novému životu uvnitř městských prostorů, životu nového socialistického člověka, budujícího s nadšením svobodný, radostný a vysoce kulturní společenský řád. To znamená vybudovat šťastné prostředí pro pracující obyvatele Prahy.“ Zit. nach: ebd. 5 „Vedle Hradu, který nadále zůstane nejcennějším klenotem Prahy, vedle tohoto slavného památníku naší historie, jemuž socialistická epocha vtiskla nový výraz vznešeného symbolu vlády dělnické třídy v naší zemi, vedle Hradu, sídla presidenta, prvního dělníka ve státě, tvůrce socialismu v Československu, vzniknou v Praze další jedinečné městské prostory, které budou hlásit sílu a velikost socialismu po celém světě.“ Zit. nach: ebd., S. 4.



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Unter anderem war damit auch der Hügel Letná gemeint, „der zum Ausdruck der ewigen Idee des Kommunismus wird, von der Granitstatue des Generalissimus Stalin verkörpert, des Befreiers Prags, des genialen Schöpfers des Kommunismus und des Anführers der Arbeiterklasse der ganzen Welt […]“.6 Es wurde auch von einem neuen Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei sowie der zentralen Regierung der Tschechoslowakei gesprochen. Die Pläne schlossen auch einen für Manifestationen gedachten Platz im Stadtviertel Karlín ein. Schließlich sollte „eine Reihe von Statuen, Kunstwerken der neuen sozialistischen Architektur und Malerei in ganz Prag verteilt [werden], welche die Größe der neuen Zeit, ihre Kraft und ihren Sinn für das Schöne demonstrieren“.7 Neben ideologisch klar belasteten Objekten sollten auch Abrisse an den vermeintlich fehlerhaftesten Orten Teil der sozialistischen Umgestaltung der Stadt sein. Man rechnete mit massivem Wohnungsbau – es sollten Großwohnsiedlungen, Studenten- und Lehrlingsheime, aber auch Kinderkrippen, -gärten und -heime errichtet werden. Ebenso sollten neue Park- und Gartenanlagen und Spielplätze entstehen. Hauseigentümer wurden aufgefordert, bei Neuanstrichen bzw. Renovierungen die Fassaden in hellen Farben und Pastelltönen auszuführen, „um ein angenehmes und heiteres Stadtbild herzustellen“.8 Allmählich sollte eine Stadt entstehen, die dem neuen pulsierenden Leben hinter ihren Mauern, dem Leben der neuen sozialistischen Epoche gerecht werden konnte. Neben dieser physischen Umgestaltung sollte Prag noch eine weitere Transformation durchlaufen. Für die kommunistischen Machthaber war es wichtig, den öffentlichen Raum umzucodieren und das mentale Bild der Stadt umzugestalten. Ein Beispiel für diese Bemühungen ist der Stadtführer „Prag in revolutionären Traditionen“ (Praha v revolučních tradicích) der jungen engagierten Historikerin Věra Olivová-Pávová. Ihr Text von 1952 bestätigt auf eine zugespitzte Art und Weise die bekannte Tatsache, dass auch Reiseführer wie unter anderem Baedeker keine wertneutralen Botschaften vermitteln. Zumindest in politisch exponierten Verhältnissen verwandeln sie sich in ein In­strument zur Verbreitung politischer oder nationaler Werte. Der im Reiseführer beschriebene Ort muss dem betreffenden Kollektiv bzw. der politischen oder nationalen Ideologie zuzuordnen sein. In ihrem historischen Stadtführer widmete sich Olivová-Pávová den einzelnen Stadtvierteln Prags, auf deren Gebiet sie die aus ihrer Sicht politisch relevanten Denkmale der mutmaßlichen nationalen revolutionären Tradition aufzeigte. Letztlich kombinierte sie die mittelalterlichen Erinnerungssorte, insbesondere jene des Hussitismus, und die mit der Geschichte der Arbeiterbewegung und Kommunistischen Partei ver6 „[K]terý se stane výrazem věčné ideje komunismu, vyjádřené v žulovém pomníku generalissima Stalina, osvoboditele Prahy, geniálního tvůrce komunismu a vůdce dělnické třídy celého světa […].“ Zit. nach: ebd. 7 „[Ř]ada soch, výtvarných děl nové socialistické architektury, malířství, rozložených po celém území Prahy, budou hlásat velikost nové doby, její sílu a smysl pro krásu.“ Zit. nach: ebd. 8 „[A]by se tak dosáhlo příjemného a veselého rázu města.“ Zit. nach: Praha bude mít veselý vzhled [Prag wird ein fröhliches Aussehen haben]. In: Věstník hlavního města Prahy 51/23 (1948), S. 538.

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bundenen Stätten zu einem homogenen Ganzen. Ihrer Auffassung nach wurde Prag somit zum Podium der revolutionären Tradition des tschechischen Volks. Die ideologischen Ziele der Publikation, nämlich zu belehren und zu erziehen, treten offen zutage: „Auf unserem langen Spaziergang durch Prag haben wir in aller Kürze die in den Stein der Stadt gemeißelte revolutionäre Tradition unseres Volks verfolgt. Wir berührten die Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, der Erbin und Trägerin dieser Tradition. Die Geschichte Prags, seine Vergangenheit und Gegenwart, ist unserem Volk die Quelle der Hochachtung vor all denen, die so hingebungsvoll für seinen Sieg kämpften, vor all denen, die nicht einmal in den schwersten Momenten zweifelten, vor all denen, die unser Volk zu seinem großen Sieg geführt haben und es weiter auf dem Friedenspfad hin zu einer freudigen Zukunft führen.“9 Prag wird nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach der Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 offenbar gern in zwei Gestalten gezeigt: zum einen als eine sich vom Krieg erholende Stadt, die eine dynamische Entwicklung der neuen Siedlungs- und Transportinfrastruktur sowie der Dienstleistungen und der Freizeitflächen erwartet; und zum anderen als eine historisch vorbildliche Stadt – erinnert sei an die Ausführungen Štechs. Die Vergangenheits- und die Gegenwartsdimension werden dabei allerdings zusammengeführt. Sie bilden eine Symbiose, ja sogar eine integrale Verknüpfung, die der Gedankenwelt der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei entsprach. Die zukünftige Entwicklung und der sozialistische Aufbau sollten sich auf das feste Fundament einer fortschrittlichen historischen Entwicklung stützen. Die Betonung der Vergangenheit durch die ideologischen Vertreter der Diktatur geschah nicht ohne Grund und war immer von der offiziellen Geschichtspolitik abhängig. Eine der wichtigsten Bestrebungen der Parteipropaganda nach dem Februar 1948 war die Legitimierung der entstehenden politischen Verhältnisse und der Machtansprüche der Kommunistischen Partei. Dabei kam auch der nationalen Geschichte eine bedeutende argumentative Rolle zu, und zwar im Sinne der Vision, welche die Kommunisten als Erben der fortschrittlichen Traditionen des tschechischen Volks präsentiert und die durch die gleichnamige Broschüre von Zdeněk Nejedlý geprägt wurde.10 Dank dieser historischen Konzeption vermochte sich die Kommunistische Partei in die tschechische Geschichte als Nachfolgerin der progressiven Kräfte und als natürliche Krönung der nationalen Geschichte einzugliedern. Im Rahmen der Geschichtspolitik akzentuierten die Vertreter der durchzusetzenden Doktrin in Wissenschaft, Politik und Kunst sehr oft den Hussitismus und seine angeb9 „Na dlouhé cestě Prahou jsme ve zkratce sledovali revoluční tradice našeho lidu, zapsané do jejích kamenů. Dotkli jsme se dějin Komunistické strany Československa, dědičky a další nositelky těchto tradic. Z historie Prahy, z její minulosti i přítomnosti získává náš lid úctu ke všem těm, kteří tak oddaně bojovali za jeho vítězství, ke všem těm, kteří nezakolísali ani v nejtěžších chvílích, ke všem těm, dovedli náš lid k jeho velikému vítězství a vedou jej dále po cestě míru ke šťastné budoucnosti.“ Zit. nach Olivová-Pávová, Věra: Praha v revolučních tradicích (průvodce) [Prag in revolutionären Traditionen (Stadtführer)]. Praha 1952, S. 80. 10 Nejedlý, Zdeněk: Komunisté – dědici velikých tradic českého národa [Die Kommunisten als Erben der großen Traditionen des tschechischen Volks]. Praha 1948.



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liche revolutionäre Tradition, die über Jahrhunderte hinweg durch die tschechische Geschichte bis zur kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 verlaufe.11 Die Hussiten wurden als Vorkämpfer der heimischen kommunistischen Bewegung präsentiert. Neben wissenschaftlichen Arbeiten12 und politischen Verlautbarungen kam dieser Gedanke auch in öffentlichen Feiern13, im Film14 und in der Literatur15 zum Ausdruck. Der Hussitismus diente darüber hinaus als Instrument für die ideologische Gestaltung oder Besetzung des städtischen Raums, wie gerade auch die Rekonstruktion der Bethlehemskapelle belegt. Zum personifizierten Symbol des revolutionären Hussitismus avancierte in der Deutung der staatlichen Geschichtspolitik Jan Hus. Die Instrumentalisierung von Hus bzw. die ihm damals zugedachte Rolle veranschaulicht zum Beispiel folgende Anmerkung des Dramatikers, Prosaikers und studierten Historikers Miloš Václav Kratochvíl aus dem Jahr 1952: „Das Vorbild des Hus, des revolutionären Denkers, des Anführers des Volks und des Kämpfers, zieht sich durch die Geschichte von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft hin – ewig lebendig und ewig gültig. Sein konsequenter und unbeugsamer Kampf und die daraus gewachsene hussitische Bewegung wurden für die tschechische Nation sodann zur ersten großen revolutionären Erfahrung, die als kraftvolles, anregendes und mitreißendes Beispiel und Beitrag in ihrer gesamten weiteren Entwicklung und in zukünftigen Revolutionen widerhallte.“16 Die Bedeutung, die dem politisch und revolutionär verstandenen Hussitismus a priori beigemessen wurde, und die exklusive Stellung des Jan Hus als angeblicher mittelalterlicher Protokommunist erklären die Absicht und den Zweck der Rekonstruktion der Bethlehemskapelle. Kurzum: Unter den hervorgehobenen Orten des revolutionär 11 Randák, Jan: V záři rudého kalicha. Politika dějin a husitská tradice v Československu 1948–1956 [Im Leuchten des roten Kelchs. Die Geschichtspolitik und die hussitische Tradition in der Tschechoslowakei 1948–1956]. Praha 2015. 12 Macek, Josef: Husitské revoluční hnutí [Die hussitische revolutionäre Bewegung]. Praha 1952; Kavka, František: Husitská revoluční tradice [Die hussitische revolutionäre Tradition]. Praha 1953; Machovec, Milan: Husovo učení a význam v tradici českého národa [Die Lehre des Jan Hus und seine Bedeutung in der Tradition des tschechischen Volks]. Praha 1953. 13 Zum Beispiel die großartige Feier anlässlich des hussitischen Sieges bei Taus (Domažlice) von 1431 im sogenannten fünften Kreuzzug, der von Friedrich I. von Brandenburg und Kardinal Julian Cesarini angeführt wurde. Die Jahresfeier fand im August 1951 statt und sollte die Macht der Tschechoslowakischen Volksarmee demonstrieren, welche die Staatsgrenze vor den amerikanischen und westdeutschen Imperialisten geschützt habe. Randák (wie Anm. 11), S. 275–306. 14 In erster Linie die Filmtrilogie „Jan Hus“ (1954), „Jan Žižka“ (1955) und „Gegen alle“ (Proti všem, 1956) von Regisseur und Drehbuchautor Otakar Vávra. Ebd., S. 326–341. 15 Zur umfangreichen literarischen Produktion siehe Šámal, Petr: Znárodněný klasik. Jiráskovská akce jako prostředek legitimizace komunistické vlády [Der verstaatlichte Klassiker. Die Jirásek’sche Aktion als Mittel zur Legitimierung der kommunistischen Regierung]. In: Zrození mýtu. Dva životy husitské epochy. Hg. v. Robert Novotný. Praha-Litomyšl 2011, S. 457–472; Randák (wie Anm. 11), S. 314–326. 16 „Vzor Husa – revolučního myslitele, lidového vůdce a bojovníka prochází dějinami z minulosti přes přítomnost do budoucnosti, věčně živý a platný. Jeho důsledný a neúchylný zápas a z něho vyrostlé husitské hnutí se pak stalo českému národu, českému lidu první velkou revoluční zkušeností, která se ozývala živým, povzbuzujícím a strhujícím příkladem a přínosem v celém jeho dalším vývoji a při všech revolucích příštích.“ Zit. nach Kratochvíl, Miloš Václav: Jan Hus. Praha 1952, S. 78.

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gedeuteten Prags befand sich auch die Bethlehemskapelle. Ab 1402 hatte hier der mutmaßliche revolutionäre Held Hus gepredigt. Die in den zeitgenössischen Quellen als Ort großer Volksversammlungen und als Hussens politische Tribüne beschriebene Bethlehemskapelle stellte somit die Wiege der revolutionären Bewegung des tschechischen Volks und einen der berühmtesten Orte seiner Geschichte dar.

Rekonstruktion der Kapelle und Konstruktion der Geschichte Auf Vorschlag des Ministers für Schulwesen und unermüdlichen Propagators des Hussitismus Zdeněk Nejedlý hin beschloss die tschechoslowakische Regierung am 30. Juli 1948 den Wiederaufbau der Bethlehemskapelle (Abb. 3 und 4). Mit einem ähnlichen Gedanken hatte die Tschechoslowakei bereits in der Zwischenkriegszeit gespielt. Im Prinzip war also die Initiative Nejedlýs kein radikal neuer Ansatz.17 Politisch spezifisch und ideologisch innovativ war jedoch die Begründung, die er hierfür der Regierung vorlegte: „Über die Bedeutung der Bethlehemskapelle müssen sicherlich keine Worte verloren werden. Sie war einer der wichtigsten Orte in der Geschichte unserer Nation, sowohl wegen der Person des Predigers Magister Jan Hus als auch als Ausgangspunkt der bisher größten Bewegung unserer Nation – der hussitischen Bewegung. […] Durch ihre Erneuerung wäre somit Prag das international wichtigste und durch seine Bedeutung wertvollste seiner Denkmäler beschert.“18 Der Wiederaufbau begann am Mittwoch, dem 5. Juli 1950, in einem feierlichen Rahmen aus Anlass des jährlichen Gedenkens an die Verbrennung von Hus in Konstanz. Die Rekonstruktion wurde vom Komitee für die Erneuerung der Bethlehemskapelle (Komitét pro obnovení Betlémské kaple) unter Führung des Ministers Nejedlý geleitet. Dieser besuchte Berichten zufolge nicht nur regelmäßig die Baustelle, sondern soll auch während der Sitzungen des Komitees dessen Mitglieder an die besondere nationale und 17 Die erste erfolgreiche Erforschung des Mietshauses, das an der Stelle der ehemaligen Kapelle stand, wurde bereits 1919 durchgeführt. Anschließend, im April 1920, entschied der Kulturausschuss der Nationalversammlung über die Wiedererbauung der Kapelle. Das Projekt wurde aber nie umgesetzt: „Beschluss blieb Beschluss. Obwohl sich Masaryk in jeder seiner Reden auf Hus berief, stellte weder er noch seine Regierung genügend Geld zur Verfügung, um zumindest das Grundstück mit dem Haus zu erwerben, auf dem sich die Reste der Kapelle befanden. Diejenigen, die nur unermüdlich patriotische Reden führten, wurden nicht einmal zum Handeln gebracht, als der Architekt Kubíček im ersten Stock des Hauses, das der deutschen Technik gehörte […], den ersten Teil der Aufschrift fand.“ Im Original: „Usnesení zůstalo usnesením. Třebaže se Masaryk dovolával v každém projevu Husa, neuvolnil on, ani jeho vláda aspoň tolik peněz, aby se mohl koupit jen dům, na jehož pozemku se zbytky kaple nacházely. Ty, kteří tak neúnavně vlastenčili hubou, nepohnulo k činu ani to, když architekt Kubíček nalezl v prvním poschodí domu, patřícímu německé technice […] první část nápisu.“ Zit. nach Vlček, Alois: Splněný sen [Der erfüllte Traum]. In: Květy 4/30 (1954), S. 9. 18 „O významu Betlemské kaple netřeba jistě ztráceti slov. Bylo to místo v dějinách našeho národa jedno z nejvýznamnějších i osobou betlémského kazatele M. Jana Husi i tím, že zde vzešlo i rozvinulo se největší až dosud hnutí našeho národa – hnutí husitské. […] Obnovou Betlemské kaple získala by tudíž Praha i památník ze všech zde nejsvětovější a svým významem i nejcennější.“ Zit. nach Bartoš, František Michálek: Z dějin kaple Betlemské [Aus der Geschichte der Bethlehemskapelle]. Praha 1951, S. 12.



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Abb. 3  Prag, Bethlehemskapelle nach dem Wiederaufbau. Aufnahme von 1953.

staatliche Bedeutung der Rekonstruktion erinnert haben. Auch deswegen sollte die wiedererrichtete Kapelle keinem kirchlichen Organ zur Verfügung gestellt werden.19 „Die Bethlehemskapelle wird als ein bedeutendes historisches Zentrum der Volksbewegung erneuert. Dadurch wird ihre Besonderheit gegenüber den gängigen zeitgenössischen Sakralbauten unterstrichen und die fälschliche Vorstellung korrigiert […], wonach die Kapelle von der Größe her relativ klein war.“20 19 Archiv hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag, im Folgenden: AHMP), fond Komitét pro obnovu Betlémské kaple 1948–1954 (nezpracováno) [Fond Komitee für die Erneuerung der Bethlehemskapelle 1948–1954 (unbearbeitet)], Fond-Nr. 617: Záznam o schůzi Betlémského komitétu dne 16. února 1950 [Protokoll der Sitzung des Bethlehemer Komitees vom 16. Februar 1950]. 20 „Betlémská kaple bude obnovena jako významné historické středisko lidového hnutí. Tím bude podtržena její odchylnost od normálních soudobých staveb chrámových a napravena mylná představa […] o poměrně malé velikosti kaple.“ Zit. nach AHMP (wie Anm. 19), Záznam o 6. schůzi stavebního výboru pro

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Abb. 4  Prag, Bethlehemskapelle. Aufnahme von 2006.

Mit den bautechnischen Angelegenheiten befasste sich zunächst der im Sommer 1949 errichtete Bautechnische Ausschuss für die Erneuerung der Bethlehemskapelle (Stavební výbor pro obnovu Betlemské kaple). Aus organisatorischen Gründen wurde dieser Ausschuss jedoch nach weniger als einem Jahr aufgelöst und die Organisation des Wiederaufbaus durch Beschluss des Ministers für Technik im Januar 1950 dem Technischen Referat des zentralen Nationalkomitees der Hauptstadt Prag (Technický referát ústředního národního výboru hlavního města Prahy) anvertraut. Mit der praktischen Durchführung wurde der anerkannte Architekt Jaroslav Fragner, ein ehemaliges Mitglied der Künstlergruppe „Devětsil“ und einer der Begründer des tschechischen Funktionalismus der Zwischenkriegszeit und des modernen Klassizismus, beauftragt. Das Komitee konzentrierte sich eigentlich auf die Beaufsichtigung der organisatorischen Angelegenheiten. In manchen Sitzungsprotokollen sind aber trotzdem ideologische Spuren und Erwähnungen der revolutionären Tradition des Hussitismus zu finden. Dieser Tradition musste sich freilich jeder bewusst sein, der sich an der Erneuerung bzw. Konstruktion dieser symbolträchtigen Kapelle beteiligte. So wurden im Oktober obnovu Betlémské kaple konané dne 20. října 1949 [Protokoll der 6. Sitzung des Bautechnischen Ausschusses für die Erneuerung der Bethlehemskapelle vom 20. Oktober 1949].



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1951 Vertreter aller an der Erneuerung mitwirkenden Betriebe über die Bedeutung der Kapelle im Mittelalter belehrt. Gleichzeitig erging an sie die Aufforderung, darüber an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen zu referieren. Die Arbeit am Wiederaufbauvorhaben wurde dabei als eine Ehrenaufgabe präsentiert:21 „Den Genossen Bautechnikern, den Genossen Maurern und euch allen, die ihr beim Bau behilflich seid, wird die hohe Ehre erwiesen, die Bethlehemskapelle erneuern zu dürfen, das heißt das Denkmal unseres Hussitismus, der eigentlich die Geburt einer neuen Epoche bedeutet.“22 Der gewerkschaftlichen Wochenzeitung „Svět práce“ (Welt der Arbeit) zufolge führten die Arbeiter ihre Arbeit mit Verständnis, Liebe und großem Interesse aus.23 Über das Fortschreiten des Wiederaufbaus und über die einzelnen Entdeckungen wurde die Öffentlichkeit fortlaufend in Zeitungen und Zeitschriften sowie in der Fachpresse informiert. Fast jeder Beitrag erwähnte neben der bautechnischen Tätigkeit auch die historische Bedeutung des Ortes, also seine ideologische Aufgabe. Den Gipfel der propagandistischen Bemühungen stellte die Herausgabe der repräsentativen Publikation von Alois Kubíček im November 1953 dar.24 Im Einklang mit dem System der Planwirtschaft war die Rekonstruktion 1948 in den Fünfjahresplan eingefügt worden. Der Bau erfolgte in einer Zeit von allgemeinen Versorgungsproblemen und Arbeitskräftemangel. „Wir haben im jetzigen Aufbau, in dessen Rahmen wir die von den Nazifaschisten während der Okkupation verursachten Schäden beseitigen, selbstverständlich eine Reihe von wichtigen und ernstzunehmenden Aufgaben in den Bereichen Wirtschaft und Entwicklung. Wenn wir allerdings in dieser Phase trotzdem Gelder, Zeit und Arbeitskräfte für die Erneuerung der Bethlehemskapelle finden, so weisen wir der ganzen Welt einen wichtigen kommunistischen Grundsatz nach, nämlich dass aus der wirtschaftlichen Basis der kulturelle und geistige Überbau jeder Nation hervorgeht.“25 Alle ideal klingenden Thesen von der staatlichen und ideologischen Bedeutung des Baus waren in erster Linie offizielle Mitteilungen an die tschechoslowakische Öffentlichkeit. Ein Blick in die internen Unterlagen der betreffenden Ministerien und Ausschüsse bzw. Komitees zeigt, dass bei der praktischen Baudurchführung die politische Bedeutung des Projekts nicht immer beachtet wurde. Es gab Probleme mit der Enteignung und der 21 Ebd., Záznam o schůzi Betlémského komitétu dne 13. října 1951 [Protokoll der Sitzung des Bethlehemer Komitees vom 13. Oktober 1951]. 22 „Soudruhům stavařům, soudruhům zedníkům a vám všem, kteří jim při stavbě pomáháte, dostává se veliké cti, obnovit Betlémskou kapli, obnovit památník našeho husitství, které vlastně znamená zrod nového věku.“ Zit. nach Spáčil, Bedřich: Obnova Betlémské kaple [Die Erneuerung der Bethlehemskapelle]. In: Praha 53/19–20 (1950), S. 7. 23 Zelinka, Timoteus Čestmír: Českému srdci nejvzácnější [Dem tschechischen Herzen am nächsten]. In: Svět práce 4/27 (1954), S. 8. 24 Kubíček, Alois: Betlemská kaple [Die Bethlehemskapelle]. Praha 1953. 25 „Máme jistě v nynějším svém budování, kdy odstraňujeme škody, které nám za okupace napáchali nacifašisti, mnoho důležitých a vážných úkolů hospodářských a budovatelských. Ale jestliže přece najdeme si v této době peníze, čas a pracovníky k tomu, abychom obnovili Betlémskou kapli, tak dokumentujeme před celým světem jednu důležitou komunistickou zásadu, že totiž na hospodářské základně roste kulturní a duchovní nadstavba každého národa.“ Zit. nach Spáčil (wie Anm. 22), S. 7.

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Zwangsumsiedlung der Bewohner des Mietshauses, an dessen Stelle die Kapelle wiedererrichtet wurde. Anforderungen außerplanmäßiger Lieferungen von Baumaterial stießen auf die Kapazitätsgrenzen der Hersteller und das Misstrauen der Ministerialbeamten.26 Die Abbruch- und Bauarbeiten wurden anfangs durch das Fehlen eines umfassenden inhaltlichen Konzepts für den Wiederaufbau verlangsamt. Dem Komitee war es einfach nicht gelungen, dieses rechtzeitig zu liefern.27 Ein weiteres Problem bestand darin, dass von den Abbruchmaßnahmen Teile des angrenzenden Gebäudes der Technischen Universität Prag betroffen waren. Deren Vertreter schreckten nicht vor offenen Worten zurück und beklagten, dass sie von der Bauorganisation nicht ordnungsgemäß informiert worden und der Universität dabei erhebliche materielle und arbeitstechnischwissenschaftliche Schäden entstanden seien.28 Das Beharren auf eine vorschriftsmäßige amtliche Vorgehensweise wird auch durch folgendes Problem belegt, mit dem sich das Wiederaufbauprojekt zu Beginn konfrontiert sah. Der bereits erwähnte Bautechnische Ausschuss für die Erneuerung der Bethlehemskapelle wurde vom Zentralen Nationalkomitee der Hauptstadt Prag nicht als Bauherr anerkannt. Folglich verweigerte man ihm die Befugnis, Bauarbeiten in Auftrag zu geben und Rechnungen zu zahlen.29 Das war keineswegs ein leicht hinzunehmendes Problem. Diese Beispiele sollten deutlich machen, dass das Projekt bei aller ideologischen Bedeutung nicht den üblichen Problemen der Bauorganisation in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit enthoben war. Schließlich kann angenommen werden, dass in der Endphase die Finanzierung des Baus an sich problematisch wurde. Laut internen Berechnungen der Kanzlei des Regie26 Národní archiv (Nationalarchiv, im Folgenden: NA), fond Úřad předsednictva vlády [Fond Präsidiumsbüro der Regierung], Fond-Nr. 315/1, Karton-Nr. 137, Inventar-Nr. 2050: Obnova betlémské kaple, Žádost Stavební správy Betlémské kaple o kvalitní krytiny na střechu Betlémské kaple ze dne 15. srpna 1950 [Erneuerung der Bethlehemskapelle, Antrag des Bautechnischen Ausschusses für die Erneuerung der Bethlehemskapelle auf hochwertige Bedachung der Bethlehemskapelle vom 15. August 1950], S. 2. 27 „Die staatliche Planungsbehörde machte also rechtzeitig darauf aufmerksam, dass ein ideelles Konzept für das Erneuerungsvorhaben festgelegt werden muss, allerdings fasste das Komitee zu diesem Konzept noch keinen Beschluss. Aus diesem Grund sieht sich der Bautechnische Ausschuss vor die Tatsache gestellt, die Vorbereitungsarbeiten unterbrechen zu müssen und die Verlegung von ca. 25 ausgewählten Mitarbeitern des Baubetriebs auf eine andere Baustelle anzuordnen, obschon ihm bewusst ist, dass ihr ein solches Arbeitskollektiv durch die ČSSZ n. p. [das staatliche Unternehmen „Tschechoslowakische Baubetriebe“] später kaum zur Verfügung gestellt werden kann.“ Im Original: „Státní úřad plánovací upozornil tedy včas na potřebu stanovení ideového návrhu obnovy o kterém však Komitét pro obnovu Betlémské kaple dosud nerozhodl. V důsledku toho je stavební výbor postaven před skutečnost, že je nucen přerušit přípravné stavební práce a dáti příkaz k přemístění cca 25 vybraných pracovníků stavebního závodu na jinou stavbu, i když je si vědom toho, že takovýto pracovní kolektiv bude jí těžko dán k dispozici ČSSZ n. p. v pozdější době.“ Zit. nach: ebd., Obnova betlémské kaple, Přerušení prací na obnově Betlemské kaple [Die Erneuerung der Bethlehemskapelle, Unterbrechung der Bauarbeiten an der Erneuerung der Bethlehemskapelle], S. 3. 28 Ebd., Obnova betlémské kaple, Ústav výroby a rozvodu elektrické energie, důsledky obnovy Betlemské kaple [Die Erneuerung der Bethlehemskapelle, Institut für Stromproduktion und -verteilung, die Wirkungen der Erneuerung der Bethlehemskapelle], S. 1. 29 Ebd., Obnova betlémské kaple, Zpráva o činnosti Stavebního výboru pro obnovu Betlemské kaple [Die Erneuerung der Bethlehemskapelle, Tätigkeitsbericht des Bautechnischen Ausschusses für die Erneuerung der Bethlehemskapelle], S. 2.



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rungspräsidiums vom Februar 1949 würden „der Abriss der zugebauten Bauobjekte und die Sicherung des ursprünglichen Mauerwerks eine Summe in Höhe von etwa 22 000 000 CSK [Tschechoslowakischen Kronen] in Anspruch nehmen.“30 Bis heute ist es mir leider nicht gelungen, die tatsächliche Höhe der für den Bau erforderlichen Ausgaben zu ermitteln. Offiziell befand sich die Kapelle im Eigentum des tschechoslowakischen Staats und wurde ursprünglich vom Ministerium für Schulwesen verwaltet. Im Oktober 1956 übernahm die Abteilung für Kultur des Rates des Zentralen Nationalkomitees der Hauptstadt Prag (Odbor kultury rady Ústředního národního výboru hlavního města Prahy) die Verwaltung. Die Kapelle wurde schon im Sommer 1953 fertiggestellt, allerdings war ihre Umgebung noch nicht entsprechend in Stand gesetzt. Deswegen wurde der Zutritt in das Gebäude erst ein ganzes Jahr danach gestattet. Am 5. Juli 1954, am Vorabend des Jahrestags der Verbrennung von Hus in Konstanz, fand in Prag auf dem Bethlehemsplatz (Betlémské náměstí) ein sogenanntes Volkslager (tábor lidu) statt. In dessen Verlauf wurde die Bethlehemskapelle endlich dem tschechischen Arbeitervolk übergeben. Die feierliche Veranstaltung bekannte sich schon durch die Bezeichnung Volkslager ostentativ zu der historischen Tradition von Massenversammlungen des Volks. Sie wurde um 18 Uhr mit Fanfarenmusik eröffnet, danach sorgte der hussitische Choral „Die ihr Krieger Gottes seid“ (Ktož jsú boží bojovníci) für ein bisschen revolutionäre Stimmung, anschließend begrüßte der Prager Oberbürgermeister Adolf Svoboda die Anwesenden. Der Hauptredner der Veranstaltung war aber Nejedlý. Seine Rede kann mit folgendem Auszug über die Geschichte der Kapelle und über das fortschrittliche Vermächtnis des revolutionär und politisch verstandenen Hussitismus zusammengefasst werden: „Die Bethlehemskapelle war keine Kapelle im gewöhnlichen Sinn, wie wir den Begriff allgemein verstehen […]. Sie war eine Predigtstätte, und zwar auch in einem anderen Sinn als nur im Sinn einer Kirchenpredigt. Hier redete Hus, sprach das Volk an. Ich scheute daher, um es dem heutigen Menschen besser zu erklären, auch nie vor dem Anachronismus zurück, dass – wenn Hus heute leben würde – er nicht predigen, das heißt in einer Kapelle oder Kirche Reden halten, sondern dorthin gehen würde, wo man heute zum Volk spricht, nämlich in die Lucerna (der große Saal im Prager Lucerna-Palast am Wenzelsplatz [Václavské náměstí]) oder anderswohin, wo wir hingingen und auch hingehen. Es handelte sich hierbei um eine Belehrung des Volks.“31 Und als Erinnerung an die revolutionäre Zeit des Hussitismus, als „die Wiege 30 „[P]ouhé odbourání dostavěných objektů a zajištění původního zdiva si vyžádá částky asi 22.000.000 Kčs.“ Zit. nach: ebd., Obnova betlémské kaple, Referát úřadu předsednictva vlády o návrhu ministerstva školství, věd a umění na vládní usnesení o získání čtyř objektů v Praze 1. pro obnovu Betlémské kaple z 25. února 1945 [Die Erneuerung der Bethlehemskapelle, Referat des Präsidiumsbüros der Regierung über den Entwurf des Ministeriums für Schulwesen, Wissenschaften und Kultur zum Regierungsbeschluss über den Gewinn von vier Bauwerken in Prag 1. für die Erneuerung der Bethlehemskapelle vom 25. Februar 1945], S. 3. 31 „Kaplí také v tom smyslu, co se tím obyčejně myslí a jak se tomu aspoň u nás i všeobecně rozumí, Betlem nebyl […]. To bylo místo pro kázání, a i to ovšem v jiném smyslu, než bylo kostelní kázání. Zde Hus prostě mluvil, řečnil k lidu. Já jsem se proto nikdy nebál pro lepší objasnění dnešnímu člověku užít i toho anachronismu, že kdyby Hus byl dnes živ, nekázal by, tj. neřečnil by ani v žádné kapli, ani

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dieser großen Bewegung gegen die Ausbeuter von damals“,32 stellte die Bethlehemskapelle in der Auffassung Nejedlýs das kostbarste Denkmal der tschechischen Geschichte dar, das „ins Blut unseres Volks“ übergegangen sei.33 Das Moment der Identifikation der mittelalterlichen Hussiten des 15. Jahrhunderts mit dem kommunistischen Regime der Tschechoslowakei nach dem Februar 1948 wurde durch Nejedlýs Wunsch bekräftigt, „dass wir, und gerade wir, die Regierung und das Volk einer neuen, anderen Tschechoslowakei, ermutigt durch den Geist der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, diesem Ort endlich das geben, was er schon lange verdient hat“.34 Der offizielle Teil der Feier wurde mit der tschechoslowakischen und sowjetischen Hymne beendet. Danach folgte die Besichtigung der Kapelle. Wie die evangelische Wochenzeitung „Kostnické jiskry“ (Konstanzer Funken) ausführte, fand die „[F]eierliche Eröffnung des grandiosen Hussitismus-Denkmals vor der Kapelle statt, um hervorzuheben, dass die Kapelle an sich eine Gedenkstätte sei, der jene, die den Namen von Hus und des Leuchtturms seiner Tätigkeit – des Bethlehemer Predigtstuhls – tief in ihren Herzen tragen, bestimmt unzählige Besuche abstatten werden. Das beispiellose Interesse der breitesten Schichten an der Bethlehemskapelle schon zur Zeit ihres Neuaufbaus wird sich nun sicherlich vervielfachen und zum Ausdruck einer ehrlichen Dankbarkeit dafür werden, dass das zustande kommen konnte, wonach sich viele Herzen über viele Jahrzehnte hinweg gesehnt hatten.“35 Zumindest anhand der Berichte in Zeitungen und Zeitschriften und anhand der Fotos des mit Besuchern überfüllten Gebäudes kann darauf geschlossen werden, dass die Öffentlichkeit in den ersten Tagen und Wochen tatsächlich Interesse an der Kapelle zeigte. Manche Autoren beschrieben die Ungeduld der Besucher, die vor Beginn der Öffnungszeit in Gruppen warteten, und notierten ihre Unzufriedenheit, wenn das Denkmal nicht rechtzeitig aufgeschlossen wurde. Eine solche Szene, die real oder imaginiert sein mag, schilderte die Wochenzeitung „Květy“ (Die Blüten): „Es ist acht Uhr früh,

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v kostele, nýbrž že by šel tak, kde se dnes mluví k lidu, do Lucerny (velký sál v pražském Paláci Lucerna na Václavském náměstí) nebo kam jsme my chodívali i také chodíme. Šlo o poučování lidu.“ Zit. nach Spáčil (wie Anm. 22), S. 15. „[K]olébka tohoto velkého hnutí lidového proti vykořisťovatelům své doby“, zit. nach Nejedlý, Zdeněk: Husův Betlem a náš dnešek. Projev na slavnostním táboru lidu na Betlemském náměstí při odevzdání Betlemské kaple našim pracujícím dne 5. července 1954 [Hus’ Bethlehem und unser Heute. Die Rede bei dem feierlichen Volkslager auf dem Bethlehemsplatz anlässlich der Übergabe der Bethlehemskapelle an unsere Arbeitenden vom 5. Juli 1954]. Praha 1954, S. 8. Ebd., S. 7. „[A]bychom tomuto místu konečně dali, a zrovna my, vláda a lid nového, jiného Československa, povzbuzeni novým duchem komunistické strany Československa, co si dávno zasloužilo.“ Zit. nach: ebd., S. 19. „[S]lavnostní otevření velkolepého památníku husitství se dálo před kaplí, aby se dal důraz tomu, že kaple sama o sobě zůstává památným prostorem, kam jistě budou směřovat nespočetné návštěvy těch, jimž Husovo jméno a maják jeho činnosti – betlémská kazatelna – jsou hluboko vryty do srdce. Nevídaný zájem nejširších vrstev o Betlémskou kapli již během její nové výstavby se nyní jistě znásobí a bude projevem upřímného vděku, že mohlo být uskutečněno to, po čem mnoho srdcí celá desetiletí tak vroucně toužilo.“ Zit. nach: Slavnostní otevření památníku husitství [Die feierliche Eröffnung des HussitenDenkmals]. In: Kostnické jiskry 39/26 (1954), S. 1.



Jan Hus als Protokommunist

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es sind noch nicht alle Geschäfte offen. Am Holzzaun vor der Bethlehemskapelle stehen schon fast zwei Dutzend Menschen. Ein Greis vom Lande, eine Frau mit einer Tasche, die beim Einkaufen vorbeiging, eine Prager Tante, die ihrem bei ihr wohl die Ferien verbringenden Neffen eine Stadtführung gibt, zwei junge Leute, die Händchen halten, ein grauhaariger Genosse, der eine Februar-Auszeichnung trägt, ein Mann mit einer eleganten Aktentasche […]. Sie sind ungeduldig […]. ‚Wir haben die Kapelle doch nicht gebaut, um sie geschlossen zu halten.‘“36 Es gibt keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, welche Gefühle die Kapelle bei ihren Besuchern hervorrief. Haben sie sich mit dem Symbol der revolutionären Tradition des Hussitismus in der dargebotenen Form identifiziert? Oder war es nur Neugier, die sie zum Besuch dieses neuen Prager Denkmals anregte? Man tappt im Dunkeln, aber die zeitgenössische Presse schien sich über den Grund der Anziehungskraft der Kapelle im Klaren zu sein: „Du empfindest ein ganz besonderes Gefühl, wenn du an einem Ort stehst, den Hussens Schritt gesegnet hat. […] Heute herrscht hier Stille und Ruhe – die Menschen gehen barhäuptig hin und her. […] Du verlässt den Bethlehemsplatz und schaust noch einmal zurück: Bethlehem steht da, weiß, strahlend und majestätisch in seiner einfachen, schlichten Schönheit. Die Wiege der berühmtesten Epoche unserer Geschichte, die Stätte des Jan Hus, ein Ort, der eng mit der nationalen Existenz verbunden ist. Dann schreitest du von dem kleinen stillen Platz in das Rauschen der Großstadt. Du schreitest hinaus, um etwa in einem Jahr zurückzukehren – mindestens für eine Stunde. Und sag nicht, du seist nur zufällig vorbeigekommen. Es hat dich zur Kapelle gezogen – so wie es einen Sohn zu seiner Mutter zieht. Du bist zurückgekehrt, um dich zu verbeugen – und dich über die glorreiche Vergangenheit unseres Volks zu freuen. Und du wirst wiederkommen.“37 Die politische Entspannung der Folgejahre brachte allerdings auch einen nüchterneren Blick auf den gesamten Wiederaufbau der Bethlehemskapelle mit sich. 1962 wurde sie noch zum nationalen Kulturdenkmal erklärt. Im Jahr 1968, also in der Zeit des politischen Tauwetters, wurde aber der Wiederaufbau auf den Seiten der Informationsbroschüre „Die Bethlehemskapelle. Ein nationales Kulturdenkmal“ als Ausdruck der Romantik in der Denkmalpflege präsentiert. Jindřich Vávra, der Urheber dieser Kritik, hat zu Recht auch darauf hingewiesen, dass die Gedenktafel mit dem 36 „Je osm hodin ráno, všechny obchody nejsou ještě otevřeny. U dřevěné ohrady vedle Betlemské kaple je už skoro na dvě desítky lidí. Děda z venkova, žena s taškou, jak šla kolem na nákup, pražská teta, která provádí synovce, jenž je u ní zřejmě na prázdninách, dva mladí lidé držící se za ruku, šedovlasý soudruh s únorovým vyznamenáním, člověk s elegantní aktovkou […]. Jsou netrpěliví […]. ‚Přece jsme tu kapli nestavěli proto, aby zůstala zavřená.‘“ Zit. nach Vlček (wie Anm. 17), S. 9. 37 „Ovane tě takový zvláštní pocit, když staneš v místech, které posvětila noha Husova. […] Dnes je tu ticho, klid – lidé s obnaženými hlavami volně přecházejí. […] Odcházíš z Betlémského náměstí a ještě jednou se ohlédneš: Betlem tu stojí bílý, zářící a majestátný ve své jednoduché, prosté kráse. Kolébka nejslavnější epochy našich dějin, stánek Husův, místo, které je tak úzce spjato s národním bytím. Pak vykročíš z tichého náměstíčka do ruchu velkoměsta. Vykročíš, aby se třeba za rok vrátil – aspoň na hodinu. A neříkej, žes sem přišel či zabloudil náhodou. Táhlo tě to ke kapli – tak jako to syna táhne k matce. Vrátil ses poklonit – a potěšit slavnou minulostí našeho lidu. A přijdeš opět.“ Zit. nach Řežábek, Jan: Chrám lidu posvátný [Der heilige Dom des Volks]. In: Mladá fronta, 14.7.1955, S. 3.

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Jan Randák Abb. 5  Prag, Bethlehemskapelle, Gedenktafel „Für Zdeněk Nejedlý. In Anerkennung seiner Verdienste um die Erneuerung der Bethlehemskapelle. Die Regierung der Tschechoslowakischen Republik. Prag, am 6. Juli 1955“. Aufnahme von 2016.

Dank an den ehemaligen Minister Nejedlý für den Wiederaufbau (Abb. 5) die Kapelle zu einem persönlichen Denkmal dieser letztlich doch kontroversen Persönlichkeit mache.38 Über die symbolische Rolle des Baus traf Vávra schließlich mit folgenden Worten ein ganz klares Urteil: Der Wiederaufbau der Kapelle sei kein gewöhnlicher Akt der Denkmalpflege gewesen, sondern vielmehr ein politischer Akt ersten Rangs in den 1950er Jahren.39

Symbol einer revolutionären Zeit – aber welcher eigentlich? Die Bethlehemskapelle stellt eine politische Aktualisierung eines konkreten Erinnerungsorts der tschechischen Gesellschaft dar. Sie ist ein materielles Objekt, das seinerzeit für das revolutionäre Narrativ vom angeblich fortschrittlichen Gang der tschechischen Geschichte stand, mit dem der Machtantritt und die Festigung der kommunistischen Diktatur legitimiert wurden. In den Prager Raum trat die Kapelle nicht als ein apolitisches und nur der Vergangenheit gewidmetes Denkmal ein, das lediglich aus Verehrung für die mittelalterlichen Vorfahren erbaut wurde. Sie wurde in Prag vielmehr als ein der Gegenwart zugewandter und zukunftsorientierter Ort installiert, „aus dem jeder redliche Tscheche stets eine Lehre aus seiner Vergangenheit für die Verwirklichung seiner Vorstellungen von einer schönen neuen Welt ziehen“40 sollte. Hierher sollten sich die „körperlichen und geistigen Arbeiter [begeben], um jenen Ort zu sehen, von dem aus die ersten Flammen des Feuers in den Kämpfen um die Verwirklichung einer neuen,

38 Vávra, Jindřich: Betlémská kaple. Národní kulturní památka [Die Bethlehemskapelle. Ein nationales Kulturdenkmal]. Praha 1969, S. 15. 39 Ebd., S. 16. 40 „[N]a němž může každý poctivý Čech stále čerpati živé poučení ze své minulosti pro uskutečnění svých představ o krásném novém světě.“ Zit. nach Bartoš (wie Anm. 18), S. 16.



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Abb. 6  Prag, Bethlehemskapelle, Innenraum. Heute Veranstaltungsort für kulturelle Ereignisse. Aufnahme von 2016.

besseren Welt züngelten, Flammen, die Licht in die Dunkelheit des Mittelalters brachten“.41 Nicht nur die Kapelle an sich war eine Verkörperung der oft propagierten revolutionären Tradition des Hussitismus, mit der Jan Hus im Übrigen ganz automatisch in Verbindung gebracht wurde, obschon er eigentlich 14 Jahre vor dem Ausbruch der hussitischen Revolution verbrannt worden war. Auch die Gestaltung des Innenraums (Abb. 6–8) sollte diesem politischen Zweck dienen. Auf Geheiß von Minister Nejedlý wurden die Wände der Kapelle mit Bildern und Texten verziert, die in Zusammenhang mit Hus eher ahistorisch wirken. Die Darstellung des Zusammenstoßes der Hussiten mit den Kreuzfahrern, übernommen aus dem Jenaer Kodex, oder die Darstellung des Jan Žižka an der Spitze der hussitischen Heere aus derselben Quelle an der Nordwand der Kapelle heben nicht Hus als solchen hervor, sondern seine mutmaßliche – also zur Zeit des Wiederaufbaus konstruierte – Botschaft. Unmittelbare Folgen der Predigten von Hus seien demnach die Revolutionskämpfe und die Verteidigung des Lands gegenüber den fremden, die feudale Ordnung verkörpernden Kreuzfahrern gewesen. Kurzum: Die Kapelle war ein Instrument zur Vermittlung konkreter politischer und nationaler Werte. Die kommunistischen Machthaber konnten mit ihrer Hilfe ihre vor41 Ebd., S. 17: „dělníci rukou i ducha, aby zhlédli místo, odkud šlehaly první plameny požárů z bojů za uskutečnění nového, lepšího světa, plameny, jež ozařovaly temnoty středověku“.

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Abb. 7  Prag, Bethle­hemskapelle, Innenraum. Die von Zdeněk Nejedlý konzipierte Wandgestaltung mit Bildern und Texten macht die Kapelle zu einem Ort der Kommunikation politischer und nationaler Inhalte. Aufnahme von 2016.

Abb. 8  Prag, Bethlehemskapelle, Kanzel. Der kommunistischen Geschichtspolitik zufolge war die Kanzel zur Zeit von Jan Hus eine politische Tribüne zur Verbreitung revolutionärer Ideen. Aufnahme von 2016.

geblichen ideologischen Wurzeln und den Geburtsort der revolutionären Tradition aufzeigen. Die Kapelle wurde zu einem Bindeglied zwischen den vermeintlich progressiven Tendenzen der Vergangenheit und der fortschrittlichen Gegenwart. „All das, was von der Bethlehemskapelle bis in unsere Zeit erhalten blieb, wurde hier mit Pietät für die Zukunft gerettet und alles, was neu geschaffen wurde, mit dem Alten harmonisch und gehörig zu einem schönen, ideell einheitlichen Ganzen verbunden, das ein Symbol der hussitischen Zeit und gleichzeitig ein bedeutungsvolles Zeichen der gegenwärtigen Zeit ist, ein Symbol also für zwei Geschichtsepochen, in denen dieses Werk entstand und die beide durch die Größe des völkischen Kampfs und der Entflammung gesegnet sind.“42

42 „Všechno, co se z Betlemské kaple zachovalo až na naše časy, je zde s pietou zachráněno pro budoucnost a všechno, co bylo vytvořeno nově, se tu spojuje se starým, harmonicky i zákonitě v krásný, ideově jednotný celek, který je zároveň symbolem velké doby husitské i výrazným znamením doby přítomné, symbolem dvou dějinných epoch, v kterých toto dílo vznikalo a jež obě jsou posvěceny velikostí lidového boje a zápalu.“ Zit. nach: ebd., S. 3.



Jan Hus als Protokommunist

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In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 wurde Prag als eine sich dynamisch entwickelnde Stadt gefeiert, welche die Bemühungen beim Aufbau des tschechoslowakischen Kommunismus deutlich zum Ausdruck bringe. Obwohl es sich dabei um eine ständig wiederholte Vision handelte und obwohl die Bethlehemskapelle ein neues Werk darstellte, das gerade für die Gegenwart des 20. Jahrhunderts bestimmt war, halte ich ihren Wiederaufbau nicht für einen repräsentativen Akt der angekündigten, forcierten Umgestaltung Prags. In den mir bekannten Quellen gibt es keine Bestätigung der These, dass die neu errichtete Kapelle ausdrücklich Teil jener dynamischen, in die strahlende Zukunft weisenden Verwandlung der Stadt sein sollte. Aufgrund der ihr zugedachten legitimierenden Rolle und ihrer ideellen, die mutmaßliche nationale Fortschrittstradition akzentuierenden Botschaft wirkte sie trotzdem an der Herausbildung des sozialistischen Antlitzes der Hauptstadt mit. Zumindest war sie Teil der Bemühungen zur Umcodierung des Prager Raums zugunsten eines revolutionären nationalen Geschichtsnarrativs. Sie stellt deshalb die konkrete Verkörperung einer vorgeblich progressiven, die kommunistische Diktatur der Tschechoslowakei repräsentierenden Geschichtslinie dar. Der Wiederaufbau der Kapelle wurde übrigens auch von den Sudetendeutschen verfolgt. Aus ihrer Sicht handelte es sich dabei wahrscheinlich um die Repräsentation einer anderen Auffassung von der mittelalterlichen Geschichte. Die Leser der in München erscheinenden „Prager Nachrichten“ konnten darin im Jahr 1957 unter anderem folgende Kuriosität lesen: „Ein Ritter namens Johann Mühlheim hatte die Kirche (unter Wenzel IV.) im Jahre 1391 erbauen lassen, mit der Bestimmung, dass darin nur tschechisch gepredigt werden dürfe. Diese Verquickung von Religion mit chauvinistischem Hass fand dann ihre Blüte in dem Prediger Johannes Hus, der die Ideen des englischen Reformators John Wiclif mit nationalistisch-kommunistischem Deutschenhass vermengte und von 1400 bis 1414 als Prediger an der Bethlehemskapelle die tschechischen Massen gegen die Kirche und gegen die Deutschen aufhetzte, womit die Vorarbeit für die folgenden barbarischen Hussitenwirren geleistet war.“43 Aus dem Tschechischen von Zdeněk Hartmann und Petra Kultová

43 Prager Nachrichten 8/10 (1957), S. 2.

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Summary Jan Hus as a proto-communist The reconstruction of Bethlehem Chapel in Prague and the construction of national traditions in Czechoslovakia after World War II After the communist takeover in February 1948, Czechoslovak public space began to be filled with references to progressive national history, especially the Hussite tradition. Interpreted as spanning history from the fifteenth century until the Communist coup, it provided historical justification for the communist project – for by adopting the mantle of the Hussite tradition, the Communist government joined the current of national history and presented the socialist transformation of Czechoslovakia as part of the Czech nation’s historical development. The Hussite tradition was employed in the creation of the Czechoslovak territorial conception and the revolutionary topography of the Czecho­ slovak area, where it made Czechoslovakia a stage for revolutionary struggles. An example of this is post-war, post-February Prague, which was intended to be a socialist city where current memories were recoded in favour of the Communist dictatorship. In its public space, historical events and processes supporting the legitimacy of Communist power were commemorated – and the rebuilding of Bethlehem Chapel is a key example of this. The original chapel had been built in 1391–94 as a religious building where sermons were only to be delivered in Czech. From 1402 to 1413, the preacher there was Jan Hus, who was considered the founder of the revolutionary Hussite movement by the Communist regime. After passing to the Jesuits, who in turn were expelled, in 1786 the dilapidated chapel was demolished, to be replaced a few years later by a new tenement block. The reconstruction of Bethlehem Chapel was ordered by the Communist government in 1948 and welcomed by both the political elite and the general public. Featuring references to Jan Hus, the chapel was presented as the cradle of Czech revolutionary traditions. It was opened to the public in 1954.

D i e rest au ri ert e Ge schichte Denkmalpflege, Museumstätigkeit und Rekonstruktion in Ungarn seit 1990

Ernő Marosi

Für einen Mediävisten liegt es nahe, in einem Beitrag über architektonische Rekon­ struktion in Ungarn nach 1990 den Blick zunächst auf den denkmalpflegerischen Umgang mit mittelalterlichen Denkmälern zu richten.1 Unweigerlich drängt sich hier jene Auseinandersetzung auf, die um 1900 mit der bekannten Losung „Konservieren, nicht restaurieren“ zugespitzt wurde.2 Sie steht paradigmatisch für die Grundsätze der sich damals etablierenden modernen Denkmalpflege, die am klarsten von Alois Riegl als „Denkmalwerte“ in seiner Präambel zum gescheiterten österreichischen Denkmalschutzgesetz dargestellt wurden.3 Als diese Grundsätze am Ende des 20. Jahrhunderts neu hinterfragt wurden, ist nicht nur der auf einen Altruismus begründete Begriff des Alterswerts als eine liberalistische Utopie angezweifelt worden, sondern es hat auch der historische Wert als Ausdruck von Staatsoder nationalen Egoismen wieder an Aktualität gewonnen. Mit der zunehmenden, auch durch die Postmoderne bedingten Abkehr vom Modernismus des 20. Jahrhunderts ist immer klarer geworden, dass denkmalpflegerische Begriffe wie Konservieren, Restaurieren oder Rekonstruieren ebenso wenig ihre politischen Konnotationen eingebüßt haben wie die in ihnen ausgedrückte architektonische Metaphorik selbst (insbesondere mit den Adjektiven „konstruktiv“ und „destruktiv“). In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten hat sich der Kontext nicht nur der Denkmalpflege, sondern auch der kunsthistorischen Forschung und der Museumstätigkeit in Ungarn völlig verändert. Dieses Ergebnis einer übergreifenden Umwälzung ist erst um 2012 wahrgenommen worden.4 1 Marosi, Ernő: Ungarische Denkmalpflege am Scheidewege! In: Kunstchronik 43 (1990), S. 574–582; Ders.: Brüchige Vergangenheit. Denkmalpflege in Budapest. In: Neue Zürcher Zeitung, 4./5.1.1992, S. 47 f.; Ders.: Drei mittelalterliche Schlüsseldenkmäler der Kunstgeschichte Ungarns – restauriert. Székesfehérvár, Esztergom und Visegrád im Jahr 2000. In: Acta Historiae Artium 42 (2001), S. 255–281. – Für Lektorat und Informationen danke ich besonders Pál Lővei und István Bardoly. 2 Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten. Hg. v. Norbert Huse. München 1984. 3 Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege. Hg. v. Ernst Bacher. Wien-KölnWeimar 1995. – Marosi, Ernő: Konzerválni, restaurálni, rekonstruálni. A kulturális örökséggel való bánásmód a művészettörténetben [Konservieren, Restaurieren, Rekonstruieren. Der Umgang mit dem Kulturerbe in der Kunstgeschichte]. In: Közgyűlési előadások 1999. Bd. 1. Hg. v. Mihály Beck u. a. Budapest 2001, S. 49–54; Ders.: Cuius est imago haec? Riegls ,Gegenwartswert‘ und ,historischer Wert‘ heute. In: National Heritage – National Canon. Hg. v. Mihály Szegedy-Maszák. Budapest 2001, S. 211– 218. 4 Zum Bericht des Wissenschaftlichen Komitees für Kunstgeschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vgl. Marosi, Ernő: Praxis, Literatur, Wissenschaft. Zustand und Aussichten der ungarischen Kunstgeschichte, 1996–2011. In: Acta Historiae Artium 54 (2013), S. 151–173. – Der vollständige Text des Berichts und seine Dokumentation ist einzusehen bei: A magyar művészettörténet-tudomány

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Ernő Marosi

Die wesentlichen Züge des Wandels sollen nun hier den eigentlichen Fallstudien vorausgeschickt werden.

Umbrüche in Denkmalpflege, kunsthistorischer Forschung, Museumstätigkeit und Erinnerungspolitik Besonders deutlich wird die Umwälzung durch ihre Folgeerscheinungen sichtbar, nämlich den Abbau der traditionellen institutionellen Struktur. Bis 2012 wurden in einem allmählich fortschreitenden Prozess die Ämter der Denkmalpflege, die Museumsorganisation, die Hochschullehre der Kunstgeschichte und die bis dahin im Rahmen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (Magyar Tudományos Akadémia) konzentrierte kunsthistorische Forschung umgebaut. Diese Veränderungen artikulierten sich auch in öffentlich gewordenen bzw. bereits realisierten Konzepten einer neuen staatlichen Kunstpolitik. Sie entspringen dem mit dem Niedergang des Staatssozialismus einsetzenden Interesse für vormals verschwiegene künstlerische Werte und verbotene oder allenfalls geduldete künstlerische Bewegungen bzw. Gruppierungen, das auch die Forschungstätigkeit und Öffentlichkeitsarbeit der Museen und der Denkmalpflege tiefgreifend beeinflusst hat. Die Kultur im Ungarn der 1990er Jahre kann am besten durch den Bruch mit dem sozialistischen Wertesystem und durch eine Suche nach rivalisierenden Kanons beschrieben werden. Dabei verschafften sich schnell wirtschaftliche Maßstäbe des Konsums Geltung (etwa Besucherzahlen bzw. Versicherungskosten von Ausstellungen, auf Auktio­ nen erzielte Kaufpreise, Restaurierungskosten). Museen begannen volkstümliche, immer umfangreichere Ausstellungen anzubieten.5 Runde Jahreszahlen (etwa das 1100. Jubiläum der ungarischen Landnahme und zeitgleich die Erinnerung an die Millenniumsausstellung von 1896 oder die Jahrtausendwende von 2000 zeitgleich mit dem Gründungsmillennium des ungarischen Staats) haben ebenso Anlässe zu großen Veranstaltungen6 geboten wie Jubiläen des Benediktinerordens (Gründung bzw. Weihe der Erzabtei Pannonhalma)7. helyzete 1996–2011 [Der Zustand der ungarischen Kunstgeschichte 1996–2011]. In: Ars Hungarica 39/4 (2013), S. 409–559. 5 Pannonia Regia. Művészet a Dunántúlon 1000–1541 [Kunst und Architektur in Pannonien 1000–1541]. Ausst.-Kat. Ungarische Nationalgalerie. Hg. v. Árpád Mikó und Imre Takács. Budapest 1994; Aranyérmek, ezüstkoszorúk. Művészkultusz és műpártolás Magyarországon a 19. században [Goldmedaillen, Silberkränze. Künstlerkult und Mäzenatur im 19. Jahrhundert in Ungarn]. Ausst.-Kat. Ungarische Nationalgalerie. Hg. v. Katalin Sinkó. Budapest 1995; Történelem – kép. Szemelvények múlt és művészet kapcsolatáról Magyarországon [Geschichte – Geschichtsbild. Die Beziehung von Vergangenheit und Kunst in Ungarn]. Ausst.-Kat. Ungarische Nationalgalerie. Hg. v. Árpád Mikó und Katalin Sinkó. Budapest 2000. 6 Siehe Anm. 7. – Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie. Handbuch. 2 Bde. Hg. v. Alfried Wieczorek und Hans-Martin Hinz. Stuttgart 2000. 7 Mons Sacer 996–1996. Pannonhalma 1000 éve [Mons sacer 996–1996. 1000 Jahre Pannonhalma]. 3 Bde. Hg. v. Imre Takács. Pannonhalma 1996; Paradisum plantavit. Bencés monostorok a középkori



Die restaurierte Geschichte

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Über den kommunikativen Wert hinaus, der damals im Slogan des „besucherfreundlichen Museums“ Ausdruck fand, entdeckte man den politischen Repräsentationswert der Kunst wieder. Mittel der Repräsentation waren neben solchen Festausstellungen auch Restaurierungen und die Erinnerungspolitik im Zeichen der Ablösung von Denkmälern des Kommunismus durch neue, im Prozess einer damnatio memoriae. In der ungarischen Umgangssprache kann man gleichsam durch ein Wortspiel zwischen Denkmal (emlékmű) und Kunstdenkmal (műemlék) unterscheiden. Kunsthistorisch weniger gebildete Leute wie Journalisten führt dies oft in die Irre. Kein Wunder, dass die Riegl’sche Unterscheidung zwischen gewolltem und ungewolltem Denkmal so völlig verwischt wurde. Dass es sich hier um mehr als nur ein Expertenproblem handelte, belegt die repräsentative Veröffentlichung der denkmalpflegerischen Aktionen zum Millenniumsjahr mit dem Titel „Wir haben Säulen errichtet, damit sie von der Vergangenheit zeugen“.8 Er ist im Übrigen ein Zitat aus einem ähnlichen Gedenkbuch von 1896. Zudem ist seit 2000 immer häufiger das Argument für Rekonstruktionen zu vernehmen, dass Burgruinen Quellen einer pessimistischen Gesinnung seien, während Rekonstruktionen (etwa nach Vorbildern der Königsschlösser in Warschau und Berlin) eine optimistischere Haltung befördern würden.9 Diese Entwicklungen haben sich in die heutige denkmalpflegerische und museale Situation in Ungarn eingeschrieben, der Umbruch dauert aber an, eine kohärente Konzeption ist noch nicht erkennbar.10 Die zunehmende Fokussierung der Museen auf große Meister (etwa Monet, Van Gogh, Cézanne, Botticelli, Tizian, Rembrandt) in meist auf fremden Konzepten basierenden Blockbuster-Ausstellungen fand Beifall – sowohl bei Besuchern als auch bei der Presse. Eine wichtige Bestimmung des Museums als wissenschaftlicher Forschungsstelle wurde damit aber infrage gestellt. Dieser Wandel spiegelt sich auch in Projekten zu einer vermeintlich besucherfreundlichen Umgestaltung und Erweiterung der Museen, bei denen Einrichtungen wie Restaurant und Museumsshop wichtiger sind als Ausstellungsräume. Für Budapest entwickelte vor einigen Jahren der Staatssekretär des neuen, eine Fülle von Ressorts umfassenden Ministeriums für Humanressourcen sogar die Idee einer Museumsstraße, die von der Burg auf dem Hügel von Buda (dt. Ofen) über die AndrássyAllee (also die Hauptachse des zum Welterbe erklärten Pester Stadtviertels aus der Magyarországon – Benedictine Monasteries in Medieval Hungary. Hg. v. Dems. Pannonhalma 2001. 8 Oszlopokat emeltünk, hogy beszéljék a múltakat. A millenniumi műemlékhelyreállítások lexikona [Wir haben Säulen errichtet, damit sie von der Vergangenheit zeugen. Lexikon der Denkmalrestaurierungen des Millenniumsjahres]. Hg. v. Judit Tamási. Budapest 2000. 9 Derweil wird bereits im Hymnus „Aus den stürmischen Jahrhunderten des ungarischen Volks“ (A magyar nép zivataros századaiból) von Ferenc Kölcsey, der durch die Verfassung als ungarische Nationalhymne kodifiziert ist, eine Parallele gezogen zwischen Burgen der Vergangenheit, in denen „Gemüt und Freude“ herrschten, und den „Steinhaufen“ der Gegenwart, die von „Todesröcheln und Klage“ umgeben sind. 10 Die Zahl der Diskussionen und Beiträge ist unüberschaubar. Mir haben als regelmäßige Informationsquellen die wöchentlichen Presseschauen von Frau Julianna Tímár (Budapest) am meisten geholfen.

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Ernő Marosi

Gründerzeit) bis zum Stadtwäldchen führen sollte. Das Stadtwäldchen ist eigentlich ein nach Plänen von Christian Heinrich Nebbien zwischen 1813 und 1816 angelegter historischer Garten englischen Stils, an dessen Rand später das Museum der Bildenden Künste und die Kunsthalle entstanden, der aber auch selbst vielfach für Ausstellungszwecke (so 1896 anlässlich des Millenniums der Landnahme) und – vor allem auf dem angrenzenden Heldenplatz – für politische Repräsentation bzw. Monumentalpropaganda genutzt wurde. Kürzlich verschwand jedoch diese nostalgische Idee einer Museumsstraße. Stattdessen kam diejenige der Konzentration aller möglichen Museumsbauten im Stadtwäldchen auf, und zwar unter mehrfacher Berufung auf die Berliner Museumsinsel. Das Projekt ist in den vergangenen Jahren wiederholt modifiziert und schließlich reduziert worden. Außer der Renovierung des Museums der Bildenden Künste beschränkt es sich heute auf die Rekonstruktion des Verkehrsmuseums und eines Theaters sowie die Errichtung von Neubauten für die Neue Nationalgalerie, das Ethnographische Museum und das „Haus ungarischer Musik“. Der erste Schritt war die „Wiedervereinigung“ des Museums der Bildenden Künste mit der 1957 für die Geschichte der Kunst in Ungarn gegründeten Ungarischen Nationalgalerie. Infolge dieser Entscheidung muss die in den 1970er Jahren im ehemaligen Königsschloss untergebrachte Nationalgalerie nun ins Stadtwäldchen umziehen. Die Fidesz-Regierung sah nämlich die Zeit gekommen, den Regierungssitz auf dem Burgberg einzurichten. Etwas unklar bleibt die neue Funktion des Burgpalasts. Dieser sollte wohl nach einer erneuten Rekonstruktion der Repräsentation des Staatsoberhaupts dienen, dessen Sitz allerdings erst 2003 im klassizistischen Sándor-Palast eingerichtet worden war.11 Bei dem Burgpalast handelt es sich um ein Gebäude, das die Habsburgerkönige (im Unterschied zu ihren Statthaltern im 19. Jahrhundert) nie oder sehr selten bewohnt haben. Der Kernbau, ein kleines Barockschloss des 18. Jahrhunderts, wurde nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1876 bis 1905 wesentlich erweitert. Kaiser Franz Joseph als ungarischer König nahm den Palast für seine Hofrepräsentation nur selten in Anspruch. Allein der Reichsverweser des Königreichs Ungarn, Admiral Miklós Horthy, hat ihn in der Zwischenkriegszeit bestimmungsgemäß benutzt. Das Schloss wurde nach seiner fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg bis 1978 als Sitz wichtiger kultureller Institutionen wiedererbaut (Abb. 1 und 2), da die Regierung auf seine Nutzung verzichtet hatte. Neben der Nationalgalerie beheimatete es fortan auch das Historische Museum der Hauptstadt und die Széchényi-Nationalbibliothek. Offiziell handelt es sich jetzt um eine Art „Entrestaurierung“ des Palastkomplexes unter Verwendung der Entwürfe von Alajos Hauszmann (1847–1926). Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob der Neubarockbau des Späthistorismus oder der Sitz des Reichver-

11 Zu den Debatten der Ungarischen Gesellschaft für Urbanistik (Magyar Urbanisztikai Társaság) von 2014/15 vgl.: Mindent a maga helyén. Városliget, város, vár [Alles an seinem Ort. Stadtwäldchen, Stadt, Burg]. Hg. v. Imre Körmendy und István Schneller. Budapest 2015; Lővei, Pál: Budai várjátékok [Schloss-Spiele in Buda]. In: Élet és Irodalom, 3.7.2016; Brenner, János: Ein Schloss für den Regierungschef. In: Neue Zürcher Zeitung, 20.6.2016.



Die restaurierte Geschichte

Abb. 1  Budapest, Burgpalast, gegenwärtiger Zustand. Luftaufnahme.

Abb. 2  Budapest, Burgpalast, Nordwestteil. Ansichtsentwurf mit rekonstruierter Hauptwache,  Reitschule und Prunkstiege, 2016.

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wesers als Bezugspunkt gemeint ist. Die Tatsache, dass der Vorplatz des Parlamentsgebäudes kürzlich als Rekonstruktion des Zustands in der Zwischenkriegszeit mit einer offensichtlich für Militärparaden bestimmten kostspieligen Pflasterung wiederhergestellt wurde, lässt hingegen wenig Fragen offen. Dabei errichtete man folgerichtig auch Denkmäler wieder, die in kommunistischer Zeit entfernt worden waren. Dazu gehören die Reiterstatue (1906) des ersten Ministerpräsidenten nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich, Gyula Andrássy, und das Denkmal (1934) des in der Revolution von 1918 ermordeten Ministerpräsidenten István Tisza (beide überwiegend aufgrund von Dokumentationen rekonstruiert) sowie die Statuengruppe mit Lajos Kossuth und seiner Regierung (eine Kopie des in die Provinz verbannten Originals von 1927). Allein die Reiterstatue des Fürsten Ferenc II. Rákóczi (1937) war vor Ort geblieben. Das sogenannte Steindl-Projekt zur Umgestaltung des Parlamentsvorplatzes (2012–2014) verfolgte eine klare politisch restaurative Absicht. Es kannte keine Grenzen der gegenständlichen Rekonstruierbarkeit, keine Angst vor dem Zurückdrehen der Geschichte und keine Ehrfurcht vor dem Original. Die Berufung auf den Architekten des Parlamentsgebäudes, Imre Steindl (1839–1902), ist ebenfalls paradigmatisch. Seine Zeitgenossen, Miklós Ybl (1814–1891) und der als Taufpate des Schlossprojekts heraufbeschworene Hauszmann, wurden als Meister des Historismus den heutigen Architekten als Ideale vor Augen gestellt. Neben dem Erstaunen und den stillen Protesten von Kunsthistorikern, Architekten und Urbanisten haben besonders die landschaftlichen Zerstörungen im Stadtwäldchen den Widerstand der Grünen erregt. Als im Sommer 2016 mit dem Abbruch der Überreste des ehemaligen Pavillons des Verkehrswesens der Millenniumsausstellung von 1896 begonnen wurde (der bisher als Verkehrsmuseum gedient hatte und nun originalgetreu rekonstruiert werden soll), traten prügelnde Fußballultras als Sicherheitsleute auf, während Polizisten Protestierende verfolgten. Die angebliche Museumsreform entpuppte sich damit als ein Akt purer Gewalt.

Zerschlagung der staatlichen Denkmalpflege Dass physische Gewalt als Strategie der Legislative auftreten kann, die sich heute als logische Folgeerscheinung eines seit etwa 1990 laufenden Prozesses (unter Regierungen verschiedener Couleur) darstellt, zeigen auch die Schritte, die zur Elimination des staatlichen Apparats der Denkmalpflege geführt haben.12 Am Anfang setzte sich dessen Tätigkeit noch in Form des Landesinspektorats für Denkmalpflege (Országos Műemléki Felügyelőség, OMF, 1957–1992) fort, eines Amts unter Aufsicht des Ministeriums für 12 Viskolcz, Noémi: „A veszteség gondos dokumentálása“. A kulturális örökségvédelem intézményrendszerének változásai a rendszerváltás után (1990–2015) [„Die sorgfältige Dokumentation des Verlusts“. Die Veränderungen des Institutionssystems der Pflege des Kulturerbes nach der politischen Wende]. In: Sodrásban: képzések, kutatások (1975–2015). Tanulmányok. Hg. v. Erika Sütő, Éva Szirmai und Edit Újvári. Szeged 2016, S. 129–141.



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Bauwesen. Seine vier Abteilungen für Planung, Ausführung, baupolizeiliche Aufsicht und Forschung wurden 1992 zu drei Institutionen umstrukturiert: dem Landesamt für Denkmalpflege (Országos Műemlékvédelmi Hivatal, OMvH), dem Staatlichen Zentrum für Denkmalrekonstruktion und Restaurierung (Állami Műemlékrestaurálási Központ, ÁMRK) sowie der Staatlichen Verwaltung der Kunstdenkmäler (Műemlékek Állami Gondnoksága, MÁG) für den Umgang mit Denkmälern im Staatsbesitz. Dabei unterlag die Abteilung für Restaurierung aber gleich dem Druck des für das denkmalpflegerische Handwerk nachteiligen Wettbewerbs. Diese Institutionen wurden zunächst dem damaligen Ministerium für Umweltschutz und Regionalentwicklung untergeordnet. Als 1997 sowohl die Denkmalpflege als auch die musealen Institutionen gesetzlich neu reguliert wurden, entstand ein Inspektorat für das Kulturerbe (Kulturális Örökség Igazgatósága, KÖI). Dessen Aufgabenbereich umfasste die Archäologie sowie die Aufsicht des Kunstmarktes und der Kunstausfuhr. 1998 übernahm diese Aufgaben das neu errichtete Ministerium für Nationales Kulturerbe. Die nebeneinander bestehenden Institutionen wurden einem neuen Gesetz zufolge 2001 im neu gegründeten Staatsamt für Kulturerbe (Kulturális Örökség Hivatala, KÖH) zusammengefasst, das parallel zu den früheren Hilfsinstitutionen der Denkmalpflege (ÁMRK und MÁG) arbeitete. Letztere wurden 2007 infolge von Konflikten zwischen Großinvestitionen und Interessen der archäologischen Forschung umstrukturiert, wobei ihre Nachfolger neue Namen erhielten. Anstelle des ÁMRK wurde ein Fachdienst zur Pflege des Kulturerbes (Kulturális Örökségvédelmi Szolgálat, KÖSZ) gegründet, und die MÁG wurde, um die Bedeutung der Pflege und der touristischen Nutzung staatlicher Denkmale wie Schlösser und Parkanlagen zu betonen, in Nationalinspektorat für Kunstdenkmäler (Műemlékek Nemzeti Gondnoksága, MNG) umbenannt. Nach dem Wahlsieg der Fidesz-Partei von 2010 (das KÖH wurde gerade dem neuen Ministerium für Humanressourcen untergeordnet) haben sich besonders die Konflikte um die beiden genannten Hilfsinstitutionen verstärkt. Diese gerieten immer mehr in die Kritik, industriellen Großunternehmen oder nationalen kulturellen Vorhaben der Regierung (etwa der Ausgestaltung eines Kulturzentrums im Fürstenschloss Eszterháza und großangelegten Totalrekonstruktionen von Burgruinen) im Wege zu stehen und finanziell schwer kontrollierbare bürokratische Überbleibsel eines alten politischen Systems zu sein. Im September 2012 wurde dann das Staatsamt für Kulturerbe durch eine Verordnung der Regierung aufgelöst. Damit ist sowohl das institutionelle System der Denkmalpflege zerstückelt als auch seine Aufsicht unter verschiedenen Behörden geteilt worden. In baupolizeilichen Angelegenheiten gewann das Innenministerium (mit einer kleineren Gruppe von Fachleuten als Ratgeber) maßgebenden Einfluss, während lokale und regionale Aufgaben den betreffenden Regierungsämtern vor Ort unter der Aufsicht des Justizministeriums anvertraut wurden. Unter Aufsicht des Ministeriums für Humanressourcen (genauer des Forster-Instituts – dessen Name in geradezu zynischer Manier an den Kommissionsvorsitzenden der ungarischen Denkmalpflege zu ihrer Blütezeit um 1900 erinnert) blieben nur die wertvollen Sammlungen und Archive des ehemaligen Denkmalamts, das ungarische Amt für das UNESCO-Welterbe, das Inspektorat der Kunstdenkmäler sowie das (virtuelle) Architekturmuseum.

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Mit Recht wurden diese Maßnahmen nicht nur als eine Zerstörung des staatlichen Denkmalschutzes – und des Netzwerks der denkmalpflegerischen Aufsicht – in Ungarn bezeichnet, sondern auch als ein Angriff auf die (aus historischen Gründen für einen Großteil der mitteleuropäischen Nachbarländer wichtige) eigene Identität und Erfahrungsbasis.13 Wie schwer auch die hier nur kurz dargestellte Geschichte der ungarischen Denkmalpflege mit ihren ständig wechselnden Benennungen und Kürzeln nachzuvollziehen ist, darf nicht unerwähnt bleiben, dass selbst deren institutionelle Zerstückelung von 2012 inzwischen durch „Korrekturen“, also durch Abschaffung sich als unfähig erwiesener Institutionen, und ständige Wechsel von Direktoren und Umzüge wertvoller Sammlungen infrage gestellt worden ist. Im Moment (bis Ende 2016) steht das ForsterInstitut unter Aufsicht des Kabinettbüros des Ministerpräsidenten. Dem seit Jahrzehnten geforderten Architekturmuseum wurde im Rahmen des Stadtwäldchenprojekts zwar ein eigenes Haus versprochen, von dem allerdings nur die Perspektivansicht eines Würfels bekannt geworden ist. Aber es wurde schon bald wieder von der Agenda gestrichen – wohl als Zeichen der Toleranz der Zuständigen gegenüber den Gegnern der Gigantomanie.

Fragwürdige Rekonstruktionen in Esztergom, Visegrád  und Stuhlweißenburg Bereits um 1990 waren die Widersprüche in Theorie und Praxis der ungarischen Denkmalpflege wahrzunehmen – und um die Jahrtausendwende die ersten Folgen dieser Entwicklungen zu befürchten.14 Die analysierten Beispiele sind nicht nur durch feierliche Anlässe bedingte Einzelfälle gewesen. Die Rekonstruktion der königlichen Burg in Esztergom (dt. Gran) um das Millenniumsjahr 2000 blieb unvollendet (Abb. 3). Die dringende Revision der 1934–1938 fertiggestellten Rekonstruktion der südlichen Bautengruppe (ein Bergfried mit Kapelle und zweigeschossigem Wohnbau) steht noch immer aus. Angesichts der sichtbaren Spannung zwischen Prinzipien, Methodik und Qualität der beiden Rekonstruktionen wäre eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu erwarten gewesen. Nach der mehr als anderthalb Jahrzehnte dauernden Rekonstruktionsarbeit ist klar geworden, dass diese vor allem einer Neuinszenierung der Innenräume diente und Eingriffe in die 13 Eine genaue Bestandsaufnahme im Moment des Inkrafttretens der Verordnung bei Lővei, Pál/Klaniczay, Gábor: „Ha mindez így marad, akkor ez ennek a 140 éves történetnek a vége“. A Kulturális Örökségvédelmi Hivatal feloszlatásáról [„Wenn alles so bleibt, ist eine Geschichte von 140 Jahren zu Ende.“ Über die Auflösung des Amts für Kulturerbe]. In: BUKSZ 24/3–4 (2012), S. 254–268. 14 Marosi, Drei mittelalterliche Schlüsseldenkmäler (wie Anm. 1), erschien in der ungarischen Erstfassung als Forrásfoglalás. Restaurálások Székesfehérvárott, Esztergomban és Visegrádon a 2000. évben. In: BUKSZ 13/4 (2001), S. 348–362. Das ungarische Wort „forrásfoglalás“ im Titel hat einen doppelten Sinn: neben „Quellfassung“ auch „Eroberung der Quellen“. Siehe auch Ders.: Building Monuments. Medieval Székesfehérvár, Esztergom and Visegrád – in 2000. In: Budapest Review of Books 11 (2001), S. 16–29.



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Abb. 3  Esztergom (dt. Gran), Burg, nördlicher Hof. Aufnahme von 2000.

bauliche Gestalt der Bautengruppe (bis auf die Beseitigung von Schäden durch Witterung und mangelnde Isolierung) möglichst vermieden wurden. Der einzige baugeschichtlich relevante Eingriff war die Betonung des ehemaligen Turmcharakters des südlichen Bergfrieds, die aber wegen der wenig monumental wirkenden hölzernen Erhöhung mit Abdeckung (die höchstens etwa dem Heimatstil von Kurorten entspricht) kaum wahrzunehmen ist. Dachkonstruktionen, die einerseits am wenigsten belegt werden und andererseits als preiswertes Mittel zur Betonung von Baumassen dienen können, spielen in der aktuellen Rekonstruktionsmode generell eine große Rolle. In Esztergom stand die Restaurierung der Wandmalereien im Mittelpunkt. Es handelte sich dabei um Fragmente von grundlegender historischer Bedeutung aus der Zeit um 1200 bzw. aus dem 14. Jahrhundert. Die Restaurierung schloss auch eine Revision der Arbeit des berühmten Mauro Pellicioli (1887–1974) ein bzw. eine Entrestaurierung, wobei unentschieden blieb, ob die zum Teil in situ oder auf abgestürzten Steinquadern der oberen Bauteile gefundenen Malereien Spuren einer nachträglichen Übermalung oder eine al secco ausgeführte letzte Malschicht aufweisen. Wie hochambitioniert die Restauratorin war, zeigt die – an den damals auch in Museumsausstellungen praktizierten Kult der großen Künstlernamen erinnernde – „Entdeckung“ der Beteiligung des jungen Sandro Botticelli am Tugendzyklus des traditionell mit dem Namen des Erzbischofs Johannes Vitéz (1465–1472) in Verbindung gebrachten Studiolo. Diese mit einer kaum haltbaren Frühdatierung um 1470 verbundene Zuschreibung wurde gleichzeitig in einer Pressekonferenz des zuständigen ungarischen Ministers für Kultur in Rom und

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Ernő Marosi Abb. 4  Esztergom, Palastkapelle, Nordwand, Montage, 2014.

Abb. 5  Esztergom, Palastkapelle, Nordwand, Rekonstruktionsversuch eines Teils der Wandmalerei mit der Himmelfahrt Christi, 1930er Jahre.



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auf einer Tagung der Villa I Tatti in Florenz verkündet. Methodische Zweifel kamen noch vor Ort auf, und die Beurteilung der kunsthistorischen Einordnung war allgemein negativ.15 Der veränderte Umgang mit dem künstlerischen Erbe ist jedoch am besten fassbar, wo er als Fortsetzung älterer Rekonstruktionen auftritt. Wie inzwischen wiederentdeckte Dokumente aus den 1930er Jahren beweisen, bildeten gestürzte Bauglieder die wichtigste Grundlage der damaligen Rekonstruktion der Palastkapelle aus dem späten 12. Jahrhundert. Auf die ursprüngliche Anordnung der Bauglieder verwies meist ihre im 14. Jahrhundert entstandene dekorative Bemalung. Zumindest für die Höhenverhältnisse und die Wölbung der frühgotischen Kapelle gibt es Anhaltspunkte genug, welche die Anwendung der Anastylose nahelegen, also die (partielle) Wiedererrichtung des historischen Gebäudes durch das Zusammenfügen aller original erhaltener Bauteile. Während die erste Rekonstruktion eigentlich eine Ergänzung der Bauglieder war, bei der – dem damals gängigen Verständnis frühgotischer Strukturen entsprechend – die Wandflächen mit Ziegelmauerwerk gefüllt wurden, zeugt die Inszenierung nach 2000 von dem Bestreben, auch die Wände in die Gesamtwirkung einzubeziehen. Damit hat sich die Rekonstruktion von dem Grundsatz entfernt, dem zufolge zusätzliche neue Bauformen und Baumaterialien modern erscheinen sollen. Diese Prinzipien galten als höchster Stolz der ungarischen Denkmalpflegepraxis, die in dieser Hinsicht gar die Charta von Venedig (1964) vorweggenommen hatte. In der kritischen Sicht Riegls erschien dieses Verfahren als ein gemäßigter Historismus. Im Jahr 2014, aus Anlass der 50. Wiederkehr der Charta von Venedig, wurden auch in Ungarn Stimmen laut, die einen Bruch mit den Prinzipien der Charta bzw. sogar deren Kündigung forderten. In der Palastkapelle von Esztergom hat man inzwischen nach einer virtuellen Rekonstruktion (Abb. 4) die bis dahin museal aufbewahrten Fragmente von Wandmalereien auf herabgestürzten Quadern (Abb. 5) der oberen Wandteile ins wiederhergestellte Ziegelmauerwerk eingefügt.16 15 Prokopp, Mária: Gli affreschi quattrocenteschi dello Studiolo del Primate del Regno d’Ungheria a Esztergom: una nuova attribuzione. In: Italy & Hungary. Humanism and Art in the Early Renaissance. Hg. v. Péter Farbaky und Louis A. Waldman. Florence 2011, S. 293–315; Wierdl, Zsuzsanna: Nuovi risultati sul restauro degli affreschi quattrocenteschi dello Studiolo del Palazzo Arcivescovile di Esztergom. In: ebd., S. 317–342; vgl. vor allem Waldman, Louis A.: Commissioning Art in Florence for Matthias Corvinus: The Painter and Agent Alexander Formoser and His Sons, Jacopo and Raffaello del Tedesco. In: ebd., S. 427–501, hier S. 430–438. 16 Prokopp, Mária/Wierdl, Zsuzsanna/Vukov, Konstantin: A feltárástól – az újjászületésig. Az esztergomi királyi várkápolna története [Von der Erschließung bis zur Wiedergeburt. Die Geschichte der königlichen Palastkapelle in Esztergom]. Esztergom 2014. – Zur theoretischen Rekonstruktion vgl. Prokopp, Mária: Az esztergomi várkápolna XIV. századi freskói [Die Fresken der Esztergomer Burgkapelle im 14. Jahrhundert]. In: Művészettörténeti Értesítő 15 (1966), S. 73–88; Dies.: Pitture murali del XIV secolo nella cappella di Esztergom. 1. Problemi iconografici. In: Acta Historiae Artium 13 (1967), S. 273–312, 2. Problemi dello stile. In: ebd. 18 (1972), S. 169–192; Dies.: Italian Trecento Influence on Murals in East Central Europe particularly Hungary. Budapest 1983, S. 80–84. – Die Frage der Datierung und der stilistischen Beurteilung der Fresken (Beeinflussung durch die Wandmalereien der neapolitanischen Cappella Palatina von 1340 oder von Tommaso da Modena) bleibt offen bei Gerevich, Tibor: Magyarország románkori emlékei [Romanische Denkmäler von Ungarn]. Budapest 1938, S. 95 und 138, Anm. 139. – Prokopp, Mária: Die Fresken von Százd (Sazdice) im Königreich Ungarn um 1370. In:

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Abb. 6  Visegrád (dt. Plintenburg), Königspalast, Fassadenrekonstruktion des nordöstlichen Baus. Aufnahme von 2013.

Damit kam man dem Wunsch nach der Wiedergewinnung des Innenraums nach, bei welcher die farbige Fassung des 14. Jahrhunderts auch mit modernen Lichteffekten in Szene gesetzt wurde. Was ich 2001 in dem Beitrag „Drei mittelalterliche Schlüsseldenkmäler der Kunstgeschichte Ungarns“ noch als Zeichen zu befürchtender Tendenzen bewertet hatte, ist bei den Arbeiten in Esztergom Wirklichkeit geworden. Dasselbe gilt für die beiden damals ebenso besprochenen Fälle in Visegrád (dt. Plintenburg) und Stuhlweißenburg (Székesfehérvár). Beim Königspalast von Visegrád (Abb. 6) wurde das angeblich tote Museum mit Originalfunden dem vermeintlich wiederbelebten Denkmal entgegengestellt. Es dient heute als Kulisse für verschiedene Veranstaltungen wie Turniere, kostümierte Festumzüge und traditionelle Handwerksmärkte. Nicht zuletzt die Raumbedürfnisse des Museums, die außer Ausstellungsräumen auch Verwaltungs- bzw. Sitzungsräume usw. einschließen, haben zur Vermehrung von rein hypothetisch konzipierten Bauteilen beigetragen.17 Schnitte, die den archäologischen Art and Architecture around 1400. Global and Regional Perspectives. Hg. v. Marjeta Ciglenečki und Polona Vidmar. Maribor 2012, S. 141–149. 17 Feld, István: Kutatás – dokumentálás – rekonstrukció [Forschung – Dokumentation – Rekonstruktion]. In: Műemlékvédelmi Szemle 1–2 (1991), S. 27–53, hier S. 32–35.



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Abb. 7  Visegrád, Königspalast, innerer Hof des nordöstlichen Baus. Aufnahme von 2012.

Befund am Berghang veranschaulichen, belegen, wieweit unter dem Druck der Befriedigung von Raumbedürfnissen die Toleranzgrenze von Rekonstruktionen überschritten wurde. Die so entstandenen Räume, darunter der rechteckige Hof im nordöstlichen Teil des Palasts (Abb. 7), unterscheiden sich lediglich durch die niedrigere Qualität der Ausführung von Neorenaissance-Architekturen Budapester Mietshäuser des späten 19. Jahrhunderts. Durch diese Anpassung an die zeitgenössische industrielle Bautechnik wird gerade der angestrebte Erlebniswert beeinträchtigt. Die Schaffung eines Erlebniszusammenhangs war auch in Esztergom das Motiv für die dekorative Verwendung ehemals museal behandelter Fragmente von Wandmalereien. Die häufige Verwendung seit Langem in Museen aufbewahrter Bruchstücke von Bau­ skulptur in Rekonstruktionen ist Ausdruck einer zunehmenden Museumsfeindlichkeit. Am Anfang dieser Entwicklung stand die Verwendung eines seit dem frühen 19. Jahrhundert in Stuhlweißenburg nachweisbaren figürlichen Türpfostens bei der Rekon­ struktion des Westportals der Abtei Vértesszentkereszt. Während Originalskulpturen zur Schonung vor Umwelteinflüssen seit Langem zunehmend durch Kopien ersetzt und

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in Museen aufbewahrt werden, wie im Fall des Skulpturenschmucks der Westfassade der Abteikirche von Jaak (Ják)18, gibt es immer wieder auch den umgekehrten Weg. Kürzlich hat sogar die Ungarische Nationalgalerie auf wichtige, 1869 bei den Grabungen von Imre Henszlmann (1813–1888) zutage geförderte und anschließend dem Nationalmuseum geschenkte Architekturteile der Kathedrale von Kalocsa (dt. Kollotschau)19 verzichtet. Sie werden bei der gegenwärtig laufenden Restaurierung des Barockbaus verwendet und sollen offensichtlich dem Repräsentationsbedürfnis des Erzbistums dienen. Lokale, vor Ort eingerichtete Lapidarien sind wichtige Institutionen der ungarischen Mediävistik. Sie bedürfen der engen Anbindung an ihre Quellen und gehören mit zahlreichen Beispielen aus der Zwischenkriegszeit und aus der Zeit nach 1945 – wie Esztergom, Stuhlweißenburg, Pécs (dt. Fünfkirchen), Erlau (Eger), Segedin (Szeged), Steinamanger (Szombathely) für Jaak, Totis (Tata) für Vértesszentkereszt und Tihany – zur denkmalpflegerischen Tradition. Inzwischen sind sie baufällig und teilweise auch aus konservatorischen Gründen obsolet geworden. Bisher wurde nur die – aus Sicht des Fremdenverkehrs eher kritisch gesehene – Sammlung des Dommuseums von Pécs modernisiert. Wie man sich eine derartige Sammlung vorstellen könnte, hat im Jahr 2000 eine kurzlebige Ausstellung im Museum von Stuhlweißenburg20 gezeigt. Seit ihrer Auflösung ist nach wie vor unklar, wie das reiche Material des Dommuseums dauerhaft präsentiert werden kann. Der klassischen Methode der Einbeziehung von Steinskulpturen in die Kunstgeschichte soll die als eine Art Kataster angelegte Veröffentlichungsreihe „Lapidarium Hungaricum“21 dienen. Sie ist das letzte – und stark mit der Forschungstätigkeit der Denkmalpflege verbundene – Unternehmen des jüngst aufgehobenen Denkmalamts. Ähnliche Tendenzen wie bei den denkmalpflegerischen Arbeiten in Esztergom und Visegrád zeigen sich bei der Restaurierung der königlichen Stiftskirche in Stuhlweißenburg. Dort ist zwar der befremdende Schutzbau von 2000 abgebrochen worden, eine Reihe von historisierenden Plänen ist aber nach wie vor aktuell. Seltsamerweise sind 18 A jáki apostolszobrok. Die Apostelfiguren von Ják. Hg. v. Edit Szentesi und Péter Ujvári. Budapest 1999, S. 305–327. 19 László, Gergely Máté: Henszlmann Imre és a kalocsai székesegyház 1869-es régészeti feltárása [Imre Henszlmann und die archäologische Erschließung der Kathedrale von Kalocsa im Jahr 1869]. In: Kalocsa történetéből. Hg. v. László Koszta. Kalocsa 2000, S. 75–95. 20 Die einzige Veröffentlichung zur Ausstellung ist ein Kurzführer: A Szűz Mária-prépostság és temploma / The Provostry and Church of the Virgin Mary. Székesfehérvár 2004. – Mentényi, Klára/Bartos, György: Basilica grandis et famosa (Nagy és híres bazilika). In: Magyar Múzeumok 7/1 (2001), S. 43–45. 21 Lapidarium Hungaricum. Magyarország építészeti töredékeinek gyűjteménye [Eine Sammlung der Architekturfragmente von Ungarn]. Hg. v. Miklós Horler und [ab Bd. 7.] Pál Lővei. Bd. 1: Általános helyzetkép [Allgemeine Bestandsaufnahme]. Budapest 1988; Bd. 2: Pest megye 1. Visegrád, királyi palota [Komitat Pest 1. Königspalast Visegrád]. Budapest 1990; Bd. 3: Győr-Moson-Sopron megye 1 [Komitat Győr-Moson-Sopron 1]. Budapest 1995; Bd. 4: Budapest 1. Budai királyi palota [Budapest 1. Königspalast Buda]. Budapest 1998; Bd. 5–6: Vas megye 1–2 [Komitat Vas 1–2]. Budapest 2002; Bd. 7: Veszprém megye 1 [Komitat Veszprém 1]. Budapest 2009; Bd. 8: Pest megye 2. Visegrád, alsó-és felsővár [Komitat Pest 2. Niedere und Obere Burg Visegrád]. Budapest 2012.



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seit 1988 insgesamt drei Wettbewerbe zur Lösung der Frage des Umgangs mit dem Denkmalerbe der Stadt erfolglos geblieben. Dabei ist die ursprüngliche Idee eines Museumsneubaus für die qualitativ hochwertigen und kunstgeschichtlich bedeutsamen Steinfragmente des mittelalterlichen Marienstifts – der oben angesprochenen Museumsfeindlichkeit entsprechend – immer mehr in Vergessenheit geraten. Während in Visegrád kommerzielle und touristische Gründe die Rekonstruktionsarbeiten beeinflussten, stehen in Stuhlweißenburg eher lokalpolitisch verstandene Tradition und Würde der mittelalterlichen Krönungs-, Hoftags- und Grablegestadt im Mittelpunkt. Die Rekonstruktion des Komitats- und Bischofssitzes der Barockzeit soll in der modernen Industriestadt ehemaligen Glanz heraufbeschwören. Es handelt sich hier also um ein hochambitioniertes Unternehmen einer Provinzstadt mit unaufhörlichem Zwang zur Monumentalität. Wissenschaftlich fundierte Lösungen kommen dabei kaum in den Blick. Als eine der notwendigsten Bedingungen aller Rekonstruktionen wurde mit der Herausgabe einer mehrbändigen Monographie des königlichen Stifts mit dem Titel „Ecclesia Beatae Mariae Virginis Albaeregalis“ begonnen. Der erste Band ist den anthropologischen Funden der Stiftskirche gewidmet.22 Dieser politisch relevante Punkt steht freilich auf der Agenda der Forschung. Die Antwort auf die Frage nach der Errichtung eines Mausoleums der Ungarnkönige fällt allerdings negativ aus. Weitere Bände über Schrift- und Bildquellen, über die archäologischen Forschungen sowie über die Steinskulpturen als Voraussetzungen für eine Synthese der fehlenden Baugeschichte wurden in Aussicht gestellt. Unerwartet ist dann 2010 eine baugeschichtliche Skizze in dieser Reihe erschienen, und zwar mit der Absicht, den Konkurrenzentwurf des Verfassers für die Rekonstruktion zu unterstützen.23 Er sieht die Errichtung eines Mittelschiffjochs der ehemaligen Stiftskirche vor und dessen Ausschmückung mit einer Reihe von Statuen der dort beigesetzten Ungarnkönige des Mittelalters – also wiederum ein maßstabgerechtes Baumodell. Die kühne Scheitelhöhe von mehr als vierzig Metern ist das Ergebnis einer Kombination spärlicher Maßangaben (aufgrund von Bauaufnahmen der Ruinen seit dem späten 17. Jahrhundert), bauarchäologischer Beobachtungen und äußerst gewagter Hypothesen (etwa zu nirgends belegten Langhausemporen). Die genannte Publikation zeugt von einem totalen Missverständnis der Aufgaben der Bauforschung und Denkmalpflege.

Denkmäler im Fokus der gegenwärtigen Bauindustrie Erscheinungen, die bereits um das Jahr 2000 registriert werden konnten, haben sich als symptomatisch für viele denkmalpflegerische Maßnahmen der Folgezeit erwiesen. Schon deren schiere Anzahl würde eigentlich einer bausoziologischen Untersuchung 22 Éry, Kinga: A székesfehérvári királyi bazilika embertani leletei 1848–2002 [Die anthropologischen Funde in der königlichen Basilika zu Stuhlweißenburg 1848–2002]. Budapest 2008. 23 Szabó, Zoltán: A székesfehérvári királyi bazilika építéstörténete [Die Baugeschichte der königlichen Basilika zu Stuhlweißenburg]. Budapest 2010.

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Ernő Marosi Abb. 8  Budapest, Fassade des Hauses Tárnok-Straße 14 mit Witterungsschäden. Aufnahme von 2008.

Abb. 9  Budapest, Fassade des Hauses Tárnok-Straße 14 nach der Rekonstruktion. Aufnahme von 2011.



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bedürfen. Dass aber Denkmäler einen Schwerpunkt der gegenwärtigen ungarischen Bauindustrie bilden, fordert zum Nachdenken auf. Schnell ließen sich – jedoch ziemlich oberflächlich – einige Ursachen finden, etwa der Rückgang individuell zu lösender (künstlerischer) Aufgaben in der Bauproduktion und die relativ günstigen Finanzierungsmöglichkeiten denkmalpflegerischer Investitionen aus verschiedenen internationalen Quellen zur Förderung der Regionalentwicklung und des Tourismus. An erster Stelle sind hier die Europäische Union oder der sogenannte norwegische Finanzierungsfond zu nennen. Hier soll aber allein ein dritter Faktor zur Debatte stehen: der hohe politische Repräsentationswert dieser Investitionen und deren mediale Nutzung (Denkmäler als Träger von Botschaften). Nicht zuletzt wegen der mangelhaften Publizität der Pläne und wegen der noch laufenden Arbeiten – im Übrigen eine Folge der Zersplitterung der denkmalpflegerischen Institutionen – beschränkt sich mein Versuch, einige dominierende Tendenzen herauszuarbeiten, auf nur wenige Beispiele. Am Anfang der etwa 25 Jahre langen Zeitspanne, die hier überblickt wird, stehen noch denkmalpflegerische Leistungen klassischer Schule. Als Musterbeispiel gilt die von 1986 bis 1994 erfolgte Restaurierung der reformierten, ursprünglich als Propsteikirche der Prämonstratenser im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts erbauten Kirche zu Ócsa. Außer der Ausbesserung von Bauschäden blieben die Eingriffe dort im Wesentlichen auf die Freilegung zugeschütteter Bauteile durch Grabung und auf Bauuntersuchungen zur Befreiung stark übertünchter Baudetails beschränkt. Da die Betonung der im Grunde authentischen Lichtverhältnisse den Erfordernissen des calvinistischen Gottesdienstes nicht widersprach, wurde die mittelalterliche Raumhierarchie akzentuiert (durch Andeutung der erschlossenen Reste der Mönchschorschranken). Es bildete sich jedoch eine kritische Haltung gegenüber den bauarchäologisch zwar belegten, für den Laien aber kaum mehr lesbaren Präparaten heraus. Sie betraf vor allem die in situ aufbewahrten Reste als authentische Zeugen früherer Bauzustände. In einigen Fällen mögen konservatorische Gründe ausschlaggebend gewesen sein wie bei der ehemals als Musterbeispiel restaurativer Eingriffe berühmt gewordenen Fassadenbemalung des gotischen Wohnhauses Tárnok-Straße 14 im Budapester Burgviertel Buda. Die sorgfältige Konservierung der Bemalungsreste in einer Rekonstruktion des Dekorationssystems um das Jahr 1960 wich nach erneuten Witterungsschäden in den 1980er Jahren (Abb. 8) einer völlig neuen Rekonstruktion, bei der es sich praktisch um eine einheitliche Übermalung handelte (Abb. 9). Lesbarkeit und Vortäuschung einer nagelneuen Erscheinung – auch des Alten – sind seitdem Norm geworden. Bei der Restaurierung der in den 1970er Jahren erschlossenen Fassadenbemalung (samt rekonstruktionsbedürftigem Anjou-Wappen) an der östlichen Turmwand der Bischofsburg in Győr (dt. Raab) wurden sorgfältig konservierte Fragmente 1980/81 ebenfalls in eine Totalrekonstruktion einbezogen. Anders als in diesen Fällen ist die heutige Kritik an früher ausgeführten Restaurierungen oder Rekonstruktionen durch eine Distanzierung von modernistischen Lösungen motiviert. Als es am Ende des 20. Jahrhunderts zu Wiederherstellungen bereits früher rekonstruierter Denkmäler kam, wurde der Fachwelt klar, dass selbst denkmalpflegerische Eingriffe als Denkmäler einer vergangenen Epoche zu behandeln sind, zumal sich

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Ernő Marosi Abb. 10  Visegrád, Wohnturm („Salomonturm“) der unteren Festung mit Fehlstelle. Aufnahme von 1950.

darunter auch wichtige – teilweise experimentelle – Leistungen der Moderne befinden, etwa die Betonschale über den Resten der mittelalterlichen St.-Georg-Kapelle neben der Kathedrale von Veszprém (dt. Wesprim).24 In jüngster Zeit spitzte sich diese Auseinandersetzung anhand der Ergänzung des mächtigen mittelalterlichen Wohnturms (des sogenannten Salomonturms, 1962–1965) der Festung Visegrád zu. Sie ist das Hauptwerk des ehemaligen Architekten des Denkmalamts János Sedlmayr (1932–2004). Er hatte damals die Fehlstelle (Abb. 10) durch die Betonung der Schalungsspuren und durch die brutalistische Rohheit der Betonmasse nicht nur gefüllt, sondern (wohl nicht ohne einen Hinweis auf Flaktürme des Zweiten Weltkriegs) auch gedeutet (Abb. 11). Nun werden sowohl technisch unzulängliche Lösungen diskutiert (neben unzureichendem Bauzustand etwa ein fehlender Zugang für Behinderte) als auch die Möglichkeit eines Abbruchs und einer Neurekonstruktion des Denkmals (freilich mit obligater Dachkonstruktion). Die Argumentation folgt dabei einer nicht laut ausgesprochenen These, nämlich dass jede Generation ein Recht auf einen eigenen Denkmalbegriff und eine eigene Denkmalpflege habe. Dieselbe Haltung hatte früher unter Berufung auf die Charta von Venedig moderne Rekonstruktionen begünstigt. Den Forderungen nach einer eindeutig lesbaren und nagelneuen Erscheinung können freilich nur Rekonstruktionen von Denkmälern neuerer Zeiten entsprechen – möglichst mit erhaltenem Mobiliar. Die ehemalige Jesuiten- und heutige Benediktinerkirche zu Győr beweist, dass schon die gelungene Konservierung eines Freskenschmucks, hier der Wölbungsfresken von Paul Troger über Schiff und Chor, diesem Zweck genügen 24 Oszlopokat emeltünk (wie Anm. 8).



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Abb. 11  Visegrád, Wohnturm („Salomonturm“) der unteren Festung mit Ergänzung der Fehlstelle. Aufnahme um 2005.

kann. Auch in der Liebfrauenkirche auf dem Budaer Burgberg ist die Wiederherstellung der Rekonstruktion der farblichen Wirkung aus dem späten 19. Jahrhundert gut gelungen.25 Es ist kein Zufall, dass die besten Beispiele Kirchenbauten sind. Denn in der Profanarchitektur, deren Denkmäler meist lange bestimmungswidrig benutzt oder missbraucht worden sind, bieten sich als Gegenstände einer Wiederherstellung nur der mehr oder weniger erhaltene architektonische Rahmen an und in sehr glücklichen Fällen auch die Reste der Farbigkeit von Innenräumen. Der meist totale Verlust der Inneneinrichtung durch Plünderung oder Zerstörung erscheint dabei ebenso problematisch wie die Funktion der rekonstruierten Bauten. Selbst auf Regierungsebene veranlasste Maßnahmen zur Wiederbelebung von Schlössern als kulturellen Institutionen sind, etwa im Fall des ehemaligen königlichen Schlosses Gödöllő, nur mehr oder weniger erfolgreich gewesen oder haben zu ernsthaften Konflikten mit Museumsinteressen geführt wie im Fall des fürstlich Esterházy’schen Schlosses von Fertőd (Abb. 12). Dort ist man bestrebt, ein Kulturzentrum zu gründen, und zwar parallel zu den nahe gelegenen burgenländischen Zentren Eisenstadt und Forchtenstein. Die Bestände des geplanten Kulturzentrums sollen überwiegend aus Teilen des Erbes der Esterházy-Familie stammen, die, wie etwa die Kunstsammlungen und Teile der Schatzkammer, nichts mit der Sommerresidenz des 18. Jahrhunderts zu tun haben. Für musikwissenschaftliche Forschungen auf der Basis der Esterházy25 Mátyás-templom. A budavári Nagyboldogasszony-templom évszázadai (1246–2013) [Matthiaskirche. Jahrhunderte der Liebfrauenkirche auf dem Budaer Burgberg (1246–2013)]. Ausst.-Kat. Historisches Museum. Hg. v. Péter Farbaky u. a. Budapest 2015.

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Abb. 12  Fertőd, Esterházy-Schloss, Prunksaal. Aufnahme von 2012.



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Sammlung ist aber die Széchényi-Nationalbibliothek in Budapest zweifellos besser geeignet als Fertőd, das aber ein passender Ort für Sommerkonzerte ist. An diesem Punkt berührt sich das Geschehen in der Museumsszene von Budapest und in der Denkmalpflege. Dabei wirft die Ent- oder Rückrestaurierung des ehemaligen Königsschlosses von Buda dieselben Fragen auf wie jene der ungarischen Schlösser.26 Zumindest für die Schlösser in Besitz und Obhut des Staats sieht der Kontext anders aus. Die Möglichkeit der Wiederbelebung der Innenräume ist wegen der meist weitgehenden Verluste der Inneneinrichtung zwar beschränkt, sie bieten aber durch den Schutz und die Rekonstruktion der Gartenanlagen Chancen für eine umweltbewusste Denkmalpflege. Neben den nur wenigen Dutzend von staatlichen Denkmälern gibt es mehrere Tausende von Profanbauten in kommunalem oder privatem Besitz. Von ihnen ein Gesamtbild zu zeichnen, ist derzeit unmöglich. Die beträchtlichen kommunalen Investitionen scheinen dem Vorbild der Hauptstadt und der regierungsfinanzierten öffentlichen Arbeiten zu folgen. Wie beim „Hauptplatz der Nation“, dem Budapester Kossuthplatz (und wohl auch bald beim Stadtwäldchen samt Heldenplatz), herrschen in der Provinz vom Geschmack der 1970er und 1980er Jahre geprägte, kostspielig gepflasterte Plätze und Fußgängerzonen mit Brunnenanlagen und zahlreichen gestikulierenden historischen Statuen vor. Wenn ihnen nicht Grünanlagen zum Opfer fielen, strahlen sie sogar eine Art Ordnungsgefühl aus (in Wahlkampagnen gern als hehres Ziel versprochen). Meist aber zeugen sie von umfangreichen Eingriffen in die überkommene Gestalt der Provinzstädte. Dabei gibt es oft einen Kontrast zwischen sanierter Innenstadt und entweder bäuerlicher oder mit Plattenbauten der früheren Epoche dicht bebauter Peripherie. Ob Baudenkmäler in privater Hand bei der Restaurierung ähnlichen Vorbildern nacheifern wie die kommunalen, lässt sich nicht gleichermaßen beurteilen. Der Umgang mit Denkmälern in staatlichem Besitz ist durch eine Nivellierung der Methodik und der technischen Verfahren an Bauten aus verschiedenen Perioden gekennzeichnet. Diese Nivellierung ergibt sich daraus, dass die sogenannte Gründerzeit und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich für alle denkmalpflegerischen Verfahren geworden sind. Methoden der Rekonstruktion von selbst völlig zerstörten, jedoch gut dokumentierten Bauten wie etwa der Jugendstilfassade des 1909 von Béla Lajta erbauten Orpheums Parisiana (heute Neues Theater, 1987–1990, Abb. 13)27 wurden 26 Zur Rekonstruktion des Barockinterieurs vgl. Rostás, Péter: Die Restaurierung des Schlosses Esterházy in Eszterháza und seine Interieursreproduktionen in Budapest und Wien am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Acta Historiae Artium 54 (2013), S. 73–93; Ders.: Mágnások lakberendezője. A Friedrich Otto Schmidt lakberendezőház története (1858–1918) [Der Dekorateur der Magnaten. Die Geschichte der Firma Friedrich Otto Schmidt]. Budapest 2010. – Zum Interieur des Schlosses Buda: Ders.: Die „historischen“ Prunkräume des Budaer Königspalastes um 1900. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Vergleichende Kunstforschung in Wien 59/1–2 (2007), S. 1–22. 27 A Parisiana újjáépítése. Tisztelgés Lajta Béla emlékének [Die Rekonstruktion der Parisiana. Hommage à Béla Lajta]. Ausst.-Kat. Architekturmuseum OMF. Hg. v. Ferenc Dávid u. a. Budapest 1991, S. 5–15; Morvay, Endre: Parisiana: a poraiból feltámadt főnix [Parisiana: wie ein Phönix aus der Asche auferstanden]. In: Műemlékvédelmi Szemle 9/1–2 (1999), S. 95–110; Dávid, Ferenc: Megjegyzés a Parisiana-kritikához [Bemerkung zur Parisiana-Kritik]. In: ebd., S. 111–113. – Ferenc Dávid sei an dieser Stelle für seine Hilfe gedankt.

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Ernő Marosi Abb. 13  Budapest, Orpheum Parisiana nach Rekonstruktion. Aufnahme von 2016.

Schritt für Schritt auch bei Rekonstruktionen von Denkmälern früherer Epochen verwendet. Dabei hat die Suche nach schlüssigen Kriterien, wie die Regeln der Säulenordnungen bei klassischen Architekturen, eine große Rolle gespielt. Die Methodik der historisierenden Rekonstruktion wurde seit den 1980er Jahren an stark beschädigten oder zerstörten Bauten des 19. und 20. Jahrhunderts eingeführt. Dies war auch technisch bedingt, beispielsweise bei al secco- oder bei dekorativen Leimfarbenmalereien, bei denen eine Restaurierung gleichsam eine Neubemalung – eventuell nach erhaltenen Originalentwürfen – bedeutet, sowie auch bei der Auswechslung beschädigter Bau­ skulpturen durch Kopien. Bei mittelalterlichen Baustrukturen wurden zunächst die von der Architekturtheorie des Historismus bevorzugten und die besonders von dem Bildhauer und Restaurator Ernő Szakál (1913–2002) erfolgreich eingesetzten geometrischen Konstruktionssysteme wie Quadratur und Triangulatur verwendet.28 Jüngere, zum Teil auch kunsthistorisch 28 Szakál, Ernő: Gotisch-geometrische Konstruktionen im Bauwesen und in der Steinbildhauerei. In: Acta Technica Academiae Scinetiarum Hungariae 67/1–4 (1970), S. 65–104; Ders.: Kőfaragók



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geschulte Architekten haben dann neuere Forschungsergebnisse der Baumeisterbücher und der Analyse spätgotischer Wölbungen29 zur Deutung von komplizierten Gewölbefigurationen angewandt. Diese Erkenntnisse flossen anschließend mittels computergestützter Konstruktionsmethoden in virtuelle Rekonstruktionen von meist fragmentarisch erhaltenen Gewölbe-Werksteinen ein.30 Die Bearbeitung des in der Reihe „Lapidarium Hungaricum“ erfassten Materials stand – trotz der Absichtsbekundungen der Herausgeber – von Anfang an im Verdacht, sich nicht nur mit virtuellen Rekonstruktionszeichnungen zu begnügen, sondern diese auch als Entwürfe verwenden zu wollen. Dies ist nun – zuerst in Visegrád – tatsächlich passiert. Um den kunsthistorisch geschulten Archäologen, den Spiritus Rector der Rekonstruktion von Visegrád, bildete sich allmählich ein Kreis von Denkmalpflegern heraus. Dessen Methoden können am besten veranschaulicht werden durch Gergely Buzás’ Rekonstruktionen im 2015 eröffneten Museum der Grabungsfunde der Marienkapelle des Pécser Domkomplexes, konkret in dem (keineswegs gut belegten) als Ruine der mittelalterlichen Universität identifizierten Bau. Buzás’ Rekonstruktionsmethode ist geprägt von dem in der Archäologie besonders bei vorgeschichtlichen Kulturen angewendeten Analogieverfahren. Ausgangspunkte seiner Rekonstruktionen bilden also stets Analogien. Bei der Rekonstruktion der prächtigen Stiftergrablege in der Marienkapelle (Abb. 14) griff er auf fein skulptierte Fragmente des 14. Jahrhunderts mit offensichtlich verschiedenen Funktionen zurück. Diese waren nach ihrer Zerstörung in einen Grabschacht geworfen worden. Bei seinem methodischen Vorgehen ließ sich Buzás durch ferne Vorbilder, von Avignon bis England, inspirieren.31 Bezeichnend ist für diese Methode, dass immer das prächtigste und aufwendigste Vorbild gewählt wird. In diesem Fall wurden keine Kosten gescheut und die zugrundeliegenden Fragmente korrekt, also getrennt von den Rekonstruktionen ausgestellt. Das ist bei Rekonstruk­ műhelytitkai, Magyar Kőszövetség. [o. O.] 2007, hier S. 112–128; und auf Deutsch vgl. Ders.: Werkstattgeheimnisse der Steinmetze im Mittelalter. Budapest 2008, S. 33–46. 29 Coenen, Ulrich: Die spätgotischen Werkmeisterbücher in Deutschland. München 1990; Müller, Werner: Die Zeichnungsvorlagen für Friedrich Hoffstadts „Gothisches A.B.C.-Buch und der Nachlass des Nürnberger Ratsbaumeisters Wolf Jakob Stromer (1561–1614). In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 28/1 (1975), S. 39–54. 30 Eine zusammenfassende Darstellung diesbezüglicher Projekte in: Reneszánsz látványtár. Virtuális utazás a múltba [Eine Schausammlung der Renaissance. Eine Reise in die Vergangenheit]. Hg. v. Gergely Buzás. Budapest 2009. – Zu den spätgotischen Gewölberekonstruktionen (für welche die Bezeichnung „Renaissance“ im Buchtitel zumindest deutungsbedürftig erscheint) vgl. etwa Szőke, Balázs: Késő gótikus boltozatok Mátyás uralkodása idején és a 16. század első évtizedeiben [Spätgotische Gewölbe zur Regierungszeit von König Matthias und in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts]. In: ebd., S. 105–117. 31 Buzás, Gergely: Rekonstruktion des Grabdenkmals Bischof Wilhelms von Bergzabern aus der Marienkapelle / Bergzaberni Vilmos püspök síremlékének rekonstrukciója az Aranyos Mária kápolnából. In: Die Bischofsburg zu Pécs. Archäologie und Bauforschung / Pécs püspökvár. Régészet és épületkutatás. Hg. v. Kálmán Szijártó und Mária G. Sándor. München-Budapest 1999, S. 92–98; Ders.: Bergzaberni Vilmos püspök síremléke [Das Grabmal Bischof Wilhelms von Bergzabern]. In: Magyar királyi és főrendi síremlékek. Gótikus baldachinos síremlékek a középkori Magyarországon. Hg. v. Zoltán Deák. Budapest 2004, S. 109–117.

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Ernő Marosi Abb. 14  Pécs (dt. Fünfkirchen), Rekonstruktionszeichnung des Grabmals aus der Kapelle der „Goldenen Jungfrau“, Gergely Buzás.

tionen vollständiger Bauten aber nicht immer der Fall. Da könnte man eher von besteller- als von besucherfreundlicher Museologie sprechen. Charakteristisch ist, dass seit den 1990er Jahren weniger die Frage der Konservierung als verschiedene Modalitäten der Beglaubigung (diese juristische Bezeichnung der Nachbildung ist an sich schon bemerkenswert) diskutiert wurden.32 Zur Rechtfertigung seiner Rekonstruktion eines dekorativen Nischengewölbes in Diósgyőr (ohne nähere Begründung auf das 14. Jahrhundert datiert) unterscheidet György Szekér insgesamt fünf Stufen von wissenschaftlichen Erkenntnissen dienenden Rekonstruktionsverfahren: die Erhaltung in situ, die Anastylose, die belegbare Rekonstruktion, die logische und 32 Somorjay, Sélysette: Die Denkmalpflege in Ungarn – Beispiele und Tendenzen. In: Die Denkmalpflege 65 (2007), S. 139–145; Dies.: Tendencies in Historic Building Preservation in Hungary Today. Practice, Consequences, Responsibility. In: Acta Historiae Artium 49 (2008), S. 255–264.



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die (nicht belegbare) totale Hypothese.33 Wo die Grenze zwischen wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen und reinen Vermutungen verläuft, kommt dabei allerdings nicht zur Sprache. Das Visegrád-Beispiel regte später eine nur durch wenige Renaissancefragmente belegte Palast-Rekonstruktion in Nyírbátor an. Ausgangspunkt war ein als Speicher benutztes und keine Spuren von Gliederung aufweisendes Gebäude vor Ort. Das sogenannte Báthori-Schloss (Abb. 15) wurde 2006 vollendet und – zumindest im Nach­ hinein – stark diskutiert.34 2014/15 ist die erste Phase der Rekonstruktion der Anjou-Burg Diósgyőr beendet worden (Abb. 16 und 17). Die Entwürfe dazu stammen aus dem Visegráder Denkmalpfleger-Kreis und verwenden dieselben Methoden. Neben den nur spärlichen Spuren und Ansätzen zerstörter Architektur kamen hier ebenfalls (zum Teil willkürlich lokalisierte, durch keine Quellen belegte) Anastylosen von Rahmungen und Baugliedern zur Anwendung, um einen Remter, eine zweigeschossige Burgkapelle und einen Innenhof (Abb. 18) als Schauplatz für historisierende Veranstaltungen und Feste zu gewinnen. Sogar eine Rennbahn für kostümierte Umzüge, Turniere und Bogenschießen wurde in der Nähe errichtet! Diósgyőr war zuvor eine Ruine von idealer Schönheit im Sinne der Landschaftsmalerei. Das galt auch für die Burg von Füzér (Abb. 19 und 20) und für das weit im Süden gelegene Renaissanceschloss von Szászvár. Beide sind jedoch kürzlich derselben Art und Weise von (selbstverständlich positiv gemeinten) Rekonstruktionen zum Opfer gefallen. Welche Gewissensbisse dabei bei einem Steinkonservator alter Schule aufkamen, veranschaulicht der – auch für andere Beispiele gültige – Bericht von Vilmos Osgyányi: „Diejenigen Projekte, die im gegenwärtigen öffentlichen Investitionssystem als Entwicklung der touristischen Anziehungskraft bezeichnet werden, verlangen im Vergleich zu früheren denkmalpflegerischen Instandsetzungen einen ähnlichen Schwung wie Investitionen auf der grünen Wiese. So gibt es weder eine Forschung noch eine Vorbereitung von notwendiger Tiefe, und allein im Besitz rasch zugänglicher Daten wird mit der Planung begonnen und mit der Auswahl eines zuverlässigen Ausführenden; denn das ist die sichere Art und Weise der Kanalisierung der EU-Finanzierung ins Land.“35

33 Szekér, György: Az elméleti rekonstrukció, mint tudományos módszer. A diósgyőri vár deli fala fülkeboltozatának kutatása [Die theoretische Rekonstruktion als eine wissenschaftliche Methode. Die Erforschung des Nischengewölbes an der Südmauer des Schlosses Diósgyőr]. In: Építés-Építészettudomány 41/3–4 (2013), S. 27–32 = http://archeologia.hu/content/archeologia/227/szeker-gyorgy.pdf (7.10.2016). 34 Somorjay, Tendencies (wie Anm. 32), S. 257, 263 und Anm. 5. 35 Osgyányi, Vilmos: A füzéri várkápolna rekonstrukciója [Die Rekonstruktion der Burgkapelle von Füzér]. In: Kő 2 (2016), S. 8–23, hier S. 20, aus dem Ungarischen übersetzt vom Autor. Im Originalwortlaut: „A korábbi műemléki helyreállításokhoz képest a jelenlegi közbeszerzéses rendszerben bonyolított, turisztikai attrakció fejlesztésnek nevezett műveletben megvalósuló projektek a zöldmezős beruházások lendületét követelik. Így nem folyhat kellő mélységű kutatás, előkészítés, csak a gyorsan fellelhető adatok birtokában, lóhalálában indul a tervezés, a közbeszerzési eljárás egy megbízható kivitelező kiválasztásával, mert az uniós pénzek országba kanalizálásának ez a biztos módja.“

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Abb. 15  Nyírbátor, Báthori-Schloss nach Rekonstruktion. Aufnahme von 2016.

Abb. 18  Diósgyőr, Anjou-Burg nach Rekonstruktion, Innenhof. Aufnahme von 2014.



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Abb. 16  Diósgyőr, Anjou-Burg vor Rekonstruktion. Aufnahme von 2011.

Abb. 17  Diósgyőr, Anjou-Burg nach Rekonstruktion. Aufnahme von 2015.

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Ernő Marosi Abb. 19  Füzér, Burg. Aufnahme von 2009.

Abb. 20  Füzér, Burg nach Rekonstruktion. Aufnahme von 2016.



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Abb. 21  Ozora, Schloss des Pippo Spano nach Rekonstruktion, Ostfassade. Aufnahme von 2008.

Abb. 22  Ozora, Schloss des Pippo Spano, Hofinneres. Aufnahme von 2008.

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Alle hier aufgeführten Rekonstruktionen sollen laut dem Nationalinspektorat für Kunstdenkmäler der Volkserziehung und der Nationalkultur dienen. Wie bei den Schlössern gibt es dabei Schwierigkeiten, die aus dem Fehlen publikumsträchtiger Attraktionen resultieren. Wer in ungarischen Burgen herumwandert, wird noch immer viele Folterkammern, privat betriebene, oft kümmerliche Panoptiken und teure Repliken von – zur Bauzeit meist wenig passenden – Harnischen finden. Das einzigartige Schloss des Freundes Sigismunds von Luxemburg und florentinischen Grafen Pippo Spano di Ozora36, das seit der Barockzeit als Speicher des Esterházy-Guts Ozora diente, hat bis auf wenige Bauglieder und Fragmente von Wandmalereien praktisch alle seine Details verloren. Sowohl die Erker am Außenbau (Abb. 21) als auch die Arkadengänge im Innenhof (Abb. 22) wurden im Sinne der Charta von Venedig als hypothetische Nachbauten in Holz rekonstruiert, die als zeitgenössische Ergänzung erkennbar sind. Im rechteckigen Hof stehen um einen Brunnen mit einem Andrea del Verrocchio nachgebildeten Putto aus winzigen Fragmenten rekonstruierte Arkaden-Pfeiler. Darüber befinden sich Holzkonstruktionen, deren Identifizierung als Arkaden sehr schwierig ist. Jemand hat aber mit glücklicher Hand Efeu, Oleander und Blumen gepflanzt und den Ort dadurch ein wenig lebendiger gemacht. Bei meinem letzten Besuch fand ich außer angeblich restaurierten Renaissancefresken im Hauptgeschoss noch einen riesigen ausgestopften, sich drohend aufbäumenden Eisbär in einem als Lapidarium bezeichneten Kellerraum. Die Bedeutung (oder Symbolik?) dieser Rarität vermochte ich aber bisher nicht zu enträtseln. Über die denkmalpflegerische Tätigkeit der Kirchen, die jetzt wieder Vollmacht und damit rechtliche Verantwortung für ihren Besitz haben, ist wenig zu erfahren, auch wenn die Sorgfalt und die allgemeine Verbesserung der Bedingungen im Umgang mit den Bauten unübersehbar sind. Für die katholische Kirche ist nicht nur die kommunistische Verfolgung bzw. Verdrängung verhängnisvoll gewesen, sondern auch die in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) durchgeführte Liturgiereform, der viele Barockaltäre und Kommunionbänke zum Opfer fielen, um durch freistehende Altäre in willkürlichen Formen ersetzt zu werden. Der gewachsene Respekt vor dem nationalen Kulturerbe zeigt auch in den protestantischen Kirchen positive Wirkungen. So ist schon lange kein Fall mehr bekannt geworden, bei dem zum Beispiel eine Wandmalerei wegen vermeintlichen Götzenkults verdeckt wurde. Es gibt lediglich ein Beispiel für einen veränderten Umgang mit dem künstlerischen Erbe, und zwar in der Erzabtei der Benediktiner in Pannonhalma. Diese erwiesen sich auch unmittelbar nach der politischen Wende von 1989 gemäß ihrer Ordenstradition als überaus aktiv in den Bereichen Wirtschaft und Kultur. Anlass bot vor allem die Millenniumsfeier der Abteigründung bzw. der Weihe, begleitet von Grabungen, Ausstellungen und wichtigen Publikationen. Zwischen 2007 und 2012 ist die Abteikirche wiederhergestellt worden. Die Art der Vorbereitung und des Entwurfsprozesses begünstigte die Herausbildung einer kritischen 36 Aus seinem ungarischen Grafentitel „ispán“ stammt die italienische Bezeichnung „Spano“ des Filippo Scolari.



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Position, in der wohl Elemente eines neuen kirchlichen Umgangs mit Denkmälern zu entdecken sind. Die Grundsätze der Neugestaltung des liturgischen Raums, für deren Verwirklichung der britische Architekt John Pawson gewonnen wurde, bestanden in der Minimalisierung der Wirkung der historistischen Restaurierung des 19. Jahrhunderts und in der baulichen Umsetzung der Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Damit nahm man von der allgemeinen Tendenz zur Aufwertung des Historismus Abstand, der gleichsam als Ausdruck der Verweltlichung empfunden wurde. Statt die Abtei nach weltlichen Kriterien zu schmücken und einzurichten, wurde sie im Sinne der Spiritualität der Mönchsgemeinde interpretiert. Dementsprechend ist die alte Einrichtung entfernt und durch eine nüchtern sachliche ersetzt worden. Bei der Zurückdrängung von Bilderzyklen des letzten Restaurators Ferenc Storno (1821–1907) fanden Lichtmystik und symbolträchtige Materialien Verwendung (Onyx als Material des Chorfensters, der Altartafel, des Lesepults und des Taufsteins; Nussbaum für die Einrichtung). Wie die Konzilsbeschlüsse selbst gehen auch diese Raumdeutungen auf das Mittelalterbild der Nachkriegszeit zurück. Durch ein wohlinszeniertes Licht-Schatten-Spiel von Bauskulptur und Wandflächen sollte eine mystische Stimmung erzeugt werden, wie zum Beispiel in der „Zodiaque“-Edition zur romanischen Kunst der Abtei von Pierre-Qui-Vire im Burgund vorgebildet. In der Abtei Pannonhalma sind aber keine Bauskulpturen mit mittelalterlicher Oberfläche zu finden. Alle Details sind schon bei der Restaurierung im 19. Jahrhundert verloren gegangen. Nüchternheit und Sachlichkeit haben als Forderungen von Zweckbauten in einer Benediktinerabtei sicher einen berechtigten Platz, doch sollte man zur Kenntnis nehmen, dass das Erbe des Historismus auch aus der Geschichte eines Kirchenbaus kaum wegzudenken ist. Wie auch immer man zur Initiative des Benediktinerklosters steht, so lassen sich hier vielleicht doch Keime einer Alternative zum heute in Ungarn vorherrschenden Umgang mit dem Kulturerbe entdecken – vor allem in der Präsenz der sonst so fehlenden Meditation und Spiritualität.

Nachwort 1990/91 schrieb ich noch über „Scheidewege“ der ungarischen Denkmalpflege. Heute würde ich von folgerichtig eingeschlagenen „Irrwegen“ sprechen – wenn es in Ungarn noch eine Denkmalpflege im damaligen Sinne gäbe.

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Summary Restored history Heritage conservation, museum activity and reconstruction  in Hungary since 1990 The article starts by addressing the double meaning of terms such as ‘restoration’ and ‘reconstruction’ as well as related adjectives (e. g. ‘constructive’, ‘destructive’) in both an architectural and a political sense. It begins with a short survey of changes to heritage preservation in art historical research and the activities of museums, causing the trad­ itional system of the competent institutions in Hungary to be abandoned by 2012. The slogans of ‘friendly manner to the audience’ and – after the destruction of Communist propaganda – the reinvention of fine arts and monuments as important media of polit­ical messages have shaped a new policy of memory. A very complicated process of con­ tinuous reforms and transformations in the institutional structure of the state org­anization in charge of heritage preservation ended in 2012 with the dissolution of its central office. The nature of the new treatment of architectural heritage had become apparent by 2000 at three major complexes (the royal palaces in Esztergom and Visegrád, and the ruins of the royal provostry in Székesfehérvár), which proved to be pilot schemes trialling the new principles. These principles involve the free creativity of solutions, the pre­ dominance of ‘authenticity’ as opposed to the conservation of originals, and the visual suggestivity of the scenic appearance. These reconstructions appear to follow the norms of heritage restoration from previous eras (eighteenth and nineteenth centuries) and are expected to provide a general impression.

„ Gesc h i c h t e ba ue n“ i m p ost sow j et i sc h en Oste uropa Religion und Politik bei der Rekonstruktion von Kirchen in Russland und der Ukraine

Aleksandr Musin Im öffentlichen Diskurs im postsowjetischen Raum unserer Zeit ist die „Restaurierung“, sei sie politisch oder baugeschichtlich motiviert, voller eklatanter innerer Widersprüche. Die Gesellschaft stellt sich mit ihr die von vornherein zum Scheitern verurteilte Aufgabe, soziopolitische Kontexte oder städtebauliche Ensembles in einem völlig veränderten kulturellen Umfeld wiederherzustellen. Dieses aus Nostalgie geborene Ziel ist unvereinbar mit der unentwegten Entwicklung von Gesellschaft, Kulturlandschaft und architektonischen Konzeptionen, weil das Vergangene unmöglich wiederhergestellt werden kann. Mehr noch, die Rezeption solcher Ensembles und Kontexte, die von ihrer Entstehungszeit mehr oder minder weit entfernt sind, geschieht unvermeidlich im Modus der Reinterpretation, was Reproduktion und Wahrnehmung der Denkmäler in ihrem neuen Kontext erheblich beeinflusst. Das wiederum transformiert die allgemeine Vorstellung von Geschichte, indem es die Vergangenheit und ihre Relikte durch einen in der Gegenwart konstruierten Mythos ersetzt. So tritt an die Stelle der Restaurierung die Rekonstruktion, die heute in Russland mit Ausdrücken wie vosstanovlenie (Wiederherstellung), vossozdanie (Wiederaufbau) und im religiösen Kontext vozroždenie (Wiedergeburt) bezeichnet wird. Dabei sind diese Ausdrücke wechselseitig austauschbar, und oft wird umgangssprachlich auch das Wort restavracija (Restaurierung) gebraucht, ein Hinweis darauf, dass Restaurierung in Wirklichkeit Rekonstruktion bedeutet. In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, ob diese Begrifflichkeiten den Tatsachen entsprechend verwendet werden. Meine Eingangsbemerkungen gelten sowohl für die Profan- als auch für die Sakralarchitektur. Allerdings besitzen die Restaurierung und Rekonstruktion von Sakralbauten im postsowjetischen Raum Osteuropas1 eine soziopolitische und ästhetische Spezifik. Die Beschäftigung mit Sakralarchitektur ist viel besser dazu geeignet, das weite Spektrum der an die Rekonstruktion von symbolträchtigen Gebäuden gerichteten Erwartungen widerzuspiegeln, wie sie religiöse Kultstätten oder historische Erinnerungsorte (die lieux de mémoire par excellence) darstellen, die verschiedentlich gezielt aus Gründen der Ideologie abgerissen oder im Krieg zerstört wurden. Zudem entspricht die der 1 Hierzu Bartetzky, Arnold: Die Rolle der Rekonstruktion nach dem Wechsel der Systeme in Osteuropa. In: Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte. Publikation zur Ausstellung des Architekturmuseums der TU München in der Pinakothek der Moderne. Hg. v. Winfried Nerdinger in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl. München 2010, S. 138‒147.

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postsowjetischen Gesellschaft eigentümliche Konzeption des historischen Denkmals und ihr Verhältnis zur historischen Erinnerung nicht so sehr dem Begriff der lieux de mémoire, wie er in Europa gebraucht wird,2 als vielmehr dem Bild bzw. der Ikone der Erinnerung oder der Geschichte. Diese Besonderheiten entwickelten sich vor allem im Einflussbereich der byzantinischen Kultur. Die von ihr geprägte Denkweise trifft keine Unterscheidung zwischen Original und Kopie, vielmehr sind beide von ein und demselben Wert. Daher werden Repliken oder Kopien byzantinischer und mittelalterlicher Ikonen als Träger derselben sakralen Bedeutung wie die auf Holz gemalte Originalikone wahrgenommen. Die zweite Besonderheit dieser Denkweise besteht darin, dass sie nur das vollständige, ästhetisch vollendete Objekt anerkennt, nicht aber dessen Symbolisierung beispielsweise durch Überreste eines historischen Artefakts oder Ruinen eines Bauwerks. Überdies war es stets ein Charakteristikum der byzantinischen Kultur, ein religiöses Bildnis zu politischen Zwecken einzusetzen. Derartige aus der orthodoxen Tradition stammende Stereotype beeinflussen sowohl die Art der Rekonstruktion eines architektonischen Ensembles oder Einzelobjekts als auch den Stellenwert, der diesem in der Wertehierarchie der modernen Gesellschaft zugewiesen wird. Eine zusätzliche Besonderheit der Restaurierung und Rekonstruktion christlicher Architektur in Russland und der Ukraine ist die sich parallel dazu vollziehende Restituierung vormaligen Kirchenbesitzes, die in Russland „zweckgebundene Privatisierung“ (celevaja privatizacija) genannt wird. Diesen Prozess und die aus ihm folgenden Herausforderungen für das kulturelle Erbe habe ich vor einigen Jahren analysiert.3 Die Übergabe von „Objekten des kulturellen Erbes“ (ob”ekty kul’turnogo nasledija), so der Terminus der gültigen russischen Gesetzgebung, in die Nutzung von Religionsgemeinden und -organisationen geschieht fast immer außerhalb der Kontrolle von Expertengemeinschaften und Denkmalschutzbehörden oder mit deren stillschweigender Passivität, was dazu führt, dass an baugeschichtlich wertvollen Besonderheiten des Interieurs und Exterieurs willkürliche Änderungen vorgenommen werden. Das Ergebnis ist eine spontane Restaurierung des Fundus des religiös-kulturellen Erbes in Anpassung an aktuelle ästhetische Vorlieben und die finanziellen Möglichkeiten der Religionsgemeinschaften. So schreibt sich die zweckgebundene Kirchenrekonstruktion in den allgemeinen Kontext der Transformation der religiösen Kultur ein. In diesem Abriss möchte ich knapp einige kennzeichnende Beispiele für die Rekonstruktion von Sakralbauten beschreiben, die in der russischen und der ukrainischen Kultur einen besonderen Status besitzen. Ich möchte dabei zeigen, welche Ziele die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verfolgten, die hinter der Rekonstruktion standen; inwiefern die Rekonstruktion des räumlich-architektonischen Ensembles 2 Nora, Pierre: Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire. In: Representations 26. Special Issue: Memory and Counter-Memory (1989), S. 7‒24. 3 Musin, Aleksandr: Vopijuščie kamni. Russkaja cerkov’ i kul’turnoe nasledie Rossii na rubeže tysjačjaletij [Empörende Steine. Die russische Kirche und das Kulturerbe Russlands an der Jahrtausendwende]. Sankt-Peterburg 2006; Ders.: Cerkovnaja starina v sovremennoj Rossii [Die kirchlichen Altertümer im heutigen Russland]. Sankt-Peterburg 2010. – Siehe auch Musin, Alexander: Le patrimoine des églises russes est en danger. In: Grande Galerie. Le Journal du Louvre 11 (2010), S. 64 f.



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ästhetische Werte und Geschichtskonzeptionen von Individuen und Gruppen widerspiegelte; welche Rolle diese Restaurierungen bei der religiösen Wiedergeburt in Osteuropa spielten, die gelegentlich von Politikern und Geistlichen als „zweite Taufe der Rus’“ bezeichnet wird; schließlich wie die manchmal auch offiziell „Restaurierung“ genannte Rekonstruktion sich in Wahrheit zu den anerkannten Prinzipien der Restaurierung verhielt.4 Der Vergleich der jeweiligen Besonderheiten der Architekturrekonstruktion in der Ukraine und in Russland ist geeignet, die Eigentümlichkeiten der von den beiden Nationen eingeschlagenen kulturellen Entwicklung aufzuzeigen, die Ähnlichkeiten und Unterschiede in ihren kollektiven Verhaltensstrategien herauszuarbeiten und die jeweilige Spezifik im Verhältnis zu Vergangenheit und Architekturästhetik deutlich zu machen.

„Präkonzeptuelle“ Restaurierung und „Wahl der Geschichte“:  die Desjatinenkirche in Kiew Sinnvollerweise beginnt dieser Überblick mit der Geschichte der ersten steinernen Kirche in Kiew, welche der Muttergottes geweiht, mehrfach zerstört und in wechselnden Formen an derselben Stelle wiederaufgebaut wurde. Im Jahr 996 vollendete Fürst Wladimir I. der Heilige (auch der Große, reg. 978/80–1015) den Bau einer Kirche für die neue Metropole des Konstantinopeler Patriarchats und stiftete ihr den zehnten Teil der fürstlichen Einnahmen,5 wovon sich ihr Name Desjatinenkirche (Zehntkirche) ableitet. Diese Kirche wurde während des Mongolensturms 1240 zerstört. Spätestens im 16. Jahrhundert wurde auf ihren Trümmern eine hölzerne Kirche des hl. Nikolaus errichtet. 1635 begann der Metropolit der Orthodoxen Kirche des Konstantinopeler Patriarchats im Gebiet der polnisch-litauischen Rzeczpospolita Peter (säkularer Name: rum. Petru Movilă, russ. Petr Mogila, ukr. Petro Mohyla, reg. 1632‒1647) in der Südwestecke der Ruine den Bau einer neuen Steinkirche, die erst nach seinem Tod fertiggestellt wurde (Abb. 1 und 12).6 Noch vorher hatte er auf dem Gebiet der Rzeczpospolita eine orthodoxe Kirchenhierarchie aufbauen können, die von der Rom unterstellten, mit der Union von Brest 1596 entstandenen griechisch-katholischen (unierten) Kirche unabhängig war. Der Bau der neuen Kirche, rechteckig im Grundriss, mit einer Apsis in Form eines stumpfen Dreiecks und einem Spitzturm im Westteil, auf den Fundamenten der früheren Hauptkirche der Ukraine sollte die Kontinuität zwischen 4 Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles (Denkmalbereiche). Charta von Venedig. In: Vereinigung der Landesdenkmalpfleger. Arbeitsblatt 1, http://www.denkmalpflege-forum.de/Download/Nr01.pdf (07.11.2016). 5 Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’vestr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja. Hg. v. Ludolf Müller. München 2001, S. 153 [6504 (996)]. 6 Ivakin, Gleb/Ëlšin, Denis: Cerkov’ Roždestva Bogorodicy Desjatinnaja mitropolita Petra Mogily (istorija, archeologija, izobratel’nye istočniki) [Die Kirche der Muttergottes (Desjatinenkirche) des Metropoliten Petr Mogila (Geschichte, Archäologie, Bildquellen)]. In: Ruthenica 9 (2010), S. 74‒109.

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Abb. 1  Kiew, Plan und Südfassade der Desjatinenkirche aus dem 17. Jahrhundert. Skizze und Zeichnung von Kondratij Lochvickij, 1824.

dem Wirken des Metropoliten und der Christianisierungsmission des Fürsten Wladimir symbolisieren. Beim Bau wurden die alten Ziegel aus der Kirchenruine wiederverwendet.7 Jedoch sollte dieser Umstand nicht als „präkonzeptueller Plan“ für die Restaurierung8 interpretiert werden, das heißt eine aus Erfahrung gespeiste und unbewusst adäquate Materialisierung historischer Erinnerung; vielmehr war er rein pragmatischer Natur. Die Kirchenfassade zierte eine nicht erhaltene griechische Aufschrift, die der Ideologie des Metropoliten Peter gemäß dazu diente, an die von der Moskauer Rus’ getrennte Tradition des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel anzuknüpfen. Offenkundig ging es Peter nicht darum, das ihm ja gar nicht bekannte byzantinische Vorbild wiederherzustellen; dies hätte auch nicht der bescheidenen Situation der ihm unterstehenden orthodoxen Kirche in der Ukraine des 17. Jahrhunderts entsprochen. Seine Absicht zielte auf die Symbolik; diese sollte historische Ansprüche nicht in der Architektur, sondern in anderen Formen widerspiegeln. Die Symbolik wurde durch die 7 Pamjatniki architektury v dorevoljucionnoj Rossii. Očerki istorii architekturnoj restavracii [Baudenkmäler im vorrevolutionären Russland. Skizzen zur Geschichte der Architekturrestaurierung]. Hg. v. Aleksej Ščenkov. Moskva 2002, S. 78. 8 Brandi, Cesare: Théorie de la restauration. Paris 2015, S. 9‒20; im Original: Ders.: Celso o delle poesia. Torino 1957, S. 37; siehe auch Ders.: Teoria del restauro. Torino 1977.



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Abb. 2  Kiew, Desjatinenkirche. Aufnahme von Ivan Čistjakov, 1909.

Topographie definiert, und sie bezog sich nicht eigentlich auf den „Erinnerungsort“, sondern auf die „Erinnerung des Ortes“. Dieser Ansatz war nicht identisch mit der mittelalterlichen Praxis, neue Kirchen auf alter Grundlage, also auf den Fundamenten des Vorgängerbaus zu errichten. An eine ähnliche Praxis erinnern die Chroniken von Novgorod aus dem 15. Jahrhundert; aber wie archäologische Untersuchungen zur Baugeschichte belegen, bestätigt die Bauweise nicht die Novgoroder Tradition, sich vom Moskauer Einfluss abzusetzen, sondern war ein rein pragmatisches Verfahren beim Abbruch baufälliger Kirchen zum Zwecke des Neubaus.9 Die Kirche des Metropoliten Peter blieb bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts stehen, als sie nach der archäologischen Ausgrabung der Ruinen des alten Kirchengebäudes10 abgerissen wurde. An selber Stelle wurde bis zum Jahr 1842 eine quadratische, vier9 Antipov, Il’ja: Novgorodskaja architektura vremeni archiepiskopov Evfimija II i Iony Otenskogo [Die Novgoroder Architektur zur Zeit der Erzbischöfe Evfimij II. und Iona Otenskijs]. Moskva 2009. 10 Dies war die erste Erfahrung mit Ausgrabungen vor einem Neubau im Russländischen Reich, durchgeführt 1824‒1826 von dem Landeskundler Kondratij Lochvickij auf Veranlassung des Kiewer Metro­ politen Evgenij Bolchovitinov. Diese Maßnahme diente nicht zur Vorbereitung einer Baurestauration, sondern der Suche nach historischen Reliquien. Dazu Ëlšin, Denis: Čerteži pervych archeologičeskich raskopok Desjatinnoj cerkvi kak istočnik dlja architekturnoj rekonstrukcii chrama [Zeichnungen der ersten archäologischen Ausgrabungen der Desjatinenkirche als Quelle zur Rekonstruktion des Kirch-

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säulige, fünfkuppelige Kirche nach einem Entwurf des Architekten Vasilij Stasov (1769‒1848) errichtet (Abb. 2 und 12). Diese besaß einen größeren Baukörper als das bescheidene Bauwerk aus dem 17. Jahrhundert und belegte auch den südwestlichen Teil der alten Fundamente. Jedoch wurde diesmal für den Neubau der architektonische Stil der Moskauer Rus’ gewählt, wie er von den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts interpretiert wurde. Dies war nicht so sehr auf die in den 1830er und 1840er Jahren vorherrschenden ästhetischen Präferenzen zurückzuführen, als vielmehr auf die anschaulich übermittelte Polemik zu den historischen Fährnissen der Orthodoxie in der Ukraine. Die von Peter als Teil des Ökumenischen Patriarchats eingerichtete Metropole war 1686 dem Moskauer Patriarchat unterstellt worden,11 doch die Erinnerung an ihre einstmals gesonderte kirchenrechtliche Stellung wie auch die Überzeugung, dass Moskau von Kiew aus christianisiert worden sei und nicht etwa umgekehrt, blieb unter den Ukrainern stets lebendig. Gerade diese fünfkuppelige, würfelförmige, wuchtige Bauform, der Klassiker der pseudorussischen Architektur des Russländischen Reichs, wurde in der Christ-ErlöserKathedrale in Moskau umgesetzt, nach einem Entwurf von Konstantin Ton (auch Thon, 1794‒1881) in den Jahren 1839‒1889 erbaut und 1931 gesprengt. Die 1995‒2000 wiedererrichtete Kathedrale gilt als wichtigstes Symbol der religiösen Wiedergeburt in Russland. Allerdings sollte man sich genauer ansehen, welche Werte bei ihrer Errichtung und Rekonstruktion tatsächlich eine Rolle spielten.

Baugeschichte als Bauen von Geschichte:  die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau Bereits die Erbauung der Kathedrale und die völlige Veränderung ihres ursprünglichen Entwurfs waren Versuche des 19. Jahrhunderts, Geschichte zu bauen und nicht nur die russische Vergangenheit, sondern darüber hinaus die Rolle Russlands in der Geschichte Europas neu zu interpretieren. Im Jahr 1817 entwarf der Architekt Aleksandr Vitberg (geboren als Karl Magnus Witberg, 1787‒1855) den Sakralbau auf den Sperlingsbergen über Moskau.12 Der Idee Kaiser Alexanders I. (reg. 1801‒1825) nach sollte er „zum Ruhme Russlands“ entstehen, „namens der Wohlfahrt Europas“, „in Dankbarkeit für die Erlösung“ von der napoleonischen Invasion des Jahres 1812 und im „Gedenken an enbauwerks]. In: Seminarium Bulkinianum. Bd. 3. Hg. v. Il’ja Antipov und Irina Šalina. Sankt-Peterburg 2012, S. 70–94. 11 Vetochnikov, Konstantinos: La «concession» de la métropole de Kiev au patriarche de Moscou en 1686. Analyse canonique. In: 23e Congrès International des Études Byzantines, Belgrade, 22‒27 août 2016. Resumés du table ronde „Les frontières et les limites du Patriarcat de Constantinople“. Belgrade 2016, S. 37‒41. 12 Sokolov, Pavel: Istoričeskoe opisanie toržestva, proischodivšego pri založenii chrama Christa Spasitelja na Vorob’evych gorach […] 1817 goda 12 oktjabrja [Historische Beschreibung der Feier, gehalten bei der Grundsteinlegung der Christ-Erlöser-Kathedrale auf den Sperlingsbergen […] am 12. Oktober 1817]. Moskva 1818.



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Abb. 3  Entwurf der Christ-Erlöser-Kathedrale auf den Sperlingsbergen in Moskau, Architekt: Aleksandr Vitberg, Ende der 1810er bis 1820er Jahre. Lithographie aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Sammlung der Kaiserlichen archäologischen Kommission.

alle Gefallenen“ dieses Kriegs.13 Vitberg setzte die Idee des Kaisers kongenial um. Er verwandte dazu nicht einfach klassizistische Formen, sondern gab Hinweise auf die Quellen der kaiserlichen Ideologie, die sich in die Linie der von Peter dem Großen begonnenen Entwicklung stellten. Nach dieser Idee war Rom die Wiege der europäischen Zivilisation, zu welcher der kaiserliche Auftraggeber eine Beziehung über ein architektonisches Bild herstellen wollte. Es gab einige Entwürfe, bei denen sich der Architekt sowohl am Pantheon als auch am Petersdom orientierte (Abb. 3). Man könnte behaupten, dass in diesem Architekturkonzept eine neue Deutung der mittelalterlichen Idee von Moskau als dem Dritten Rom einen Ausdruck gefunden hat.14 Das Kathedral-Projekt wurde aus denselben Gründen fallengelassen wie die prätentiöse Idee von 2015, auf den Sperlingsbergen ein Denkmal Wladimirs des Heiligen zu 13 Tichomirov, E. A.: Chram Christa Spasitelja v Moskve, sooružennogo po proektu A. L. Vitberga. Istoriko-opisatel’nyj očerk i rukovoditel’ [Die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, ausgeführt nach dem Entwurf von A. L. Vitberg. Historisch-beschreibende Skizze und Führer]. Moskva 1882. 14 Zu dieser aus dem Mittelalter stammenden Konzeption beispielsweise Lettenbauer, Wilhelm: Moskau, das dritte Rom. Zur Geschichte einer politischen Theorie. München 1961; Poe, Marshall: Moscow, the Third Rome: the Origins and Transformations of a ,Pivotal Moment‛. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2001), S. 412‒429.

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errichten und damit aus einem Kiewer, also ukrainischen, einen Moskauer, das heißt russischen Herrscher zu machen. Denn der Saum der Anhöhe über dem Fluss Moskva ist geologisch ungeeignet für einen Monumentalbau. Daher wurde auch das Hauptgebäude der Moskauer Universität 1949‒1953 in einiger Entfernung von dem für die Vitberg-Kathedrale vorgesehenen Platz gebaut. 1826 ließen nicht nur Geologie, sondern auch eine neue politische Lage und alte Finanzprobleme den Bau scheitern. Vitberg wurde der Auftrag entzogen, und das Projekt gestoppt. 1835 wurde Vitberg des Unterschleifs bezichtigt und nach Vjatka verbannt. So wie im 19. Jahrhundert der Architekt der Unterschlagung von Staatseigentum beschuldigt wurde, so bringt man Anfang des 21. Jahrhunderts gegen ihn das Freimaurertum in Stellung. Vitbergs Entwurf wird heute in Moskauer kirchlich-patriotischen Kreisen als Abweichung von der orthodoxen Tradition bewertet, da er mit einer der Orthodoxie fremden Symbolik überfrachtet gewesen sei. Die zur Zeit modische Behauptung, Akademismus und Klassizismus stünden im Widerspruch zur orthodoxen Tradition, ist ein verbreiteter Irrtum, weil diese künstlerischen Formen die Eigenarten der orthodoxen Glaubenslehre und Liturgie durchaus treffend wiedergeben können.15 Es ist kaum überzeugend, dass die Ausstattung des Projekts mit ternären Elementen, die Bezug auf die Heilige Dreifaltigkeit und die Trichotomie der christlichen Anthropologie nahmen, wie auch die Weihung dreier Kathedralen, einer oberen, mittleren und unteren, der Geburt, Verwandlung und Wiedergeburt Christi ‒ mit der Orthodoxie nicht zu vereinbaren gewesen seien. Die Regierung des neuen Zaren Nikolaus I. (reg. 1825‒1855), der Kurs auf den besonderen Weg Russlands und seine besondere Geschichte nahm, erforderte jedoch einen veränderten Umgang mit räumlicher Symbolik. Wie sein Vorgänger, hatte der – bereits erwähnte – neue Architekt Konstantin Ton ein feines Gespür für die Geisteshaltung seines Kaisers und die Richtung der von diesem erstrebten Transformation der russischen Gesellschaft. Letztere war überzeugt, Tons Projekt sei eine „russische Kathedrale im byzantinischen Stil“.16 Augenscheinlich galt ihr Byzanz als Zweites Rom, gemäß der Lehre von den zwei Roms als Vorgänger Moskaus. Um die russische Idee der Kathedrale zu betonen, ersetzte man bei ihrer Ausstattung mit Skulpturen und bei der Auskleidung der Innenwände Marmor durch einen unweit von Moskau gewonnenen Kalkstein, den sogenannten Dolomit aus Grigorovo. Nach Tons Tod wurde der Bau von dem Architekten Aleksandr Rezanov (1817‒1887) zu Ende geführt (Abb. 4). Heute sind die Architekturhistoriker bemüht zu betonen, dass die Kathedrale nicht kategorisch mit dem klassizistischen Stil brach. Wenn sie auch die räumlichen Beson15 Musin, Aleksandr: Bogoslovie obraza i ėvoljucija stilja. K voprosu o dogmatičeskoj i kanoničeskoj ocenke cerkovnogo iskusstva XVIII‒XIX vv. [Glaubenslehre des Bildes und Stilevolution. Zur Frage der dogmatischen und kanonischen Bewertung der Sakralkunst des 18. und 19. Jahrhunderts]. In: Iskusstvoznanie 2 (2002), S. 279‒302; Ders.: Theology of the Image and the Evolution of Style. The dogmatic and canonical evaluation of Russian ecclesiastical art of the Synodal Period. In: Iconofile 7 (2005), S. 5‒25. 16 Zelinskij, V.: Chram Christa Spasitelja v Moskve [Die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau]. Moskva 1894, S. 46.



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Abb. 4  Moskau, Christ-Erlöser-Kathedrale, Ansicht von Südosten. Aufnahme aus der Sammlung der Kaiserlichen archäologischen Kommission. Fotograf unbekannt, Ende des 19. Jahrhunderts.

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derheiten der Architektur des russischen Mittelalters habe aufgreifen wollen, so sei sie wegen ihres großen Baukörpers nicht unmittelbar dem Muster der Moskauer Bischofskirche gefolgt. Die Skulpturenausstattung, der Fries im Hochrelief, die Heiligenbilder in Medaillons wie auch die Kokoschnik-Muscheln knüpften in Wahrheit an Schmuckformen der Renaissance an und spiegelten Charakteristika der europäischen Kultur wider. In der Tat konnte der weiße Stein der Kirche den Betrachter und Betenden ebenso gut an den Kalkstein Moskaus wie an den weißen Marmor Italiens denken lassen.17 Sowohl der Bauplatz als auch die neuen Formen der allrussischen Kathedrale, welche die besondere Rolle des Landes im gesamteuropäischen Krieg und Sieg der Jahre 1812‒1814 unterstrich, wurden von Anfang an zum Gegenstand der Diskussion in der russischen Öffentlichkeit. So wurde zu ihrer Ausführung eines der ältesten Klöster Moskaus abgetragen ‒ das Alekseevskij-Kloster aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise hatte Alexander I. seinerzeit eine neue Kathedrale im Moskauer Kreml verworfen, wie dies mehrere Projekte vorsahen, weil er es ablehnte, dafür ältere Kirchen abzureißen.18 So wie der Vergangenheit selbst eine neue Deutung untergeschoben wurde, so prallte mit der neuen Kathedrale eine neue Ästhetik auf die russischen Sehgewohnheiten. Während Vitberg das Projekt seines erfolgreichen Konkurrenten als „Dorfkirche“ ansah,19 war Evgenij Trubeckoj (1863‒1920) kategorischer und nannte die ChristErlöser-Kathedrale „eines der größten Denkmäler kostspieliger Gedankenlosigkeit: Sie ist wie ein riesiger Samovar, um den herum sich in seiner Gutmütigkeit das patriarchale Moskau versammelt hat.“20 Den neuen Bau zeichneten in der Tat Eklektik und Geschmacklosigkeit aus. Was gesagt wurde über den großartigen Aufriss der Kathedrale, die Leichtigkeit und Schönheit ihrer Form, die durch sie gebildete bauliche Dominante, die den Kreml in der Moskauer Stadtlandschaft ausbalanciere, muss als schiere Apologetik gelten. Doch nicht nur die Geschmäcker schieden sich an der Kathedralarchitektur. Die Kritiker des Projekts wie Aleksandr Gercen (auch Herzen, 1812‒1870) und Vladimir Stasov (1824‒1906) sahen darin die Verkörperung eines bestimmten politischen Programms, ein Symbol der regierungsoffiziösen Volkstümlichkeit (narodnost’). Für die Mehrheit der Bevölkerung mochte dieses Symbol jedoch einen Aufschwung des Nationalbewusstseins stimulieren, wie dies auch das der Architektur eingeschriebene politische Programm intendierte. Gerade darauf ist die Kritik der russischen Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fokussiert. Letztlich verkörperte die Kathedrale ein

17 Kiričenko, Evgenija: Chram Christa Spasitelja ‒ pamjatnik architektury 1830‒1850-ch gg. [Die ChristErlöser-Kathedrale ‒ ein Baudenkmal der 1830er bis 1850er Jahre]. In: Chram Christa Spasitelja. Sbornik. Hg. v. Lidija Polinovskaja. Moskva 1996, S. 7‒46. 18 Ebd., S. 15. 19 Tichomirov (wie Anm. 13), S. 25. 20 Trubeckoj, Evgenij: Dva mira drevnerusskoj ikonopisi [Die zwei Welten der altrussischen Ikonenmalerei]. Moskva 1916, S. 29: „[…] odin iz samych krupnych pamjatnikov dorogostojaščego bessmyslija: ėto kak by ogromnyj samovar, vokrug kotorogo blagodušno sobralas’ patriarchal’naja Moskva.“



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neues Wertesystem, in dem nationale Zugehörigkeit als Volkstümlichkeit und Konfession als Ausdruck der nationalen Idee galten.21 Wenn das nicht realisierte Projekt Alexanders I. und Vitbergs europäisch war, so war das realisierte Projekt Nikolaus’ I. und Tons tatsächlich antieuropäisch. Der Priester und Religionsphilosoph Pavel Florenskij (1882‒1937), ein feinsinniger Kenner der vaterländischen Altertümer, bemerkte einmal in einem anderen Zusammenhang: „Wenn uns über die Geschichte der Zeit der Wirren* nichts anderes bekannt wäre, könnte man allein auf der Grundlage der Ikonenmalerei, oder allein schon der Stirnfalten, den geistlichen Fortschritt der mittelalterlichen Rus’ zum Moskauer Zarentum der Renaissance begreifen: Durch die Ikonenmalerei des ausgehenden 16. Jahrhunderts schwebt die Smuta wie eine geistliche Krankheit der russischen Gesellschaft.“22 Diese Beobachtungen werden bei der heute in der Luft liegenden Umwertung des neurussischen Stils aktuell, der traditionell in Zusammenhang gebracht wird mit der Nationalromantik. Der Fortschritt, von dem Florenskij schreibt, wird in der Verbreitung des neuen Stils augenfällig, für den die Christ-Erlöser-Kathedrale ein grelles Muster lieferte. Darin verschoben sich nicht nur die Ideen, die unmittelbar auf die Ereignisse zurückgingen, denen die Kathedrale gewidmet war. Die Neubewertung der Geschichte des Kriegs von 1812‒1814 im Russland des frühen 20. Jahrhunderts und die Verschiebung der Akzente im Erinnerungsprogramm der Kathedrale habe ich unlängst am Beispiel der Russischen Gedächtniskirche (St.-Alexi-Gedächtniskirche zur Russischen Ehre) in Leipzig untersucht. Die imperiale Idee Russlands in der Konfrontation mit Deutschland, welche der Architektur der Gedächtniskirche eingeschrieben ist, überdeckte die Trauer und das Gedenken an die Gefallenen der Völkerschlacht.23

21 Kiričenko (wie Anm. 17), S. 7‒46; siehe auch Dies.: Russkij stil’. Poiski vyraženija nacional’noj samobytnosti. Narodnost’ i nacional’nost’ tradicii drevnerusskogo i narodnogo iskusstva v russkom iskusstve XVIII-načala XX vv. [Der russische Stil. Die Suche nach dem Ausdruck der nationalen Eigen­ art. Volkstümlichkeit und Nationalität der Tradition der altrussischen und nationalen Kunst in der russischen Kunst vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert]. Moskva 1997. Zu den historisierenden Stilen in der Architektur dieser Zeit und zur Architekturideologie siehe Savel’ev, Jurij: „Vizantijskij stil’“ v architekture Rossii. Vtoraja polovina XIX‒načalo XX veka [Der „byzantinische Stil“ in der Architektur Russlands im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert]. Sankt-Peterburg 2005; Ders.: Iskusstvo istorizma i gosudarstvennyj zakaz. Vtoraja polovina XIX‒načalo XX veka [Kunst des Historismus und staatlicher Auftrag im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert]. Moskva 2008. * „Zeit der Wirren“ (smutnoe vremja) oder Smuta: In der russischen Geschichte Bezeichnung für die Zeit zwischen 1598 und 1613, eine Phase der Thronfolgeauseinandersetzungen und bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in der Moskauer Rus’ [Anmerkung des Übersetzers]. 22 Florenskij, Pavel: Ikonostas [Die Ikonostase]. In: Bogoslovskie trudy 9 (1972), S. 83–148, hier S. 126: „Esli by ničego ne bylo izvestno nam iz istorii o Smutnom vremeni, to na osnovanii odnoj tol’ko ikonopisi, i daže tol’ko skladok, možno bylo by ponjat’ proischodivšij duchovnyj sdvig srednevekovoj Rusi k vozroždenskomu carstvu Moskovskomu: v ikonopisi vtoroj poloviny XVI v. uže reet Smutnoe vremja kak duchovnaja bolezn’ russkogo obščestva.“ 23 Zu diesem Geistesphänomen in der russischen Gesellschaft vgl. Musin, Aleksandr: Chram-pamjatnik v Lejpcige v kontekste cerkovnoj tradicii uvekovečenija voinskoj pamjati [Die Gedächtniskirche in Leipzig im Kontext der kirchlichen Tradition der Verewigung des Gefallenengedenkens]. In: Russkij chram-pamjatnik v Lejpcige. Hg. v. Marina Dmitrieva. Sankt-Peterburg 2015, S. 181‒228.

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Die in der russischen Architektur von der Mitte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Themen und Bilder zum Moskauer Zarentum waren dazu bestimmt, die Ideologie eines triumphalen Etatismus und Nationalismus wiederzubeleben; sie waren gewissermaßen Vorboten der Russischen Revolution. Die Heraufbeschwörung des Moskauer Erbes in der Kunst, die von den Romanows gefördert wurde, erwies sich als prophetisch. Der Oktoberumsturz des Jahres 1917, antieuropäisch im Wesen und nach seinen propagierten Werten ganz und gar einheimischen Ursprungs, fegte das Reich Peters des Großen hinweg, das einst anstelle der Moskauer Rus’ errichtet worden war. Die Architektur der Christ-Erlöser-Kathedrale behauptete sich nicht nur als Verkörperung der neuen Staatsidee, die ihren Anteil an der Transformation nationaler Werte hatte, sondern auch als analytischer Indikator, der es gestattete, vermittels eines anthropologischen Ansatzes den Weg und post factum die Richtung solcher Veränderungen in der Kultur zu verfolgen. Einige sehr einflussreiche und unvermeidliche Faktoren bei der Entstehung monumentaler Baukunst sind in diesem kurzen Abriss zur ursprünglichen Christ-ErlöserKathedrale unberücksichtigt geblieben, nämlich die Ambitionen und finanziellen Interessen, die Einzelpersonen oder soziale Gruppen mit einem solchen Projekt verfolgen. Die Rekonstruktion der Christ-Erlöser-Kathedrale bzw. die Errichtung der zweiten Kathedrale in den 1990er Jahren ist ein beredtes Zeugnis für die Uneindeutigkeit der Motivationen, die verschiedene soziale Gruppen dazu bringen, sich an einer solchen Wiederherstellung zu beteiligen.

„Geschichte bauen“ im sowjetischen und postsowjetischen Russland: „Erinnerung des Ortes“ anstelle von „Erinnerungsort“ Die Christ-Erlöser-Kathedrale wurde 1931 gesprengt. Ihr widerfuhr dasselbe Geschick wie einst dem zwecks ihrer Erbauung abgetragenen Alekseevskij-Kloster. An ihrer Stelle sollte eine Kathedrale des neuen Zeitalters entstehen ‒ der Palast der Sowjets. Das von Vladimir Gel’frejch (1885–1965), Boris Iofan (1891–1976) und Vladimir Ščuko (1878– 1939) erstellte Projekt sah einen Baukörper vor, der Tons Vorgängerbauwerk im Volumen um mehr als das Vierfache übertraf (Abb. 5).24 Idee und Symbolik dieses Projekts wurden schon vielfach untersucht und die Geschichte seines Fehlschlags wie das anschließende Schicksal des Ortes eingehend beschrieben.25 Doch gibt es einige Aspekte, die 24 Gel’frejch, Vladimir/Iofan, Boris/Ščuko, Vladimir: Proekt Dvorca Sovetov [Das Projekt des Palasts der Sowjets]. In: Stroitel’stvo Moskvy 3 (1934), S. 6‒9; Chram Christa Spasitelja v Moskve. Istorija proektirovanija i sozdanija sobora, stranicy žizni i gibeli 1813‒1931. Fotoal’bom [Die Christ-Erlöser-­ Kathedrale in Moskau. Geschichte der Planung und Errichtung des Doms, Seiten aus dem Leben und Untergang 1813‒1931. Ein Fotobildband]. Hg. v. Evgenija Kiričenko und Galina Ivanova. Moskva 1992, S. 234 f. 25 Chram Christa Spasitelja v Moskve. Istorija proektirovanija i sozdanija sobora, stranicy žizni, gibeli i vozroždenija 1813‒1997. Al’bom [Die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Geschichte der Planung und Errichtung des Doms, Seiten aus dem Leben, dem Untergang und der Wiederauferstehung 1813‒1997.



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Abb. 5  Entwurf für den Palast der Sowjets am Ort der abgerissenen Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau und ihre räumlichen Verhältnisse, Architekten: Vladimir Gel’frejch, Boris Iofan, Vladimir Ščuko, 1934.

meines Erachtens bisher nicht die gehörige Aufmerksamkeit gefunden haben. Eine verbreitete These ist, dass die Wahl des Bauplatzes und die in den Entwurf eingegangenen Ideen und Bilder einen quasireligiösen Subtext besaßen, wie überhaupt vieles in den neuen Formen der russischen Kultur der 1920er und 1930er Jahre.26 Die antireligiöse Rhetorik der Sowjetzeit sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass das soziale Experiment der Bolschewiki gerade bei der Restaurierung der Vergangenheit in neuen Formen eine quasireligiöse Fundierung besaß. Bemerkenswerterweise fiel der Bau des Freibads „Moskva“ an der Stelle der zerstörten Kathedrale und des nicht gebauten Palasts in die 1960er Jahre, als Körperkultur und Sport zum neuen Kult der sowjetischen Gesellschaft wurden. Diese nahezu gesetzmäßigen Zusammenhänge sind unbedingt zu berücksichtigen, selbst wenn sich die Ideengeber der quasireligiösen Konnotationen ihrer Projekte gar nicht bewusst waren.

Ein Bildband]. Hg. v. Evgenija Kiričenko und Galina Ivanova. Moskva 1997; Dmitrieva, Marina: Christus-Erlöser-Kathedrale versus Palast der Sowjets. Zur Semantik zeitgenössischer Architektur in Moskau. In: Kultur und Krise Rußlands 1987‒1997. Hg. v. Elisabeth Cheauré. Berlin 1997, S. 121‒135; Akinsha, Konstantin/Kozlov, Grigorij/Hochfield, Sylvia: The holy place: architecture, ideology, and history in Russia. New Haven, Conn. u. a. 2007, S. 119‒134; Bartetzky, Arnold: Christus-ErlöserKathedrale in Moskau [Katalogtext]. In: Geschichte der Rekonstruktion (wie Anm. 1), S. 289. 26 Zur religiös gefärbten Theorie und Praxis des russischen Bolschewismus beispielsweise Berdyaev, Nicolas: The Origin of Russian Communism. London 1937; Firsov, Sergej: Na vesach very. Ot kommunističeskoj religii k novym „svjatym“ postkommunističeskoj Rossii [Auf der Waage des Glaubens. Von der kommunistischen Religion zu den neuen „Heiligen“ des postkommunistischen Russland]. Sankt-Peterburg 2011.

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Der Rekonstruktion der Christ-Erlöser-Kathedrale in den 1990er Jahren ging eine maßstäblich verkleinerte Generalprobe in Gestalt der Rekonstruktion der kleineren Kirche der Kazaner Ikone der Muttergottes auf dem Roten Platz (Krasnaja ploščad’) voraus, die von Zar Michail Romanow 1636 als Denkmal für die Überwindung der Zeit der Wirren errichtet und 1936 abgerissen worden war. 1990‒1993 wurde sie auf Beschluss des Moskauer Stadtsowjets als Denkmal des militärischen Ruhms rekonstruiert.27 Genau damit begann das neue Bauen von Geschichte, das pragmatisch moderne Technologie mit der Imitation eines wissenschaftlichen Zugangs zum kulturellen Erbe und der Simulation einer religiösen Wiedergeburt vereinigt. Zu dieser Zeit war bereits eine passende Ideologie zur Rekonstruktion der ChristErlöser-Kathedrale kreiert worden. Bereits 1989 ergriff eine Gruppierung der nationalradikalen außerkirchlichen Intelligenz die Initiative zur „Wiedergeburt der Kathedrale“; dazu zählten Vladimir Solouchin und Igor’ Šafarevič.28 Die Zerstörung der Kathedrale war für sie ein Symbol des sowjetischen Atheismus, und ihre Rekonstruktion sollte zum Symbol von dessen Überwindung und der Wiedergeburt Russlands werden. In dieser Gedankenwelt spielte der kirchlich-religiöse Aspekt der Wiedergeburt eine untergeordnete Rolle, insofern der Orthodoxie nur eine unterstützende Rolle bei der nationalen Wiedererweckung zugewiesen wurde. Gleichwohl ist es irreführend zu behaupten, dass die Politik sich im Anschluss daran auf eine Initiative der Zivilgesellschaft stützte.29 Denn die Idee fand 1990 die Unterstützung des Synods der Russischen Orthodoxen Kirche, der darauf setzte, staatliche Mittel zur Umsetzung kirchlicher Aufgaben in Anspruch zu nehmen, vor allem zur verstärkten öffentlichen Repräsentation der Kirche. Zugleich nutzten Behörden und politische Einrichtungen verschiedener Ebenen das Rekonstruktionsprojekt für ihre eigenen Zwecke. 1994 wurde bei der Moskauer Stadtverwaltung ein Gesellschaftlicher Aufsichtsrat zur Wiedergeburt der Kathedrale eingerichtet. Die Konkurrenz zwischen dem Bürgermeister von Moskau Jurij Lužkov und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin nötigte letzteren 1995 dazu, eine Sonderverordnung zur Rekonstruktion der Christ-Erlöser-Kathedrale zu erlassen. Das Moskauer Projekt wurde damit zu einer gesamtrussischen Unternehmung. Von Anfang an fiel die Umsetzung des Projekts in die Hände von Bauoligarchen, die an großen Regierungsaufträgen und Spielfeldern für ihre kreativen Ambitionen interessiert waren. Chefarchitekt wurde Michail Posochin (* 1948), der Leiter der landesweit größten Städtebauorganisation „Moskproekt-2“, und die künstlerische Gestaltung der Kathedrale leitete der Präsident der Akademie der Künste Zurab Cereteli (* 1934). Dieses Monopol schloss eine Diskussion von Fachleuten über Rekonstruk­ tionsmethoden aus; bezeichnenderweise erschienen nicht einmal in den einschlägigen wissenschaftlichen Periodika seriöse Publikationen zum Thema. Allein in den Medien 27 Beljaev, Leonid/Pavlovič, Georgij: Kazanskij sobor na Krasnoj ploščadi [Die Kasaner Kathedrale auf dem Roten Platz]. Moskva 1993. 28 Dazu eingehender: Chram Christa Spasitelja. Sbornik [Die Christ-Erlöser-Kathedrale. Ein Sammelband]. Hg. v. Svetlana Romanova. Moskva 2008. 29 Mager, Tino: Architecture RePerformed. The Politics of Reconstruction. London 2015, S. 28.



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Abb. 6  Moskau, Christ-Erlöser-Kathedrale, heutige Ansicht von Südwesten. Aufnahme von 2014.

spiegelte sich das ganze Spektrum gesellschaftlicher Widersprüche wider, welche das Rekonstruktionsvorhaben produzierte. Es ist festzuhalten, dass es auch im kirchlichen Umfeld skeptische Stimmen gab, die zum Teil dieselbe Rhetorik benutzten wie die Kritik an Tons Projekt im 19. Jahrhundert. Das neue Projekt sei wie sein Vorgänger „geschmacklos“ und „abgrundtief hässlich“, und es gefährde die Vervollkommnung der sakralen Ästhetik und die Entwicklung der kirchlichen Kunst.30 Kirchenkreise verlangten den Vorrang der religiösen Motivation des Projekts vor allen patriotischen Rechtfertigungen.31 Im Ergebnis der Rekonstruktion, die dem Gebäude im Hinblick auf Technologie und Detailausstattung jedwede historische Authentizität verweigerte, entstand eine Neuschöpfung als Geschichtsersatz und ein Simulacrum religiösen Lebens (Abb. 6). Eisenbeton und Stahldach ersetzten die Ziegelbauweise, und Marmor aus dem Ural und dem südsibirischen Sajangebirge wurde anstelle des Dolomits aus der Moskauer Region benutzt. Für den Neubau wurden neue Mythen kreiert, welche den Einsatz moderner Technologien rechtfertigten und die baulichen Ideen des 19. Jahrhunderts abwerteten. 30 Chram Christa Spasitelja [Die Christ-Erlöser-Kathedrale]. Hg. v. Boris Sporov. Moskva 1996, S. 241, hier Presseauszüge zur Diskussion über die Notwendigkeit der Wiedererrichtung der Kathedrale, S. 273‒280. 31 Kuraev, Andrej: Razmyšlenija pravoslavnogo pragmatika o tom, nado li stroit’ Chram Christa Spasitelja [Überlegungen eines orthodoxen Pragmatikers, ob die Christ-Erlöser-Kathedrale gebaut werden muss]. Moskva 1995.

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Die Hochreliefs der Kathedrale wurden unter dem Vorwand der Langlebigkeit in Bronze ausgeführt, während die Originalskulpturen in der äußeren Form detailgetreu imitiert wurden. Zur Rechtfertigung eines solchen Surrogats erfand man Erinnerungen, denen zufolge noch Kaiser Alexander III. (reg. 1881‒1894) vorgeschlagen habe, anstelle des Kalksteins für die Skulpturen Galvanoplastik und Bronze zu verwenden.32 Aufschlussreich ist auch die eigentumsrechtliche Situation der Kathedrale. Diese wurde der Russischen Orthodoxen Kirche zur Abhaltung von Gottesdiensten im Jahr 2000 lediglich symbolisch übergeben, während sie juristisch weiterhin Eigentum der Moskauer Munizipalität ist. Die praktische Verwaltung der Kathedrale wurde dem Fonds Christ-Erlöser Kathedrale (fond ChChS [XXC]) anvertraut, welcher die zahlreichen Räumlichkeiten im Untergeschoss der Kathedrale verpachtet. Hier sind Dutzende von Handelsunternehmen registriert, es gibt eine Garage und eine Autowaschanlage (die Moskauer haben daher die Kathedrale „Spas-na-garažach“ ‒ „Erlös[er]-auf-den-Garagen“ getauft); so ist die religiöse Stätte in Wahrheit ein Geschäftszentrum. Diese Absicht stand von Anfang an hinter dem Neubau. Bekanntlich stießen die Pläne, das Untergeschoss wegen seiner kommerziellen Nutzung mit Vorrang fertigzustellen, bereits in den 1990er Jahren auf Kritik.33 So besaßen während der Bauphase und später die finanziellen Interessen von Gruppen und Einzelpersonen mit Kontakten in der Moskauer Stadtverwaltung ausdrücklich Priorität bei dem Projekt. Diese Zusammenhänge zwingen dazu, die gängige Meinung über die soziopolitischen Zwecke der Kathedralrekonstruktion zu überdenken. Viele Forscher verbinden sie mit dem Versuch der Staatsmacht, die nationale Identität von Grund auf zu (re-)konstruieren und die Gesellschaft zu konsolidieren. Sie gehen von der Vorstellung aus, dass es eine durchdachte Konzeption von Monumentalarchitektur als Ikonen der Nation gegeben habe,34 in der die „post-communist ,resurrection‛ of the cathedral imitated the strategies of national self-definition employed both [by] tsarist and Bolshevik regimes“.35 Wohl nur Svetlana Boym setzte die Rekonstruktion als Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses in ein Verhältnis zu den individuellen und kollektiven Erfahrungen von Vertretern der russischen Intelligenz und einiger weiterer Milieus.36 Doch fehlt bis heute immer 32 Kiričenko (wie Anm. 17), S. 33 f. 33 Chram Christa Spasitelja (wie Anm. 30), S. 242. 34 Sidorov, Dmitri: National Monumentalization and the Politics of Scale. The Resurrections of the Cathedral of Christ the Savior in Moscow. In: Annals of the Association of American Geographers 90/3 (2000), S. 548‒572; Keghel, Isabelle de: Die Staatssymbolik des neuen Russland im Wandel. Vom antisowjetischen Impetus zur russländisch-sowjetischen Mischidentität. Bremen 2003, S. 76; Haskins, Ekaterina: Russia’s Postcommunist Past: The Cathedral of Christ the Savior and the Reimagining of National Identity. In: History & Memory 21/1 (2009), S. 25‒62; Eady, Katherine: The Reconstruction of the Cathedral of Christ the Saviour: Public Space and National Identity in Post-Soviet Moscow. In: University of Toronto Art Journal 2 (2009), S. 1‒18. 35 Haskins, Ekaterina: Russia’s Postcommunist Past: The Cathedral of Christ the Savior and the Reimagining of National Identity. In: Global Memoryscapes: Contesting Remembrance in a Transnational Age Rhetoric, Culture, and Social Critique. Hg. v. Kendall R. Phillips und ‎G. Mitchell Reyes. Tuscaloosa, AL 2011, S. 46‒79, hier S. 48. 36 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York 2001.



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noch eine geschlossene Theorie, die den Sinn der Kathedralrekonstruktion zufriedenstellend erklären würde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass einige Gruppierungen in der Staatsführung mit dem Neubau die Hoffnung verbanden, die Rekonstruktion alter Symbole würde der Gesellschaft einen Entwicklungsschub in einer ihnen genehmen Richtung geben. Darin ist meines Erachtens der prinzipielle Unterschied zwischen dem Kathedralbau aus der Zeit Nikolaus’ I. und seiner Kopie aus der Zeit Jelzins zu sehen. Der erste präsentierte eine zwar tendenziöse, aber immerhin originelle, auf gesellschaftliche Transformation abzielende Interpretation der Geschichte. Letzte ist ein plattes Plagiat, unfähig, der sklavischen Nachahmung alter Formen einen neuen Sinn zu geben, nicht so sehr auf die Zukunft ausgerichtet als vielmehr auf die Restaurierung einer nur nebulös erfassten Vergangenheit. Im Ergebnis lässt das Bauwerk den Menschen von heute gleichgültig, der die Kathedrale eher als architektonisches Kuriosum wahrnimmt. Diese Gleichgültigkeit geht nicht zuletzt auch auf die Säkularisierung in einer Gesellschaft zurück, die zu der offiziellen Kirchlichkeit auf Distanz geht. Für die überwiegende Mehrheit der orthodoxen Gläubigen ist die Kathedrale auch ein Wahrzeichen der offiziellen Kirche und des Pomps ihrer Hierarchen, der nicht weiter von den Bedürfnissen der Menschen in den Gemeinden entfernt sein könnte. Möglicherweise besteht darüber ein gewisser Konsens, dass lebendige religiöse und kulturelle Traditionen bei dem Neubau nicht allein von politischen Zwecken verdrängt wurden, sondern auch von konkreten materiellen Interessen der Finanz- und Politoligarchie, die ganz praktische Hintergründe hatten. Die Eile bei der Fertigstellung des Bauwerks war daher weniger von dem Jahr 2000 als christlichem Jubiläum diktiert als dadurch, sich die für den Bau bereitgestellten staatlichen Mittel anzueignen und daraus Profit zu schlagen. Heute existiert das Bauwerk abseits der Gesellschaft, der es in seiner glatten Oberflächlichkeit weder Konsolidierung im Innern verschaffen noch eine nationale Idee vermitteln kann. Die Rekonstruktion der Christ-Erlöser-Kathedrale kann nur vor dem Hintergrund lokaler Rekonstruktions- und Restaurierungsprojekte verstanden werden, die natürlich wegen der politischen und finanziellen Möglichkeiten ihrer Auftraggeber bescheidener ausfielen. Manchmal greifen solche Kleinrestaurierungen oder unverhohlene Neubauten viel aggressiver in das städtebauliche Umfeld und das historische Gedächtnis ein. So war die 1584 erbaute Kirche der Geburt der Muttergottes des Klosters der frommen Anna (Empfängniskloster) in Moskau, über deren Gestalt keine Informationen erhalten sind, Anfang des 19. Jahrhunderts abgetragen worden. An selber Stelle erbaute mutmaßlich der Architekt Matvej Kazakov (1738‒1812) eine neue Kirche im neogotischen Stil, die ihrerseits 1934 abgebrochen wurde. Nach der Übergabe des Klosters an die Russische Orthodoxe Kirche wurden an dieser Stelle Grabungen durchgeführt, bei denen teilweise erhaltene mittelalterliche Fundamente zutage traten. Auf diesen Fundamenten wurde nach einem Entwurf von Andrej Obolenskij 2005‒2010 eine neue Kirche gebaut, welche den Stil der Moskauer Architektur des ausgehenden 16. Jahrhunderts imitiert, was die gerechtfertigte Kritik von Experten und Öffentlichkeit auslöste. Doch die Allianz von wohlhabenden Sponsoren und einflussreichen Förderern sicherte dem Projekt die Fertigstellung.

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Einen noch größeren Skandal gab es um den Bau der nie zuvor existierenden Kirche der Neuen Märtyrer und russischen Beichtväter im Sretenskij-Kloster auf der Moskauer Lubjanka nach einem Rohentwurf von Dmitrij Smirnov und Jurij Kuper, dessen Realisierung im Jahr 2012 begonnen wurde. Diese Neuschöpfung entstand nur aufgrund der Ambitionen des Klosterabtes Tichon Ševkunov und war eine grobe Verletzung des Prinzips, nicht in ein denkmalgeschütztes bauliches Umfeld einzugreifen; sie schuf an dieser Stelle eine ungerechtfertigte Höhendominante und bedingte den Abriss von Bauwerken aus dem 19. Jahrhundert. Dies alles provozierte den Protest von Denkmalschützern und Experten, doch die Nähe des Abtes zum Kreml und seine Verbindungen zu Oligarchen entschieden über das Schicksal des Bauwerks. Ein ähnliches Schicksal traf auch Denkmäler der Profanarchitektur. In den Jahren 2009 bis 2011 wurde der Sommergarten in Sankt Petersburg seiner traditionellen Gestalt beraubt und büßte damit seinen historischen Wert vollständig ein. An seiner Stelle entstand ein eklektizistisches, künstlerisch überladenes und der Petersburger Ästhetik völlig fremdes Kunstgebilde. Die neue Gestaltung wurde teils nach Ergebnissen archäologischer Grabungen rekonstruiert, teils spiegelte sie Annahmen der Architekten aus dem Institut „Lenproektrestavracija“ und der Firma „Rest-Art-Proekt“ wider,37 wie der Garten am Anfang des 18. Jahrhunderts ausgesehen haben könnte. Jedoch gaben Haushaltsmittel den Ausschlag für die Restaurierung des Parks, welche das Kulturministerium und das Russische Museum für das kostspielige Projekt bereitstellten. Nur wenn das Budget für Restaurierungsarbeiten begrenzt ist und sich das Denkmal nicht im Fadenkreuz religiöser und politischer Ambitionen befindet, scheint noch eine historisch sensible und wissenschaftlich angeleitete Restaurierung möglich zu sein, so in den Jahren 2006‒2012 beim Facettenpalast im Kreml des einstmals großen, doch heute ganz provinziellen Novgorod.38

Die ukrainische Alternative: das Michaelskloster und die  Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale des Höhlenklosters in Kiew Die Rekonstruktion aus dem Nichts von zwei offenbar für die ukrainische Gesellschaft bedeutsamen Denkmälern, die in der Zeit des kommunistischen Regimes und der NSOkkupation zerstört wurden, könnte man als Wiedergeburt nationaler Weihestätten zwecks gesellschaftlicher Konsolidierung betrachten. Jedoch ist unbedingt die komplizierte religiöse Situation in der Ukraine zu berücksichtigen, in der zwei Ukrainische Orthodoxe Kirchen, die keinen eucharistischen Umgang miteinander pflegen, um den 37 Ivanov, Nikolaj/Teterina, Irina/Štiglic, Elena: Letnij sad. Vozroždenie pamjatnika [Der Sommergarten. Die Wiedergeburt eines Denkmals]. In: Naše nasledie 75‒76 (2005), S. 204‒207; Dies.: Letnij sad. Istorija i problemy restavracii pamjatnika [Der Sommergarten. Geschichte und Probleme der Restaurierung eines Denkmals]. In: Architekturnyj vestnik 2 (2006), S. 154‒163. 38 Antipow, Ilja/Jakowlew, Dimitri: Der Facettenpalast in Weliki Nowgorod ‒ ein Denkmal der Zusammenarbeit deutscher und Nowgoroder Meister. In: Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur. Essays. Hg. v. Alexander Lewykin und Matthias Wemhoff. Petersberg 2012, S. 74‒81.



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Abb. 7  Kiew, Michaels­ kloster, Ansicht von Westen. Aufnahme von Boris Farmakovskij, 1908.

Status der Nationalkirche ringen ‒ das Kiewer Patriarchat und eine Filiale des Moskauer Patriarchats.39 Doch ausschlaggebende Momente dieser Rekonstruktionen sind die soziale, ideologische und politische Polarisierung und der Pluralismus der ukrainischen Gesellschaft, gekoppelt mit der Formierung und der Abschirmung korporativer Interessen unterschiedlicher Gruppierungen. Bei unseren Fallbeispielen haben wir es mit einem „symmetrischen Wiederaufbau“ zu tun, welcher der konfessionellen Balance in der Ukraine diente, besonders nachdem inoffiziell das Verbot ergangen war, an eine der Konfessionen die Hauptkirche des Landes – die Kiewer Sophienkathedrale aus dem 11. Jahrhundert, die auch für das kulturelle Gedächtnis Russlands bedeutsam ist – zu verkaufen. Die Rekonstruktion der beiden Kirchen wurde unterstützt durch die Verordnung des ukrainischen Präsidenten 39 Zur ukrainischen Orthodoxie siehe: Religion und Nation. Die Situation der Kirchen in der Ukraine. Hg. v. Thomas Bremer. Wiesbaden 2003; Ders.: Die orthodoxen Kirchen mit nicht-kanonischem Status (Ukraine). In: Die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition. Hg. v. Dems., Hacik Rafi Gazer und Christian Lange. Darmstadt 2013, S. 115–120.

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Abb. 8  Kiew, Michaelskloster, heutige Ansicht von Nordwesten. Aufnahme von 2008.

Leonid Kutschma Nr. 20/96 vom 27. Januar 1996 „Über dringende Maßnahmen zum Wiederaufbau des Komplexes des Michaelsklosters und der Himmelfahrtskathedrale des Höhlenklosters in der Stadt Kiew“. Doch die Umsetzung beider Projekte unterschied sich jeweils im Ablauf und in der Qualität. Das Kloster des Erzengels Michael, genannt Goldkuppelkloster, wurde im Jahr 1108 eingerichtet.40 Seine Baugeschichte ist praktisch unbekannt, doch Ende des 17. Jahrhunderts und in den Jahren 1715‒1746 wurde es barockisiert (Abb. 7). Der Komplex wurde 1935/36 bei der Umwandlung Kiews zur Hauptstadt der Sowjetukraine vollständig zerstört. Da es nichts zu restaurieren gab, begann die Rekonstruktion Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Glockenturm, und 1999 wurde auch die Hauptkirche des Klosters gebaut (Abb. 8). Augenscheinlich beeilten sich die Organisatoren, den Bau zur Zweitausendjahrfeier des Christentums fertigzustellen. Zu dieser Zeit gehörte das Kloster dem Patriarchat von Kiew. Im Nachhinein wurde der Wiederaufbau mit einer Anzahl von Publikationen bedacht,41 doch war er derart übereilt durchgeführt worden, dass er weder von seriöser professi40 Die Nestorchronik (wie Anm. 5), S. 310 [6616 (1108)]. 41 Bartetzky, Arnold: Goldkuppelkloster des Heiligen Michael in Kiew [Katalogtext]. In: Geschichte der Rekonstruktion (wie Anm. 1), S. 291 f.; Pam’jatky Ukraïny. Ščokvartal’nyk Ukr. t-va ochorony pam’jatok istoriï ta kul’tury [Denkmäler der Ukraine. Vierteljahresschrift der Ukrainischen Gesellschaft zum



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oneller Begutachtung noch von eingehenden archäologischen Untersuchungen begleitet werden konnte. Die Ausgrabungen von 1994‒1999 waren weniger für die Authentizität der Rekonstruktion wichtig als zur Gewinnung von Artefakten, welche die konfessionsgeschichtliche Bedeutung der Kirche belegten. Die ukrainische Expertenöffentlichkeit äußerte ihre Einwände gegen die Rekonstruktion ‒ dabei wurden die Termini Wiederherstellung (vosstanovlenie) und Wiederaufbau (vossozdanie) benutzt ‒ und gegen die Restaurierung, wobei diese Begriffe wiederum im russischen Diskurs häufig austauschbar sind. Zugleich wurde versucht, die Rekonstruktion dieser Denkmäler dem Wiederaufbau von im Zweiten Weltkrieg zerstörten nationalen Baudenkmälern im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts zuzuordnen. Bei diesen Begründungen spielten korporative Interessen, die Gegenüberstellung von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis wie auch die Behauptung der Gleichwertigkeit von Kopie und Vorbild eine wichtige Rolle,42 was, wie eingangs dieses Beitrags festgestellt, ein sehr altes Theorem der byzantinischen Ikonologie ist. Etwas anders stellt sich der Ablauf der Rekonstruktion der Mariä-Himmelfahrtskirche oder der Großen Kathedralkirche des Kiewer Höhlenklosters dar. Diese Kirche wurde von byzantinischen Baumeistern in den Jahren 1073‒1075 errichtet.43 Ebenso wie die übrigen orthodoxen Kirchen Kiews wurde sie bei Umbaumaßnahmen 1669‒1677, 1722‒1729 und 1767‒1769 radikal barockisiert (Abb. 9). Schließlich wurde sie am 3. November 1941 während der deutschen Okkupation von Kiew gesprengt. Die Verantwortung dafür schreiben Historiker und öffentliche Meinung fallweise der Besatzungsmacht oder einem sowjetischen Kommando zu; allerdings konnte beiden Seiten daran gelegen sein, ein für die Wiedergeburt der ukrainischen Orthodoxie 1941 zentrales Nationalheiligtum zu zerstören. Nach dem Krieg fällte die Sowjetmacht erst 1961 die Entscheidung, die Mönche aus dem Höhlenkloster zu vertreiben. Die damaligen Pläne zur Rekonstruktion der Kirche wie etwa das Projekt des Architekten Leonid Ljubimov von 1945/46 wurden vor allem aus ideologischen Gründen nicht umgesetzt.44 Die Ruinen der Kirche wurden Schutz von Geschichts- und Kulturdenkmälern] 1 (1999), http://elib.nplu.org/object.html?id=5633 (08.11.2016); O rlenko, Mikola: Mychajlivs’skyj Zolotoverchyj Monastyr. Metodyčni zasady i chronologija vidtvorennja [Das Goldkuppelkloster des Heiligen Michael. Methodenprinzipien und Chronologie der Wiedererrichtung]. Kyïv 2002; Vidtvorennja vtračenych perlyn architektury. Michaj­ livs’skyj Zolotoverchyj. Fotoal’bom [Die Wiederherstellung verlorener Schätze der Architektur. Das Michaels-Goldkuppelkloster. Ein Fotobildband]. Hg. v. Halyna Kryvorčuk und Juryj Losyc’kyj. Kiïv 2011. 42 Locyc’kyj, Juryj: Do pytannja architekturnych kopij u vidtvorenni nacional’noho architekturnoho spadku [Zur Frage der Baukopien bei der Wiederherstellung des nationalen Architekturerbes]. In: Praci Naukovo-doslidnoho instytutu pam’jatkoochoronnych doslidžen’ 1 (2005), S. 69‒79. 43 Die Nestorchronik (wie Anm. 5), S. 221 [6581 (1073)], 236 [6583 (1075)]. 44 Sytkar’ova, Ol’ha: Architektura Kyjevo-Pečers’koï lavry kincja XVIII‒XX st. [Die Architektur des Kiewer Höhlenklosters vom Ende des 18. bis zum 20. Jahrhundert]. Kyïv 2001; Morgunovs’ka, Ljubov: Materialy do vidbudovy Uspens’koho coboru [Materialien für den Umbau der Dormitio-Kathedrale]. In: Lavrskyj al’manach 3 (2001), S. 95‒98; Kas’janenko, Volodymyr: Rekonstrukcija etapiv architekturnoho rozvytku Uspens’koho soboru (hrafična rekonstrukcija avtora) [Rekonstruktion der Etappen der Bauentwicklung der Himmelfahrtskathedrale (graphische Rekonstruktion des Autors)]. In: ebd.

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Aleksandr Musin Abb. 9  Kiew, Himmelfahrtskathedrale des Höhlen­klosters, Ansicht von Westen. Aufnahme von  Boris Formakovskij, 1907.

als Gedenkstätte konserviert. Übrigens distanzierte sich die Sowjetmacht nicht offiziell von den Rekonstruktionsplänen, und aus Anlass der 1500-Jahrfeier Kiews wurden dafür erneut Vorarbeiten aufgenommen, die von 1982 bis 1991 andauerten.45 Am Ende wurde ein großer Teil des Höhlenklosters der Russischen Orthodoxen Kirche übergeben, die nach dem Ende der Sowjetunion 1992 unter der Kontrolle des Moskauer Patriarchats 12 (2004), S. 72‒76; Anisimov, Ihor: Dejaky osoblyvosti pervisnoï architektury Uspens’koho soboru Kyjevo-pečers’koï Lavry (avtors’ka versija) [Einige Besonderheiten der ursprünglichen Architektur des Kiewer Höhlenklosters (Version des Autors)]. In: ebd., S. 22‒36. 45 Rutkovs’ka, Ol’ha: Proektni razrobky ta doslidžennja ščodo vidtvorennja Uspen’koho soboru KyjevoPečers’koï Lavry. 1980 rr. [Projektentwicklung und Forschung zur Wiederherstellung der Himmelfahrtskathedrale des Kiewer Höhlenklosters. Die 1980er Jahre]. In: Visnyk. UkrNDIproektrestavracija 5‒6 (2006), S. 92‒100; Orlenko, Mykola: Kompleksni naukovo-restavracijni doslidžennja, naukovoproektni roboty 1981‒1990 [Komplexe wissenschaftliche und Restaurierungs-Untersuchung, wissenschaftliche Planungsarbeiten 1981‒1990]. In: Sučasni problemy architekturu ta mistobuduvannja. Naukovo-techničnyj zbirnyk 41 (2015), S. 166‒175.



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Abb. 10  Kiew, Himmelfahrtskathedrale des Höhlenklosters, heutige Ansicht von Westen.

verblieb. Die zu Beginn der Kirchenrekonstruktion vorliegende Projektdokumentation war veraltet, was 1996/97 die Erstellung eines neuen Projekts erforderlich machte,46 welches die Fertigstellung zum Jubiläumsjahr 2000 garantierte (Abb. 10). Projektierung und Bau standen unter solchem Zeitdruck, dass man gar nicht erst versuchte, eine möglichst authentische Rekonstruktion zu gewährleisten; so wurden die erhaltenen Ruinen nicht vollständig abgebaut, eine zuverlässige Methodologie fehlte, und die archäologischen Untersuchungen waren oberflächlich. Unvermeidlich unterliefen gravierende Baufehler: Der Boden des Narthex liegt unterhalb des Niveaus des Kirchenplatzes, sodass er von Schmelz- und Regenwasser überschwemmt wird, und die tief eingelassenen Fundament-Pfähle stauen das Grundwasser, was den gesamten Komplex des Höhlenklosters gefährdet. Im Übrigen sind einige Porträts in der neuen Kirchenausschmückung jetzigen Hierarchen wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide Kirchen wurden in ihren barocken Formen rekonstruiert, die sie vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert besaßen und die recht gut in den Quellen dokumentiert sind oder sicher rekonstruiert werden konnten. Die Möglichkeit eines Wiederaufbaus der Kirchen in ihrer ursprünglichen Gestalt aus dem 11. und 12. Jahrhundert wurde eigentlich nicht diskutiert. Das folgte daraus, dass die Ukraine die Zeit des unabhängigen 46 Sytkar’ova, Ol’ha: Uspens’kyj sobor Kyjevo-Pečers’koï Lavry. Do istoriï architekturno-archeolohičnych doslidžen’ ta proektu vidbudovy [Die Himmelfahrtskathedrale des Kiewer Höhlenklosters. Zur Geschichte der architektonischen und archäologischen Forschungen und des Wiederaufbauprojekts]. Kyïv 2000.

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Hetmanats und dessen faktischer Autonomie innerhalb des Russländischen Reichs (1686‒1764) besonders schätzt. Doch alles in allem war die Rekonstruktion der Himmelfahrtskathedrale von denselben Problemen geprägt wie der Neubau des Michaelsklosters und bediente auch ähnliche soziopolitische Interessen. Jedoch löste dieser Neubau stärkere öffentliche Kritik aus; die extremste Forderung war, die Kirchenruine zur Ermahnung der Nachwelt unverändert zu belassen. Darin zeigt sich, dass Öffentlichkeit und Kontrolle seitens der gemeindlichen Basis innerhalb des Kiewer Patriarchats mehr Einfluss haben als bei dessen konfessioneller Konkurrenz, wo eher die Haltung vorherrscht, alles sei erlaubt, auch was die Rekonstruktion historisch wertvoller Sakralarchitektur anbelangt. Bei beiden Kirchen gibt es eine Besonderheit: Die sie umgebenden Gebäudekomplexe rahmen Plätze ein, die sich besonders für den sakralen Ritus eignen. Dieser Umstand war wichtig für die Auswahl von Objekten für eine punktuelle Rekonstruktion, welche nicht die Wiederherstellung des verlorenen baulichen Umfelds insgesamt einschloss. Anders verhielt es sich mit den isoliert stehenden Fundamenten der Desjatinenkirche, mit der die ersten Erfahrungen mit der Rekonstruktion von Kirchen des Russländischen Reichs gemacht wurden. 1928‒1936 abgebrochen, bestand sie im kulturellen Raum der Stadt zuerst 1936‒1939 als archäologische Grabungsstätte fort, danach in Gestalt einer annäherungsweisen Kontur des alten Grundrisses, die 1982 zur 1500-Jahrfeier von Kiew auf einer Steinplatte angebracht wurde. Bis zum Jahr 2000 blieb dieser Ort von Kirchenhierarchie, Politik und Investoren praktisch unbeachtet.

Die nicht zu Ende gebaute Geschichte:  noch einmal die Desjatinenkirche in Kiew Anfang des 21. Jahrhunderts stellte die symmetrische Rekonstruktion die konfessionelle Balance wieder her, indem sie den beiden wichtigsten Glaubensgemeinschaften der ukrainischen Orthodoxie das Recht sicherte, nationalhistorisch bedeutsame Kirchen zu nutzen. Augenscheinlich nahm genau aus diesem Grund das ukrainische Kabinett 1999 die Fundamente der Desjatinenkirche nicht in das Programm zur Rekonstruktion von historisch und kulturell bedeutsamen Denkmälern auf. Diese Situation gefiel allerdings bestimmten politischen Kräften in Kiew nicht, wie sie insbesondere im Fonds „Wiedergeburt der Desjatinenkirche“ vertreten waren, der eng mit der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats und den moskautreuen Oligarchen verbunden ist. Am 12. Februar 2000 erließ der ukrainische Präsident Kutschma die Verordnung Nr. 83/2000 „Über die vorrangigen Maßnahmen zur Wiedergeburt der Kirche der Muttergottes (Desjatinenkirche)“. Das stieß auf den Widerstand eines Teils der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft. Die Gegner des Neubaus verwiesen auf das Fehlen zuverlässiger Zeugnisse über die Bauformen der Kirche vom 10. bis 13. Jahrhundert, was das Projekt zur Spielwiese von Architekten und Bauherren mache. Dabei war zu beachten, dass das Projekt in diesem Teil Kiews stark in das städtebauliche Umfeld eingegriffen hätte, zumal der wuchtige Neubau die zierliche Andreevskaja-



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Kirche dominieren würde, die 1754 von Bartolomeo Rastrelli (1700‒1771) im Barockstil gebaut wurde. Aufgrund dieser Einwände sah sich die Regierung zur Modifizierung ihrer Anordnung gezwungen. Kutschma unterzeichnete am 17. September 2004 die Verordnung Nr. 217/2004 „Über die Musealisierung der Überreste der Kirche der Muttergottes (Desjatinenkirche) in Kiew“. Diese beauftragte die Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine (Nacional’na Akademija nauk Ukraïny), bis zum September 2005 archäologische Grabungen abzuschließen, und die Stadtverwaltung von Kiew wurde angewiesen, die Musealisierung (muzejefikacija) genannte Konservierung der Ruinen durchzuführen und das Areal touristisch zu erschließen. Allerdings fuhr das Moskauer Patriarchat in der Ukraine mit der Lobbyarbeit für die Rekonstruktion der Desjatinenkirche fort, obwohl diese gegen das Prinzip der restauratorischen Symmetrie verstoßen hätte. Ein Vorschlag war, eine Denkmalskapelle auf den Fundamenten der Kirchenruine zu errichten. Diese Aktivitäten kontrastierten mit der neutralen Haltung des Kiewer Patriarchats, das keine Ansprüche auf den Erinnerungsort erhob. Im Februar 2005 verkündete der damalige Kiewer Bürgermeister Oleksandr Omel’čenko, er habe angewiesen, die Arbeiten an der Projektierung und Errichtung der Desjatinenkirche zu beginnen. Ukrainische Architekten, zuvörderst der Direktor des Instituts „Ukrniiproektrestavracija“ Anatolij Antonjuk, erhoben weiterhin Einwände gegen die Rekonstruktion. Sie sahen in ihr einen Neubau nach Motiven der byzantinischen Architektur und mittels altertümlicher Technologien. Die vom Institut für Archäologie der Ukraine (Instytut archeolohiï Nacional’noї Akademiï nauk Ukraïny) begonnenen Ausgrabungen erbrachten neues Material zur Baugeschichte der Kathedrale,47 konnten aber die Frage nach der genauen Gestalt des Baukörpers nicht erhellen. Doch diese Forschungen der Jahre 2006 bis 2011, die wissenschaftlichen Zwecken dienten und die Musealisierung der Fundamente vorbereiteten, wurden alsbald auch zum Instrument des Widerstands gegen die Pläne der Kirchenleitung sowie interessierter Gruppen aus Politik und Wirtschaft. Parallel dazu entstand auf einem an die Fundamente angrenzenden Grundstück 2007 eine dem Moskauer Patriarchat zugehörige Holzkirche, und 2009 wurde das Männerkloster der Geburt der Muttergottes gegründet. Diese religiöse Einrichtung direkt neben der Grabungsstätte erschwerte die Forschungsarbeit, weil die Geistlichkeit versuchte, Einfluss auf die Untersuchungen zu nehmen und ihre Idee zu popularisieren, ein Kirchenneubau sei unerlässlich. Darin wurde sie von bestimmten Architekten und Kunsthistorikern unterstützt, die ihre ganz eigenen Ziele verfolgten. Während Wiktor Juschtschenko ukraini47 Ioannysjan, Oleg u. a.: Desjatinnaja cerkov’ v Kieve (predvaritel’nye itogi issledovanij 2005‒2007 gg.) [Die Desjatinenkirche in Kiew (vorläufige Quellen der Forschungen 2005‒2007). In: Složenie russkoj gosudarstvennosti v kontekste rannesrednevekovoj istorii Starogo Sveta. Hg. v. Boris Korotkevič, Dmitrij Mačinskij und Tat’jana Seničenkova. Sankt-Peterburg 2009 (Trudy Gosudarstvennogo Ėrmitaža 49), S. 330‒366; Ivakin, Hlib/Ioannisjan, Oleh/Jolšyn, Denys: Architekturno-archeolohičny doslidžennja cerkvy Bogorodyci Desjatynnoï v Kyjevi u 2008‒2011 rr. [Baugeschichtliche und archäologische Erforschung der Kirche der Muttergottes (Desjatinenkirche) in Kiew 2008‒2011]. In: Slov’jany i Rus’: archeolohija ta istorija. Zbirka prac’ na pošanu Petra Toločka. Hg. v. Hlib Ivakin. Kyïv 2013, S. 73‒80.

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Abb. 11  Varianten der wissenschaftlichen Rekonstruktion (1‒3) und Projekte für den Neubau (4) der Desjatinenkirche in Kiew: 1 ‒ Jurij Aseev (1982), 2 ‒ Kenneth John Conant (1942?), 3 ‒ Petr Zykov (2012), 4 ‒ Elena Krugljak (2011).

scher Präsident war (2005‒2010), gab es jedoch keine unumkehrbaren Maßnahmen, die auf einen Kirchenneubau hinausgelaufen wären. Die Situation änderte sich 2010 mit dem Amtsantritt von Präsident Wiktor Janu­ kowytsch, der eine moskaunahe Richtung vorgab. Im Juni 2011 erklärte der Synod der Ukrainischen Kirche des Moskauer Patriarchats einen Kirchenneubau am Ort der Desjatinenkirche für notwendig. Diese Erklärung gebrauchte anstelle von Rekonstruktion und Errichtung den bedeutungsträchtigen Begriff der „Wiedergeburt“. Dabei sprach sich der Synod nicht ausdrücklich gegen das Regierungskonzept der Musealisierung der Fundamente und ihrer Erschließung für den Fremdenverkehr aus. Doch am 21. September 2011 brachte der Vertreter des Präsidenten Jurij Mirošnyčenko im Parlament der Ukraine, der Obersten Rada, den Gesetzesentwurf Nr. 9196 „Über die Wiedergeburt eines einzigartigen Symbols der Orthodoxie ‒ der Muttergotteskirche (Desjatinenkirche) in der Stadt Kiew“ ein. Darüber kam es zu neuen Auseinandersetzungen. Die Gesellschaft der ukrainischen Archäologen (Spilka archeolohiv Ukraïny)



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nannte das Projekt einen pseudohistorischen Entwurf quasiideologischer Ausrichtung.48 Doch noch im selben Jahr wurde unter der Ägide des Moskauer Patriarchats und der promoskauer Partei der Regionen (Partija rehioniv) ein Wettbewerb für den Kirchenneubau ausgeschrieben, den eine Angehörige der Bauabteilung der Ukrainischen Kirche, die Nonne Elena Krugljak gewann. Während der langjährigen Untersuchungen zur Desjatinenkirche schlugen die Forscher verschiedene Rekonstruktionsvarianten vor (Abb. 11),49 beispielsweise die Kirche nach dem Vorbild der Sophienkathedrale zu bauen.50 Das von der Kirche vorgelegte Projekt zeichnete sich durch Prachtentfaltung und lange vertikale Linien aus, die nicht für die Architektur der mittelbyzantinischen Periode typisch waren, wohl aber für die Moskauer Variante des neobyzantinischen Stils von der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. Dieses Projekt sah Eisenbetonpfähle vor, auf denen die Plattform der Kirche aufliegen sollte, welche die musealisierten Fundamente aus dem 10. Jahrhundert überdeckte (Abb. 11,4). Allein der ukrainische Euromajdan („Revolution der Würde“) an der Jahreswende 2013/14 stoppte den Bau dieses historischen und religiösen Simulacrums. Im Dezember 2015 erhielt das Konzept, die erhaltenen Fundamente mit der Abstichmethode zu konservieren, die Unterstützung der Stadtführung (Abb. 12). Schlussendlich kam es nicht 48 Zajava Spilky Archeolohiv Ukraïny ščodo proektu Zakonu Ukraïny „Pro vidrodžennja unikal’noho Simvolu pravoslav’ja ‒ cerkvy Bohorodyci (Desjatynnoï) v misti Kyjevi“ (No. 9196) [Erklärung des Verbands der Archäologen der Ukraine zum Gesetzesentwurf der Ukraine „Über die Wiedergeburt eines einzigartigen Symbols der Orthodoxie ‒ der Muttergotteskirche (Desjatinenkirche) in der Stadt Kiew“ (Nr. 9196)]. In: Vidlunnja vikiv 1–2 (2011), S. 120 f. 49 Conant, Kenneth John: A Brief Commentary on Early Mediaeval Church Architecture. Baltimore 1942; Cross, Samuel Hazzard: Mediaeval Russian Churches. Cambridge, Mass. 1949; Povstenko, Oleksa: Katedra sv. Sofiï v Kyjevi [Die Sophienkathedrale in Kiew]. N’ju-Jork 1954; Korzuchina, Gali: K rekonstrukcii Desjatinnoj cerkvi [Zur Rekonstruktion der Desjatinenkirche]. In: Sovetskaja archeologija 2 (1957), S. 78‒90; Logvin, Natal’ja: Pervonačal’nyj oblik Desjatinnoj cerkvi v Kieve [Das ursprüngliche Aussehen der Desjatinenkirche in Kiew]. In: Drevnosti slavjan i Rusi. Hg. v. Boris Timoščuk. Moskva 1988, S. 225‒229; Reutov, Andrej: Do problemy rekonstrukciï Desjatynnoï cerkvy [Zum Problem der Rekonstruktion der Desjatinenkirche]. In: Cerkva Bohorodyci Desjatynna v Kyjevi. Do 1000-littja osvjačennja. Hg. v. Petro Toločko. Kyïv 1996, S. 32‒34; Asjejev, Juryj: Doslidžennja architektury Desjatynnoï cerkvy [Baugeschichtliche Erforschung der Desjatinenkirche]. In: ebd., S. 29‒31; Cholostenko, Mykola: Z istrorii zodčestva Drevn’oi Rusi X st. [Zur Geschichte der Baukunst der Rus’ des 10. Jahrhunderts]. In: Archeolohija 19 (1965), S. 68‒85; Krasovskij, Igor’: Rekonstrukcija architekturnogo oblika Desjatinnoj cerkvi [Die Rekonstruktion des Aussehens der Desjatinenkirche]. In: Archeolohija 4 (2002), S. 98‒107; Sočenko, Viktor: Problemy uvičnennja pam’jati pro cerkvu Bohorodyci Desjatinnu v Kyjevi [Probleme des Gedenkens an die Muttergotteskirche (Desjatinenkirche) in Kiew]. In: Pam’jatky Ukraïny: istorija to kul’tura. Naukovyj časopys 10/4 (2004), S. 2‒28; Ders.: Cerkva Bohorodyci Desjatynna v Kyjevi [Die Muttergotteskirche (Desjatinenkirche) in Kiew]. Kyïv 2014; Zykov, Petr: Materialy k rekonstrukcii Desjatinnoj cerkvi v Kieve na osnovanii archeologičeskich issledovanij [Materialien zur Rekonstruktion der Desjatinenkirche in Kiew auf der Grundlage archäologischer Forschungen]. In: Pervye kamennye chramy Drevnej Rusi. Hg. v. Denis Ëlšin. Sankt-Peterburg 2012 (Trudy Gosudarstevennogo Ėrmitaža 65), S. 136‒161. 50 Losyc’kyj, Juryj: Šče raz do pytannja pro rekonstrukciju Desjatynnoï cerkvy [Nochmals zur Frage der Rekonstruktion der Desjatinenkirche]. In: Art+Construction. Architektura i struktura 1‒2 (2016), S. 176‒183.

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Abb. 12  Kiew, Trassierung der Fundamente der Desjatinenkirche, eingefügt in die Grundrisse der Kirchen aus dem 17. und 19. Jahrhundert, 2015.

zum Bau einer neuen Version der Geschichte der Orthodoxie in Osteuropa, und der zivilgesellschaftliche Widerstand gegen das Projekt des Moskauer Patriarchats mündete in die Gründung des Museums der Geschichte der Desjatinenkirche. Bezeichnenderweise wurde die Konservierung der Fundamente von den Vertretern des Moskauer Patriarchats kritisiert, unter anderem wegen der Sandaufschüttung, die eine wasserführende Schicht bildet, welche die Fundamente gefährden könne. Doch das war nichts anderes als ein Vorwand, um weiterhin die eigenen konfessionspolitischen Ziele zu betreiben. Die Absicht des Moskauer Patriarchats, der Öffentlichkeit einen Kirchenneubau zu oktroyieren, ein Deutungsmonopol für Vergangenheit und Gegenwart des Kiewer Christentums zu gewinnen und die konfessionspolitische Balance zu eigenen Gunsten zu verändern, lässt die Zukunft der Desjatinenkirche als Erinnerungsort offen.

Schluss Vor einigen Jahren verglichen die Autoren einer Monographie über die Christ-ErlöserKathedrale in Moskau deren Geschichte mit dem Turmbau zu Babel als Symbol menschlicher Überheblichkeit und architektonischer Utopie.51 Mir will scheinen, dass sich der Vergleich zeitlich etwas enger fassen lässt. Gerade die Rekonstruktion der Kathedrale in den Jahren 1995‒2000 erinnert an die Wiedererrichtung eines Babylonischen Turms, 51 Akinsha/Kozlov/Hochfield (wie Anm. 25), S. 27.



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insofern die Akteure dieser Wiedergeburt ganz wie die biblischen Baumeister verschiedene Sprachen sprachen. Sie gaben einem modernen Unternehmen unterschiedliche Deutungen, bedienten sich verschiedenster kultureller Diskurse und verfolgten partiell entgegengesetzte Ziele. Wie die Baugeschichte belegt, gab es keine durchdachte Konzeption zur Schaffung einer neuen nationalen Identität und zur Konsolidierung der Gesellschaft. Die Wiedergeburt der nationalen Idee mittels eines symbolträchtigen Bauwerks glückte genauso wenig, wie es den Baumeistern von Babylon gelang, den Himmel zu erreichen. Die staatliche Beteiligung an dem Neubau, der keine authentische Kopie seines Vorgängers ist und doch den Anspruch erhebt, „Geschichte zu bauen“, dient eher der Selbstbehauptung nationalstaatlicher Souveränität Russlands gegenüber den Forderungen internationaler Kulturorganisationen wie der UNESCO. Dieser Subtext ist klar zu erkennen in der Erklärung des Bunds Orthodoxer Bürger (Sojuz pravo­ slavnych graždan) von 2015, abgegeben aus Anlass des Baus von Kopien der Čudov- und Voznesenskij-Klöster innerhalb des Moskauer Kreml, der weltweit von Fachleuten kritisiert wurde. Abseits offizieller Regierungskanäle verlautbaren solche „Bünde“ in der Regel das, was regierungsamtlich nicht öffentlich geäußert werden kann. In den Konzeptionen der Rekonstruktion des historischen Erbes in Osteuropa lässt sich ein Unterschied zwischen dem russischen politischen Monopolismus und dem ukrainischen gesellschaftlichen Korporativismus erkennen. Während im ersten Fall Staat und regierungsnahe Kreise einen Bau in Auftrag geben, ist im zweiten Fall die politische Führung gezwungen, auf die Ansprüche unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen einzugehen. Die Trägheit der russischen Gesellschaft von heute kontrastiert scharf mit der Polarisierung und Heterogenität der ukrainischen Milieus, die kraft des ihnen historisch eigenen Poliformismus52 und der Fähigkeit zur Konsolidierung in der Lage sind, sich oktroyierten Projekten des Bauens von Geschichte zu widersetzen. Und doch haben wir es in beiden Fällen auch mit privaten Interessen zu tun, die mit der Rede von Allgemeinwohl und religiöser Wiedergeburt kaschiert werden. Solch ein Neubau, der das historische Gedächtnis zu bewahren vorgibt, negiert grundsätzlich die im 19. und 20. Jahrhundert erarbeiteten Prinzipien der wissenschaftlichen Restaurierung. Bezeichnenderweise wird von den 16 Artikeln der Charta von Venedig Artikel 2 kaum beachtet, welcher das Zusammenwirken von Wissenschaft und Technik vorschreibt. In den hier betrachteten Fällen endet die Restaurierung nicht erst dort, wo die Hypothesenbildung einsetzt (Artikel 9); sie beginnt gar nicht erst, wenn der Neubau im historisierenden Stil bestenfalls die äußeren Formen des verlorenen Bauwerks kopiert. Diese Vorgehensweise verneint die für eine Restaurierung unerlässliche Unterscheidung zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Erhaltenem und 52 Zur Konzeption des ukrainischen Polymorphismus Brogi Bercoff, Giovanna: Ruś, Ukraina, Ruthenia, Wielkie Księstwo Litewskie, Rzeczpospolita, Moskwa, Rosja, Europa Środkowo-Wschodnia: o wielowarstwowości i polifunkcjonalizmie kulturowym [Rus’, Ukraine, Ruthenien, Großfürstentum Litauen, Rzeczpospolita, Moskau, Russland, Ostmitteleuropa: zur Vielschichtigkeit und zum kulturellen Polyfunktionalismus]. In: Contributi italiani al XIII Congresso internazionale degli Slavisti (Ljubljana 15‒21 agosto 2003). Hg. v. Alberto Alberti, Marcello Garzaniti und Stefano Garzonio. Pisa 2003, S. 325‒387.

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Rekonstruiertem, zwischen Konserviertem und Restauriertem. Die Ideologie der „Wiedergeburt“ beruht auf der Okkupation des historisch bedeutenden Ortes durch den Neubau. Der Neuerstellung selbständiger Baukörper fehlt jede komplexe Rekonstruktion ihres historischen Ambientes, da das städtebauliche Umfeld verloren ist. Es geht nicht um Rekonstruktion historischer Baudominanten, sondern um Schaffung neuer Markierungspunkte in der urbanen und soziopolitischen Landschaft unter Vorspiegelung von Historizität.53 Derartige archaisierende Dominanten stehen im Widerspruch zu dem sich unablässig weiterentwickelnden städtischen Umfeld; sie weichen dessen Herausforderung aus und sind konkurrenzunfähig. Im Endeffekt sind die neuen architektonischen Entwürfe in der Wahrnehmung der modernen städtischen Dynamik unterworfen, da sie die organische Stadtentwicklung beeinträchtigen. Der historisierende Kathedralbau wird vom Betrachter mit dem punktförmigen oder lückenschließenden Zweckbau gleichgesetzt und ruft eine Dissonanz der Wahrnehmung hervor. Befreit von der Bedeutungsvielfalt des religiösen Bildes in der byzantinischen Tradition nivelliert die potenzielle Bandbreite seiner Interpretationen die soziale Konflikthaftigkeit des Neubaus, der im gegenwärtigen soziopolitischen Diskurs den Interessen und Werten verschiedener Akteure der „Wiedergeburt“, der „Wiederherstellung“ und des „Wiederaufbaus“ von Sakralarchitektur entspricht. Ungeachtet des Fehlschlags der politischen Absicht, die Gesellschaft zu konsolidieren, ist sie doch weiterhin überall zu spüren. Die untersuchten Fälle sind Versuche der Reintegration oder auch Falsifizierung von Geschichte, die mit dem vollständigen oder zumindest partiellen Verlust historischer Authentizität einhergehen. Diese Entwicklung hat, befeuert durch politischen Monopolismus und wirtschaftliches Potenzial, in Russland einen Höhepunkt erreicht. Bekanntlich ist die Fälschung von Geschichte ein wichtiges Instrument des Totalitarismus nach dem berüchtigten Prinzip, wie es George Orwell formuliert hat: „Who controls the past controls the future; who controls the present controls the past.“54 In diesem Punkt fällt die soziopolitische Motivation des Neubaus mit den Eigenheiten der religiösen Kultur zusammen. Das Evangelium überliefert Jesus’ Vorwurf an die Pharisäer, Gottes Gebot gegen eine künstliche Legende, eine konstruierte Tradition ausgetauscht zu haben („Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt“, Matthäus 15,6). Wie Vorstellungen von der Geschichte die eigentliche Geschichte ersetzen, so ersetzen Vorstellungen von der Religion die eigentliche Religion einschließlich der materiellen Formen ihrer Überlieferung.* Aus dem Russischen von Andreas R. Hofmann

53 Dmitrieva, Marina: Der neue visuelle Raum in Moskau. Entstehung eines postsowjetischen Stils. In: Das Neue Rußland in Politik und Kultur. Hg. v. Wolfgang Eichwede. Bremen 1998, S. 156‒173. 54 Orwell, George: Nineteen eighty-four. A novel. New York 1984, S. 34. * Ich danke meinen Kollegen Elizaveta Archipova, Julija Mis’ko, Vera Pavlova, Gleb Ivakin und Timur Bobrovskij aus Kiew, Marina Dmitrieva aus Leipzig und Denis Ëlšin aus Sankt Petersburg für ihre Unterstützung bei der Arbeit an diesem Beitrag.



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Summary ‘Building history’ in post-Soviet eastern Europe Religion and politics in the reconstruction of churches in Russia and Ukraine The scientific and political background to the reconstruction between 1995 and 2015 of the most important churches to be destroyed in Russia and Ukraine in 1931–1941 is compared. Special attention is paid to the Cathedral of Christ the Saviour in Moscow (1883) as well as in Kyiv to the Church of the Tithes (996, rebuilt in pseudo-Russian style in 1842), St Michael’s Golden-Domed Monastery (1108, rebuilt in Baroque style in 1745), and the Church of the Dormition of the Mother of God of Pechersk Lavra (1073–1075, rebuilt in 1669–1769). Analysis of the construction and rebuilding of the Cathedral of Christ the Saviour (including comparison with other examples of reconstruction) tells us much about how the perception of Russia’s past changed. Revisiting its reconstruction reveals conflicting motives among the various social groups involved and the lack of strategy in the creation of a new Russian identity. What makes the situation different in Ukraine is the absence of a religious mono­poly and the competition between the two main branches of national Orthodoxy. This situation prompted politicians to call for the ‘symmetrical restoration’ of national-scale monuments, and the modern claim of the Moscow Patriarchate to the ruins of the Church of the Tithes has jeopardized the ‘restorative peace’ in Ukrainian society. Comparative study of the treatment of cultural heritage indicates significant differences between Russian political monopoly and Ukrainian social corporatism. Moreover, modern architectural reconstruction in eastern Europe frequently lacks a scientific basis and conflicts with the principles of the Venice Charter. Sometimes it deprives monuments of their authenticity and destroys the historically developed urban cultural landscape, constituting an ideologically motivated reinterpretation of history.

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Zw i sc h en St a dtre pa ra tur u n d n at i on al er Se lbstbe ha uptung Die Rekonstruktion des Großfürstlichen Palasts in Vilnius und des Schwarzhäupterhauses in Riga

Andreas Fülberth Den rekonstruierten Großfürstlichen Palast im Zentrum der litauischen Hauptstadt Vilnius (dt. Wilna) und das rekonstruierte Schwarzhäupterhaus in der Altstadt der lettischen Metropole Riga verbindet eine zwar rein äußerliche, aber doch bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Beide markieren mehr oder minder exakt einen Bereich, der in vielen Kontexten als Mittelpunkt der betreffenden Stadt begriffen worden ist1 und für den diese Zuschreibung seit dem jeweiligen Rekonstruktionsvorgang mehr denn je Anwendung zu finden scheint. Symbolwert verleiht den Standorten der beiden Gebäude dabei der Umstand, dass es sich um die Mittelpunkte von Städten handelt, die erst 1991 nach rund fünf Jahrzehnten unter sowjetischer Herrschaft wieder zu Hauptstädten unabhängiger Staaten werden konnten. Hierdurch verfestigte sich vor allem bei ausländischen Beobachtern die Interpretation, mit der Rückkehr des Großfürstlichen Palasts in das Stadtbild von Vilnius und des Schwarzhäupterhauses in das Stadtbild Rigas sei in erster Linie intendiert, die Wiedergewinnung nationaler Selbstbestimmung zu visualisieren. Zumindest in Litauen geben die faktisch geführten Diskurse in Forschung und Publizistik, auf die im vorliegenden Beitrag nur am Rande eingegangen werden kann, diesem Deutungsansatz auch durchaus Recht. Für den auf dem Areal der mittelalterlichen Unteren Burg entstandenen frühneuzeitlichen Palast bzw. dessen Nachbau in Vilnius ist in diesem Zusammenhang die unmittelbare Nachbarschaft zur katholischen Kathedralkirche prägnant, deren runder Glockenturm im Übrigen einen Rest der äußeren Ummauerung jener Unteren Burg darstellt (Abb. 1). Beim Abstecken der Zeitpläne, mit denen die Wiedererrichtungen in Angriff genommen wurden, kam zur Symbolkraft der Standorte noch eine gewisse Symbolträchtigkeit der Termine hinzu, bis zu denen die jeweilige Fertigstellung angestrebt war: Hatte Riga in dieser Hinsicht das 2001 zu feiernde 800-jährige Stadtgründungsjubiläum fest im Blick, so konnte in Vilnius als idealer Einweihungszeitpunkt das Jahr 2009 gelten, in welchem die historischen Begebenheiten, die zur frühesten Erwähnung des Namens

1 Eine geradezu objektive Bestätigung der Zentralität des Rigaer Schwarzhäupterhauses ergibt sich daraus, dass die unmittelbar vor dem Gebäude befindliche Rolandsfigur bis 1945 sogar als geometrischer Mittelpunkt der Stadt definiert war. Vgl. Caune, Andris: Rīgas vecpilsēta pirms 100 gadiem. Pilsēta un pilsētnieki 19. gs. beigu un 20. gs. sākuma atklātnēs [Rigas Altstadt vor 100 Jahren. Stadt und Städter auf Ansichtskarten vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts]. Rīga 1994, S. 152.



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Abb. 1  Vilnius (dt. Wilna), Blick von Südwesten auf die Kathedrale um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Hinter der Kathedrale das zu dieser Zeit weitgehend leere Grundstück des Großfürstenpalasts.

Litauen geführt hatten, laut Quellentext2 genau 1000 Jahre zurücklagen (Abb. 2). Das Staatsnamensjubiläum war überdies zum Anlass genommen worden, Vilnius für 2009 die Rolle als „Kulturhauptstadt Europas“ zuzusprechen.3 2 Als dessen derzeit modernste Edition vgl. Die Annales Quedlinburgenses. Hg. v. Martina Giese. Hannover 2004 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores Rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 72). Darin auf S. 527 der Satz mit der Ersterwähnung Litauens: „Sanctus Bruno, qui cognominatur Bonifacius, archiepiscopus et monachus, XI. suae conversionis anno in confinio Rusciae et Lituae a paganis capite plexus cum suis XVIII, VII. Id. Martii petiit coelos.“ 3 Vilnius fiel dieser seit 1985 vergebene Titel (den es sich 2009 mit Linz teilte) als insgesamt vierter ostmitteleuropäischer Stadt zu (nach dem rumänischen Sibiu [dt. Hermannstadt] 2007 sowie nach Krakau [Kraków] und Prag, die ihn bereits im Jahr 2000 – also vor der großen EU-Erweiterungsrunde

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Andreas Fülberth Abb. 2  Vilnius, Modellzeichnung des rekonstruierten Großfürstenpalasts und Auszug aus den Quedlinburger Annalen als Bildmotive für die Ankündigung der litauischen Millenniumsfeierlichkeiten 2009.

Unterschiede zwischen den beiden Rekonstruktionsprojekten Dass der Großfürstliche Palast und das Schwarzhäupterhaus als besonders hervorstechende Repräsentanten der jüngsten Generation rekonstruierter historischer Bauwerke im östlichen Europa4 wahrgenommen werden, hängt mit den schon genannten Faktoren ganz sicher eng zusammen. Mindestens ebenso gewichtig wie die Ähnlichkeiten sind jedoch die Unterschiede, die sich zwischen den beiden Rekonstruktionsprojekten auftun. von 2004 – hatten tragen dürfen). Der Beschluss auf politischer Ebene, die Palast-Rekonstruktion unbedingt 2009 zu vollenden, wurde unterdessen durch eine Regierungsresolution von 2001 besiegelt, nachdem im Jahr zuvor ein Parlamentsbeschluss vorausgegangen war. 4 Ein zentraler Repräsentant der nächstälteren Generation wäre demgegenüber das Königsschloss in Warschau, dessen 1971 beschlossener Wiederaufbau bereits während der kommunistischen Ära verwirklicht wurde.



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Diese betreffen zum einen grundsätzliche Eigenschaften der Originalbauwerke sowie zum anderen die weit voneinander abweichenden Zeitpunkte und recht verschiedenartigen Umstände ihres Niedergangs. Äußerst unterschiedlich nimmt sich entsprechend auch die Dichte der bildlichen Überlieferung der Originalbauten aus. Der Großfürstliche Palast, ein in seinen Ursprüngen gotischer, im 16. Jahrhundert jedoch im Stil italienischer Renaissance-Residenzen vierflügelig ausgebauter Komplex5 mit trapezähnlich zugeschnittenem Innenhof, hatte bereits während der Kriegsjahre 1655–1661 durch die Zerstörungswut Moskauer Besatzungstruppen6 so schwer Schaden genommen, dass die litauischen Großfürsten – damals qua Realunion stets zugleich Könige von Polen – ihn von da an nicht mehr aktiv nutzten, wenn sie sich in der Hauptstadt Litauens aufhielten, sondern es vorzogen, sich bei solchen Gelegenheiten im Privathaus eines wohlhabenden Stadtbürgers einzuquartieren. Seither mehr schlecht als recht instand gehalten,7 überdauerte der Palast die 1795 vollzogene Einverleibung der letzten eigenständigen Reste Litauens durch Russland im Zuge der Dritten Teilung Polens dann lediglich um wenige Jahre. Er verkam damals – ähnlich wie zahllose funktionslos gewordene Bauwerke überall in Europa – zu einer Art Steinbruch, wobei die russische Administration die Zerlegung seines Mauerwerks zwecks stückweisen Verkaufs 1799 allerdings sogar planmäßig in Auftrag8 gab und damit so beschleunigte, dass die Fläche, auf der er gestanden hatte, bereits 1801 in einen kahlen Platz verwandelt war. Beim Schwarzhäupterhaus hingegen – einem ab 1330 durch Schriftquellen nachweisbaren Bau, den in späteren Jahrhunderten vor allem die für ihn namengebende Gilde genutzt und 1713 schließlich auch erworben hatte – traten die für sein weiteres Schicksal ausschlaggebenden Zerstörungen kriegsbedingt an einem einzigen Tag ein. 5 Als seine Schöpfer gelten, bezogen auf die Regierungszeit Sigismunds des Alten (1506–1548), die Italiener Bartolomeo Berecci und Bernadino Zanobi de Giannotis. Zuvor bereits hatte es einen östlichen und einen südlichen Flügel gegeben. Im Zuge einer von Giovanni Cini geleiteten Bauphase, welche 1553 unter Sigismund II. August, dem polnischen König der Jahre 1548–1572, zum Abschluss kam, traten sodann der westliche und der nördliche Flügel hinzu. 6 Nicht nur in der litauischen Gedächtniskultur hat mit Blick auf diese zerstörungsreichen Jahre der Begriff „Sintflut“ seinen festen Platz. Vgl. Tauber, Joachim/Tuchtenhagen, Ralph: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt. Köln-Weimar-Wien 2008, S. 70. 7 Zu der Frage, inwieweit bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein Teile des Palasts an einfache Bürger vermietet waren, und der allerdings recht vagen Quellenlage, mit der man sich bei dem Versuch, dies zu klären, konfrontiert sieht, vgl. Samalavičius, Stasys: Kunigaikščių rūmų gyventojai XVIII amžiuje [Bewohner des Großfürstlichen Palasts im 18. Jahrhundert]. In: Vilniaus Žemutinės pilies rūmai (1989 metų tyrimai). Hg. v. Adolfas Tautavičius. Vilnius 1991, S. 77–95. 8 Jučas, Mečislovas: Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmų Vilniuje sunykimas ir nugriovimas / The Decline and Demolition of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius. In: Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmai ir jų atkūrimas europinės patirties kontekste. Tarptautinės mokslinės konferencijos medžiaga, 2006 m. spalio 11–12 d., Vilnius / The Palace of the Grand Dukes of Lithuania and its Restoration within the Context of the European Experience. Materials of the International Scientific Conference, 11–12 October 2006, Vilnius. Hg. v. Vydas Dolinskas und Daiva Steponavičienė. Vilnius 2009, S. 115–124, hier S. 122 f. Jučas weist dabei auf die Auffindung eines Schriftstücks hin, welches die Auftragsvergabe klar zu belegen scheint.

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Abb. 3  Riga, Ruinenlandschaft um den Rathausplatz nach dem Großfeuer von 1941, rechts die Reste des Schwarzhäupterhauses.

Abb. 4  Riga, Rathausplatz und Schwarzhäupterhaus von Südwesten um 1939. Als Folge des vorangegangenen Abbruchs etlicher Nachbarhäuser ist hier selbst der seitliche Anblick des Schwarzhäupterhauses bestens dokumentiert. Am linken Bildrand das Rathaus, daneben die nach 1945 in ein Museum abtransportierte und 1999 durch eine Kopie ersetzte Rolandsfigur, ganz rechts die Turmhaube der Petrikirche.



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Sie erfolgten am 29. Juni 1941, als die deutsche Wehrmacht über den Fluss Düna hinweg den wenig später von ihr eingenommenen Stadtkern Rigas beschoss, in dessen Mitte daraufhin ein Großfeuer ausbrach (Abb. 3). Das Schwarzhäupterhaus verlor an diesem Tag insbesondere seinen prächtigen Frontgiebel, der längst zu den Wahrzeichen der Stadt zählte: Ursprünglich rein gotisch gestaltet, hatte er sich bereits in der Phase des Manierismus durch zeittypisches Rollwerk auf charakteristische Weise verändert und war von da an in Abständen von jeweils einigen Jahrzehnten mit immer weiteren Ausschmückungen versehen worden. Knapp sieben Jahre nach der Zerstörung des Frontgiebels folgte 1948 an einem frühen Mai-Morgen die Sprengung des in seiner mittelalterlichen Form verbliebenen rückwärtigen Giebels und sämtlicher sonstiger Gebäudeteile, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten. Fotomaterial, das den Originalbau in seinem letzten Erscheinungsbild vor der Zerstörung oder sogar vor den letzten der an ihm ausgeführten Umgestaltungen zeigt, ist im Fall des Schwarzhäupterhauses erwartungsgemäß in Fülle vorhanden (Abb. 4). Wie sehr demgegenüber ein Mangel an optimal auswertbaren Bildzeugnissen des originalen Palastbaus in Vilnius besteht, lässt sich daran ermessen, dass selbst dessen unpräziser Wiedergabe innerhalb der Stadtansicht, die im 16. Jahrhundert für Georg Brauns und Franz Hogenbergs Werk „Civitates orbis terrarum“ gefertigt wurde,9 ein erheblicher baugeschichtlicher Aussagewert zukommt. Deutlich präzisere Erkenntnisse können aus den Veduten des Malers Franciszek Smuglewicz (1745–1807) gewonnen werden, die während der letzten eineinhalb Jahrzehnte der Existenz des Originalbaus entstanden und diesen aus unterschiedlichen Perspektiven jeweils partiell zeigen (Abb. 5). Einen ähnlichen Genauigkeitsgrad weisen daneben mehrere von nicht eindeutig identifizierbaren Künstlern stammende Ansichten der Südfassade auf.10 Alle diese Ansichten dokumentieren jedoch nur, wie sich die Außenseiten des Palastbaus darboten. Rückschlüsse auf das Aussehen der Fassaden, die den rund 2500 m² großen Innenhof umgaben, oder gar der Innenräume erlauben sie hingegen nicht.11 Ebenfalls wenig aussagekräftig, wenn es um die Erschließung der originalen Baugestalt geht, sind darüber hinaus die recht zahlreichen Gemälde aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die den nicht mehr existierenden Palast weiterhin ganz selbstverständlich als Nachbargebäude

9 Braun, Georg/Hogenberg, Franz: Städte der Welt. 363 Kupferstiche revolutionieren das Weltbild. Gesamtausgabe der kolorierten Tafeln 1572–1617. Hg. v. Stephan Füssel. Nach dem Original des Historischen Museums Frankfurt = Civitates orbis terrarum. Hong Kong u. a. 2008, S. 260 f. 10 Reproduktionen zweier derartiger Bildzeugnisse finden sich bei Kitkauskas, Napaleonas: Vilniaus Žemutinės pilies Valdovų rūmų architektūros retrospektivynis vaizdas pagal tyrimų duomenis / A Retrospective Architectural View of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius’ Lower Castle Based on Research Data. In: Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmai (wie Anm. 8), S. 19–42, hier S. 33. 11 Bei der Gestaltung von Loggien rund um den Innenhof konnte die Wiederaufbau-Planung folglich fast nur auf Analogien zu anderen Palastbauten im einstigen Gebiet Polen-Litauens und im übrigen Europa gestützt werden. – Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Bildquellenmangel bietet der Beitrag von Torbus, Tomasz: Die Untere Burg zu Wilna (Vilnius) und ihre möglichen Vorbilder. In: Castella Maris Baltici 6 (2004), S. 201–210.

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Andreas Fülberth Abb. 5  Vilnius, der bereits teilweise verfallene Großfürstliche Palast. Aquarellierte Zeichnung von Franciszek Smuglewicz, um 1797.

der Kathedrale abbilden.12 Den Stellenwert des beseitigten Bauwerks für die damalige Bevölkerung scheinen diese Malgewohnheiten indes umso nachdrücklicher zu unterstreichen. Aus den sehr unterschiedlichen Zerstörungszeitpunkten von Schwarzhäupterhaus und Großfürstlichem Palast resultiert ferner eine höchst unterschiedliche formalrechtliche Bewertbarkeit der beiden Zerstörungsvorgänge: Waren in Vilnius die Palastmauern lange vor den ersten Versuchen einer gesetzlichen Festschreibung von Denkmalschutz im Zarenreich in ihre Bestandteile zerlegt worden, so erging die Anordnung zur Sprengung des Schwarzhäupterhauses 1948 ungeachtet der Tatsache, dass dieser Bau seinerzeit im Sinne der in der Sowjetunion praktizierten Denkmäler-Kategorisierung auf der Liste gesamtsowjetisch bedeutsamer Kulturdenkmäler stand. An seinem Beispiel zeigt sich, wie wenig ein rechtlich fundierter Denkmalstatus die Objekte, denen er im Sowjetstaat zuteil geworden war, davor schützte, als bloßer Teil einer Verfügungsmasse missbraucht zu werden, wann immer die Absicht bestand, politische Zeichen zu setzen.13 Während der Umgang mit den Resten des Schwarzhäupterhauses die oft unterstellte Kulturlosigkeit des Sowjetsystems somit unmittelbar zu beweisen schien, beruhen landläufige litauische Narrative rund um das Verschwinden des Großfürstlichen Palasts eher auf einer Rückprojektion des sowjetzeitlichen Ungeistes in die Zeit um 1800 (oder 12 Dolinskas, Vydas: The Palace of the Grand Dukes of Lithuania: Historical Outline, Reconstruction, Exhibitions. In: The History and Collections of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania. Hg. v. Dalius Avižinis, Dems. und Ėrika Striškienė. Vilnius 2010, S. 6–35, hier S. 24. 13 Mintaurs, Mārtiņš: Arhitektūras mantojuma aizsardzības vēsture Latvijā [Geschichte des Architekturerbe-Schutzes in Lettland]. Rīga 2016, S. 166.



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sogar in die Jahre ab 1655), so als wäre genau dieselbe Art von Ungeist, gepaart mit dem Willen zur Vernichtung kultureller Werte speziell der litauischen Nation,14 schon damals wirksam gewesen und als bestünde in dieser Hinsicht eine klare Kontinuitätslinie von der Zaren- zur Sowjetmacht. Über die von Russen bzw. später von Sowjets unternommenen Angriffe auf Litauens Existenzrechte sollte daher, nachdem die Sowjetherrschaft 1991 überwunden war, aus Sicht der Wiederaufbau-Befürworter ein noch längerfristiges Kontinuum endgültig triumphieren dürfen: Dieses Kontinuum war für sie die in der Vergangenheit immer wieder unterdrückte, aber niemals ausgelöschte nationale Souveränität der Litauer, die der rekonstruierte Palast, so die Argumentation der Befürworter, mustergültig widerspiegeln konnte. Hierzu passte der Tenor in einschlägigen Publikationen aus der Zeit der Fertigstellung des rekonstruierten Baus: Der Wiederaufbau kam demnach einer „restitution of historical truths“ gleich und verschaffte den Litauern ein „object of national pride“, das aus Sicht seiner Initiatoren „important for national self-consciousness“ war.15 Den Vorsitz einer eigens gegründeten Kommission, welche die Zuständigkeit für die Koordination der Wiederaufbauarbeiten übernahm, hatte ab 2006 Algirdas Brazauskas (1932–2010) inne – Litauens erster vom Volk gewählter Staatspräsident nach 1991, der einige Jahre später, von Juli 2001 bis Juni 2006, auch noch Premierminister seines Landes gewesen war. Brazauskas’ persönliches Engagement, zu dem sich in Lettland übrigens keine Parallele in Form ähnlicher Aktivitäten eines dortigen Spitzenpolitikers zugunsten des Schwarzhäupterhaus-Wiederaufbaus andeutet, bildete das letzte Kapitel einer bereits in den 1960er Jahren im Obersten Sowjet der Litauischen SSR begonnenen politischen Laufbahn. Doch nicht nur zu so mancher baltischen Politikerkarriere, sondern auch zu den hier besprochenen Rekonstruktionsprojekten gehört interessanterweise eine in die Sowjetzeit zurückreichende Vorgeschichte. Angesichts des zeitlichen Abstands von etwa zehn Jahren, der zwischen der Rekonstruktion des Rigaer Schwarzhäupterhauses und derjenigen des Großfürstlichen Palasts in Vilnius liegt, verwundert es nicht, dass im Fall des Schwarzhäupterhauses auch bereits deutlich früher Gedanken an einen Wiederaufbau in Zeitschriftenbeiträge und ähnliche Textzeugnisse Eingang gefunden hatten. In Vilnius war es zu vergleichbaren Überlegungen 1983 im Rahmen eines Wettbewerbs gekommen, der Vorschläge für die Platzierung und Gestaltung eines neuen Nationalgalerie-Gebäudes hatte erbringen sollen: Eines der 24 beteiligten Architekten-Kollektive war in diesem Zusammenhang zu der Idee gelangt, den Großfürstlichen Palast zu rekonstruieren und dabei die Innenräume als künftige Nationalgalerie herzurichten.16 Die frühesten Wiederaufbau-Anregungen in Bezug auf Rigas Schwarzhäupterhaus datieren unterdessen aus dem Vorfeld der 14 Mancher Publikationstitel spricht dabei für sich – so etwa im Fall des Aufsatzes von Jučas, Mečislovas: Rusijos pastangos panaikinti Lietuvos valstybingumą XVIII ir XIX a. sandūroje [Russlands Bemühen um die Vernichtung der Staatlichkeit Litauens an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert]. In: Naujasis Židinys 11 (1995), S. 830–834. 15 Dolinskas (wie Anm. 12), S. 7. 16 Kitkauskas (wie Anm. 10), S. 23.

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Abb. 6  Riga, das ausgebrannte Rathaus nach den Zerstörungen des Jahres 1941, links im Hintergrund die unbeschädigt gebliebene Domkirche.

Entscheidung von 1967, einen Schutzzonenstatus für die gesamte Altstadt in Kraft treten zu lassen. Diese Weichenstellung hatte seinerzeit die endgültige Abkehr von Planungen der 1950er Jahre bedeutet, nach denen eine breite Magistrale mitten durch die Altstadt mit schnurgeradem Anschluss an eine neue Brücke über die Düna hätte entstehen sollen. Einer Realisierung letztgenannter Pläne vorausgreifend, war Anfang 1954 sogar noch der Abriss der Brandruine des Rathauses verfügt worden (Abb. 6). Denkbar gering erscheint somit die zeitliche Distanz zwischen dem letzten Abriss im Zentrum Rigas, den man angesichts der unstrittigen Stabilität des damaligen Gebäudeskeletts und der Bedeutung des Rathausgebäudes für die Stadtstruktur noch als großenteils ideologisch motiviert einzustufen hat, und den ersten vorsichtigen Plädoyers für den Wiederaufbau eines benachbarten Gebäudes, das unter ähnlich gearteten Vorzeichen eliminiert worden war.

Vorgeschichte und praktische Umsetzung des Rekonstruktionsprojekts in Riga Ein erster Schub von Veränderungen im Umkreis des einstigen Rigaer Rathausplatzes, hinter denen zuvorderst der Wunsch stand, dass dieser Bereich nicht mehr länger als trostlose Brache ins Auge stechen sollte, vollzog sich ziemlich genau zwei Jahrzehnte nach der Sprengung des Schwarzhäupterhauses. Bereits 18 Jahre nach der Sprengung,



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im Frühjahr 1966, formulierte Rigas damaliger Stadtarchitekt Edgars Pučiņš (1924–2009) in der Zeitschrift „Māksla“ (Kunst) ein paar knappe, aber eindringliche Sätze darüber, wie elementar für die Lösung aller städtebaulichen Probleme im Altstadtgebiet eine Wiedererrichtung des Schwarzhäupterhauses sei.17 Zur Beendigung des städtebaulichen Stillstands im fraglichen Bereich verständigte man sich zunächst gleichwohl nur auf die baldige Errichtung eines der Düna zugewandten Denkmals zur Erinnerung an die während des Ersten Weltkriegs formierten lettischen Schützen, die schon zur Zeit der Oktoberrevolution auch im nachmaligen Staatsgebiet Lettlands der Sowjetmacht zum Durchbruch hatten verhelfen wollen. Mit der Begründung, die Wirkung dieses 1970 zu Lenins 100. Geburtstag einzuweihenden Denkmals dürfe nicht durch einen allzu bunten und unruhigen Hintergrund geschädigt werden, kam es sodann zur Planung eines ebenfalls den roten lettischen Schützen gewidmeten Museums, das als Querriegel die bisherige Brache mittig in zwei Hälften teilen sollte. Seiner primären Zweckbestimmung, das Denkmal vom zu Füßen der nahen Petrikirche entstandenen Bebauungsbild abzuschirmen, wurde der rasch verwirklichte Museumsbau in seiner nüchternen Schlichtheit fortan zweifellos gerecht. Pučiņš lobte den Bau derweil schon vor seiner Fertigstellung mindestens ebenso sehr für seine Zweiteilungsfunktion, ermöglichte diese es doch, die gewissermaßen hintere Hälfte der vormaligen Brache für eine eventuelle Rekonstruktion des Schwarzhäupterhauses zu reservieren.18 Dass das Museum sich womöglich über einen Teil von dessen Grundriss geschoben hätte, wenn nicht er selbst zugunsten einer geringfügig anderen Platzierung interveniert19 und dabei etliche Mitstreiter20 gefunden hätte, verschwieg Pučiņš in dem betreffenden Text. Für eine spätere Koexistenz des Schützendenkmals und -museums mit einem wiedererrichteten Schwarzhäupterhaus zog er 1969 geschickt das Argument heran, schon andernorts gebe es Beispiele für ein gelungenes Zusammenspiel von revolutionsgeschichtsbezogener und älterer Architektur – so nicht zuletzt in Moskau, wo Lenin-Mausoleum und Kreml-Mauern bestens harmonierten. Die abrupte Beseitigung der Ruine des Originalgebäudes im Frühjahr 1948 entschuldigte er mit dem Hinweis, das weitaus Wertvollste an diesem Gebäude, der Frontgiebel, sei ja bereits zuvor verloren gewesen. Ihre vollständige Wiedergeburt nach der Zerstörung durch den Faschismus könne die Stadt jedenfalls am überzeugendsten zur Schau stellen, wenn sie neben der (1968 begonnenen) Wiederherstellung des 1941 ebenfalls in Flammen aufgegangenen Turmhelms der Petrikirche auch einen Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses bewerkstellige, so Pučiņš 1969. 17 Pučiņš, Edgars: Gadsimtu prasība rītdienai [Eine Anforderung der Jahrhunderte an das Morgen]. In: Māksla 8/2 (1966), S. 21–25, hier S. 25. Der Autor nannte das Gebäude dabei „Rīgas arhitektūras šedevru“ – „das Meisterwerk der Rigaer Architektur“. Pučiņš bekleidete das Amt des Stadtarchitekten von 1960 bis 1970. 18 Ders.: Vēlreiz par Vecrīgas centru [Noch einmal über das Zentrum Alt-Rigas]. In: Māksla 11/2 (1969), S. 10–12, hier S. 12. 19 Lejnieks, Jānis: Rīga, kuras nav [Ein Riga, das es nicht gibt]. Rīga 1998, S. 195. 20 Pučiņš, Edgars: Pretī atdzimšanai [Auf dem Weg zu einer Wiedergeburt]. In: Melngalvju nams Rīgā. Hg. v. Māra Siliņa. Rīga 1995, S. 173–182, hier S. 177.

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Ansichten dieser Art wurden in der Lettischen SSR jener Jahre erstaunlicherweise nicht ausschließlich von Letten vertreten. Vielmehr brachte ein 1969 zwecks Konkretisierung eines damals neuen Generalplans initiierter Wettbewerb, den das sowjetische Komitee für ziviles Bauwesen und Architektur ausgerufen hatte21 und bei dem je ein Architekten-Kollektiv aus Riga, Tallinn (dt. Reval), Moskau und Leningrad (heute Sankt Petersburg) aufgefordert war, Konzepte zur künftigen Entwicklung der zentralen Teile Rigas beiderseits der Düna vorzulegen, auch vonseiten des Moskauer Kollektivs Entwurfszeichnungen ins Spiel, auf denen ein rekonstruiertes Schwarzhäupterhaus zu sehen war.22 Besonders konsequente Leitlinien verfolgte das estnische Kollektiv: Es schlug vor, die gerade erst im Entstehen begriffenen Schützen-Skulpturen auf die gegenüberliegende Seite der Düna zu versetzen, wo seinen Vorstellungen zufolge ein modernes, mit Hochhäusern aufgewertetes Stadtzentrum als Gegenstück zur Altstadt zu entwickeln war, während im Altstadtgebiet durchweg alte Baukultur einschließlich eines wiedererrichteten Schwarzhäupterhauses hätte dominieren sollen.23 Einwände gegen das Abreißen ganzer Viertel, wie es im Wettbewerbsbeitrag des einheimischen Kollektivs für einen Bereich außerhalb der Altstadt angedeutet war, blieben politisch gleichwohl unerwünscht. Der Architekt und Denkmalpfleger Andrejs Holcmanis (1920–2009) bekam dies wenig später in Form einer beruflichen Degradierung zu spüren,24 was einiges über das gesellschaftliche Klima der Breschnew-Ära aussagt und sicherlich mit zu den Gründen zählt, aus denen auch das Schwarzhäupterhaus in den 1970er Jahren publizistisch etwas weniger präsent war als gegen Ende der vorangegangenen Dekade. Neuerlichen Auftrieb erhielt der Wiederaufbau-Gedanke durch einen 1983 verabschiedeten Gesamtplan für die Rigaer Altstadt, der ihn gleichsam zu einem Teil dessen erhob, was von den wichtigsten Organen der Lettischen SSR offiziell gewollt war. Eine gänzliche Entideologisierung des Diskurses über das Gebäude schien damit geglückt; allerdings bedeutete dies noch keine intensiven Bemühungen der Republikführung, für sein Wiedererstehen Finanzmittel einzuplanen. Ende 1987 versammelte sich daraufhin eine Gruppe von Wissenschaftlern, die zur Lösung der Finanzierungsfrage sogleich auf die Gründung eines Fonds hinwirkte und dem Kulturministerium der Lettischen SSR vorschlug, in ein bald fälliges Maßnahmenprogramm zur 800-Jahr-Feier Rigas auch den Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses aufzunehmen.25 Während der folgenden Jahre weiter angewachsen und zu einem Kollektiv mit klarer Organisationsstruktur geformt, erarbeitete dieser Personenkreis, indem er sich in Kleingruppen aufteilte, immerhin schon 1990 fünf Realisierungsvari-

21 Lejnieks (wie Anm. 19), S. 212. 22 Entsprechende Illustrationen finden sich als Beigabe zu dem Artikel von Vasiļjevs, Jurijs: Rīgas centrs – uzmanības centrā [Rigas Zentrum im Zentrum der Aufmerksamkeit]. In: Māksla 12/1 (1970), S. 21–25, hier S. 24. 23 Ebd. 24 Lejnieks (wie Anm. 19), S. 217 f. 25 Pučiņš (wie Anm. 20), S. 179.



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Abb. 7  Riga, das rekonstruierte Schwarzhäupterhaus mit dem links vorgelagerten Schwabehaus sowie einem sich daran anschließenden, im Sinne einer „kritischen Rekonstruktion“ errichteten Nachbargebäude mit paralleler Nachahmung zweier unterschiedlicher Zeitschichten. Aufnahme von 2007.

anten für das Projekt, darunter auch solche, bei denen nicht die historisch letzte, sondern eine frühere bauliche Gestalt des Originalgebäudes zugrunde gelegt wurde. 1991 fand – wenige Monate vor der Herauslösung der baltischen Republiken aus der Sowjetunion Anfang September – eine öffentliche Ausstellung über das Schwarzhäupterhaus statt, die den Wiederaufbau-Enthusiasten ganz sicher als das denkwürdigste Ereignis jenes Jahres gegolten hätte, wäre nicht am 15. Juli auch noch die offizielle Bevollmächtigung des Exekutivkomitees der Stadt Riga ergangen, im Namen des Ministerrates der Republik alles für einen Wiederaufbau Notwendige einschließlich der Suche nach finanzieller Unterstützung aus dem Ausland in die Wege zu leiten.26 Verantwortung für die praktischen Vorarbeiten fiel nach der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit dann hauptsächlich der Rigaer Denkmalschutz-Inspektion zu: 1994 konnte sie die von dem örtlichen Archäologen Andris Caune beaufsichtigte zweijährige Erforschung der unterirdischen Reste des Originalbauwerks für abgeschlossen erklären und auch bereits über den finalen Wiederaufbau-Entwurf mitentscheiden. Die Wiedererrichtung der oberirdischen Gebäudeteile – die eines Tages wieder ähnlich wie im einstigen Originalbauwerk für Festlichkeiten zur Verfügung stehen sollten – schritt in den Jahren 26 Ebd., S. 180.

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1996–1999 zügig voran, ohne dass eine rechtzeitige Fertigstellung vor dem Stadtjubiläum im Jahr 2001 jemals infrage stand. Rekonstruiert wurde damals zum einen das eigentliche Schwarzhäupterhaus samt dem sogenannten Schwabehaus schräg davor, mit welchem der Originalbau in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz optisch zu einer Einheit verschmolzen war, da der Neorenaissance-Giebel des Schwabehauses auf den Frontgiebel des Schwarzhäupterhauses Bezug nahm (Abb. 7). Zum anderen waren auch zwei östliche Nachbargebäude Teil dieser Rekonstruktionsphase, von denen das eine ebenso wie Schwarzhäupter- und Schwabehaus einheitlich dem Zustand zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gemäß nachempfunden wurde, während an der Fassade des anderen per Vertikalschnitt zwei bauliche Zustände, die das untergegangene Vorgängergebäude durchlaufen hatte, kontrastierend nebeneinander gestellt wurden. Mit der Vollendung dieser Gebäudegruppe war weitestgehend das erreicht, was die städtebaulichen Modelle von 1983 vorgegeben hatten, sodass ein vorübergehendes bauplanerisches Innehalten nahegelegen hätte. Tatsächlich aber setzte sich nun die Stadt Riga mit ihrem Wunsch durch, auch das Rathaus wieder in die Rathausplatz-Bebauung einzufügen, wofür zunächst ein in den 1960er Jahren über Teilen des Rathaus-Grundrisses errichtetes Hochschulgebäude weichen musste. Bei dem nachfolgenden Wiederaufbau blieb die originalgetreue Anlehnung an das historische Vorbild auf die Gestaltung von Fassade und Turm beschränkt, während das gläsern-metallene Dach, mit dem diese kombiniert wurden, im weitesten Sinne postmodern anmutet. Dem Schwarzhäupterhaus, an dem sämtliche Details des Originalbauwerks exakt – wenn auch mit industriegefertigtem Baumaterial – kopiert worden waren, trat auf diese Weise bis 2003 eine eher als „kritische Rekonstruktion“ zu verstehende Bauschöpfung gegenüber, von der eine deutliche Kontrastwirkung ausgeht. Weitere Veränderungen des näheren Umfelds des Schwarzhäupterhauses dürften noch bevorstehen, da seit Langem über eine großzügige Erweiterung des nach 1991 in ein Museum der Okkupation der Jahre 1940–1991 umgewandelten Schützenmuseums, eine Überformung des vorgelagerten Platzes, auf dem das Schützendenkmal steht, sowie eine neue Nutzung für einen angrenzenden vormaligen Hochschultrakt aus dem Jahr 1958 diskutiert wird.

Vorgeschichte und praktische Umsetzung des Rekonstruktionsprojekts in Vilnius Die These, bei der Beseitigung des Großfürstenpalasts in den Jahren 1799–1801 sei es der russischen Administration um die Ausmerzung eines litauischen Herrschaftszeichens gegangen, bezieht einen wesentlichen Teil ihrer Plausibilität daraus, dass in Vilnius Anfang des 19. Jahrhunderts auch Stadtpaläste namhafter litauischer Adelsgeschlechter, darunter vor allem der Familie Radziwiłł, entweder abgerissen oder einem raschen Verfall preisgegeben worden waren.27 Drei Jahrzehnte später, nach dem polnisch27 Zeitnahe dazu war außerdem die Stadtmauer aus dem frühen 16. Jahrhundert abgetragen worden. Obwohl seinerseits typisch für damalige Stadtentwicklung in vielen Regionen Europas, hat auch dieser Vorgang



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litauischen Aufstand von 1831, waren politisch begründete Zerstörungsabsichten, wie sie nach Überzeugung führender litauischer Geschichtsforscher bereits bei der Niederlegung des Palasts um 1800 vorgelegen hatten, dann nicht mehr zu leugnen: Bei der nunmehr veranlassten Schleifung nahezu sämtlicher sonstiger Reste der einstigen Unteren Burg unterblieb lediglich ein Abriss der katholischen Kathedrale, die dem erklärten Zweck dieser Maßnahme – der Schaffung zeitgemäßer Festungsanlagen und Kasernen in Reaktion auf das Aufstandsgeschehen – theoretisch ebenfalls im Weg gestanden hätte. Im Nachhinein lässt sich neben der Schonung der Kathedrale als weiteres (allerdings keiner bewussten Willensentscheidung zu verdankendes) Positivum vermerken, dass auch vom archäologischen Erbe der Unteren Burg nur ein vergleichsweise geringer Teil dem damaligen Festungsausbau zum Opfer gefallen ist. Ungleich größeren Schaden hätte dieses archäologische Erbe womöglich genommen, wenn das Gelände nicht bereits vor 1831 in die Hände der Armee gelangt, sondern stattdessen zielstrebig urbanisiert worden wäre. Ein Wohngebäude gab es hier jedoch einzig und allein in Gestalt des sogenannten Schlossberg-Hauses, das sich ein gewisser Abraham Schlossberg nach 1800 unter Nutzung von Fundament- und Mauerresten des östlichen Palast-Flügels als zweigeschossigen Bau hatte errichten lassen. Der Fortbestand dieses Hauses blieb im weiteren Verlauf ungefährdet, da es sich auch für die Unterbringung von Militärangehörigen eignete. Nachdem das Militär das Areal um 1880 schließlich verlassen hatte, wurde daraus ein öffentlicher Platz mit einem Denkmal Katharinas der Großen. In den Folgejahrzehnten erwachte ein von wachsender Begeisterung für Litauens mittelalterliche Geschichte getragenes Interesse an der möglichen Bergung archäologischer Schätze, die mit der Unteren Burg in Verbindung stehen mochten. Diese Impulse intensivierten sich, je mehr der im Hintergrund weithin sichtbar aufragende Westturm der Oberen Burg, dem bald der Beiname Gediminas-Turm28 anhaftete, als Besuchermagnet und als ein romantisierendes Emblem für ganz Litauen in Szene gesetzt wurde. Gleichwohl kamen bemerkenswerte Funde während der folgenden Jahrzehnte fast ausschließlich bei Leitungsverlegungs- oder ähnlichen Baumaßnahmen zustande. Streng wissenschaftliche, systematische Grabungen blieben dagegen – nach vorübergehender grober Missachtung mittelalterlicher Baufragmente während der ersten Jahre nach 1945 – im Wesentlichen der spätsowjetzeitlichen Forschung vorbehalten. In unerwartetem Ausmaß konnten daraufhin noch Kellermauerreste entdeckt werden, die eindeutig mittelalterlichen oder renaissancezeitlichen und nicht etwa späteren Ursprungs waren – ein Umstand, der, als gegen Ende der 1980er Jahre eine Rückgewinnung der 1918 errungenen und 1940 verloren gegangenen Unabhängigkeit Litauens allmählich vorstellbar wurde, geradezu zwangsläufig Eigendynamik entfaltete. Nach der Erfahrung von 1983, dass ein Wiederaufbau des Großfürstlichen Palasts in der Funktion als Nationalgalerie einstweilen nicht durchsetzbar schien, kam wenig später zunächst der Vorschlag auf, das Schlossberg-Haus, das von der sowjetischen im Rückblick symbolpolitische Deutungen nach sich gezogen. 28 Nach Gedimin, dem litauischen Großfürsten der Jahre 1316–1341.

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Administration nach dem Zweiten Weltkrieg kurzerhand zum Pionierpalast gemacht worden war, in ein Museum der Völkerfreundschaft umzuwandeln.29 Die Diskussionen hierüber blieben jedoch eine bloße Episode. Wenige hundert Meter nordöstlich, am äußersten Rand des Areals der einstigen Unteren Burg, ging zur selben Zeit mehr oder weniger geräuschlos die Rekonstruktion des im Zweiten Weltkrieg niedergebrannten Ostflügels des sogenannten Alten Arsenals vonstatten, die dem Museum für angewandte Kunst zu passenden Räumlichkeiten verhelfen sollte. Neuerliche Gedankenspiele mit dem Ziel einer Wiedererrichtung des Großfürstenpalasts waren damit vorprogrammiert; und spätestens ab 1988, als der benachbarte Platz vor der Kathedrale zum selbstverständlichen Versammlungsort für Großdemonstrationen im Zeichen des politischen Aufbruchs jener Jahre wurde, beschäftigten sie auch immer breitere Kreise der Bevölkerung.30 Im Juni 1988 ließ die mit den damaligen Volksfronten in den beiden anderen baltischen Republiken vergleichbare Vereinigung zum Umbau Litauens (Lietuvos Persitvarkymo Sąjūdis, kurz Sąjūdis) ihre Initiativgruppe in freigelegten Kellergemäuern des Palasts zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten.31 Spenden zu sammeln, aus denen langfristig ein Wiederaufbau der gesamten Unteren Burg, kurzfristig jedoch zunächst einmal die Fortsetzung der Erforschung ihrer Überreste finanzierbar wäre, gehörte zu diesem Zeitpunkt bereits zu den erklärten Zielen des im Jahr zuvor gegründeten Litauischen Kulturfonds.32 Zur immer stärkeren Popularisierung der Örtlichkeit trugen derweil diese oder jene Kulturveranstaltung in den Kellerräumen, bei der sich deren hervorragende Akustik bewies, sowie die Beteiligung von Schülern und Studenten an den weiteren Ausgrabungstätigkeiten bei. Dass immer weiter gegraben wurde, warf die Frage auf, wie die ans Tageslicht gebrachten Gewölbestrukturen konserviert und dauerhaft vor Witterungseinflüssen geschützt werden sollten. Schon vor diesem Hintergrund konnte somit für eine Wiederherstellung der oberirdischen Teile der Palastanlage argumentiert werden. Um eine 29 Striška, Gintautas: Lietuvos didžiųjų kunigaikščių rūmai Vilniaus Žemutinėje pilyje. Atgimusi istorija [Der Palast der Großfürsten von Litauen in der Unteren Burg von Vilnius. Wiedergeborene Geschichte]. In: http://www.valdovurumai.lt/muziejaus-veikla/straipsniai/gintautas-striska-lietuvos-didziuju-kunigaiksciu-rumai-vilniaus-zemutineje-pilyje-atgimusi-istorija#.WDsCoH3K9At (26.11.2016). 30 Wie viel Zuspruch die Wiederaufbau-Idee in jenen Jahren fand, ist freilich nicht objektiv messbar, denn eine Umfrage – bei der gut 70 Prozent der Litauer den Wiederaufbau befürworteten – wurde erst um die Jahrtausendwende durchgeführt. Schon vorher konnte jedoch der Eindruck entstehen, derjenige Teil der lokalen Fachöffentlichkeit, der auf die gegen großmaßstäbliche Rekonstruktionen gerichteten Prinzipien der Charta von Venedig verwies, vertrete die Position einer kaum ins Gewicht fallenden Minderheit. Zu dem Umfrageergebnis vgl. Dolinskas, Vydas: Der Palast der Großfürsten von Litauen in Vilnius: Wiederaufbau und Nutzung. In: Wege für das Berliner Schloss/Humboldt-Forum. Wiederaufbau und Rekonstruktion zerstörter Residenzschlösser in Deutschland und Europa (1945–2007). Hg. v. Guido Hinterkeuser. Regensburg 2008, S. 169–196, hier S. 181. 31 Striška (wie Anm. 29). 32 Das Vertrauen auf Spendenzufluss ging auf lange Sicht teilweise auf: Kritischen Nachfragen, ob sich der litauische Staat mit dem ab 2002 schließlich verwirklichten Rekonstruktionsprojekt übernommen haben mochte und ob der damit verbundene Kostenaufwand wirklich zu rechtfertigen sei, konnte jedenfalls stets mit dem Hinweis begegnet werden, wie beachtlich neben allen staatlichen Investitionen die Spendenbereitschaft litauischer Exilkreise in Übersee ausgefallen war.



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Abb. 8  Vilnius, der rekonstruierte Großfürstliche Palast sowie die Kasimir-Kapelle der Kathedrale (links) und der auf einem Hügel emporragende Gediminas-Turm (rechts). Aufnahme von 2016.

solche Rekonstruktion hinreichend seriös planen zu können, galt im Umkehrschluss archäologische Gründlichkeit als unverzichtbar, damit zum Beispiel spätere Fenstergrößen nicht spekulativ bestimmt werden mussten, sondern aus den Größen vorgefundener Tür- und Fensterbogenreste indirekt ableitbar waren. Das Festhalten an bestmöglicher archäologischer Erschließung und das Anvisieren einer architektonischen Rekonstruktion bedingten sich somit in gewisser Weise wechselseitig. Je mehr es gelang, die Rekonstruktionsentwürfe wissenschaftlich seriös erscheinen zu lassen, desto realistischer konnte jedenfalls die Erwartung sein, dass auch auf politischer Ebene in nicht allzu ferner Zukunft unumstößliche Entscheidungen zugunsten einer Rekonstruktion fallen würden. Letzteres war 2001 erreicht;33 stetiges Bemühen um internationale Anerkennung dafür, dass bei den Planungen hohe wissenschaftliche Standards zugrunde gelegt worden waren, begleitete allerdings mindestens ebenso sehr den eigentlichen Wiederaufbau ab 2002 (Abb. 8). Anlässlich einer 2006 mit entsprechender Intention veranstalteten Expertenkonferenz in Vilnius wurde in diesem Sinne geradezu feierlich der Schulterschluss mit Polen betont, das – so die Worte des schon erwähnten Ex-Präsidenten Brazauskas in seiner Ansprache vor den Konferenzteilnehmern – mit der Rekonstruktion des Warschauer Königsschlosses vorangegangen sei, woraufhin die Rekonstruktion des 33 Vgl. oben Anm. 3.

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Großfürstenpalasts in Vilnius einen geradezu logischen Folgeschritt (unter Nutzung der polnischen Erfahrungen) dargestellt habe.34 Freilich war aller Gemeinsamkeitsrhetorik zum Trotz auch das Warschauer Rekonstruktionsprojekt eines, bei dem im Vergleich mit dem, was man sich in Vilnius vorgenommen hatte, eher die Unterschiede überwogen – angefangen bei der in Vilnius so ungleich geringeren Menge an verfügbaren Abbildungen des Originalbaus und der entsprechend größeren Relevanz indirekter Rückschlüsse: Die Höhe beispielsweise, in der sich im Originalbauwerk die Decke zwischen zwei Geschossen befunden haben dürfte, konnte in Vilnius beinahe ausschließlich aufgrund der Überzeugung bestimmt werden, dass ein einstiger Verbindungsgang, den die Könige und Großfürsten als direkten Weg in die angrenzende Kathedrale genutzt hatten, in exakt derselben Höhe verlaufen sein muss. Absehbare Kritik traf die litauischen Akteure für ihr Vorgehen bezüglich des Schlossberg-Hauses, das von führenden ICOMOS-Experten (Internationaler Rat für Denkmalpflege) als ein dringend zu bewahrendes Relikt ortstypischer Bausubstanz des 19. Jahrhunderts klassifiziert worden war, sodass diese einhellig dazu geraten hatten, es um seiner Authentizität willen so unverändert wie möglich in die Gesamtplanung einzubeziehen. Die anschließende Entscheidung, die ICOMOS-Empfehlung nicht zu befolgen, basierte auf einem Mehrheitsvotum innerhalb der Staatlichen Kulturerbe-Kommission (Valstybinė kultūros paveldo komisija).35 Reminiszenzen an das Schlossberg-Haus wurden daraufhin nur an einem Fassadenabschnitt, an dem mehrere Schichten der Genese des Originalbaus synchron veranschaulicht sind, in die Außenansicht des heutigen, rekonstruierten Gebäudes integriert. Zur Bezeichnung dessen, was der Palast eines Tages in seinem Inneren beherbergen sollte, kamen derweil der Terminus „multifunktionales Kulturzentrum“ sowie das Wort „Nationalmuseum“ in Gebrauch, wobei Letzteres dem Begriff „Palast der Großfürsten von Litauen“ ganz einfach vorangestellt wurde. Zum Zeitpunkt der formellen Museumsgründung am 1. Januar 2009 herrschte Klarheit darüber, dass eine baldige Fertigstellung der Museumsräumlichkeiten nicht in Aussicht stand, da die ursprünglichen Zeitpläne bei Weitem verfehlt worden waren. Allerdings hielt man daran fest, in das Kulturhauptstadt- und Millenniumsjahr 2009 wenigstens eine symbolische Einweihung einbetten zu wollen. Dieser Einweihungsakt in Anwesenheit aller drei gekrönten Häupter Skandinaviens und zahlreicher ausländischer Politiker wurde auf den 6. Juli terminiert, einen von insgesamt drei Tagen im litauischen Feiertagskalender, deren Anlässe 34 Jo Ekscelencijos Lietuvos Respublikos Prezidento Algirdo Mykolo Brazausko sveikinimo kalba / Welcoming speech by His Excellency the President of the Republic of Lithuania Algirdas Mykolas Brazauskas. In: Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmai (wie Anm. 8), S. 14. In der englischen Version des Redemanuskripts wird das von Litauen und anderen europäischen Staaten durch Schloss- bzw. Palast-Rekonstruktionen Vollbrachte auch als „returning these residences to their people“ umschrieben. 35 Katilius, Audronis: Autentas, jo išsaugojimo ir eksponavimo metodiniai bei architektūriniai sprendimai atkuriamuose Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmuose / Authenticity and its Decisions Concerning Preservation, Exhibition Methods and Architecture at the Restored Palace of the Grand Dukes of Lithuania. In: Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmai (wie Anm. 8), S. 217–233, hier S. 226–228.



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Abb. 9  Vilnius, als Audienzsaal mit Renaissance-Dekor eingerichteter Innenraum des rekonstruierten Palasts. Aufnahme von 2016.

mit der staatlichen Unabhängigkeit zu tun haben. Beim 6. Juli rekurriert die Eigenschaft als arbeitsfreier Tag darauf, dass auf dieses Datum die einzige historisch belegbare Königskrönung der litauischen Geschichte – die Krönung Mindaugas’ bzw. Mindowes36 im Jahr 1253 – gefallen sein soll. Als Ausweichquartier für drei mit langem Vorlauf vorbereitete Ausstellungen, die 2009 im Großfürstlichen Palast hätten eröffnet werden sollen, musste sich nun das schon 1986/87 am anderen Ende des Areals der Unteren Burg teilweise rekonstruierte Alte Arsenal bewähren. Auch eine internationale Ausstellung hätte in dem rekonstruierten Großfürstenpalast seinerzeit gastieren sollen – sie entging dem litauischen Publikum komplett. Eine Mammutaufgabe für die nachfolgenden Jahre blieben die Mobilisierung langfristiger Leihgaben und die Beschaffung geeigneter Antiquitäten für einen Großteil der Palasträume.37 Als hierfür zahlreiche Auktionsbesuche in ganz Europa notwendig wurden, mochten sich einige dem Rekonstruktionsvorhaben von Beginn an skeptisch gegenübergetretene litauische Historiker bestätigt fühlen, die stets argumentiert hatten, 36 Die Namensform „Mindowe“ findet sich in zeitgenössischem Quellenmaterial aus dem Umfeld des Deutschen Ordens, wohingegen es sich bei „Mindaugas“ um das rein sprachwissenschaftlich begründete Ergebnis einer Lituanisierung von „Mindowe“ handelt. 37 Zu den auf diesem Gebiet in Kauf genommenen Anstrengungen vgl. Avižinis, Dalius: Valuable Acquisitions for the Palace of the Grand Dukes of Lithuania. In: The History and Collections (wie Anm. 12), S. 128–206.

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Abb. 10  Vilnius, im rekonstruierten Palast zugänglich gemachte Teile der zuvor ausgegrabenen Keller des Originalbauwerks. Aufnahme von 2016.

für die Innenräume gebe es nun einmal keine natürliche, sich geradezu aufdrängende Art der Nutzung.38 Faktisch musste in der Tat ein vielgliedriges Nutzungskonzept entwickelt werden, bei dem Konzerte und Empfänge sowie diverse ständige und wechselnde Ausstellungen ebenso eine Rolle spielen wie die Funktion als Anlaufpunkt für Touristen. Durch ein unter dem Innenhof eingerichtetes Foyer mit Kassen, Garderobe, Restaurant und kleinen Läden wird der heutige Besucher daher in die verschiedenen Teile des Gebäudes gelenkt und soll dabei insbesondere mit einstiger Hofkultur vertraut gemacht werden. Um ihm das typische Interieur einer Residenz sowie die verschiedenen Zeitschichten, die der Originalbau in sich vereinigt hatte, plastisch erlebbar zu machen, wurden mittlerweile streng gotisch, streng renaissancezeitlich und streng frühbarock gestaltete Repräsentationssäle in Kontrast zueinander gesetzt – was ganz sicher einen didaktischen Effekt erzeugt, kaum jedoch einen Zugewinn an Authentizität (Abb. 9). Konsequenterweise wird letzterer Begriff in einschlägigen Veröffentlichungen litauischer Projektbeteiligter auch meist ausgespart und im Zusammenhang mit den Palastsälen stattdessen 38 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Art der Präsentation des Gebäudes in einer bereits deutlich nach seiner Fertigstellung erschienenen architekturgeschichtlichen Publikation (Vilnius 1900– 2016. An Architectural Guide. Hg. v. Marija Drėmaitė, Rūta Leitanaitė und Julija Reklaitė. Vilnius 2016, S. 292), nach deren Aussage „its function has not yet been clearly defined“.



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von einer „Vision“ dessen, was einmal gewesen sein könnte, gesprochen.39 Den in Expertendiskursen üblichen Definitionen von Authentizität kommt umso mehr die Art und Weise entgegen, wie in den unteren Gebäudeteilen Blicke auf die Originalsubstanz von Kellermauern und Gewölben gewährt werden (Abb. 10). Ob das Nebeneinander solch unterschiedlicher Präsentationsformen langfristig einer Authentisierung des Gesamtgebäudes eher förderlich oder eher abträglich sein wird, lässt sich aus heutiger Sicht schwer vorhersagen.

Schlussbemerkungen Die Lektüre manch eines Beitrags litauischer Provenienz, in dem nahezu sämtliche hochrangigen Würdenträger aus dem In- und Ausland aufgezählt werden, die den untergegangenen Großfürstenpalast im Laufe der Jahrhunderte betreten haben, könnte zu der Schlussfolgerung führen, vornehmlich aus den an das Originalgebäude geknüpften historischen Begebenheiten werde dessen ideeller Wert hergeleitet und die Legitimation für den Wiederaufbau gezogen.40 In diesem Sinne könnten neu hinzukommende historische Ereignisse künftig ebenso den Wert und das Authentizitätspotenzial des rekonstruierten Bauwerks steigern. Die vor der Wiedererrichtung des Großfürstenpalasts kurzzeitig im Gespräch gewesene Option, diesen als Präsidentenpalast zu nutzen,41 hätte insofern mehr als nur eine Verlegenheitslösung dargestellt; akuter Bedarf an einem neuen Gebäude für den Staatspräsidenten war in Vilnius jedoch nie gegeben. Eine gegenteilige Situation entstand um 2010 in Riga, als Restaurierungsarbeiten am dortigen Präsidentenamtssitz, dem aus dem Spätmittelalter stammenden Ordensschloss, geplant wurden und die Entscheidung fiel, die Präsidialkanzlei während der Arbeiten für mehrere Jahre im Schwarzhäupterhaus unterzubringen. Durch einen Dachstuhl-Brand im Schloss Ende Juni 2013 spitzte sich die einstweilige Angewiesenheit auf diesen Ersatzamtssitz noch zu, sodass das rekonstruierte Schwarzhäupterhaus nun rascher, als man es im Vorfeld der Rekonstruktion für möglich gehalten hätte, zu einem Bauwerk mit eigener Geschichte werden konnte. Für den rekonstruierten Großfürstlichen Palast in Vilnius steht am Beginn einer solchen eigenen Geschichte unterdessen schlicht – als Ergebnis des historischen Kontextes des Untergangs der Sowjetunion – seine Inbesitznahme durch die seit 1990/91 wieder mit eigener Staatlichkeit ausgestattete Nation. Dem potenziellen Einwand, dass das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Großfürstentum Litauen doch keineswegs mehrheitlich von Vorfahren der heutigen Litauer bewohnt gewesen sei, stellten Fürsprecher des Wiederaufbaus sich mitunter entgegen, indem sie von sich aus behaupteten, auch im Bewusstsein von Weißrussen, Polen und Ukrainern sei der Palast tief

39 Siehe zum Beispiel Dolinskas (wie Anm. 30), S. 186. 40 Siehe zum Beispiel ebd., S. 172. 41 Dolinskas (wie Anm. 12), S. 25 f.

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verankert und deshalb erst recht würdig, rekonstruiert zu werden.42 So oder so bleibt abschließend die Frage, durch welchen Umstand seine Wiedererrichtung am meisten gerechtfertigt erschienen sein mag. Ein oft nur beiläufig erwähnter Teil der Legitimation ergibt sich ganz sicher daraus, dass die ab 1987 intensiviert betriebene archäologische Erforschung des Palastgrundstückes eine für Grabungsflächen in Litauen einzigartige Vielzahl an Fundstücken hervorgebracht hatte und dass es seither einen angemessenen Rahmen für die Ausstellung der wertvollsten dieser Stücke zu schaffen galt. Allerdings enthält selbst dieser Gedanke einen Schönheitsfehler – nämlich insofern, als für derartige Zwecke eben keine übergroße Zahl an Räumen nötig gewesen wäre und es eine entsprechende Zahl an Räumen ebenso im partiell der Rekonstruktion geopferten Schlossberg-Haus gegeben hätte. Die Verantwortung für die Art der Projektausführung liegt, wie gezeigt werden konnte, sowohl im Fall des Großfürstenpalasts als auch im Fall des Schwarzhäupterhauses letztlich beim Staat, da beide Vorhaben formal nicht von Privatinitiativen in Gang gesetzt, sondern von Staatsorganen an jeweilige Behörden, Kommissionen und Firmen delegiert wurden. In Lettland geschah dies unmittelbar in der Zeit der politischen Wende von 1991, in Litauen hingegen 2001 nach rund zehn Jahren der Konsolidierung des wieder unabhängig gewordenen Nationalstaats.

42 Ders. (wie Anm. 30), S. 169.



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Summary Between city repair and national self-assertion The restoration of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius and the House of the Blackheads in Riga Comparison of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius (rebuilt in the 2010s) and the House of the Blackheads in Riga (named after a medieval guild and restored from 1996 to 1999) is justified by their locations in the centres of two Baltic capitals. However, there are also crucial differences between the two projects. One of these is the different times when the original buildings were destroyed. The palace in Vilnius was demolished between 1799 and 1801 by the newly installed Russian administration, having lost its practical function as a palace one and a half centuries beforehand. Accordingly, there are hardly any paintings of the original building which could serve as reliable sources. By contrast, the original appearance of the House of the Blackheads in Riga can be seen in hundreds of photographs. It was destroyed in two stages. The famous main façade was destroyed in 1941, when dozens of buildings in the old town of Riga were reduced to ruins by German bombardment. The remaining parts of the building survived for a few years, but were demolished in 1948. Interestingly, ideas of recreating the Palace of the Grand Dukes of Lithuania and the House of the Blackheads can be traced back to Soviet-era town planning. Proposals to rebuild the House of the Blackheads were first tabled in 1966 while similar discussions concerning the palace in Vilnius began in 1983. Nevertheless, nearly nothing was done by Soviet Latvian authorities to support the reconstruction of the House of the Blackheads until just a few weeks before the Baltic Republics regained their independence in 1991. In Vilnius, far longer was needed for preliminary archaeological studies before reconstruction could finally be planned. Although rebuilding the palace had been legi­ timatized since the latter years of the USSR by a wealth of archaeological finds, investigations had to continue to make reconstruction scientifically sound despite the lack of pictures of key parts of the original building. The new structure is now open to visitors, but defining its function remains difficult.

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Ei n mi t t el al t erl i che s Funda me nt f ü r d i e sp ä te Na tion Die Rekonstruktion des christlich-orthodoxen Erbes der Stadt Ohrid in der Republik Mazedonien

Evelyn Ivanova-Reuter Mazedonien wird in der internationalen Wissenschaft häufig in Bezug auf seine Identitätsprobleme betrachtet: Von außen stellten Bulgaren, Griechen und Serben immer wieder die Frage nach der Zugehörigkeit der Mazedonier hinsichtlich der kulturellen und sprachlichen Eigenständigkeit sowie der Selbstbezeichnung.1 Von innen waren es die Albaner, die nach mehr Anerkennung und Rechten strebten, obwohl sich ihre Lage, so die gängige Einschätzung, „seit dem Sturz der kommunistischen Einparteienherrschaft in Mazedonien und der Selbständigkeitserklärung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik […] wesentlich gebessert“ habe.2 Die Identitätssuche findet jedoch nicht nur auf den Ebenen von Sprache, Kultur und Religion statt, sondern bezieht auch architektonische Werke mit ein. Das bekannteste Beispiel in Mazedonien ist „Skopje 2014“, eine Kampagne der Inneren Mazedonischen Revolutionären Organisation – der Demokratischen Partei für Mazedonische Nationale Einheit (Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija – Demokratska Partija za Makedonsko Nacionalno Edinstvo, kurz VMRO-DPMNE) von 2010 zum Wiederaufbau des Zentrums der Hauptstadt, das 1963 bei einem Erdbeben zerstört worden war.3 Im Rahmen der Identitätsfrage erfuhr die Kampagne immer wieder Kritik, weil sie sich auf die Antike und Teile der mit den Nachbarländern gemeinsamen Geschichte bezieht bzw. diese für die eigenen Zwecke vereinnahmt, was bestehende Spannungen verstärkte.4 Der vorliegende Beitrag möchte anhand des weniger bekannten, noch laufenden Bauprojekts „Plaošnik“ in der Stadt Ohrid (Abb. 1) zeigen, wie und welche nationalpolitischen Motive bei der gegenwärtigen architektonischen Rekonstruktion zusammenwirken und zur Entstehung einer nationalen Kultstätte beitragen. Die Bedeutung des Ortes charakterisiert der Archäologe Pasko Kuzman wie folgt: „Der archäologische Komplex Plaošnik in Ohrid ist, im historischen, kulturellen und geistigen Sinn, der 1 Drezov, Kyril: Macedonian identity. An overview of the major claims. In: The new Macedonian question. Hg. v. James Pettifer. Basingstoke u. a. 1999, S. 47–59, hier S. 48–55. 2 Libal, Wolfgang: Mazedonien zwischen den Fronten. Junger Staat mit alten Konflikten. Wien-Zürich 1993, S. 123 f. 3 Koželj, Janez/Stefanovska, Jasna: Urban planning and transitional development issues. The case of Skopje, Macedonia. In: Urbani izziv 23/1 (2012), S. 91–100, hier S. 93. 4 Graan, Andrew: Counterfeiting the Nation? Skopje 2014 and the Politics of Nation Branding in Macedonia. In: Cultural Anthropology 28/1 (2013), S. 161–179, hier S. 162–164, 170.



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Abb. 1  Ohrid, der Plaošnik-Hügel aus südlicher Richtung vom Ohridsee aus gesehen. Aufnahme von 2013.

bedeutendste und heiligste Ort für Mazedonien und für das ganze slawische Geschlecht.“5 Bereits bei diesem Zitat fällt auf, dass nicht eindeutig ist, was an diesem Ort eigentlich rekonstruiert wird. Im Folgenden werden zwei Thesen angeführt: die These einer Universität und die These eines Klosters. Zunächst sollen aber ein kurzer Einblick in die Theorie der Erinnerungsorte zur begrifflichen Kontextualisierung und ein Überblick über die Baugeschichte des PlaošnikAreals zur zeitlichen und räumlichen Verortung beitragen. Anschließend werden in chronologischer Reihenfolge die Ausgrabungen zur Zeit Jugoslawiens und nach der Unabhängigkeit Mazedoniens betrachtet. Schließlich wird auf kritische Einwände eingegangen.

5 „Arheološkiot kompleks Plaošnik vo Ohrid, vo istoriska, kulturna i duhovna smisla, najznačajniot i najsvetiot prostor za Makedonija i za celiot slovenski rod.“ Zit. nach Kuzman, Pasko: Plaošnik, Ohrid, Makedonija [Plaošnik, Ohrid, Mazedonien]. In: Plaošnik. Vozobnovenata na crkva na Sv. Kliment i Pantelejmon. Hg. v. Timotej Jovanoski und Dems. Ohrid 2003, S. 34–43, hier S. 34 [Hervorhebung im Original]. Alle Übersetzungen aus dem Mazedonischen in diesem Beitrag stammen von der Autorin.

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Erinnerungsorte als identitätsstiftendes Moment Im Anschluss an die Theorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann sowie die Erinnerungsdiskurse der vergangenen Jahre6 wird unter einem Erinnerungsort (lieux de mémoire) eine „Wahrheit“ verstanden, die von einer Gemeinschaft im „kollektiven Gedächtnis“ erschaffen und innerhalb einer Gruppe kommuniziert wird.7 Subjekt des Erinnerns ist das „Individuum als Mitglied eines Kollektivs“ und somit auch das „Kollektiv selbst“. Das bedeutet, dass die Konstruktion eines Selbstbildes bzw. einer Identität immer in gegenseitiger Abhängigkeit von Individuum und Gruppe durch die Kommunikation einer solchen Wahrheit und der damit einhergehenden Implementierung eines „gemeinsame[n] Symbolsystem[s]“ stattfindet.8 Erinnerungsgrund ist das individuelle und kollektive Bedürfnis nach Identität.9 Die Organisation von Erinnerungen und kulturellen Gedächtnissen durch Kollektive oder Institutionen geht immer mit „gezielte[r] Erinnerungs- bzw. Vergessenspolitik“ einher. Dies beinhaltet auch „die Gefahr der Verzerrung, der Reduktion, der Instrumentalisierung von Erinnerung“, welche „nur durch öffentlich begleitende Kritik, Reflexion und Diskussion aufgefangen werden [kann]“.10 Die „Wahrheit“ als Objekt des Erinnerns formiert sich einerseits „in der konkreten Form eines Ereignisses, einer Person [oder] eines Ortes“ und ist andererseits für ein Individuum oder eine bestimmte Gruppe „identitätskonkret“.11 Sie muss zudem einen „Raum- und Zeitbezug“ für den oder die Erinnernden aufweisen, um den Eindruck einer Kontinuität zu erzeugen, wodurch sie auf einen identitätsstiftenden Teil des Kollektivs verweist. Ein drittes Merkmal von Erinnerungsorten ist die „Rekonstruktivität“.12 Das bedeutet, dass die „Wahrheit“ selektiv an die Bedürfnisse der erinnernden Gemeinschaft angepasst wird, um eigene Erfahrungen zu bewältigen und sich von anderen Gruppen abzugrenzen.13

6 Einen Überblick über die Forschungsgeschichte bietet der Beitrag: Frank, Michael C./Rippl Gabrielle: Arbeit am Gedächtnis. Zur Einführung. In: Arbeit am Gedächtnis. Hg. v. Dens. München 2007, S. 9–28, hier S. 12–21. 7 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 35–40. Das von Assmann ausgemachte „kommunikative Gedächtnis“ steht aufgrund der Distanz der zu erinnernden Wahrheit im Hintergrund: ebd., S. 48–56. 8 Trotzdem muss zwischen einer „personale[n] und kollektive[n] Identität“ unterschieden werden: ebd., S. 46, 130–133, 139. 9 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 4 2009 [11999], S. 27–29. 10 Ebd., S. 15. 11 Assmann (wie Anm. 7), S. 38–40. 12 Assmann (wie Anm. 9), S. 29, 40–42. 13 Geschichte und Erinnerung des Gedächtnisses sind demnach auch nicht gleichzusetzen. Während die Geschichte neutral über Ereignisse berichtet, erinnert das Gedächtnis bewertend an Ereignisse: Assmann (wie Anm. 7), S. 42–44.



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Von der Besiedlung Plaošniks bis zur Zeit  der osmanischen Herrschaft Um die gegenwärtige Situation und die Kreation des Erinnerungsortes Plaošnik zu verstehen, ist es notwendig, ein paar historische Hintergrundinformationen zu kennen, die im Folgenden kurz skizziert werden: Gemäß den archäologischen Funden war Plaošnik bereits in der Bronzezeit besiedelt14 und einer der Orte im Inneren des Balkans, die bereits zu Beginn des 4. Jahrhunderts christianisiert wurden.15 Als am Ende des 9. Jahrhunderts der von dem bulgarischen Zaren Boris I. gesandte Bischof Kliment, ein Schüler der byzantinischen Gelehrten und Missionare der slawischen Völker, Kyrill und Method, dort eintraf, fand er aber nur die Ruinen einer ausgebrannten Kirche vor.16 Deswegen ließ er eine neue Kirche bauen, die er dem hl. Pantelejmon widmete. Ort und Name der Kirche sind sehr wahrscheinlich nicht zufällig gewählt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass an dieser Stelle bereits früher ein Kloster stand17 und dass durch den Namen eine absichtliche Verbindung mit dem Kloster des hl. Pantelejmon in Preslav hergestellt werden sollte.18 Denn beide wurden nicht nur unter den bulgarischen Herrschern Boris und Samuil gebaut, sondern galten zudem als „die ersten slawischen Kulturzentren auf dem Balkan“. Deren Aktivitäten auf den Gebieten des Schrifttums und der Kunst ließen die Vermutung aufkommen, dass Kliment in Ohrid „die erste slawische Universität“ errichtet habe, die auch als „Ohrider Schule“ bezeichnet wird.19 Später wurde der Klosterkomplex im Südosten erweitert, einer der neuen Räume diente wahrscheinlich als Speisesaal.20 Für die slawische christliche Bevölkerung ist außerdem von Bedeutung, dass Kliment der erste Bischof mit slawischen Wurzeln war.21 Dies trug zu seiner rasch nach dem 14 Kuzman (wie Anm. 5), S. 34. 15 Grozdanov, Cvetan: Vozobnuvanje na svetiklimentova crkva Sv. Pantelejmon vo Ohrid [Erneuerung der Hl.-Kliment-Kirche des hl. Pantelejmon in Ohrid]. In: Plaošnik (wie Anm. 5), S. 5–33, hier S. 5 f. 16 Koco, Dimče: Novi podatoci za istorijata na Klimentoviot manastir Sv. Pantelejmon vo Ohrid [Neue Daten zur Geschichte von Kliments Kloster des hl. Pantelejmon in Ohrid]. In: Architekturata na počvata na Makedonija. Prilozi za istražuvanjeto na istorijata na kulturata na počvata na Makedonija. Bd. 9. Hg. v. Georgi Stardelov, Krum Tomovski und Ivan Džeparoski. Skopje 2000, S. 91–98, hier S. 91. 17 Ebd., S. 92. 18 Koco, Dimče: Klimentoviot manastir „Sv. Pantelejmon“ i raskopata pri „Imaret“ vo Ohrid [Kliments Kloster des „hl. Pantelejmon“ und die Ausgrabungen beim „Imaret“ in Ohrid]. In: Architekturata (wie Anm. 16), S. 75–90, hier S. 80. Wieso die Wahl jedoch auf Pantelejmon, einen Arzt, und nicht zum Beispiel auf Kyrill oder Method als Lehrer Kliments und als Wegbereiter der sogenannten Slawenmission fiel, ist nicht eindeutig. Vermutet werden kann nur, dass der Ort bereits zuvor ein Erholungsort war; Koco (wie Anm. 16), S. 91 f. 19 Kuzman (wie Anm. 5), S. 35; Grozdanov (wie Anm. 15), S. 6. 20 Ebd., S. 9. 21 Kuzman (wie Anm. 5), S. 35. Sein Lehrer Method war zwar bereits Bischof, allerdings war dieser wahrscheinlich griechischer Abstammung; Tzermias, Pavlos: Die Slawenmission der Thessalonicher Kyrillos und Methodius. In: Hellenika. Jahrbuch für griechische Kultur und deutsch-griechische Beziehungen. Hg. v. Vereinigung der Deutsch-Griechischen Gesellschaften. Berlin u. a. 1996, S. 74–87, hier S. 80–84.

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Tod einsetzenden Verehrung als Heiliger bei,22 die sich an seinem in der Kirche befindlichen Grab manifestierte.23 Das Wissen darum hielt sich auch im Gedächtnis der lokalen Bevölkerung, nachdem die Kirche während der Osmanenherrschaft, wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zunächst in eine Mescit – in ein kleines muslimischen Gebetshaus – und spätestens Anfang des 17. Jahrhunderts endgültig zerstört und in eine Freitagsmoschee mit Minarett umgewandelt worden war.24 Kliments Gebeine wurden zuvor in die nahegelegene Kirche der hl. Gottesmutter (Sv. Bogorodica Perivlepta) überführt, weswegen diese auch den Namen des hl. Kliment trägt. Der Ort, an dem die ursprüngliche Kirche und das Kloster des hl. Kliment standen, wird deshalb auch als Alt Hl.-Kliment (Staro Sv. Kliment) bezeichnet. Da an die oben genannte Moschee eine Armenküche und eine Schule für Arme und Waisen angegliedert war, wurde der Ort nun Imaret genannt. Dieser Begriff bezeichnete in der Zeit des Osmanischen Reichs eine Art Suppenküche, die Bedürftige unabhängig von religiöser Zugehörigkeit und sozialem Stand verpflegte.25 Ein Imaret war meist Teil eines Wakfs, einer wohltätigen Stiftung, die auch politische Funktionen übernehmen konnte. Möglicherweise gehörte zu dem Wakf in Ohrid auch eine Koranschule.26 Nicht geklärt ist, ob der im Zusammenhang mit dem Bau genannte Sinan Çelebi der Erbauer der Moschee oder des Imarets ist.27 Die Annahme, er sei der Stifter, basiert auf der Existenz seines Grabes auf dem Gelände des damaligen Imarets, das in Form einer Türbe bis heute dort zu finden ist. Für den Namen der Moschee gibt es mehrere Versionen. Während in neueren Beiträgen „Sultan Mehmet“28 auftaucht, trägt sie in älteren Beiträgen auch den Namen „Sultan Mohamed“ oder „Sultan Muhamed“29. Wann die

22 Bei Bischöfen ist die Wahrscheinlichkeit einer Verehrung als Heilige aus politischen Gründen sehr hoch: Reuter, Evelyn: Im Schatten der Slawenapostel. Funktionen Naums im (trans-)nationalen Erinnerungsdiskurs. In: Das Erbe der Slawenapostel im 21. Jahrhundert. Nationale und europäische Perspektiven. Hg. v. Thede Kahl und Aleksandra Salamurović. Frankfurt/Main 2015, S. 151–173, hier S. 164 f. 23 Hausberger, Karl: Heilige/Heiligenverehrung. III. Anfänge der christlichen Heiligenverehrung. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Müller, Horst Balz und Gerhard Krause. Bd. 14. Berlin-New York 1985, S. 646–651, hier S. 648 f. 24 Koco (wie Anm. 16), S. 93–98. Dagegen behaupten Grozdanov und Kuzman, dass die Kirche bereits im 15. Jahrhundert, also im Zuge der Eroberungen, bis aufs Fundament zerstört worden war: Grozdanov (wie Anm. 15), S. 9; Kuzman (wie Anm. 5), S. 35. In dieser Frage ist jedoch Kocos differenzierterem Urteil zu folgen, der in seinem ersten Beitrag ebenfalls noch diese Meinung vertritt: Koco (wie Anm. 18), S. 81 f. Auf Basis der Ausgrabungsfunde, die er im Lichte weiterer historischer Dokumente las, änderte er jedoch seine Ansicht und kommt nun zu dem Schluss, dass die Kirche auch noch einmal Anfang des 16. Jahrhunderts erneuert wurde: Ders. (wie Anm. 16), S. 95–97. 25 Behrens-Abouseif, Doris u. a.: „Waḳf“. In: Encyclopaedia of Islam. Hg. v. Peri Bearman u. a. = http://dx.doi.org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1163/1573-3912_islam_COM_1333 (12.09.2016). 26 Koco (wie Anm. 16), S. 94 f. 27 Bajraktarević, Fehim: Turski spomenici u Ohridu [Türkische Denkmäler in Ohrid]. In: Prilozi za orijentalnu filologiju 5 (1954), S. 111–136, hier S. 115–119. 28 Grozdanov (wie Anm. 15), S. 9; Kuzman (wie Anm. 5), S. 35. 29 Koco (wie Anm. 16), S. 91, 93 f.; Ders. (wie Anm. 18), S. 75, 81, 90. Der an dieser Stelle zuerst genannte Beitrag wurde erstmals 1986 und der zweitgenannte 1948 veröffentlicht: Ristevska, Liljana: Bibliografija na trudovite na akad. Dimče Koco [Bibliographie der Aufsätze des Akad. Dimče Koco].

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Moschee zerstört worden oder, ungenutzt und der Witterung ausgesetzt, zerfallen war, sodass nur noch die Seitenwände erhalten blieben, ist nicht überliefert.30

Ausgrabungen zur Zeit Jugoslawiens im Kontext der Nationsbildung Seit 1918 wurde in der Umgebung von Ohrid nach historischen Überresten gegraben.31 Doch die ersten Ausgrabungen an dem mittlerweile als Imaret bekannten Ort fanden erst in den Jahren 1942 und 1943 statt.32 Dabei wurden Überreste einer alten Kirche und ein Grab entdeckt, das aufgrund der Überlieferung als Kliments Grab identifiziert worden ist.33 Auffällig ist, dass dies vor der Etablierung einer mazedonischen Nation mit Schriftsprache und eigener Kirche passierte.34 Die Errichtung der MazedonischOrthodoxen Kirche (Makedonska Pravoslavna Crkva, MPC) im Juli 1967, welche fortan die Ergebnisse der Ausgrabungen in ihrem Interesse instrumentalisierte, ist das Resultat einer langjährigen Auseinandersetzung der Serbisch-Orthodoxen Kirche (Srpska Pravoslavna Crkva, SPC) mit den Gläubigen in Mazedonien. Diese Auseinandersetzung spiegelt wiederum die politischen Interessen Jugoslawiens und Bulgariens an der „mazedonischen Frage“ wider.35 Die Autokephalie-Erklärung der MPC von 1967 fiel zeitlich mit dem Ende der 1964 begonnenen zweiten Grabungskampagne zusammen. Die Koinzidenz dürfte aus mehreren Gründen kein Zufall gewesen sein. (1) Die zweite Grabung erfolgte unter der Leitung des Landesinstituts für den Schutz Kultureller Denkmäler der SRM (Sozialistischen Republik Mazedonien) und des Instituts für den Schutz der Kulturdenkmäler Ohrids in Zusammenarbeit mit dem Nationalmuseum Ohrid.36 Demzufolge stand das Projekt in der Verantwortung der jugosla-

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In: Prilozi. Makedonska akademija na naukite i umetnostite, Oddelenie za opšestveni nauki 21/1–2 (1990), S. 149–153. Grozdanov (wie Anm. 15), S. 9; Kuzman (wie Anm. 5), S. 35. Der Autorin liegt lediglich der Hinweis vor, dass 1934 die Moschee nicht mehr in Betrieb, aber aufgrund der Mauerreste noch ihre Größe erkennbar war; Bajraktarević (wie Anm. 27), S. 116. Kuzman, Pasko: Archeologija. Značajni archeološki istražuvanja [Archäologie. Bedeutende archäologische Forschungen]. In: http://www.ohrid.com.mk/makedonski/archaeology/archaeology.asp?ID=381 (11.09.2016). Kuzman (wie Anm. 5), S. 35. Aus der vorliegenden Literatur geht nicht hervor, wer die Ausgrabungen in Auftrag gab, wer sie leitete und welche Rolle dabei Bulgarien spielte, welches das Territorium der heutigen Republik Mazedonien einschließlich Ohrid besetzte; Kraft, Ekkehard: Die Religionsgemeinschaften in Makedonien. In: Makedonien. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Kultur – Wirtschaft – Recht. Hg. v. Walter Lukan und Peter Jordan. Frankfurt/Main 1998, S. 339–376, hier S. 343 f. Kuzman (wie Anm. 5), S. 35. Alexander, Stella: Church and State in Yugoslavia since 1945. Cambridge 1979, S. 182 f. Ebd., S. 249–284. Koco (wie Anm. 16), S. 91.

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wischen Teilrepublik, die auch die Autokephalie der MPC unterstützte.37 Bereits 1958 hatten Vertreter der mazedonischen Republik durch ihre Anwesenheit bei der Einsetzung des Weihbischofs Dositej als ersten Metropoliten ihre Zustimmung zu diesem Schritt demonstriert.38 Der Akt fand in der Kirche des hl. Kliment (zu jener Zeit eigentlich Kirche der hl. Gottesmutter) statt. Rückblickend scheint der Ort symbolträchtig gewählt. (2) Die MPC sieht sich mit ihrer Autokephalie in direkter Nachfolge des 1767 aufgelösten, unabhängigen Erzbistums Ohrid.39 Im Zusammenhang mit dem Anspruch auf eine eigene Kirche wurden auch die Bemühungen um die Anerkennung einer eigenen Nation angeführt, die durch eine eigene Sprache und Kultur gefestigt sei und sich auch mit dem Verweis auf die Ohrider Schule stützen lasse. Dies bedeutete insofern auch einen Schlag gegen die Serbisch-Orthodoxe Kirche, als sich das Ohrider Erzbistum im 15. Jahrhundert bis ins heutige Ungarn erstreckt hatte.40 Belgrad war also eine Ohrider Eparchie und das geistliche Machtverhältnis im Vergleich zur Situation in Jugoslawien umgekehrt gewesen. Gleichzeitig betonte die MPC allerdings die Einheit mit der Serbisch-Orthodoxen Kirche, zwar nicht im Sinne der Jurisdiktion, aber hinsichtlich der alle orthodoxen Kirchen vereinenden Dogmen.41 (3) Zudem ist es, auch wenn bisher nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, sicherlich kein Zufall, dass sich die 1958 gegründete Versammlung der Mazedonischen Kirche und des Volks 1967 in einem Beschluss unter die Schutzherrschaft des hl. Kliment und des hl. Naum stellte, bevor sie die autokephale MPC verkündete.42 Die durch die Grabung gestärkten Erinnerungen an die eigene Kirche dürften zu dieser Entscheidung beigetragen haben. (4) Gleichzeitig war dieser Akt wegweisend für die MPC, die Kliment als Patron der Kirche auswählte und sich selbst anlässlich des 15-jährigen Jubiläums der Autokephalie 1982 als „Svetiklimentova Crkva“ (Hl.-Kliment-Kirche) in Anlehnung an die serbisch-orthodoxe „Svetosavska Crkva“ (Hl.-Sava-Kirche) bezeichnete.43 Dass sich die Republik Mazedonien und die MPC in ihren Interessen gegenseitig unterstützten, ist daran zu erkennen, dass Kliments Rolle in der Folge „eine Ausweitung auf das ‚Land‘ und das ‚Volk‘“ erfuhr.44 Das zeigte sich in der Etablierung Skopjes als zweiter Erinnerungsort Kliments durch den Bau der größten mazedonisch-orthodoxen Kirche des Landes – der 1990 geweihten Kliment-von-Ohrid-Kirche. Die säkulare Vereinnahmung Alexander (wie Anm. 34), S. 286. Ebd., S. 264. Ebd., S. 284. Koco (wie Anm. 16), S. 95. Alexander (wie Anm. 34), S. 284 f. Ebd., S. 264, 284. Gemeint sind nicht die nach diesen Heiligen benannten Bischöfe der Diözesen Prespa-Bitola und Zletovo-Strumica, die dem Metropoliten Dositej unterstellt waren, sondern die Heiligen selbst. 43 Popović, Mihailo: Kliment von Ohrid. In: Religiöse Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Hg. v. Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald und Thomas Wünsch. Berlin 2013, S. 494–500, hier S. 497 f. 44 Ebd., S. 497. 37 38 39 40 41 42



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wiederum ist an der Namensgebung der Universität von Bitola abzulesen. Lediglich die 1944 gegründete National- und Universitätsbibliothek in Skopje trug bereits vorher Kliments Namen. (5) In die Zeit Jugoslawiens fiel auch die Aufnahme des Ohridsees in die Welterbeliste (1979) und im Jahr darauf die Erhebung Ohrids zur Welterbestadt durch die UNESCO auf Basis der Kriterien Natur, Kultur und Geschichte.45 Das bedeutete, dass alle historischen Funde der Ausgrabungen fortan unter Schutz gestellt werden mussten, um sie als Kulturerbe erhalten zu können. Gleichsam als Zuspitzung der Verbindung von geistlichen und säkularen Interessen ist folgender Auszug aus dem Schreiben der Kommission zu bewerten, welche der UNESCO die Änderungspläne der Projekte in Ohrid unterbreitete. Unter der Teilüberschrift „Concept idea for instauration of St. Clement’s university“ heißt es dort: „The idea for the instauration of the historical and literary centre of St. Clement at Plaoshnik in Ohrid originates from the early 1970’s and was initiated by the late member of the Academy of Arts and Sciences Haralampie Polenaković – a distinguished Slavist and linguist.“46 Diese Aussage ist zum einen hinsichtlich der Installierung des Erinnerungsortes wichtig, da sie sich in keiner früheren Abhandlung findet und damit der Eindruck einer rückwirkenden Erklärung entsteht. Zum anderen ist aufgrund des fehlenden Wortlauts von Polenaković nicht eindeutig, ob er sich den Ort als Universität oder als Kloster dachte. Spätestens mit dieser Verlautbarung der Kommission fand jedoch eine Verschiebung der Interpretation dessen statt, was Kliment einst errichtet haben soll. Konkrete Formen nahm die darin geäußerte Idee aber erst nach Mazedoniens staatlicher Eigenständigkeit an.

Ausgrabungen und Rekonstruktionen  seit der Unabhängigkeit Mazedoniens Nach der staatlichen Unabhängigkeit Mazedoniens im Jahr 1991 gab es in Ohrid weitere Ausgrabungen: Diese dritte Grabungsphase fand von 1999 bis 2002 statt.47 Seitdem bürgerte sich für die Grabungsstätte wieder der ältere Name „Plaošnik“ ein.48 Angestoßen wurden die neuen Grabungen durch eine Initiative der Eparchie von Debar-Kičevo, des Instituts für den Schutz kultureller Denkmäler und des Nationalmuseums in Ohrid 45 UNESCO World Heritage Committee: Report on the Advisory Mission to the World Heritage Property, „Natural and Cultural Heritage of the Ohrid region“, the former Yugoslav Republic of Macedonia, from 11 to 13 December 2013. [o. O.] 2013, S. 4. Der Bericht ist abrufbar unter: http://whc.unesco.org/en/ list/99/documents/ (22.12.2016). 46 Republic of Macedonia: Analysis and Response to the Recommendations from the Report on the Advisory Mission to the World Heritage Property. „Natural and Cultural Heritage of the Ohrid region“, Republic of Macedonia. [o. O.] 2014, S. 6. Der Bericht ist abrufbar unter: http://whc.unesco.org/en/ list/99/documents/ (22.12.2016). 47 Kuzman (wie Anm. 31). 48 Ders. (wie Anm. 5), S. 43. Dass der Begriff in Fachkreisen nicht unbekannt war, zeigt dessen Verwendung in Kocos Beitrag von 1986: Koco (wie Anm. 16), S. 94.

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Abb. 2  Ohrid, Kirche der hll. Kliment und Pantelejmon nach ihrer Fertigstellung mit Ruinen des frühchristlichen Klosterhofs im Vordergrund. Aufnahme von 2016.

(Zavod za zaštita na spomenici na kultura i Naroden muzej – Ohrid) sowie der Gemeinde anlässlich des Jubiläums „2000 Jahre Christentum in Ohrid und Makedonien“49. Das Projekt sah nach dem Abschluss „systematischer, archäologischer Forschungen [und] Konservierung“ auch die „Restaurierung und Revitalisierung des ganzen Klosterkomplexes Plaošnik“ vor. Dies steht nicht im Gegensatz zu der oben zitierten Formulierung von der Wiedererrichtung einer Universität, setzt jedoch einen anderen Akzent.50 Die notwendigerweise geistliche Ausrichtung und religiöse Zugehörigkeit eines Klosters steht zudem der heutzutage häufig erwarteten, weltanschaulichen Neutralität von Universitäten entgegen. Die Verbindung staatlicher und kirchlicher Interessen zeigt sich nicht nur an der gemeinsamen Initiierung des Projekts, sondern auch durch dessen zusätzliche Unterstützung vonseiten des Ministeriums für Kultur sowie durch die Absichtsbekundung 49 Kuzman (wie Anm. 5), S. 36. Der Name des Jubiläums ist in zweifacher Weise irreführend, denn einerseits begann das Christentum historisch gesehen frühestens mit dem Tod Jesu und nicht mit dessen Geburt und andererseits ist dies noch nicht der Anfang des Christentums in Makedonien, geschweige denn in der 1990 für unabhängig erklärten Republik Mazedonien. 50 Ebd., S. 36 f.



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Abb. 3  Ohrid, Bleiplatte zur Markierung der historischen Mauerreste und zur Abgrenzung von der darauf neu errichteten Kirche. Aufnahme von 2016.

des Premiers der mazedonischen Regierung, das genannte Jubiläum bewusst gemeinsam zu feiern.51 Mit der Projektdurchführung betraute das Ministerium für Kultur im Jahr 2000 ein Komitee, das einen Ideenwettbewerb zur Neugestaltung des Plaošnik-Areals ausschrieb.52 Auffällig ist, dass diesen Wettbewerb das Institut für den Schutz kultureller Denkmäler und das Nationalmuseum in Ohrid gewannen, die ja bereits zu den Initiatoren des Projekts gehört hatten. Auch die Tatsache, dass die Projektleiterin Tanja Paskali Buntaševska und der Architekt Todor Paskali miteinander verwandt sind, erweckte den Eindruck, dass das Projekt absichtlich in kleinem Kreis bearbeitet werden sollte.53 Die Einbeziehung von Handwerkern aus dem slawisch besiedelten Pustec in Albanien machte diesen Kreis zwar größer und internationaler; sie scheint angesichts weiterer Baumaßnahmen aber nur ein weiteres Element gewesen zu sein, um das historische Fundament des Projekts zu betonen. Der erste Schritt des Projekts zur Wiederbelebung Plaošniks war der Wiederaufbau der Kirche der hll. Kliment und Pantelejmon (Abb. 2), deren Grundstein symbolisch 51 Ebd. 52 Ebd., S. 37. 53 Ebd., S. 37 f.

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Abb. 4  Ohrid, Reliquien des hl. Kliment über dem historischen Grab, das durch eine Glasplatte im Boden erkennbar ist. Aufnahme von 2016.

Abb. 5  Translation der Reliquien des hl. Kliment aus der Kirche der hl. Gottesmutter in die erneuerte Kathedrale des hl. Pantelejmon auf dem Plaošnik-Areal im Jahr 2002. Malerei in der 2005 geweihten Kapelle der hll. Kyrill und Method des Naum-Klosters in Ohrid. Aufnahme von 2016.



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am 8. Dezember 2000, zum Winterfeiertag des hl. Kliment, gelegt wurde.54 Nach der Projektleiterin und seit 2013 auch Direktorin des Instituts für den Schutz kultureller Denkmäler und des Nationalmuseums in Ohrid, jener Paskali Buntaševska, ist die Kirche dazu bestimmt, zwei Funktionen zu übernehmen, und zwar die eines Kulturdenkmals und die eines für eine große Anzahl von Besuchern zugänglichen Publikumsmagneten.55 Eine der Baumaßnahmen, welche die historische Bedeutung betonen sollten, war die Errichtung des Baukörpers auf „traditionelle Weise“. Zudem wurden die Reste der historischen Mauern in den Bau einbezogen und mithilfe einer Bleiplatte – von dem neuen Bau sichtbar abgesetzt – als Originalfragmente markiert (Abb. 3).56 Sie dienten gleichzeitig als Anhaltspunkt für den Grundriss, wodurch eine große Nähe zum Original angestrebt werden konnte. Größe und Gestalt der neuen Kirche orientierten sich folglich an der ursprünglichen, von Kliment errichteten Kirche und an den bis zu ihrer Zerstörung erfolgten Erweiterungen.57 Da es außer diesen Mauerresten keine weiteren Anhaltspunkte gibt und die Verantwortlichen keine weiteren Aussagen darüber treffen, welche Vorlagen sie bei der Rekonstruktion nutzten, ist anzunehmen, dass andere erhalten gebliebene Kirchen aus demselben Entstehungszeitraum als Orientierung dienten. Die Frage, inwieweit die neue Kirche originalgetreu oder eher eine vage Nachempfindung des Stils ist, bleibt somit (vorerst) unbeantwortet. Neben technischen Finessen wie einer Fußbodenheizung und der Ventilation von Kerzenrauch habe, so Paskali Buntaševska, „der Präsentation des Grabes des hl. Kliment“ besondere Aufmerksamkeit gegolten (Abb. 4).58 Das ist einerseits dem Heiligenkult um Kliment zuträglich und demonstriert andererseits erneut die Interessenallianz der MPC und des mazedonischen Staats, die durch das genannte Institut vertreten wird. Im Juli 2002, nach anderthalb Jahren, war der Wiederaufbau abgeschlossen, sodass am 10. August die Reliquien des hl. Kliment feierlich von der Kirche der hl. Gottesmutter zurückgeführt (Abb. 5) und tags darauf die neu gebaute Kirche eingeweiht werden konnten. Im Unterschied zur ursprünglichen Kirche trägt sie nicht nur den Namen Pantelejmons, sondern ist Pantelejmon und Kliment zugleich geweiht, deshalb sind beide Heiligen in dem Mosaik über dem Eingang am Glockenturm dargestellt (Abb. 6). Dass dem hl. Kliment jedoch die wichtigere Rolle zugedacht ist, lässt sich unschwer anhand eines weiteren Mosaiks über dem Eingang auf der Nordseite erkennen, das ihn allein zwischen einer nicht weiter identifizierbaren Kirche und einer Festungsmauer, die an die des Zaren Samuil in Ohrid erinnert, zeigt (Abb. 7). Die Darstellung scheint die Bedeutung Kliments für die Existenz der Kirche im Allgemeinen und die Verbindung zur weltlichen Herrschaft auf mazedonischem Gebiet im Besonderen zu unterstreichen.

54 Ebd., S. 40. 55 Paskali Buntaševska, Tanja: Principi i načini na vozobnovuvanjeto [Prinzipien und Weisen der Erneuerung]. In: Plaošnik (wie Anm. 5), S. 44–61, hier S. 48. 56 Ebd., S. 45. 57 Ebd., S. 44. 58 Ebd., S. 47 f. Trotz dieser technischen Ausgestaltung ist auffällig, dass die Kirche bisher noch nicht mit einem Bildprogramm ausgestattet wurde (Stand: Sommer 2016).

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Evelyn Ivanova-Reuter Abb. 6  Ohrid, Mosaik über dem Eingang des Glockenturms mit den hll. Kliment und Pantelejmon, denen die Kirche geweiht ist. Aufnahme von 2016.

Abb. 7  Ohrid, Mosaik über dem Nordeingang mit dem hl. Kliment, dem historischen Gründer der Kirche. Aufnahme von 2016.



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Abb. 8  Ohrid, archäologische Relikte der frühchristlichen Basilika mit Schutzdach in der mutmaßlichen Größe und Form der einstigen Kirche. Aufnahme von 2016.

Das große Interesse der Staatsführung an der Kirche verdeutlichte die Anwesenheit und Mitwirkung von Regierungsmitgliedern wie dem damaligen mazedonischen Ministerpräsidenten Ljubčo Georgievski bei deren feierlichen Weihe.59 Ein weiteres Ergebnis der Grabungs-, Rekonstruktions- und Neubauarbeiten auf dem Plaošnik-Areal ist die Inszenierung der archäologischen Relikte der frühchristlichen Basilika. Diese wurden mit einem schützenden Dach überbaut, das die Maße und die mutmaßliche Form der bereits vor Kliments Ankunft zerstörten Kirche visualisiert (Abb. 8). Dazu gehört auch ein Taufbecken, das wie die Basilika ein gut erhaltenes Mosaik aufweist. Ein zweites Taufbecken, ebenfalls überdacht und mit einem Mosaik ausgestattet, befindet sich südöstlich der neu errichteten Kirche. Der Kirchenneubau und die konservierende Präsentation der archäologischen Befunde waren aber erst der Anfang des Projekts zur „Revitalisierung des ganzen Klosterkom-

59 Ilievski, Simon: Sv. Kliment po pet veka se vrati vo svojot večen dom. So veličestvena ceremonija včer vo Ohrid beše osveten obnoveniot manastir na svetite Kliment i Pantelejmon [Der hl. Kliment kehrt nach fünf Jahrhunderten in sein ewiges Haus zurück. Mit einer großartigen Zeremonie wurde gestern in Ohrid das erneuerte Kloster der Heiligen Kliment und Pantelejmon eingeweiht]. In: http://star.utrinski.com.mk/?pBroj=940&stID=745&pR=2 (13.09.2016).

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Abb. 9  Ohrid, Informationstafel am Eingang des Komplexes mit der Darstellung des geplanten Areals: 1. Kloster­unterkunft; 2. Bischofssitz der MPC-Eparchie Debar-Kičevo; 3. Theologische Fakultät der Universität Skopje; A. Kliment-Bibliothek mit Konferenzsaal; Б. Mazedonisches Institut für Geisteswissenschaften Ohrid, Büro der Mazedonischen Akademie der Wissenschaften für geisteswissenschaftliche Studien und Büro für angewandte Konservierung, Verwaltung; B. Plaošnik-Museum und Ohrider Ikonengalerie; 6. Denkmal des hl. Kliment; 7. Kliment-Park; 8. Haupteingang; 9. Fontäne; 10. Ewiges Licht. Aufnahme von 2016.

plexes“, denn derzeit werden noch weitere Gebäude errichtet (Abb. 9).60 Geplant sind eine Klosterunterkunft und die Bischofsresidenz der Eparchie Debar-Kičevo, deren Bau – östlich der Kirche – bereits weit fortgeschritten ist (Abb. 10). Die Wahl des Ortes für die Klosterunterkunft scheint mit dem Fund von Relikten zweier Räume, darunter eines mutmaßlichen Speisesaals, zusammenzuhängen. 61 Des Weiteren gehört zu den Gebäuden der MPC eine neue Theologische Fakultät im Nordwesten (Abb. 11). Ergänzt werden die MPC-Bauten durch eine Häuserreihe im Westen, die kulturellen Zwecken dienen soll: Im ersten Haus sind eine Bibliothek mit dem Namen des hl. Kliment und ein Konferenzsaal vorgesehen, der mittlere Teil ist dem Mazedonischen Institut für 60 Eine Übersicht über die aktuellen Pläne bietet neben dem Schild vor dem Eingang des Komplexes die UNESCO sowie die Mazedonische Republik selbst in Antwort auf Anmerkungen der UNESCO: UNESCO (wie Anm. 45), S. 11–14; Republic of Macedonia (wie Anm. 46), S. 11–18. 61 Grozdanov (wie Anm. 15), S. 9.



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Abb. 10  Ohrid, Klosterunterkunft und Bischofsresidenz der Eparchie Debar-Kičevo mit der Türbe Sinan Çelebis auf der linken Bildseite. Aufnahme von 2016.

Geisteswissenschaften Ohrid, dem Büro der Mazedonischen Akademie der Wissenschaften für geisteswissenschaftliche Studien und der Administration zugedacht; im dritten Haus sollen schließlich das Museum Plaošnik und die Ohrider Ikonengalerie untergebracht werden (Abb. 12). Begleitet werden solche Fortschritte des Bauprojekts von feierlich begangenen Ehrentagen, wie im Sommer 2016 zum 1100. Todestag des hl. Kliment. Nicht nur das jährlich stattfindende „Internationale Seminar für mazedonische Sprache, Literatur und Kultur“ (Meg’unaroden Seminar za makedonski Jazik, Literatura i Kultura) der Kyrillund-Method-Universität Skopje widmete sein Eröffnungsprogramm dem wissenschaftlichen Erbe Kliments.62 Auch beim Ohrider Sommer wurde Kliments Todestag in der Programmgestaltung berücksichtigt und in einem Konzert gewürdigt.63 Zudem gab es eine Ausstellung mit Kliment-Ikonen und -Fresken, zu deren Eröffnung staatliche Würdenträger Grußworte sprachen.64 Abgesehen davon setzte die MPC selbstverständ62 V eleva , Slavica: Letna Škola [Sommerschule]. In: https://www.ukim.edu.mk/mk_content. php?meni=35&glavno=34 (14.09.2016). 63 Solemn Academy of the Macedonian Academy of Arts and Sciences on the occasion of 1,100 years since the death of St. Clement Ohridski. Тhе roots of Slavic civilization. In: http://ohridskoleto.com. mk/en/event/ana-igor-durlovski/ (14.09.2016). 64 Izložba na kopii od freski i ikoni so likot na Sv. Kliment Ohridski [Ausstellung der Kopien von Fresken und Ikonen mit der Gestalt des hl. Kliment von Ohrid]. In: http://www.utrinski.mk/default.asp?ItemID=3D-

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Abb. 11  Ohrid, Gebäudekomplex der Theologischen Fakultät. Aufnahme von 2016.

Abb. 12  Ohrid, Gebäudekomplex für Bibliothek, Museum und Verwaltung. Aufnahme von 2016.



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lich mehr als nur einen Festtagsgottesdienst in der neu errichteten Kirche an. Am Vorabend des Festtages präsentierte die Eparchie von Debar-Kičevo ein neu erschienenes Buch mit der Vita des hl. Kliment und mit weiteren liturgisch relevanten Texten zu seinem verehrenden Gedenken.65 Kuzman resümiert in seinem Beitrag abschließend: „Das ist die größte Unternehmung in dieser Hinsicht in Mazedonien, mit der Unterstützung des ganzen mazedonischen Volks, der mazedonischen Institutionen, Vereinigungen, Organisationen und Firmen, sowie auch mit maximaler finanzieller Unterstützung der Regierung der Republik Mazedonien und des Ministeriums für Kultur der Republik Mazedonien.“66 Auf den ersten Blick scheint diese Aussage wenig problematisch zu sein. Auf den zweiten Blick stellen sich allerdings zwei Fragen: Wer ist mit der exklusiven Formulierung „mazedonisches Volk“ eigentlich gemeint, und wessen Interessen vertreten die staatlichen Institutionen angesichts der christlich-orthodox zugespitzten Präsentation geistiger und kultureller Einrichtungen?

Der Umgang mit dem osmanischen und dem Weltkulturerbe Jenseits der Euphorie über den Bau der Kirche der hll. Pantelejmon und Kliment und der fortschreitenden Umsetzung der Pläne zur Errichtung einer Kliment-Universität, die geistliche und kulturelle Interessen Mazedoniens kombiniert, weist das Projekt „Plaošnik“ auch kritische Aspekte auf. Diese betreffen den Umgang mit dem osmanischen und mit dem Weltkulturerbe. Mit der dritten Grabungsphase (1999–2002) und der Etablierung des alten Begriffs „Plaošnik“ ging auch eine Verdrängung der muslimisch-osmanischen Konnotation des Ortes einher. Dies wird nicht nur an dem zunehmend in Vergessenheit geratenen, zuvor jedoch gängigen Begriff „Imaret“ deutlich, sondern auch durch eine Maßnahme, die den Bau der neuen Kirche überhaupt erst ermöglichte: Da die Kirche auf den Fundamenten der ursprünglichen Kirche errichtet werden sollte, mussten zuvor die Reste der Moschee beseitigt werden, die an derselben Stelle stand.67 So heißt es in einem Beitrag von Kuzman lapidar, im Herbst 1999 habe in Vorbereitung der geplanten Erneuerung C4273C3357FB479D09EFDFC528B6B4 (14.09.2016); Svečena Akademija za Sveti Kliment Ohridski [Feierliche Akademie für den hl.  Kliment von Ohrid]. In: http://www.utrinski.mk/default. asp?ItemID=163A8AE2EB4A00419C10B5219C096D17 (14.09.2016). 65 Debarsko-kičevskata eparchija otpečati nova kniga po povod 1100 godini od upokojuvanjeto na sv. Kliment Ohridski [Die Eparchie von Debar-Kičevo druckte ein neues Buch aus Anlass 1100 Jahre seit der Entschlafung des hl. Kliment von Ohrid]. In: http://www.publicitet.mk/vo-potraga-po-trajnata-ubavina/ item/3134-debarsko-kichevskata-eparhija-otpechati-nova-kniga-po-povod-1100-godini-od-upokojuvanjeto-na-sv-kliment-ohridski (14.09.2016). 66 „Ova e najgolemiot zafat od vakov vid vo Makedonija, so podrška [sic!] na celiot makedonski narod, makedonskite institucii, asocijacii, organizacii i firmi, kako i so maksimalna finansika poddrška na Republika Makedonija i Ministerstvoto za Kultura na Republika Makedonija.“ Zit. nach Kuzman (wie Anm. 5), S. 43. 67 Zur genauen Lage vgl. die Abbildung bei: Grozdanov (wie Anm. 15), S. 32 f.

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des Klosterkomplexes „die Demontage der Reste der Moschee“ begonnen.68 Dass es sich dabei um die Sprengung eines staatlich geschützten Denkmals handelte, erwähnt er nicht. Dies trägt erst die Vorsitzende des Zentrums für kulturelles Erbe, Donka Bardžieva-Trajkovska, in einem Artikel von 2012 nach, in dem sie sich von Kuzman distanziert.69 Im Zusammenhang mit weiteren Aktionen zur Zurückdrängung des osmanischen Erbes und muslimischer Minderheiten im Allgemeinen wird der drastische Charakter der Demontage noch deutlicher.70 Der weitere historisch-politische Kontext – die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Kosovokrise 1998/99 – erklärt diese Aggressivität gegen das osmanische Kulturerbe zwar nicht vollständig, verdeutlicht jedoch die bewusst nationalpolitische Entscheidung.71 Verstärkt wurde dieser Eindruck seitens der Regierung, in erster Linie der VMRO-DPMNE, durch die finanzielle Unterstützung der Errichtung von Kreuzen als christlichen Symbolen an markanten Stellen wie dem Millenniumskreuz auf dem Berg Vodno. In Anbetracht der bestehenden Spannungen in Mazedonien zwischen ethnischen Mazedoniern und Albanern, die sich vor dem Hintergrund des serbisch-albanischen Bürgerkriegs im Kosovo auch in Mazedonien in teils kriegerischen Auseinandersetzungen entluden, musste das als Provokation verstanden werden.72 Diese Ansicht teilt auch Maksud Ali, türkischer Autor eines Zeitungsartikels aus Ohrid, der darin das Vergessen des osmanischen Erbes und damit auch des zerstörten Imarets bedauert.73 Gleichzeitig zieht er mit dem Titel „Vom Imaret zu ‚Ohrid 2014‘“ eine Parallele zu dem umstrittenen Bauprojekt „Skopje 2014“, das nicht nur wegen seiner Konstruktion einer fragwürdigen Identität kritisiert worden ist, sondern auch wegen der Kosten, des Stils sowie der Durchführung des Projekts unter Ausschluss der Öffentlichkeit.74 Ali beanstandet dabei implizit auch den selektiven Umgang mit der Geschichte in Ohrid, der das nation branding, das Vermarkten einer Nation unterstütze. An die osmanisch-muslimische Vergangenheit von Plaošnik-Imaret erinnert heute nur noch die im Vergleich zu den anderen Gebäuden verhältnismäßig kleine Türbe Sinan Çelebis, die sich vor der geplanten Klosterunterkunft befindet (Abb. 13). Über dieses Überbleibsel der osmanischen Zeit an diesem Ort gibt es einen kurzen Beitrag im 68 Kuzman (wie Anm. 5), S. 37. 69 Bardžieva-Trajkovska, Donka: Za Pasko i (re)kreacijata na kulturnoto nasledstvo [Über Pasko und die (Re-)Kreation des kulturellen Erbes]. In: http://www.utrinski.mk/?ItemID=3363D53629827B4EAC593E3A9CFDE43B (11.09.2016). 70 Nazif, Mandaci: Turks of Macedonia. The Travails of the „Smaller“ Minority. In: Journal of Muslim Minority Affairs 27/1 (2007), S. 5–24, hier S. 12 f., 21. 71 Ebd., S. 9. 72 Ebd., S. 13; Vangeli, Anastas: Religion, Nationalism and Counter-Secularization. The Case of the Macedonian Orthodox Church. In: Identity Studies in the Caucasus and the Black Sea Region 2 (2010), S. 79–97, hier S. 90, 92 f. 73 Ali, Maksud: Od Imaret do „Ohrid 2014“ [Vom Imaret zu „Ohrid 2014“]. In: http://www.utrinski.mk/ ?ItemID=83CE26630AFBFA43A1BD9EF54B40DFF2 (13.09.2016). 74 Graan (wie Anm. 4), S. 162–164, 170.



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Abb. 13  Ohrid, restaurierte Türbe des Sinan Çelebi. Aufnahme von 2016.

Katalog „Macedonian Cultural Heritage“.75 Unbeachtet von dem Institut, das für die Neugestaltung Plaošniks zuständig ist, wurde die Türbe im Juli 2012 als Schenkung der Türkei restauriert. Dies passierte zwar in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Kultur Mazedoniens und der Islamischen Glaubensvereinigung (Islamska Verska Zaednica), es ist jedoch auffällig, dass sich lediglich die Türkei um den Erhalt des osmanischen Erbes in Mazedonien bemüht. Dies ist eine Folge des slawisch-orthodoxen Kurses der nationalen Geschichtspolitik Mazedoniens und der damit verbundenen Verdrängungspolitik gegenüber anderen kulturellen Gütern. So weist Erol Rizaov darauf hin, dass auf Plaošnik genug Platz für das christliche und das muslimische Erbe in Form der Kirche und der Moschee gewesen wäre.76 Zugleich distanziert er sich von der allgemein verbreiteten Meinung, bei der in Mazedonien 500 Jahre währenden Herrschaft des Osmanischen Reichs habe es sich um eine „verdammte türkische Knechtschaft“ gehandelt. Er kritisiert aber nicht nur die Zerstörung der Moschee als Teil des historischen Erbes Mazedoniens, sondern auch die Bereitstellung staatlicher Gelder für den Bau von Gotteshäusern: Das schütze den jeweiligen Glauben auch nicht, lautet sein Argument.77

75 Pavlov, Zoran: Sinan Çelebi’s Türbe. In: Macedonian Cultural Heritage. Hg. v. Pasko Kuzman. Skopje 2009, S. 174 f. 76 Rizaov, Erol: Pusto trusko ropstvo [Verdammte türkische Knechtschaft]. In: http://www.utrinski.mk/? ItemID=A3AEB5132257A44CB2BA74644D2BD7DA (13.09.2016). 77 Ders.: Ni se zakanuva li duchovno ropstvo [Ob uns geistige Knechtschaft droht]. In: http://www.utrinski. mk/?ItemID=AEED3A58FDCEA04697ED19BF163802FF (13.09.2016).

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Ungeachtet der Kritik an dem Projekt wird die Realität von offizieller Seite deutlich verzerrt wiedergegeben. So ist etwa die Behauptung der Verantwortlichen gegenüber der mazedonischen englischsprachigen Nachrichtenagentur „Independent“ im Jahr 2014, dass „everything is being built in Plaoshnik in line with the laws and that nothing has been destroyed“,78 nur zur Hälfte wahr, wie die Entfernung der Ruinen der Moschee zeigt. Diese ist als ein Versuch zu werten, die osmanische Vergangenheit des Ortes und damit die Tatsachen zu verschleiern. Denn trotz der Rekonstruktion der Kirche hätte es verschiedene Möglichkeiten gegeben, auf die Existenz der einstigen Moschee an dem Standort aufmerksam zu machen. Die Zerstörung der Moscheeruinen wirft schließlich auch die Frage nach dem Umgang mit dem durch die UNESCO geschützten Weltkulturerbe auf: Verstieß sie nicht nur gegen den staatlichen Schutz, sondern auch gegen die UNESCO-Auflagen? In den UNESCO-Dokumenten wird sie nicht ausdrücklich thematisiert. Im Bericht von 2013 heißt es allerdings, dass die seit 2012 vorgenommenen Baumaßnahmen des PlaošnikProjekts das Weltkulturerbe negativ beeinflussten und damit gefährdeten.79 Grund dafür seien die nicht ausreichend spezifizierten internationalen Schutzbestimmungen.80 Sowohl der Bau des Bischofssitzes als auch die Errichtung der Klosterunterkunft seien aber im Prinzip in Ordnung, so die Kommission, bei letzterer möge jedoch auf die oberste Etage verzichtet werden.81 Dagegen wird das geplante Museum schon kritischer gesehen, und zwar wegen der Sichtbeeinträchtigung durch die Wahl des Ortes und die Größe des Baus. Zudem werden „diverse architectural and design characteristics“ als Stilmischung negativ bewertet.82 Kritisiert wird auch das Ausmaß der dem Bau vorangehenden Baumfällungen, die UNESCO spricht sich dementsprechend gegen weitere Fällungen aus.83 Beanstandet wird außerdem die Unvollständigkeit der vorgelegten Pläne. Im abschließenden Urteil der Kommission heißt es dementsprechend: „The on-going construction work being carried out within the framework of the project ,Creation of St. Clement’s University in Plaoshnik‘ has already a negative impact on the visual qualities of the property and on its conditions of integrity. Therefore the mission experts considered that the whole project has to be considerably revised following the detailed recommendations given below. The current situation is an urgent matter and needs immediate attention so that the Outstanding Universal Value of the property is notfurther [sic] compromised.“84 Die Verantwortlichen in Mazedonien reagierten innerhalb kürzester Zeit und konnten 2014 vollständige Pläne vorlegen, die auch die angemahnten

78 Unrest Instead of Spiritual Serenity at Plaoshnik in Ohrid. In: http://www.independent.mk/articles/5778/ Unrest+Instead+of+Spiritual+Serenity+at+Plaoshnik+in+Ohrid#sthash.NoGqRBXX.dpuf (06.09.2016). 79 UNESCO (wie Anm. 45), S. 5, 9 f., 18, 20. 80 Ebd., S. 9, 20. 81 Ebd., S. 13. 82 Ebd., S. 14. 83 Ebd., S. 22. 84 Ebd., S. 20.



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Abb. 14  Ohrid, Plakat mit der Kirche der hll. Kliment und Pantelejmon als Wahrzeichen der UNESCOStadt Ohrid. Aufnahme von 2016.

Verbesserungen berücksichtigten.85 Die UNESCO würdigte diese Bemühungen in einer positiven Rückmeldung im Juni 2014.86 Ein wichtiger Grund für die mazedonische Seite, den Forderungen der UNESCO nachzukommen, war sicherlich die Angst vor dem Entzug des Welterbetitels für Ohrid. Denn dieser trägt dazu bei, dass nicht nur Ohrid, sondern auch die Umgebung zu einem immer beliebteren Touristenziel wird.87 Dass sich die Gemeinde Ohrid des wirtschaftlichen Faktors, Weltkulturerbestadt zu sein, durchaus bewusst ist, beweist sie mit einem entsprechenden Plakat, welches das in der Öffentlichkeit umstrittene Projekt „Plaošnik“ mit einer Abbildung der neu errichteten Kirche als Symbol für die Stadt zu legitimieren scheint (Abb. 14).

85 Republic of Macedonia (wie Anm. 46). 86 UNESCO World Heritage Committee: Decisions adopted by the World Heritage Committee at its 38th Session (Doha, 2014). [o. O.] 2014, S. 110 f. Das Dokument ist abrufbar unter: http://whc.unesco.org/ en/list/99/documents/ (22.12.2016). 87 Ickiewicz-Sawicka, Magdalena: UNESCO Architectural Objects on the Territory of the Republic of Macedonia. In: Politeja – Pismo Wydzialu Studiow Miedzynarodowych i Politycznych Uniwersytetu Jagiellonskiego 30 (2014), S. 163–174, hier S. 172 f.

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Resümee Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Bau- und Inszenierungsmaßnahmen auf dem Plaošnik-Areal in Ohrid, die sich in erster Linie auf das Werk des hl. Kliment konzentrieren. Diese Wahl der zu erinnernden Epoche ist unverkennbar. Die ältesten christlichen Bauten werden bei der derzeitigen Neugestaltung Plaošniks zwar auch berücksichtigt, sie stehen aber nicht im Mittelpunkt. Die osmanische Zeit wird dagegen nahezu vollständig verdrängt. Dabei besteht aber offenkundig keine einheitliche Vorstellung darüber, ob es sich bei dem zu errichtenden Komplex in erster Linie um ein Kloster oder um eine Universität handelt. Bischofssitz, Klosterunterkunft und Kirche sprechen eindeutig für ein Kloster. Die zu errichtende Theologische Fakultät allerdings deutet eher auf eine Bildungseinrichtung hin, die den Museumstrakt, den Konferenzsaal, die Bibliothek und einen Zweig der Mazedonischen Akademie der Wissenschaft einschließt. Diese Ambivalenz untermauert die Ausgangsthese, dass bei der Umsetzung des Projekts nicht nur geistliche, sondern auch nationalpolitische Interessen eine Rolle spielen. Dadurch wurde Plaošnik ein nationaler Erinnerungsort für die Anfänge der eigenen Kultur, der mit der Betonung des slawisch-orthodoxen Erbes gleichzeitig als nationale Kultstätte interpretiert werden kann. Die Betonung der slawisch-orthodoxen Vergangenheit des Ortes geht mit einer aktiven Verdrängung des osmanisch-muslimischen Erbes auf begrifflicher und archäologisch-architektonischer Ebene Hand in Hand. Die Erinnerungspolitik wendet sich dadurch eindeutig der byzantinischen Zeit zu und distanziert sich gleichzeitig von der 500-jährigen „türkischen Knechtschaft“. Dem hat die muslimische Gemeinschaft Mazedoniens nur wenig entgegenzusetzen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das osmanische Erbe im geplanten Plaošnik-Museum zur Geltung kommt. Die einzige Instanz, die das Bauprojekt, wenn auch bisher nur unwesentlich, beeinflusst, ist die UNESCO. Ihr neutrales Verhalten hinsichtlich der Verwaltung der zu erinnernden „Wahrheit“ fördert jedoch die nationalpolitischen Interessen. Denn sie verwendet den neu entdeckten, alle osmanisch-muslimischen Implikationen verdrängenden Begriff „Plaošnik“ ohne Weiteres und kommentiert auch die Beseitigung der Moscheeruinen nicht explizit als Eingriff in das geschützte Weltkulturerbe. Das Beispiel Plaošnik zeigt in aller Deutlichkeit, dass das bekannte Projekt „Skopje 2014“ nicht der einzige Brennpunkt der Konstruktion und Vermarktung mazedonischer Identität ist.



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Summary A medieval foundation for the late nation The reconstruction of the Christian Orthodox heritage  of the Macedonian town of Ohrid Macedonia is often cited as an example by international scholars because of its problems of identity and nation-building. These processes mostly take place on the levels of language, culture and religion, but can also be seen in architectural projects such as the controversial project ‘Skopje 2014’. Using the example of Plaošnik, the aim of the article is to show how current architectural reconstructions are influenced by national policy. Plaošnik was one of the first places in the region to be settled and also Christianized. An event which proved of historic importance for the Macedonian church and state was the arrival of St Clement, who built a new church and monastery on the ruins of an older basilica in the ninth century. Under the Ottomans, the church was destroyed and the site converted into a Muslim foundation that was remembered until the end of the twentieth century as the Imaret Mosque. In the mid-twentieth century, archaeologists began excavating the ruins of the early Christian basilica, the church built by St Clement, and the appendant buildings. In the 1960s, following the formation of an autocephalous church of Macedonia, the finds were used to strengthen the autonomy of church and people. After the independence of the Republic of Macedonia in 1999, a project was initiated to revive what St Clement had built. With the church at its heart and comprising the bishop’s see, a monastic dormitory, a theological faculty, a library, parts of the Macedonian Academy of Sciences and Art as well as an archaeological museum and a gallery of icons, it is still unclear whether it will be a monastery or university. The emphasis on Slavic Orthodox history has been underlined by the destruction and suppression of Ottoman heritage. And despite being proclaimed a World Heritage Site in 1980, UNESCO has proved uninterested in ensuring that this historically ambiguous place is fairly preserved by allowing it to be monopolized by Macedonia and all traces of its Ottoman-Byzantine past to be removed.

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Ü ber d i e A utore n Arnold Bartetzky, Prof. Dr., Leipzig: Kunsthistoriker und Architekturkritiker. Seit 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2011 Fachkoordinator für Kunstgeschichte am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig, seit 2016 zugleich Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der Universität Leipzig. Publizistische Tätigkeit, unter anderem für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Arbeitsgebiete: Architektur und politische Ikonographie seit der Frühen Neuzeit, Städtebau und Denkmalpflege vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Madlen Benthin, M. A., Leipzig: Historikerin, Fachbuchlektorin und Dozentin für Deutsch als Fremdsprache. Arbeitsgebiete: Zwangsmigrationen, Kultur und Geschichte des ländlichen Raums, Geschichtsdidaktik und Schulbuchforschung sowie Public History (vor allem Erinnerungskultur, Oral und Visual History). Jonathan Blower, Dr., London: Übersetzer (Deutsch-Englisch) für Kunstgeschichte und freier Architekturhistoriker. Dissertation über Max Dvořák und das Kulturerbe im späten Habsburgerreich. Übersetzungen unter anderem von Heinrich Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ von 1915 (Principles of Art History, Getty) und Julius von Schlossers „Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance“ von 1908 (Cabinets of Art and Curiosity, erscheint in Kürze) sowie verschiedene Artikel für die Online-Zeitschrift „Art in Translation“. Arbeitet derzeit an Übersetzungen von Harald Szeemanns Schriften. Robert Born, Dr., Leipzig und Berlin: Kunsthistoriker. Seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter und 2006–2011 zugleich Fachkoordinator für Kunstgeschichte am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Seit 1999 Lehrtätigkeit an den Universitäten Basel, Bochum, Leipzig. 2010/11 Vertretung der Professur für Kunstgeschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsgebiete: Kulturkontakte zwischen dem Osmanischen Orient und Europa, Kunsthistoriographien, Geschichtskonstruktionen und deren Visualisierung im 19.–20. Jahrhundert. Elisabeth Crettaz-Stürzel (ehemals Castellani Zahir), Dr., Fribourg: Kunst- und Architekturhistorikerin. Seit 1978 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Schweizer Denkmalpflegeämtern (Fribourg, Zürich) sowie Lehrtätigkeit für Kunstgeschichte an der Universität Zürich. 1998–2005 Forschungsauftrag des Schweizer Nationalfonds zu Identität, Heimatstil und Reformarchitektur. 2009–2013 Kuratorin der Ausstellung „Sa Majesté en Suisse – Neuchâtel et ses princes prussiens“ im Kunstmuseum Neuenburg. Seit 1996 eigenes Büro. Arbeitsgebiete: Kunst-und Architekturgeschichte seit der Frühen Neuzeit, Burgenrenaissance, Preußen in Neuenburg.



Über die Autoren

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Andreas Fülberth, Dr., Leipzig: Historiker und Philologe. Nach langjährigen Tätigkeiten an den Universitäten Münster und Kiel seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Arbeitsgebiete: Geschichte Nordosteuropas, Stadtgeschichte, bauliche Entwicklung der Städte des Baltikums. Evelyn Ivanova-Reuter, M. A., Jena: Theologin und Südosteuropawissenschaftlerin. Seit 2016 Promovendin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Fach Südosteuropastudien (und Stipendiatin des Evangelischen Studienwerks Villigst). Arbeitsschwerpunkte: Religion, interreligiöser Dialog, Heiligenverehrung, Erinnerungskulturen, Balkan als multiethnischer und multireligiöser Raum. Piotr Korduba, Dr. habil., Posen: Kunsthistoriker. Seit 2004 Assistent im Institut für Kunstgeschichte der Adam-Mickiewicz Universität Posen, 2008–2012 Vizedirektor und seit September 2016 Direktor des Instituts. Arbeitsschwerpunkte: frühneuzeitliche Wohnkultur, Wohnkultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Stadtforschung, Kunstgewerbe, Designgeschichte, deutsch-polnische Beziehungsgeschichte. Radu Lupescu, Dr., Cluj-Napoca: Historiker und Architekturhistoriker. Aktuell Dozent an der Sapientia-Universität in Cluj-Napoca und Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen und Europastudien. Arbeitsgebiete: Architektur des Mittelalters, vor allem Befestigungen, die Corvinus-Dynastie (Hunyaden-Familie), Heraldik, Denkmalrestaurierung im 19.–21. Jahrhundert. Ernő Marosi, Prof. em., Budapest: Kunsthistoriker. Emeritus des Kunsthistorischen Instituts der Eötvös-Loránd-Universität Budapest und Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (UAW), ehemaliger Direktor des Instituts für Kunstgeschichte der UAW Budapest und ehemaliger Herausgeber der Zeitschrift „Acta Historiae Artium“. Arbeitsgebiete: Kunst (vor allem) im mittelalterlichen Ungarn, Historiographie der Kunstgeschichte und der Denkmalpflege. Aleksandr Musin, Dr. habil., Sankt Petersburg: Historiker, Archäologe und Kirchenhistoriker. Seit 2000 leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Materiellen Kultur der Russischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsgebiete: Kulturtransfer zwischen dem mittelalterlichen Novgorod, Byzanz und der lateinischen Welt, Geschichte der Archäologie, Schutz des orthodoxen Kulturerbes im modernen Russland, Gebrauch und Missbrauch christlicher Ikonographie im modernen sozialen und politischen Diskurs. Małgorzata Omilanowska, Prof. Dr. habil., Warschau und Danzig: Kunsthistorikerin und Architekturkritikerin. Seit 1985 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft der Polnischen Akademie der Wissenschaften, seit 2006 zugleich Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Danzig. 2014/15 Ministerin für

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Über die Autoren

Kultur und Nationales Erbe der Republik Polen. Arbeitsgebiete: Architektur und Städtebau der Neuzeit, Denkmalpflege im 19.–21. Jahrhundert. Jan Randák, Dr., Prag: Historiker der Neueren Geschichte und Zeitgeschichte. 2006 Promotion und seit 2007 Assistenzprofessor am Institut für Geschichte Tschechiens der Karls-Universität Prag. Arbeitsgebiete: Gedächtniskultur, historische Mythen, Geschichtspolitik, tschechische Nationalbewegung, kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei. Adamantios Th. Skordos, Dr., Leipzig: Historiker. 2007–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Global und European Studies Institute der Universität Leipzig, 2011–2014 Universitätsassistent am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien, 2014–2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig, seit März 2016 zugleich wissenschaftlicher Referent des Direktors des GWZO. Arbeitsgebiete: moderne Geschichte Griechenlands und Südosteuropas, Völkerrechtsgeschichte, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Keya Thakur-Smolarek, Dr., Halle und Siegbach: Historikerin. 2002/03 Stipendiatin des Deutschen Historischen Instituts Warschau, seit 2014 Kooperationspartnerin der Projektgruppe „Geschichte bauen“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig. Seit 2016 assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien. Arbeitsgebiete: allgemeine Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Polens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Erster Weltkrieg in Ostmitteleuropa. Tomasz Torbus, Prof. Dr. habil., Leipzig, Breslau und Danzig: Kunsthistoriker. 2000– 2010 und seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig, seit 2010 zugleich Professor für Kunstgeschichte an der Universität Danzig. Tätigkeit als Reiseleiter und Reisebuchautor, unter anderem für den DuMont Reiseverlag. Arbeitsgebiete: Architekturgeschichte des Mittelalters und der Frühneuzeit in Zentral- und Ostmitteleuropa, politische Ikonographie, Denkmalpflege im 19.–21. Jahrhundert.

Abbi l d u n g sn achwe is Arnold Bartetzky: Abb. 1–2 Bartetzky, Arnold: Nation – Staat – Stadt. Architektur, Denkmalpflege und visuelle Geschichtskultur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. KölnWeimar-Wien 2012, S. 46 f.; Abb. 3, 12, 15 Archiv Arnold Bartetzky, Leipzig; Abb. 4 hercegbosna.ba; Abb. 5, 10, 13–14 Foto Arnold Bartetzky; Abb. 6 wiedziecwiecej.pl; Abb. 7 wikipedia.org/Poznaniak; Abb. 8 wikimedia.org/Rufus46; Abb. 9 landtag.brandenburg.de; Abb. 11 wikimedia.org/Jennifer Boyer. Adamantios Th. Skordos: Abb. 1 Wikipedia, https://el.wikipedia.org/wiki/%CE%91 %CE%B8%CE%AE%CE%BD%CE%B1#/media/File:Peter_von_Hess_-_The_Entry_ of_King_Othon_of_Greece_in_Athens_-_WGA11387.jpg (28.11.2016)/Gemeinfrei; Abb. 2 Wikipedia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Attica_06-13_Athens_22_ View_from_Acropolis_Hill_-_Museum_of_Ancient_Agora.jpg (28.11.2016), Foto A. Savin/Wikimedia Commons; Abb. 3 Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Griechisches_Parlament#/media/File:Hellenic_Parliament_from_high_above.jpg (28.11.2016), Foto Gerad McGovern/Creative Commons; Abb. 4 Wikipedia, https:// de.wikipedia.org/wiki/Athener_Trilogie#/media/File:Universit%C3%A4t_von_Athen. jpg (28.11.2016), Foto Thomas Wolf/www.foto-tw.de, CC BY-SA 3.0 DE; Abb. 5 Wikipedia, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Attica_06-13_Athens_28_Academy_ of_Athens.jpg (28.11.2016), Foto A. Savin/Wikimedia Commons; Abb. 6 Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Athener_Trilogie#/media/File:Griechische_Nationalbibliothek.jpg (28.11.2016), Foto Thomas Wolf/www.foto-tw.de, CC BY-SA 3.0 DE; Abb. 7 Wikipedia, https://el.wikipedia.org/wiki/%CE%A0%CE%B1%CE%BD%CE%B1%C E%B8%CE%B7%CE%BD%CE%B1%CF%8A%CE%BA%CF%8C_%CE%A3%CF %84%CE%AC%CE%B4%CE%B9%CE%BF#/media/File:Kallimarmaron_stadium. JPG (28.11.2016), GNU Free Documentation Licence. Elisabeth Crettaz-Stürzel: Abb. 1 Ebhardt, Bodo: Die Hohkönigsburg. Deutsche Burgen. 1. Supplementbd. Berlin 1908, Vorsatz; Abb. 2 Ebhardt, Bodo: Der Wehrbau Europas im Mittelalter. Bd. 1. Stollhamm/Odbg. 1939, Taf. 76; Abb. 3, 6, 8–12, 16, 19 Archiv Elisabeth Crettaz-Stürzel, Zinal, Foto (Abb. 3) Jochen Kaulfersch und (Abb. 19) Stanisɫawa Jajabɫonska; Abb. 4, 7 Schloß Marienburg in Preußen. Das Ansichtenwerk von Friedrich Gilly und Friedrich Frick. In Lieferungen erschienen von 1799 bis 1803. Neu hg. v. Wilhelm Salewski. Düsseldorf 1965 [Nachdruck von 1803], Taf. VII, Taf. XI; Abb. 5, 20 Connaissance des Arts. Sonderheft Haut-Koenigsbourg. Strasbourg-Paris 1996, Abb. 25 und Titelseite; Abb. 13–15 Steinbrecht, Conrad: Die Wiederherstellung des Marienburger Schlosses. In: Centralblatt der Bauverwaltung 36 (1896), S. 411, Abb. 5, S. 413, Abb. 9, S. 412, Abb. 8; Abb. 17–18 Hansi: Die Hohkönigsburg im Wasgenwald und ihre Einweihung. 16 Bilder von Hansi. Text von Prof. Dr. Knatschke. Mülhausen 1908, Taf. 2 und 4.

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Abbildungsnachweis

Radu Lupescu: Abb. 1 Szathmári, Pap Károly: Erdély képekben [Siebenbürgen auf Bildern]. Kolozsvár 2012, S. 153; Abb. 2 Möller, István: A vajda-hunyadi vár építési korai [Die Bauepochen der Burg zu Vajdahunyad]. Budapest 1913, S. VI; Abb. 3–7 Forster Központ (Forster-Zentrum), Budapest, Planarchiv; Abb. 8–9 Archiv Radu Lupescu, Cluj-Napoca. Jonathan Blower: Abb. 1, 7–8 Bulić, Frane: Kaiser Diokletians Palast in Split. Zagreb 1929, Taf. 26 a, Taf. 44, Taf. 38; Abb. 2–5 Niemann, George: Der Palast Diokletians in Spalato. Wien 1910, Taf. 18, Taf. 1, S. 4, Abb. 4, Taf. 5; Abb. 6 Eitelberger, Rudolf: Die mittelalterlichen Kunstdenkmale Dalmatiens in Arbe, Zara, Traù, Spalato und Ragusa. In: Jahrbuch der Kaiserl. Königl. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 5 (1861), S. 129–312, Taf. xv. Robert Born: Abb. 1, 4 Lugli, Giuseppe: La Romanità della Dacia. In: L’Illustrazione Italiana 66/4 (1939), S. 141–144; Abb. 2 Das Monument von Adamklissi. Tropaeum Traiani. Hg. v. Grigore George Tocilesco unter Mitwirkung v. Otto Benndorf und George Niemann. Wien 1895, Taf. I; Abb. 3 Furtwängler, Adolf: Das Tropaion von Adamklissi und die provinzialrömische Kunst. München 1903 (Denkschriften der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 74/3), Taf. I; Abb. 5 Cordoneanu, Maria/ Nedel, Victoria: 100 de … monumente şi locuri istorice ale patriei [100 ... Denkmäler und historische Stätten des Vaterlands]. Bucureşti 1977; Abb. 6–7 Rădulescu, Adrian: Un act de semnificaţie patriotică: Reconstruierea monumentului tiumfal de la Adamclisi [Ein Akt von patriotischer Bedeutung. Die Wiedererrichtung des Triumphdenkmals von Adamclisi]. In: Pontica 10 (1977), S. 9–14; Abb. 8 Fototeca online a comunismului românesc (Online-Fotothek des rumänischen Kommunismus), Cota: 100/1977, Foto #LA482, https://fototeca.iiccr.ro. Keya Thakur-Smolarek: Abb. 1 Warszawa.wikia.com/Library of Congress, Prints and Photographs Division; Abb. 2 Wikimedia Commons/Sammlung Karol Beyer; Abb. 3 Wikimedia Commons/Sammlung Marek Tuszyński; Abb. 4 Tygodnik Illustrowany, 18.9.1915; Abb. 5 Tygodnik Illustrowany, 25.9.1915; Abb. 6 Archiwum Państwowe m. st. Warszawy (Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau); Abb. 7 Tygodnik Illustrowany, 8.4.1916; Abb. 8–11 Szyller, Stefan: Czy mamy polską architekturę? [Gibt es eine polnische Architektur?]. Warszawa 1916, Deckblatt, S. 7, 39, 18; Abb. 12 Dettloff, Paweł: Odbudowa i restauracja zabytków architektury w Polsce w latach 1918–1930 [Der Wiederaufbau und die Restaurierung von Baudenkmälern in Polen in den Jahren 1918–1930]. Kraków 2006; Abb. 13 Wikimedia Commons/zeitgenössische Postkarte; Abb. 14 Jankowski, Aleksander: Warszawa (Warschau). Poznań 1933, S. 122. Małgorzata Omilanowska: Abb. 1, 6–14, 19–20 Instytut Sztuki Polskiej Akademii Nauk, Warszawa (IS PAN; Institut für Kunstgeschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau), Neg.-Nr. 99572, Neg.-Nr. 1568, Neg.-Nr. 99569, Neg.Nr. 1556, Neg.-Nr. 1554, Neg.-Nr. 1553, Neg.-Nr. 1551, Neg.-Nr. 7524, Neg.-Nr. 7526,



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Neg.-Nr. 7528 b, Neg.-Nr. 69094, Neg.-Nr. 80155; Abb. 2–5 Przegląd Techniczny 19–20 (1916), S. 194, 196 f., 206; Abb. 15–18 Archiv Małgorzata Omilanowska, Warschau. Piotr Korduba: Abb. 1, 7 Muzeum Warszawy (Museum der Stadt Warschau); Abb. 2, 6, 9 Polska Agencja Prasowa (Polnische Presseagentur); Abb. 3–4, 10–11 Bierut, Bolesław: Sześcioletni plan odbudowy Warszawy [Der Sechsjahrplan für den Wiederaufbau Warschaus]. Warszawa 1951, S. 328, 228; Abb. 5 Instytut Sztuki Polskiej Akademii Nauk (IS PAN), Warszawa (Institut für Kunstgeschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau); Abb.  8, 13–15 J ankowski , Stanisław: MDM. Marszałkowska 1730–1954 [Wohngebiet Marszałkowska Dzielnica Mieszkaniowa. Marszałkowska-Straße 1730–1954]. Warszawa 1955, S. 359, 94, 295, 87; Abb. 12 Narodowe Archiwum Cyfrowe, Warszawa (Nationales Digitalarchiv, Warschau). Tomasz Torbus: Abb. 1–3 Archiv Jacek Friedrich, Danzig; Abb. 4 Muzeum Architektury we Wrocławiu (Architekturmuseum Breslau); Abb. 5, 7, 9–13, 15, 17–18 HerderInstitut, Marburg, Bildarchiv, Inv.-Nr. IH BAG_5036 – Sammlung Poklekowski, Inv.Nr. 51367 – Foto Franz Hein, Inv.-Nr. BAG_1817, Inv.-Nr. 148701 – Foto Stefan Arczyński, Inv.-Nr. 4d7802 – Sammlung Poklekowski, Inv.-Nr. 57769 – Sammlung Hansa-Luftbild, Inv.-Nr. 72274, Inv.-Nr. 63155, Inv.-Nr. 53586 – Sammlung NBA, Inv.-Nr. 300131 – Foto Stefan Arczyński; Abb. 6 Foto Christofer Herrmann; Abb. 8 Archiv Via Nova, Breslau; Abb. 14 Złoty wiek Pomorza. Sztuka na dworze ksia̢ża̢t pomorskich w XVI i XVII wieku / Das goldene Zeitalter Pommerns. Kunst am Hofe der Herzogen von Pommern im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. Rafał Makała. Szczecin 2013, S. 23; Abb. 16 Archiv Tomasz Torbus, Leipzig; Abb. 19 Muzeum Piastów Śląskich, Brzeg (Museum der schlesischen Piasten, Brieg); Abb. 20–22 Muzeum Zamkowe w Malborku (Burgmuseum Marienburg), Inv.-Nr. 1655 a – Foto Władysław Hodakowski, Foto Lech Okoński und Inv.-Nr. 947; Abb. 23–24 Foto Anna Perz. Jan Randák: Abb. 1–3 Kubíček, Alois: Betlemská kaple [Die Bethlehemskapelle]. Praha 1953, S. 64–65, 40–41, 80; Abb. 4 Wikipedia/Wikipedista; Abb. 5–8 Foto Jan Randák. Ernő Marosi: Abb. 1, 20 Archiv Ernő Marosi, Budapest; Abb. 2 Metszet 5 (September–Oktober 2016), S. 8; Abb. 3, 13, 21–22 Foto Ernő Marosi; Abb. 4–5 Prokopp, Mária/Wierdl, Zsuzsanna/Vukov, Konstantin: A feltárástól – az újjászületésig. Az esztergomi királyi várkápolna története [Von der Erschließung bis zur Wiedergeburt. Die Geschichte der königlichen Palastkapelle in Gran]. Esztergom 2014, Abb. 101 und 99; Abb. 6 Foto Allexkoch (eigenes Werk), CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons. org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons; Abb. 7 Foto Mediatus (eigenes Werk), CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons; Abb. 8 Foto Michael Clarke Stuff – Merchant House 01, CC BY-SA 2.0 (https:// commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24331122), via Wikimedia Commons;

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Abb. 9 Foto Puffancs (Indafotó), CC BY-SA 2.5 hu (https://commons.wikimedia.org/w/ index.php?curid=17145627), via Wikimedia Commons; Abb. 10 Foto Fortepan – ID 4055: Adományozó/Donor: Gyöngyi, CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/ licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons; Abb. 11 Foto Christo (eigenes Werk), CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), via Wikimedia Commons; Abb. 12 Foto Daniel Kovacs (eigenes Werk), CC BY-SA 3.0 (http://creative commons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons; Abb. 14 Magyar királyi és főrendi síremlékek. Gótikus baldachinos síremlékek a középkori Magyarországon [Grabmäler ungarischer Könige und Aristokraten. Gotische Baldachingrabmäler im mittelalterlichen Ungarn]. Hg. v. Zoltán Deák. Budapest 2004, Abb. 206 f.; Abb. 15 Foto Pudelek (eigenes Werk), CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/ by-sa/4.0), via Wikimedia Commons; Abb. 16 Foto Honza Groh (Jagro; eigenes Werk), CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons; Abb. 17 Foto Derzsi Elekes Andor (eigenes Werk), CC BY-SA 4.0 (http:// creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), via Wikimedia Commons; Abb. 18 Foto Alensha (eigenes Werk), CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), via Wikimedia Commons; Abb. 19 Béla Balla (Indafotó), CC BY-SA 2.5 hu (http:// creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/hu/deed.en), via Wikimedia Commons. Aleksandr Musin: Abb. 1 Nacional’na Akademija nauk Ukraïny (Nationale Akademie der Wissenschaften der Ukraine), Kiew, Archiv des Instituts für Archäologie, Sammlung 13, Mappe Nr. 9 b; Abb. 2–4, 7, 9 Rossijskaja Akademija Nauk, Sankt-Peterburg (Russische Akademie der Wissenschaften, Sankt Petersburg), Fotografieabteilung des Wissenschaftlichen Archivs des Instituts für Geschichte der materiellen Kultur, Neg.Nr. II 30906, Neg.-Nr. III 5566, Abdruck-Nr. Q. 331/52, Neg.-Nr. I 65457, Neg.Nr. I 65177; Abb. 5 Chram Christa Spasitelja v Moskve. Istorija proektirovanija i sozdanija sobora, stranicy žizni i gibeli 1813‒1931. Fotoal’bom [Die Christ-ErlöserKathedrale in Moskau. Geschichte der Planung und Errichtung des Doms, Seiten aus dem Leben und Untergang 1813‒1931. Ein Fotobildband]. Hg. v. Evgenija Kiričenko und Galina Ivanova. Moskva 1992, S. 234 f.; Abb. 6 Foto Gasan Gusejnov; Abb. 8 Foto Andrej Čekanovskij; Abb. 10 Nationales historisch-kulturelles Denkmalschutzgebiet Kiewer Höhlenkloster, Kiew – mit Erlaubnis des Museums; Abb. 11 Computergraphik Svetlana Bočarova; Abb. 12 Computergraphik Svetlana Bočarova, Autor der eingefügten Grundrisse Denis Ëlšin, Aufnahme Vladimir Hnera, 29. März 2016. Museum der Geschichte der Desjatinenkirche, Kiew – mit Erlaubnis des Museums und der Autoren. Andreas Fülberth: Abb. 1, 3–4, 6 Herder-Institut, Marburg, Bildarchiv; Abb. 2 Archiv Arnold Bartetzky, Leipzig; Abb. 5 Lietuvos Didžiosios Kunigaikštystės valdovų rūmai ir jų atkūrimas europinės patirties kontekste. Tarptautinės mokslinės konferencijos medžiaga, 2006 m. spalio 11–12 d., Vilnius / The Palace of the Grand Dukes of Lithuania and its Restoration within the Context of the European Experience. Materials of the International Scientific Conference, 11–12 October 2006, Vilnius. Hg. v. Vydas



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Dolinskas und Daiva Steponavičienė. Vilnius 2009, S. 32; Abb. 7 Foto Roland Struwe/ de.wikipedia.org; Abb. 8–10 Foto Arnold Bartetzky. Evelyn Ivanova-Reuter: Abb. 1 Foto Ina Reuter; Abb. 2–14 Foto Evelyn IvanovaReuter.

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Person en re giste r Adickes, Franz  191 Aehrenthal, Alois Lexa von  129 Agamemnon 45 Alexander der Große, König von Makedonien 58 Alexander I., Zar von Russland  328, 332, 333 Alexander II., Zar von Russland  157, 164 Alexander III., Zar von Russland  157, 338 Alexander, König von Griechenland  56 Alexander, Markgraf von AnsbachBayreuth 67 Ali, Maksud  394 Alpár, Ignác  108 Andrássy, Gyula  296 Andrić, Vinko  118, 119, 122 Anna Jagiello, Prinzessin von Polen  254 Antonescu, Ion  144 Antonjuk, Anatolij  347 Apollodor von Damaskus  140 Arányi, Lajos  93, 94, 100, 111 Argyros, Athanasios A.  49 Assmann, Aleida  378 Assmann, Jan  378 Atatürk, Kemal  40, 61 Averof, Georgios  54 Bardžieva-Trajkovska, Donka  394 Bareš, Gustav  273 Bartłomiejczyk, Edmund  189 Basileios II., Kaiser von Byzanz  58 Bellotto, Bernardo, genannt Canaletto  217 Benndorf, Otto  126, 135, 137 Beseler, Hans von  167, 183 Bethmann Hollweg, Theobald von  165 Beyer, Karl Adolf  217 Bierut, Bolesław  212, 215, 219, 223, 238, 243, 265 Bittner, Regina  22, 35 Blankenstein, Hermann  77, 79 Bogislaw X., Herzog von Pommern  254 Bogusławski, Jan  230 Bogusławski, Wojciech  204 Boisserée, Sulpiz  73 Bolesław I., König von Polen  252

Boris I., Zar von Bulgarien  379 Borowski, Jan  237–239, 241, 260, 265, 266 Botticelli, Sandro  293, 299 Boym, Svetlana  338 Brandel, Konrad  217 Braun, Georg  359 Brazauskas, Algirdas  361, 369 Bredekamp, Horst  37 Bukowiński, Bronisław  182 Bukowski, Marcin  243, 249, 265, 266 Bulić, Frane  126, 127 Burckhardt, Jakob  68, 77, 85 Buzás, Gergely  313, 314 Bystydzieński, Maksymilian  186, 189 Carabelli, Giulia  35 Caro, Georg  183, 184, 206 Carol I., König von Rumänien  138 Carol II., König von Rumänien  141, 142 Caune, Andris  565 Ceauşescu, Nicolae  19, 147, 150–155 Cegăneanu, Spiridon  145 Çelebi, Sinan  380, 391, 394, 395 Cereteli, Zurab  336 Cesarini, Julian  277 Cézanne, Paul  293 Chrzanowski, Józef  204 Costenoble, Johann Conrad  74 Coubertin, Baron Pierre Fredy de  53 Cristinel, George  141 Cucu, Nicolae  145 Cybichowski, Stefan  197 Czerner, Olgierd  266 Decebalus, König von Dakien  147 Dehio, Georg  29, 76, 81, 85 Diller, Erich von  166 Diokletian, Kaiser des Römischen Reiches  116, 123, 129 Domaniewski, Czesław  181 Dominiczak, Jacek  268 Dositej, Bischof von Ohrid  382 Drexler, Ignacy  190 Drost, Willi  239



Personenregister

Dumba, Nikolaus  135 Dutkiewicz, Józef  173 Dvořák, Max  29, 127, 213 Dygat, Antoni  189, 190 Dziewulski, Leon  188, 197 Dziurla, Henryk  254 Eber, Edward  197 Ebhardt, Bodo  21, 62–66, 81, 85–88 Eichendorff, Joseph Freiherr von  77 Eitelberger, Rudolf  23, 118–120, 122, 129 Ekielski, Władysław  188 Elisabeth, Kaiserin von Österreich-Ungarn  95, 99, 107 Elisabeth, Königin von Preußen  76 Feliński, Roman  189, 190 Ferri, Silvio  143, 144, 146, 148 Finály, Henrik   94 Florenskij, Pavel  333 Fragner, Jaroslav  280 Franz Joseph I., Kaiser von ÖsterreichUngarn  95, 111, 115, 118, 124, 294 Frick, Friedrich  65, 71, 72 Friedjung, Heinrich  128, 129 Friedrich I., König von Preußen  88 Friedrich I., Kurfürst von Brandenburg  277 Friedrich II. (der Große), König von Preußen  66, 67, 70, 88, 257 Friedrich II., Landgraf von Hessen-Kassel  67 Friedrich III., Deutscher Kaiser  83 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen  71 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen  70, 73, 76, 77, 95 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen  69, 71, 73 Friedrich (Wilhelm Ludwig), Prinz von Preußen  74, 76 Friedrich, Caspar David  69 Friedrich, Jacek  238, 240, 266, 268 Fuchs, Monique  88 Furtwängler, Adolf  136, 137, 149 Gałęzowski, Józef  188 Gärtner, Friedrich von  48 Gel’frejch, Vladimir  14, 334, 335 Georg II., Herzog von Brieg  257 Georgievski, Ljubčo  389

Gercen, Aleksandr  332 Geymüller, Heinrich von  77, 85, 87 Gheorghiu-Dej, Gheorghe  147 Ghika-Budeşti, Nicolae  144 Gierek, Edward  257 Gilly, David  71 Gilly, Friedrich  65, 70, 71, 73 Goethe, Johann Wolfgang von  67, 68, 70 Goldzamt, Edmund  219 Gomułka, Władysław  230, 257 Görres, Joseph  73 Górski, Karol  263 Goryński, Juliusz  238 Gravier, Alfons  182 Grisebach, Helmuth  191–196, 206, 207 Gruevski, Nikola  60 Gucci, Santi  199 Gutt, Romuald  189 Häbler, Wilhelm Ludwig  74 Hahn, Konrad  182, 184 Halbwachs, Maurice  378 Handzelewicz, Józef  189 Hansen, Hans Christian  49, 52 Hansen, Theophil  52 Hardenberg, Karl August von  73 Hase, Conrad Wilhelm  78 Hauser, Alois  119, 120, 121, 124, 222 Hauszmann, Alajos  294, 296 Heinrich II., Heiliger, Kaiser des Heiligen römischen Reiches  162 Held, Karl Samuel  242 Henszlmann, Imre  304 Herder, Johann Gottfried von   68 Herrmann, Martin  191 Herzen, Alexander → Gercen, Aleksandr Heurich, Jan  182, 188, 197 Heyman, Marcin  188 Hindenburg, Paul von  166 Hofmann, Andreas R.  130, 232, 352 Hogenberg, Franz (Frans)  359 Holcmanis, Andrejs  364 Horthy, Miklós  294 Hugo, Victor  67 Hunyadi, Johann (János)  100, 107 Hus, Jan  18, 272–290 Iliescu, Ion  154

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Personenregister

Inönü, Ismet  57 Iofan, Boris  334, 335 Iorga, Nicolae  138, 144 Jabłoński, Władysław  188 Jakimowicz, Konstanty  188, 197 Jan aus Kolno  252 Jank, Christian  79 Jankowski, Karol  182, 188, 197 Janukowytsch, Wiktor  348 Jażdżewski, Konrad  270 Jelzin, Boris  14, 336, 339 Jesus von Nazaret  352 Johann III. Sobieski, König von Polen  242 Johannes Scolvus →Jan aus Kolno Julie, Gräfin von Brandenburg-Dönhoff  71 Juschtschenko, Wiktor  14, 347 Jussow, Heinrich Christoph  68 Kadłubowski, Lech  240 Kalinowski, Zdzisław  181, 187, 189, 197 Kapodistrias, Ioannis  40, 45 Karwaciński, Jan  188, 189 Kasimir der Große, König von Polen  246 Kasimir IV. Jagiełło, König von Polen  262– 264 Kazakov, Matvej  339 Khuen-Héderváry, Ban  123, 124 Kilarski, Jan  239 Kinsky-Wilczek, Gräfin Elisabeth  86 Kirchbach, Günther von  180 Kleanthis, Stamatios  40, 45–47 Klenze, Leopold Franz Karl von  46–48 Kliment von Ohrid  379–398 Kłos, Juliusz  204 Knapp, Heinrich  84 Kochanowski, Jan  240 Kogălniceanu, Mihail  134, 135 Kolumbus, Christoph  252 Kondylis, Georgios  57 Konstantin I., König von Griechenland  53, 54, 56 Kopernikus, Nikolaus  240 Korecki, Konrad  189 Kościuszko, Tadeusz  167, 175 Kossinna, Gustaf  139 Kowalski, Gerard  188 Kozina, Irma  256

Kozłowski, Mieczysław  189, 190 Kramarczyk, Stanisław  255–257, 259, 265, 266 Kratochvíl, Miloš Václav 277 Kries, Wolfgang von  182–184 Krugljak, Elena  348, 349 Krzywda-Polkowski, Franciszek  189, 204 Krzyżagórski, W.  197 Kubíček, Alois  278, 281 Kubitschek, Wilhelm  123, 126 Kuhn, Wilhelm  74 Kuper, Jurij  340 Kutschma, Leonid  342, 346, 347 Kuzman, Pasko  376, 380, 393, 394 Kyrill aus Thessaloniki  379 Ladislaus I., König von Ungarn 104 Lajta, Béla  311 Lalewicz, Marian  204 Lassaux, Johann Claudius von  74 Lauterbach, Alfred  204 Ledoux, Claude-Nicolas  70 Lenin, Wladimir Iljitsch  363 Leonidas I., König von Sparta 58 Lilpop, Franciszek  188 Ljubimov, Leonid  343 Loewe, Kazimierz  197 Lónyay, Menyhért  94, 99 Lorentz, Stanisław  237, 238, 262, 266 Ludwig I., König von Bayern  46, 48 Ludwig II., König von Bayern  79, 95 Ludwig XVI., König von Frankreich  70 Luise, Königin von Preußen  69 Lužkov, Jurij  336 Magritte, René  27 Maicu, Horia  145 Majewski, Piotr  219 Małachowicz, Edmund  266 Marcu, Duiliu  142 Marmont, Auguste-Frédéric-Louis Viesse de 122 Martens, Michael  59 Matejko, Jan  171, 263 Mauerer, Franciszek  256, 266 Maurer, Georg Ludwig von  43 Maximilian, Prinz von Bayern  47 Merian der Ältere, Matthäus  69, 253, 254



Personenregister

Metaxas, Anastasios  54 Metaxas, Ioannis  19, 57 Method aus Thessaloniki  379 Michail Romanow, Zar von Russland  336 Michalski, Władysław  189 Mieszko I., Herzog von Polen  184 Milić, Vinko  124, 126, 128 Mindaugas I., König von Litauen  371 Mirošnyčenko, Jurij  348 Młynarski, Wincenty  188 Moller, Georg  73 Molotov, Vjačeslav  226 Monet, Claude  293 Morelowski, Marian  259, 266, 357 Moritz, Kinga Éva 110 Mörsch, Georg  24, 25, 29 Mühlheim, Johann  289 Mussolini, Benito  57 Naef, Albert  76, 81, 85–87 Napoleon Bonaparte, Kaiser von Frankreich  72, 73 Napoleon III., Kaiser von Frankreich  78, 95 Naum von Ohrid  382 Nebbien, Christian Heinrich  294 Nejedlý, Zdeněk  276, 278, 283, 284, 286–288 Nerdinger, Winfried  8 Neroulos, Iakovos Rizos  42 Neruda, Pablo  237 Nestrypke, Albert  204 Newski, Alexander  162 Niemann, George (oder Georg)  114, 115, 117, 126, 127, 130, 135–137 Nikloaus I., Zar von Russland  163, 175, 330, 333, 339 Nora, Pierre  378 Obolenskij, Andrej  339 Odobescu, Alexandru Ioan  134, 135 Olin, Margaret  129 Olivová-Pávová, Věra  275 Omel’čenko, Oleksandr  347 Orwell, George  352 Osgyányi, Vilmos  315 Otto Friedrich Prinz von Wittelsbach, König von Griechenland  39, 41, 42, 44, 47, 49, 60 Pajzderski, Sylwester  202–204, 206

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Papadopoulos, Georgios  58 Paprocki, Adam  189 Parczewski, Alfons  182, 189 Pâris, Piere Adrien  70 Parr, Franziskus  257, 260 Paskali Buntaševska, Tanja  385, 387 Paskali, Todor  385 Paskewitsch, Iwan  163, 164, 175 Pawson, John  321 Pellicioli, Mauro  299 Peter der Große, Zar von Russland  329 Petersen, Heidemarie  207 Piacentini, Marcello  142 Piátsek, Gyula  97, 107 Piotrowski, Roman  212 Piper, Otto  63, 81, 87 Pippo Spano di Ozora, Graf  319, 320 Piwocki, Ksawery  234 Poddębski, Henryk  216 Podlewski, Wacław  224 Polenaković, Haralampie  283 Pomponiu, Constantin  141 Poniatowski, Józef  175 Posochin, Michail  336 Prądzyński, Teodor  183, 197 Preusker, Hermann  180 Próchnik, Józef  204 Przesmycki, Zenon  200 Przybylski, Czesław  181, 182, 204 Ptolemäus, Claudius  179 Pučiņš, Edgars  363 Pusback, Birte  238, 267 Quast, Ferdinand von  76, 77 Raciborski, Józef  204 Rădulescu, Adrian  26, 150 Rahn, Johann Rudolf  85 Rákóczi, Ferenc II.  296 Rastrelli, Bartolomeo  347 Ratajczak, Tomasz  25 Raynal, Abbé Guillaume Thomas François de 70 Rembrandt (Harmensz van Rijn)  293 Rezanov, Aleksandr  330 Riegl, Alois  29, 76, 80, 81, 122–127, 129, 131, 213, 291, 293, 301 Rizaov, Erol  395

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Personenregister

Rousseau, Jean-Jacques  68, 70 Rudnev, Lev  226 Rudolf, Kronprinz von Österreich-Ungarn  94 Rusovan, Dan  148 Rymarkiewicz, Kazimierz  181, 182, 188 Šafarevič, Igor  336 Samuil, Zar von Bulgarien  58, 379, 387 Saski, Kazimierz  189 Schaubert, Gustav Eduard  40, 45–47 Schenkendorf, Max von  71 Schinkel, Karl Friedrich  45, 47, 72–74, 88, 90 Schlegel, Friedrich  67 Schlossberg, Abraham  367 Schmidt, Friedrich  93, 97, 98, 100–102, 105, 106 Schmieden, Heino  135 Scholtz, Kazimierz  184 Schön, Theodor von  74 Schulcz, Ferenc  93, 97–101, 104, 106, 107, 111 Schulek, Frigyes  93, 97 Schwechten, Franz  64 Ščuko, Vladimir  334, 335 Sedlmayr, János  308 Seton-Watson, Robert William  124 Ševkunov, Tichon  340 Siciński, Karol  197 Sierecki, Sławomir  264 Sigalin, Józef  211, 212 Sigismund I. (der Große)  357 Sigismund II. August, König von Polen  241, 357 Sigismund von Luxemburg, König von Ungarn 320 Sinas, Baron Simon  52 Skopetea, Elli  44 Smirnov, Dmitrij  340 Smodlaka, Josip  124 Smuglewicz, Franciszek  359, 360 Solouchin, Vladimir  336 Stalin, Josef  210 Stasov, Vasilij  328 Stasov, Vladimir  332 Stauffert, Friedrich  44 Štech, Václav Vilém  272, 276 Stein, Rudolf  248, 249, 256, 271 Steinbach, Erwin von  67

Steinbrecht, Conrad  73, 79, 81–84, 86, 88, 90 Steindl, Imre  93, 97, 100–107, 111, 296 Stephan I., König von Ungarn 104 Stępiński, Zygmunt  227 Storno, Ferenc  107, 321 Störtkuhl, Beate  30, 206 Stüler, Friedrich August  77 Svoboda, Adolf  283 Świechowski, Zygmunt  257 Sygietyński, Antoni  197 Szakál, Ernő  312 Szanior, Tadeusz  188 Székely, Bertalan  107 Szekér, György  314 Szyller, Stefan  29, 169, 170–172, 186, 188, 197, 199–204, 206 Teleki, József  108 Teodoru, Horia  146 Theotokis, Nikolaos  56 Thorvaldsen, Bertel  175 Thum, Gregor  242, 249, 270 Tichy, Karol  197 Tizian (Tiziano Vecellio)  293 Tocilescu, Grigore G.  133–135, 137, 138, 149 Tołłoczko, Kazimierz  189, 197, 198 Tołwiński, Tadeusz  189, 211 Tomaszewski, Andrzej  231 Tomaszewski, Wacław  197–199 Ton, Konstantin  328, 330, 333, 334, 337 Trajan, Kaiser des Römischen Reiches  134, 138, 140, 141, 143, 147, 154, 156 Trikoupis, Charilaos  54 Troger, Paul  308 Trubeckoj, Evgenij  14, 332 Trumbić, Ante  124, 128 Tzigara-Samurcaş, Alexandru  144, 145 Vallianatos, Andreas  52 Vallianatos, Marinos  52 Vallianatos, Panagis  52 Van Gogh, Vincent  293 Vávra, Jindřich  285, 286 Venizelos, Eleftherios  56, 57 Verrocchio, Andrea del  320 Viollet-le-Duc, Eugène  69, 77, 100 Vitberg, Aleksandr  328–330, 332 Vitéz, Johannes  299



Personenregister

Volmar, Erich  239 Wagner, Richard  78 Waltz, Jean-Jacques (Hansi)  87 Wdowiński, Zygmunt  216 Wenzel IV., König von Böhmen  289 Wiclif, John  289 Wilczek, Graf Hans von  79–81, 85–87 Wilhelm II., Deutscher Kaiser  21, 25, 62, 64, 66, 69, 81, 85, 86, 88, 260 Wilms, Ernst  183 Wiśniowski, Teofil  182 Wladimir I. (der Große), Großfürst von Kiew  325 Wnukowa, Józefa  240 Wójcicki, Zygmunt  186, 189 Wojciechowski, Jarosław  185, 188, 197 Wojciechowski, Stanisław  174

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Wóycicki, Zygmunt  197–199 Wyatville, Jeffry  74 Wyka, Kazimierz  210 Ybl, Miklós  296 Zachwatowicz, Jan  29, 30, 211–213, 223, 224, 231, 234, 238, 256, 257, 265, 267 Zakrzewska, Janina  205 Zappas, Evangelos  52, 53 Zarębska, Teresa  190, 194, 205, 206 Zaremba, Piotr  251, 252, 266 Zborowski, Bruno  189, 197, 198 Zieliński, Andrzej  202 Zieliński, Tadeusz  186, 189, 197, 198, 199, 206 Žižka, Jan  287 Zlat, Mieczysław  257, 260 Żurkowski, Bolesław  189, 190

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O rt s- u n d O bje k tre giste r Adamclisi  Tropaeum Traiani  17, 19, 132–155 Adamklissi → Adamclisi Alexandria 54 Athen  15, 19, 39–61   Akademie  49, 50, 52   Akropolis  46, 47–49, 57  Boubounistra-Tor 48   Hafen von Piräus  48   Kirche des Agios Asomatos  44   Nationalbibliothek  49, 51, 52   Panathenäisches Stadion  15, 19, 24, 46, 47, 51–59  Parthenon 49, 60   Universitätsgebäude  44, 49, 50, 52 Avignon 313 Balga Schlossruine 83 Bayreuth 67 Belgrad 382 Benevent Trajansbogen 143 Berlin  47, 62, 63, 71, 77, 81, 83–86, 128, 134, 183, 184, 206, 283   Bauakademie  45, 46, 77  Museumsinsel 294  Neues Museum 27   Palast der Republik  30  Pergamonmuseum 143, 183  Pfaueninsel 68   Stadtschloss  7, 24, 30 Bitola Universität 383 Bolzano → Bozen Bozen Siegesdenkmal 142 Brandenburg Schlossruine 83 Bratislava 93 Braunschweig  Schloss  7 Breslau  14, 30, 182, 183, 235, 242–251, 256, 257, 265–270  Dom 243, 269  Dominsel 269   Haus „Zu den Sieben Kurfürsten“  245, 246   Haus „Zur Goldenen Krone“  246, 247  Königsschloss 249   Marienkirche auf dem Sande  244, 246

  plac Tadeusza Kościuszki  243  Rathaus 243   Ring  248, 256, 265  Universität 243   Zeughaus  243 Brest  158, 325 Brieg  Schloss  235, 236, 254, 256–260, 265, 269 Brüssel Rathaus 74 Brzeg → Brieg Brześć → Brest  Budapest  93, 113, 122, 124, 303, 311   Andrássy-Allee  293  Burgpalast 294, 295  Burgviertel 307   Denkmal für Gyula Andrássy  296   Denkmal für István Tisza  296   Denkmal für Lajos Kossuth  296  Ethnographisches Museum 294   Gelände der Landesausstellung  108–110, 294   „Haus ungarischer Musik“  294  Heldenplatz 311  Historisches Museum 294  Kossuthplatz 311  Kunsthalle 294  Liebfrauenkirche 309   Museum der Bildenden Künste  294  Neue Nationalgalerie 294   Orpheum Parisiana (Neues Theater)  312  Parlament 97   Sándor-Palast  294   Schloss Eszterháza  297   Stadtwäldchen  108–110, 294  Széchényi-Nationalbibliothek 311   Tárnok-Straße 14  306  Theater 294   Verkehrsmuseum  294, 296 Bukarest  132–135, 139–141, 143, 144, 148, 152   Gedenkstätte an den Unbekannten Soldaten 140  Kunstpalast 138–140



Orts- und Objektregister

  Nationalmuseum der Geschichte Rumäniens (auch Museum für Volkskunde und nationale Kunst oder Carol-I.-Museum für nationale Kunst)  144, 146, 151 Burg Hohenzollern  64, 77 Calisia → Kalisz Callatis 132 Carcassonne 10 Chełmża → Kulmsee Constanța  132, 133, 150, 152 Danzig  30, 74, 85, 235–243, 246, 249–251, 265–270  Artushof 263   Długi Targ → Langer Markt   Główne Miasto → Rechtstadt   Großes Zeughaus  241  Grünes Tor 241  Frauengasse 237   Kino „Leningrad“  249  Königliche Kapelle 242   Lange Gasse  238, 240   Lange Gasse 16  240   Lange Gasse 45  242   Lange Gasse 72  240   Langer Markt  238, 240   Langer Markt 1–13  268, 269   Langer Markt 12  240   Langer Markt 19  240   Langer Markt, Danziger Dielenhaus  246   Rechtstadt  14, 236, 238, 239, 269, 270  Rechtstädtisches Rathaus 241  Speicherinsel 238   Theater am Kohlenmarkt  242   Ulica Długa → Lange Gasse   Wyspa Spichrzów → Speicherinsel Dayton 36 Debar-Kičevo  383, 390, 391, 393 Dęblin → Iwanogród Delphi 123 Demblin → Iwanogród  Diósgyőr  Burg  28, 314–317 Dresden Frauenkirche 27 Eger → Erlau Eisenmarkt → Vajdahunyad Eisenstadt 309

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Elbing 250 Elbląg → Elbing Erlau 304 Esztergom  Burg  18, 298–304, 322 Fertőd  Schloss  309–311 Fiume 128 Florenz  Villa I Tatti  301 Forchtenstein 309 Frankfurt am Main  Altstadt  7  Goethehaus 7 Fünfkirchen → Pécs Füzér  Burg  28, 315, 318 Galgamácsa  Schloss  95, 96, 111 Gdańsk → Danzig Gleiwitz  256  Ring 256 Gliwice → Gleiwitz Glogau 250 Głogów → Glogau Gödöllő  Schloss  94–96, 111, 309 Gran → Esztergom Grigorovo 330 Grunwald → Tannenberg Güstrow  Schloss  260 Győr  14   Benediktinerkirche (ehemals Jesuiten­ kirche)  307   Bischofsburg  28, 307, 308 Hamburg  Hauptkirche St. Michaelis  7, 267 Hannover 78  Schloss Herrenhausen 7 Haut-Koenigsbourg → Hohkönigsburg Heidelberg  86, 257   Schloss  7, 79, 81, 83, 116 Histria/Istros 132 Hohenschwangau  Schloss  74 Homel 175 Hunedoara → Vajdahunyad Istanbul → Konstantinopel Istria → Histria/Istros Iwangoród → Dęblin Izmir 40 Jaak Abteikirche 304

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Orts- und Objektregister

Ják → Jaak Jena 283 Kalisch → Kalisz Kalisz  17, 20, 30, 158, 169, 171, 178–207   Alter Markt  190  Kanonicka-Straße 184   Kirche der hll. Peter und Paul  204  Korczak-Vorstadt 183   Łazienna-Straße 184   Rathaus  173, 189–191, 194–204, 206   Schulgebäude in der Straße des 3. Mai  204  Sukiennicza-Straße 184   Tyniec  183, 184   Warszawska-Straße  184   Wrocławska-Straße  184   Złota-Straße  184 Kalocsa Kathedrale 304 Káposztásmegyer  Schloss  96 Karlsruhe 46 Karlstein Burg 74 Karlštejn → Karlstein Kassel-Wilhelmshöhe  Löwenburg  68 Katowice → Kattowitz  Kattowitz  256 Kiew  18, 19, 27, 328, 330, 341–344, 346, 347, 350   Andreevskaja-Kirche  346, 347  Desjatinenkirche 325–328, 346–350   Höhlenkloster → Mariä-HimmelfahrtsKathedrale   Kirche der Muttergottes → Desjatinenkirche  Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale 19, 340–346   Michaelskloster  18, 20, 340–343  Sophienkathedrale 341, 349 Kolberg 250 Kollotschau → Kalocsa Köln  Dom  73, 74, 76, 88 Kołobrzeg → Kolberg Königsberg 68 Konstantinopel  40, 42, 49, 53, 56, 325, 326 Konstanz  278, 283, 284 Korinth 40 Krakau  188, 213, 241, 248, 254, 259, 355   Nowa Huta  256,  Tuchhallen 246   Wawel-Schloss  16, 19, 220, 256, 257, 259

Kraków → Krakau Kreuzenstein  Burgruine  79–81, 86, 108 Kulmsee Dom 83 La Turbie  Tropaeum Alpium  135 Lausanne  81, 85, 86 Leipzig Russische Gedächtniskirche 333 Lemberg  251, 256, 259, 266 Leningrad → Sankt Petersburg Leslau → Włocławek Leuven → Löwen Łódź  157, 168 Lodz → Łódź London 39 Loslau 256 Löwen  Rathaus  74 Lublin  162, 166, 168, 170, 172, 211, 235, 265, 271  Russisch-orthodoxe Kirche 162 Lviv → Lemberg Lwów → Lemberg Madrid 46 Magdeburg 74 Malbork → Marienburg Mangalia → Callatis Mărăşeşti  Mausoleum  141, 145 Marienburg Deutschordensburg 15, 21, 62–90, 101, 235, 236, 260–265  Pfarrkirche 262  Rathaus 262  Stadttore 262 Marienburg bei Hannover  64, 74, 75, 78 Marienwerder  72 Marosvásárhely → Târgu Mureș Meran Schloss Tirol 64 Modlin 158 Moskau  14, 19, 20, 27, 157, 211, 226, 243, 326–330, 341, 344, 346–350, 357, 364   Alekseevskij-Kloster  322, 334   Christ-Erlöser-Kathedrale  18, 19, 328–339, 350   Čudov-Kloster im Kreml 351   Empfängniskloster → Kirche der Geburt der Mutter Gottes   Facettenpalast im Kreml  340   Freibad „Moskva“  335   Kirche der Geburt der Muttergottes  339



Orts- und Objektregister

  Kirche der Kazaner Ikone der Muttergottes 336   Kirche der Neuen Märtyrer und russischen Beichtväter → Sretenskij-Kloster  Lenin-Mausoleum 363  Sretenskij-Kloster 340  Universität 330   Voznesenskij-Kloster im Kreml  351 Mostar  21, 22, 35, 36   Alte Brücke  32, 33   Altes Gymnasium am Spanischen Platz  33, 36  Franziskanerkloster 22, 23 München  81, 137, 289,   Alte Pinakothek  26, 27   Architekturmuseum der Technischen Universität 8 Nafplio 40 Neisse  256, 259 Neuchâtel → Neuenburg Neuenburg  71, 76, 88   Neues Rathaus  69, 70 Neumarkt → Târgu Mureș Neuschwanstein  Schloss  78, 79, 81, 95 Novgorod  327, 340 Nyírbátor  Schloss  315, 316 Nysa → Neisse Ócsa Kirche 307 Odessa  54 Ohrid  Frühchristliche Basilika  389   Kirche der hl. Gottesmutter  380–382, 386, 387   Kirche der hll. Kliment und Pantelejmon  384–389, 397  Mescit 380   Ohridsee  377, 383   Plaošnik  18, 19, 21, 376–399   Türbe Sinan Çelebis  380, 391, 394, 395 Opole → Oppeln Oppeln  256 Palmyra 37 Pannonhalma  Abteikirche  292, 320, 321 Paris  39, 53, 67, 69, 70, 73, 78, 88, 91, 109, 110, 140, 146 Pécs 304

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  Dom  304, 313, 314 Petersburg → Sankt Petersburg Pierre-Qui-Vire Abtei 321 Pierrefonds  Schloss  74, 78, 79, 95 Plintenburg → Visegrád Płock  168 Plock → Płock Posen  15, 183, 193, 235, 254, 265, 266  Kaiserschloss 25, 64,  Königsburg 24, 25 Potsdam Schloss Babelsberg 74  Stadtschloss 27 Poznań → Posen Pozsony → Bratislava Prag  14, 133, 272–290, 355   Bethlehemskapelle  18, 21, 24, 26, 272–290,  Bethlehemsplatz 283–285   Betlémské náměstí → Bethlehemsplatz   Denkmal für Josef Stalin  275   Karlín  275  Lucerna-Palast 283   Technische Universität  282   Václavské náměstí → Wenzelsplatz   Wenzelsplatz  214, 283 Preslav  Kloster des hl. Pantelejmon 379 Preßburg → Bratislava Przemyśl  158 Pustec 385 Raab → Győr Racibórz → Ratibor Ratibor  235, 256, 257, 259, 265, 269   Marktplatz  254, 255 Reval → Tallinn Rheden Schlossruine 83 Rheinstein, Burg  74 Riga  175, 354–375  Petrikirche 358, 363   Rathaus  358, 362, 366   Schwabehaus  365, 366   Schwarzhäupterhaus  18, 19, 354–375 Rom  10, 42, 118, 142, 146, 155, 299, 325, 329, 330   Ara Pacis  10  Pantheon 208, 329  Petersdom 329   Trajanssäule  135, 137, 140, 142, 143, 155

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Orts- und Objektregister

Sankt Petersburg  39, 69, 157, 340, 364 Sarajevo 36  Nationalbibliothek 34–36 Schlettstadt  62, 86 Schloss Chillon → Veytaux Schwetz  Schlossruine  83 Segedin 304 Sélestat → Schlettstadt  Skopje  59, 60, 376, 391, 394, 398, 399   Kliment-von-Ohrid-Kirche  382   National- und Universitätsbibliothek  383 Smyrna → Izmir Sohrau 256 Spalato → Split  Split Bischofspalast/Episkopium 112–131   Diokletianpalast  15, 19, 23, 112–131 Steinamanger 304 Stettin  235, 250–254, 265   Altstadt  250–254, 268  Rathaus 252  Schloss 250–254   Stare Miasto → Altstadt Stolzenfels Schloss 76 Straßburg  81, 85  Münster 67 Stuhlweißenburg  298, 305   Abtei Vértesszentkereszt  302–304  Stiftskirche 18, 304 Szászvár  Schloss  28, 315 Szczecin → Stettin Szeged → Segedin Székesfehérvár → Stuhlweißenburg Szombathely → Steinamanger  Tallinn 364 Tannenberg 263 Târgu Mureș  93 Tata → Totis Tihany 304 Toledo  Alcázar  10 Tomis → Constanța Totis 304 Trakai Burg 237, 266 Trifels Burg 10 Troki → Trakai Tulcea 132 Turnu Severin Donaubrücke 140

Ung 94 Vaduz Schloss 67 Vajdahunyad  Burg  15, 30, 81, 91–111 Valangin  69, 70, 90 Venedig  28, 150, 301, 308, 320, 351, 368  Dogenpalast 74 Versailles 70 Vértesszentkereszt  Abtei  303, 304 Veszprém 308  Kathedrale 308  St.-Georg-Kapelle 308 Veytaux Schloss Chillon 83–86 Vierwaldstättersee  Tell-Obelisk  68 Vilnius  257, 266, 354–375   Denkmal für Katharina die Große  367   Großfürstlicher Palast  18–20, 24, 26, 27, 354–375   Kathedrale  355, 360, 367–370   Schlossberg-Haus  367, 370, 374   Untere Burg  354, 367, 368, 371   Obere Burg  367 Visegrád  14, 313, 315, 298, 322   Königspalast  18, 111, 302–305   Salomonturm  96, 308, 309, 313, 315 Vjatka 330 Vukovar 23 Warschau  14, 20, 29–32, 147, 157, 159, 160, 162–164, 166–169, 173, 181, 183, 184, 191, 193, 194, 202, 203, 206, 208–238, 243, 246, 249, 250, 256, 257, 265, 266, 268, 270   Alexanderkirche → St.-Alexander-Kirche   Alexander-Newski-Kathedrale  31, 161   Altstadt  18, 32, 208–236, 238, 243, 246, 250, 266–268, 270   Bank der Kreditgenossenschaften  174   Denkmal für Iwan Paskewitsch  163, 164, 175   Denkmal für Józef Poniatowski  175, 176  Erlöserkirche 228   Erlöserplatz → plac Zbawiciela   Grab des Unbekannten Soldaten  175, 176, 232  Hauptpost 162, 163   Johanneskathedrale  211, 223, 224, 243, 265   Königliches Palais im Łazienkipark  211   Königsschloss  257, 293, 356, 369, 370



Orts- und Objektregister

  Krakauer Vorstadt → Krakowskie Przedmieście   Krakowskie Przedmieście  14, 213, 215–217, 234   Kulturpalast  225, 226, 230, 238, 256  Mariensztat 213   Marszałkowska-Straße  226–228, 405   Marszałkowska-Wohnviertel  227, 405   Miodowa-Straße  213  Nationalmuseum 229, 262   Neue Welt → Nowy Świat  Neustadt 213, 334   Nowe Miasto → Neustadt   Nowy Świat  213, 216, 217, 218   Palais Staszic  159, 160, 162, 163, 173–175   Palast der Kultur und Wissenschaft → Kulturpalast   Pałac Kultury i Nauki → Kulturpalast   Pałac Namiestnikowski → Statthalterpalast  Pancer-Viadukt 215  plac Konstytucji 227   plac Saski → Sächsischer Platz   plac Trzech Krzyży  14, 208, 209   plac Zbawiciela  228, 229   Platz der Drei Kreuze → plac Trzech Krzyży   Platz der Verfassung → plac Konstytucji

419

  Radziwiłł-Palais  217   Sächsischer Platz  160–162, 175, 176   Sächsisches Palais  161, 175, 232   Śląsko-Dąbrowski-Brücke 215  St.-Alexander-Kirche 208, 209   Stare Miasto → Altstadt   Statthalterpalast  159, 164, 174   Wspólna-Straße  208   Zitadelle  163 Wartburg  64, 76, 81, 101 Washington 46 Wesprim → Veszprém Wien  16, 52, 81, 85, 86, 92, 93, 95–97, 108, 117, 119, 122–124, 126–129, 133, 135  Hermesvilla 95, 96 Williamsburg  Siedlung Colonial Williamsburg 10 Wilna → Vilnius Windsor Castle  74 Włocławek  168 Wodzisław → Loslau Wrocław → Breslau Zagreb  124, 128 Zara  128 Żory → Sohrau

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D ank Dieses Buch ist das Ergebnis der Mühen vieler Beteiligter. Ich danke den Autorinnen und Autoren für ihre gehaltvollen Beiträge und ihr Verständnis für den Zeitdruck, den wir ihnen auferlegt haben; Madlen Benthin für unermüdliche Sorgfalt im Detail und durchgängigen Blick auf das Ganze bei der Redaktion des Bandes; Andreas R. Hofmann, Heidemarie Petersen, Kinga Éva Moritz, Zdenĕk Hartmann und Petra Kultová für präzise und sprachlich anspruchsvolle Übersetzungen fremdsprachiger Beiträge ins Deutsche sowie Chris Abbey für die gründliche Bearbeitung der englischsprachigen Zusammenfassungen; den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Böhlau Verlags, insbesondere Harald S. Liehr und Sandra Hartmann, für die wie immer hervorragende Zusammenarbeit, für ihre Geduld, die mit diesem Buchprojekt ganz besonders auf die Probe gestellt wurde, und in deren Folge für ein extrem hohes Arbeitstempo bei der Drucklegung; Anja Fritzsche für die professionelle und engagierte administrative Betreuung des Projekts; Marina Dmitrieva, Matthias Hardt, Orsolya Heinrich-Tamáska, Thede Kahl, Lars Karl, Małgorzata Popiołek, Tomasz Ratajczak, Karin Reichenbach, Oliver Jens Schmitt, Stefan Troebst, Anna Veronika Wendland, Ulrike Wendland, Agnieszka Zabłocka-Kos und Kathleen Zeidler für wertvolle Informationen, Anregungen und Korrekturen sowie Vera Bornkessel für die Sorgfalt bei der Anfertigung des Registers. Die Publikation verdankt sich der großzügigen Förderung der Forschungsprojekte am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). An dieser Stelle gebührt dem BMBF Dank für die Unterstützung der Forschungsaktivitäten der Projektgruppe „Geschichte bauen. Architektonische Rekon­ struktion und Nationsbildung (19.–21. Jahrhundert)“ und für die Bereitstellung eines Druckkostenzuschusses. Das Buch wäre nicht ohne die hervorragenden Arbeitsbedingungen am GWZO zustande gekommen. Auch dafür sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Arnold Bartetzky

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VISUELLE GESCHICHTSKULTUR HERAUSGEGEBEN VON STEFAN TROEBST IN VERBINDUNG MIT ARNOLD BARTETZKY, STEVEN A. MANSBACH UND MAŁGORZATA OMILANOWSK A

BD. 1 | ARNOLD BARTETZKY, MARINA

BD. 5 | JUTTA FAEHNDRICH

DMITRIEVA, STEFAN TROEBST (HG.)

EINE ENDLICHE GESCHICHTE

NEUE STAATEN – NEUE BILDER?

DIE HEIMATBÜCHER DER

VISUELLE KULTUR IM DIENST

DEUTSCHEN VERTRIEBENEN

STAATLICHER SELBSTDARSTELLUNG IN

2011. XII, 303 S. 36 S/W-ABB. GB.

ZENTRAL- UND OSTEUROPA SEIT 1918

ISBN 978-3-412-20588-1

UNTER MITARBEIT VON THOMAS FICHTNER.

BD. 6 | MARTINA BALEVA

2005. X, 364 S. 177 S/W- UND 16 FARB.

BULGARIEN IM BILD

ABB. AUF 88 TAF. GB.

DIE ERFINDUNG VON NATIONEN

ISBN 978-3-412-14704-4

AUF DEM BALKAN IN DER KUNST DES 19. JAHRHUNDERTS

BD. 2 | ULF BRUNNBAUER,

2012. 294 S. 123 S/W- UND 19 FARB. ABB.

STEFAN TROEBST (HG.)

GB. | ISBN 978-3-412-20687-1

ZWISCHEN AMNESIE UND NOSTALGIE DIE ERINNERUNG AN DEN

BD. 7 | ELENA TEMPER

KOMMUNISMUS IN SÜDOSTEUROPA

BELARUS VERBILDLICHEN

2007. VI, 308 S. 37 S/W-ABB. UND 9 TAB.

STAATSSYMBOLIK UND NATIONS-

GB. | ISBN 978-3-412-13106-7

BILDUNG SEIT 1990 2012. 332 S. 52 S/W-ABB. UND 22 FARB.

BD. 3 | MARTIN AUST, KRZYSZTOF

ABB. GB. | ISBN 978-3-412-20699-4

RUCHNIEWICZ, STEFAN TROEBST (HG.) VERFLOCHTENE ERINNERUNGEN

BD. 8 | JENNY ALWART

POLEN UND SEINE NACHBARN

MIT TARAS ŠEVČENKO STAAT MACHEN

IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT

ERINNERUNGSKULTUR UND

2009. VII, 285 S. 33 S/W-ABB. GB.

GESCHICHTSPOLITIK IN DER UKRAINE

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VOR UND NACH 1991 2012. 220 S. 25 S/W- UND 22 FARB. ABB.

BD. 4 | JACEK FRIEDRICH

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NEUE STADT IN ALTEM GEWAND DER WIEDERAUFBAU DANZIGS

BD. 9 | ARNOLD BARTETZKY

1945–1960

NATION – STAAT – STADT

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VISUELLE GESCHICHTSKULTUR VOM 19. BIS ZUM 21. JAHRHUNDERT 2012. 276 S. 69 S/W- UND 177 FARB. ABB.

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VISUELLE GESCHICHTSKULTUR BD. 10 | AGNIESZKA GASIOR (HG.)

BD. 14 | STEFAN ROHDEWALD

MARIA IN DER KRISE

GÖTTER DER NATIONEN

KULTPRAXIS ZWISCHEN KONFESSION

RELIGIÖSE ERINNERUNGSFIGUREN

UND POLITIK IN OSTMITTELEUROPA

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MAKEDONIEN BIS 1944

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2014. 905 S. 18 S/W- UND 10 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22244-4

BD. 11 | ARNOLD BARTETZKY, RUDOLF JAWORSKI (HG.)

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GESCHICHTE IM RUNDUMBLICK

LARS KARL (HG.)

PANORAMABILDER IM ÖSTLICHEN

DAS JAHR 1813, OSTMITTELEUROPA

EUROPA

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DIE VÖLKERSCHLACHT ALS

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CHRISTIAN DIETZ, JÖRG HASPEL (HG.) VON DER ABLEHNUNG ZUR

BD. 16 | ROBERT BORN,

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BEATE STÖRTKUHL

ERBE DES SOZIALISMUS IN MITTEL- UND

APOLOGETEN DER VERNICHTUNG

OSTEUROPA

ODER »KUNSTSCHÜTZER«?

FROM REJECTION TO APPROPRIATION?

KUNSTHISTORIKER DER MITTELMÄCHTE

THE ARCHITECTURAL HERITAGE OF

IM ERSTEN WELTKRIEG

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EUROPE

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2014. 297 S. 43 S/W- UND 175 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-22148-5

BD. 17 | ARNOLD BARTETZKY GESCHICHTE BAUEN

BD. 13 | AGNIESZKA GASIOR, AGNIESZKA

ARCHITEKTONISCHE REKONSTRUKTION

HALEMBA, STEFAN TROEBST (HG.)

UND NATIONENBILDUNG VOM

GEBROCHENE KONTINUITÄTEN

19. JAHRHUNDERT BIS HEUTE

TRANSNATIONALITÄT IN DEN ERINNE-

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RUNGSKULTUREN OSTMITTELEUROPAS

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2014. 352 S. 51 S/W- UND 12 FARB. ABB.

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CHRISTINE GÖLZ, ALFRUN KLIEMS (HG.)

SPIELPLÄTZE DER VERWEIGERUNG GEGENKULTUREN IM ÖSTLICHEN EUROPA NACH 1956

„Spielplätze der Verweigerung“ verweisen auf Alternativen zum Offi ziellen, zum kulturell Akzeptierten und staatlich Sanktionierten. Nicht der laute Protest, sondern die leise Störung verbindlicher Ordnungen zeichnen diese Formen spielerischer Widerständigkeit aus: Alltägliches in der Kunst, ein anderer Kamerablick auf die sozialistische Realität, Töne aus dem falschen Lager und das Lachen des öffentlichen Happenings. Der Band widmet sich solchen Phänomenen im östlichen Europa zwischen 1956 und der „Wende“ sowie ihrem Schicksal nach 1989. Die Autoren und Autorinnen verhandeln an Beispielen aus Literatur, Kunst, Film, Musik und Architektur Ästhetiken der Verweigerung und Strategien des Subversiven, Politischen und der Inter vention im (post-)sozialistischen Raum. 2014. 506 S. 52 S/W- UND 14 FARB. ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-22268-0

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V I S U E L L E G E S C H IC H T S K U LT U R | BA N D 17

Dem Wiederaufbau symbolträchtiger, zerstörter Baudenkmäler wurde und wird bis heute immer wieder eine wichtige Rolle für nationale Bewusstseinsbildung, Selbstbehauptung und oftmals auch Abgrenzung beigemessen. Dies gilt besonders für werdende, junge und im Umbruch befi ndliche Nationalstaaten. Die Rekonstruktion der Architektur vergangener Epochen wird als ein visuell wirksames Mittel der Konstruktion und zuweilen auch der symbolischen Korrektur der Nationalgeschichte eingesetzt, mitunter kann sie sogar der Legitimation staatlicher Souveränität und territorialer Ansprüche dienen. Dieses Buch richtet den Blick vor allem auf die östliche Hälfte Europas und schlägt dabei einen großen Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Autoren analysieren eine Fülle von großteils weitgehend unbekannten Projekten in verschiedenen Ländern zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer. Das besondere Interesse gilt den nationalpolitischen Motiven, die bei der Rekonstruktion in diesem Teil des Kontinents bis in die jüngste Zeit vielfach im Vordergrund stehen. Arnold Bartetzky arbeitet als Kunsthistoriker am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), lehrt als Honorarprofessor an der Universität Leipzig und ist publizistisch als Architekturkritiker tätig. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören Architektur und politische Ikonographie seit der Frühen Neuzeit sowie Städtebau und Denkmalpflege vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

ISBN3-412-50725-3

IS BN 978 -3 - 412- 50725 -1 | W W W. BOE H L AU -V E R L AG .COM