Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus: Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 9783666359767, 3525359764, 9783525359761


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German Pages [420] Year 1976

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Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus: Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
 9783666359767, 3525359764, 9783525359761

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 23

KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Bertling, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 23 Gerhard A. Ritter Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus

GÖTTINGEN · V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T · 1976

Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts VON

GERHARD A. RITTER

G Ö T T I N G E N · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1976

ClP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Ritter, Gerhard A. [Sammlung] Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus: Aufsätze zur dt. Sozial- u. Verfassungsgeschichte d. 19. u. 20. Jahrhunderts. - 1. Aufl. - Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1976 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 23) ISBN 3-525-35976-4

Umschlag: Peter Kohlhase © Vandenhoeck Sc Ruprecht, Göttingen 1976. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: Hubert fic Co., Göttingen

Inhalt Vorwort

7

I. Gesellschaft und Politik im Kaiserreich 1871-1914

10

II. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg

21

III. Der Durchbruch der Freien Gewerkschaften Deutschlands zur Massenbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts . . . .

55

IV. Politische Parteien in Deutschland vor 1918

. . .

V. Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems 1918-1920 VI. Entwicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus VII. Deutscher und britischer Parlamentarismus · Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich

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VIII. Die Kontrolle staatlicher Macht in der modernen Demokratie . . 222 IX. Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts- und Linksradikalen

259

X . ,Direkte Demokratie' und Rätewesen in Geschichte und Theorie . 292 Abkürzungsverzeichnis

317

Anmerkungen

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Personenregister

395

Sachregister

399

Vorwort Jede intensive Beschäftigung mit dem Bismarckreich stößt auf die Diskrepanz zwischen der ökonomischen und politischen Modernisierung, die Frage, warum trotz der Herausbildung einer hochindustrialisierten, wirtschaftlich leistungsfähigen und selbst sozialpolitisch im internationalen Vergleich fortschrittlichen Gesellschaft parlamentarisch-demokratische Verfassungsformen unterentwickelt geblieben sind. Die Untersuchung der Abweichungen von den auf Mitwirkung der Staatsbürger begründeten, politischen Systemen Frankreichs und Großbritanniens, die nach Meinung vieler liberaler Zeitgenossen das Ziel auch der deutschen Entwicklung als Konsequenz von Industrialisierung und Nationalstaatsbildung anzuzeigen schienen, stellt eine Herausforderung für den Historiker dar, die auf verschiedenen Ebenen durch verschiedene historische Disziplinen aufgegriffen werden kann. So wird der Sozialhistoriker nach der Struktur der Gesellschaft, den gesellschaftlichen Schichtungen, Gegensätzen und Herrschaftsverhältnissen fragen, der Wirtschaftshistoriker die sektoralen, regionalen und gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozesse sowie die Auswirkungen ökonomischer Krisen untersuchen, der Ideenhistoriker die Tradition des starken, über die Gesellschaft stehenden Staates in der deutschen politischen Theorie analysieren und der politische Historiker die Problematik der verspäteten Bildung eines zudem noch unvollendeten Nationalstaates anführen. Es ist die Grundfrage nach der Gesellschaft und Verfassung des Bismarckreiches, die den Angelpunkt, wenn auch nicht den einzigen Gegenstand der hier vorgelegten Beiträge bildet. Sie spiegeln die auf Fragen der Arbeiterbewegung, der Parteiengeschichte und der Entwicklung des Parlamentarismus konzentrierten Forschungsinteressen des Verfassers, der einen zweiten Schwerpunkt seiner Arbeit in der britischen Verfassungs- und Sozialgeschichte1 sieht. Diese Konstellation der wissenschaftlichen Interessen und Neigungen fand ihren Niederschlag in Versuchen, die Besonderheit der deutschen Entwicklung durch den Vergleich mit den Verhältnissen in anderen europäischen Ländern - vor allem Großbritannien - zu erhellen. Neben der Methode des Strukturvergleichs war die Nutzung des begrifflich-methodischen Instrumentariums der modernen Politikwissenschaft ein besonderes Anliegen dieser Aufsätze. Sie zeigen darüber hinaus in einzelnen Fällen ein zunehmendes Engagement an einer breiteren, nach Möglichkeit auch quantitativ-statistisch abgesicherten Einbettung von Fragen der Parteien- und Verfassungsgeschichte in die Sozialgeschichte. Der einleitende Aufsatz mit der Erörterung des Mißverhältnisses von politischer und wirtschaftlicher Macht im Bismarckreich und der Frage nach den im Herrschafts- und Parteiensystem liegenden Hindernissen für die Herausbildung demokratischer Verfassungsformen gibt gleichsam den Rahmen für die folgen7

den Untersuchungen und wirft Probleme auf, denen zum Teil später im größeren Detail nachgegangen wird. Der folgende, auf älteren Forschungen beruhende Beitrag, in dem die Entwicklungslinien der deutschen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg aufgezeigt werden sollen, will vor allem die Breite der Bewegung sowie Ausmaß und Grenzen ihrer Integration in Staat und bürgerliche Gesellschaft verdeutlichen. Der aufmerksame Leser wird aus dem Vergleich mit der dritten, erst 1975 veröffentlichten Studie zur Gewerkschaftsbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts entnehmen können, daß sich hier eine Verschiebung der Sichtweisen und methodischen Schwerpunkte ergeben hat. Während die Auffassung der Arbeiterbewegung als einer umfassenden, fast alle Lebensbereiche berührenden Emanzipationsbewegung, die sich nicht auf eine politische Partei reduzieren läßt, geblieben ist, soll in dem Beitrag zur Gewerkschaftsgeschichte deutlich werden, daß die Entwicklung der Arbeiterbewegung unlöslich mit den Schichtungs- und Wandlungsprozessen im Gefolge der Industrialisierung verknüpft ist und die methodische Bewältigung dieser Verknüpfung eines der Kernprobleme einer modernen Historiographie der Arbeiterbewegung darstellt. Die folgenden vier Aufsätze stehen in einem engen Zusammenhang. Während der vierte Beitrag die Herausbildung des deutschen Parteiensystems vor 1918 unter den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie im Überblick erörtert, wird im folgenden Aufsatz untersucht, inwieweit sich die Struktur und politische Praxis der deutschen Parteien mit dem Übergang zum parlamentarischen System in der Weimarer Republik verändert haben. Der sechste Beitrag bezieht die Ergebnisse der kritischen Analyse des Parteiensystems ein. Darüber hinaus werden aber weitere Grundprobleme einer Geschichte des deutschen Parlamentarismus seit dem frühen 19. Jahrhundert aufgezeigt: Die Kontinuität von Ständewesen und Parlamentarismus, die sozialen Grundlagen des Parlamentarismus, die hier im Vergleich mit Großbritannien und Frankreich erörtert werden, der Zusammenhang von Finanz- und Verfassungsfragen sowie die Auswirkungen des Föderalismus und der Machtposition der Beamtenschaft auf die Arbeitsweise und Struktur von Parlamenten und Parteien. Während vergleichende Gesichtspunkte in diesem Beitrag nur für Einzelfragen herangezogen werden, stellt der folgende Beitrag den Vergleich verschiedener Verfassungsstrukturen in den Mittelpunkt. Hier werden die Funktionen des politischen Systems im Hinblick auf die in Großbritannien im ganzen erfolgreiche, in Deutschland gescheiterte Lösung der mit dem Aufkommen der modernen Massendemokratie verbundenen Probleme untersucht. Die folgenden drei Beiträge, in denen die Brücke zur Gegenwart geschlagen wird, behandeln den Wandel im Charakter moderner parlamentarischer Demokratien und setzen sich kritisch mit den Ansichten der zum Teil ältere Traditionen der europäischen und spezifisch deutschen Parlamentarismus- und Parteienkritik aufgreifenden, zeitgenössischen Gegner der parlamentarischen Demokratie auseinander. Der am stärksten politikwissenschaftlich ausgerichtete, achte Beitrag untersucht vor allem am Beispiel der Bundesrepublik und Großbritan8

niens, inwieweit die Maditkonzentration in der Exekutive, die sich aus der Entstehung des modernen Verwaltungs- und Leistungsstaates und der ihm dienenden, mächtigen bürokratischen und technokratischen Apparate ergab, dazu geführt hat, daß die überkommenen demokratischen Kontrollmechanismen (vor allem des Parlaments) ihre Wirksamkeit verloren haben. E r erörtert weiter die Frage, wie ohne entscheidenden Verlust an Effizienz die Kontrolle der Machtausübung verbessert und die Mitwirkung der Staatsbürger am Willensbildungsund Entscheidungsprozeß verstärkt werden kann. In den beiden letzten Aufsätzen haben die im wesentlichen von der Neuen Linken seit der Mitte der 60er Jahre ausgelösten Diskussionen um die Schaffung einer das parlamentarische Regierungssystem ersetzenden, radikalen direkten Demokratie ihren Niederschlag gefunden. Der Verfasser nahm darin die Kritik an der bestehenden politischen und sozialen Ordnung der Bundesrepublik ernst und sah in ihr nicht nur ein Zeichen jugendlichen Überschwangs, das man mit der gönnerhaften Bestätigung der dahinterstehenden ,guten Absichten' und dem Verweis auf die mäßigende Wirkung späterer praktischer Erfahrungen abtun konnte. Im neunten Beitrag werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der links- und rechtsradikalen Kritik am Parlamentarismus und Pluralismus und die ihnen zugrunde liegenden, zum Teil gemeinsamen historischen Ursprünge aufgezeigt. Der abschließende Beitrag über „Direkte Demokratie und Rätewesen in Geschichte und Theorie" behandelt das in Anknüpfung an ältere Vorbilder und Theorien von seiten der Neuen Linken als Alternative zur parlamentarischen Demokratie entworfene Modell der Rätedemokratie und versucht aufgrund einer Analyse der bisherigen historischen Erfahrungen mit Rätebewegungen und mit nach dem Rätesystem organisierten Staaten und der theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Modell selbst nachzuweisen, daß Rätedemokratien zum einen in einer modernen Industriegesellschaft nicht funktionsfähig und zum anderen wegen der latenten Gefahr des Umschlags in eine Diktatur von einem demokratischen Standpunkt aus auch nicht wünschbar sind. Der Verfasser hat bei der Überarbeitung der Aufsätze einen Mittelweg eingeschlagen. Während er einerseits darauf verzichtete, die Ergebnisse neuer Forschungen vor allem bei den älteren Aufsätzen im vollen Umfang einzuarbeiten, was eine Neufassung eines Teils der Beiträge nahegelegt hätte, hat er sich andererseits nicht gescheut, in einigen Punkten seinen Standpunkt zu präzisieren, einzelne zum Teil bei der ursprünglichen Veröffentlichung aus Gründen der Platzersparnis weggelassene Teile zu ergänzen und in den Anmerkungen einige der wichtigsten neuerschienenen Werke zu den behandelten Problemen aufzuführen. Über den durchaus unterschiedlichen Grad der Überarbeitung der einzelnen Aufsätze informiert die einleitende Anmerkung zu jedem der Beiträge. Für die Hilfe bei der Drucklegung des Bandes, besonders der Anfertigung der Register, danke ich Rüdiger vom Bruch. Allmannshausen, 12. 4. 1976

Gerhard A. Ritter

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I. Gesellschaft und Politik im Kaiserreich 1871-1914* Der Beitrag soll auf einige der Probleme der politischen und sozialen Struktur des Deutschen Reiches von 1871 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der zur schwersten Krise und schließlich zum Zusammenbruch des bestehenden Regierungssystems führte, hinweisen. Die dauerhaftesten Ergebnisse jener Zeit liegen im Aufstieg Deutschlands von einem im Vergleich mit Großbritannien und Belgien industriell unterentwickelten Land zu einem der größten Industriestaaten der Welt, in der Verlagerung des Schwergewichts der Wirtschaft von der landwirtschaftlichen Produktion auf die Erzeugung industrieller Güter und schließlich im Prozeß der Konzentration innerhalb der Industrie. In der Geschichte des Kaiserreiches waren die Grundkonstellation der politischen K r ä f t e und ihre Wandlungen, aber auch das konkrete politische Geschehen auf das engste mit der sozialen Struktur und den sozialen Umschichtungen 1 sowie der Struktur und den Wellen der Konjunktur der deutschen Wirtschaft oder einzelner Wirtschaftszweige verbunden. Aufgrund der Vielschichtigkeit und der vielfachen Brechung der Wirkung wirtschaftlicher und sozialer Prozesse ist allerdings ein direkter und eindeutiger Nachweis dieser Zusammenhänge o f t schwer zu führen. Die Probleme, die sich aus den ökonomischen Veränderungen f ü r das politisch-soziale Gefüge des Bismarckreiches ergaben, wurden wohl am scharfsinnigsten von Max Weber 2 durchdacht. Ihm erschien die mangelnde Synchronisation von wirtschaftlicher und politischer Entwicklung, wie sie in der Konzentration der politischen Macht in den H ä n d e n der ökonomisch sinkenden Klasse der Großgrundbesitzer des Ostens zum Ausdruck kam, als ein Verhängnis. Durch die Schwäche und mangelnde politische Reife des Bürgertums mitbedingt, bestimmten die enge soziale Basis der herrschenden Schichten und das von den preußischen Machtverhältnissen weitgehend geprägte politische System bereits die Ausgangspositionen des Bismarckreiches. Das Mißverhältnis zwischen politischer und ökonomischer Macht wurde durch die immer deutlicher werdende chronische Strukturkrise der Getreide anbauenden Güter Ostelbiens und den fortschreitenden Wandel Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat immer krasser und mußte notwendigerweise zur Verhärtung der Klassengegensätze und zur Verschärfung der politisch-sozialen Spannungen führen. Die unmittelbaren Konsequenzen der schwierigen wirtschaftlichen Situation der J u n k e r ' waren ihre scharfe Distanzierung von liberalen Ideen, die noch zur Zeit des preußischen Verfassungskonfliktes viele Anhänger unter den adligen und vor allem den bürgerlichen Großgrundbesitzern gefunden hatten, sowie die Ausnützung ihrer politischen Macht zur Durchsetzung einer agrarischen Schutzzollpolitik, durch die die deutsche Landwirtschaft weitgehend 10

vom Weltmarkt abgeschirmt wurde. In dem Bestreben, ihre durch die enge personelle Verzahnung mit den tradionellen Trägern des Obrigkeitsstaates in Heer und Verwaltung und das System feudaler Selbstverwaltung auf dem Lande etablierte und schließlich auch als Mittel wirtschaftlicher Existenzsicherung mit allen Mitteln moderner Massendemagogie verteidigte politische Macht zu behaupten, f a n d die Schicht der ostelbischen Großgrundbesitzer spätestens seit dem Ende der 7Oer Jahre in Bismarck einen mächtigen Bundesgenossen. Aber weder Bismarck, der die bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse durch den erbitterten Kampf gegen alle sie in Frage stellenden politischen Bewegungskräfte zu stabilisieren versuchte, noch später Wilhelm II. können f ü r die ungenügende Weiterentwicklung des deutschen politischen Systems allein verantwortlich gemacht werden. Das deutsche Bürgertum, das allerdings von Bismarck bewußt von politischer Verantwortung ferngehalten wurde, hatte seinerseits nicht genügend Selbstbewußtsein, Entschlossenheit und politische Fähigkeiten, um die Zügel der Herrschaft, die von Wilhelm II. und seinen Kanzlern schleifen gelassen wurden, an sich zu reißen. Durch Angst vor der Sozialdemokratie und der sozialen Revolution verschreckt, durch konfessionelle Intoleranz sowie soziale und wirtschaftliche Interessengegensätze gespalten, von dem zentralen Problem der Reform des politischen Systems durch das A u f kommen eines aggressiven Nationalismus und (bzw. oder) durch die einseitige Konzentration auf die wirtschaftliche Tätigkeit abgelenkt, hat das Bürgertum gerade in seinen sozial führenden Schichten sein Heil weitgehend nicht in der Ablösung, sondern in der Angleichung an die alten Herrschaftsschichten und deren politische Ideen, Verhaltensweisen und Lebensformen gesucht. Die Feudalisierung wesentlicher Elemente des Bürgertums - wie es im Korpsstudententum, in dem am Modell des aktiven Offiziers ausgerichteten Verhalten des Reserveoffiziers sowie in der Entliberalisierung der höheren Bürokratie Preußens seinen deutlichsten Ausdruck fand - war Zeichen seiner mangelnden politischen Selbständigkeit und der schweren Krise des Liberalismus in der Zeit des Bismarckreiches. Es war dabei nicht so, daß die Problematik der Rückständigkeit der politischen Verhältnisse gegenüber den westeuropäischen Industriestaaten sowie der Diskrepanz zwischen politischem Spießbürgertum und dem Anspruch auf deutsche Mitsprache in der Weltpolitik überhaupt nicht gesehen wurde oder daß es keine Ansätze zur Neubesinnung und keine Vorschläge zur politischen Reform auch innerhalb des Bürgertums gegeben hätte: Aber - wie Friedrich N a u m a n n 1909 unter dem Eindruck der Daily-Telegraph-Krise resigniert feststellen mußte 3 - es gab keine regierungsfähige Aristokratie oder Demokratie als Alternative zu der abgewirtschafteten Monarchie. Die Krise des Staates war zutiefst eine Folge der politischen „Blutarmut" des deutschen Volkes, ihre Lösung nicht zuletzt eine Frage der Erziehung der Deutschen zur Demokratie. Der entscheidende Vorwurf gegen das von Bismarck errichtete politische System liegt daher auch nicht so sehr in der mangelnden Verwirklichung liberaler und demokratischer Grundsätze, sondern darin, daß es die politische Bildung

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der Nation erschwerte. Das System der konstitutionellen Monarchie und der durch Elemente der lokalen Selbstverwaltung und der parlamentarischen Mitsprache bei der Gesetzgebung und der Festsetzung des Budgets gemilderten Beamtenherrschaft wurde bei aller Kritik im einzelnen dabei auch von weiten Teilen des liberalen Bürgertums als grundsätzlich adäquate Lösung der durch die deutsche Geschichte, die Konstellation der politisch-sozialen Kräfte und die gefährdete außenpolitische Situation Deutschlands gegebenen Probleme angesehen4. Eine feste, der Massenagitation entzogene Regierung sei - so wurde häufig argumentiert - dabei nicht nur für Deutschland zweckmäßiger als das parlamentarische Regierungssystem englischer oder französischer Prägung, sondern entspreche auch besser den modernen, unter dem Zeichen des Massenwahlrechts und der zunehmenden Komplexität der staatlichen Tätigkeit stehenden Entwicklungstendenzen. Nicht England, dessen System der Regierungsbildung aus der Parlamentsmehrheit nur auf der sozialen Basis einer dünnen, politisch reifen Honoratiorenschicht bei einem Minimum staatlicher Aufgaben funktionsfähig sei, sondern Deutschland sei der Bannerträger des politischen Fortschritts. Diese traditionelle zeitgenössische Verteidigung des deutschen Regierungssystems stellte nicht genügend in Rechnung, daß der eklatante Mangel an politischer Bildung nicht zuletzt eine Konsequenz der Ausschaltung der führenden Parlamentarier von der verantwortlichen Bestimmung der Politik gewesen ist. Auch die häufig beklagte Zersplitterung und fehlende Regierungsfähigkeit der deutschen Parteien war mindestens ebensosehr Folge wie Ursache des sie von konstruktiver Mitwirkung ausschaltenden politischen Systems. Das Fehlen einer klaren, einheitlichen Politik seit den 90er Jahren und schließlich die ungenügende Integration der politisch-sozialen Kräfte in der Krise des Ersten Weltkrieges zeigten zudem, daß das monarchisch-konstitutionelle System auch keineswegs notwendig eine wirksamere Politik und eine größere Kräftekonzentration ermöglichte als die unmittelbar von den Parteien getragene parlamentarische Regierung. Die konstitutionelle Weiterentwicklung zum parlamentarischen System war aber nicht nur durch die Macht von Militär, Bürokratie und Junkertum, die Struktur des deutschen Parteiensystems und die Furcht des Bürgertums vor den Auswirkungen einer ungebrochenen Massenherrschaft, sondern auch durch die Bestimmungen der Reichsverfassung selbst erschwert5. Die Haupthindernisse lagen bei der Institution des Bundesrates, der als exekutives und legislatives Gremium der Vertreter der Regierungen der 25 deutschen Bundesstaaten das Kernstück der Verfassung bildete, sowie in der Hegemonie des als Gegengewicht zu den demokratischen Tendenzen wirkenden preußischen Militär- und Beamtenstaates im Reich. Die Bismarcksche Verfassungskonstruktion kettete dabei die Interessen Preußens und der anderen deutschen Staaten, die von einer parlamentarischen Regierung im Reich eine Stärkung der unitarischen Tendenzen und eine Schwächung ihrer eigenen Stellung erwarten mußten, an die Erhaltung des prekären Verfassungsgleichgewichts. 12

Trotz dieser bedeutenden, den politischen Status quo festigenden Faktoren waren eine Verschiebung der bestehenden Machtverteilung und eine Liberalisierung und Demokratisierung des politischen Systems keineswegs ausgeschlossen. Jede derartige Reform hätte jedoch eine Reform des deutschen Parteiensystems und des politischen Verhaltens der großen deutschen Parteien vorausgesetzt. Die Frage nach dem Charakter der deutschen Parteien, ihrem Verhältnis untereinander und ihrer Stellung zur Regierung bildet so ein entscheidendes Problem der Geschichte des Bismarckreiches. In den 70er Jahren sind es - wie in der vorangegangenen letzten Phase der Reichsgründungszeit - zunächst die Nationalliberalen - die parlamentarisch bedeutendste Gruppe im Reich und in Preußen - , von denen man die stärksten Impulse zum freiheitlichen Ausbau des Deutschen Reiches und Preußens erwarten konnte. Die Hoffnung der Nationalliberalen, als eine Art inoffizieller Regierungspartei in Zusammenarbeit mit Bismarck die allmähliche Umgestaltung Deutschlands im Sinne ihrer gemäßigt-liberalen Grundsätze vorantreiben zu können®, fand zunächst in der von liberalen Prinzipien bestimmten Wirtschaftspolitik, im Ausbau der Einrichtungen des Reiches und in der allerdings nur begrenzten Reform der lokalen und regionalen Verwaltung Preußens Nahrung. Dieser Phase der loyalen Kooperation mit Bismarck entsprach eine politische Konstellation, in der der Reichskanzler die Liberalen als Gegengewicht gegen partikularistische Tendenzen und als nur allzu willige politische Waffe in dem von ihm ausgelösten ,Kulturkampf' gegen die katholische Kirche und die politische Organisation der deutschen Katholiken - die Partei des Zentrums - mißbrauchte. Unter dem Druck der 1873 einsetzenden wirtschaftlichen Krise, in der das Nettoinlandsprodukt 1876/77 und 1879/80 rückläufig war 7 und die strukturelle Schwäche der deutschen Landwirtschaft durch ihre Konkurrenzunfähigkeit auf dem Weltmarkt offenbar wurde, vollzog jedoch Bismarck - die Wünsche der Interessenten geschickt ausnutzend - am Ende der 70er Jahre mit Unterstützung des Zentrums und der Konservativen die wirtschaftspolitische Wendung vom Freihandel zum Schutzzoll. Innenpolitisch waren damit verbunden die Verschärfung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie (Sozialistengesetz), der allerdings nur allmähliche Abbau des Kulturkampfes, die Gleichschaltung der preußischen Beamtenschaft auf einen reaktionär-konservativen Kurs sowie das Abstoppen und die teilweise Rückbildung der in den vergangenen Jahren eingeleiteten politischen Reformen. Die Hoffnung der Liberalen, daß die nationale Einigung einen gleichsam automatischen Prozeß der Stärkung der bürgerlichen Freiheiten im Gefolge haben würde, hatte sich damit als Illusion erwiesen. Vor die Alternative gestellt. entweder unter weitgehender Verleugnung ihrer bisherigen Grundsätze die antiliberale Politik Bismarcks zu unterstützen oder mit dem Reichskanzler zu brechen und das Risiko einer grundsätzlichen Opposition einzugehen, spalteten sich die Nationalliberalen und verloren damit weitgehend ihre politische Potenz. Damit wurde der bereits 1866 beginnende Zerfall des deutschen 13

Liberalismus fortgesetzt. Für die Chancen der Liberalen war dabei nicht nur die Problematik ihres ambivalenten Verhältnisses zur Regierung, sondern vor allem auch die mit der Wendung Bismarcks von 1877/79 verbundene Ausdehnung der staatlichen Funktionen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich verhängnisvoll. Während die allgemeinen politischen Fragen zurückgedrängt wurden, konzentrierte sich die Politik der Parteien mehr und mehr auf die Vertretung sozialer und wirtschaftlicher Interessen. Die verschiedenen Gruppen der Liberalen konnten sich als typische Mittelparteien schon aufgrund der divergierenden wirtschaftlichen und sozialen Interessen ihrer Mitglieder und Wähler nicht zu Interessen- und Klassenparteien umformen. Für sie wurden die Erhaltung der Einheit ihrer Parteien und die Verhinderung der Abwendung ihrer Wähler an die sich mit einem bestimmten Interesse oder einer bestimmten sozialen Schicht eindeutig identifizierenden Parteien zur Rechten und Linken die zentralen, ihre innere Geschichte der nächsten Jahrzehnte bestimmenden Probleme. Audi die anderen deutschen Parteien sind von dem mit dem politischen Umsdiwung verbundenen Vordringen interessenpolitischer Gesichtspunkte in ihrem inneren Charakter und ihrem politischen Verhalten wesentlich geprägt worden. Für die konservative Partei, die nach ihrer Oppositionshaltung in der Reichsgründungszeit wieder - wie in der Zeit des preußischen Verfassungskonflikts - zur wichtigsten parlamentarischen Stütze der Regierung wurde, setzte ein Prozeß ein, der schließlich in den letzten Jahrzehnten vor 1914 zu ihrer weitgehenden Umformung von einer aristokratisch-autoritären, preußischen, gouvernementalen und ständischen Partei zu einer an die Massen appellierenden, radikalen agrarischen Interessenpartei mit völkisch-nationalen und mittelständisch-antisemitischen Parolen führte. Auf die Dauer wurden auch das Zentrum, das mit katholischen Bauern- und Handwerkervereinen und mit den am Ende der 90er Jahre entstehenden christlichen Gewerkschaften eng liiert war, sowie die mit den sozialistischen Freien Gewerkschaften verbundene Sozialdemokratie durch die Rücksichtnahme auf die mit ihnen jeweils alliierten Interessenverbände in ihrer politischen Stoßkraft gelähmt und in ihrer Manövrierfähigkeit eingeengt. Die Macht der oft von einer Massenmitgliedschaft getragenen Interessengruppen beruhte dabei im wesentlichen darauf, daß die Parteien auf sie als Rückhalt ihrer Organisation und als Sammelbecken der Wähler mehr und mehr angewiesen waren. Mit ihrer engen Verbindung zu den Parteien, den Wählern und teilweise audi zur Regierung und Verwaltungsbürokratie zählten die sich jetzt bildenden Interessenverbände bald zu den politisch und wirtschaftlich mächtigsten Organisationen des Bismarckreiches. Eine Konsequenz der Wendung der Bismarckschen Politik am Ende der 70er Jahre und des damit verbundenen allmählichen Wandels der deutschen Parteien von den bisherigen Programm- und Weltanschauungsparteien zu Interessenund Klassenparteien, die allerdings ihren ideologischen Anspruch auf die Vertretung von den Einzelinteressen übergeordneten Ideen nicht aufgeben, war die Ablenkung der politischen Auseinandersetzungen von der Frage der konstitu14

tionellen Reform. Eine ähnliche Wirkung hatte auf lange Sicht auch die Politik der Bekämpfung des Zentrums und der Unterdrückung der sozialistischen Bewegung in den 70er und 80er Jahren. Durch den Kulturkampf wurden die Katholiken dem neuentstandenen Deutschen Reich entfremdet und in eine Gettosituation gedrängt; die Zentrumspartei, die Bismarck vergeblich zu spalten versuchte, nahm weitgehend den Charakter eines Interessenverbandes zur Verteidigung der Rechte der katholischen Kirche an. Es fiel dem Zentrum schwer, sich aus dieser historisch bedingten defensiven Haltung zu lösen, die Politik des Reiches und des preußischen Staates nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Rückwirkungen auf die Situation der katholischen Minderheit zu beurteilen und einen ernsthaften Versuch zur Verbreiterung der Basis der Partei durch die Gewinnung protestantischer Wähler sowie zur Lösung der Verfassungsfrage zu machen. Ähnlich war die Situation für die Sozialdemokraten, die - als reichsfeindlich, antinational und umstürzlerisdi verketzert - in die politische und soziale Isolation gezwungen wurden, aus der sie sich bis 1914, trotz allmählich zunehmender Berührung mit der bürgerlichen Welt, nicht völlig zu lösen vermochten. Die Partei hatte in der Zeit der Verfolgung unter dem Sozialistengesetz 1878-1890 fast den Charakter einer großen Familie angenommen, die für ihre Mitglieder nicht nur eine politische Gesinnungs-, sondern auch eine soziale Gemeinschaft bildeten, die sie von der feindlichen bürgerlichen Welt und dem Druck der staatlichen Organe wenigstens teilweise abschirmte. Die Sozialdemokratie und das von ihr inaugurierte rege Vereinsleben der Arbeiter auf lokaler Ebene bildete eine eigene Gesellschaft in der Gesellschaft, einen Staat im Staate. Der sozialdemokratische Arbeiter trank sein Bier in einer von einem Parteigenossen betriebenen Kneipe; er bezog seinen Tabak im Zigarrenladen eines Genossen; seine Frau kaufte die Lebensmittel der Familie bei einem sozialistischen Ladenbesitzer; er kegelte, sang, schwamm oder turnte in einem aus Parteianhängern gebildeten Verein, er beteiligte sidi mit seiner Frau und seinen Kindern an den von der lokalen Parteiorganisation veranstalteten Sommerfesten, Theateraufführungen, Konzerten und Bildungsveranstaltungen; er hatte seine Freunde und Skatpartner unter den Parteigenossen und fand die Zahlabende der lokalen Partei, wo man jeden kannte, so richtig gemütlich. Nicht Stärkung der revolutionären Kräfte, sondern Entfremdung vom Staat, Abkapsejung von der bürgerlichen Gesellschaft und Aufbau einer eigenen Lebenswelt, in der viele Sozialdemokraten auch ihre innere Befriedigung fanden, waren also die bedeutsamsten Konsequenzen der Unterdrückungspolitik des Staates. In der Theorie entsprach diesem Rückzug auf sich selbst die unter Verengung seiner Lehren von Marx abgeleitete Auffassung, daß die kapitalistische Wirtschaft und die sie tragende bürgerliche Gesellschaft zusammen mit dem Klassenstaat an ihren inneren Widersprüchen zusammenbrechen und als Ergebnis eines sich mit naturgesetzlicher Sicherheit vollziehenden Entwicklungsprozesses von der klassenlosen Gesellschaft des sozialistischen Zukunftsstaates abgelöst werden würden. 15

Diese Kombination von wirtschaftlichem Determinismus einerseits und der Geborgenheit in der Partei und ihren Satellitenorganisationen im sozialen Leben andererseits bewirkte in der politischen Praxis, daß trotz oder oft gerade wegen der jeden Kompromiß und jede Zusammenarbeit mit anderen Kräften erschwerenden Radikalität der theoretischen Grundsätze der Impuls zur konkreten Veränderung aes politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems erlahmte. Eine die Reinheit der Prinzipien nicht gefährdende politische Abstinenz und ein starrer politischer Immobilismus wurden so die eigentlichen Kennzeichen der offiziellen Parteipolitik vor 1914. Es fehlte zwar weder auf dem linken noch auf dem rechten Flügel der Partei an Bestrebungen, durch revolutionäre Massenaktionen, durch Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften oder eine Kombination beider Methoden die in der Sozialdemokratie organisierte potentielle Macht als Waffe zur Erschütterung oder als Hebel zur Reform der politisch-gesellschaftlichen Ordnung einzusetzen. Im ganzen jedoch fiel auch die Sozialdemokratie, die 1890 nach der Zahl der Wähler und 1912 auch nach der Zahl der gewonnenen Reichstagsmandate zur stärksten Partei Deutschlands wurde, vor dem Ersten Weltkrieg als aktive wirksame Kraft zur systematischen Forcierung der konstitutionellen Weiterentwicklung des Reiches und Preußens aus. Die deutschen Parteien sind also in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Reichsgründung - gewiß nicht ohne Mitwirkung der in der wirtschaftlichen, sozialen, konfessionellen und politischen Struktur vorgegebenen Bedingungen und nicht ohne eigenes Verschulden, aber doch auch entscheidend beeinflußt durch die Politik Bismarcks - in einer Weise umgeformt bzw. in Richtungen gedrängt worden, die sie zur Gewinnung der politischen Initiative, zur Ausarbeitung eines von einer Parlamentsmehrheit getragenen Programms praktischer Politik und zur Übernahme der Regierungsverantwortung unfähig machten. Das innenpolitische Fazit der Herrschaft Bismarcks ist ein durch Interessenpolitik und mangelnde Verantwortung verkümmerter Reichstag; Parteien, deren politischer Impuls erlahmte; eine von liberalen Elementen gesäuberte preußische Bürokratie; eine Verschärfung der Klassengegensätze; eine Verteufelung der oppositionellen Kräfte, die grundsätzlich zur Mitarbeit zu gewinnen gewesen wären, und schließlich eine Erstarrung des politischen Lebens, die sich negativ auf die so notwendige politische Erziehung der Nation auswirken mußte. Der Sturz Bismarcks 1890 brachte zunächst eine Auflockerung der verhärteten Fronten und eine politische Neubelebung. Der von großen Hoffnungen begleiteten Politik des Neuen Kurses lag beim Reichskanzler Caprivi auch die Konzeption einer Entschärfung des Verhältnisses zu den ,reichsfeindlichen' Parteien und ihrer schließlichen Gewinnung für die Mitarbeit im Staate zugrunde. Sie führte in Ergänzung der von patriarchalischen Ideen ausgehenden Sozialversicherungsgesetzgebung Bismarcks zur Grundlegung des deutschen Arbeiterschutzes und zu einem in der Anlage umfassenden, wenn auch in der Zielsetzung 16

begrenzten und nach Anfangserfolgen gescheiterten Versuch der Reform des preußischen Staates. Der Abbau der Getreidezölle in den am Anfang der 90er Jahre abgeschlossenen Handelsverträgen, die den Export deutscher Industrieerzeugnisse förderten und die Lebenshaltungskosten der breiten Masse senkten, führte in einer durch den plötzlichen Verfall der Weltmarktpreise für Getreide bewirkten akuten Zuspitzung der Krise der deutschen Landwirtschaft zur Bildung einer radikalen, sich im Bund der Landwirte organisierenden agrarischen Massenbewegung. Das Auftreten dieses neuen, glänzend geführten, straff organisierten und in der Wahl seiner Mittel skrupellosen agrarischen Interessenverbandes bildete eine der tieferen Ursachen für den Abbruch der Politik des Neuen Kurses und den schließlichen Sturz Caprivis 1894. Mit seiner massiven Einwirkung auf die soziale Schicht der Großgrundbesitzer, aus der sich das Offizierskorps und die höhere Beamtenschaft der regionalen und lokalen Verwaltung Preußens vornehmlich rekrutierten, und auf die deutschen Parteien von den Konservativen über die Nationalliberalen bis zum Zentrum hat der Bund der Landwirte den Manövrierraum jeder deutschen und preußischen Regierung nach links entscheidend eingeengt. Es kam hinzu, daß die Reichskanzler sich scheuten, die entscheidende Waffe der Regierung im Kampf mit den Parteien - das Recht zur Auflösung des Reichstages - nicht nur wie z . B . 1878, 1887, 1893 und 1906 gegen links, sondern auch zur Brechung einer Opposition von rechts einzusetzen. Wie die Vorgänge beim Sturz Bülows 1909 besonders deutlich zeigten, fürchtete man bei einer gegen rechts gerichteten Wahlparole der Regierung und einer auch in der Praxis aufgrund der konservativen Gesinnung der Mehrzahl der preußischen Landräte kaum zu erzwingenden Mobilisierung der lokalen und der regionalen Verwaltung gegen die Konservativen den Sozialdemokraten in die Hände zu arbeiten und einen Reichstag zu erhalten, der in Fragen nationaler Politik unzuverlässig war und in seinen Reformwünschen weit über die Ziele der Regierung hinausschoß. Zwischen Sozialdemokratie und Agrariern als den in ihrer politischen Potenz stärksten Kräften zunehmend eingekeilt und durch die oft widersprüchlichen Eingriffe des Kaisers gestört, hat die Regierung bereits in den 90er Jahren die politische Initiative und Führung eingebüßt, ohne daß diese vom Parlament aufgegriffen werden konnten. Die Richtungslosigkeit der deutschen Politik und die ihr entsprechende mangelnde Geschlossenheit der politischen Spitze, die nur vorübergehend - wie etwa im Biilow-Block - durch begrenzte Versuche zur Zusammenfassung der politischen Kräfte als Basis einer einheitlich konzipierten Politik abgelöst wurden, wurden so typische Kennzeichen des deutschen Regierungssystems nach der Entlassung Bismarcks. Im Rückschlag gegen die Politik des Neuen Kurses wurde unter dem Druck der agrarischen Bewegung in teilweiser Anknüpfung an Bismarcks Politik des ,Schutzes der nationalen Arbeit' (1878/79) von der Regierung mit der 1897 eingeleiteten ,Politik der Sammlung' ein Zusammenschluß der bürgerlichen 2

Ritter

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Kräfte gegen die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung angestrebt. Diese Politik des Klassenkampfes von oben fand außenpolitisch ihre populäre Entsprechung in der bewußt auf die Ablenkung von den inneren Spannungen abzielenden Propagierung der Weltpolitik und der Einleitung des Baus einer großen deutschen Schladitflotte, die zu einer entscheidenden Belastung des deutsch-britischen Verhältnisses wurde. Die Sammlungspolitik beruhte wirtschaftlich auf dem Interessenausgleich der für den Binnenmarkt produzierenden Industrie und der deutschen Landwirtschaft auf Kosten der Konsumenten, des Außenhandels und der Exportindustrie durch die Erhöhung des Zollschutzes für eine Vielfalt agrarischer und industrieller Güter; politisch-sozial auf der Verteidigung und Stabilisierung der überkommenen gesellschaftlichen Ordnung und der bestehenden Herrschaftsverhältnisse gegenüber den Emanzipationsbestrebungen des Proletariats. Die Politik der Sammlung hat jedoch - wie die von Anfang an auftretenden Spannungen innerhalb der Allianz und die schließliche Wendung des Bundes der Landwirte gegen den Zolltarif von 1902 zeigten — weder die bürgerlichen Kräfte dauerhaft zusammengefügt noch ein weiteres Anwachsen der Sozialdemokraten verhindern können. Dagegen wurde durch sie der Graben zwischen Sozialdemokratie und Staat, den Caprivi zuzuschütten begonnen hatte, erneut vertieft und damit auch den Tendenzen, die innerhalb der Sozialdemokratie auf die Auflockerung doktrinärer Grundsätze und auf praktische Mitarbeit zur Reform des Staates und der Gesellschaft drängten, der Boden entzogen. Nach einer Periode der Regierung mit wechselnden Mehrheiten, in der jedoch faktisch die sowohl mit Rechts als auch mit Links bündnisfähige Zentrumspartei die Schlüsselstellung im Reichstag hatte, wurde von Bülow nach der vorzeitigen Auflösung des Reichstages im Dezember 1906 in deutlicher Frontstellung gegen Sozialdemokratie und Zentrum8 der die konservativen und liberalen Parteien umfassende ,Bülow-Block' als parlamentarische Stütze der Regierung inauguriert. Wie in der Kartellpolitik Bismarcks 1887-1890 und der allerdings nur in Teilbereichen wirksamen Sammlungspolitik der Jahrhundertwende ergriffen nicht die Parteien, sondern die Regierung die Initiative zur Bildung einer festen parlamentarischen Mehrheit und zur Koordination der Politik dieser Mehrheit. Immerhin hätte die Politik der Zusammenarbeit von Regierung und Parlamentsmehrheit auf die Dauer zur schärferen Herausbildung des Gegensatzes von Regierungs- und Oppositionsparteien und damit zur Erfüllung einer entscheidenden Vorbedingung parlamentarischer Regierungsweise führen können. Die Blockpolitik, die allerdings in der praktischen Durchführung sehr viel weniger geschlossen, konsequent und aktionsbereit war als in ihren öffentlichen Verlautbarungen, scheiterte schließlich an den von Anfang an nur notdürftig verkleisterten inneren Gegensätze der Blockpartner. Dabei waren es, wie eine Rede des konservativen Parteiführers von Heydebrand und der Lasa im Reichstag vom 10. 7. 1909 beweist9, letztlich nicht wirtschaftliche, sondern politische Motive - die Weigerung, dem auf dem gleichen Wahlrecht beruhen18

den Reichstag neue Machtmittel zu geben die zur Wendung der Konservativen gegen den Block und zum Sturz des Reichskanzlers führten. Bülows Motivierung seines Rüdetritts mit der veränderten parlamentarischen Konstellation 10 zeigt, daß zumindest eine Rechtsmehrheit des Reichstages, gegen die man nicht aufzulösen wagte, eine Art Vetorecht nicht nur in der Gesetzgebung, sondern - durch die Möglichkeit zur Lahmlegung der Politik der Regierung - de facto auch gegen die Person des Reichskanzlers besaß. Gegen eine oppositionelle Linksmehrheit konnte der Kanzler das Urteil des Volkes in der Wahl anrufen; sofern dieses jedoch trotz der der Regierung zur Verfügung stehenden Mittel zur Beeinflussung von Wahlen gegen ihn ausfiel und die Parteien der Opposition sich nicht auseinandermanövrieren ließen, blieb ihm audi hier auf die Dauer nur die Wahl zwischen einer Politik des Staatsstreiches von oben, dem Rüdetritt oder dem Einschwenken auf die Linie der Parlamentsmehrheit. Dieser Macht des Reichstages zur Obstruktion entsprach aber nicht seine Fähigkeit, ohne Hilfestellung der Regierung einen der Mehrheit gemeinsamen Nenner zu finden, deren Politik der Regierung aufzuzwingen und schließlich auch die Verantwortung f ü r die Führung des Staates selbst zu übernehmen. Dagegen standen neben den an sich nicht unüberwindlichen verfassungsrechtlichen Schranken vor allem die Zersplitterung des deutschen Parteiwesens sowie das durch den Dualismus von Regierung und Parlament und die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte geprägte Verhalten der deutschen Parteien. Die politischen Reaktionen auf den Zerfall des Blocks und auf die Verschärfung der Gegensätze zwischen Konservativen und Liberalen waren die Bildung einer allerdings sehr viel weniger geschlossenen und erheblich schwächeren Gegenorganisation (Hansabund für Handel, Gewerbe und Industrie) zum Bund der Landwirte sowie eine in den Jahren der Blockpolitik bereits vorbereitete, begrenzte Neubelebung und politische Konzentration des deutschen Liberalismus. Die drei linksliberalen Parteien schlossen sich zur Fortschrittlichen Volkspartei zusammen, die sich ihrerseits den sich jetzt für einige Jahre etwas stärker nach links orientierenden Nationalliberalen annäherte. Langsam wuchs auch die Bereitschaft von Linksliberalen und Sozialdemokraten zu einer begrenzten Zusammenarbeit in konkreten Einzelfragen trotz der großen Widerstände, die in beiden politischen Lagern weiterhin gegen diese Politik bestanden. Diese ersten und keineswegs gradlinig verfolgten Ansätze in Richtung einer vorsichtigen Annäherung der Politik der Bewegungsparteien fanden ihre Entsprechung in der Verhärtung der Konservativen, die sich nach ihrer Niederlage in den Reichstagswahlen von 1912 im Reich in die politische Isolation gedrängt sahen und daher ihre Machtposition in Preußen mit um so größerer Zähigkeit verteidigten. Bethmann Hollweg, der als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident gleichzeitig mit den nach einem unterschiedlichen Wahlrecht gewählten und in ihrer politischen Zusammensetzung disparaten Parlamenten im Reich und in Preußen auskommen mußte, sah in der durch das Parallelogramm der politischen K r ä f t e gegebenen „Politik der Diagonale" 1 1 die einzige nach den realen 2·

19

Gegebenheiten offene Möglichkeit der Regierung. Faktisch bedeutete das, daß die Regierung trotz der Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen vor dieser Aufgabe resignierte und nicht einmal das überfällige Problem der Änderung des preußischen Dreiklassenwahlrechts ernsthaft in Angriff nahm. Die „Politik der Diagonale" lief daher auf eine Akzeptierung des politisch-sozialen Status quo und ein Dahinwursteln auf der Linie des geringsten Widerstandes hinaus. Der Gegensatz zwischen der erstaunlichen Expansion und Modernität der deutschen Wirtschaft und den nach den Maßstäben der Zeit recht beachtlichen Leistungen der Sozialreform auf der einen Seite und der weitgehenden Konservierung der schon 1871 nicht mehr zeitgemäßen Machtverhältnisse auf der anderen Seite blieb so in einem Zeitalter der zunehmenden Politisierung der Massen und der dazu parallellaufenden Demokratisierung der Formen - wenn auch nicht des Inhalts - des politischen Lebens unvermittelt bestehen. Das politische System des Bismarckreiches hielt dann auch weder der Belastungsprobe des Ersten Weltkrieges stand, noch vermochte es dem deutschen Volk eine politische Erziehung oder in der Praxis verantwortlicher politischer Arbeit geschulte Parlamentarier und Parteien zu geben, die die Nation zur Lösung der in der Weimarer Republik auf sie einstürzenden schweren Probleme befähigten.

20

II. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg* I. D i e A n f ä n g e der deutschen Arbeiterbewegung und die Entwicklung der Sozialdemokratie zur Massenpartei bis 1890 Industrialisierung

und Herausbildung

der

Arbeiterschaft

Die Konstituierung der europäischen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert gehört zu den strukturellen Folgeerscheinungen des in Deutschland spätestens seit der Jahrhundertmitte zu datierenden Industrialisierungsvorgangs. Der Übergang zu differenzierteren Formen der Produktion in Fabriken und Großbetrieben, die tiefgreifende Umwälzung in den Verkehrs-, Markt- und Konsumverhältnissen und der korrespondierende relative Niedergang der überkommenen handwerklichen und bäuerlichen Erwerbsformen verschoben unter sprunghaftem Anstieg des Produktionsvolumens den Schwerpunkt der Erwerbstätigkeit auf unterbürgerliche, ,handarbeitende Klassen*. Gerade die unterbürgerlichen Schichten hatten im Zuge der Bevölkerungsexplosion etwa seit der Wende zum 19. Jahrhundert der Zahl nach gewaltig zugenommen und stellten nun, in überreichem Maße und daher oft zu niedrigsten Löhnen, das Arbeitskräftepotential der Industriellen Revolution in Deutschland1. Die gewerbliche Arbeiterschaft bot in der durch widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichneten Frühindustrialisierungsphase (etwa bis 1850) ein überaus buntes Berufs- und Herkunftsbild. In den Zentren der frühen Textilindustrie, etwa in Sachsen und Minden-Ravensberg oder auch in den rheinischen Textilgebieten, überwog eine stark verarmte, oft noch in Heimarbeit ausgebeutete Arbeiterschaft. Im frühen Eisenbahnbau trafen unter entwürdigenden Arbeitsbedingungen Zuwanderer aus den ländlichen Schwerpunkten des Bevölkerungswachstums, pauperisierte und entwurzelte Handwerksgesellen und andere Arbeiter aus Gesinde und Tagelöhnerschaft in Stadt und Land aufeinander. Auch in der meist kleinbetrieblichen metallverarbeitenden Industrie im Siegerland bis hin zum Solingen-Elberfelder Wirtschaftsraum war mit der englischen Roheisenkonkurrenz die Not eingezogen, während sich die angrenzenden Bergbaugebiete zwischen Ruhr und Emscher und an der Saar anhaltender Prosperität erfreuten. Schon diese wenigen Andeutungen zeigen, wie vielgestaltig und aufgefächert, von regionalen und sektoralen Sondereinflüssen überlagert und durch die Strukturen des älteren Erwerbslebens behindert, die Entstehung der Arbeiterschaft in den Grenzen des Reichsgebiets von 1871 verlief 2 . Die Bewegung der Arbeiterschaft im Sinne ihrer gewerkschaftlich-politischen Organisierung und Interessenvertretung konstituierte sich ursprünglich, und 21

dies vor allem rechtfertigt den so sehr dem gesellschaftlich-politischen Klima des Vormärz entsprechenden Begriff der ,Bewegung', als Protest- und Kampfbewegung, die sich anfangs durchaus noch rückwärts auf Wiederherstellung vorindustrieller Erwerbs- und Lebensformen (Maschinenstürme) richten konnte. Mochten hierbei auch die Probleme des frühindustriellen Alltags: Wanderungen, Berufswechsel, Statusverluste und Verarmungserscheinungen im Vordergrund stehen, so galt die Auflehnung im Kern doch den Anpassungsanforderungen des Strukturwandels so sehr wie den neuen Konfliktherden, die mit den Frühformen industrieller Produktion in die Arbeitswelt eindrangen 3 . Erst unter dem Einfluß emanzipatorischer Ideologien, die freilich bereits in der Entstehungsphase einwirkten, vollzog sich die Formung der Arbeiterbewegung zu einer progressiven politischen Kraft.

Die ersten Organisationen der Arbeiterbewegung und in der Revolution

im

Vormärz

Es war die Verhärtung des starren, auf monarchische Herrschaftslegitimierung beharrenden, obrigkeitlich-autoritären politischen Systems bereits gegen die seit den Befreiungskriegen vermehrt anbrandenden Wellen bürgerlicher Emanzipation, die auch die Organisationsgeschichte der Arbeiterbewegung im Vormärz bis in die Revolutionsjahre 1848/49 prägte 4 . Weil im Gebiet des Deutschen Bundes Versammlungen und Vereinigungsbestrebungen zum Zweck der Interessenformulierung und politischen Einflußnahme streng verboten blieben, entstanden die frühesten Vereinigungen der deutschen Arbeiterbewegung im westeuropäischen Ausland: in Paris, in der Schweiz, etwas später auch in London und in Brüssel. Wandernde Handwerksgesellen vor allem, aber auch emigrierte Intellektuelle und andere Oppositionelle fanden sich in eigenen Gruppen, Zirkeln und Vereinen, die zum Teil auch Geheimbundcharakter trugen, um Erfahrungen auszutauschen und die Ziele der erwünschten gesellschaftlichen Neuerung und der nationalen Einigung in der Heimat zu diskutieren. Auf dem Weg über diese Auslandsvereine fanden seit den 1830er Jahren sowohl die radikaldemokratischen, in der Julirevolution wiederbelebten Ideale der Französischen Revolution als auch die ebenfalls an die revolutionären Umwälzungen der Neuzeit anknüpfenden sozialutopischen Versuche der französischen Frühsozialisten, unter ihnen Babeuf, Saint-Simon, Fourier und Blanc, Eingang in die frühe deutsche Arbeiterbewegung. Auch Deutsche wie Moses Heß und insbesondere der Schneidergeselle Wilhelm Weitling, dessen ,Handwerkerkommunismus' vielfach auf fruchtbaren Boden fiel, trugen zur Entwicklung und Verbreitung sozialistischer Ideen bei. Neben den Auslandsvereinen hatten sich im Gebiet des Deutschen Bundes gelegentlich im Verborgenen, in steter Gefahr des behördlichen Verbots Arbeiterbildungsvereine gebildet, die sich häufig an bürgerliche Emanzipationsbestrebungen anlehnten und insbesondere von Handwerkern getragen wurden. In ihrer 22

Entwicklung gerieten sie zum Teil unter den Einfluß der Auslandsvereine, die sich um den Aufbau von eigenen Gemeinden in Deutschland bemühten. Die Ereignisse des März 1848 in Berlin, Wien und an anderen Orten, das vorläufige Ende der Reaktionsepoche, der Griff nach den vielversprechenden Rechten und Freiheiten demokratischer Verfassungen und die Aussicht auf nationale Einheit haben gerade in der noch ganz überwiegend handwerklich qualifizierten Arbeiterschaft starken Widerhall gefunden. Nachdem man sich anfänglich oft den bürgerlichen demokratischen und audi konstitutionellen Vereinen angeschlossen hatte, machten sich bald unter Nutzung der einstweilen gewährten Versammlungs- und Vereinigungsmöglichkeiten eigenständige organisatorische Regungen geltend5. Unter dem Einfluß von Karl Marx, dessen im Februar 1848 veröffentlichtes „Kommunistisches Manifest" vorerst wenig Resonanz fand, standen die zum Teil schon im Vormärz gegründeten Filialen des Bundes der Kommunisten, der sein Hauptausdehnungsgebiet im Rheinland mit einem Zentrum in Köln hatte. Als zweite überregionale Organisation der Arbeiterbewegung entstand seit dem Sommer 1848 unter der Führung von Stefan Born die „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung", der sidi mehrere Regionalorganisationen, so im sächsischen Industriegebiet, aber auch im Osnabrücker Raum, im Hannoverschen und in Süddeutschland anschlossen. Während sich Marx und der Kommunistenbund einstweilen auf die Vollendung und Festigung der bürgerlichen Revolution festlegten, wurden in der Arbeiterverbrüderung gewerkschaftliche und politische Forderungen der Arbeiterschaft in einer die Entwicklung der 1860er Jahre vorwegnehmenden, kämpferischen Weise formuliert. Die in den Revolutionsmonaten bei manchen Beziehungen zwischen den beiden Gruppierungen angelegte ideologisch-organisatorische Doppelpoligkeit der frühen Arbeiterbewegung sollte sich, freilich in anderer Form, in der Rekonstitutionsphase seit 1863 wiederholen und bis 1875 zu einer schweren Bürde der jungen Organisationen werden.

Die Unterdrückung

der Arbeiterorganisationen

in der Zeit der

Reaktion

Der Mißerfolg der Revolution 1848/49 hatte die völlige Unterdrückung der Arbeiterbewegung zur Folge. Seit 1850 wurden die Vereine und Verbindungen der Arbeiter bis hin zu dem berühmten Kölner Kommunistenprozeß von 1852 in zunehmendem Maße beaufsichtigt und verfolgt. Nach dem Bundesbeschluß von 1854, der die Regierungen der deutschen Staaten zur Auflösung der Arbeiterorganisationen verpflichtete, konnten sich nur wenige Gruppen, als informelle Zirkel oder als politisch unverdächtige Lese- und Gesangvereine getarnt, behaupten. Wirtschaftlich waren die Jahre der politischen Reaktion durch einen Konjunkturaufschwung von bisher ungeahnter Kraft und Breite gekennzeichnet. Während sich die bürgerlichen Schichten mit dem überkommenen, mit neuer Autorität erfüllten Staatswesen zu versöhnen begannen, wurden die Grund23

strukturen der künftigen Industriearbeiterschaft in Deutschland vor allem durch den Ausbau der Montanindustrie angelegt und gefestigt. Erstmals in nennenswertem Umfang bildeten sich die typischen industriegesellschaftlichen Konfliktlagen aus und führten zu Arbeitskämpfen mit Höhepunkten in den Jahren 1856/57, während die Proteste und Hungerrevolten des Vormärz nur selten die Form von Streiks angenommen hatten. Indessen ließen Koalitionsverbote, Vereinsrecht und polizeiliche Verfolgung keinen Raum für dauerhafte Organisationen. Trotzdem läßt sich eine Kontinuität zu den in den 1860er Jahren neugegründeten Organisationen der politischen Arbeiterbewegung nachweisen, die vor allem in der Übernahme organisatorischer Muster, im ideologisch-programmatischen Bereich, in der Anknüpfung an ältere lokale und regionale Schwerpunkte und in der wichtigen Rolle einiger der Führer der Bewegung von 1848/49 bestand«.

Ferdinand Lassalle und die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 Die politischen Voraussetzungen für die Wiederbelebung der organisierten Arbeiterbewegung verbesserten sich mit den zu Beginn der .Neuen Ära' in Preußen 1858 einsetzenden Liberalisierungstendenzen. Versuche von liberaler Seite, die Arbeiterschaft an die neu entstehenden politischen Organisationen, wie den Nationalverein und die Fortschrittspartei in Preußen, zu binden, knüpften insbesondere an den gerade auch in bürgerlichen Kreisen anhaltend starken Gedanken der Arbeiterbildung an. Erste Bestrebungen zum Abschütteln der bürgerlichen Vorherrschaft 7 gingen besonders aus Kreisen des Arbeiterbildungsvereins in Leipzig hervor, deren Initiative Ferdinand Lassalles Entwurf eines Programms über die politischen und sozialen Ziele der Arbeiterschaft - das sogenannte „Offene Antwortschreiben" - veranlaßte. Lassalle ergriff damit die Führung der in Leipzig und auch in anderen Orten aufgekommenen Tendenzen zur Schaffung einer überregionalen Arbeiterorganisation, die am 23. Mai 1863 im Pantheon zu Leipzig in die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins mündete. Auf dem Gründungskongreß waren Delegierte von elf deutschen Städten - Leipzig, Hamburg, Harburg, Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Barmen, Solingen, Frankfurt am Main, Mainz und Dresden - vertreten 8 . Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands bildete sich damit in einer Welt, in der der revolutionäre, radikaldemokratische Republikanismus Mazzinis in Süditalien einen fruchtbaren Boden fand, in der die junge russische Intelligenz immer leidenschaftlicher gegen die überkommene Ordnung des Zarenreiches protestierte, in der der amerikanische Bürgerkrieg in sozialistischen Zirkeln als Klassenkampf gedeutet wurde und in der auch in Deutschland, nicht zuletzt durch das Beispiel der italienischen Einigung, die 1848/49 gescheiterten Bestrebungen nach nationaler Einheit und politischer Freiheit wieder auf-

24

geflammt waren und im preußischen Verfassungskonflikt einem neuen Höhepunkt zustrebten". Ferdinand Lassalle, der 1825 geborene Sohn eines jüdischen Seidenkaufmanns, hatte bereits in seiner Schulzeit mit demokratischen Bestrebungen sympathisiert und war 1848 wegen seiner revolutionären Aktivität einige Monate inhaftiert worden. Seit seinem Universitätsstudium Junghegelianer, hat Lassalle 10 in der Folgezeit in zwei bedeutenden wissenschaftlichen Werken über „Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos" (1858) und „Das System der erworbenen Rechte" (1861) - eine brillante Abhandlung über das Eigentum - seine Lebensphilosophie entwickelt, ehe er sich 1862/63, die günstige Situation des preußischen Verfassungskonflikts ausnutzend, der aktiven Politik zuwandte. Geistreich, liebenswürdig und hochbegabt - aber auch ehrgeizig, egoistisch, dem Luxus nachjagend und nicht ohne Eitelkeit - , hat Lassalle in der kurzen Frist bis zu seinem frühen, durch ein Duell wegen einer Liebesaffäre herbeigeführten Tod im August 1864 mit seiner Agitation und seinen Ideen weite Teile der Arbeiterschaft aus ihrer politischen Interesselosigkeit geweckt und die Keimzelle einer großen sozialistischen Partei gelegt. Im Gegensatz zu dem von ihm heftig angegriffenen Schulze-Delitzsch, der von seiten der liberalen Fortschrittspartei die Handwerker und Arbeiter f ü r seine Idee der Lösung der sozialen Frage durch freien genossenschaftlichen Zusammenschluß und Selbsthilfe zu gewinnen trachtete 11 , vertrat Lassalle die Ansicht, daß die Arbeiter aus eigener K r a f t allein nicht imstande wären, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Aufgrund eines „ehernen" ökonomischen Gesetzes werde der durchschnittliche Arbeitslohn immer wieder auf den Betrag reduziert, der „zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung" der Arbeiter unbedingt erforderlich sei. Allein durch die Bildung von großen Produktionsgenossenschaften, in denen die Arbeiter als ihre eigenen Unternehmer den vollen Ertrag ihrer Arbeit erhielten, könne die Wirkung dieses grausamen Lohngesetzes beseitigt werden. Die Aufgabe des Staates, der f ü r Lassalle die treibende K r a f t f ü r den Kulturfortschritt der Menschheit ist, sei es nun, sich der Sache der Arbeiter fördernd anzunehmen und ihnen die Mittel zur Selbstorganisation und zum Aufbau der benötigten großen Fabriken zu geben. Diese Lösung der sozialen Frage setze aber eine grundlegende politische Reform - die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts durch die unermüdliche Agitation der Arbeiterschaft - voraus. Erst durch eine Demokratisierung der gesetzgebenden Körperschaften könne der Staat bestimmt werden, seine Pflichten gegenüber den Arbeitern zu erfüllen und den Sozialismus zu verwirklichen12. Lassalle, der im Kommunistischen Manifest von Marx sein Glaubensbekenntnis sah, ging in seiner Politik von der Vorstellung eines nicht zu überbrückenden Klassengegensatzes zwischen Proletariat und Bürgertum aus. In der Wendung gegen das politische Übergewicht des Bürgertums und in der hohen Einschätzung der Rolle des Staates 13 ergaben sich Berührungspunkte mit Bismarck, 25

dem auf der Höhe des preußischen Verfassungskonflikts ein Bundesgenosse im Rücken der vom Dreiklassenwahlrecht in Preußen profitierenden liberalen Fortschrittspartei politisch zupaß kam. Die berühmten Verhandlungen zwischen Bismarck und Lassalle verliefen im Sande, da der sozialistische Agitator dem preußischen Staatsmann nicht genug bieten konnte. Der gelegentliche Traum des Republikaners Lassalle von einem revolutionären sozialen Volkskönigtum, das sich mit Hilfe der Arbeiter gegen den „Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft" setzen würde 14 , blieb unverwirklicht. Die Frage aber, ob damals noch die Chance bestanden hätte, den die deutsche Geschichte in der Folgezeit so verhängnisvoll belastenden Gegensatz zwischen Staat und Arbeiterbewegung zu vermeiden, ist eines der Kernprobleme der deutschen Geschichte. Der bald zum Nachfolger Lassalles gewählte Frankfurter Anwalt Johann Baptist von Schweitzer18, der aus dem kleinen Verein Lassalles erst eine zur politischen Aktion befähigte Partei machte, versuchte, an der Zusammenarbeit mit Bismarck festzuhalten. Die Versöhnung zwischen liberalem Bürgertum und preußischem Staat 1866 und das mangelnde Interesse der Konservativen für die Idee eines sozialen Königstums entzogen jedoch dieser Politik den realen Boden. Schweitzer selbst sah sich bald heftigen Angriffen in der Arbeiterschaft ausgesetzt, die sich gegen seine preußenfreundliche Politik und seine fast diktatorische Leitung des seit seiner Gründung streng zentralistisdi organisierten Vereins 1 ' wandten.

Die Gründung der Sozialdemokratischen

Arbeiterpartei

1869 und ihre Führer

Im August 1869 wurde schließlich als zweite Stufe der Loslösung selbständiger Arbeiterparteien vom demokratischen Flügel des bürgerlichen Liberalismus in Rivalität zur Organisation Schweitzers auf einem Kongreß in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" gegründet. Sie setzte sich zusammen aus der kleinbürgerlichen Sächsischen Volkspartei, abgesplitterten Lassalleanern sowie den Mitgliedern des Verbandes Deutscher Arbeitervereine, der 1863 zunächst als Bollwerk des Bürgertums gegen die proletarische Bewegung geschaffen worden war, aber bald sozialistische Tendenzen aufwies. Im Programm der neuen Partei verbanden sich die demokratischen Ideen des bürgerlichen Radikalismus mit marxistischem Gedankengut und Zugeständnissen an die Lassalleaner17. Im Gegensatz zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein war die Partei scharf antipreußisch und vertrat die großdeutsche Lösung in der Frage der nationalen Einigung. Audi in der Betonung der internationalen Solidarität der Arbeiter, in der scharfen Ablehnung der bestehenden Staaten als Instrumenten der Klassenherrschaft und in der relativ lockeren Form der Organisation, die den örtlichen Parteigruppen eine bessere Entfaltungsmöglichkeit gab, unterschieden sich die Eisenacher von den Lassalleanern. 26

Die führenden Köpfe der neuen Partei waren der Journalist Wilhelm Liebknecht und der Drechsler August Bebel. Der 1826 in Gießen geborene, früh verwaiste Liebknecht 18 entstammte einer bürgerlichen Gelehrtenfamilie. Während der Schulzeit in Gießen und während des Universitätsstudiums zu extremen republikanischen und kommunistischen Theorien bekehrt, hat der junge Liebknecht in der Revolution von 1848 an dem gescheiterten Versuch der Schaffung der Republik Baden führend mitgewirkt. In den folgenden 13 Jahren hat er sich in London in enger Berührung mit Marx und Engels sein theoretisches Rüstzeug angeeignet, ehe er aufgrund einer Amnestie 1862 nach Deutschland zurückkehrte. Kurze Zeit bis zum Bruch mit Schweitzer als Vertrauensmann von M a r x und Engels in der Redaktion des „Sozialdemokrat", des Zentralorgans der Lassalleaner, in Berlin wirkend, kam Liebknecht nach seiner Ausweisung aus Preußen 1865 in Leipzig mit dem 14 Jahre jüngeren Bebel in Berührung, dessen Mauserung zum Sozialisten er beschleunigte. Der nach dem frühen Tod seines Vaters, eines preußischen Unteroffiziers, und seines Stiefvaters, eines Gefängnisaufsehers, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Bebel19 hatte über einen katholischen Gesellenverein, dem er sich obwohl Protestant - in seinen Wanderjahren anschloß, und einen Leipziger Arbeiterbildungsverein den Weg zur Politik gefunden. Als politischer Taktiker mit einem Sinn f ü r Realitäten, als geschickter Parlamentarier und glänzender Organisator war er Liebknecht, der bis zu seinem Tode 1900 die deutsche Politik nach dem unzulänglichen Maßstab seiner 48er Erfahrungen beurteilte, weit überlegen. Bebel wurde so der eigentliche Baumeister der neuen Partei, die 1870, als den gemeinsamen nationalpolitischen Konzeptionen durch den DeutschFranzösischen Krieg 1870/71 jede H o f f n u n g auf Verwirklichung genommen wurde, endgültig die noch vorhandenen Brücken zur bürgerlichen Demokratie abbrach.

Die Sozialdemokratie von der Reichsgründung bis zum Sozialistengesetz 1878 Bebel und Liebknecht - seit 1867 im Reichstag des neugeschaffenen N o r d deutschen Bundes - haben im Gegensatz zu den zunächst f ü r die geforderten Kriegskredite stimmenden Lassalleanern sofort nach Ausbruch des Krieges ihre ,Neutralität' durch Stimmenthaltung zum Ausdruck gebracht. Als nach dem deutschen Sieg von Sedan der Krieg auch gegen die neugegründete Französische Republik fortgesetzt wurde und die Pläne zur Annexion Elsaß-Lothringens immer deutlicher zu erkennen waren, haben sie diesmal zusammen mit den Lassalleanern gegen die geforderten neuen Kriegskredite gestimmt und zur Organisation großer Kundgebungen gegen jede Annexion aufgerufen. Ihr mutiges Auftreten gegen die Welle patriotischer Hochstimmung haben die Sozialdemokraten beider Richtungen mit einer schweren Niederlage in den Reichstagswahlen von 1871 - nur Bebel konnte sein Mandat behaupten - bezahlen müssen 20 . 27

Die tieferen Ursachen, die die Entstehung politischer

Arbeiterorganisationen

begünstigt hatten, verstärkten sich aber durch die jetzt einsetzende Beschleunigung der Industrialisierung, so daß das Wachstum der Partei nur vorübergehend unterbrochen wurde. Die nach den Erfahrungen mit der Pariser Kommune noch verschärfte antisozialistische Politik Bismarcks und der Rücktritt Schweitzers von der Leitung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1871 ebneten schließlich den Weg für die durch eine zweijährige Festungshaft Bebels und Liebknechts 21 noch einmal verzögerte organisatorische Verschmelzung der beiden deutschen Arbeiterparteien auf dem Kongreß von G o t h a 1875 zur „Sozialistischen

Arbeiterpartei

Deutschlands".

In

dem

Vereinigungsprogramm 22

hatten - wie M a r x in einer von den Parteiführern bis 1891 unterdrückten vernichtenden Kritik an der „Heiligsprechung der Lassalleschen Glaubensartikel" im einzelnen nachwies 23 - die Vorstellungen Lassalles noch einen starken Niederschlag gefunden. Das allmähliche Zurücktreten dieser Ideen und das innere Zusammenwachsen der beiden konstituierenden Gruppen der neuen Partei war eine Folge des Sozialistengesetzes, das 1878 nach zwei Attentaten auf den K a i ser, die der Sozialdemokratie unberechtigt zur Last gelegt wurden, vom Reichstag verabschiedet wurde. M i t diesem Ausnahmegesetz wollte Bismarck die sich rasch ausbreitende Sozialdemokratie

zerschlagen,

ehe sie dem Staat

selbst

gefährlich werden konnte. Alle selbständigen Arbeiterorganisationen wurden verboten; ihre Zeitungen - die Partei verfügte bereits über 51 Blätter - wurden mit zwei Ausnahmen unterdrückt und die Versammlungsfreiheit aufs äußerste beschränkt. E t w a 9 0 0 führende Persönlichkeiten der Partei wurden während der Dauer des Gesetzes 1 8 7 8 - 1 8 9 0 aus ihren Wohnsitzen ausgewiesen und gegen 1500 zeitweilig ins Gefängnis

geworfen 24 .

Neben

diesen

Unterdrückungsmaßnahmen

versuchte

Bismarck aber auch durch eine für die damalige Zeit großzügige soziale Gesetzgebung - die Einführung der staatlichen Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung - die Arbeiter mit ihren materiellen Interessen an das Deutsche Reich zu binden und so der sozialdemokratischen Agitation das Wasser abzugraben.

Die Entwicklung

der Partei unter dem

Ausnahmegesetz

Die Politik Bismarcks ist gescheitert. Nach dem ersten Schock, der Tendenzen zu einer Kapitulation aufkommen 2 5 und die parteiliche Entwicklung über fast zwei J a h r e stagnieren ließ, gruppierte sich die Mitgliedschaft in den unter den Bedingungen des Vereinsrechts, der Reichsgewerbeordnung, des Reichstagswahlrechts und des Sozialistengesetzes verbliebenen geringen Organisationsmöglichkeiten neu. Die ersten örtlichen Organisationen wurden oft als Rauch- oder Kartenklubs getarnt oder entstanden in Anlehnung an die gewerkschaftlichen Hilfskassen und lokalen Fachvereine, die nach dem nahezu völligen Verbot der gewerkschaftlichen Zentralverbände in einigen Regionen und Gewerben noch zum Ende der siebziger J a h r e neu entstanden. 28

Diese um 1883-86 mit der milden H a n d h a b u n g des Sozialistengesetzes vermehrt gebildeten Fachvereine, erste wiedergegründete Zentralverbände der Gewerkschaften sowie Arbeiterwahlvereine wurden die neuen organisatorischen Sammlungspunkte der Arbeiterschaft. In vielen Orten wurde ein Lokal zum Treffpunkt der sozialdemokratisch Gesinnten und der Wirt zum Führer der Partei des Ortes. Die f ü r längere Zeit völlig abgerissene Verbindung der Parteimitglieder der einzelnen Orte mit der Parteiführung, die auf die Reichstagsfraktion und ihren Vorstand überging, wurde durch den im Ausland hergestellten und nach Deutschland eingeschmuggelten „Sozialdemokrat", das Zentralorgan der Partei, sowie durch die Auslandskongresse in Wyden (Schweiz) 1880, Kopenhagen 1883 und St. Gallen 1887 neu geknüpft. Weiterhin bildeten sich in den achtziger Jahren schlagkräftige illegale regionale Organisationen, die sog. Korpora, die es der Führung eines Gebietes ermöglichten, eine Mobilisierung des aktiven Kerns der Partei f ü r bestimmte Aktionen innerhalb kürzester Zeit zu veranlassen. Die Schaffung regionaler Organisationen und die starke Stellung der in dieser Zeit bewährten lokalen und regionalen Parteiführer ist ein Erbe der Zeit des Sozialistengesetzes f ü r die spätere Parteiorganisation. Schließlich wurde auch die lokale Presse langsam unter geschickter Umgehung der Bestimmungen des Sozialistengesetzes wieder aufgebaut. Es war in jener Zeit des Sozialistengesetzes von 1878-90, daß die Sozialdemokratie sich zu einer großen Massenpartei der Industriearbeiter und H a n d werksgesellen entwickelte. Der Schwerpunkt der Eisenacher hatte zunächst bei den wirtschaftlich rückständigen Handwebern in den halbländlichen Distrikten Sachsens gelegen. Die Lassalleaner dagegen hatten ihre ersten Zentren in Schleswig-Holstein und in Städten des Niederrheins. Erst in den Wahlen von 1874 und besonders 1877 war es den Sozialdemokraten gelungen, in den Großstädten N o r d - und Ostdeutschlands fest Fuß zu fassen und ζ. B. in Berlin 1877 fast 40 Prozent der Stimmen zu gewinnen 29 . In den Jahren des Sozialistengesetzes konnte die Sozialdemokratie ihren Aktionsradius auf Süddeutschland, wo vor 1878 nur wenige Städte, vor allem Nürnberg und Fürth, von der Parteiorganisation erfaßt worden waren, ausdehnen und seit 1887 auch im Ruhrgebiet größere Wahlerfolge erringen. Die während des Sozialistengesetzes übliche Ausweisung sozialistischer Agitatoren hat dabei die Verbreitung sozialistischer Ideen und die Gründung neuer Organisationskerne nur gefördert. Die Ausbreitung der Partei spiegelt sich in den Ergebnissen der Reichstagswahlen der achtziger Jahre wider. H a t t e die Wahl von 1881 aufgrund der scharfen Überwachung durch die Behörden noch einen Rückschlag gebracht, so konnte die Partei bei den folgenden Reichstagswahlen von 1884 und 1887 große Gewinne verbuchen. 1890 wurde die Sozialdemokratie schließlich mit fast 20 Prozent der abgegebenen Stimmen zur größten Partei Deutschlands und gleichzeitig zum ersten Beispiel einer sich über das ganze Reichsgebiet erstreckenden politischen Massenorganisation. Das Muster der von der Sozialdemokratie praktizierten modernen Methoden der Propaganda und der Massen29

organisation ist schließlich auch von den anderen deutschen Parteien nachgeahmt worden. So schuf sich das Zentrum 1890 im Volksverein für das katholische Deutschland eine Hilfsorganisation zur politischen Beeinflussung der katholischen Wähler, während der Massenanhang der Konservativen von dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte organisiert wurde 27 . Auch die liberalen Parteien gingen langsam dazu über, ihren Charakter als Honoratiorenparteien abzustreifen und eigene Massenorganisationen aufzubauen 28 . H a t so das Sozialistengesetz das Wachstum der Partei, deren erfolgreiches Vorbild zu einer grundlegenden Veränderung des deutschen Parteienwesens führte, nicht aufhalten können, so hat es doch den Charakter der Sozialdemokratie und ihr Verhältnis zum bürgerlichen Staat geprägt. Die Erfahrungen jener Jahre, wachgehalten durch die ständige Furcht vor einer Welle neuer Verfolgungen, waren eine Hypothek, die die Politik der Partei auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 noch entscheidend belastete. Vor allem die älteren Sozialdemokraten, die in dieser Zeit des Kampfes ihre sozialistische Rekrutenausbildung durchgemacht hatten und nach 1890 die Kader der Partei bildeten, behielten einen starken, immer wieder in entscheidenden Momenten zum Durchbruch kommenden Vorbehalt gegenüber dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. Die verhängnisvolle Kluft zwischen Arbeiterschaft und Staat, die in den Jahren des Sozialistengesetzes aufgerissen worden war, hatte sich noch Jahrzehnte später nicht wieder völlig geschlossen. Die während der Dauer des Sozialistengesetzes von außen aufgezwungene Isolierung der sozialistischen Arbeiterschaft bestärkte dabei als natürliche Reaktion die Selbstisolierung der Partei, die von der Berührung mit anderen Kräften eine Verwässerung ihrer Prinzipien und eine Aufgabe des Klassencharakters der Bewegung befürchtete. Der für die deutsche Sozialdemokratie der Zeit vor 1914 so kennzeichnende Charakter der Partei als Staat im Staate erhielt in jenen Jahren des Sozialistengesetzes seine Prägung. In den lokalen Partei- und Gewerkschaftsvereinen fand der sozialistische Arbeiter nicht nur eine Organisation zur Wahrnehmung seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen, sondern eine geistige Heimat und eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, deren gesellschaftliches Leben auch seine Freizeit bestimmte. Die Arbeiterorganisationen aber erhielten einen Stamm erprobter und ihnen ergebener Mitglieder, denen keine andere Partei etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Neben die typischen Ehrbegriffe der handwerklichen Arbeiterschaft traten nun als neue Werte solidarischen Verhaltens Disziplin, Opferbereitschaft und Hingabe an die Ziele der Arbeiterbewegung. Ein weiteres Erbteil der Zeit des Sozialistengesetzes war das Vordringen des Marxismus, dessen Analyse des Staates als eines Instruments der herrschenden Klassen durch die praktische Politik bestätigt zu werden schien. Gleichzeitig aber setzte sich die Partei aufs schärfste von allen anarchistischen Bestrebungen ab 29 . So rückten gerade in der Zeit des Sozialistengesetzes die Propaganda für die Reichstagswahlen und die vor allem als Agitation verstandene parlamentarische Tätigkeit der Abgeordneten - die einzig übriggebliebenen legalen Betätigungsfelder der Partei - noch stärker als 30

bisher in den Mittelpunkt der politischen Arbeit. Als Konsequenz dieser E n t wicklung w u r d e die revolutionäre Zielsetzung in der Praxis immer mehr von der konkreten Reformarbeit in den H i n t e r g r u n d gedrängt. Durch die W a h l erfolge zur Zeit des Sozialistengesetzes bestätigt, w u r d e dann diese T a k t i k der K o n z e n t r a t i o n des proletarischen Emanzipationskampfes auf die politische Aktion im W a h l k a m p f u n d in den Parlamenten, die die deutsche Sozialdemokratie zur ersten großen Massenpartei der Arbeiterschaft der ganzen Welt gemacht hatte, z u m Vorbild f ü r die in den J a h r e n vor 1914 in Mittel-, N o r d u n d Westeuropa a u f k o m m e n d e n sozialistischen Parteien.

II. Die politische Arbeiterbewegung von der Aufhebung des Sozialistengesetzes bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges Staat und Arbeiterschaft

nach 1890

Das J a h r 1890 markiert f ü r den deutschen Sozialismus u n d seine Partei die Sozialdemokratie - den Abschluß einer alten und den Beginn einer neuen Epoche. Das Sozialistengesetz, das die Partei zwölf J a h r e lang schärfsten U n t e r d r ü d i u n g s m a ß n a h m e n ausgesetzt hatte, w u r d e nicht verlängert. Mit Bismarck w a r der gefährlichste Gegner der Partei gestürzt, und der Kaiser selbst verkündete in zwei Erlassen vom 4. Februar 1890 ein großzügig konzipiertes P r o g r a m m sozialer Reformen, das den sozialpolitischen Bestrebungen der Sozialdemokratie weitgehend entgegenkam. Dieser von einigen G r u p p e n der hohen Beamtenschaft mit großem Elan aufgegriffene Versuch, die Arbeiterschaft f ü r den Staat zu gewinnen u n d der revolutionären Agitation unter den Arbeitern den Boden zu entziehen, f ü h r t e zur Grundlegung der deutschen A r beiterschutzgesetzgebung und zum Ausbau der Gewerbeinspektion. Alle weiterreichenden Bestrebungen scheiterten aber an der Uneinigkeit der Regierung, am Widerstand der betroffenen Interessen u n d der von Augenblickseinflüssen abhängigen schwankenden H a l t u n g des Kaisers, dessen kurzfristig entflammtes Interesse an Fragen der Sozialpolitik bald wieder erlosch. Mit der Umsturzvorlage 1894/95 und der Zuchthausvorlage 1899, die allerdings a m Widerstand des Reichstags scheiterten, w u r d e erneut mit einer U n t e r drückungspolitik gedroht, ehe die Regierung schließlich nach der J a h r h u n d e r t wende in die Bahnen einer vorsichtigen, von patriarchalischen Ideen getragenen, sozialen Fürsorgepolitik einlenkte 30 . Die Politik des .Neuen Kurses' blieb so auf dem Gebiet der Arbeiterpolitik, wie in anderen Bereichen, in Ansätzen stecken. Sie zeigte, daß, von Ausnahmeerscheinungen wie dem preußischen H a n delsminister Freiherrn von Berlepsch u n d seinen engsten Mitarbeitern abgesehen, bei den sozial bestimmenden Schichten noch keine Bereitschaft bestand, mit dem alten System der Fürsorge und der Wohltaten zu brechen und den tieferen Antrieben der Arbeiterbewegung - dem Streben der Arbeiter nach Gleichbe31

rechtigung und Mitbestimmung bei der Entscheidung ihrer Anliegen - Verständnis entgegenzubringen. Durch den Zickzackkurs ihrer Arbeiterpolitik und die grundsätzliche Weigerung, die Sozialdemokratie und die von ihr beeinflußten Freien Gewerkschaften als politische und wirtschaftliche Vertretung der Arbeiter zu akzeptieren und zu tolerieren, nahm sich die Regierung auch die Chance, die innere Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Das Erfurter

Programm und die Grundzüge

der

Parteitaktik

Durch die Festigung und den Ausbau ihrer Organisation und vor allem durch die Annahme des berühmten Erfurter Parteiprogramms von 1891 3 1 glaubte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands - wie sie sich jetzt nannte für die nun an sie herantretenden Aufgaben gewappnet. Im Erfurter Programm wurden die an Lassalle anklingenden Formulierungen des alten Gothaer Programms von 1875 ausgemerzt. Gleichzeitig wurde der Marxismus zur alleinigen offiziellen Ideologie der Partei erhoben. Die Durchdringung der europäischen und besonders der deutschen Arbeiterbewegung mit marxistischen Gedankengängen war im wesentlichen das Werk von Friedrich Engels. Seine zuerst 1877/78 in einer Aufsatzreihe veröffentlichte Schrift gegen den sozialistischen Privatdozenten Karl Eugen Dühring der sogenannte „Anti-Dühring" - begründete eine marxistische Schule und wurde zur „weltanschaulichen Grundschrift des dialektischen Materialismus" 32 . In der deutschen Sozialdemokratie wurde besonders Karl Kautsky - ein Österreicher tschechischer Abstammung, der mit Engels bis zu dessen Tode in engem Kontakt stand - zum Vorkämpfer des Marxismus. In der „Propagandierung, Popularisierung und . . . Fortführung der wissenschaftlichen Resultate Marxschen Forschens und Denkens" 3 3 sah er nach seinen eigenen Worten sein Lebenswerk. In seinem Streben nach einer einheitlichen Weltanschauung faßte Kautsky die von ihm redigierte wissenschaftliche Zeitschrift der Partei, „Neue Zeit", als ein Organ des Marxismus auf, das rivalisierende Weltanschauungen bekämpfen und den Marxismus den Massen einhämmern sollte. Als theoretisches Gewissen der Partei hatte Kautsky einen bedeutenden und oft verhängnisvollen Einfluß auf die Festlegung der Parteipolitik, die er völlig einseitig nach dem Maßstab des von ihm interpretierten Marxismus beurteilte. Ganze Gebiete der Politik konnten für die Partei gar nicht oder erst spät erschlossen werden, da der von Kautsky benutzte Schlüssel des Marxismus für sie nicht paßte. Hatte schon der Anti-Dührung von Engels als ein „Filter" gewirkt, der wesentliche Elemente des Marxismus nicht durchließ 34 , so stellte der Kautskyanismus eine weitere Verflachung, Einengung und Umformung der Lehren von Marx dar. An die Stelle der Dialektik im Marxismus wurde von Kautsky die Evolution gesetzt. Die die aktive Rolle des Proletariats betonenden revolutionären Bestandteile wurden ausgeklammert. Schließlich wurde der Marxismus 32

im Verständnis Kautskys fast völlig auf eine Diagnose der nur durch den Sozialismus heilbaren Krankheitserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft und auf eine Prognose der mit naturgesetzlicher Sicherheit zu bestimmenden weiteren Entwicklung reduziert. Der Glaube an den von der Theorie vorhergesagten, naturnotwendigen und von selbst erfolgenden Zusammenbruch des Kapitalismus sollte auch das taktische Vorgehen der Partei bestimmen. Für die Führer der deutschen Sozialdemokratie - wie für Engels - war die Voraussetzung einer erfolgreichen Revolution die Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung 35 . In der vorrevolutionären Epoche liege daher die Aufgabe der Sozialdemokratie in der Propagierung des Sozialismus und in der Organisation des Proletariats, durch die die Position der Sozialdemokratie für den Endkampf, über dessen Form man sich kaum Gedanken machte, ständig verbessert werde. Die Organisations- und Propagandaarbeit der Sozialdemokratie hatte damit in der Theorie ein revolutionäres Vorzeichen. Die Führer der Sozialdemokratie waren aufgrund der Ideologie der Partei der Überzeugung, daß die Zeit für sie arbeite. Nicht die Partei, sondern ihre Gegner würden schließlich - verzweifelt über die unaufhaltsame Verstärkung der sozialistischen Bewegung als Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung - die Initiative zum Entscheidungskampf ergreifen. Die optimistische Einschätzung der Situation und die daraus abgeleitete Taktik des Abwartens erklärt auch die doppelte Frontstellung der Partei in den Auseinandersetzungen mit den ,Jungen', die mit der Provozierung eines verfrühten Zusammenstoßes mit den herrschenden Gewalten vor der Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung eine Niederwerfung der Partei riskieren würden, und gegen den bayerischen Sozialistenführer Vollmar, dessen Taktik die Arbeiter mit der kapitalistischen Gesellschaft versöhnen würde. Die von links kommende Oppositionsbewegung der sogenannten J u n g e n ' richtete sich gegen die angebliche Diktatur der Parteiführer und die nach ihrer Ansicht immer deutlicher werdende Entwicklung der Sozialdemokratie zu einer opportunistischen kleinbürgerlichen Reformpartei. Die radikalsten und konsequentesten Elemente dieser lokal differenzierten und völlig uneinheitlichen Bewegung lehnten die Mitarbeit der Sozialdemokratie in Parlamenten und Stadtverordnetenversammlungen a'b und propagierten eine anarchistische Kampfesweise. Das Bedeutsame an dieser Bewegung, die weder eine einheitliche revolutionäre Taktik noch eine zusammenhängende Theorie herausbildete, sind jedoch nicht ihre sachliche Kritik an der Partei und auch nicht ihre äußerst verschwommenen Vorstellungen, sondern vielmehr die in der Opposition zum Ausdruck kommenden Ressentiments der alten Parteigenossen gegen die jetzt nach dem Ende der Kampfzeit des Sozialistengesetzes zur Partei stoßenden Neulinge. Es ist der Parteiführung - vor allem dank des persönlichen Einsatzes von Bebel - jedoch gelungen, die sich anbahnende Verbindung der Vorurteile der Prätorianergarde des Sozialismus mit den revolutionären Phraseologien der intellektuellen Vertreter der ,Jungen' aufzulösen, den Stamm der alten Mitglieder, die 3

Ritter

33

sich mit ihrer Kritik nicht außerhalb des Parteirahmens stellen wollten, wieder an sich zu fesseln und die so isolierten Sprecher der Opposition auf dem Parteitag in Erfurt 1891 zum Austritt aus der Sozialdemokratie zu provozieren 38 . Sehr viel gewichtiger als diese zu einer sektierischen Haltung tendierende Linksopposition waren die von einem erheblichen Teil der süddeutschen Sozialdemokratie unterstützten Bemühungen Georg von Vollmars, den neuen reformfreundlichen Kurs der Regierung Caprivis mit einem Wandel der Politik der Sozialdemokratie zu honorieren. Vollmar, eine mächtige Bauerngestalt mit einem feinen, sensiblen Gesicht, ein volkstümlicher Agitator und ein Meister der ausgewogenen, geschliffenen Rede im Parlament, war der unbestrittene Führer der bayerischen Sozialdemokratie. Seine Rede vom 1. Juni 1891 über „Die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie" im Eldorado-Palast in München wurde das grundlegende Programm all der Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung, die sich unter Verzicht auf theoretische Erörterungen auf den Boden des bestehenden Staates stellten und in praktischer Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften versuchten, die Demokratisierung Deutschlands zu beschleunigen. Vollmar forderte die Konzentration der gesamten Kraft der Sozialdemokratie auf die Herbeiführung konkreter Reformen - wie ζ. B. die Verbesserung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die Erringung eines demokratischen Vereinsrechts und die Beseitigung der Lebensmittelzölle' 7 . Gleichzeitig deutete er an, daß die Sozialdemokraten im Falle eines Angriffs von außen bereit wären, ihr Vaterland zu verteidigen. Bebels Kritik an den Ansichten Vollmars ging davon aus, daß das Paktieren mit den herrschenden Gewalten das Rückgrat der Partei brechen, den Klassenkampf lähmen und die Partei zu einem Zeitpunkt mit der kapitalistischen Gesellschaft verbinden würde, in dem deren Untergang unmittelbar bevorstehe. „Ich bin überzeugt", so rief er auf dem Erfurter Parteitag 1891 den Delegierten zu, „die Verwirklichung unserer Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden." 38 Auch aus anderen Zeugnissen von Bebel und Engels ist bekannt, daß sie fest mit einem Sieg des Sozialismus im Laufe der nächsten zehn Jahre rechneten39. Die wuchtige Auseinandersetzung zwischen Vollmar und Bebel wurde schließlich ohne endgültige Entscheidung abgebrochen. Weder war es Vollmar gelungen, seinen Ansichten in der Gesamtpartei zum Durchbruch zu verhelfen, noch hatte Bebel, der Protagonist in diesem Streit, eine Isolierung seines Gegenspielers erreichen können. Es hatte sich gezeigt, daß Vollmar in der Gefolgschaft der bayerischen und den Sympathien der übrigen süddeutschen Sozialdemokraten eine Stütze fand, die es ihm ermöglichte, die Herrschaft des Parteivorstandes in den nächsten Jahren in Süddeutschland weitgehend zu mediatisieren. In den inneren Parteikämpfen der nächsten Jahre, die immer wieder den gespannten Zustand des Waffenstillstandes unterbrachen, war Vollmar als Antipode Bebels die zentrale Figur.

34

Die Sozialdemokratie

und die

Gewerkschaften

Die Aufhebung des Sozialistengesetzes hatte auch für die deutschen Gewerkschaften, die - mit der Ausnahme einiger früher gebildeter Verbände 40 am Ende der sechziger Jahre durch die Hebammendienste politischer Parteien begründet worden waren, eine grundsätzliche Neuorientierung zur Folge. Die sozialdemokratisch beeinflußten Verbände, die nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes verboten und meist völlig zerrieben worden waren, wurden in den späten achtziger Jahren während der lascheren Handhabung des Sozialistengesetzes im allgemeinen unter Bruch mit der Kontinuität von einer neuen Schicht von Gewerkschaftsführern neu begründet. Mit der Schaffung der unter der Leitung von Carl Legien stehenden „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" 41 , der Entscheidung für die Organisation in gewerkschaftlichen Zentralverbänden statt in örtlichen Vereinigungen und dem Aufkommen der ersten großen Industrieverbände, die die Arbeiterschaft verschiedener Berufe organisierten, wurde schließlich in den schwierigen Jahren der wirtschaftlichen Krise 1 8 9 0 - 9 4 die organisatorische Grundlage des sozialistischen Flügels der deutschen Gewerkschaftsbewegung, der über zwei Drittel der organisierten Arbeiter umfaßte, gelegt 42 . Das Verlangen nach einer strikten Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Sozialdemokratie führte auf dem Parteitag in Köln 1893 zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Partei- und Gewerkschaftsführern, in denen Bebel - bestimmt von der Erwartung des sozialistischen Zukunftsstaates den baldigen Niedergang der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung als Folge der Konzentration des Kapitals und der sozialpolitischen Gesetzgebung des Staates, die die Gewerkschaften aus ihrem eigentlichen Tätigkeitsbereich verdrängen würde, prophezeite 43 . Selbst Legien, der ein Jahr zuvor auf dem Parteitag in Berlin vergeblich versucht hatte, eine Resolution durchzusetzen, die die Parteimitglieder zum Anschluß an die gewerkschaftliche Organisation ihres Berufes verpflichtete 44 , verteidigte die Bedeutung der Gewerkschaften als „Vorschule für die politische Bewegung" und als „Erziehungsanstalt" der Partei nur unter Hinweis auf ihre Dienste für die Sozialdemokratie 45 . Tatsächlich sollten jedoch die Diskussionen des Kölner Parteitages den Ausgangspunkt einer allmählichen Loslösung der Gewerkschaften von der Bevormundung durch die politische Partei, die durch das Desinteresse der Sozialdemokratie selbst provoziert wurde, bilden. Vom Aufschwung der wirtschaftlichen Konjunktur und der industriellen Expansion nach 1895 mitgerissen, konnten die Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl erhöhen, ihre Organisationen festigen, ihren Tätigkeitsbereich durch das Aufgreifen sozialpolitischer Fragen ausdehnen und schließlich eine der Sozialdemokratie gleichberechtigte, im letzten Jahrzehnt vor 1914 zum Teil sogar führende Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung erringen.



35

Die Agrarfrage

und die Ausdehnung der Partei

1890-1912

Die Sozialdemokratie hatte nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes damit geredinet, in kurzer Frist eine Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen und auch die preußische Armee durch Infizierung mit sozialistischen Gedanken für einen Bürgerkrieg aktionsunfähig zu machen. Diese Hoffnungen sollten sich nicht verwirklichen, da es der Partei trotz aller Bemühungen nicht gelang, wesentliche Einbrüche in die traditionellen Herrschaftsbereiche anderer Parteien zu erzielen. Besonders bedeutsam war das Scheitern des zunächst mit großem Elan unternommenen Versuches, den Einfluß der Partei auf die Agrargebiete des Reiches auszudehnen und damit die Sozialdemokratie - bisher eine Minderheitspartei der gewerblichen Arbeiter - zu einer echten Volkspartei zu machen. Die von den süddeutschen Sozialdemokraten initiierte leidenschaftliche parteiinterne Diskussion der möglichen Reformen für die Landwirtschaft legte die tiefsten sozialen und geistigen Wurzeln der Partei bloß, führte aber zu keinem praktischen Ergebnis. Der von einer Parteikommission ausgearbeitete Entwurf eines Agrarprogramms, der einen Schutz der bäuerlichen Betriebe vorsah, wurde schließlich auf dem Parteitag von Breslau 1895 auf Betreiben Karl Kautskys, des Gralshüters des Marxismus, abgelehnt. Derartige Maßnahmen, so argumentierte Kautsky, ließen sich nicht mit der marxistischen Lehre vereinbaren, nach der die Bauern eine zum Untergang verurteilte soziale Schicht darstellten46. Die Mobilisierung der Bauern als Anhang der Konservativen war damit unvermeidbar und hat die Chancen zu einer Verwirklichung des Sozialismus durch die Gewinnung einer Reichstagsmehrheit praktisch zunichte gemacht. Tief resigniert über den Beschluß des Parteitages schrieb Bebel an den österreichischen Sozialistenführer Victor Adler: „Im Eifer zu verwerfen hat man dann audi Forderungen verworfen, die man vernünftigerweise gar nicht verwerfen konnte, nicht verwerfen durfte und deren Verwerfung auf dem Lande - und ich rechne mit keinen anderen Elementen dort neben den Landarbeitern als mit den Kleinbauern - den allerbösesten Eindruck macht, sogar bei den halb Tagelöhnern, halb Bauern. Das allerschlimmste aber war die Motivierung der Ablehnung, die, da mögen die Vertheidiger der Resolution K. [ = Kautsky] sagen was sie wollen, eine prinzipielle Ablehnung jeder Forderung zu Gunsten der Bauern, auch solcher, die uns nichts kosten, bedeutet. . . Die Breslauer Beschlüsse verlängern unsere Wartezeit um mindestens 10 Jahre, aber dafür haben wir das ,Prinzip' gerettet" 47 . Audi die weiteren, der Organisations- und Propagandaarbeit der Sozialdemokratie 1890 gesiedeten Ziele - die Durchdringung der ostelbisdien Landarbeiter mit sozialistischen Ideen48, die Gewinnung der in ihrer Mehrheit vom Zentrum politisch erfaßten katholischen Industriearbeiter und die Erfassung der im Reichsgebiet ansässigen polnischen Arbeiter 4 ' - ließen sich nicht verwirklichen. 36

Die Partei, die zunächst ihren Stimmenanteil und die Zahl der gewonnenen Mandate ständig vergrößerte, erhielt bei den von nationalen Parolen bestimmten Wahlkämpfen von 1907 erstmals seit 1881 einen Rückschlag, konnte jedodi bei den folgenden Wahlen von 1912, in der sie ein Stichwahlbündnis mit der Fortschrittlichen Volkspartei abschloß, mit 34,8 Prozent der abgegebenen Stimmen und 110 gewonnenen Mandaten noch einmal ihre bisherigen Wahlerfolge übertrumpfen 50 . Damit war aber auch - sofern nicht völlig neue Schichten der Bevölkerung gewonnen würden - der Sättigungsgrad der Partei erreicht. Das deutliche Abstoppen des Wachstumsprozesses der Sozialdemokratie seit der Mitte der neunziger Jahre und die damit verbundene Suche nach neuen Wegen zur Ausübung und Erweiterung der von der politischen Arbeiterbewegung repräsentierten, aber nicht eingesetzten Macht bildet dann auch eine wesentliche Ursache der das innere Parteileben der folgenden Jahrzehnte mitbestimmenden Auseinandersetzungen über die Theorie und Taktik der Partei.

Eduard

Bernstein und der

Revisionismus

Im Verlauf der Diskussionen über das Agrarprogramm hatte der hessische Sozialist Dr. Eduard David zum Nachweis der ökonomischen Existenzfähigkeit der kleinbäuerlichen Wirtschaften als erster führender Vertreter der Partei die Allgemeingültigkeit der Marxschen Lehre von der fortschreitenden Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe angegriffen 51 . Seine Arbeiten bildeten den Ansatzpunkt der seitdem nicht mehr abreißenden Diskussion um die Revision der marxistischen Glaubenssätze. Die Zusammenfassung der in der Mitte der neunziger Jahre immer stärker werdenden Kritik an der doktrinären Erstarrung der traditionellen Parteianschauungen unter dem Schlagwort des Revisionismus täuscht eine Einheitlichkeit der oppositionellen Gruppen vor, die in den positiven Anschauungen durchaus nicht gegeben war. Tatsächlich zerfällt der ,Revisionismus' in eine Fülle von differenzierten Strömungen und Gruppen, die, meist aus der Praxis bestimmter engerer Arbeitsbereiche heraus, irgendeinen Punkt der Theorie und der Taktik der Sozialdemokratie der kritischen Betrachtung unterwerfen. Der erste systematische Versuch, den durch die offizielle Parteitheorie in ihrer Arbeit eingeengten Praktikern der Partei und der Gewerkschaften eine theoretische Grundlage ihrer Tätigkeit zu geben, geht auf Eduard Bernstein52, einen langjährigen Freund und Mitarbeiter von Karl Kautsky und Friedrich Engels, zurück. Der 1850 in Berlin geborene Sohn eines jüdischen Lokomotivführers hatte während des Sozialistengesetzes von 1881 bis 1890 das offizielle Parteiorgan „Der Sozialdemokrat" zunächst in Zürich und dann in London mit großem Geschick redigiert. Bernstein, einer Persönlichkeit von unbedingter innerer Wahrhaftigkeit und intellektueller Integrität, waren im Verlauf der neunziger Jahre immer stärkere Zweifel an der Richtigkeit der Lehren von Marx gekommen. Seine Wandlung vom orthodoxen Marxisten zum führenden Revisionisten 37

der Sozialdemokratie bewirkten zunächst einmal die genaue Beobachtung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Englands als des am weitesten entwickelten kapitalistischen Industrielandes sowie die Demonstration der Lebensfähigkeit des Kapitalismus in den Jahren der wirtschaftlichen Konjunktur nach 1895. Ein vertieftes wissenschaftliches Studium und die intensive Berührung mit dem nicht vom Marxismus geprägten Sozialismus der Fabian Society und der Independent Labour Party Großbritanniens waren weitere Antriebe in diesem intellektuellen Gärungsprozeß. Seine von der offiziellen Parteimeinung abweichenden Ansichten - zuerst veröffentlicht in einer Reihe von Aufsätzen in der „Neuen Zeit" 1896-98 5 3 fanden ihren klarsten Ausdruck in dem 1899 erschienenen, vielbeachteten Buch über „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie". Bernsteins Kritik an den philosophischen Grundlagen des Marxismus lief im wesentlichen auf die Verwerfung der Hegeischen Dialektik, die nach seiner Meinung kein integraler Bestandteil der Marxschen Lehre sei, und auf die Ablehnung einer rein materialistischen Begründung des Sozialismus hinaus. Als Philosoph war Bernstein ein reiner Eklektiker und äußerst unklar. Seine Zweifel am Marxismus beruhen aber in erster Linie auch nicht auf philosophischen Erwägungen, sondern darauf, daß der von Marx vorhergesagte Entwicklungsverlauf der kapitalistischen Gesellschaft nicht mit der an Hand von Statistiken untersuchten tatsächlichen Entwicklung übereinstimmte. Weder die Marxsche Lehre von der zunehmenden Konzentration der Produktion und des Besitzes noch die Theorie von dem Verschwinden der Mittelschichten und der zunehmenden Verelendung des Proletariats könnten absolute Gültigkeit beanspruchen. Da Bernstein auch die Auffassung, daß die kapitalistische Produktionsweise notwendig zu ständig verheerender wirkenden Wirtschaftskrisen führe, bezweifelte, wurde so der von Kautsky in den Mittelpunkt der Parteitheorie und der Parteipolitik gestellten Lehre von der naturnotwendigen Katastrophe der kapitalistischen Gesellschaft der Boden entzogen. In Verbindung mit seiner Kritik an der Zusammenbruchstheorie bezweifelte Bernstein auch die Einheitlichkeit des Proletariats als einer Klasse. So schrieb er in einem Rechtfertigungsbrief an Bebel vom Oktober 1898: „Es gibt so wenig ein einheitliches Proletariat, wie es ein einheitliches Volk oder einen einheitlichen dritten Stand gegeben hat. Sie sind nur einheitlich in bestimmten Gegensätzen und unter bestimmtem Druck. J e mehr er nachläßt, desto differenzierter verhalten sie sich.. ." 54 Indem Bernstein die den Zusammenbruch aufhaltenden bzw. verhindernden Erscheinungen und Kräfte der kapitalistischen Gesellschaft aufgrund der Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse aufzeigte, erwies er sich in seinem methodischen Vorgehen als Marxist. Auch für Marx sollten ja politische Entscheidungen auf der Analyse der tatsächlichen Klassensituation beruhen. Eine Abweichung von Marx liegt jedoch darin, daß Bernstein den wissenschaftlichen Charakter des Sozialismus aufgab 55 . Nach Marx will der Sozialist das aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis Unabwendbare und Not38

wendige. Für Bernstein ist eine sozialistische Ordnung nicht mehr unabwendbar und notwendig, sondern ein Ziel des vorwiegend von ethischen Motiven getragenen Wollens. Der tiefere Antrieb der Tätigkeit Bernsteins - und darin ist er dem französischen Sozialistenführer Jean Jaur£s im innersten verwandt - war sein stark ausgeprägtes und von humanitären Impulsen getragenes Rechtsgefühl: „Wenn wir uns genau prüfen", so schrieb er an Victor Adler am 3. März 1899, „so ist es nicht der hypothetische Zukunftsstaat, der uns zu Sozialisten macht, auch nicht der Ausbilde auf die große allgemeine Expropriation, sondern unser Rechtsgefühl. Dieses aber, das Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit, ist, soweit ideelle Kräfte in Betracht kommen, das dauernde Element in der Bewegung, das alle Wandlungen in der Doktrin überlebt, aus dem sie zu allen Zeiten immer wieder neue K r a f t schöpft"5®. Vom Angelpunkt der Betonung der Lebensfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ausgehend, kam Bernstein nun nicht zu der Überzeugung, daß der Sozialismus nicht verwirklicht werden könne, sondern entwickelte vielmehr in positivem Umschlag seiner Kritik die Idee einer stufenweisen Einführung des Sozialismus durch die praktische Reformarbeit von Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die Verwirklichung des Sozialismus war für Bernstein nicht das Ergebnis einer punktuellen Katastrophe oder eines revolutionären Impulses, sondern ein sich in der Gegenwart vollziehender, langsamer, aber ständiger Prozeß der Umformung der kapitalistischen Gesellschaft im Sinne des Sozialismus. Die Demokratie war das wichtigste Instrument zur Beschleunigung dieser Entwicklung und zugleich die Substanz der erstrebten neuen sozialistischen Gesellschaft. Die gesamte Konzeption Bernsteins gipfelte in der Betonung der Bedeutung der praktischen Gegenwartsarbeit der sozialistischen Organisationen, in der er das schlechthin einzige Mittel zum organischen Aufbau des sozialistischen Staates der Zukunft sah. Im Interesse einer Verstärkung des realen Einflusses der Partei forderte Bernstein daher von der Sozialdemokratie die Emanzipation von ihrer überlebten revolutionären Phraseologie. Die Partei solle das scheinen wollen, was sie in Wirklichkeit sei, „eine demokratische sozialistische Reformpartei" 5 7 . Die Überwindung der Kluft zwischen der revolutionären Theorie und der reformistischen Praxis durch die Anpassung der Theorie an die reale Politik der Partei war also das Anliegen Bernsteins. Die zugespitzten Thesen Bernsteins haben in der Sozialdemokratie eine vielschichtige, sich über Jahrzehnte erstreckende leidenschaftliche Diskussion über die Theorie und die Taktik der Partei ausgelöst, die die Herauskristallisierung verschiedener Grundrichtungen in der Partei beschleunigte. Das unmittelbare Echo auf die Ideen Bernsteins war - wenn man von einem kleinen Kreis von sozialistischen Intellektuellen absieht - in der Sozialdemokratie im Gegensatz zu der begeisterten Aufnahme seiner Ideen in bürgerlichen Kreisen fast durchweg negativ. Selbst die in der politischen Gegenwartsarbeit aufgehenden reformistischen Sozialdemokraten, denen Bernstein eine theoretische Rechtfertigung ihrer an die bestehenden Verhältnisse anknüpfenden Re39

formversudie geben wollte, sahen in der grellen Beleuchtung ihrer seit Jahren unauffällig verfolgten praktischen Arbeit eine taktische Ungeschicklichkeit. So schrieb der zu dieser Gruppe gehörende langjährige Parteisekretär und nüchterne Taktiker Ignaz Auer an Bernstein: „Hältst Du es wirklich für möglich, daß eine Partei, die eine 50 Jahre alte Literatur, eine fast 40 Jahre alte Organisation und eine noch ältere Tradition hat, im Handumdrehen eine solche Wendung machen kann? Speziell seitens der maßgebenden Parteikreise so zu handeln, wie Du es verlangst, hieße einfach die Partei sprengen, jahrzehntelange Arbeit in den Wind streuen. Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man. Unsere ganze Tätigkeit - sogar auch die unter dem Schandgesetz [gemeint ist das Sozialistengesetz Bismarcks] - war die Tätigkeit einer sozialdemokratischen Reformpartei. Eine Partei, die mit den Massen rechnet, kann audi gar nicht anders sein"58. Die führenden Reformisten sahen also in dem Vorgehen Bernsteins ein Einrennen offener Türen, das ihre praktische Reformarbeit erschwerte, indem es sie überflüssigerweise in die Schußlinie der Auseinandersetzung mit dem Marxismus trieb. Tatsächlich führte die Kampfstellung gegen Bernstein vielfach dazu, daß die konkrete Gegenwartsarbeit abgewertet und als Alternative zur Prinzipientreue aufgefaßt wurde. Der orthodoxe Marxismus im Sinne Kautskys und Bebels wurde durch Bernsteins Kritik in seinem Lebensnerv getroffen. Wenn man mit Bernstein das unaufhaltsame Anwachsen der Armee des Proletariats und den schließlich von selbst erfolgenden Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft bestritt, wurde die parteioffizielle Taktik des Abwartens unhaltbar. Obgleich die konkrete Entwicklung - die nur von kurzen Krisen unterbrochene, im ganzen gute Wirtschaftskonjunktur von 1895 bis zum Ersten Weltkrieg, die Fortdauer des alten Mittelstandes von Handwerkern und Kleinhändlern sowie das Aufkommen einer neuen, aus der stark expandierenden Angestelltenschaft rekrutierten und sich bis auf geringe Teile nicht mit der Sozialdemokratie alliierenden Mittelschicht - die Richtigkeit der Analysen Bernsteins bewies, haben die in ihrer Vorstellungswelt erstarrten orthodoxen Marxisten sich in ihrer Polemik gegen Bernstein im wesentlichen auf die stereotype Wiederholung der angegriffenen Lehren von Marx beschränkt. Sie brachten nicht die Kraft auf, die Politik der Partei zu ändern, als sich herausstellte, daß die Einschätzung der Lage, auf der sie beruhte, falsch war. Das bedeutete aber, daß die von den orthodoxen Marxisten repräsentierte Parteimehrheit keine tragfähige Konzeption zur Eroberung der politischen Macht besaß. Einerseits wurde der von den Revisionisten und Reformisten vorgeschlagene Weg zur Gewinnung neuer Einflußsphären durch die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine alle Wählerschichten ansprechende Volkspartei und durch taktische Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften aus Sorge vor einer möglichen Verletzung der Reinheit der Prinzipien der Partei abgelehnt. 40

Andererseits schreckte die Parteimehrheit - wohl auch aus Furcht vor einer möglichen Niederlage - vor der Vorbereitung revolutionärer Aktionen zurück. Typisch dafür war, daß in der offiziellen sozialdemokratischen Theorie der Revolutionsbegriii völlig sinnentleert und verharmlost wurde. Für Kautsky war so jede große politische Erschütterung, die das Leben der Nation beschleunigte, eine Revolution und die Sozialdemokratie eine revolutionäre, aber nicht eine Revolutionen machende Partei 59 . Diese Wortklauberei in der Erklärung des revolutionären Charakters der Partei ist kennzeichnend für das krampfhafte Festhalten an radikalen Phrasen bei dem Fehlen jeder revolutionären Ausrichtung der Gegenwartsarbeit. Sie zeigt die ganze Unklarheit, Richtungslosigkeit und Inkonsequenz dieser schließlich das Parteizentrum bildenden Gruppe der orthodoxen Marxisten. Die Grenzen ihrer politischen Konzeption wurden besonders deutlich, als die deutsche Sozialdemokratie auf dem internationalen Sozialistenkongreß von Amsterdam 1904 versuchte, eine auf dem Parteitag in Dresden 1903 beschlossene Resolution gegen den Revisionismus60 für die Parteien der 2. Internationale verbindlich zu machen. In scharfen Auseinandersetzungen mit Bebel warf dabei der große französische Sozialistenführer Jean Jaures den deutschen Sozialdemokraten vor, daß ihre hinter starren theoretischen Grundsätzen verdeckte Impotenz und Machtlosigkeit das eigentliche Hindernis auf dem Wege des sozialen und politischen Fortschritts und einen Gefahrenherd für den Frieden Europas darstelle 61 . Für Kautsky und Bebel, wie überhaupt für die Verteidiger der überlieferten Grundanschauungen der Partei, bildete der Marxismus in der Praxis so nur noch einen Deckmantel für eine unfruchtbare Politik der Abstinenz 62 , die auch das Gewicht der Sozialdemokratie als einer für die Völkerverständigung wirkenden Kraft nicht genügend zur Geltung brachte.

Rosa Luxemburg und die Bildung eines linksradikalen Flügels im Zusammenhang mit der Massenstreikdebatte Im Gegensatz dazu war der von Rosa Luxemburg ausgehende Versuch, den offensichtlich klaffenden Widerspruch zwischen der revolutionären Theorie und der reformistischen Praxis der Partei durch eine revolutionäre Gesamtkonzeption zu überbrücken, nicht ohne Wucht und innere Geschlossenheit. Die aus dem russischen Polen stammende jüdische Revolutionärin Rosa Luxemburg 63 ist eine der fesselndsten Frauengestalten der modernen europäischen Geschichte. Sie verband einen eindringlichen scharfen Verstand und ein leidenschaftliches, energiegeladenes Eintreten für ihre Ideen mit einer hingebungsvollen menschlichen Wärme, ohne daß man angesichts der ungeheuren Spannungen in ihrem Wesen das Gefühl eines inneren Bruches hat. Die tiefsten Wurzeln dieser mimosenhaft sensiblen, aber doch unbeugsamen Persönlichkeit und den Motor ihrer revolutionären Aktivität bildeten ihr unbändiger Haß 41

gegen jede Form von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ihr Mitgefühl f ü r die leidende Kreatur und ihre unmittelbare, nicht nur abstrakte Liebe zur Menschheit. Rosa Luxemburg hat die revolutionären Elemente des Marxismus vitalisiert und die theoretische Grundlegung und taktische Führung eines sich langsam herausbildenden linksradikalen Parteiflügels übernommen. Ihre 1899 veröffentlichte Schrift „Sozialreform oder Revolution", in der wir das erste Dokument dieser Parteiströmung zu sehen haben, wendet sich zwar formell im Namen der überlieferten Parteianschauungen gegen Bernstein, enthält aber tatsächlich bereits die verkappte Formulierung einer neuen revolutionären Taktik. Der Unterschied zwischen den Ideen der Anhänger Bernsteins und der Konzeption der radikalen Linken ist durch die verschiedene Auffassung der von beiden Richtungen betonten praktischen Gegenwartsarbeit bedingt. Sah Bernstein in der Sozialreform ein Mittel zur allmählichen Durchdringung der kapitalistischen Gesellschaft mit sozialistischen Elementen, so lehnte Rosa Luxemburg die Idee einer „Verwandlung des Meeres der kapitalistischen Bitternis durch flaschenweise Hinzufügung der sozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit" als absurd und phantastisch ab 64 . Für sie war der praktische Kampf f ü r Sozialreformen nur ein Weg zur Durchführung des proletarischen Klassenkampfes, ein Mittel zur Aufweckung der Massen. Zwar würden sich die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft immer mehr denen der sozialistischen nähern; gleichzeitig aber würde durch die rechtlichen und politischen Verhältnisse eine starre Wand zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft errichtet, die durch die Entwicklung der Sozialreform wie der Demokratie nur fester und starrer gemacht würde. Die einzige Möglichkeit zur Niederreißung dieser Wand sei „der Hammerschlag der Revolution« 65 . Wenn auch ihre Ansichten im einzelnen der offiziellen Parteiideologie zunächst noch nicht direkt zuwiderliefen, so waren doch der revolutionäre Atem ihrer Sprache und die eindeutige Bejahung der Gewalt als Mittel der Revolution in der Partei neu. Wie Rosa Luxemburg in einem Brief von 1904 schrieb, dürfe sich die Reaktion auf den Revisionismus nicht darauf beschränken, die Partei in den „heimatlichen Stall der Prinzipienfestigkeit zurückzuführen", vielmehr müßten die revolutionären Aspekte der Taktik betont und weiterentwickelt werden 66 . Das Vorbild der russischen Revolution von 1905, schwere Arbeitskämpfe vor allem im Ruhrgebiet im Januar-Februar 1905, die aus den romanischen Ländern übernommene Idee des politischen Massenstreiks der Arbeiter, das Aufkommen von Massenbewegungen zur Demokratisierung des Wahlrechts in den deutschen Einzelstaaten und besonders in Preußen, wo das bestehende Dreiklassenwahlrecht einseitig die besitzenden Schichten bevorzugte, sowie die Verschärfung des Kampfes gegen Militarismus und Nationalismus waren die Hauptantriebe für die Bildung und Konsolidierung eines linksradikalen Flügels in der Sozialde42

mokratie, der sich allerdings erst 1910 klar von der Parteiführung und dem Parteizentrum absetzte. D i e Radikalen sahen nicht mehr im Wahlkampf und in der Parlamentstätigkeit, sondern im politischen Massenstreik das entscheidende taktische K a m p f mittel der Sozialdemokratie. Auch die das Parteizentrum repräsentierende Führung der Sozialdemokratie hat die Idee des Massenstreiks als eines möglichen Kampfmittels der Arbeiterschaft 1905/06 formell akzeptiert. In der Praxis jedoch hat sie - mitbedingt durch die Opposition der Gewerkschaften und die Furcht vor einer Zerschlagung der Arbeiterorganisationen - nie ernsthaft an die Anwendung dieses Druckmittels zur Erzwingung einer R e f o r m des Wahlrechts in Preußen oder gar zur Verhinderung eines Krieges gedacht. Während sogar einige der bedeutendsten Führer der Revisionisten wie E d u a r d Bernstein und der Badenser Sozialistenführer L u d w i g Frank im Streik ein brauchbares Instrument zur Erzwingung politischer Reformen und zur Aktivierung der latenten Macht der Sozialdemokratie sahen 67 , war er für das Parteizentrum nur ein mögliches D e fensivmittel zur B e k ä m p f u n g eines Anschlages auf das Koalitionsrecht oder das Reichstagswahlrecht. Selbst dann aber sollte ein etwaiger Massenstreik nur begrenzte, genau definierte Ziele verfolgen und - wie in einer Abmachung zwischen dem Parteivorstand und der Generalkommission der Gewerkschaften ausdrücklich festgelegt wurde 6 8 - von der Partei und Gewerkschaftsführung gemeinsam eingeleitet und mit straffer Disziplin von den Arbeiterorganisationen durchgeführt werden. Man hat in dem Verzicht der Sozialdemokratie auf eine alleinige Bestimmung der Politik der Arbeiterbewegung eine Kapitulation der Partei vor den Gewerkschaften gesehen 69 . Tatsächlich aber war die Verpflichtung zum gemeinsamen Vorgehen lediglich ein Ausdruck der realen Machtverhältnisse, aufgrund derer die Partei nicht daran denken konnte, ohne die Unterstützung der Freien Gewerkschaften, die ihr an Mitgliederzahl und Geldmitteln weit überlegen waren 7 0 , einen Massenausstand der Arbeiter erfolgreich durchzuführen. Nicht das Prinzip der Mitbestimmung der Gewerkschaften in politischen Fragen, sondern der von vielen Parteifunktionären und vor allem den orthodoxen M a r x i sten geteilte Mangel an politischem Machtwillen der meisten Gewerkschaftsführer und die Tendenz, die aufkommenden Fragen allzu einseitig nach den voraussichtlichen Rückwirkungen auf die Organisationsarbeit zu entscheiden, waren das Bedenkliche an der ,Vergewerkschaftung' der Sozialdemokratie, die mit der Vernachlässigung der ideellen Antriebe der politischen Arbeit und der einseitigen Beschränkung auf die Vertretung der materiellen Interessen der Arbeiterschaft sich selbst einen ihrer Lebensfäden abschnitt. Die von der Sozialdemokratie angestrebte R e f o r m der Verfassungsstruktur des Reiches und Preußens erforderte nicht nur rechnerisches Abwägen, sondern auch politischen Elan und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. In scharfem Gegensatz zur Partei- und Gewerkschaftsführung sahen die R a dikalen im Massenstreik eine spontane Erhebung der Arbeiterschaft als Vorsta43

dium der Revolution und als Mittel zur revolutionären Schulung der unorganisierten Arbeiterschaft, auf die die Radikalen ihre entscheidenden Hoffnungen setzten 71 . Die Eroberung der politischen Macht war bei Rosa Luxemburg und den meisten ihrer Anhänger nicht als Staatsstreich einer entschlossenen Minderheit gedacht, sondern als Folge des zähen revolutionären Kampfes einer großen und klassenbewußten Volksmasse. Die Bruchstelle der Konzeption Rosa Luxemburgs und des linken Parteiflügels, der 1911/12 - provoziert durch die Dämpfung der Massenstreikdebatte, die aus wahltaktischen Gründen erfolgende Zurückhaltung in der Marokkokrise 1911 und das Stichwahlabkommen mit dem Fortschritt 1912 - gegen den Parteivorstand rebellierte, war die Verkennung der wirklichen Einstellung der angeblich revolutionären Massen, als deren Wortführer sie sich ansahen. Rosa Luxemburgs Vorstellung einer .demokratischen Revolution' entsprach im Gegensatz zu Lenins Idee einer durch eine Minderheit von Berufsrevolutionären bewußt herbeigeführten und straff gelenkten Revolution der von Engels dargelegten spätmarxistischen Auffassung der Revolution. Sie war aber undurchführbar, da sie auf einer falschen Einschätzung der politischen Verhältnisse beruhte. Trotz aller Kritik der Arbeiterschaft an der ungenügenden Berücksichtigung ihrer politischen und sozialen Forderungen und der Fortdauer der Repressivpolitik gegen die sozialistischen Organisationen der Arbeiterbewegung durch weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft sowie Verwaltung, Justiz und Polizei 72 war die Eingliederung der Arbeiter - die an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs der beiden Jahrzehnte vor 1914 beteiligt worden waren 73 - in den Staat und die Gesellschaft ihrer Zeit bereits so weit fortgeschritten, daß ein echter Resonanzboden für die Ideen Rosa Luxemburgs und ihrer politischen Freunde nicht gegeben war. In der politischen Praxis entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei unter fast unbekümmerter Beibehaltung der alten radikalen Schlagworte trotz des Widerstandes prinzipieller Bedenken immer weiter in der vorgezeichneten Richtung einer reformistischen Emanzipationspartei der Arbeiterschaft. Die langsame Umwandlung der Sozialdemokratie von einer Agitationspartei mit genau festgelegten theoretischen Richtlinien zu einer praktisch tätigen Reformpartei mit einer Vielfalt von durch die konkreten Verhältnisse nuancierten und wandelbaren Einzelansichten war auch die letzte Ursache der besonders in Süddeutschland immer deutlicher werdenden reformistischen Bestrebungen. Die agitatorischen Phrasen und radikalen Grundsätze waren das typische Kennzeichen einer Partei gewesen, die, jahrzehntelang auf den Reichstag als einzige Tribüne zur Vertretung ihrer Ideen angewiesen, auf die Fragen der konkreten Tagespolitik fast ohne jeden Einfluß blieb. Während nun in den letzten Jahren vor 1914 im Reichstag selbst mit der steigenden Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten an die Stelle der summarischen Behandlung der aufgeworfenen Fragen eine ernstere Prüfung und sachliche Einzelkritik trat 74 , erschloß sich der Sozialdemokratie in den Selbstverwaltungskörperschaften der Sozialpolitik sowie den Landtagen und Gemeindevertretungen ein immer brei44

teres Arbeitsfeld, das, ungeeignet zu Propagandazwecken, ein großes Maß an sachlicher Einsicht und praktischem Können erforderte.

Die Sozialdemokratie

in den deutschen

Einzelstaaten

Um die Jahrhundertwende war die Sozialdemokratie in der Mehrzahl der Landtage der deutschen Einzelstaaten vertreten 75 . Während im Reichstag die scharfen Gegensätze in den Fragen der Wehrpolitik, der auswärtigen Politik, der Kolonialpolitik sowie der Zoll- und Steuerpolitik einer positiven Mitarbeit der Sozialdemokratie enge Grenzen zogen, bestanden für die in den Kompetenzbereich der Landtage fallenden Fragen wie Sozial-, Kirchen- und Schulpolitik im allgemeinen keine unüberbrückbaren prinzipiellen Gegensätze zwischen der Regierung und der Gesamtheit der bürgerlichen Parteien sowie der Sozialdemokratie. In geschickter Ausnützung der Gegensätze zwischen den anderen Parteien - vor allem dem Zentrum und den Liberalen - gelang es der Sozialdemokratie in Staaten wie Bayern, Baden, Württemberg, Hessen, Gotha und zunächst auch Bremen, die Landespolitik zu beleben und wesentliche Reformmaßnahmen durchzusetzen. In den meisten Staaten stand der Kampf um eine Reform des Wahlrechts im Mittelpunkt der Arbeit der Partei. In Süddeutschland konnte die Sozialdemokratie in Bayern, Württemberg und Baden Einfluß auf die Schaffung neuer Wahlgesetze nehmen, die die Vorstellungen der Partei im wesentlichen verwirklichten. Im Gegensatz zu dieser Demokratisierung des Wahlrechts im Süden 1 9 0 4 - 0 7 scheiterten alle Bestrebungen zur Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts. In Sachsen, Braunschweig, Lübeck und Hamburg kam es sogar zu Wahlrechtsveränderungen, die den politischen Einfluß der Arbeiterschaft zugunsten privilegierter Gruppen noch stärker als bisher beschränkten. Der Unterschied im politischen und sozialen Klima zwischen dem Süden, in dem die Sozialdemokratie mit bürgerlichen Kräften bei der Demokratisierung der Verfassung zusammenarbeiten konnte, und dem Norden, in dem die Partei weiterhin isoliert blieb und keine politischen Konzessionen erringen konnte, hat den bereits in den neunziger Jahren sichtbaren Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie Nord- und Süddeutschlands weiter verschärft. Es ist bezeichnend, daß die Kritik des Parteizentrums und der Radikalen an der reformistischen Praxis der süddeutschen Sozialdemokraten nicht an sachliche Einzelfragen der Landespolitik anknüpfte, sondern auf der Verschiedenartigkeit der Staatsauffassungen beruhte. Während die von der Festlegung der einzelstaatlichen Politik nicht vollkommen ausgeschlossenen süddeutschen Sozialdemokraten eine allmähliche Umwandlung des Staates durch den Einfluß der Arbeiterschaft für möglich hielten, tendierten die Sozialdemokraten in Norddeutschland, wo die Partei durch das die Arbeiter benachteiligende Wahlrecht aus den Landtagen ihrer Staaten ausgeschlossen war oder aufgrund ihrer Schwäche und der Stärke der konservativen Parteien keinen konkreten Einfluß 45

ausüben konnte, dazu, den Staat als ein reines Instrument der Klassenherrschaft anzusehen, das nicht umgewandelt, sondern nur durch den Sieg des Proletariats zerstört werden könnte. D e r bedeutendste Versuch zur A u f h e b u n g der Gegensätze von Radikalismus u n d Reformismus, die ja letztlich in den verschiedenen politischen Verhältnissen im N o r d e n u n d Süden ihre wesentliche Ursache hatten, ging von Ludwig F r a n k aus. Als eigentlicher Initiator des badischen Großblocks - einer parlamentarischen Arbeitsgemeinschaft von Liberalen u n d Sozialdemokraten gegen das Zent r u m und die Konservativen im L a n d t a g von Baden - demonstrierte er die Möglichkeit eines erfolgreichen Zusammengehens der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien, gleichzeitig aber sprach er sich eindeutig f ü r einen Massenstreik der Arbeiterschaft zur Erzwingung einer Wahlrechtsreform in Preußen aus 76 . Sein Plan einer Mobilisierung der K r ä f t e der Partei im Dienste der Demokratisierung Deutschlands w a r den politischen Ideen von Victor Adler, Jean Jaures, H j a l m a r Branting und Emile Vandervelde - den berühmten Führern der österreichischen, französischen, schwedischen u n d belgischen Sozialisten - v e r w a n d t ; in Deutschland jedoch blieb diese Konzeption sowohl in der Spannweite der Ideen als auch in dem f ü r die deutsche Sozialdemokratie so ungewöhnlichen echten D r a n g nach politischer Aktion eine Ausnahme.

Die kommunalpolitische

Arbeit der

Partei

Die Fragen der Gemeindepolitik waren von der Sozialdemokratie, die schon frühzeitig in einer Reihe von bedeutenden Städten eigene Stadtverordnete besaß, lange k a u m beachtet worden. Erst als die offensichtliche Stagnation der Sozialpolitik des Reiches in Arbeiterfragen und die zunehmende Verlagerung der sozialpolitischen Initiative auf die größeren K o m m u n e n die Bedeutung der städtischen Verwaltung unterstrichen, konnten die f ü h r e n d e n Kommunalpolitiker der Sozialdemokratie, unterstützt von den seit dem Ende der neunziger J a h r e in vielen Städten bestehenden Arbeitersekretariaten, f ü r ihre Arbeit ein stärkeres Echo in der Gesamtpartei finden. Die Demokratisierung des Gemeindewahlrechts, die Reformierung des Schul-, Gesundheits- und Armenwesens, die Verbesserung der Lage der Gemeindearbeiter, die Munizipalisierung der Monopolbetriebe, die Förderung des k o m m u n a len Wohnungsbaus sowie die Neuregelung des kommunalen Steuerwesens waren die H a u p t f o r d e r u n g e n der sozialdemokratischen Gemeindepolitiker, von denen einige in der Gemeinde sogar einen entscheidenden Hebel zur N e u o r g a n i sation der Gesellschaft sahen 77 . Das in vielen Gebieten bestehende undemokratische Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungskörperschaften hat es dabei der Sozialdemokratie erschwert, ihren Einfluß in den Städten und Landgemeinden genügend zur Geltung zu bringen. Beim Gemeinde- wie beim Landtagswahlrecht machte sich die Differenz zwischen N o r d - u n d Süddeutschland, w o in Bayern 1908 u n d in Ba46

den 1910 die Gemeindewahlrechte grundlegend reformiert wurden, stark bemerkbar. W ä h r e n d in Baden, Württemberg und Bayern Sozialdemokraten in vielen O r t e n in die Magistrate gewählt oder sogar als Bürgermeister eingesetzt wurden, w a r es den Sozialdemokraten in Preußen unmöglich, ihre Vertreter in die Magistrate oder die Schuldeputationen zu bekommen. D a Prinzipienfragen auf kommunaler Ebene k a u m eine Rolle spielten, w u r d e die Mitarbeit in den Gemeindevertretungen - es gab 1913 über 10 000 Sozialdemokraten in Gemeindevertretungen u n d 320 in Magistraten u n d Gemeindevorständen 7 8 - f ü r die örtlichen Führer der Partei eine Schule zum Verständnis der komplexen Probleme der modernen Verwaltung und ein Experimentierfeld in der Zusammenarbeit von A n h ä n g e r n divergierender Anschauungen. Neben den Landtagen und K o m m u n e n boten vor allem die Vertretungs- u n d Verwaltungskörperschaften der Arbeiterversicherung, die Gewerbe- und K a u f mannsgerichte sowie die kommunalen Arbeitsnachweise, in denen n a d i einer Schätzung Bernsteins von 1910 zusammen fast 100 000 Sozialdemokraten tätig waren 7 9 , ein fruchtbares Feld f ü r praktische Arbeit. In der mit dem wachsenden U m f a n g der praktischen Gegenwartsarbeit ständig zunehmenden Bedeutung konkreter politischer Fragen gegenüber prinzipiellen Erwägungen lag die Stärke des Revisionismus, dem wie der H y d r a der Sage immer neue K ö p f e nachwuchsen. Die Revision der Vorstellungen der Partei w a r nicht an die theoretische Konzeption Bernsteins u n d deren Schicksal gebunden; Sie beruhte auf den vielfältigen E r f a h r u n g e n der jeweiligen praktischen Parteiarbeit und w a r als Gesamterscheinung schlechthin u n f a ß b a r . Von einer Fülle wandelbarer Faktoren abhängig, w a r sie der festgelegten starren D o k t r i n der orthodoxen Marxisten z w a r im einzelnen nicht gleichwertig, im ganzen aber unendlich überlegen. So mußten die sogenannten ,Siege' über den Revisionismus - u. a. die ausdrückliche Verurteilung der Bewilligung einzelstaatlicher Budgets durch sozialdemokratische Landtagsfraktionen auf den Parteitagen von 1908 u n d 1910 - Pyrrhussiege bleiben. Der Wandel der theoretischen Vorstellungen als Reflex der das Parteileben immer mehr überwuchernden reformistischen Politik w a r das unvermeidliche Schicksal der Partei.

Die Sozialdemokratie

am Vorabend

des Ersten

Weltkrieges

D e m letzten vor dem Ersten Weltkrieg abgehaltenen Parteitag der Sozialdemokratie in Jena 1913 konnte der Partei vorstand berichten, d a ß die Sozialdemokratie fast eine Million Mitglieder u m f a ß t e u n d über 90 Tageszeitungen und 62 Druckereien verfügte 8 0 . Die Partei w a r zu einem großen Konzern geworden, dessen Presse allein (mit Zeitungsausträgerinnen) 11 089 Personen beschäftigte u n d deren Interessen in zunehmendem M a ß e von der seit der J a h r h u n d e r t w e n d e schnell ansteigenden G r u p p e der Parteibeamten - 1913 waren allein 50 Bezirkssekretäre u n d 100 Wahlkreissekretäre von der Partei angestellt 81 - vertreten wurden. 47

Die Sozialdemokratie, deren Arbeit von der 1904 entstandenen proletarischen Jugendbewegung 82 und der sehr viel älteren sozialistischen Frauenbewegung8® - beides Zentren radikaler Tendenzen - ergänzt wurde, war jedoch keineswegs nur eine politische Organisation. In enger Verbindung mit ihr standen die von Mitgliedern der Partei und der Freien Gewerkschaften begründeten unpolitischen Arbeiterklubs - die Hunderte von Turnvereinen, Gesangvereinen, Ruderklubs, Schwimmvereinen, Kegelklubs, Radfahrvereinen, die Volksbühnen, Wohlfahrtsverbände, Bestattungskassen usw. In ihnen wurde versucht, die Person des einzelnen Arbeiters über den politischen Bereich hinaus - von der Wiege bis zur Bahre - zu erfassen84, später wohl auch in der Absicht, ihn gegen die Einflüsse der bürgerlichen Welt zu immunisieren. In den Anfängen der Arbeiterbewegung und teilweise bis 1914 wird man aber in der Gründung dieser Vereine vor allem das Bestreben sehen müssen, die Arbeiter, denen die bestehenden Vereine ja in der Praxis häufig versperrt blieben oder in denen sie von den das Vereinsleben bestimmenden bürgerlichen Elementen isoliert wurden, aus der Enge ihrer Wohn- und Arbeitsverhältnisse hinauszuführen, ihnen statt Kartenspiel und Alkohol neue Interessen zu geben und die Annehmlichkeiten der bürgerlichen Welt zugänglich zu machen. Das Problem der Emanzipation der Arbeiterschaft war ja keineswegs nur ein politisches Problem.

Die deutsche Arbeiterbewegung

als Kultur- und

Emanzipationsbewegung

Die deutsche Arbeiterbewegung war eine politische und soziale Emanzipationsbewegung mit festgefügten, durch den spezifischen Ehrbegriff der Solidarität im gewerkschaftlichen und politischen Kampf erweiterten bürgerlichen Moral- und Anstandsbegriffen. Das kam in der reservierten Einstellung der Partei zum sogenannten .Lumpenproletariat* deutlich zum Ausdruck. Die unter diesem Namen zusammengefaßten Parasitenexistenzen von notorischen Säufern, Vagabunden, Zuhältern, Gaunern und ähnlichen zweifelhaften Typen wurden als Abfall der bürgerlichen Gesellschaft und bedauernswerte deklassierte „Opfer des Kapitalismus" 85 zwar als eine zwangsläufige Begleiterscheinung der bestehenden Verhältnisse angesehen, aber doch im einzelnen tief verachtet. Man lehnte jede Gemeinschaft mit diesen Elementen, die zudem organisatorisch nicht erfaßt werden konnten, vor allem aus einem deutlich profilierten Gefühl für persönliche Ehrenhaftigkeit - aber audi aus Furcht, daß die Partei für Ausschreitungen unzuverlässiger Radaubrüder verantwortlich gemacht werden könnte — auf das schärfste ab. Die Förderung der Erziehung und Bildung des einzelnen Arbeiters galt seit Lassalle und den ersten Arbeiterbildungsvereinen als eine wesentliche Aufgabe der Partei. Der Drang nach dem „Tempel des Wissens" 86 fand nicht nur in der bereitwilligen Unterstützung aller Kultur- und Bildungsaufgaben durch die Sozialdemokratie im Reichstag und in den Landtagen, sondern auch in der Bildungsarbeit der Partei und der Gewerkschaften selbst seinen Ausdrudk. So hatte 48

die Partei 1913 in 791 Orten Bildungsaussdiüsse, die neben Hunderten von Kursen und Einzelvorträgen, die zum Teil von festangestellten Wanderlehrern der Partei gehalten wurden, allein 848 Theatervorstellungen für 559 199 Besucher organisierten 87 . Die Sozialdemokratie gehörte nach den Worten Max Webers zu den „mächtigsten charakterbildenden Elementen breitester Volksmassen" 88 . Ähnlich wie die Partei bewiesen auch die Freien Gewerkschaften ein starkes Interesse an der geistigen Weiterentwicklung und der fachlichen Schulung ihrer Mitglieder. Eine Betrachtung der Veröffentlichungen der Partei über nichtpolitische Fragen und der in Einzelfällen überlieferten Listen des Bücherbestandes der Bibliotheken sozialdemokratischer Wahlvereine und gewerkschaftlicher Fachvereine 8 * zeigt, daß die ursprüngliche Idee eines spezifisch proletarischen Weltbildes, die Vorstellung einer besonderen sozialistischen Kunst und Wissenschaft langsam zurückgedrängt wurde, so daß die Arbeiterbewegung sich immer mehr an die bürgerliche Vorstellungswelt anlehnte und so letztlich zur Vermittlerin der bestehenden Kultur wurde. Die Bedeutung der Arbeiterbewegung als Emanzipations- und Kulturbewegung wird durch die Lebenswege der um 1890 in die Arbeiterorganisationen gelangten späteren Führer der Sozialdemokratie, wie ζ. B. Philipp Sdieidemann, Wilhelm Keil, Carl Severing, Paul Löbe und Friedrich Ebert 9 0 , unterstrichen. Sie zeigen, daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts neben der katholischen Kirche die Organisationen der Arbeiterschaft zum entscheidenden Hebel für den sozialen Aufstieg intelligenter Arbeiterkinder wurden. Der Ausgangspunkt der geradezu frappierend ähnlichen Lebensläufe der erwähnten Sozialisten war jeweils der am finanziellen Unvermögen der Eltern scheiternde Versuch zur Ergreifung eines gehobenen Berufes. Die weiteren Interessen, die in den ursprünglichen Berufszielen zum Ausdruck kamen, waren auch der entscheidende Antrieb, der sie über die vorgezeichnete Bahn von Fabrikarbeitern, Handwerksgesellen und Handwerksmeistern hinaus führte. Sie alle drängte das Bestreben, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Masse der Arbeiter den Zugang zu den lange versperrten Schätzen von Kunst und Wissenschaft aufzuschließen. Den Schlüssel dazu sahen sie in den Organisationen der Arbeiterbewegung. Ein weiterer gemeinsamer Zug ihres Entwicklungsganges ist der Ausgang vom lokalen, umgrenzten Bereich und der unbedingte Vorzug der praktischen Arbeit vor prinzipiellen theoretischen Erwägungen. Sie alle sind Einzelerscheinungen des in den neunziger Jahren emporgekommenen Typus des deutschen Arbeiterführers, der im Gegensatz zur älteren Generation der Arbeiterführer in erster Linie nicht mehr ein Agitator der theoretischen Grundsätze des Sozialismus, sondern ein sachkundiger Reformpolitiker ist. Die Sozialdemokratie, die immer tiefer in den bestehenden Verhältnissen wurzelte, organisierte so die Arbeiter nicht im Sinne ihrer Theorie als feindliche Sonderklasse gegen die bestehende Gesellschaft, sondern wurde im Gegenteil zusammen mit den Gewerkschaften der Hebel, der die Arbeiterschaft langsam - und angesichts des Widerstandes der herrschenden Schichten noch keineswegs 4

Ritter

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vollständig - in den Gesamtaufbau des gesellschaftlichen Lebens einfügte und damit die vorhandenen Gegensätze wenigstens teilweise überbrückte und versöhnte. Bereits vor dem ersten Weltkrieg war die Verwurzelung der Arbeiterschaft im Deutschen Reich so stark, daß die berühmte Entscheidung der Sozialdemokratie vom 4. August 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite und damit für die Verteidigung des als bedroht angesehenen Vaterlandes von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Sozialisten als selbstverständlich akzeptiert wurde. Die Enttäuschung über die offizielle Regierungspolitik, das Entsetzen über die ungeheuren Opfer und Härten des Krieges und die Begeisterung für das Beispiel der russischen Revolutionen von 1917 bewirkten dann im Laufe des Ersten Weltkrieges die Abwendung der pazifistischen und revolutionären Kräfte von der parteioffiziellen Politik des Burgfriedens. Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung war die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung mit ihren verhängnisvollen Konsequenzen für die Stabilität der Weimarer Republik.

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20,9 °/о 7,5 °/о 7,6 °/о 26,8 %

18 517 579 946

8,5 % 1,2 °/о

80 44 264 10 53 9 31 39 76 447 394

068 399 452 743 843 143 174 410 631 921 293

3,7 °/о 0,7 % 0,7 % 25,8 % 4,5 % 13,7 »/о 3,3 % 5,3 °/о 5,6 % 0,2 % 7,6 %

21 20 9 6 43

566 089 193 955 795

12,6 % 1,6 % 42,8 % 9,0 %

621 540 534 013 304 660 833 588 350 173 922

5 811 10 906 82 964 100 762 1 596 9 280 3 927 2 009 5 500 15 639 19 288

25 947 75 824 221 370 649 534 69 373 44 602 35 485

15,5 % 9,3 % 6,7 % 5,1 °/о 1,8 % 15,8 % 4,7 °/о

75 803 235 568 148 192

1,8 °/о 3,4 »/о 6,1 %

000 337 750 401 525 617 765 145 748 857 23 719

10 ООО 4 195 2 250 18 500 4 437 34 333 6 831 1 352 3 543 1 034 25 272

107 958 16 575 11 072 124 627 14 539 725 280 34 672 8 940

(4,2 %) 15,1 % 4,3 % 11,8 % 5,3 »/о 2,3 % 10,0 °/о 7,9 %

95 371

9,7 °/о

473 946 391 777

680 9 76 91

427 860 744 661

Bäcker Barbiere Bauhilfsarbeiter Bergleute Sachsen Bergleute Bildhauer Böttcher Brauer Buchbinder Buchdrucker Büroangestellte Dachdecker Fabrikarbeiter Formenstecher Former Gärtner Gastwirtsgehilfen Glacehandschuhmacher Glasarbeiter Glaser Goldarbeiter Hafenarbeiter Handelshilfsarbeiter Handlungsgehilfen Holzarbeiter Bürsten- u. Pinselmacher Drechsler Korbmacher Stellmacher Tischler Holzhilfsarbeiter Hutmacher Konditoren Kürschner Kupferschmiede Lederarbeiter Lohgerber Weißgerber Lithographen Maler Maurer Metallarbeiter Müller Porzellanarbeiter Sattler Schiffszimmerer Schmiede Schneider Schuhmacher Seiler Steinmetzen Steinsetzer Stukkateure Tabakarbeiter Tapezierer Textilarbeiter Töp'er Vergolder Werftarbeiter Zigarrensortierer Zimmerer Summe Summe (Correspondenzblatt) Lokale Christi. Gewerkschaften Hirsch-Duncker

ten sind, ergaben die von Geib zusammengestellten 25 Zentralverbände eine Gesamtzahl von 49 055 Mitgliedern in 1266 Orten. Geibs eigene Schätzung von 50 000 Gewerkschaftsmitgliedern ist angesichts einiger mitgliederstarker, nur ζ. T . bereits von ihm als fehlend erkannter und von uns ergänzter Verbände (Handschuh- und H u t macher; auch ein Ende 1877 im Ruhrgebiet gegründeter, zeitweise recht starker Bergarbeiterverband fehlt) zu niedrig gegriffen; die richtigere Schätzung von Carl Legien (Das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter in Theorie und Praxis. Denkschrift der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. Hamburg 1899, S. 219) mit zu diesem Zeitpunkt 55 000 freigewerkschaftlich organisierten Arbeitern kommt unseren Berechnungen in Anbetracht einiger weiterer Verbände, von denen nur ihre Existenz überliefert ist, recht nahe. Für 1878 dürfte, und dies rechtfertigt die Verwendung des deutlich nicht auf besonderen Erhebungen beruhenden „Verzeichnisses", insgesamt sowie bei der Betrachtung der Entwicklung einzelner Verbände unsere Aufstellung zur Stützung der in der Forschung gemeinhin vertretenen These einer leichten Zunahme der Gewerkschaftsbewegung im Frühjahr 1878 geeignet sein. Jedenfalls belegen die Verbesserungen und Ergänzungen aus der verbandsgeschichtlichen Literatur die Tendenz des behördlichen „Verzeichnisses" zur Annahme höherer Werte, die im übrigen durch die Tatsache einer im Frühjahr 1878 nachweisbaren kurzen Streikbewegung gestützt wird. Im Falle der Hutmacher wurde von uns nach Vergleich mit Walther Frisch (Der Unterstützungsverein für alle in der H u t - und Filzwarenindustrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen, Leipzig 1902, Η . 1, S. 2 6 2 ; H . 2, S. 263) die (bei Geib fehlende) Vorjahreszahl einem offensichtlich zu niedrigen Wert vorgezogen. Ein Versuch zur Herstellung zuverlässiger Gesamtzahlen erscheint erst wieder ab 1885 sinnvoll, insbesondere auch, weil für dieses J a h r erstmals wieder zeitgenössische Berechnungen vorliegen. Der mit der Überwachung der Gewerkschaftsbewegung im Berliner Polizeipräsidium befaßte Referent, G . Zacher, hat in amtlicher Funktion bis 1889 Berechnungen angestellt und z . T . auch veröffentlicht (im Deutschen Wochenblatt, Berlin 26. 9. 1889, hier zit. n. Oldenberg, Die Ausbreitung der Gewerkschaften in Deutschland und England, in: Sch. J b . , J g . 20, 1896, S. 2 9 7 - 3 1 0 , hier 298 f.; ferner von Zacher verschiedene Artikel in Gb., z . B . Bd. 4 5 / I V , Jg. 1886). Diese Zahlen wurden aufgrund archivalischer Quellen nach dem Vorgang von Dieter Fricke (Bismarcks Prätorianer, Berlin [ O . ] 1962, S. 206, bes. Anm. 160) nach Akten des Polizeipräsidenten in der neueren Literatur ζ. B. von Wolfgang Schröder (Klassenkämpfe und Gewerkschaftseinheit. Vgl. o. Anm. 44, S. 46 und öfter) und von Alfred Förster (Die Gewerkschaftspolitik der deutschen Sozialdemokratie. Vgl. o. Anm. 40, S. 324 ohne Quellenangabe) aufgegriffen. Zachers Zahlen ergaben 81 200, 89 700 und 121 647 Mitglieder für die genannten Jahre in zentralisierten Verbänden; daneben (1889) geschätzte 100 000, d. i. 1000 Ortsvereine zu jeweils 100 Mitgliedern, Gewerkschafter in Lokalvereinen. Oldenberg hat aufgrund seiner hier mehrfach zitierten Aufstellung, deren Lücken er „nach bestem Ermessen" durch Schätzung ergänzte (er kam dadurch zu 100 356, 103 330 und 135 353 Mitgliedern), mit Hinweis auf die Datierung einzelner Werte schließlich die von uns für 1885 und 1887 übernommenen Gesamtzahlen als wahrscheinliche mittlere Werte zwischen der Statistik des Polizeipräsidiums und seinen eigenen Ergebnissen bestimmt. Zur Kritik dieser Zahlen muß vor anderem auf deren Zustandekommen (Selbstdeklaration der Verbände gegenüber den Polizeidienststellen) hingewiesen werden; daneben ist in den meisten Fällen nicht überprüfbar - die zeitgenössische Gewerkschaftspresse könnte hier u. U . weiteren Aufschluß geben - , inwieweit die von den Vorständen gemachten Angaben auf Kassenabschlüssen, d. h. auf in den Zahlstellen tatsächlich beitragleistenden Mitgliedern und deren Subsumtion beruhen. Durch die Zähltechnik hervorgerufene Differenzen und Ungenauigkeiten in der Gewerkschaftsstatistik sind von Legien noch 1896 (vgl. Correspondenzblatt 2 9 / 7 . 9 . 1 8 9 6 , hier S. 7

Ritter

97

136 f.) konstatiert worden. Daneben madit sich die ungenaue und kaum prüfbare Datierung der einzelnen Angaben erschwerend bemerkbar; saisonale Schwankungen haben die Mitgliederstärken erheblich beeinflußt (vgl. die Quartalszahlen bei J . Schmöle, Zimmererverband. Vgl. o. Anm. 80, S. 166; Paeplow, Organisation der Maurer. Vgl. o. Anm. 51, S. 293). Die Inanspruchnahme der Frühjahrserhebung des Polizeipräsidiums für das Jahr 1889 (so Schröder, Klassenkämpfe und Gewerkschaftseinheit, S. 47-49, mit gedruckten Auszügen) ist, da sich die Erhebungen zum ganz überwiegenden Teil auf den Jahresschluß 1888 bezogen haben müssen, mindestens zweifelhaft. Um im Erhebungsdatum (bis 1893: Jahresabsdiluß) möglichst Einheitlichkeit herbeizuführen, sind daher in unserer Aufstellung die Frühjahrszahlen von 1889 auf das Jahr 1888, jene von 1890 auf das Jahr 1889 bezogen worden. Neben dem Vergleich mit verbandsgeschichtlichen Mitteilungen, der ζ. B. in den Fällen der Hutmacher, Kupferschmiede, Lithographen (Senefelder), Schneider und Schuhmacher zur eindeutigen Identifikation der Frühjahrserhebung mit den entsprechenden Jahresschlußzahlen des Vorjahres führt, rechtfertigen insbesondere die in den damit auch für 1888 und seither fortlaufend verfügbaren Gesamtzahlen ausgedrückten Ergebnisse dieses Verfahren. Im Gegensatz zu den (in Klammern für 1889 beigefügten) von Oldenberg errechneten Summen indizieren die neuen Werte, denen für 1888 in erkennbar fehlenden Fällen die eher zu niedrigen Vorjahreszahlen addiert sind, recht genau den Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung im Zuge der konjunkturellen Entwicklung seit 1888 sowie vor allem den wesentlich organisationsstiftenden Erfolg der Streikbewegung von 1889. Daß die Organisationsbewegung 1890 ihren Höhepunkt erreichte und 1891 leicht, 1892/93 dann stark abfiel, w a r bereits durch die retrospektiv ergänzten Gesamtzahlen Legiens (Correspondenzblatt 21/9. 10.1893, 23/23. 10.1893, 20/20. 8.1894, 31/19. 8. u. 32/26. 8. 1895 und die folgenden Jahrgänge), die 1890-95 in Klammern hinzugefügt, ab 1896 von uns übernommen sind, verdeutlicht worden. Diese Ergebnisse werden im wesentlichen durch unsere nadi einer großen Zahl von Korrekturen vorgenommenen Berechnungen, in die für 1890 nicht aufgeführte Vereinigungen mit einer Gesamtzahl von 1765, 1891 mit 23 279 Mitgliedern (darunter der bald aufgelöste Rechtsschutz-, verein der Saarbergleute: 22 400), danach nur geringe Veränderungen eingegangen sind, bestätigt. Differenzen zwischen den Gesamtzahlen ab 1896 und der addierten Summe der Einzelverbände erklären sich aus der erwähnten Beschränkung auf den Organisationsstand von 1895. Die ergänzend angeführten, jedoch sehr ungenauen Mitgliederstärken der nicht den Zentralverbänden angeschlossenen Lokalvereine beruhen bis 1890 auf Schätzungen von Zacher und J. Schmöle (vgl. Oldenberg, Ausbreitung der Gewerkschaften, S. 299 f.), nach 1891 auf der Berichterstattung der Berufsverbände über die im von ihnen organisierten Bereich vorhandenen lokalistisdien Vereine (vgl. Correspondenzblatt 21/9.10. 1893, 29/13. 8. u. 30/20. 8.1894, 32/28. 8.1895, 29/7. 9. 1896). Die Zahlen sind jedoch entschieden zu niedrig: Auf dem Gewerkschaftskongreß im März 1892 sind noch 32 805 lokalorganisierte Arbeiter vertreten (Protokoll Halberstadt 1892. Vgl. o. Anm. 85, S. 3-10), und noch anläßlich der Gewerkschaftsstatistik für 1895 muß Legien, dessen Zurückhaltung in dieser Frage auch durch die oppositionelle Haltung der Lokalorganisierten gegenüber der Generalkommission motiviert sein kann, neben der angegebenen Zahl auf etwa 10 000 lokalorganisierte Arbeiter allein in Berlin, allerdings dem wichtigsten Schwerpunkt der Lokalisten, hinweisen (Correspondenzblatt 29/7. 9 . 1 8 9 6 ; vgl. auch ebda. 30/20. 8. 1894 und 32/26. 8. 1895; ferner Sozialpolit. Centraiblatt Jg. 1, 1892, S. 339; Jg. 6, 1896/97, Sp. 1201). Selbst diese Zahl ist nach einer Aufstellung der Berliner Lokalorganisierten von 1895, aufgrund derer in Deutschland ihre Zahl auf 40 000 (Troeltsdi u. Hirschfeld, Die deutschen Gewerkschaften, S. 178) geschätzt wird, erheblich zu niedrig.

98

Zur Dokumentation der Breite der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung und ihrer nichtsozialistischen Alternativen sind die Mitgliederzahlen der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine angefügt, für die wir wiederum auf die in dieser Vollständigkeit u. W. einmalige Zusammenstellung von K a r l Oldenberg (Gewerkvereine, S. 381) verweisen. Sie wurde mit den Angaben von Paul Umbreit (Die gegnerischen Gewerkschaften in Deutschland. Acht Vorträge aus den gewerkschaftlichen Unterrichtskursen, Berlin 1906, 1907 2 , S. 168 f.) verglichen, wobei die einzige größere Abweichung 1891 zugunsten Oldenbergs entschieden, im übrigen seit 1895 Umbreit übernommen wurde. - Zur Ergänzung sei ferner auf die in den Anfängen durchaus gewerkschaftlich orientierte, fast ausnahmslos katholisch beeinflußte christlich-soziale Arbeitervereinsbewegung hingewiesen. U m 1878 zählten diese hauptsächlich in Rheinland-Westfalen ansässigen Arbeitervereine nach einer Zusammenstellung von Arnold Bongartz (Das katholisch-soziale Vereinswesen in Deutschland, Würzburg 1879, S. 1 0 2 - 1 0 5 ) 9260 Mitglieder. Nach Angaben von Franz Hitze betrug die Stärke dieser Vereinsbewegung 1889 52 239 Mitglieder; sie nahm bis zum Herbst 1892 auf ca. 75 000 Mitglieder zu (Arbeiterwohl Jg. 9, 1889, S. 168 f.; Sozialpolit. Centralblatt Jg. 1, 1892, S. 373). In deutlicher Opposition zu ihr breitete sich seit 1882 die evangelische Arbeitervereinsbewegung mit (1885) 11 700, (1889) 20 000 und (1893) 73 000 Mitgliedern aus (vgl. Paul Göhre, Die evangelisch-soziale Bewegung, ihre Geschichte und ihre Ziele, Leipzig 1896, S. 110, 119). Allerdings wurzelt die 1894/95 zunächst als Bergarbeitergewerkschaft entstandene christliche Gewerkschaftsbewegung, deren Mitgliederzahlen wir nach einer Zusammenstellung von August Erdmann (Die christlichen Gewerkschaften, insbesondere ihr Verhältnis zu Zentrum und Kirche, Stuttgart 1914, S. 595) hinzugefügt haben, in der Masse der katholischen, vor allem rheinisch-westfälischen Arbeiterschaft.

b) Der Anteil der freigewerkschaftlicben Erwerbstätigen 1895

Organisation an den

lohnabhängigen

Unsere Berechnung des Organisationsgrades freigewerkschaftlicher Verbände soll ihre relative Stärke zu einem möglichst genaue Angaben erlaubenden Zeitpunkt, dem der Berufs- und Gewerbezählung von 1895, aufzeigen. Die hierbei entstehenden Probleme sind Konsequenzen der Zähltechniken der zeitgenössischen Statistiken und des jeweiligen Organisationsbereichs der Zentralverbände. Gegenüber der an sich verwendbaren Berufszählung - hier wurde der persönliche, erlernte oder ausgeübte Beruf ermittelt - vom selben J a h r wurde von uns die Gewerbezählung 1895, die nach der Zugehörigkeit zu einem Gewerbebetrieb unterschied, wegen ihrer genaueren Ergebnisse zugrunde gelegt und in den Fällen solcher Organisationen, die nur gelernte Arbeiter aufnahmen, anhand der die Qualifikation der Arbeiter nachweisenden Berufszählung ergänzt (ζ. B. Buchdrucker, Maurer, Zimmerer). Der Vergleich mit der Gewerbezählung von 1882 ist entfallen, da sich aus der Zählweise - 1882 wurde bei den Betriebszugehörigen nicht zwischen Gewerbeart und der tatsächlichen Beschäftigung unterschieden, so daß ζ. B. ein in der Weberei beschäftigter Schlosser als Weber gezählt wurde - Differenzen ergeben und da die gewerbestrukturelle Entwicklung während der achtziger und neunziger Jahre im T e x t auch tabellarisch vermerkt wurde. Die Obereinstimmungen und Differenzen zwischen Berufs- und Gewerbestatistik sind in der Forschung vielfach diskutiert worden (ζ. B. W. G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft. Vgl. o. Anm. 28, S. 1 8 0 - 1 8 2 ) ; unsere Wiedergabe der Zahlen der in den Gewerbebetrieben am 1 4 . 6 . 1 8 9 5 beschäftigten Arbeiter folgt (unter Benutzung der Zusammenfassung, S D R , N . F., Bd. 119) der mehrfach verbesserten Aufstellung im Correspondenzblatt (zuerst N r . 30/31, 26. 7. u. 2 . 8 . 1 8 9 7 ; zuletzt, mit wichtigen Bemerkungen, J g . 11, 1901, S. 8 1 7 - 8 3 1 ) . Eine ,Hochrechnung' der Zahlen der Gewerbezählung von 1895 unter Zuhilfenahme der 7»

99

Zählungen von 1882 und 1907 zur Herstellung jährlicher Daten über die Anzahl der Erwerbstätigen einzelner Berufe empfahl sich nicht angesichts des innerhalb des Jahrzehnts höchst wechselvollen, mit ζ. T. erheblichen Wachstumsdiskrepanzen und sektoralen Spannungen realisierten Konjunkturverlaufs. Naturgemäß können die Kategorien der Reichsstatistik nicht in jedem Fall befriedigend mit den Organisationsbereichen der Gewerkschaften zur Deckung gebracht werden. So sind für Bildhauer und Büroangestellte keine Zählungen durchgeführt worden, während sich statistisch die Zigarrensortierer nicht von den Tabakarbeitern (hier unter Tabakarbeitern zusammengezählt), die Werftarbeiter nicht von den Schiffszimmerern trennen lassen. Unsere Zuordnung der Berufe in gewerkschaftliche Zentralverbände folgt unter Benutzung der Diskussion bei Troeltsch u. Hirschfeld (Die deutschen Gewerkschaften, S. 48-55) den durch die Generalkommission vorgenommenen, der Sachkenntnis und dem fortgesetzten Bemühen C. Legiens zu dankenden Zuordnungen (vgl. Correspondenzblatt, Jg. 11, 1901, S. 818-826, bes. die Diskussion S. 827). Im Gegensatz zu unserer Aufstellung war die Gewerkschaftsstatistik der Generalkommission (vgl. hier bes. Correspondenzblatt 2 4 / 1 8 . 6 . 1 9 0 0 , und 51/23.12. 1901) allerdings stets an der Verwertbarkeit des dargebotenen Zahlenmaterials als Grundlage von Agitation und Arbeitskampf orientiert. Der Umfang der gewerkschaftlichen Organisation im Verhältnis zu den Organisierbaren war hier nicht als Ausdrude gewerbestruktureller Entwicklungen und Veränderungen, sondern als Orientierungshilfe für den tagespolitischen K a m p f gedacht, weshalb besonderer Wert auf die möglichst genaue Erfassung der „Organisationsfähigen" (ζ. B. unter Ausscheidung von aus Altersgründen nicht organisierbaren Berufszugehörigen) gelegt wurde. Gegenüber unseren Beschäftigungszahlen, die nur die aufgeführten, durch gewerkschaftliche Organisationen erreichten Berufe wiedergeben, betrug die Gesamtzahl der in den Gewerbeabteilungen В und С (Industrie und Handel) im Hauptberuf erwerbstätigen Arbeiter 1882: 4 190 848; 1895: 6 810 666 (nach der Berufsstatistik: 4 823 505 bzw. 7 188 758. Vgl. S D R , N . F., Bd. I l l , S. 61; Bd. 119, S. 63; ferner zusammenfassend die Darstellung von Georg Neuhaus, Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung im Zeitalter des Kapitalismus, in: Grundriß der Sozialökonomik. I X . Abteilung: Das soziale System des Kapitalismus. 1. Teil: Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus, Tübingen 1926, S. 360-459). Die aufgeführten gewerkschaftlichen Zentralverbände haben 1895: 6 123 323 Arbeiter bzw. 89,91% aller gewerblichen Arbeiter erreichen können. Von allen im Hauptberuf erwerbstätigen Arbeitern (Abt. В und C) haben die freigewerkschaftlichen Zentralverbände 1895 3,8%, die christlichen weniger als 0,1%, die Hirsch-Dundcerschen Gewerkvereine 1,0% organisiert. Durch die in unserer Aufstellung fehlenden, da gewerbestatistisch nicht oder nur ungenau erfaßbaren Verbände wird dieses Ergebnis nicht maßgeblich beeinflußt; dagegen ist auf die große Zahl der gewerkschaftlich keineswegs organisierten Landarbeiter (nach der Berufszählung 1882: 5 881 819; 1895: 5 627 794; jeweils einschließlich der Gärtner) hinzuweisen. Schließlich sei der Anteil der Arbeiterinnen an den Arbeitern aller Gewerbeabteilungen (Gärtnerei, Industrie und Handel) hervorgehoben: Er betrug 1882: 792 363 oder 18,7 % ; 1895: 1 623 607 oder 23,6 % (SDR, N . F., Bd. 119, S. 4 4 * f.); allerdings ist zu berücksichtigen, daß hierin die mitarbeitenden Familienangehörigen mit einem naturgemäß hohen Frauenanteil (1895: 89,3% von insgesamt 396 777 Mithelfenden) enthalten sind. Angaben über weibliche Mitglieder der Freien Gewerkschaften liegen seit 1892 vor: 1892 1893 1894

4 355 5 384 5 251

1895 1896 1897

6 697 15 265 14 644

1898 1899 1900

13 481 19 280 22 844

(Correspondenzblatt, J g . 11, 1901, S. 530)

100

Bis 1900 hat die Organisierung der Frauen bei den Buchbindern, Fabrikarbeitern, Metallarbeitern, Schuhmachern, T a b a k - und Textilarbeitern nennenswerten Umfang angenommen; doch ist der Anteil der freigewerkschaftlich organisierten Frauen an der Gesamtzahl der gewerblichen Arbeiterinnen mit 1895: 0,5 % ; 1896: 1,14 % noch recht gering.

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IV. Politische Parteien in Deutschland vor 1918* Politische Parteien treten in den verschiedensten Erscheinungsformen auf. Man hat versucht, ihre Eigenart durch Begriffe wie ζ. B. Weltanschauungs-, Interessen- oder Patronagepartei nach dem Hauptzweck ihres Wirkens, Honoratioren- oder Massenpartei, Kader- oder Mitgliederpartei, Repräsentationspartei oder demokratische bzw. absolutistische „Integrationspartei" 1 nach der Art ihrer Organisation und ihrer Beziehung zur Gesamtgesellschaft - um nur einige Versuche zur Typenbildung zu nennen - zu erfassen. Die Verschiedenartigkeit der Ausprägung der Parteien in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen und ihre starke Wandlungsfähigkeit erschwerten jede Definition der Partei. Wir wollen darunter alle auf die Beeinflussung der staatlich-öffentlichen Willensbildung gerichteten formellen und informellen Gruppen verstehen, die gemeinsame politische Grundtendenzen und ein zumindest rudimentäres, von anderen Gruppen abgesetztes Gruppenbewußtsein besitzen, nicht auf Angehörige eines Standes oder Berufes beschränkt sind und das Bestreben (wenn auch unter Umständen nicht die Möglichkeit) haben, ihre Repräsentanten in einem Parlament vertreten zu sehen und ihre politischen Vorstellungen gegen konkurrierende Gruppierungen durchzusetzen2. Derartige, in der Frühzeit sehr lockere Gruppierungen unterscheiden sich durch ihre Ausrichtung nach einer weltanschaulichen Grundtendenz und ihr Streben nach öffentlicher Wirksamkeit von bloßen Hofcliquen, Klientel- und Familienverbindungen und um die Macht rivalisierenden Gruppen autoritärer und totalitärer Staaten und durch die Wahrnehmung konkreter politischer Aufgaben von den in die Vorgeschichte der Parteien gehörenden geistigen Strömungen und Gesinnungsgemeinschaften. Dabei wird unter dem Begriff der Partei von den Zeitgenossen im deutschen Vormärz zunächst meist eine allgemeine, für die Gesamtgesellschaft (und nicht nur eine soziale Schicht) wirkende, unter Umständen viele Assoziationen umfassende Bewegung verstanden. Erst später setzte sich die Vorstellung der Partei als einer geschlossenen Organisation und als Vertretung bestimmter Interessen und Ansichten im Rahmen eines aus mehreren Parteien bestehenden Parteiensystems durch. In den Parlamenten der süddeutschen Staaten bildeten sich durch die vor allem im badischen Landtag nach 1840 zunehmend bedeutsameren Zusammenschlüsse von Abgeordneten zu gemeinsam handelnden Fraktionen organisatorische Frühformen der Parteien heraus 3 . Jedoch ist es erst in der Revolution von 1848/49 zu einer rapiden Ausdehnung des Parteiwesens, zur scharfen Abgrenzung der gemäßigten Liberalen von den republikanischen Demokraten, zur Entstehung der ersten großen Organisationen der Arbeiterschaft und der Katholiken und zur organisatorischen Verfestigung von Parteien gekommen. Die 102

Mehrheit der Abgeordneten der Paulskirche und der einzelstaatlichen Parlamente organisierte sich nach ihrer politischen Gesamteinstellung in Fraktionsgemeinschaften. Daneben bildete sich, nachdem das im Vormärz bestehende Verbot politischer Vereine entfallen war, vor allem auf Seiten der demokratischen Linken mit Schwerpunkten in Sachsen, Baden, der Pfalz, Thüringen und Franken ein relativ straff organisiertes Vereinswesen mit festem Mitgliederbestand, eigener Presse und erheblichem Einfluß auf die Aufstellung von Kandidaten für Wahlen und ζ. T. auch auf das Verhalten der Abgeordneten in den Parlamenten. Diese Organisationen im Lande wurden jedoch in der folgenden Reaktionszeit wieder aufgelöst und die Parteien auf meist sehr lockere parlamentarische Gruppierungen ohne organisatorisches Fundament in den Wahlkreisen reduziert. Einen entscheidenden Aufschwung nahm dann die Entwicklung der deutschen Parteien im Jahrzehnt vor der Reichsgründung. Mit der liberalen Fortschrittspartei, der Nationalliberalen Partei, dem Zentrum, den beiden konservativen Parteien und der bis 1875 in zwei Richtungen gespaltenen sozialistischen Partei bildete sich das trotz aller Fusionen, Spaltungen und Namensänderungen (vor allem bei den Liberalen) bis 1918 im wesentlichen unverändert gebliebene Parteiensystem heraus. Gleichzeitig begannen die Parteien ihre allerdings meist noch sehr rudimentären Parteiorganisationen im Lande aufzubauen. Die Verfestigung dieser Organisationen ist schließlich entscheidend durch die seit der Gewährung des allgemeinen Wahlrechts für den Reichstag des Norddeutschen Bundes (1867) und des Deutschen Reiches (1871) bestehende Notwendigkeit zur politischen Mobilisierung der Massen und die Konkurrenz der Parteien untereinander - vor allem durch die Bedrohung der bürgerlichen Parteien durch die Sozialdemokratie in den Städten - vorangetrieben worden. Der Charakter des deutschen Parteienwesens und der einzelnen Parteien sowie ihre Rolle im politischen Prozeß wurden wesentlich von den Bedingungen ihrer Gründungszeit, der sozialen, wirtschaftlichen und konfessionellen Struktur der verschiedenen Gebiete Deutschlands und der Stärke der obrigkeitsstaatlichen Elemente im Herrschaftssystem des Reiches und der deutschen Einzelstaaten (vor allem Preußens) geprägt. Im Vergleich zu Großbritannien, wo die Parteien in einem allerdings keineswegs gradlinigen Prozeß im Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen im späten 17. und 18. Jahrhundert sich aus informellen parlamentarischen Gruppierungen entwickelt haben und von Anfang an über das Parlament entscheidende Machtpositionen innehatten, und zu Frankreich, in dem die Parteienbildung auf die Revolution nach 1789 zurückgeht und die Parteien über das Parlament schon frühzeitig - wenn auch nicht kontinuierlich - Regierungsmacht ausgeübt haben, entstanden die deutschen Parteien aufgrund der lange verzögerten Etablierung parlamentarischer Institutionen erst relativ spät. Sie wurden in dem im Reich bis 1918 bestehenden, die Funktion des Parlaments stark einschränkenden System der konstitutionellen Monarchie zudem in ihrer Macht stark begrenzt und vor allem von der Übernahme der Regierungsgewalt ausgeschlossen. Während sich in Großbritannien die staatliche Bürokratie erst 103

im 19. Jahrhundert herausbildete und von vornherein unter der Kontrolle der Parlamente und der aus den Parlamenten rekrutierten Minister stand, wurden dagegen in Deutschland Parlamente und Parteien erst dann in das institutionelle Gefüge der deutschen Einzelstaaten eingebaut, als diese bereits eine aus der Zeit des Absolutismus stammende „geschlossene bürokratisch-militärische Organisation" besaßen4. Diese weitgehend der parlamentarischen Kontrolle entzogenen Zentren der Macht konnten ihre dominierende Stellung, ihr überlegenes Prestige und ihr fast exklusives ,Recht' auf Ämterpatronage behaupten. Die weitere Entwicklung der Parteien wurde überdies zunächst durch die Staatstheorie, die unter dem Einfluß Hegels die Parteien als Exponenten partikularistischer gesellschaftlicher Kräfte gegenüber den angeblich die Einheit des Staates verkörpernden Bürokratien abwertete, behindert 5 . Während in Großbritannien Verfassungs- und Parteiensystem unlösbar miteinander verschmolzen6 und die Führungsgruppen der Parteien auch gleichzeitig die Leitung des Staates innehatten, blieben die Parteien in Deutschland nur widerwillig geduldete, wenn auch in ihrer Bedeutung keineswegs zu ignorierende Fremdkörper im politischen Herrschaftssystem der von außerparlamentarischen bürokratischfeudalen Eliten geleiteten Staaten. Aus ihrer Entstehungszeit hatten die deutschen Parteien einen stark weltansdiaulich-doktrinären Charakter. Die großen Parteiströmungen in Deutschland bildeten sich aus Schulen der politischen Philosophie im engen Zusammenhang mit religiös-kirchlichen Auseinandersetzungen in einer Zeit, als die Industrialisierung Deutschlands noch in den Anfängen steckte, verantwortliche politische Wirkungsmöglichkeiten kaum gegeben waren und angesidits des Fehlens einer ins Gewicht fallenden Handels- und Industriebourgeoisie die soziale Basis der Parteien fast ausschließlich auf der schmalen Schicht des Bildungsbürgertums beruhte. Mit der Schaffung konkreter, wenn auch begrenzter Mitwirkungsmöglichkeiten in der Gesetzgebung, bei der Verabschiedung der staatlichen Haushalte, durch die Zusammenarbeit mit den Regierungen und mit der zunehmenden Bindung der Parteien an vitale ökonomische und soziale Interessen verschwanden diese älteren Merkmale der Parteien jedodi nicht, sondern sie wurden lediglich durch neuere Elemente überlagert. Der im Geheimratsliberalismus zuerst auftretende Wunsch, mit den liberalen Elementen der Bürokratie zusammenzuarbeiten und praktischen Einfluß auszuüben, das Interesse der Wirtschaftskreise an der Unterstützung des Staates für ihre ökonomischen Ziele und die Furcht, durch Angriffe auf Militär und Bürokratie sowie die Auslösung eines Verfassungskonflikts die Sicherheit des Staates nach außen zu gefährden, führten dazu, daß die Parteien stillschweigend oder ausdrücklich unter Verzicht auf weitergehende Reformen ihren Frieden mit dem bestehenden System machten und sich ihm in ihren Verhaltensweisen anpaßten. Diese sogenannte .Realpolitik' wurde dabei jedoch oft ihrerseits in den Rang einer neuen Ideologie erhoben7, neben der unvermittelt die alten Parteidoktrinen standen. Es entstanden gleichsam zwei relativ scharf voneinander getrennte Ebenen der Parteipolitik: die 104

Ebene der kaum auf die Praxis bezogenen und daher relativ weltfremden Parteitheorie, die die Vereinigung oder permanente Zusammenarbeit mit anderen Parteien in Verfassungsfragen durch Betonung der Differenzen der Staatstheorie erschwerte, und die Ebene des praktischen politischen Handelns, das - nur ungenügend auf weiterreichende Ziele der Partei bezogen - zu einer zudem noch meist mit durchsichtigen ideologischen Argumenten verhüllten reinen Interessenvertretung und zum bloßen Opportunismus werden konnte. Die Tatsache, daß die Parteien nicht durch den Kampf um die politische Macht geformt wurden, kann kaum zu sehr betont werden. Die Vielzahl der Parteien, die Schwierigkeit, zu Kompromissen zwischen den Parteien zu kommen, und der mangelnde Zusammenhalt innerhalb der Parteien hingen unmittelbar damit zusammen, daß die Parteien nicht - wie in einem Land mit einem parlamentarischen Regierungssystem - gezwungen waren, eine Position für (die eigene) oder gegen die Regierung (der anderen) einzunehmen und ihre Politik und Taktik der Hauptaufgabe der Gewinnung oder der Erhaltung der Regierungsgewalt unterzuordnen. Sie waren so nicht durch Verantwortung zur Integration gezwungen und besaßen keine Klammer durch die Aussicht auf Patronage. Durch ihre zunehmende Anpassung an das System wurden die deutschen Parteien zudem zur Änderung der Herrschaftsstrukturen ungeeignet. Eine Parlamentarisierung wurde daher nicht nur durch das bundesstaatliche Prinzip - und die Furcht der Einzelstaaten vor einer Schwächung ihrer Position durch eine parlamentarische Reichsregierung und die vorherrschende Form des konstitutionellen Regierungssystems, sondern audi durch den Charakter des Parteiensystems selbst und die Auffassung der Parteien von der Rolle des Parlaments verhindert. Von der Mehrheit auch der auf Reformen drängenden Parteipolitiker im Reich wurde nicht die Übernahme der politischen Verantwortung durch Parlament und Parteien, sondern lediglich die Ausdehnung des Einflusses des Reichstages im Hinblick auf Gesetzgebung und Feststellung des Budgets sowie eine Art Vetorecht über die Person des vom Monarchen vorgeschlagenen Kanzlers beansprucht. Man strebte also verstärkten Einfluß auf die Regierung an, wollte aber die Unabhängigkeit des Parlaments von der Regierung, den Dualismus von Regierung und Parlament, erhalten und die Regierung weiterhin mit der Initiative und Koordination der Politik belasten, deren einzelne Teile in detaillierten Verhandlungen mit den sich keineswegs mit der Regierung identifizierenden Parteien festgelegt werden sollten. Der institutionellen Ausschaltung von der politischen Verantwortung durch die Verfassung entsprachen das mangelnde Verantwortungsbewußtsein und die geringe Regierungsfähigkeit der Parteien und Fraktionen selber, in denen mit der wachsenden Komplexität der staatlichen Aufgaben die Experten 8 eine immer größere Rolle spielten, während andererseits für politische Führungsaufgaben geeignete Persönlichkeiten wegen des Fehlens angemessener Wirkungsmöglichkeiten nur schwer zu rekrutieren waren. Die ζ. T. in ihrem Ursprung begründete mangelnde Integrations-, Initiativ- und Führungsfähigkeit der deutschen Parteien wurde also noch verstärkt durch ein Regierungssystem, in 105

dem den Parteien lediglich die Rolle eines die disparaten wirtschaftlich-sozialen Interessen der Gesellschaft widerspiegelnden Korrektivs zu der nach ihrem Selbstverständnis für die Verwirklichung des Gemeinwohls verantwortlichen Regierung und Bürokratie zukam. Die Parteien waren also „mehr gesellschaftliche Phänomene als politisch handlungsfähige Institutionen des Verfassungslebens"». Dabei haben die starken regionalen, sozialen und konfessionellen Gegensätze in Deutschland nicht nur die Herausbildung einer einheitlichen politischen Führungsschicht im Reichstag verhindert, sondern sich auch in der Schaffung einer relativ großen Zahl von Parteien und der mangelnden inneren Kohärenz der Einzelparteien niedergeschlagen. Es ist so kennzeichnend, daß im Jahr 1896 einer der berühmtesten zeitgenössischen Interpreten der kontinentaleuropäischen Parteien und des britischen Verfassungssystems, der amerikanische Politikwissenschaftler und spätere Präsident der Harvard Universität, A. Lawrence Lowell, aus der mangelnden Homogenität der deutschen Gesellschaft und vor allem aus dem Klassencharakter der deutschen Parteien folgerte, daß eine auf dem Volke beruhende parlamentarische Regierung in Deutschland weder wahrscheinlich noch wünschenswert sei10. Zweifellos war auch innerhalb Deutschlands die Furcht der Nation vor den Konsequenzen ihrer eigenen inneren Zerrissenheit eine der tieferen Ursachen für die Stärke antiparlamentarischer Kräfte". Ein weiteres Kennzeichen des deutschen Parteiwesens vor 1918 ist die starke Konzentration der Parteien auf einzelne Regionen. Das hängt mit der Entstehung der Parteien im Rahmen der jeweiligen Einzelstaaten noch vor der Reichsgründung und mit ihrer engen Verbindung mit bestimmten regional konzentrierten sozialen Gruppen und wirtschaftlichen Interessen zusammen. Audi das absolute Mehrheitswahlrecht hat der Ausbreitung der Parteien über das ganze Reichsgebiet entgegengewirkt. Da die Parteien entweder im ersten Wahlgang oder in der folgenden Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen erringen mußten, verzichteten sie meist von vornherein darauf, in aussichtslosen Wahlkreisen eine eigene Organisation aufzubauen und sich am Wahlkampf zu beteiligen. Mit Ausnahme der SPD, die aber ebenfalls ihre Agitationsarbeit auf die größeren Städte, deren Randgebiete und die Industriezentren konzentrierte, stellte noch bei den Reichstagswahlen von 1912 keine Partei in mehr als 56 % der Wahlkreise eigene Kandidaten auf 12 . Innerhalb der Parteien zeigten sich die Konsequenzen der Stärke regionaler und partikularistischer Kräfte sowie der preußischen Hegemonie im Rahmen der föderalistischen Verfassung in einer ζ. T. regional mitbedingten Flügelbildung, in der weitgehenden Autonomie der Parteiorganisationen der Einzelstaaten und den durch die Verschiedenartigkeit des Wahlrechts (und damit der politischen Ausrichtung der Parlamentsfraktionen) noch verschärften Spannungen zwischen den zentralen und den preußischen Organisationen der Parteien. All das hemmte die Initiativ- und Aktionsfähigkeit 106

der Parteien und erschwerte ebenso wie das Fehlen von in allen Gebieten des Reiches operierenden Parteien den Übergang zum parlamentarischen System. Die Parteien unterschieden sich in ihrem Verhalten zur Exekutive nicht wie im parlamentarischen System als Regierungs- und Oppositionsparteien, wobei die eine die Regierung stellt und die andere auf die Übernahme der Regierungsgewalt hinarbeitet, sondern sie wurden als gouvernementale oder antigouvernementale Parteien verstanden 13 . Von Bismarck und vielen seiner Zeitgenossen wurde dieser Gegensatz polemisch mit dem zwischen .reichstreuen' und Weichsfeindlichen' Parteien, Anhängern und Gegnern des Staates, so, wie er bestand, gleichgesetzt. Danach stellten alle reichsfeindlichen Parteien, zu denen zunächst vor allem die Sozialdemokraten und das Zentrum, teilweise aber auch die Linksliberalen gerechnet wurden, im Grunde subversive Organisationen dar, die zerstört oder doch zumindest dauernd von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen werden sollten. Von den reichstreuen Parteien wurde dagegen erwartet, daß sie der Regierung 14 ihre generelle Unterstützung in allen n a t i o n a len Fragen' - vor allem der Heeres-, Flotten- und Kolonialpolitik - gaben, sich nicht in die Außenpolitik einmischten und die Stellung des Monarchen, der Armee und der staatlichen Bürokratie unangetastet ließen. Dagegen brauchten sie sich in sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Fragen oder Problemen, die regionale Interessen berührten, nicht mit der Regierung zu identifizieren. Diese suchte sich die für die Durchführung ihrer Politik notwendige parlamentarische Mehrheit entweder von Fall zu Fall oder stützte sich, wie während des Kartelles 1887-1890 oder des Bülow-Blocks 1907-1909, f ü r eine längere Zeit auf eine bestimmte Parteiengruppierung. Obwohl die Parteien einen erheblichen Einfluß auf den Inhalt der Politik hatten und die Regierung immer wieder gezwungen war, angesichts des Widerstandes der Parteien auf einen Teil ihrer Pläne zu verzichten oder Kompromisse einzugehen, lagen doch die Initiative in der Wahl der politischen Partner und die Koordination der parlamentarischen Politik der die Regierung stützenden Parlamentsmehrheit sowie das Aufgreifen neuer Probleme fast ausschließlich bei der Regierung. Die Tendenz zum Einschwenken auf die Regierungslinie in den ,nationalen Fragen' als erste Voraussetzung ihrer Bündnisfähigkeit war stark, da die Parteien auf die Zusammenarbeit mit der Regierung angewiesen waren, um die Wünsche der hinter ihnen stehenden sozialen und wirtschaftlichen Interessen zu erfüllen. Zudem konnte die Regierung opponierende Parteien durch das allerdings nur gegen die Linksparteien verwandte Kampfmittel einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments 15 oder den Versuch zu ihrer politischen Isolierung durch Sammlung der Gegenparteien oder zur Kriminalisierung (wie im Falle des Zentrums und der SPD) sowie durch den Einsatz ihres Verwaltungsapparats im Wahlkampf unter Druck setzen. Sowohl das Zentrum als audi die linksliberalen Parteien wurden nach der Aufgabe ihrer Opposition in nationalen Fragen' um die Jahrhundertwende in das politische System voll integriert. Der politischen Integration der SPD standen vor ihrer Einbeziehung in die nationale Einheitsfront im Ersten Weltkrieg von 107

Seiten der Regierung die Opposition der Partei in Fragen der Wehr-, Flottenund Kolonialpolitik sowie ihre grundsätzliche Kritik am bestehenden politischgesellschaftlichen System des Kaiserreiches, von Seiten der Partei die Furcht vor der Gefährdung der Einheit der Partei und vor der korrumpierenden Wirkung einer Zusammenarbeit mit der Regierung und den bürgerlichen politischen K r ä f t e n entgegen. In einer Reihe von Einzelstaaten, vor allem denen Süddeutschlands, deren politische Strukturen im Gegensatz zu Preußen der Partei echte Mitwirkungschancen boten und deren Parlamente nicht über die außerhalb ihrer Kompetenz liegenden kontroversen ,nationalen Fragen* zu entscheiden hatten, wurde jedoch die S P D seit der Jahrhundertwende zunehmend in das politische System einbezogen. Audi im Reich ist es, vor allem nach dem großen Wahlsieg der Partei von 1912, zu begrenzten Formen der Zusammenarbeit zwischen Regierung und S P D bei der Verabschiedung einzelner Gesetzesvorlagen gekommen. Der Systemkonformismus der bürgerlichen Parteien hat das auf weiterreichende verfassungspolitische Reformen und die Ablösung der herrschenden Eliten drängende Potential der Parteien geschwächt. Dieselbe Wirkung hatte das immer stärkere Vordringen interessenpolitischer Gesichtspunkte. Die Vertretung und Integration verschiedener sozialer und wirtschaftlicher Interessen stellt dabei durchaus eine wichtige und legitime A u f g a b e politischer Parteien dar. Bereits in den Parteien der 48er Revolution und den Parteien der 60er und frühen 70er J a h r e hatten soziale und wirtschaftliche Interessen eine große, häufig unterschätzte Rolle gespielt. Aber erst die Konsequenzen der wirtschaftlichen Krisen vor allem nach 1873 und von 1891-1894, der Übergang von einer Politik des Freihandels zum Schutzzoll 1877-1879, die sich verstärkenden Interventionen des Staates in den wirtschaftlichen und sozialen Bereich sowie schließlich die zum erheblichen Fall der Getreidepreise A n f a n g der 90er J a h r e führende schwere Agrarkrise bewirkten eine immer engere Verflechtung der Parteien mit wirtschaftlichen und sozialen Interessen und das Zurücktreten allgemein politischer, besonders verfassungspolitischer Fragen. Diese Entwicklung ist von Bismarck mit seiner auf die Schwächung der politischen Potenz der Parteien und die Spaltung der Nationalliberalen abzielenden Politik bewußt gefördert worden. Sie wurde weiter vorangetrieben durch das A u f k o m m e n mächtiger Interessenverbände, die in Konkurrenz zu den Parteien traten. Z w a r sind die Pläne zur Schaffung eines den Reichstag oder den preußischen L a n d t a g im Bereich der Wirtschaftspolitik ersetzenden, direkt von den Interessenten beschickten Volkswirtschaftsrates gescheitert und die Versuche der Verbände, eigene, rein wirtschaftlich-sozial orientierte Interessenparteien zu bilden, ohne E r f o l g geblieben. Dagegen haben die Verbände, die ihre Interessenpolitik o f t sehr geschickt ideologisch verschleierten, durch ihren Einfluß auf die Nominierung der K a n d i d a ten bei Wahlen, die Bindung von K a n d i d a t e n an ihre Mindestforderungen als Voraussetzung ihrer Unterstützung sowie die Wirksamkeit ihrer Funktionäre in den Fraktionen und Parteigremien die Parteien selbst wesentlich beeinflußt und in ihrem inneren Charakter in allerdings unterschiedlichem Maße umge108

formt". Ihre Macht beruhte dabei - wie im Fall des Centraiverbandes der Industriellen (CVDI) - auf Zuschüssen zur Finanzierung der Wahlkämpfe 1 7 oder - bei Verbänden mit einem Massenanhang und einem ausgebauten regionalen und lokalen Organisationsapparat wie dem Bund der Landwirte (BdL) - vor allem auf ihrer Bedeutung für die politische Mobilisierung der Wähler und ihrer Funktion als organisatorische Basis der älteren Honoratiorenparteien in den Wahlkreisen 18 . Die Umbildung der Parteien ging im Fall der DeutschKonservativen, die in fast völlige Abhängigkeit vom agrarischen Bund der Landwirte gerieten, am weitesten. Aber auch im Zentrum, das mit den verschiedensten Interessenorganisationen vor allem der katholischen Arbeiter, Bauern und Handwerker zusammenarbeitete, und der Sozialdemokratie, die eng mit den sozialistischen Freien Gewerkschaften verbunden war, spielten Interessenvertreter und Funktionäre dieser die Partei stützenden Organisationen in den Fraktionen und in anderen Parteigremien eine immer bedeutsamer werdende Rolle. In der Verbindung zu derartigen außerparlamentarischen Massenorganisationen lag ebenso wie in der besonders für das Zentrum und die SPD gegebenen Einbettung in eine bestimmte ,Subkultur' 19 sowohl ein Element der Stärke wie der Schwäche. Einerseits gab sie den Parteien einen gesicherten Zugang zu bestimmten Wählergruppen und eine feste organisatorische Basis; andererseits lähmten die Rücksichtnahme auf die mit ihnen alliierten Verbände und die Furcht vor einer Aufspaltung der oder Loslösung von der sie tragenden Subkultur' die politische Stoßkraft und die Flexibilität der Parteien ebenso wie ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien und ließen alle immer wieder unternommenen Versuche zur Erweiterung ihrer wirtschaftlich-sozialen oder konfessionellen Basis in Ansätzen steckenbleiben. Damit wurden das Parteiensystem und die einzelnen Parteien auf dem einmal erreichten Stand fixiert, während doch gerade ihre Umgruppierung und politische Neuorientierung eine wesentliche Voraussetzung weitreichender Initiativen im verfassungspolitischen Bereich gewesen wären. Echte politische Reformen und eine Weiterentwicklung zum parlamentarischen Regierungssystem konnten nur von einer von den Parteien selbst gebildeten parlamentarischen Mehrheitskoalition ausgehen, die aus eigener Initiative ein gemeinsames Programm praktischer Politik ausgearbeitet und der Regierung aufgezwungen hätte. Der Bildung einer derartigen festen Mehrheitskoalition stand aber entgegen, daß die Fronten zwischen den Anhängern und den Gegnern grundlegender Reformen quer durch die für die Mehrheitsbildung ausschlaggebenden Parteien hindurchliefen 20 . Es kam hinzu, daß die Parteien vor allem das vom bisherigen System profitierende Zentrum, das den Schock der Ausschließung aus dem Bülow-Block nie überwand - befürchteten, in eine Mehrheitskoalition nicht aufgenommen zu werden und damit die bestehenden konkreten Einflußmöglichkeiten zu verlieren. Gustav Schmidt kommt in seiner interessanten Untersuchung der in den letzten Jahren vor 1914 unternommenen Versuche einer Blockbildung zwecks Überwindung des Status quo zu der

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Schlußfolgerung, daß die Bildung eines festen aktionsfähigen Linksblocks „die Auflösung der bestehenden Parteiverbände oder zumindest die Einebnung der Parteigrenzen" verlangt hätte 21 . Der Selbsterhaltungstrieb der Parteien, das Beharrungsvermögen ihrer Organisationen, der Wunsch nach Bewahrung des politisch-sozialen Besitzstandes, die zwischen ihnen bestehenden wirtschaftlichsozialen Interessenkonflikte haben ebenso wie die relative Zufriedenheit mit dem System eine Organisation der Parteien um verfassungspolitische Prioritäten verhindert. Erschwerend kam hinzu, daß die mit revolutionärer Rhetorik verschleierte ,Abstinenzpolitik' 22 der SPD und deren ideologischer Dauerkonflikt mit der Regierung und der bürgerlichen Gesellschaft eine Einbeziehung der Sozialdemokratie in alle Kalkulationen fast unmöglich machten. Das eigentliche Kennzeichen der politischen Situation der letzten Jahre vor 1914 war daher die Strategie des Ausweichens vor Konflikten, die gegenseitige Blockierung der wesentlichen Einflußgruppen und damit die Stagnation 23 , die es audi der Regierung - selbst wenn sie die Absicht gehabt hätte, eine weiterreichende, den politisch-sozialen Status quo verändernde Politik zu betreiben - unmöglich gemacht hätte, f ü r diese Politik eine Mehrheit im Reichstag zu finden. Jede Beurteilung der vor dem Ersten Weltkrieg bestehenden Zukunftsperspektiven sollte zudem nicht übersehen, daß der allmähliche Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise nicht die einzige Entwicklungsmöglichkeit des konstitutionellen Systems darstellte. Neben den in diese Richtung drängenden Tendenzen gab es teilweise von ideologisierten Verbänden getragene politische Kräfte, die eine plebiszitäre Manipulation des Parlaments und der Massen anstrebten und sich grundsätzlich gegen Parlament und Parteien stellten. Die von diesen K r ä f t e n mitbewirkte wachsende Politisierung der Bevölkerung und Demokratisierung des Stils der Politik entsprach dabei keiner Festigung der Demokratie, sondern lief im Gegenteil mit einer steigenden Anfälligkeit der Massen für plebiszitäre Diktaturen parallel 24 . Im Weltkrieg ist schließlich im Juli 1917 mit dem Interfraktionellen Ausschuß ein Instrument zur Zusammenarbeit einer allerdings nur sehr lockeren parlamentarischen Mehrheitskoalition, deren Kern SPD, Zentrum und Fortschrittliche Volkspartei bildeten, geschaffen worden. Das in der Entsendung von Vertretern verschiedener Parteiflügel zum Ausdruck kommende, eine eindeutige Meinungsbildung erschwerende parteiinterne Proporzdenken, das Fehlen klarer Zielsetzungen und eines überzeugenden Kandidaten f ü r die Kanzlerschaft haben die Effektivität des Ausschusses beeinträchtigt; er hat vor Ende September 1918, als die militärische Niederlage bereits feststand, die Macht der Obersten Heeresleitung nicht ernsthaft gefährden können. Die Unfähigkeit der führenden Parlamentarier der Mehrheitsparteien, den Übergang zum vollen Parlamentarismus zu vollziehen und selbst die Macht und die Verantwortung zu übernehmen 25 , kann dabei nicht allein oder auch nur wesentlich mit ihrer persönlichen Unzulänglichkeit erklärt werden. Diese Unfähigkeit hat vielmehr ihre tiefere Ursache darin, daß die Parlamentarier ebenso wie die sie tragenden Parteien aufgrund ihrer Prägung durch das politische System des BismarckHO

reiches auf die an sie herantretenden Aufgaben nicht vorbereitet waren. Die Struktur des deutschen Parteiensystems sowie Charakter und Verhalten der weitgehend an die Vorkriegsparteien anknüpfenden Einzelparteien haben ebenso wie die sich bald rapide verstärkenden Tendenzen zur plebiszitären Manipulation der Massen den Übergang zur Weimarer Republik mit relativ geringen Änderungen überdauert und die Anpassung an die Bedingungen des parlamentarischen Systems erschwert. Sie waren audi mitentscheidend f ü r die mit der schließlichen Auflösung des Weimarer Staates in engem Zusammenhang stehende mangelnde Fähigkeit der Republik zur Bildung handlungsfähiger Regierungen und zur Lösung der anstehenden Probleme.

Die Erforschung der deutschen Parteien und ihrer Geschichte setzte um 1900 ein. Bereits 1897/98 erschien in 1. Auflage das mit großem inneren Engagement geschriebene, auf breitem Quellenmaterial beruhende Werk des zum linken Flügel der SPD gehörenden Franz Mehring über die „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" 2 8 . Noch vor dem Ersten Weltkrieg wurden die Erforschung der Konservativen Partei durch Gerhard Ritter, die des politischen Katholizismus durch Ludwig Bergsträsser und Franz Schnabel und die der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Linken durch Gustav Mayer vorangetrieben 27 . Wichtige Beiträge zur Parteiengeschichte enthalten zudem biographische Werke, wie sie auf besonders hohem Niveau von Hermann Oncken über Ferdinand Lassalle und den nationalliberalen Parteiführer Rudolf v. Bennigsen 28 vorgelegt wurden. Die soziologische und politikwissenschaftliche Erforschung der Parteien, die in dem großen zweibändigen Werk von M. Ostrogorski, „Democracy and the Organization of Political Parties" ( L o n d o n - N e w York 1902)29, über die innere Organisation und den Willensbildungsprozeß der britischen und amerikanischen Parteien einen sehr hohen Stand erreicht hatte, wurde in Deutschland vor allem von Robert Midieis und Max Weber 30 , dessen wichtigste Äußerungen über Parteitypen allerdings erst im und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten, gefördert. Auch erhielt die Parteienforschung in der seit 1908 erscheinenden, von A. Grabowsky herausgegebenen „Zeitschrift f ü r Politik" starke Beachtung. Nach dem Ersten Weltkrieg erschien mit Ludwig Bergsträssers „Geschichte der Parteien in Deutschland" (1921) die erste, seitdem immer wieder neu aufgelegte und ergänzte, kurze handbuchartige Zusammenfassung der deutschen Parteiengeschichte, die sich im wesentlichen auf die Wiedergabe der Wahl- und Abstimmungsergebnisse, die Arbeit der Parlamentsfraktionen und die Darstellung der Fusionen, Sezessionen und Neugründungen in der Entwicklung des Parteiensystems konzentrierte. Während die Zahl der parteiengeschichtlich orientierten Arbeiten in der Weimarer Republik erheblich zunahm, blieben doch trotz der materialreichen, aber in der analytischen Durchdringung des Stoffes unzureichenden neunbändigen Geschichte des Zentrums von Karl Bachem (1927-1932), der wertvollen Briefsammlung „Deutscher Liberalismus im

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Zeitalter Bismarcks" (1925/26) von HeyderhofF-Wentzcke und einiger guter Monographien und Aufsätzen der Gesamtergebnisse der Forschung in jener Zeit unbefriedigend. Das hing mit den auf diesem relativ neuen Gebiet besonders eklatanten Mängeln der methodischen Ansätze und der Unsicherheit über den eigentlichen Gegenstand der Parteiengeschichtsschreibung zusammen. Nach dem Ersten Weltkrieg bestand eine starke Neigung, Parteiengeschichte als Teil der Ideengeschichte zu betreiben. Das führte zu einer Konzentration auf die f ü r diese Methode am ehesten geeigneten Anfänge des Parteienwesens und zur Tendenz, die Parteien vornehmlich als Verkörperung großer politischer Ideen aufzufassen. Die konkrete politische Tätigkeit, die innere Struktur und die Verflechtung der Parteien mit sozialen und wirtschaftlichen Interessen wurden dagegen weitgehend ignoriert. Der Wert der Ideengeschichte f ü r die Parteiengeschichte war seit der Kontroverse zwischen Friedrich Meinecke und Erich Brandenburg 1917/18 - in der Meinecke die Rolle der von bedeutenden individuellen Denkern ausgehenden Einflüsse, Brandenburg dagegen die elementare Macht realer politischer Grunderfahrungen als vornehmliche Antriebskräfte f ü r die Entstehung großer politischer Bewegungen ansah 31 - Gegenstand einer anhaltenden wissenschaftlichen Diskussion. Während im allgemeinen vor einer Identifizierung von Parteiengeschichte und Ideengeschidite gewarnt 32 und die Verknüpfung zur allgemeinen politischen Geschichte gesehen wurde, gab es doch nur wenige Versuche, neue Fragestellungen zu entwickeln und politikwissenschaftliche, sozialgeschichtliche und soziologische Methoden anzuwenden. H a n s Rosenberg versuchte in seinen Studien zum liberalen und demokratischen Denken in Absetzung von der an führenden Köpfen orientierten „individualisierend-elitären" Ideengeschidite Meineckes eine „kollektive Ideengeschidite" zu entwickeln, die die Rolle publizistisch aktiver Geister zweiten und dritten Ranges in der Ausbreitung der Ideen und deren Funktion im „realen gesellschaftlichen und politischen Kräftefeld" untersuchte und damit eine allerdings nur in Ansätzen realisierte „Verbindung von Geistesgesdiichte, Sozialgesdiidite und politischer Gesinnungs- und Parteigesdiichte'' anstrebte 33 . Noch weitgehender war der Bruch mit den überkommenen Traditionen deutscher Geschichtsschreibung in der methodisch und thematisch bahnbrechenden Studie von Eckart Kehr über „Schlachtflottenbau und Parteipolitik" (1930), in der Politik und Ideologie der Parteien aus ihrer Verflechtung mit massiven wirtschaftlichen Interessen, ihrer Klassenbasis und ihrem Machtstreben erklärt wurden. Nachdem in der Zeit des Dritten Reiches die wissenschaftliche Parteienforschung fast völlig stagnierte, kam es nach 1945 mit der wachsenden Einsicht in den engen Zusammenhang von Verfassungs- und Parteiensystem und die zentrale Bedeutung der Parteien f ü r die politische und soziale Integration der Bevölkerung sowie die Stabilität und Vitalität demokratischer Staaten zu einer Neubelebung der Parteienforschung. Die Geschichtswissenschaft hat dabei viel von den überwiegend auf die Analyse der zeitgenössischen Parteien zugeschnit112

tenen Fragestellungen und Methoden der Politikwissenschaft und der Soziologie profitieren können. In der D D R konzentrierte sich die Forschung zunächst auf die Arbeiterbewegung, über die eine große Zahl von ζ. T. auf neuem Material basierenden Studien erschien34. Die Arbeiten sind jedoch vielfach durch den politisch motivierten, aber durch die Quellen nicht zu stützenden Versuch belastet, eine direkte historische Kontinuität vom Bund der Kommunisten 1847 bis zur heutigen kommunistischen Weltbewegung herzustellen und die S E D zu legitimen Erben nicht nur von Karl Marx und Friedrich Engels, sondern, bei aller Kritik im einzelnen, auch von August Bebel und Wilhelm Liebknecht einzusetzen. Seit dem Anfang der 60er Jahre hat sich vor allem um Dieter Fricke und seine Schüler an der Universität Jena auch ein Zentrum zur Erforschung der Geschichte der bürgerlichen Parteien und Verbände herausgebildet. Wenn auch das Ergebnis dieser Untersuchungen über die „Rolle und Funktion der deutschen bürgerlichen Parteien im System der kapitalistischen Ausbeutergeseseilschaft" mit der Behauptung, daß sie in der Tendenz „zu Instrumenten einer kleinen, der reaktionärsten Gruppe des Monopolkapitals werden" 35 , vorweggenommen wird, so ist die historische Parteienforschung doch durch eine Reihe von auf breiter Quellenbasis beruhenden Monographien, vor allem über die liberalen Parteien 36 , und ein als Gesamtübersicht über die bürgerlichen Parteien inzwischen unentbehrlich gewordenes Handbuch 37 gefördert worden. Es ist allerdings erstaunlich, daß die für die Verifizierung der These vom Klassencharakter der Parteien notwendige Untersuchung der sozialen Basis ihrer Mitgliedschaft und Anhängerschaft (und nicht nur der Fraktionen und leitenden Parteigremien) dabei methodisch wenig entwickelt und meist in den Ansätzen steckengeblieben ist. Die sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark entwickelnde Parteiengeschichtsschreibung in der Bundesrepublik stand in enger Wechselwirkung mit außerdeutschen, vor allem amerikanischen Historikern und Soziologen, die mit dem Aufwerfen neuer Fragen und der Kritik an älteren Auffassungen wesentliche Beiträge zur Diskussion der Rolle und des Charakters der deutschen Parteien vor 1918 leisteten. Einen Mittelpunkt der Forschung bildete die Ende 1951 begründete Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, von der eine Reihe grundlegender Quelleneditionen und inzwischen fast 60 Darstellungen und monographische Untersuchungen sowie einige Bibliographien zu den verschiedensten Aspekten der Parlaments-, Parteien- und Verbandsgeschichte veröffentlicht worden sind. Die wichtigsten neuen Ergebnisse der Forschung über das deutsche Parteienwesen vor 1918 wurden in der Analyse der Organisationsstruktur der Parteien 38 und der Beziehungen von Interessenverbänden und Parteien, in der allerdings noch ein weites Arbeitsfeld offenlassenden lokal- und regionalgeschichtlichen Erforschung der Parteien und der meist von der Frage nach den Ursachen der Schwächen der Demokratie in Deutschland ausgehenden Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem politisch-gesellschaftlichen System und dem Parteiensystem erzielt. 8

Ritter

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Allerdings sind noch viele zentrale Probleme der Parteiengeschichte von der Forschung nicht aufgegriffen oder nur unbefriedigend behandelt w o r d e n " . Zunächst einmal muß man mit Lothar Gall feststellen, daß die sozialgeschichtliche Erforschung des deutschen Parteienwesens „noch ganz in den Anfängen" steckt40. Detaillierte Analysen des parteiinternen Entscheidungsprozesses in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen fehlen fast völlig. Soweit überhaupt Untersuchungen über die Verbindung der Parteien zu sozialen Schichten und zu wirtschaftlichen Interessen vorliegen, gehen sie von der Analyse der sozialen Zusammensetzung der Fraktionen und der Führungsgremien und ihrer personellen Verflechtung mit Interessenverbänden und Wirtschaftskreisen aus. Dagegen ist, wenn man von der methodisch völlig unbefriedigenden älteren Studie von R. Blank über „Die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands" 41 und der nur einen winzigen Ausschnitt des deutschen Parteienwesens erfassenden Arbeit von Klaus Simon 42 absieht, die Anhängerschaft der Parteien vor 1918 noch nicht systematisch untersucht worden. Sorgfältige, die Bedeutung lokaler Parteitraditionen und die spezifische politische Situation der jeweiligen Wahlen in Rechnung stellende Vergleiche von Berufs-, Gewerbe- und Konfessionsstatistiken mit Wahlstatistiken könnten zur Aufdeckung von Korrelationen zwischen der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Struktur einerseits und dem Wahlverhalten andererseits führen 4 8 . Derartige, methodisch allerdings wegen der Vielzahl der zu berücksichtigenden Faktoren, der Eigenart des deutschen Wahlsystems vor 1918 und der nicht immer gegebenen Übereinstimmung der den verschiedenen Statistiken zugrunde liegenden Einheiten außerordentlich schwierig durchzuführende Arbeiten, die längsschnittartig für bestimmte Gebiete angelegt werden müßten, könnten die Grundlage zu einer historischen Wahlsoziologie legen. Erst dadurch würde es möglich werden, wirklich genauere Aufschlüsse über die Zusammenhänge zwischen Industrialisierung, Binnenwanderung und Verstädterung und der Ausbreitung bzw. dem Einflußverlust von Parteien zu erhalten. Weiterhin wäre es erwünscht, daß, Ansätze von H a n s Rosenbergs Studie über „Große Depression und Bismarckzeit" 44 aufgreifend, die Auswirkungen der wirtschaftlichen Konjunktur auf die Parteien untersucht würden. Ein bisher völlig vernachlässigtes Thema f ü r fruchtbare Forschungen liegt in den Beziehungen der Parteien untereinander und zur Regierung und Verwaltung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Hier wäre insbesondere zu fragen, welche (wohl meist informellen) Verbindungen bestanden, wie die Regierung parteiinterne Auseinandersetzungen und die Bildung von Parteikoalitionen zu beeinflussen versuchte, wie die Verwaltung in die Wahlkämpfe eingriff und wie die Notwendigkeit, die Unterstützung anderer Parteien für Stichwahlen zu gewinnen 45 , das gegenseitige Verhältnis der Parteien und ihre Politik beeinflußte. Viel zu wenig beachtet wurden bisher in der parteiengeschichtlichen Forschung die Konsequenzen der föderalistischen Struktur des Reiches (und besonders der dominierenden Stellung Preußens im Reich) auf die Ausbildung des Parteien114

systems, die innere Machtstruktur und die Flügelbildung in den Parteien sowie die Einengung der politischen Handlungsfreiheit der Reichstagsfraktionen und der Gesamtparteien. Die Parteiengeschichtsschreibung weist schließlich einige zeitliche Lücken auf. So ist die Frage der Kontinuität zwischen den politischen Strömungen und Organisationen der 1848er Revolution und den Parteien der 60er Jahre noch wenig erforscht. Das gleiche gilt für die Parteien der 80er Jahre, besonders bis zur Wahl des Kartellreichstages von 1887. Am Beginn der 90er Jahre wurden unter dem Einfluß einer schweren, besonders die Landwirtschaft treffenden Krise, aber auch der allerdings in Ansätzen steckengebliebenen Reformpolitik im Reich und Preußen sowie der bewußten Bestrebungen Caprivis, in Abwendung von Bismarcks Politik der Verketzerung der sogenannten ,Reichsfeinde', Linksliberale, Zentrum und teilweise auch die S P D an den Staat heranzuführen, wesentliche Umgruppierungen im deutschen Parteienwesen und Wandlungsprozesse im Charakter der einzelnen Parteien und ihrem Verhältnis zur Regierung eingeleitet, die noch nicht im Zusammenhang untersucht worden sind. Schließlich sind audi in der Parteiengeschichte der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg und im Weltkrieg noch viele Fragen, vor allem die nach den Auswirkungen der Kriegswirtschaft, der sozialen Umschichtungen und der teilweisen Verschärfung der politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Endphase des Krieges, ungeklärt. Die Erforschung der deutschen Parteien bis zum Ende des Bismarckreiches ist so vor eine Fülle von Aufgaben gestellt, zu deren Bewältigung sie eine Vielfalt methodischer Ansätze, eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen historischen Disziplinen - vor allem der Sozial- und Verfassungsgeschichte - und Offenheit für Anregungen aus den Nachbarwissenschaften - besonders der Soziologie und Politikwissenschaft - benötigt.



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V. Kontinuität und Umformung des deutschen Parteiensystems

1918-1920* Die Frage nach dem inneren Zusammenhang, der Kontinuität von Bismarckreich und Weimarer Republik ist mit vollem Recht zu einem zentralen Thema historischer Forschung über die erste deutsche Demokratie geworden. Dabei setzt sich immer mehr die Auffassung durch, daß deren Schwäche und ihr späterer Zusammenbruch wesentlich durch die Ausgangskonstellation - das aus dem Bismarckreich übernommene „Mißverhältnis zwischen ökonomischer und soziopolitischer Modernisierung" 1 , das sowohl die Entwicklung zeitgemäßer politischer Institutionen wie auch die politische Bildung der Nation entscheidend hemmte - bedingt waren. Die Belastung der Weimarer Republik durch die aus dem Kaiserreich übernommene historische H y p o t h e k ist bisher vor allem f ü r das Militärwesen, die Verwaltung, die mit nur geringen Änderungen übernommene wirtschaftlichgesellschaftliche Struktur, die Verfassung und das sie prägende politische Denken untersucht worden 2 . Auch auf die historisch bedingte Schwäche des Parlamentarismus der Weimarer Zeit ist nachdrücklich hingewiesen worden 3 . Dagegen fehlt es an einer grundsätzlichen Erörterung der Vorbelastungen im Bereich des Parteienwesens 4 . Das ist um so bemerkenswerter, wenn man bedenkt, daß mit dem Übergang von dem labilen, bei der politischen Integration der Bevölkerung und der Lösung der grundlegenden Fragen versagenden Gleichgewichtssystem der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie 1918/19 Deutschland notwendig ein Parteienstaat wurde, die Stabilität und Funktionsfähigkeit des neuen politischen Systems also entscheidend vom Charakter und den Verhaltensweisen der in ihm operierenden Parteien abhängen mußten. Im folgenden soll nun, ausgehend von der Frage, ob ein bestimmtes politisches System auch eine besondere Art von Parteien erfordert, untersucht werden, inwieweit die in der Anfangsphase der Weimarer Republik bestehenden Parteien, die keine völligen Neuschöpfungen waren, sondern in das Erbe der Vorkriegsparteien eintraten, in der Lage waren, sich in ihrer politischen Ausrichtung und in ihrem inneren Gefüge den neuen Bedingungen anzupassen, dem parlamentarischen System zum Erfolg zu verhelfen und die schwierige Aufgabe der politischen und sozialen Integration der Nation zu leisten. Die Reaktion der Parteien auf die spätere Entwicklung sowie die Sprengung des Parteiensystems der Republik durch die zunehmende Stärke der totalitären Flügelparteien - ein Zeichen des Versagens der bisherigen Parteien - stehen dabei außerhalb unserer Betrachtung. Auch die Frage nach den Auswirkungen der wirtschaftlichen Prozesse und sozialen Veränderungen des Ersten Weltkrieges 5 auf 116

das politische Verhalten, vor allem das Wahlverhalten der einzelnen Bevölkerungsgruppen, die Parteienkonstellation und den Charakter der Einzelparteien müßten weitgehend - wenn auch nicht völlig - ausgeklammert werden, d a eine historische Wahlsoziologie in Deutschland noch nicht ernsthaft in Angriff genommen worden ist und es daher an detaillierten, exakten Daten über die Verbindung der Parteien zu einzelnen sozialen Gruppen fehlt". Auch erschweren die Verschiedenartigkeit des Wahlsystems und die häufig erfolgte Änderung der den offiziellen Statistiken zugrunde gelegten Gebiete ganz außerordentlich alle Vergleiche zwischen der Zeit vor 1914 und nach 1918. Die Untersuchung von Wandel und Kontinuität der Parteien soll sich hier vor allem auf den Stil der Politik im parlamentarischen System, die Art des Parteiensystems, die Wirkungen des neuen Wahlrechts und für die Einzelparteien auf Bemerkungen über das politische Verhalten, das Personal der Führungsgruppen, etwaige Verschiebungen in den regionalen Schwerpunkten und im Wählerreservoir sowie auf die organisatorische Struktur und die Verbindung zu Interessengruppen erstrecken. Unsere Betrachtung kann sich dabei nicht auf die revolutionäre Übergangsphase bis zur Wahl der Nationalversammlung im J a n u a r und zur Bildung der Regierung der Weimarer Koalition im Februar 1919 beschränken, in der als unmittelbare Reaktion auf die Revolution neue Personen und neue Ideen in den Parteien einen relativ starken, allerdings schon seit den Januarunruhen wieder merklich abnehmenden Einfluß hatten und teilweise grundlegende Veränderungen im Wahlverhalten der einzelnen Regionen und sozialen Schichten zu verzeichnen sind. Sie muß vielmehr durch die Ausdehnung des Untersuchungszeitraums bis zu den Reichstagswahlen 1920/22 7 prüfen, inwieweit diese Änderungen dauerhafter N a t u r waren.

I. Eine der wesentlichen Schwächen des deutschen Parlamentarismus der Weimarer Republik war die aus der konstitutionellen Monarchie übernommene und von breiten Bevölkerungskreisen weiterhin vertretene Ideologie, der Staat stehe über den Parteien, und die Auffassung von der Beamtenschaft als einer allein von sachlichen Erwägungen bestimmten und die eigentliche Staatsräson verkörpernden neutralen, schiedsrichterlichen Instanz. Ein Ausdruck der damit verbundenen Abwertung der Parteien als bloß gesellschaftlicher Phänomene, deren Notwendigkeit für das Funktionieren des modernen Verfassungsstaates man nicht erkannte, war die mangelnde Berücksichtigung der Parteien in den Verfassungen, Gesetzen und Geschäftsordnungen der Weimarer Republik 8 . D a s geringe Ansehen der Parteien in Deutschland, das in der Endphase der Weimarer Republik durch die Enttäuschung der Wähler über die Nichterfüllung ihrer an die Parteien geknüpften Heilserwartungen neue N a h r u n g erhielt, beruhte zunächst auf der auf die R o m a n t i k und die Philosophie des deutschen Idealismus zurückgehenden Vorstellung von der Einheit des ,Volksgeistes' und 117

der auch im Frühliberalismus bestehenden Ablehnung von Parteien - das jeweils Richtige sollte sich in der öffentlichen Diskussion von parteipolitisch und interessenmäßig nicht gebundenen, von der Meinungsbildung außerhalb des Parlaments unterstützten Abgeordneten herausschälen. Zudem war von großer Bedeutung, daß sich das Parteiwesen in Deutschland erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der verspäteten Schaffung von Parlamenten in den deutschen Einzelstaaten herausgebildet hatte, als diese bereits fest etablierte Staatsapparate und eindeutige Machtdomänen der Fürsten bildende Armeen besaßen, deren Präponderanz und deren überlegenes Prestige von den Parteien nicht nachhaltig erschüttert werden konnten. Die Parteien waren ihrerseits - ζ. T. auch die SPD - keine Emanzipationsbewegungen, die zur politischen Verantwortung drängten und aus dem Gefühl heraus handelten, die politischen Geschicke wirklich besser als die Bürokraten gestalten zu können. Zur Herausbildung einer auf den Parlamenten basierenden politischen Führungsschicht mit umfassenden praktisch-politischen Erfahrungen und einem auf der gemeinsamen Arbeit im Parlament beruhenden esprit de corps der Abgeordneten ist es im Gegensatz etwa zu Frankreich und Großbritannien nicht gekommen9. Auch die Lösung der nationalen Frage, die Schaffung des Deutschen Reiches, war nach der Niederlage der Revolution von 1848/49 schließlich nicht von unten durch das Volk, sondern von oben durch Bismarck und die militärische Macht Preußens herbeigeführt worden. Die Parteien galten im Gegensatz zu Bürokratie und Armee als Ausdrude der Spaltung der Nation in verschiedene weltanschauliche, konfessionelle, wirtschaftliche und soziale Gruppen. Man war der Ansicht, daß die Parteien die vorhandenen Interessengegensätze und Spannungen nicht ausglichen und überbrückten, sondern verschärften und so der politischen und sozialen Integration der Nation im Wege standen. Man warf den Parteien ihre dogmatische Enge, ihre zunehmend stärker werdende Verflechtung mit wirtschaftlichen Interessengruppen, ihr mangelndes politisches Verantwortungsbewußtsein und den führenden Parlamentariern das Fehlen jeder Regierungserfahrung vor. Diese Kritik an den konkreten Schwächen des deutschen Parteienwesens war weitgehend berechtigt. Sie verkannte jedoch, daß die Parteien selbst wesentlich durch das sie von jeder politischen Mitverantwortung ausschaltende Verfassungssystem des Kaiserreiches und die bewußt auf die Sdiwächung ihrer politischen Potenz abzielende Politik Bismarcks geformt worden waren. Ihre Zersplitterung, ihre ideologische Starrheit und Kompromißunfähigkeit, ihre einseitige Hinwendung zu wirtschafte- und interessenpolitischen Fragen, ihre mangelnde Regierungsfähigkeit sowie ihr Versagen bei der Auslese politischer Führer waren so wesentlich Konsequenz eines Systems und einer Politik, die die Parteien erfolgreich von der Mitwirkung an der Regierung und jeder nicht von dieser initiierten und gesteuerten Zusammenarbeit untereinander fernzuhalten versuchte. Durch das politische System, das den Ausgleich der Interessen der Bürokratie überließ, wurden die Parteien zur Intransigenz angehalten, kam es 118

doch nicht darauf an, sich untereinander zu einigen, sondern die Forderungen möglichst hoch zu schrauben, damit deren Kern nach den Abstrichen durch die Regierung erhalten blieb. Die Schwäche der deutschen Parteien und die dadurch bedingte weitgehende Lähmung des Reichstages bedeuteten letztlich jedoch auch die Schwächung der Regierung, der für jede langfristige, nicht nur den politisch-sozialen Status quo bewahrende Politik die stabile Basis einer Mehrheitskoalition im Reichstag fehlte. Der Erste Weltkrieg mit seiner Auflösung jeder konsequenten, einheitlichen Politik und Verwaltung in ein ständig wechselndes Gegeneinander und Miteinander von Oberster Heeresleitung, stellvertretenden Generalkommandos, Reichskanzler, Einzelministerien, Bundesstaaten, Reichstag und großen Interessenverbänden bedeutete nur die krisenhafte Zuspitzung der negativen Auswirkungen einer teilweisen Anarchie an der politischen Spitze, die schon vor dem Kriege Bethmann Hollweg angesichts der Polarisierung der politischen Kräfte dazu gebracht hatte, auf die Durchsetzung der von ihm als sachlich notwendig erachteten politischen Reformen zu verzichten. Die mangelnde Einheitlichkeit der Regierung kam auch darin zum Ausdruck, daß es seit dem Scheitern des Bülowblocks keine feste Zusammenarbeit zwischen der Regierung und einer Mehrheit der Parteien mehr gab, sondern die einzelnen Staatssekretäre sich jeweils ihre eigenen, in ihrer Zusammensetzung oft verschiedenen Mehrheiten für die von ihnen eingebrachten Gesetze im Reichstag suchen mußten. Die Parteien ihrerseits, die allerdings über ihr formelles Vetorecht in Gesetzgebung und Budgetfragen hinaus auch die Position des Kanzlers zumindest seit Bismarcks Sturz unhaltbar machen konnten, haben vor 1917 nicht ernsthaft versucht, über ihre bloß negative, auf die Wahrung ihres Image und ihres sozialen Rückhalts bedachte Macht hinaus, die politische Initiative zu ergreifen, d. h. eine klare parlamentarische Mehrheit aus eigener K r a f t zu bilden, ihre Politik der Regierung aufzuzwingen und damit die gefährliche Stagnation des politischen Systems zu beenden10. Erst in der Endphase des Ersten Weltkrieges ist nach der Enttäuschung der Hoffnungen auf einen Siegfrieden mit dem am 6. Juli 1917 gebildeten Interfraktionellen Ausschuß ein Instrument einer allerdings noch sehr lockeren und von ständigen Spannungen erschütterten parlamentarischen Mehrheitskoalition, deren festen Kern SPD, Zentrum und Fortschrittliche Volkspartei bildeten, geschaffen worden, das, ohne die Macht der O H L bis Ende September 1918 ernsthaft in Frage zu stellen, die in Ansätzen schon vor 1914 eingeleitete Entwicklung zum parlamentarischen Regierungssystem beschleunigte. Allerdings zeigen die Debatten und Aktionen dieses Ausschusses die vorhandene Unklarheit über weiterreichende Ziele, das Fehlen einer überzeugenden personellen Alternative zu O H L und Reichsleitung und das Zurücksdirecken der von den Bedingungen der konstitutionellen Monarchie geformten führenden Parlamentarier vor der Übernahme der Verantwortung 11 . Trotzdem müssen wir diesen Ausschuß und die von ihm eingeleitete Phase einer Halbparlamentarisierung 119

mit Erich Matthias und Rudolf Morsey als Vorläufer der späteren Weimarer Koalition ansehen" und entsprechend die These Theodor Eschenburgs von der „improvisierten Demokratie" 1 3 der Weimarer Republik modifizieren. Die Revolution, die in den deutschen Bundesstaaten etwa gleichzeitig erfolgte, führte zu keiner völligen Unterbrechung in der Zusammenarbeit der Parteien der Mitte und der Linken. In Württemberg und Baden wurden neben den sozialistischen Parteien Vertreter der beiden liberalen Parteien und des Zentrums, in Hessen SPD, Zentrum und Fortschrittliche Volkspartei an den dortigen Revolutionsregierungen beteiligt. Auch im Reich hat Ebert offensichtlich bei der Übernahme der Reichskanzlerschaft vom Prinzen Max von Baden am 9. 11. 1918 zunächst daran gedacht, neben der U S P D auch die bürgerlichen Parteien bis hin zu den Nationalliberalen, die im Interfraktionellen Ausschuß wegen ihrer Vorbehalte zur Kriegszielpolitik des Ausschusses nur zeitweise mitarbeiteten, in die neu zu bildende Regierung aufzunehmen 14 . Die schließlich unter dem Druck der U S P D zustande gekommene Lösung gab den Leitern der obersten Reichsbehörden formell zwar nur die Funktion bloßer „technischer Gehilfen" des politisch allein entscheidenden, paritätisch aus Vertretern der U S P D und der S P D zusammengesetzten Rates der sechs Volksbeauftragten 15 . Faktisch wurde jedoch dadurch die Kontinuität der Verwaltung auch an der Spitze gewahrt 16 . Diese Regelung beruhte einerseits auf der von der U S P D und S P D geteilten Furcht vor einer Gefährdung der Versorgung der Bevölkerung durch den Zusammenbruch des Verwaltungsapparates, dem Respekt vieler Sozialisten vor dem Sachwissen der bürgerlichen Staatssekretäre, denen von Ebert eine weitgehend selbständige Amtsführung versprochen wurde, und andererseits auf deren Bemühen, den Bruch mit der Vergangenheit zu mildern. Fünf der Staatssekretäre (Solf, Auswärtiges Amt; von Krause, Reichsjustizamt; Rüdlin, Reichspostamt; Bauer, Reichsarbeitsamt; Ritter von Mann, Reichsmarineamt) hatten ihr Amt bereits vorher innegehabt; der zum Leiter der Waffenstillstandskommission berufene Erzberger war Staatssekretär ohne Portefeuille gewesen; in zwei Ämtern rückten die Unterstaatssekretäre in die leitende Position auf (Schiffer, Reichsschatzamt; August Müller, Reichswirtschaftsamt); eine zentrale Reichsbehörde, das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung, wurde auf Druck der Gewerkschaften und Arbeitgeber unter dem bisherigen Leiter der Kriegsrohstoffabteilung des preußischen Kriegsministeriums, Josef Koeth, neugebildet, und nur das Kriegsernährungsamt unter dem U S P D Mitglied Emanuel Wurm und das Reichsamt des Innern unter Hugo Preuß (DDP) wurden Außenseitern überantwortet 17 . Mit Matthias Erzberger (Zentrum), Eugen Schiffer (Nationalliberal, später DDP), Hugo Preuß (Fortschritt, später D D P ) und Paul von Krause (Nationalliberal, später D V P ) wurden gleichzeitig auch führende Politiker der bürgerlichen Parteien, wenn auch nicht als deren offizielle Vertreter 18 , in leitenden Positionen an der Regierungsarbeit beteiligt. 120

Eine weitere Verbindung zu den bürgerlichen Parteien auf Regierungsebene stellte die Mitgliedschaft des langjährigen Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der Fortschrittlichen Volkspartei ( 1 9 1 2 - 1 9 1 8 ) und entscheidend am A u f b a u der D D P beteiligten Handelsministers O t t o Fischbeck 19 im preußischen Kabinett dar. Auch wird man die Bedeutung der Tatsache, daß die der S P D , dem Zentrum und der D D P nahestehenden Gewerkschaftsorganisationen (Freie Gewerkschaften, Christliche Gewerkschaften und Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine) bereits im Kriege und erst recht in den Revolutionsmonaten im Rahmen der Zentralarbeitsgemeinschaft eng zusammenarbeiteten, für die Kontinuität zwischen Interfraktionellem Ausschuß und Weimarer Koalition nicht unterschätzen dürfen. Als schließlich nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung im Februar 1919 die erste Regierung gebildet wurde, waren von den vierzehn ihr angehörenden Ministern bereits vier als Volksbeauftragte (Scheidemann, Landsberg, N o s k e , Wisseil, alle S P D ) , vier als Staatssekretäre (Preuß, Schiffer, G r a f Brockdorff-Rantzau, parteilos, aber der D D P nahestehend, Bauer, S P D ) , Erzberger als Leiter der Waffenstillstandskommission und drei als Unterstaatssekretäre (Robert Schmidt, S P D ; E d u a r d D a v i d , S P D und Johann Giesberts, Zentrum) in der vorangegangenen Regierung tätig gewesen. Diesen insgesamt zwölf Personen standen mit dem Demokraten Gothein (Minister ohne Geschäftsbereich) und dem vom Zentrum gestellten Kolonialminister Bell nur zwei Minister mit relativ unwichtigen Aufgaben gegenüber, die nicht bereits in der Zeit der Volksbeauftragten eine leitende Position im Reiche innegehabt hatten. Sechs (Scheidemann, Landsberg, D a v i d , Schiffer, Gothein und Erzberger) der vierzehn Minister waren zudem 1917/18 Mitglieder des Interfraktionellen Ausschusses gewesen. Gewiß haben die bürgerlichen Parteien aus Furcht vor einer absoluten sozialistischen Mehrheit ohne Ausnahme den Wahlkampf zur N a t i o nalversammlung gegen die beiden sozialistischen Parteien geführt 2 0 ; die weitgehende Kontinuität im Personal der Regierung der Volksbeauftragten und der Regierung Scheidemann war aber zweifellos nicht zufällig, sondern Ausdruck einer auch über die Revolutionsmonate andauernden engen Verbindung der die Weimarer Koalition bildenden Parteien der 1917 geschaffenen neuen Reichstagsmehrheit.

II. Angesichts dieser Kontinuität stellt sich die Frage, inwieweit das Verständnis der Parteien und der führenden Parlamentarier v o m Parlamentarismus und die Praxis ihres politischen Verhaltens in der Weimarer Zeit vorgeprägt worden waren durch die Mischform von konstitutionellem und parlamentarischem System, die sich in der Endphase des Kaiserreiches herausgebildet hatte. In einer scharfsinnigen Studie über die Vorstrukturierung des parlamentarischen Systems der Weimarer Republik durch die Verhältnisse 1917/18 wird von U d o Berm121

bach im einzelnen nachgewiesen, daß die für die Anfangsjahre der Weimarer Republik so typische Praxis der Kabinettsbildung durch interfraktionelle Besprechungen statt durch den Kanzler oder durch Besprechungen des Kanzlers mit den Parteiführern und die Festlegung des Regierungschefs auf ein von den Parteien ausgearbeitetes Regierungsprogramm den Usancen der Regierungsbildung 1917/18 entsprach 21 . Die von den Parteien präsentierten Minister galten als verlängerter Arm der Parteien in der Regierung, als Aufpasser, die über die politische Richtung des Kabinetts wachen sollten und ihrerseits von den Parteien, deren Einfluß sie sich allerdings häufig zu entziehen versuchten, zur Rechenschaft gezogen werden konnten. Eine politische Führung der Fraktionen durch die Minister war dagegen nicht vorgesehen. Auch die spätere Weimarer Praxis, einerseits sogenannte Fachminister ins Kabinett zu berufen, andererseits die von den Parteien delegierten Politiker zu ernennen, also Elemente der konstitutionellen Beamten-Regierung mit Komponenten einer mißverstandenen Demokratie zu mischen, war im Kabinett des Prinzen Max von Baden bereits vorgeformt. Man muß allerdings hinzufügen, daß führende politische Publizisten, Denker und Staatsrechtslehrer diese Version der Vereinbarung des nicht zu Vereinbarenden als die moderne deutsche Form der Demokratie priesen. Die Konsequenz dieser Praktiken waren die Einengung der politischen Initiative und der Richtlinienkompetenz des Reichskanzlers, die Teilung der Führungsfunktion zwischen dem Kabinett und dem seinerseits von den Fraktionen und außerparlamentarischen Parteiinstanzen abhängigen Ausschuß der Mehrheitsparteien, die mangelnde Homogenität des Kabinetts, die Verwischung jeder klaren politischen Verantwortung und die weitgehende Beibehaltung des traditionellen Dualismus von Regierung und Parlament. Die mangelnde Autorität der leitenden Minister in ihren eigenen Parteien führte dabei zu einem Schwanken zwischen dem überkommenen Typus einer bürokratischen Regierung der Fachleute auf der einen und dem Typus der Konventsregierung auf der anderen Seite, die ihrerseits einer ständigen direkt-demokratischen Legitimation durch Plebiszite bedurfte, die nicht zufällig im Weimarer System als Gegengewicht zum Parlament eine so große Rolle spielten. Indem die Regierungen der Weimarer Republik die Antwort auf die Bestrebungen, sie der Kontrolle von Parteiinstanzen zu unterwerfen, nicht in dem Bemühen um Führung der Parlamente sahen, sondern andere politische K r ä f t e als Gegengewichte gegen den Reichstag ausspielten, indem sie versuchten, sich von den Parteien zu emanzipieren und unter Betonung ihrer überlegenen Sachkompetenz einen möglichst großen ,politikfreien' Raum auszusparen, verhielten sie sich ganz im Stil der Reichsleitungen des vorangegangen konstitutionellen Regierungssystems. Das Verständnis der Mehrheitsparteien vom Parlamentarismus war offensichtlich wesentlich durch die vor allem von den Zentrumsführern vor 1914 entwickelten Auffassung von der angemessenen Stellung des Reichstages bestimmt worden. Man verstand unter Parlamentarismus die entscheidende Mitwirkung des Parlaments bei der Formulierung der Gesetzestexte, der detaillierten Fest122

Stellung des Budgets und der Bestimmung der Grundsätze der Politik in einzelnen Bereichen sowie ein Vetorecht über die Person des Kanzlers, jedoch nicht die volle Übernahme der politischen Verantwortung durch den Reichstag. Diese im Gegensatz zum parlamentarischen Regierungssystem britischer Prägung stehende Betonung der Unabhängigkeit des Parlaments gegenüber der Regierung wäre dabei vor allem der nach links und rechts gleichzeitig koalitionsfähigen Partei des Zentrums, die eine Schlüsselposition in den wichtigsten Ausschüssen gehabt und von 1890 bis 1912 die eindeutig stärkste Fraktion im Reichstag gestellt hatte, zugute gekommen. M a n erstrebte also eine quantitative Steigerung der Macht des Parlaments und des Parteieinflusses, sah aber nicht, daß ein funktionierendes parlamentarisches System ein qualitativ anderes Verhalten von Parlament und Parteien verlangte. Man dachte weiter in den für das konstitutionelle System so typischen Kategorien des Dualismus von Regierung und Parlament, die als Gegenspieler aufgefaßt wurden. M a n befürchtete bei Einführung des parlamentarischen Systems zudem eine sich dann in konkreter Macht manifestierende Majorisierung durch die andere Klasseninteressen repräsentierenden Parteien. D a der Kreis der führenden Parlamentarier weitgehend und der mit dem Parlament in Berührung kommenden hohen Ministerialbeamten sogar völlig gleich geblieben war, ist es nicht verwunderlich, daß beide Seiten in der A u f f a s s u n g des Verhältnisses von Regierung und Parlament in der Weimarer Republik der Tradition des Kaiserreichs verhaftet blieben. War für die Ministerialbürokratie der Weimarer Republik das Parlament gleichsam der Tiger, der unter ihrer Dressur durch den Reifen springen sollte 22 , so war umgekehrt für die Parlamentarier die Regierung die Bestie, die man mit der Peitsche zum Gehorsam zwingen mußte. Nicht die enge Zusammenarbeit von Regierung und Parlamentsmehrheit, von Ministern und Fraktionen, nicht gegenseitiges Vertrauen, sondern Mißtrauen bestimmte weitgehend, wie im konstitutionellen System, das gegenseitige Verhältnis. Diese H a l t u n g war auch ein G r u n d dafür, daß nach einem Beschluß der Führungsgremien der Sozialdemokratie (Parteiausschuß, Kontrollkommission und Parteivorstand) 2 3 die SPD-Politiker, die ein Ministeramt im Reich oder in Preußen übernahmen, ihre Sitze im Parteivorstand aufgeben mußten, um die U n a b hängigkeit der Partei von den von ihr mitgebildeten oder sogar geführten Regierungen zu betonen. Darunter mußte die Führungsfähigkeit der Kabinette leiden, während umgekehrt die Schwäche oder das Versagen der Regierung notwendig auf die sie bildenden Parteien zurückfiel. Der historisch geprägte Charakter der deutschen Parteien, die mehr Repräsentanten bestimmter, voneinander relativ klar abgegrenzter Bevölkerungsgruppen, mehr gesellschaftliche Phänomene als politisch handlungsfähige Institutionen des Verfassungslebens waren, hat die Funktionsfähigkeit des Weimarer Staates weitgehend erschwert. Im konstitutionellen System war den Parteien zumindest in der Theorie von der Regierung mit ihrem Anspruch auf Schaffung und Vertretung des Gemeinwohls die A u f g a b e abgenommen worden, von sich aus einen Ausgleich zwischen den von ihnen vertretenen und oft von123

einander divergierenden sozialen und wirtschaftlichen Interessen zu suchen und eine von der parlamentarischen Mehrheit getragene realistische, aber den anstehenden Problemen nicht ausweichende Gesamtkonzeption praktischer Politik auszuarbeiten - eine Aufgabe, die die Regierung allerdings bereits vor 1914 nicht mehr adäquat erfüllt. Die Parteien, die bisher keine Verantwortung für die Durchsetzung politischer Maßnahmen hatten und sich in vielen Bereichen auf die bloße Reaktion auf die jeweiligen Einzelvorschläge der Regierungen beschränken konnten, vermochten diese Aufgabe audi im Weimarer Staat nicht befriedigend zu lösen. Die mit dem Zusammenbruch des Bismarckreiches aktualisierten ideologischen Differenzen, die föderalistische Unterwanderung einzelner Parteien, vor allem aber auch in den Parteien der Mitte der mit ihrer Bürokratisierung und ihrer in Organisation und Agitation vollzogenen Anpassung an das Bedürfnis nach Gewinnung einer Massenmitgliedschaft parallel gehende wachsende Einfluß des Parteiapparats und außerparlamentarischer Gremien sowie die noch steigende Abhängigkeit der Parteien (mit Ausnahme der D N V P ) von Interessenverbänden hatten den Einfluß der Fraktionen und Fraktionsführungen, die noch am ehesten zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien bereit waren, geschwächt. Damit wurden die Schwierigkeiten, zu einem Ausgleich konkurrierender Interessen zu kommen, noch erhöht. Gleichzeitig bewirkte diese Entwicklung eine weitere Lockerung der ohnehin für ein Funktionieren des parlamentarischen Systems zu geringen inneren Geschlossenheit der Parteien. Keine der Parteien hatte in der Anfangsphase der Weimarer Republik, mit der eventuellen Ausnahme der DVP, in der Gustav Stresemann eine allerdings keineswegs unangefochtene Führungsposition innehatte, einen Parteiführer, der verbindlich für die Partei in politischen Fragen sprechen konnte. Einer der neuralgischen Punkte der parlamentarischen Regierungsweise, besonders in Ländern mit einem Vielparteiensystem und einer unzureichenden Integration weiter Bevölkerungsgruppen in Staat und Gesellschaft, ist die Gefahr, daß die politischen K r ä f t e sich gegenseitig blockieren, das politische Leben lähmen und zur Lösung anstehende Probleme ausklammern. Schon im Interfraktionellen Ausschuß hatte es kein klares Bewußtsein der Notwendigkeit des Zusammenwirkens gegeben. Die Parteien waren zugleich miteinander kooperierende Mitglieder einer inoffiziellen Regierungsmehrheit, wie auch Gegner, die in zentralen Fragen abweichende Auffassungen vertraten und in diesen ζ. T. mit den nicht dem Ausschuß angehörenden Parteien zusammenarbeiteten. Für ihr Verhältnis zur Regierung war kennzeichnend, daß sie einerseits die zivile Reichsleitung gegen Angriffe der Konservativen, der U S P D und teilweise der O H L stützten, andererseits aber auch die Funktion der parlamentarischen O p position als Kritiker der Regierung ausübten 24 . Die Opposition war aber nicht nur in den Interfraktionellen Aussdiuß hineingenommen worden, auch die Vertreter der Einzelparteien im Ausschuß nahmen häufig keine geschlossene Haltung ein. Die Fraktionen entsandten Vertreter der verschiedenen Parteiflügel, die in der Frage der Parlamentarisierung, 124

der Zusammenarbeit mit der Reichsleitung oder der Zusammensetzung der Mehrheitskoalition scharf divergierende Ansichten vertraten, in den Ausschuß. Mit der Anwendung eines derartigen parteiinternen Proporzdenkens wurde erreicht, daß in allen kritischen Fragen die endgültige Entscheidung nicht im Ausschuß fallen konnte, sondern in die einzelnen Fraktionen zurückverlagert wurde 25 . Damit wurden die politische Initiative und Führungsfähigkeit des Ausschusses entscheidend gehemmt und seine Position gegenüber der O H L und der Reichsleitung geschwächt. Die sich im Interfraktionellen Ausschuß herausbildenden Verhaltensweisen hatten wesentlichen Einfluß auf den Regierungsstil der Koalitionen der Anfangsjahre der Weimarer Republik. Die bedenkliche Praxis, daß Regierung und Opposition innerhalb der die Regierung stellenden Parlamentsmehrheit zusammenfielen, wurde nunmehr durch zwei zusätzliche Erwägungen gefestigt: Erstens glaubte man, daß angesichts des Fehlens einer regierungsfähigen und verfassungstreuen Opposition - die außerhalb der Weimarer Koalition stehenden Parteien D N V P und U S P D und teilweise auch die D V P lehnten ja zunächst nicht nur die Politik der Regierung, sondern auch die Grundlagen des politischen Systems ab - der Staat von einer permanenten, in ihrer Zusammensetzung nur leicht nach rechts oder links verschiebbaren Koalition der Mittelparteien, einer Arbeitsgemeinschaft von Bürgertum und Sozialdemokratie, getragen werden müsse. Zweitens war man in den ersten Jahren der Republik der Ansicht, daß die möglichen Alternativen angesichts der besonderen deutschen Situation abzulehnen seien: Eine Bürgerblockpolitik würde wie schon im Bismarckreich die Arbeiterschaft dem Staat entfremden und zum Aufruhr führen; eine Alleinherrschaft der S P D oder der beiden sozialistischen Parteien würde die Basis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft erschüttern, die für notwendig erachtete Mitarbeit der Beamten und Unternehmer gefährden und ebenfalls eine bürgerkriegsähnliche Situation provozieren. Die Struktur des deutschen Parteiensystems wurde von politischen Kräften, die von dieser Auffassung ausgingen, begrüßt, da sie einen heilsamen Zwang zur Zusammenarbeit der allein eine leistungsfähige parlamentarische Demokratie ermöglichenden Mittelparteien bewirke. Das spezifisch parlamentarische Wechselverhältnis von Regierung(smehrheit) und - systemloyaler - Opposition konnte sich innerhalb dieser Vorstellungen und der daraus hervorgehenden Praxis nicht einspielen. Vielmehr betonten die Koalitionsparteien ihre Unabhängigkeit von der Regierung, verstanden sich gleichzeitig als Träger und Kritiker der Regierung, so daß es dieser an Einheitlichkeit fehlte und sie jederzeit durch eine Machtverschiebung in einer der Koalitionsparteien in Frage gestellt werden konnte. Das bedeutete, daß das Kabinett und die Einzelminister, die weitgehend als im Auftrage der Parteien tätige Kontrolleure der Regierung betrachtet wurden, um das labile Gleichgewicht innerhalb der Koalition und ihrer jeweiligen Partei nicht zu gefährden, nur einen äußerst beengten politischen Manövrierraum hatten. Die zwischen den Parteien kontroversen innenpolitischen Fragen wurden nicht gelöst, sondern ausgeklammert; Initiativen, die nicht auf die Ver125

längerung des politisch-sozialen Status quo abzielten, erstickt. Ereignisse, nicht Entschlüsse und klare Konzeptionen, bestimmten die Politik 2 6 . Kein wirklich ernsthafter Versuch wurde unternommen, die Chancen gerade auch parlamentarischer Regierungen für die Demokratisierung und grundlegende Reform der deutschen Gesellschaft zu nutzen. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß das Scheitern von Demokratisierung und politischer Integration nicht nur, vielleicht nicht einmal primär, auf die gekennzeichneten Mängel der Verfassung und des politischen Stils, sondern zugleich und vor allem auf die durch Krieg und Revolution verschärften, angesichts der Probleme des Wiederaufbaus, der Ü b e r gangswirtschaft' 27 und der belastenden Kriegsfolgen besonders virulenten sozialen Gegensätze und ideologischen Frontstellungen zurückzuführen ist. Die zunehmend enger werdende Bindung der Parteien an die Organisationen bestimmter pressure groups und die von diesen vertretenen Klassen- und Gruppeninteressen, die durch das neue Listenwahlrecht geradezu veranlaßt wurden, die Aufstellung und Plazierung der Kandidaten zu beeinflussen, schränkte die Bewegungsfreiheit der Parteien und der von ihnen gebildeten Regierungen weiter ein. Die Stagnation des politischen Systems - ein Grundübel der Weimarer Republik und eines der tieferen Motive für die wachsende Popularität der totalitären Flügelparteien - war also wesentlich bedingt durch den in der konstitutionellen Monarchie herausgebildeten Charakter des deutschen Parteiensystems, die aus dem Kaiserreich übernommenen ungelösten politischen und sozialen Probleme und die in der Übergangsphase zum Parlamentarismus 1917/18 herausgebildeten Formen der Beziehungen von Regierung, Parlament und Parteien. Trotz veränderter Bedingungen blieben die Verfahrensformen - auch die zunächst mit geringen Änderungen übernommene Geschäftsordnung des alten Reichstages wurde erst am 12. Dezember 1922 durch eine neue ersetzt - und Verhaltensweisen von Parlament und Parteien bestehen; in diesem System konnte die ideologisch motivierte Kritik der Flügelparteien, die sich von Sachfragen möglichst fernhielt, die in der Verantwortung Stehenden mit Leichtigkeit diffamieren. Dadurch gelangte man in eine Situation hinein, in der die Parteien der linken und rechten Mitte ihre einzige Chance darin sehen mußten, der Regierung die Möglichkeit zu geben, wirklich zu regieren; andernfalls würden sie in die Rolle des bloßen Neinsagens zurückgedrängt werden, die sie weder spielen wollten noch unter dem Druck der extremistischen Konkurrenten erfolgreich durchstehen konnten. Der spezifisch deutsche Stil des Parlamentarismus ist nicht ohne zeitgenössische Kritik geblieben. So monierte Hugo Preuß die Auswahl der Ministerkandidaten durch die Fraktionen, die dauernde Rücksprache zwischen Ministern und Fraktionen und die direkte Beteiligung der Parlamentsparteien bei der Ausarbeitung des Regierungsprogramms, die die führende Rolle der Minister aufhebe und auf dem Mißverständnis beruhe, daß in einer parlamentarischen Regierung das Parlament unmittelbar regiert 28 . 126

Man versuchte jedoch, die Schwächen des deutschen Parlamentarismus nicht durch einen Wandel im Charakter und Auftreten der Parteien und im Stil der parlamentarischen Arbeit, sondern von außen her zu korrigieren. Die in der Weimarer Verfassung vorgesehene zentrale Rolle des Reichspräsidenten als eines Ersatzkaisers - auf die Initiative des Monarchen bei der Ernennung des Reichskanzlers konnte schon 1917/18 aufgrund der Uneinigkeit der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses nicht verzichtet werden - oder als eines temporären Vertrauensdiktators nach dem Modell Lloyd Georges oder Clemenceaus war nicht nur ein Zeichen f ü r die Stärke der ,Führeridee' oder der direkt-demokratischen im Vergleich zu der repräsentativen Komponente im deutschen Demokratieverständnis: Sie stellte ebenso wie die Aufnahme weiterer plebiszitärer Elemente in die Verfassung auch den Versuch dar, angesichts der vielen Zeitgenossen durchaus bewußten Schwäche des deutschen Parteienwesens Bewegungskräfte und mögliche Integrationsfaktoren in das politische System einzubauen. Auch der spätere Rückgriff auf Fachminister und überparteiliche Kabinette erklärt sich nicht nur aus der Stärke obrigkeitsstaatlicher Denktraditionen - dem Wunsch nach Ausgleich der Interessengegensätze durch eine angeblich überparteiliche Instanz - sondern auch aus dem Unverständnis für die politische Führungsrolle des Kabinetts und der Unfähigkeit der Parteien, zu einer von einer parlamentarischen Mehrheit akzeptierten politischen Lösung der den Fachministern oder Fachkabinetten übertragenen Fragen zu kommen.

III. Das Gesamtgefüge des deutschen Parteiensystems ist beim Ubergang von der Monarchie zur Republik relativ wenig verändert worden und bis zum Aufstieg der N S D A P zur Massenpartei am Ende der zwanziger Jahre im wesentlichen stabil geblieben. Auf der Linken hatte sich unter dem Einfluß der durch Krieg und Revolution aufgeworfenen Fragen die schon vor 1914 von schweren inneren Gegensätzen erschütterte Sozialdemokratie zunächst in drei und nach dem Aufgehen der U S P D in K P D und SPD 1920-22 in zwei größere Parteien aufgespalten. In der Mitte blieb das Zentrum als politische Vertretung der katholischen Minderheit, von der sich allerdings die Bayerische Volkspartei als regionale Sonderorganisation mit einem durchaus eigenen politischen Gesicht absonderte, relativ unangefochten erhalten. Der schon Jahrzehnte anhaltende, wenn auch nicht geradlinige Niedergang des nach dem Scheitern aller Einigungsversuche weiterhin gespaltenen deutschen Liberalismus setzte sich nach dem vorübergehenden Aufschwung der D D P in den Wahlen zur Nationalversammlung vom Januar 1919 beschleunigt fort. Die Zersplitterung der Rechten im Bismarckreich wurde dagegen durch die Fusion von Konservativen, Freikonservativen, ChristlichSozialen, Deutschvölkischen und Anhängern antisemitischer Gruppen zur D N V P zunächst beendet, ehe mit der Abspaltung der Völkischen von der 127

D N V P , dem Aufkommen der N S D A P und der Bildung der Konservativen Volkspartei diese Einheit durch das Auftreten neuer Probleme und K r ä f t e wieder aufgelöst wurde. Die Parteien fremdnationaler Gruppen, die im Reichstag von 1912 immerhin 28 (18 Polen, 9 Elsaß-Lothringer, 1 Däne) von 397 Abgeordneten gestellt hatten, brachten es aufgrund der durch den Versailler Vertrag verfügten Gebietsabtretungen nur noch auf ein bis zwei Mandate. Der Stimmenanteil der Splitterparteien - d. h. hier von Parteien, die unter 4 % der Gesamtwählerstimmen erhielten - ging zunächst zurück (1912: 13,6 % einschließlich 5 % f ü r fremdnationale Parteien; 1919: 1,3 %), stieg aber seit 1920/ 22 (5,1 % ) wieder an, um bei den Wahlen von 1930 mit 20,8 % einen Höhepunkt zu, erreichen. Bei den Wahlen von Juli und November 1932 ging ihr Anteil vor allem zugunsten der N S D A P wieder auf 8 bzw. 8,6 % zurück. Das vor dem Ersten Weltkrieg ausgebildete System von fünf bis sieben größeren Parteien blieb also mit gewissen Verschiebungen vor allem auf dem linken und rechten Flügel 1919/20 bestehen. Allerdings kam es innerhalb der Parteien zunächst zu erheblichen Machtverschiebungen, indem bisher verdrängte Flügel und Tendenzen stärkeren Einfluß erhielten. Diese - ebenso wie die Umgruppierungen zwischen den Parteien hatten sich jedoch weitgehend sdion am Ende des Krieges angedeutet, so daß die Revolution die bereits begonnene Entwicklung nur beschleunigte und vorhandene Tendenzen verstärkte. Die Veränderung wäre dabei voraussichtlich noch weiter gegangen, wenn nicht der bereits Anfang Dezember 1918 einsetzende Wahlkampf die Parteien gleichsam gezwungen hätte, interne Auseinandersetzungen abzubrechen und weitgehend auf die alten Organisationen und Politiker zurückzugreifen. Für alle bürgerlichen Parteien ist es weiterhin typisch, daß sich die sich schon im Januar 1919 andeutende politische Reaktion im Laufe des Jahres 1919 verstärkte und viele der eingetretenen Verschiebungen im Programm, im Führungspersonal und ζ. T. auch im Wählerreservoir wieder rückgängig machte. In der Zusammensetzung der Parteiführungen zeigte sich eine weitgehende Kontinuität zwischen den Parteien des Bismarckreiches und der Weimarer Republik. Die Fraktionsvorstände der Parteien setzten sich fast ausschließlich aus alten Reichstagsabgeordneten zusammen, die bereits vor 1918 zum Führungskreis der Parlamentsparteien gehört hatten 29 . Allerdings gewannen in den Führungsgremien der bürgerlichen Parteien (mit Ausnahme der DVP) die als Repräsentanten der linken Flügel der alten Parteien angesehenen Politiker an Gewicht. Diese Tendenz drückte sich im Zentrum im Aufstieg Erzbergers zur dominierenden Persönlichkeit der Partei sowie in der verbesserten Stellung der vor allem aus der christlichen Gewerkschaftsbewegung kommenden Politiker aus, die auf eine interkonfessionelle, die Interessen der Arbeiterschaft stärker berücksichtigende Politik der Partei hinarbeiteten. Auch die Führungsgruppe der D D P , in der die bei der Gründung der Partei tonangebende, an einer engen Zusammenarbeit mit der SPD interessierte demokratische Gruppe um das „Berliner Tageblatt" zunächst eine wesentliche Rolle spielte, stand deutlich links vom 128

alten Führungskreis der Fortschrittlichen Volkspartei. Selbst in der D N V P mußten sich die mit der reaktionären Politik der Deutschkonservativen besonders stark identifizierten Politiker, die die Neugründung mit großer Skepsis betrachteten, in den ersten Monaten zurückhalten. Während der führende Politiker der alten Konservativen, von Heydebrand und der Lasa, dauernd aus der aktiven Politik ausschied, konnte der Vorsitzende der Reichstagsfraktion, Graf Westarp, wegen der Weigerung der deutschnationalen Wahlkreisverbände, ihn in aussichtsreicher Position aufzustellen, kein Mandat für die Nationalversammlung erringen. Bis 1920 hatte sich die Situation allerdings wieder wesentlich verschoben. In den erwähnten drei Parteien hatten die weiter rechts stehenden Elemente den in den ersten Monaten nach der Revolution verlorenen politischen Boden weitgehend wiedergewonnen. Das kam in der Kaltstellung Erzbergers im Zentrum, in der Verdrängung der Exponenten des linken Flügels der DDP, Theodor Wolff und Alfred Weber, aus dem Führungskreis dieser Partei schon vor den Wahlen vom Januar 1919, in der Wahl Westarps in den Reichstag 1920 sowie im Ausscheiden der gemäßigten Kreise der D N V P nach dem Kapp-Putsch zum Ausdruck. Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Rechtsentwicklung und die Enttäuschung über die ,unvollendete Revolution' hatte umgekehrt im Lager der sozialistischen Parteien die sich ständig weiter nach links orientierende USPD auf Kosten der SPD, deren auf dem rechten Parteiflügel stehende Politiker wie Noske und Heine zudem nach dem Kapp-Putsch zum Rücktritt aus ihren Ämtern als Reichswehrminister und Innenminister in Preußen gezwungen wurden, ihren Anhang wesentlich vergrößern können und damit die Tendenz zur Polarisierung der politischen Kräfte verstärkt. Eine recht erhebliche Kontinuität zwischen den alten und den neuen Parteien zeigte sich auch in der Zusammensetzung der Fraktionen der Nationalversammlung. Von den 414 Abgeordneten der sechs Hauptparteien (SPD, Zentrum, DDP, DNVP, USPD, DVP) 30 hatten 149 (SPD: 62 (38,1 %); USPD: 11 ( 5 0 % ) ; DDP: 25 (33,3 %); Zentrum: 33 (36,7 %); D N V P : 14 (33,3%); DVP: 4 (18,2 %) oder 36 % bereits in früheren Reichstagen gesessen31. Geht man von den 1912 gewählten Abgeordneten aus, so zeigt sich allerdings, daß der Anteil der Abgeordneten, die 1919 wiedergewählt wurden, durch den Wahlsieg der SPD mitbedingt - bei den Sozialisten erheblich höher war als bei den bürgerlichen Parteien. Während von 110 Abgeordneten der SPD-Fraktion von 1912 53 für die SPD und 10 für die USPD wiedergewählt wurden (insgesamt 57,2 %), gelang nur 63 (25,3 %) der 1912 gewählten 249 Abgeordneten der Parteien, die 1919 in den vier bürgerlichen Hauptparteien aufgingen 32 , der Eintritt in die Nationalversammlung 33 . Wenn man die Mitgliedschaft in einzelstaatlichen Landtagen oder Kommunalvertretungen berücksichtigt, waren von den 385 männlichen Abgeordneten der Nationalversammlung immerhin 244 (63,4 %) parlamentarisch tätig gewesen34. Dabei war allerdings der Anteil der bereits früher in derartigen Vertretungskörperschaften 9

Ritter

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tätig gewesenen Abgeordneten in den sozialistischen Parteien (USPD: 73,7 % ; SPD: 68,3 %) und der DDP (70 %) erheblich höher als im Zentrum (63,1 %), bei den Deutschnationalen (56,1 %) oder vor allem der DVP (25,0%). Die Zahlen zeigen, daß in keiner der Parteien die alten Parlamentarier völlig abgelöst wurden, es aber in den bürgerlichen Parteien - vor allem den beiden Rechtsparteien D N V P und DVP - aufgrund der Revolution sowohl durch den freiwilligen Rückzug aus der Politik mit dem Zusammenbruch der Monarchie als audi als Konsequenz der Suche dieser Parteien nach unbelasteten', dem gewünschten neuen .Image' einer ,Volkspartei' mehr entsprechenden Wahlkandidaten zu einem im Vergleich zu den Linksparteien sehr viel stärkeren Wandel in der personellen Zusammensetzung der Reidistagsfraktionen gekommen ist. Andererseits bildeten auch in der DVP, in der die personelle Kontinuität zu der Reichstagsfraktion der Nationalliberalen des Kaiserreichs am geripgsten war, drei (Stresemann, Heinze und Rießer) der vier wiedergewählten Abgeordneten den Fraktionsvorstand und bestimmten zunächst fast konkurrenzlos die Politik der Partei. Die Stärke der Stellung der ,alten', d. h. der bereits vor 1918 im Reichstag tätigen gegenüber den 1919 erstmals gewählten Abgeordneten wird besonders deutlich an der Tatsache, daß sich von den erwähnten 149 ,alten' Abgeordneten 1919 bei der Wahl von 1920/22 95 (SPD: 44; USPD: 8; Zentrum und BVP: 17; DDP: 9; D N V P : 13; DVP: 4) oder 63,8 % halten konnten, während sich von den 265 1919 erstmals gewählten Abgeordneten nur 110 (SPD: 34; USPD: 9; Zentrum: 28; DDP: 14; D N V P : 11; DVP: 14) oder 41,5 % 1920/22 behaupteten, sie also offensichtlich im Durchschnitt schlechtere Listenplätze erhielten35. Auch ist es kennzeichnend, daß immerhin 22 der Reichstagsabgeordneten des Kaiserreichs, die 1919 nicht in die Nationalversammlung gewählt wurden, ein politisches Comeback in den Reichstag von 1920/22 (bei SPD: 2; USPD: 11; DDP: 3; D N V P : 3; DVP: 2) gelang. In der sozialen Zusammensetzung unterschieden sich die Nationalversammlung und der Reichstag von 1920 allerdings erheblich vom Reichstag von 1912. Besonders deutlich läßt sich das am Bildungsgang der Abgeordneten (Anhang II), der besser als der ζ. Z. der Wahl ausgeübte Beruf die soziale Herkunft der Abgeordneten widerspiegelt, ablesen. Der Anteil der Abgeordneten, die lediglich die Volksschule besucht hatten, also wahrscheinlich proletarischer oder kleinbürgerlicher Herkunft waren, stieg von 22,0 % über 43 % auf 44,6 % bis 1920 fast um das Doppelte an. Gleichzeitig sank der Anteil der Abgeordneten mit einem abgeschlossenen Universitätsstudium von 44,8 % über 31 % auf 30,3 %. Diese Umschichtung ist nicht allein mit dem Vordringen von SPD und USPD, in denen allerdings ebenfalls der Anteil der Abgeordneten mit Volksschulbildung gegenüber 1912 steigt, zu erklären, sondern geht auch auf die nicht unwesentliche Zunahme des Anteils dieser Abgeordneten in den bürgerlichen Fraktionen, vor allem im Zentrum, der BVP und der D N V P zurück. Ein Vergleich des Berufsbildes (Anhang I) der Abgeordneten zeigt die starke Zunahme der meist aus einfachen sozialen Verhältnissen kommenden Berufspolitiker (vor allem das Vordringen des Typus des fest besoldeten Partei- und Verbandssekre130

tärs auch in den bürgerlichen Parteien) und das erstmalige Auftreten von Angestellten sowie mittleren und unteren Beamten. Neben der nach der Revolution verstärkten bzw. im Grunde erst jetzt in größerem U m f a n g einsetzenden politischen Aktivität dieser Gruppen ist das in erster Linie dadurch zu erklären, daß auch die bürgerlichen Parteien, um ihren Anspruch als Volkspartei auszuweisen und bestimmte Organisationen dieser Gruppen hinter sich zu bringen, deren Funktionären aussichtsreiche Listenplätze einräumten. Weiterhin ist der 1920 allerdings teilweise wieder ausgeglichene starke Rückgang des Anteils der Landwirte, die Reduzierung der Zahl der Anwälte, die einen älteren Typus von Berufspolitikern darstellten, sowie im Reichstag von 1920 das Auftreten einer Gruppe von 27 (statt 9 oder 10 1912 bzw. 1919) Unternehmern und Managern bemerkenswert; diese errangen besonders in der D V P eine zentrale Position, übten aber audi in der D N V P und der D D P zunehmenden Einfluß aus und trugen wesentlich zur Zuspitzung des die weitere Geschichte der Weimarer Republik so stark belastenden Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit bei.

IV. Eine grundlegend neue Bedingung für die Parteien war, daß mit der Änderung des Wahlsystems, vor allem der Beseitigung der privilegierten Stellung der oberen sozialen Schichten durch das Wahlrecht in den Ländern und Kommunen und dem Wegfall der Wahlunterstützung f ü r regierungstreue Parteien durch die staatliche Verwaltung, die Form der politischen Auseinandersetzungen sidi demokratisierte und auch die konservativen Parteien im verstärkten Maße in allen Gebieten in den Wettbewerb um die Wählerstimmen eintreten mußten. Die bürgerlichen Parteien versuchten, den neuen Bedingungen der Massendemokratie und vor allem der Verschärfung des Konkurrenzkampfes der Parteien untereinander u. a. durch ihre Selbstdarstellung als .Volksparteien' bewußt Rechnung zu tragen 36 . Sie waren weiter bestrebt, ihre bisherige soziale Basis vor allem durch die verstärkte Wendung an die Arbeiterschaft und die Angestellten zu verbreitern. Die Sozialdemokratie und das Zentrum behielten ihren Charakter als „demokratische Integrationsparteien " 37 , die mit einem relativ geschlossenen „sozial-moralischen Milieu" 38 verbunden waren. Darin lag ihre Stärke, da sie mit ihrem relativ starken Anhang von den wechselnden Stimmungen der Wähler weniger als andere Parteien abhängig waren. Darin lag aber auch ihre Schwäche, da sie dadurch vom Problem der Demokratisierung und Liberalisierung der Gesamtgesellschaft abgelenkt und ihre Ausdehnungsfähigkeit begrenzt wurde. Audi konnte durch ihren Charakter als politische Exponenten einer viele Bereiche umfassenden sozialkulturellen Gemeinschaft ihr politischer Impuls geschwächt werden. 9*

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Sowohl f ü r die Sozialdemokratie als auch f ü r das Zentrum wurde jedoch im Vergleich mit der Zeit vor 1914 die Verbindung zu bestimmten Sozialmilieus, die sich zudem aufzulösen begannen, lockerer und problematischer. Für die Sozialdemokratie, die 1912 in einzelnen Reichstagswahlkreisen über 80 % der Stimmen erhalten hatte, wurde das vor allem durch die Spaltung der Arbeiterbewegung, das verstärkte Werben vor allem der betont nationalen bürgerlichen Parteien um die Arbeiterschaft sowie die zunehmende, wenn auch keineswegs abgeschlossene Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft bewirkt: Besonders die in vielen Großstädten von der SPD bestimmte Kommunalpolitik spielte in diesem Integrationsprozeß eine wesentliche, wenn auch noch nicht im einzelnen untersuchte Rolle. Für das Zentrum, das vor 1914 in vielen ländlichen Kreisen mit einer hohen katholischen Bevölkerungsmehrheit faktisch ohne echte politische Konkurrenz geblieben war, wirkten die Lokkerung der religiösen Bindung besonders in den Großstädten und die Schärfe der sozialen und wirtschaftlichen Interessengegensätze desintegrierend. Machten die Zentrumsstimmen 1919 unter dem Eindruck der katholischen Protestbewegung gegen die Hoffmannsche Kulturpolitik 3 9 noch 61 % der Stimmen der wahlberechtigten Katholiken aus, so fiel dieser Anteil bis November 1932, auch unter Einbeziehung der Bayerischen Volkspartei, auf 46, 5 % 4 °. Von den bürgerlichen Parteien ist weder der D D P noch der DVP, die ohne enge Verbindung zu großen außerparlamentarischen Massenorganisationen blieben, die Entwicklung zur Integrationspartei gelungen. Dagegen hat die D N V P , die im Gegensatz zu den Konservativen vor 1914 nicht mehr allein auf die Macht der Großgrundbesitzerschicht im Osten und den Einfluß des Bundes der Landwirte zurückgreifen konnte, neben ihren Kontakten zur protestantischen Kirche und zum Reichslandbund 41 vor allem in der engen Beziehung zu paramilitärischen Organisationen und Bünden bis zum Aufkommen der N S D A P eine feste Basis im nationalen Milieu' der Weimarer Republik gefunden und wesentliche Züge einer Integrationspartei gehabt. Gerade dieses .nationale Milieu' ist durch die starke integrative Wirkung der Kriegs- und Nachkriegsereignisse in einem ideologischen und sozialen Verschmelzungsprozeß der vor dem Krieg teilweise noch sehr heterogenen ,nationalen Milieus' mit verschiedenen Traditionen (gutsherrlich-agrarisch im ostelbischen Preußen; städtischkleinbürgerlich-handwerklich in Sachsen und Thüringen; kleinbäuerlich und handwerklich-kleinbürgerlich besonders in Hessen und Franken und bürgerlichnational in den gehobenen Schichten der Städte) herausgebildet worden. Die bereits vor 1914 bestehende enge Verbindung der Parteien zu bestimmten Interessengruppen, die 1918/19 eine vorübergehende Lockerung erfuhr, blieb bestehen und verfestigte sich weiter, wobei die Parteien vor allem in der Anfangsphase der Republik sich bemühten, das Spektrum der von ihnen erfaßten Gruppeninteressen zu verbreitern. In fast allen Parteien bildeten sidi Sonderorganisationen für bestimmte Berufs- und Wirtschaftskreise. Der steigende Einfluß der Interessenverbände, die vor 1914 meist individuelle Kandidaten, die sich auf ihre Mindestforderungen verpflichteten, unterstützten, beruhte da132

bei im wesentlichen auf drei Gründen: erstens auf der Stärkung der Interessenorganisationen durch ihre vom Staat geförderte Mitwirkung bei der Gestaltung der Kriegswirtschaft; zweitens auf der Praxis, die Gewährung

finanziel-

ler Hilfen und die Beeinflussung des Wahlverhaltens der Verbandsmitglieder von der Bereitstellung sicherer Listenplätze für führende Funktionäre der Organisationen vor allem auf den Reichs wähl vorschlagen der Parteien abhängig zu machen; drittens auf der zunehmenden Bedeutung staatlicher Eingriffe in den gesellschaftlichen und ökonomischen Prozeß. Besonders das sich immer mehr ausdehnende System der Entscheidung von Arbeitsstreitigkeiten durch staatliche Zwangsschlichtung hat Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen gezwungen, sich der politischen Parteien zum Druck auf die Staatsorgane zu bedienen und schließlich durch direkte Interventionen der Verbände das Parlament weitgehend aus der Wirtschafts- und Sozialpolitik auszuschalten 42 . Damit verlor das Parlament, das vor 1914 nicht wesentlich über den Status eines erweiterten Zollparlaments hinausgekommen war, eine der zentralen Funktionen, die es im Bismarckreich noch innegehabt hatte. Das Listenwahlrecht begünstigte in dem schon von Gerhard Schulz und Thomas Nipperdey für die Wilhelminische Zeit beschriebenen Konkurrenzverhältnis von Parteien und Interessengruppen 43 die Tendenz zur Verschärfung der Rivalität und zur schließlichen Dominanz der Interessengruppen. Während das Parlament an Boden verlor, setzten sich im politischen Kräftefeld einerseits ideologisch-paramilitärische Kampforganisationen, andererseits kompakte pressure groups immer stärker durch. Die Schwächung der Integrationskraft der Parteien, die Lähmung ihrer politischen Führungsinitiative und das Vordringen des Typus des interessengebundenen Verbandsfunktionärs gegenüber dem Politiker in den Führungsgremien der Parteien hängen mit dieser Entwicklung zusammen. Sie unterwarf die Parteien, mit Ausnahme der „absolutistischen Integrationsparteien" ( N S D A P und K P D ) , immer mehr dem Diktat außerparlamentarischer Gruppeninteressen. Im Gegensatz zur Zeit vor 1914, in der alle Versuche - ζ. B. des Bundes der Landwirte 1903 - zur Gründung reiner

wirtschaftlicher und sozialer Interes-

senparteien scheiterten, haben in der Weimarer Republik, unterstützt durch das die politische Mobilisierung von Minderheiten erleichternde Verhältniswahlsystem, derartige Parteien (ζ. B. Wirtschaftspartei, Volksrechtspartei, Bauernpartei u. a.) mit einem auf den Gruppenegoismus einer kleinen Schicht zugeschnittenen Programm eine zunehmend größer werdende Rolle gespielt. Das war ein Zeichen für die Auflösung des politischen Lebens in die mit einem funktionierenden parlamentarischen System nicht zu vereinbarende einseitige Vertretung von Berufs- und Standeswünschen. Kennzeichnend dafür war, daß die Flügelparteien - in ihrer Einstellung konsequent - der zentralisierenden Tendenz des politischen Parlamentarismus die Ideologie eines berufsständischen Wirtschaftsparlaments bzw. eines institutionell nicht durchdachten Rätesystems entgegenstellten. 133

Der historisch begründete Charakter der deutschen Parteien als Weltanschauungsparteien blieb trotz ihrer engen Verbindung zu wirtschaftlichen und sozialen Interessen bestehen. Für das Wilhelminische Reich war es typisch gewesen, daß die Parteien ihre Interessenpolitik ideologisch überhöhten und das von ihnen vertretene Teilinteresse mit dem Gemeinwohl identifizierten. Diese Praxis setzte sich in der Republik fort. Die ideologischen Gegensätze erhielten außerdem durch die weltanschaulich begründete Ablehnung der Republik auf der extremen Linken und der Rechten - eine ähnliche, zudem zunehmend gemilderte grundsätzliche Ablehnung des gesamten politischen Systems galt vor 1914 nur f ü r die S P D - noch zusätzliche Sprengkraft. Gleichzeitig stiegen nach 1918 die in die Politik gesetzten Heilserwartungen 4 4 . Da diese Erwartungen aufgrund der in den Koalitionskabinetten nur durch Kompromisse zu erreichenden Mehrheitsbildung notwendig enttäuscht werden mußten und die Parteien keine reale Chance zur Verwirklichung ihrer Programme hatten, stießen sie ihre an der Parteiideologie orientierten Wähler ab, die vielfach von den an ihrem eigenen Absolutheitsanspruch festhaltenden und jeden Kompromiß ablehnenden Parteien auf der äußersten Rechten und Linken angezogen wurden.

V. Eine Reihe von Wandlungen im Parteiensystem sowie der inneren Struktur und dem Auftreten der einzelnen Parteien war eine direkte Folge des geänderten Wahlsystems. Das anstelle des absoluten Mehrheitswahlsystems des Kaiserreiches durch Wahlgesetz vom 27. 4. 1920 eingeführte reine Proporzsystem 4 5 beendete die bisherige Bevorzugung der ländlichen Gebiete 4 " und machte im Gegensatz zum bisherigen Wahlsystem die Mobilisierung verstreuter Stimmen auch in den von einzelnen Parteien bisher noch nicht erfaßten Gebieten interessant. Erst in der Weimarer Republik kam es zur Ausdehnung der Organisation der bisher - mit der teilweisen Ausnahme der SPD - stark regional konzentrierten großen deutschen Parteien 47 auf das gesamte Reichsgebiet. Erst damit wurde die Wählerschaft von Gebieten, die nach dem alten Wahlrecht als unangreifbar Besitzstand einer Partei gegolten und praktisch keine echten Wahlkämpfe gekannt hatten, politisiert. Das traf insbesondere f ü r die von den Konservativen beherrschten ländlichen Gebiete Ostelbiens und die bisherigen Hochburgen des Zentrums in katholischen Gebieten mit überwiegender Landwirtschaft zu. Das hatte wesentliche Verschiebungen im Wählerreservoir der Parteien zur Folge. So hat die D N V P im Vergleich zu den konservativen Parteien vor 1914 (Deutschkonservative Partei, Reichspartei, Deutsche Reformpartei, Wirtschaftliche Vereinigung) 1919 in den beiden im wesentlichen agrarisch bestimmten ostelbischen Wahlkreisen Ostpreußen und Pommern am schlechtesten abgeschnitten. Während ihr prozentualer Anteil an den insgesamt im Reich abgegebenen Stimmen gegenüber den konservativen Parteien von 1912 bis 1919 von 134

15,7 % auf 10,3 % sank, ging der Stimmenanteil in diesen beiden Wahlkreisen von 38,5 % bzw. 45,4 % auf 11,9 % bzw. 23,9 % weit überdurchschnittlich zurück. Gleichzeitig stieg der Stimmenanteil der beiden sozialistischen Parteien (SPD und U S P D ) in Ostpreußen und Pommern gegenüber dem Anteil der S P D bei der Wahl von 1912 von 14,8 % bzw. 24,9 % auf 51,1 % bzw. 42,9 % besonders stark an 48 . Dieser durch den Zusammenbruch des Kaiserreiches und die vorübergehende politische Orientierungslosigkeit der konservativen Kräfte geförderte massive Einbruch der sozialistischen Parteien in die traditionellen konservativen Wählerschichten konnte allerdings angesichts der bereits im Jahre 1919 wieder zunehmenden reaktionären Tendenzen nur teilweise behauptet werden. So stieg der Stimmenanteil der D N V P , die sich im Reich bei den Wahlen von 1920/22 gegenüber 1919 um 4,8 % steigern konnte, in Ostpreußen und Pommern mit dem Anteil von 30,9 % bzw. 35,5 % der abgegebenen gültigen Stimmen wieder stark an, blieb aber damit noch erheblich unter dem im Reich insgesamt wieder erreichten Stand der konservativen Parteien von 1912 zurück 49 . Die jetzt drei sozialistischen Parteien (SPD, U S P D und K P D ) , deren Anteil an der Gesamtwählerschaft trotz der großen Gewinne der U S P D (17,9 % statt 7,6 % ) aufgrund der schweren Wahlniederlage der S P D (21,7 % statt 3 7 , 9 % ) 1920/22 um 3 , 8 % auf 4 1 , 7 % zurückging, konnten in Pommern (38,6 % ) ihre Position mit etwa dem Reichsdurchschnitt entsprechenden Verlusten behaupten, während in Ostpreußen (36,6 % ) ihr Stimmenanteil weit überdurchschnittlich absank. Bei den liberalen Parteien kam es bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 zu wesentlichen Verschiebungen in der relativen Stärke der an den Traditionen der Fortschrittlichen Volkspartei und der allerdings weitgehend politisch unorganisierten demokratischen Elemente des Bürgertums anknüpfenden Deutschen Demokratischen Partei einerseits und der sich zunächst als Bewahrerin des politischen Erbes der Nationalliberalen verstehenden Deutschen Volkspartei andererseits. Bei einem Gesamtrückgang der liberalen Stimmen um 4,2 % gegenüber 1912 (27,1 % ) konnte die linksliberale D D P ihren Wähleranteil gegenüber der FVP und der Demokratischen Vereinigung (1912: 12,9 % und 0,2 % ) noch um 5,4 % steigern, während die D V P mit 4,4 % weniger als ein Drittel der nationalliberalen Stimmen von 1912 (14 % ) gewann. Dieses Ergebnis war jedoch nicht der Ausdruck einer dauernden Neuorientierung der liberalen Wähler nach links, sondern im wesentlichen Konsequenz des verspäteten Eingreifens der D V P in den Wahlkampf nach den gescheiterten Versuchen zur Bildung einer liberalen Einheitspartei und der damit zusammenhängenden organisatorischen Schwäche dieser Partei. Im Zuge der Fusionsbestrebungen waren vor allem in Süddeutschland, in Thüringen, in einem Großteil Sachsens und in Schlesien, wo die Nationalliberalen über eine traditionell starke Stellung verfügten, ihre dortigen Parteiorganisationen in die neugegründete Deutsche Demokratische Partei aufgegangen, so daß die D V P in 15 der insgesamt 36 Wahlkreise (ohne Elsaß-Lothringen und unter Zählung der zusammengelegten Wahlkreise 31/32 als einen Wahlkreis) keine eigenen Kandida135

ten aufstellen k o n n t e . I n drei dieser 15 Wahlkreise w a r sie eine Listenverbind u n g mit der D N V P , in einem Wahlkreis mit der D D P eingegangen. Auch w a r e n die b e t o n t nationalistischen Elemente der alten N a t i o n a l l i b e r a l e n P a r tei, nachdem sie bereits in der im Kriege gegründeten V a t e r l a n d s p a r t e i m i t den K o n s e r v a t i v e n zusammengearbeitet h a t t e n , vielfach in die D N V P eingetreten. Andererseits erschien die D D P vielen bürgerlichen W ä h l e r n in der Situation des J a n u a r 1919 als einzige politische K r a f t , die eine sozialistische M e h r h e i t v e r h i n dern k o n n t e . Bei den Reichstagswahlen v o n 1920/22 w u r d e die K r ä f t e v e r t e i l u n g i n n e r h a l b des Liberalismus wieder völlig v e r ä n d e r t . W ä h r e n d die G e s a m t z a h l der liberalen Stimmen noch einmal b e h a u p t e t w e r d e n k o n n t e (22,4 % statt 22,9 % ) , ehe bereits bei den nächsten W a h l e n im M a i 1924 (14,9 % ) der r a p i d e Auflösungsp r o z e ß des Liberalismus einsetzte, h a t t e die D D P ( 1 9 2 0 / 2 2 : 8,4 % ) im wesentlichen zugunsten der D V P mehr als die H ä l f t e ihrer S t i m m e n verloren, w o m i t sie erheblich u n t e r den Anteil der Fortschrittlichen V o l k s p a r t e i u n d der D e m o kratischen Vereinigung v o n 1912 (13,1 % ) zurückfiel. Die D V P k o n n t e dagegen mit 14 % den S t a n d der N a t i o n a l l i b e r a l e n v o n 1912 erreichen. N e b e n der allgemeinen Entwicklung des deutschen Bürgertums n a d i rechts in den J a h r e n 1919/20 sind die im K o n t r a s t zu der relativen Geschlossenheit der D V P in dieser Phase stehenden schweren p a r t e i i n t e r n e n D i f f e r e n z e n in der D D P wesentliche G r ü n d e f ü r diesen Umschwung. Die Gegensätze zwischen Pazifisten u n d N a t i o nalisten, Föderalisten u n d U n i t a r i e r n , betonten Wirtschaftsplanern u n d A n h ä n gern eines d o k t r i n ä r e n laisser-faire Liberalismus, zwischen protestantischen Theologen u n d agnostischen Intellektuellen, V e r t r e t e r n v o n Arbeitgeber-, M i t telstands- u n d Arbeitnehmerinteressen, ließen den A n f a n g 1919 noch e r f o l g v e r sprechenden Versuch der D D P , zu einer die verschiedenen sozialen G r u p p e n integrierenden Massenpartei zu w e r d e n , scheitern, f ü h r t e n z u r S p a l t u n g der Reichstagsfraktion bei fast allen entscheidenden A b s t i m m u n g e n u n d machten die Partei weitgehend h a n d l u n g s u n f ä h i g u n d d a m i t f ü r die W ä h l e r wenig a t traktiv 5 0 . Ein Vergleich des Abschneidens aller liberalen Parteien in den Reichstagsw a h l e n v o n 1912 u n d 1920/22 zeigt, d a ß diese n u r in dem 1912 eindeutig v o n der S P D beherrschten Wahlkreis Berlin u n d den beiden im Einzugsgebiet v o n Berlin liegenden Wahlkreisen des Regierungsbezirks P o t s d a m sowie den beiden Wahlkreisen M ü n s t e r - M i n d e n u n d Köln-Aachen, w o offensichtlich ein Teil der Verluste des Z e n t r u m s den Liberalen zugute k a m , u n d schließlich in der P f a l z , w o die D N V P zugunsten der D V P auf die Aufstellung eigener K a n d i d a t e n verzichtete, größere G e w i n n e erzielen konnten 5 1 . D a s Z e n t r u m , dessen Stimmenanteil im Reich 1919 v o n 16,7 % (1912) auf 19,7 % stieg, w o v o n 0,8 % allerdings einer Listenverbindung mit der DeutschH a n n o v e r s c h e n P a r t e i zuzuschreiben sind, schnitt 1919 im Vergleich zu 1912 a m schlechtesten in drei ausgesprochenen Parteihochburgen, den Wahlkreisen N i e d e r b a y e r n u n d O b e r p f a l z (Rückgang v o n 66,1 % auf 49,7 % ) , O b e r b a y e r n u n d Schwaben (Rückgang v o n 47,3 % auf 36,5 % ) sowie K ö l n u n d Aachen 136

(Rückgang von 66,1 % auf 59,7 % ) ab. Auch hier konnten mit der Ausnahme der Wahlkreise Köln und Aachen, in denen sich der Niedergang fortsetzte, die Verluste bei den Wahlen von 1920 teilweise, aber keineswegs vollständig wieder ausgeglichen werden 52 . Die Tendenz zu Stimmenverlusten in ihren bisherigen Hochburgen und das parallel dazu erfolgende Vordringen von Parteien in von ihnen früher unerschlossene Gebiete galten audi für die sozialistischen Parteien. Während diese ihren Anteil im gesamten Reich von 34,9 % (1912) auf 45,5 % (1919) steigern konnten, blieben sie in Berlin (64 % ) und dem zum Einzugsgebiet von Berlin gehörenden Wahlkreis Potsdam 10 (51,3 %), in denen ihr Anteil an den Gesamtstimmen um 11,7 % bzw. 7,4 % sank, weit hinter dem Ergebnis von 1912 zurück und konnten auch bei den Wahlen von 1920 die verlorengegangenen Wähler nicht wiedergewinnen 53 . Dagegen konnte die D N V P gegenüber den früheren konservativen Parteien ihren Anteil in diesen Wahlkreisen 1919 und 1920 erheblich vergrößern 54 . Das Vordringen rechtsstehender nationaler Parteien in die Städte, wo sie insbesondere Mittelschichten, aber auch teilweise Arbeiter gewannen, sowie die 1919 besonders starken Gewinne der sozialistischen Parteien in ländlichen Gebieten waren die wichtigsten Verschiebungen im Wählerreservoir der Parteien zwischen 1912 und 1919/20. Besonders deutlich lassen sie sich durch einen Vergleich des Anteils der Stimmen der einzelnen Parteien in den verschiedenen Ortsgrößenklassen bei den Wahlen von 1912 und 1920/22 zeigen 55 . So konnten die sozialistischen Parteien in Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern ihren Stimmenanteil von 20,2 % auf 32,8 % steigern. Ihre Gewinne lagen damit 7 % über ihren durchschnittlichen Gewinnen. In Großstädten mit über 100 000 Einwohnern fiel dagegen ihr Anteil von 57,0 % auf 49,8 % und lag damit um 12,8 % unter der durchschnittlichen Entwicklung der Parteien. Das Umgekehrte galt für die D N V P , die im Vergleich zu den beiden großen konservativen Parteien von 1912 (Deutschkonservative Partei und Reichspartei) ihren Stimmenanteil in demselben Zeitraum in den Großstädten von 3,5 % auf 10,4 % steigern konnte und damit 3,8 % über ihren durchschnittlichen Gewinnen lag, während sie in den Gemeinden mit unter 2000 Einwohnern durch das Vordringen in das westelbische Gebiet ihren Anteil zwar noch leicht um 1,1 % steigern konnte, damit aber 2 % unter dem durchschnittlichen Gewinn lag. Bei der D V P standen im Vergleich zu den Nationalliberalen Verluste von 4,4 % in den Gemeinden mit unter 2000 Einwohnern Gewinnen von 4,9 % in den Großstädten gegenüber. In den Großstädten, in denen die Nationalliberalen 1912 am schlechtesten abgeschnitten hatten, ergaben sich 1920/22 weitaus bessere Ergebnisse für die D V P als in Gemeinden mit unter 10 000 Einwohnern. Die Linksliberalen verloren dagegen vor allem in den Großstädten an Boden, während das Zentrum bei geringfügigen Verlusten in Gemeinden mit 2000 bis 10 000 Einwohnern seine Position in den anderen Ortsgrößenklassen um ca. 2—3 % leicht verbessern konnte. 137

Dieser Überblick über Tendenzen der Wählerbewegung 1912-20/22 müßte natürlich durch eine im Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu leistende, die Entwicklung in den einzelnen Wahlkreisen und lokale Sonderfaktoren berücksichtigende Detailanalyse differenziert und durch die Behandlungen der Verschiebungen der relativen Stärke zwischen den verschiedenen sozialistischen Parteien ergärzt werden, um weitergehende nuancierte Aussagen über die Veränderung der sozialen Basis der 1919/20 auftretenden großen Parteien zu den vergleichbaren Parteien des Kaiserreiches zuzulassen. Der im Kaiserreich durch das die ländlichen Gebiete bevorzugende Wahlrecht und den Einfluß der staatlichen Verwaltung, aber auch durch die Dynanamik sowie die. außerordentlich geschickten Organisations- und Propagandamethoden des Bundes der Landwirte 59 künstlich erhaltene, übergroße Einfluß der Landwirtschaft auf das politische Leben ging 1919 zunächst zurück. Waren im Reichstag von 1912 noch 88 (22,2 % ) von 397 Abgeordneten Landwirte, davon 63 (15,9 % ) Großgrundbesitzer, so kamen in der Nationalversammlung von 1919 auf 423 Abgeordnete nur noch 34 (8 % ) Landwirte, von denen nicht mehr als 11 (2,6 % ) Großgrundbesitzer waren". Noch stärker war der Rückgang des Anteils der Landwirte im Parlament Preußens. Waren von den 443 Abgeordneten des 1913 gewählten preußischen Abgeordnetenhauses 153 (34,5 % ) hauptberufliche Landwirte, davon 112 (25,3 % ) Großgrundbesitzer oder Pächter landwirtschaftlicher Großbetriebe, so wurden in die aus 400 Abgeordneten bestehende Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung von 1919 nur noch 18 (4,5 % ) Landwirte, davon 7 (1,8 % ) Großgrundbesitzer oder Pächter landwirtschaftlicher Großbetriebe, gewählt 58 . Dieser starke Rückgang des Anteils der Landwirte und besonders der Großgrundbesitzer hing allerdings nicht nur mit den durch Krieg, Revolution und Wahlrechtsänderung bewirkten Verschiebungen der politisch-sozialen Machtverhältnisse, sondern auch mit der Konzentration des politischen Lebens in den Städten in den ersten Wochen nach dem Umsturz vom November 1918 zusammen. Schon im folgenden, 1920 gewählten Reichstag zeigte sich, ζ. T. als Reaktion auf die scharfe Kritik an der geringen Berücksichtigung agrarischer Interessen bei der Kandidatenaufstellung für die Nationalversammlung 5 *, ein erhebliches Ansteigen des Anteils der Landwirte auf 12,2 % der Abgeordneten des Reichstages, die vor allem in den Fraktionen der DNVP, des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei und der DVP zu finden waren. Der Anteil der Landwirte lag damit noch immer erheblich unter dem von 1912. Die Ursachen dafür wird man in den Stimmengewinnen der Sozialisten, in der verstärkten Agitation der vor 1914 fast ausschließlich agrarisch orientierten Rechtsparteien in den Städten, im weiteren Vordringen des Typus des Berufspolitikers sowie in der Änderung des die agrarischen Gebiete bevorzugenden Wahlrechts zu suchen haben. Aufgrund des besonders seit 1924 starken Einflusses des Reichslandbundes in der DNVP, der Bedeutung der agrarischen Protestbewegung für den Aufstieg der NSDAP und der bekannten Verbindung Hindenburgs zu großagrarischen Kreisen haben die politischen Organisationen 138

der Landwirtschaft, in der nach der Gewerbezählung von 1925 noch 23 % aller Berufszugehörigen tätig waren (1882: 40 %), jedoch auch in der Weimarer Republik bald wieder eine zentrale, in ihren Auswirkungen verhängnisvolle politische Rolle gespielt. Mit der verstärkten Werbung um die Arbeiter und vor allem auch Um die Angestellten, deren Anteil an den Erwerbstätigen stark angewachsen war und aus deren Kreis 1919 und 1920 6 bzw. 10 Reichstagsabgeordnete gewählt wurden (1912: 0) eo , stieg unmittelbar nach dem Sturz der Monarchie zunächst auch in den bürgerlichen Parteien der Einfluß von Gewerkschaften und Angestelltenverbänden, um allerdings bereits seit Ende 1919 wieder zugunsten anderer Interessenorganisationen zurückzugehen. Daß von den 10 in den Reichstag von 1920 gewählten Angestellten 5 zur U S P D und 5 zur S P D gehörten, unterstreicht den vor allem durch den überdurchschnittlichen Rückgang ihrer Realeinkommen im Kriege geförderten Anschluß der Angestellten an die Arbeiterschaft, der - verbunden mit der tendenziellen politischen Annäherung der Kleinhändler und Handwerker an die industriellen Unternehmer - die Polarisierung der beiden vor 1914 politisch noch teilweise kooperierenden Gruppen des,neuen' und des,alten' Mittelstandes bewirkte 61 . In allen Parteien setzte eine gezielte Werbung um die wahlberechtigten Frauen ein. Bei den Reichstagswahlen von 1920 erfolgte für etwa 850 000 Wahlberechtigte in 18 Wahlbezirken eine getrennte Stimmabgabe von Männern und Frauen. Danach kam das Frauenstimmrecht vor allem dem Zentrum und der D N V P , deren Wählerschaft sich zu 59 % bzw. 56 % aus Frauen rekrutierte, zugute. Während sich bei der D V P (Frauen: 51 % ) und der D D P (Frauen: 47 % ) der Anteil der Männer- und Frauenstimmen etwa glichen, überwogen bei den sozialistischen Parteien (Frauen: S P D : 43 % ; U S P D : 41 % ; K P D : 37 % ) die Männerstimmen bei weitem 62 . Es ist so wahrscheinlich, daß S P D und U S P D zusammen bei den Wahlen zur Nationalversammlung eine absolute Mehrheit der von Männern abgegebenen Stimmen gewannen. Der Anteil der Frauen in den politischen Führungsgremien blieb jedoch trotz der entscheidenden Bedeutung der Frauen für den Wahlausgang gering 63 .

VI. Vor allem in den bürgerlichen Parteien konsolidierten und bürokratisierten sich die Parteiorganisationen. Der bereits vor dem Ersten Weltkrieg in den einzelnen Parteien in unterschiedlichem Grade begonnene Prozeß des Übergangs von der Honoratioren- und Komitee-Partei zur Mitglieder- und Apparatpartei setzte sich fort. Die bisher für das Zentrum und die Konservativen charakteristische Arbeitsteilung zwischen einer außerparlamentarischen Massenorganisation - dem Volksverein für das katholische Deutschland bzw. dem Bund der Landwirte - , die die Organisation der Massen und die Wahlpropaganda übernahm, und den um die Reichstags- und Landtagsfraktionen lok139

ker gruppierten Rahmenparteien, die häufig nur kleine, manchmal nur f ü r die Wahlen gebildete Komitees, aber keine festen Orts- bzw. Wahlkreisverbände besaßen 64 , wurde aufgegeben. Es wurden auch in der D N V P und im Zentrum ständige örtliche und regionale Organisationen der Partei geschaffen, die jedermann offenstanden. D N V P (Oktober 1919: 1,1 Millionen), D D P (Juli 1919: 900 000) und schließlich audi die D V P (Oktober 1919: ca. 500 ООО)65 erreichten bei einem allerdings offensichtlich in der Praxis nicht sehr wirksamen Zwang zur Beitragszahlung Mitgliedszahlen, die nur wenig hinter denen der SPD (1.4. 1920: 1 180 000) zurückstanden, die vor dem Krieg die einzige Partei mit einer wirklichen Massenmitgliedschaft gewesen war. Allerdings ist die Zahl der Mitglieder der bürgerlichen Parteien mit Ausnahme der D N V P , vor allem wohl aufgrund der allgemeinen Diskreditierung der Parteien und der Zurückdrängung der Liberalen, sehr bald wieder stark zurückgegangen 67 . Für die sozialistischen Parteien bedeuteten der Wegfall des bisherigen administrativen Drucks und die Erschwerung politisch-sozialer Boykottmaßnahmen gegen aktive Sozialdemokraten die Möglichkeit zum Ausbau ihrer Organisation in ländlichen Gebieten. Die Grundeinheiten der Parteiorganisation wurden in allen Parteien unter Anpassung an das neue Wahlsystem die den früheren regionalen Organisationen einzelner Parteien etwa entsprechenden Verbände der 35 Wahlkreise, die - wenn auch mit gewissen Mitbestimmungsrechten der Parteizentrale - die entscheidende Rolle bei der Nominierung und Plazierung der Kandidaten auf den Listenvorschlägen der einzelnen Parteien für die Wahlkreise hatten. Dagegen hatte die Parteizentrale - wenn audi unter Mitwirkung der Vertreter der Wahlkreisverbände - meist den dominierenden Einfluß auf die Festlegung der Reihenfolge der Kandidaten in dem zur Verwertung der Reststimmen aus den Wahlkreisen dienenden Reichswahlvorschlag der Parteien, über den häufig auch die führenden Funktionäre der mit den Parteien zusammenarbeitenden Verbände in den Reichstag gebracht wurden. Die Verlagerung der Schwerpunkte der Organisation von den 397 kleinen Wahlkreisen des Bismardtreiches auf die 35 neuen großen Wahlkreise hat die ohnehin durch die Entwicklung zur Mitglieder- und Massenpartei geförderte Tendenz zur Bürokratisierung der Parteien und zur Anstellung festbesoldeter Parteisekretäre verstärkt. Die Tendenz zur Entsendung von hauptberuflichen Partei-, Gewerkschafts-, Arbeiter- und Verbandssekretären in das Parlament, die vor 1914 nur für die Sozialdemokratie kennzeichnend gewesen war, während die bürgerlichen Berufspolitiker, vor allem als Anwälte, andere Einnahmequellen hatten, verstärkte sich nicht nur in der Sozialdemokratie, sondern erfaßte jetzt auch die bürgerlichen Parteien in größerem Maße. Fielen 1912 nur 13 (4,5 % ) von 287 Abgeordneten der bürgerlichen Parteien in diese Berufsgruppe, so war deren Anteil 1919 bzw. 1920 bereits auf 15,3 % bzw. 13,3 % gestiegen, wobei er im Zentrum (1920: 27 % ) besonders hoch war 68 . Im Vergleich zum Bismarckreich wurde weiterhin die politische Position der Fraktionen zugunsten der zentralen Organisationen der Gesamtpartei, der 140

Wahlkreisverbände, die häufig zur Hausmacht bestimmter Führer wurden, und der mittleren Funktionärsschicht des Parteiapparates geschwächt. Diese Entwicklung war nicht nur für die demokratische Führungsauslese, sondern auch für das Funktionieren des parlamentarischen Systems, in dem die Fraktionen und Fraktionsführungen einen relativ weiten politischen Spielraum haben müssen und den Schwerpunkt des parteiinternen Entscheidungsprozesses bilden sollten, unglücklich. Vor allem wurde nicht gesehen, daß in einer Regierungspartei im parlamentarischen System - im Gegensatz zu den nicht mit der Regierungsverantwortung betrauten Parteien des konstitutionellen Systems - der Parteiführer oder die Gruppe der Parteiführer bis zum Widerruf des in ihn oder sie gesetzten Vertrauens durch die Neuwahl der Parteispitze sich auf die Unterstützung und Loyalität der Fraktion und des Parteiapparates verlassen können müssen. Bei einer zu starken Flügelbildung und Abhängigkeit der Parteiführung vom Apparat wird die Partei sonst im Rahmen einer Regierungskoalition handlungsunfähig. Sofern die Unterstützung der Partei für die Mehrheitsbildung unerläßlich ist, wird damit gleichzeitig das politische System paralysiert. Durch das neue Wahlgesetz änderte sich die Position der liberalen Mittelparteien, die im Gegensatz zu Zentrum, Konservativen und Sozialdemokraten keine eindeutigen Hochburgen besaßen' 9 und ihre Mandatsgewinne vor 1914 fast ausschließlich der Tatsache verdankten, daß sie in Stichwahlen sowohl von links als audi von rechts als kleineres Übel gegen die Kandidaten der rechten bzw. linken Flügelparteien unterstützt wurden. Dieser Vorteil hatte allerdings audi ihren politischen Manövrierraum vor allem nach links entscheidend begrenzt 70 . Erst das neue Wahlsystem, das die bisherige Benachteiligung der Liberalen durch die starke Streuung ihrer Anhängerschaft aufhob, machte die Liberalen von der Unterstützung rechtsstehender Parteien im Wahlkampf unabhängig und stellte damit eine wesentliche Voraussetzung für die Linksorientierung der D D P 1918/19 dar 71 . Die Stellung der Flügelparteien dagegen, deren Situation in den Stichwahlen vor 1914 relativ ungünstig gewesen war, was vor allem die S P D benachteiligt hatte, wurde gestärkt. Das kam in der Weimarer Republik vor allem der K P D und vor den Wahlen von 1932 audi der N S D A P zugute. Hatte bisher der Wunsch nach Gewinn der absoluten Mehrheit eines Wahlkreises und damit des Mandats im ersten oder zweiten Wahlgang in vielen parteipolitisch umkämpften Gebieten eine gewisse Rücksichtnahme auf die Wähler der Mitte erfordert und das Aufkommen extremer Richtungen erschwert, so mußten die Flügelparteien jetzt die Erfahrung machen, daß sie bei jeder Tendenz zur Mäßigung ihrer Ansichten oder zum Abbau der Parteiideologie von intransigenten, noch extremeren Gruppen links bzw. rechts überholt wurden. Die zunehmende Radikalisierung des Wahlverhaltens vor allem in den letzten Jahren vor 1933 erklärt sich zwar in erster Linie aus den gesellschaftlichen Spannungen und politischen Auseinandersetzungen, die sich im Gefolge der die Weimarer Republik erschütternden sozialen Umschichtungen und besonders in der Krise der Welt141

Wirtschaft seit 1 9 2 9 z u s p i t z t e n ; sie w u r d e aber durch das neue W a h l r e c h t z u sätzlich g e f ö r d e r t . Z u s a m m e n f a s s e n d w i r d m a n sagen können, d a ß die wesentlichen

Verschie-

bungen i m deutschen P a r t e i e n s y s t e m u n d die V e r ä n d e r u n g e n i m P a r t e i e n c h a r a k t e r e n t w e d e r eine K o n s e q u e n z des W a h l r e c h t s w a r e n oder fortsetzten, die w e i t g e h e n d bereits v o r W e l t k r i e g e s eingesetzt h a t t e n . D a ß

Entwicklungen

1 9 1 4 oder in den J a h r e n des E r s t e n

die Ä n d e r u n g e n

nicht tiefer griffen

d a u e r h a f t e r w a r e n , h ä n g t d a m i t z u s a m m e n , d a ß die R e v o l u t i o n

und

unvollendet

blieb u n d schon b a l d T e n d e n z e n z u r R e s t a u r a t i o n einsetzten. H i n z u k o m m t die Tatsache, d a ß der frühe T e r m i n der W a h l z u r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g in allen P a r t e i e n v o n der D N V P bis z u r S P D den W a n d l u n g s p r o z e ß zunächst a b s t o p p te u n d z u r F ü h r u n g eines effektiven W a h l k a m p f e s bei d e m Fehlen neuer O r g a nisationen

zum

Rückgriff

auf

den

etablierten

Apparat

der

alten

Parteien

z w a n g . S o w e i t V e r ä n d e r u n g e n in der S t r u k t u r des P a r t e i w e s e n s u n d d e m C h a r a k t e r und V e r h a l t e n der E i n z e l p a r t e i e n eintraten, haben sie die B e d i n g u n g e n für die W i r k s a m k e i t des p a r l a m e n t a r i s c h e n Systems nicht verbessert,

sondern

eher noch erschwert.

Anmerkungen

zur Tabelle

1. Reichstagswahl

1912

" Die folgenden Tabellen über das Berufsbild und die Schulbildung der Abgeordneten der Reichstage von 1912 und 1920 und der Nationalversammlung von 1919 wurden nach den von mir gewünschten Kategorien aufgrund der von ihm bearbeiteten Unterlagen der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien von Alfred Milatz, dem ich dafür danken möchte, hergestellt. Den Tabellen wurden die unmittelbaren Wahlergebnisse zugrunde gelegt, d. h. es wurden die Abgeordneten gezählt, die jeweils am Wahltag gewählt wurden. Änderungen durch Mandatsniederlegungen, auch wenn sie unmittelbar nach der Wahl erfolgten, wurden nicht berücksichtigt. In den Tabellen wurden für die drei Wahlkreise Ostpreußen, Schleswig-Holstein und Oppeln, in denen die Reichstagswahlen erst 1921 bzw. 1922 stattfanden, diejenigen Abgeordneten berücksichtigt, die, 1919 für die N a tionalversammlung gewählt, 1920 zunächst weiterhin im Reichstag saßen. b Als Verbandsfunktionäre werden auch solche Abgeordnete verstanden, die ζ. B. als Leiter von Ortskrankenkassen und dergleichen durch politisches Mandat in eine öffentliche Funktion gelangten. c Als Parteischriftsteller werden solche Abgeordnete aufgeführt, die ohne feste Bindung an eine Zeitung schreiben. Die Grenzen zwischen l b und l c sind natürlich sehr fließend. d In diese Gruppe wurden auch Syndici großer Vereinigungen wie ζ. B. Stresemann, die man auch als Berufspolitiker bezeichnen könnte, aufgenommen. β In dieser Gruppe erscheinen auch die pensionierten Beamten, u. a. die ehemaligen Minister, Staatssekretäre und Offiziere.

' Die Gruppe der Hausfrauen umfaßt natürlich nicht alle weiblichen Abgeordneten, sondern nur die Berufslosen. s

142

Bei diesem Abgeordneten handelt es sich um einen bischöflichen Syndikus.

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