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German Pages 260 [261] Year 2012
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Ein herzlicher Dank gilt dem Verein der Freunde und Förderer der Kommende, Kardinal Reinhard Marx, RWE Energiedienstleistungen und der Hans-Böckler-Stiftung, die mit großzügigen Druckkostenzuschüssen die Veröffentlichung dieses Bandes überhaupt erst möglich gemacht haben.
© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
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Einbandgestaltung: Barbara Loy, München Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG, Münster Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier c ISBN 978-3-402-10637-2
Inhalt
Zur Einführung – die moderne Arbeitsgesellschaft in der (sozialethischen) Kritik ......................................................... 11 Andreas Fisch/Daniela Kirmse/Stefanie A. Wahl/Sebastian Zink
ARBEIT UND IHRE RELEVANZ IN GESELLSCHAFTSTHEORETISCHEN ENTWÜRFEN
Das Potenzial liberaler Theorien für die sozialethische Reflexion aktueller Probleme in der Arbeitswelt. Rekonstruktion und Kritik ausgewählter Ansätze der politischen Philosophie Jochen Ostheimer 1. Fragestellung...................................................................................... 21 2. Die Bedeutung von Arbeit für soziale Gerechtigkeit in zentralen Ansätzen der liberalen politischen Philosophie .............................. 22 3. Das Potenzial liberaler Ansätze für die sozialethische Reflexion auf Arbeit und Sozialstaat – eine kritische Zusammenfassung........ 28 4. Fazit .................................................................................................... 35
Unpersönliche Arbeit. Sozialethische Überlegungen im Anschluss an die Kapitalismusanalyse Max Webers Christian Stoll 1. Unpersönliche Arbeit als Kennzeichen des modernen Kapitalismus....................................................................................... 40 2. Unpersönliche Arbeit als Gegenstand der Sozialethik.................... 47 3. Personale Arbeit als Leitkategorie einer theologischen Arbeitsethik ........................................................................................ 50
Inhalt
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ARBEIT UND DAS KRITISCHE POTENZIAL VON GERECHTIGKEITSVORSTELLUNGEN
Prekäre Beschäftigung und Anerkennung – Eine Missachtungsphänomenologie Stefanie A. Wahl 1. 2. 3. 4.
Einleitung........................................................................................... 59 Prekarisierung und prekäre Beschäftigung ..................................... 60 Arbeit und Anerkennung .................................................................. 66 Missachtungserfahrungen durch prekäre Beschäftigung ............... 73
Ausbeutung und Entfremdung: Zwei Perspektiven einer kritischen Bewertung des Umbruchs in der Arbeitswelt Martin Schneider 1. Von den Subjekten her gedacht: Normative Erwartungen an die Arbeitswelt............................................................................... 82 2. Normative Begründung von erfahrungsgesättigten Gerechtigkeitserwartungen............................................................... 84 3. Einführung der Kategorien Ausbeutung und Entfremdung.......... 88 4. Die Aktualität der Kategorien Ausbeutung und Entfremdung: Sozialgeschichtliche Anmerkungen ................................................. 90 5. Situationen und Erfahrungen von Ausbeutung und Entfremdung: Eine phänomenorientierte Analyse ......................... 92 6. Von der Diagnose zur Therapie: Lösungsansätze für die Bekämpfung von Ausbeutung und Entfremdung ........................... 99
Inhalt
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ARBEIT UND BESCHLEUNIGUNG DURCH NEUE ARBEITSZEITMODELLE
Zwischen Rationalisierung und Gamification: Zur Semantik von Arbeitsutopien aus sozialethischer Sicht Simone Horstmann 1. 2. 3. 4.
Arbeit zwischen Ethik und Utopie.................................................. 108 Die moderne Zeit-Utopie als sozialethische Heuristik .................. 109 Entwicklungsdimensionen von Arbeit ........................................... 112 Rückblick: Was bleibt von der Utopie der Arbeit? ........................ 121
Muße – Eine vernachlässigte Dimension in der beschleunigten Arbeitsgesellschaft. Anthropologische und theologische Überlegungen zum Verhältnis von Arbeit und Muße Sonja Sailer-Pfister 1. Beschleunigung – ein Krisenphänomen der modernen Arbeitsgesellschaft?.......................................................................... 126 2. Begriffsklärungen ............................................................................ 129 3. Anthropologische und theologische Deutungen .......................... 132 4. Plädoyer für den Schutz des Sonntags............................................ 137
ARBEIT IM SOZIALEN SEKTOR
Warum Gerechtigkeit in weiter Ferne liegt. Fürsorgearbeit zwischen Familienarbeit und Niedriglohnsektor Christine Globig 1. 2. 3. 4. 5.
„Care“ und „Fürsorge“ im gegenwärtigen Diskurs ........................ 145 Genauere Begriffsbestimmung: Fürsorge und Fürsorgearbeit .... 148 Kontinuitäten und neue Perspektiven ........................................... 150 Bereiche der Fürsorgearbeit ........................................................... 152 Ergebnisse und neue Fragestellungen ........................................... 155
Inhalt
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„Behinderte Teilhabe“ durch die Werkstatt? Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung als Weg zur Teilhabe am Arbeitsmarkt – eine kritische Sondierung Peter Meiners 1. Zur Funktion und Bedeutung von Erwerbstätigkeit für Menschen mit geistiger Behinderung ............................................ 166 2. Die „Werkstatt für behinderte Menschen“: Eine kurze Darstellung ....................................................................................... 167 3. Zur Frage der Teilhabe am Arbeitsmarkt durch die „Werkstatt für behinderte Menschen“ .............................................................. 171 4. Resümee ........................................................................................... 175
ARBEIT UND DER DRITTE WEG DER KIRCHEN IM KIRCHLICHEN ARBEITSRECHT
Ist der „dritte Weg“ der Kirchen gerecht? Hermann Lührs 1. 2. 3. 4. 5.
Irrige Rede vom „dritten Weg“ ....................................................... 184 Arbeitsrechtliche Kommissionen ................................................... 187 Wandel der Rahmenbedingungen ................................................. 191 Soziale Mächtigkeit .......................................................................... 196 Ergebnis............................................................................................ 199
Rechtliche Einheit als Gerechtigkeit. Kirchenrechtsethische Annäherung an die Novellierung der Grundordnung des kirchlichen Dienstes Judith Hahn 1. Kirchlicher Dienst unter dem Paradigma gerechter Arbeit ......... 201 2. Lohngerechtigkeit als Forderung kirchlicher Lehre und kirchlichen Rechts ........................................................................... 202 3. Der kirchliche Sonderweg im Arbeitsrecht.................................... 205
Inhalt
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4. Die neue Unübersichtlichkeit: Pluralisierungstendenzen im kirchlichen Dienst ........................................................................... 208 5. Reaktivierung der einenden Funktion der Grundordnung ......... 212 6. Chancen und Risiken ...................................................................... 216 7. Fazit .................................................................................................. 220
ARBEIT JENSEITS VON SELBSTVERWIRKLICHUNG UND MENSCHENRECHT
Arbeitest du noch oder lebst du schon? Warum Arbeit im Kapitalismus nicht glücklich macht und die Katholiken das früher auch wussten Stefan Leibold 1. 2. 3. 4.
Einleitung......................................................................................... 225 Warum Arbeit im Kapitalismus entfremdet................................... 226 Die Katholiken und die Arbeit........................................................ 234 Schluss .............................................................................................. 238
Gibt es ein Recht auf Arbeit? Eike Bohlken 1. Der Inhalt eines Rechts auf Arbeit....................................................... 244 2. Strategien und Probleme der rechtlichen Kodifizierung des Rechts auf Arbeit............................................................................... 251 3. Das bedingungslose Grundeinkommen als Alternative zu einem Recht auf Arbeit? .................................................................. 254 4. Fazit .................................................................................................. 256 Autoren und Herausgeber................................................................... 258
Zur Einführung – Die moderne Arbeitsgesellschaft in der (sozialethischen) Kritik Andreas Fisch/Daniela Kirmse/Stefanie A. Wahl/Sebastian Zink
Lange Zeit war das Thema „Arbeit“ verschwunden aus den Diskussionen um eine sozial gerechte Gesellschaft. Und das, obwohl sich viele gesellschaftstheoretische Konzeptionen auf Arbeit als den zentralen gesellschaftlichen Tatbestand berufen. Diesen Entwürfen ist gemein, dass sie „die [kapitalistische] Gesellschaft und ihre Dynamik als ‚Arbeitsgesellschaft‘1 konstruieren, egal ob sie auf bürgerlichen, liberalen oder marxistischen Traditionen fußt. Charakteristisch für eine Arbeitsgesellschaft ist, dass in ihr „die Verteilung der gesellschaftlichen Güter, der Lebenschancen, des gesellschaftlichen Ansehens und des individuellen Selbstwertgefühls weitgehend über die Erwerbsarbeit geregelt ist“2. Damit wird (Erwerbs-)Arbeit zu einem Ausgangspunkt für Fragen der Gerechtigkeit und der entscheidende Schlüssel für soziale Gerechtigkeit in einer Arbeitsgesellschaft. Für die katholische Soziallehre – und in ihrer Tradition auch für die Christliche Sozialethik – bedeutete die erste Sozialenzyklika Rerum Novarum den Durchbruch der Arbeiterfrage in das Bewusstsein kirchlichen Nachdenkens um soziale Gerechtigkeit in der Arbeitsgesellschaft. Die Veröffentlichung 1891 durch Leo XIII. ist im Kontext jener Krise der neu entstandenen Arbeitsgesellschaft zu sehen, in der sich ihre strukturellen Risiken und Probleme zum ersten Mal offenbarten. Die Einführung der „freien Lohnarbeit“ brachte nicht nur Selbstbestimmtheit und Freiheit für die Arbeiter(innen), sondern auch Risiken sozialer Unsicherheit mit sich, die zur Verelendung der Arbeiterklasse führten. Die neue Arbeitsgesellschaft und ihr Defizit an sozialer Gerechtigkeit bedeuteten fast ihr Ende. Sozialistische Bewegungen
1 2
Offe (1984), 13. Haeffner (1999), 18.
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und Gewerkschaften forderten eine Abkehr vom kapitalistischen Wirtschaftssystem und damit auch ein Ende der „freien Lohnarbeit“. Kernthemen der damaligen Gerechtigkeitsdebatte waren die Eigentumsund Besitzverhältnisse, der Klassenkampf, menschenwürdige Arbeitsund Lebensbedingungen sowie Lohn und Arbeitszeit. Für den einzelnen Arbeiter ging es dabei häufig um die reine Existenzsicherung für sich und seine Familie. Forderungen der Kommunisten, Gewerkschaften und der Kirchen waren dabei zumeist an die staatliche Ebene gerichtet, die, nachdem der Druck wuchs, entsprechend mit dem ersten gesellschaftlichen sozialen Kompromiss durch Einführung der Sozialversicherungen reagierte. Dieser Kompromiss war Basis für eine stabile soziale Lage innerhalb der Gesellschaft, auf deren Grundlage und durch deren sukzessiven Ausbau im Lauf des 20. Jahrhunderts eine umfassende Ausweitung sozialer und materieller Ressourcen weiter Teile der Arbeiterschaft gelingen konnte. Nach der Stabilisierung war es die Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihre Folgen, die die Instabilität und Krisenhaftigkeit dieser Gesellschafts- und Wirtschaftsform erneut aufzeigten. Neuerlich geschlossene soziale Kompromisse brachten eine Stabilisierung, aber die Erfahrung der Diskontinuität bleibt. Heute lassen vor allem die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse in Europa und globale Massenarbeitslosigkeit das Idealbild der Arbeitsgesellschaft fragwürdig erscheinen. Soziologen wie Robert Castel sprechen vom „Verfall der Arbeitsgesellschaft“3 und von der „Wiederkehr der sozialen Unsicherheit“4 und weisen damit auf eine neue Krise hin. Auslöser und Grund für diese sind u.a. massive Veränderungen der Arbeitsmarktstrukturen und der Arbeitsorganisation in den Betrieben – konkreter: neoliberale Arbeitsmarktreformen, Veränderungen der Produktionsverhältnisse und globalen Produktionsketten und eine beschleunigte Globalisierung. Andere Ansätze analysieren zumindest einen Strukturwandel der Arbeitswelt, der gekennzeichnet ist durch die Veränderung von einer eher homogenen, tendenziell volkswirtschaftlich orientierten Industriegesellschaft hin zu einer mehr heterogenen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft unter den Bedingungen globaler Mobilität und internationaler Konkurrenz. Der „kategorische Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit“5 bestimmt dabei sowohl Unternehmens- als auch Realpolitik und führt zur Rekommo3 4 5
Vgl. Castel (2011) Castel (2009), in: Castel/ Dörre(Hg.) (2009), 21-34. Castel (2011), 77.
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difizierung von Arbeit im Kontext einer verminderten oder verhinderten sozialstaatlichen Regulationsweise. Forderungen nach menschenwürdiger und guter Arbeit für alle werden laut und Themen wie Mindestlohn und Grundeinkommen sind ebenso integraler Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Debatten wie die grundsätzliche Frage nach dem Stellenwert von (Erwerbs-)arbeit für ein als gelingend empfundenes Leben. Diese Änderungen in der Arbeitswelt und die damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen sind Anlass genug, um sich wieder grundlegend theologisch, anthropologisch und ethisch-politisch mit dem Thema „Arbeit“ auseinanderzusetzen. Das beinhaltet unter anderem eine genauere Betrachtung des Verhältnisses von Arbeit und Mensch-Sein: Geht es hier in erster Linie um eine funktionale Komponente der Produkterzeugung? Oder ist Arbeit, geschichtsphilosophisch betrachtet, vielmehr der den geschichtlichen Prozess vorantreibende Motor, durch den der Mensch erst zum Menschen wird? Findet die Menschheit also erst durch die Arbeit zu sich selbst? Ist Arbeit vielleicht am besten zu verstehen als die entscheidende Voraussetzung zur tatsächlichen Ermöglichung und konkreten Bestimmung der dem Menschen zukommenden Freiheit (Hegel)? Weitere wichtige Fragen betreffen die Ebene der (sozialen) Gerechtigkeit innerhalb der Arbeitsgesellschaft, etwa die Bestimmung von gerechten und fairen Löhnen, die Regelungen von Wohlstandsverteilung und Eigentum oder die Rolle von Arbeit bei Inklusion bzw. Exklusion oder Teilhabe und Nicht-Teilhabe. Im Mittelpunkt steht dabei meist die Erwerbsarbeit; kritisch zu reflektieren ist aber auch, welche Formen von Arbeit vergütet werden und welche nicht und was das für die Arbeitsgesellschaft bedeutet. Ebenso sind die verschiedenen beteiligten Akteure in den Blick zu nehmen. Ein spezieller Fokus liegt diesbezüglich in diesem Band auf den Kirchen als Arbeitgeberinnen. Auf der Suche nach guter und gerechter Arbeit in der Arbeitsgesellschaft kann die Sozialethik als Reflexionswissenschaft aber auch als Ideengeberin fungieren. Der vorliegende Band fragt im Speziellen nach sozialer Gerechtigkeit innerhalb der Arbeitsgesellschaft bzw. nach deren empfundenen Gerechtigkeitsdefiziten. Darüber hinaus versucht er, Lösungswege aufzuzeigen, mit denen jenen Defiziten begegnet werden kann, und diskutiert, wie gute, gerechte und faire Arbeit gestaltet sein sollte.
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So geht etwa Jochen Ostheimer in einem ersten Beitrag von der zentralen Stellung aus, die das Thema „Arbeit“ in der sozialphilosophischen Theoriebildung einnimmt. Beispielhaft analysiert er daher drei paradigmatische Ansätze des Liberalismus (Nozick, Dworkin, Kersting) hinsichtlich ihres Potenzials für die sozialethische Reflexion aktueller Probleme in der Arbeitswelt. Er problematisiert insbesondere, dass die Anerkennung einer Tätigkeit als Arbeit im Kontext liberaler Theoriebildung eher als eine Frage des Marktes und nicht der Gerechtigkeit erscheine – Ehrenamt oder Familienarbeit werden nicht aufgegriffen. Erweiterungsbedarf sieht er daher in einem weiter gefassten Arbeitsbegriff und in einem komplexeren Verständnis des Sozialstaats, der in einem zu sehr auf Anerkennungsmechanismen konzentrierten Liberalismus nicht umfassend erfasst werde. Im Mittelpunkt von Christian Stolls Beitrag steht Max Webers Analyse unpersönlicher Arbeit als Kennzeichen des modernen Kapitalismus. Er stellt fest, dass Arbeit auch in der modernen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft überwiegend Tätigkeiten umfasse, die vom Ausführenden nicht als Teil seiner personalen Vollzüge verstanden werden. Der integrale Zusammenhang von Person und Arbeit, wie ihn etwa Laborem exercens beschreibe, sei daher als kritisches Potenzial zu nutzen, um die Selbstentfaltung des Einzelnen und der Gesellschaft in Arbeit zu befördern. Das Zentrum der Beiträge von Stefanie A. Wahl und Martin Schneider bildet das Thema Prekarisierung. Kritisch betrachten beide Autoren die aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt bezüglich der Zunahme atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Wahls Beitrag ist der Versuch im Kontext der Anerkennungstheorie von Axel Honneth eine Missachtungsphänomenologie prekärer Beschäftigung zu erstellen. Im Anschluss an eine Bestandsaufnahme prekärer Beschäftigung in Deutschland ordnet Wahl Erwerbsarbeit in die gesellschaftlichen Anerkennungsstrukturen der Arbeitsgesellschaft ein und differenziert Missachtungserfahrungen, die von verschiedenen Formen prekärer Beschäftigung ausgelöst werden. Martin Schneider zeigt in seinem Beitrag, wie mit Blick auf die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse die alten klassenkämpferischen Begriffe der Ausbeutung und Entfremdung reaktiviert werden können. Er macht deutlich, dass die Leiden der prekär Beschäftigten durch ungleiche Behandlung, fehlende Würdigung ihrer Leistung sowie mangelnde Zeit zur Erholung den Gerechtigkeitsforderungen nach Gleichheit, Leistung und Autonomie widersprechen.
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Der aktuelle Wandel auf dem Arbeitsmarkt geht auch einher mit Veränderungen der Arbeitszeitmodelle: Entgrenzung, Subjektivierung und Flexibilisierung spielen eine zentrale Rolle im Strukturwandel von Erwerbsarbeit. Simone Horstmann interpretiert in ihrem Beitrag diese Entwicklungen, die sie unter den Stichworten Rationalisierung, Entgrenzung, Tertiarisierung und Gamification fasst, als moderne Arbeitszeitutopien in der Arbeitsgesellschaft. Da Utopien ihrer Ansicht nach ähnlich der Ethik ein sozialkritisches Moment beinhalten, versucht Horstmann in ihrem Beitrag das Utopiepotential der neuen Arbeitszeitstrategien zu erfassen und kritisch zu beleuchten. Einer grundlegenden Kritik unterzieht Sonja Sailer-Pfister die Beschleunigung der Arbeitswelt durch die neuen Arbeitszeitmodelle und betont demgegenüber die Bedeutung von Muße für die Entfaltung des Mensch-Seins. Deren theologische Relevanz verdeutlicht Sailer-Pfister im Rekurs auf die biblische Fundierung der Sabbattradition im göttlichen Schöpfungsakt – Muße als Teilhabe an der Ruhe Gottes am 7. Schöpfungstag, als Vergegenwärtigung des Schöpfungswerkes, das getan wurde. Forderungen nach dem Schutz des freien Sonntags seien auf dieser Grundlage vehement zu unterstützen. Der Strukturwandel erreicht alle Arbeitsmarktsektoren und verändert sie, so auch den Bereich der sozialen Arbeit, für den zusätzlich durch den bereits beginnenden demographischen Wandel in der deutschen Gesellschaft massive Veränderungen zu prognostizieren sind. Christine Globig befasst sich in ihrem Beitrag mit der Fürsorgearbeit, die in vielerlei Hinsicht Gerechtigkeitsfragen aufwirft: Generationengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Lohngerechtigkeit usw. Ausgehend von den aktuellen Care-Debatten spannt Globig den Bogen zu den Themen Arbeitskräftemangel im Pflegebereich, Arbeitsmigration und Global Care Chains sowie niedrige Entlohnung, die durch ein Fürsorgedefizit in den westlichen Gesellschaften immer bedeutsamer werden. Peter Meiners setzt bei der Frage nach selbstbestimmter Teilhabe am Arbeitsmarkt für Menschen mit geistiger Behinderung an und nimmt so genannte „Werkstätten für behinderte Menschen“ in den Blick. Er diskutiert, ob derartige Einrichtungen tatsächlich Möglichkeiten bieten, Menschen mit geistiger Behinderung in den Ersten Arbeitsmarkt zu integrieren und ob diese Werkstätten und ihre Arbeit der „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ der Vereinten Nationen wirklich entsprechen.
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Andreas Fisch/Daniela Kirmse/Stefanie A. Wahl/Sebastian Zink
Judith Hahn und Hermann Lührs widmen sich dem so genannten dritten Weg der Kirchen im kirchlichen Arbeitsrecht. Ganz direkt fragt Hermann Lührs hierbei: Ist der „dritte Weg“ der Kirchen gerecht? Er verneint dies ausdrücklich. Seine Begründung geht vom Wandel der Rahmenbedingungen aus, vor allem die staatlich gewollte Kostenkonkurrenz. Als Folge diesen Wandels ist die soziale Mächtigkeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Praxis nicht mehr gleich, wie die paritätische Besetzung vermuten ließe. Erkennbar wird dies unter anderem an den neuen Arbeitgeberverbänden und an den informellen Entscheidungsprozessen, die wesentliche Rahmenbedingungen der Arbeitsrechtlichen Kommissionen festlegen, bevor diese zusammenkommen, zum Beispiel ein fehlendes Delegationsrecht der kirchlichen Arbeitnehmer. Judith Hahn thematisiert in ihrem Beitrag die Überarbeitung der Grundordnung des kirchlichen Dienstes. Mit einem kritischen Blick auf die Pluralisierungstendenzen bei den Beschäftigungsformen innerhalb der kirchlichen Dienste (Outsourcing, Tarifflucht usw.) hat Hahn vor allem die einende Funktion der Grundordnung im Blick und erhofft sich von ihr Signalwirkung für die Verwirklichung einer gerechteren kirchlichen Arbeitsordnung. In einer letzten Rubrik des Bandes thematisiert Eike Bohlken die Sinnhaftigkeit der Rede von einem Menschenrecht auf Arbeit und Stefan Leibold fragt vor dem Hintergrund der Rolle der Arbeit bei der Selbstverwirklichung des Menschen „Arbeitest du noch oder lebst du schon?“. Er weist damit auf das Kritikpotenzial der Kirchlichen Soziallehre gegenüber zentralen Merkmalen von Arbeit im Kapitalismus (Entfremdung, Enteignung der Zeit, Subjektivierung der Arbeit) hin und fordert aktuelle Akteure christlicher Sozialethik auf, vor allem dem Glücksversprechen der Erwerbsarbeit als Automatismus zu widersprechen und in ihrer Tradition die Würde der Arbeitenden in den Mittelpunkt zu rücken. Ähnlich kritisch blickt Eike Bohlken auf das Konzept der Erwerbsarbeit und ein Menschenrecht auf Arbeit, was aus seiner Sicht historisch betrachtet sowohl ein Recht auf die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes als auch auf eine angemessene Arbeitspolitik impliziert. Da Vollbeschäftigung unter Marktbedingungen aber illusorisch sei, kann ein Recht auf Arbeit jedoch lediglich als ein moralisches – nicht einklagbares – Recht gesehen werden. Als Alternative bringt Bohlken ein Recht auf Grundsicherung als basales Gemeinwohlgut ins Spiel, welches aber mit einer Pflicht zu gemeinwohlförderlichen Tätigkeiten einhergehen müsse.
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Danksagung Danken möchten wir Christoph Hübenthal und Werner Veith, die seit 2005 die Reihe „Forum Sozialethik“ herausgeben. Der Kommende Dortmund, besonders in der Person von Detlef Herbers, danken wir für die Hilfe bei der Durchführung der 21. Tagung des Forum Sozialethik 2011. Ein herzlicher Dank gilt dem Verein der Freunde und Förderer der Kommende, Kardinal Reinhard Marx, RWE Energiedienstleistungen und der Hans-Böckler-Stiftung, die mit großzügigen Druckkostenzuschüssen die Veröffentlichung dieses Bandes überhaupt erst möglich gemacht haben. Dortmund, Osnabrück, Frankfurt/Main, Bochum im Mai 2012 Andreas Fisch, Daniela Kirmse, Stefanie A. Wahl, Sebastian Zink
Literatur Castel, Robert: Wiederkehr der sozialen Unsicherheit, in: Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hgg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2009, 21-34. Castel, Robert: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg 2011. Haeffner, Gerd: Elemente einer Anthropologie der Arbeit, in: Ebd., Arbeit im Umbruch. Sozialethische Maßstäbe für die Arbeitswelt von morgen, Stuttgart/Berlin/Köln 1999. Offe, Claus: „Arbeitsgesellschaft“: Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt am Main/New York 1984.
Arbeit und ihre Relevanz in gesellschaftstheoretischen Entwürfen
Das Potenzial liberaler Theorien für die sozialethische Reflexion aktueller Probleme in der Arbeitswelt. Rekonstruktion und Kritik ausgewählter Ansätze der politischen Philosophie Jochen Ostheimer
1. FRAGESTELLUNG Die Grundidee liberaler Philosophie zur Arbeit ist folgende: Der Mensch als eigenständiges und eigenverantwortliches Wesen soll sich selbst versorgen, und das heißt unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen: arbeiten. Die Selbstversorgung ist zum einen der natürlichen Notwendigkeit geschuldet. Sie ist also keine moralische Pflicht. Aber der Einzelne verfügt auch nicht über einen moralischen Anspruch, von einer übergeordneten Gemeinschaft unterhalten zu werden. Die Pflicht der Gemeinschaft zu solidarischer Unterstützung beschränkt sich auf Notfälle und Notlagen; sie ist stets als Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen. Die Selbstversorgung des Individuums gewinnt damit zum anderen eine besondere, auch moralisch relevante Qualität. Sie sichert die Eigenständigkeit des Einzelnen und ermöglicht ihm, sich in der besonderen Würde des selbständigen und kompetenten Bürgers zu erfahren.1 Arbeit wird dabei zumeist und unproblematisch als Erwerbsarbeit verstanden. Angesichts der aktuellen Probleme in der Arbeitswelt soll im Folgenden das Potenzial liberaler Ansätze für die sozialethische Reflexion dieser gesellschaftlichen Problemlagen untersucht werden. Dazu werden exemplarisch drei Ansätze aus der liberalen politischen Philosophie zu Rate gezogen und daraufhin befragt, wie weit es ihnen gelingt, 1
Dies führte im Frühliberalismus zur Ansicht, dass allein Selbständige, die über ein gewisses Privateigentum verfügen (auch im Sinne besonderer Fertigkeiten oder einer besonderen Wissens), wirklich frei seien, nicht aber diejenigen, die allein ihre Arbeitskraft zu veräußern hätten; vgl. Kant (1977), (A 245-247).
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Jochen Ostheimer
aktuelle Probleme in der Arbeitswelt wahrzunehmen, und wie sie diese dann mit Blick auf das Ziel sozialer Gerechtigkeit bearbeiten. „Soziale Gerechtigkeit“ wird dabei in erster Näherung im Sinne einer gerechten Regelung der Verhältnisse in einer Gesellschaft verstanden. Sie wird daher nicht mit Verteilungsgerechtigkeit gleichgesetzt, sondern ist deutlich umfassender, wenngleich Verteilungsfragen, vor allem im engen Sinn der Reichtumsverteilung, aufgrund der kapitalistischen Grundstruktur der modernen Gesellschaft eine zentrale Bedeutung zukommt.2 Soziale Gerechtigkeit wird also als ein zusammengesetztes oder umfassendes Konzept verstanden, das mehrere Gerechtigkeitsdimensionen umfasst. Es geht darum, „wie die Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten des Lebens unter den Mitgliedern einer Gesellschaft verteilt werden sollten“3. Dieses Verständnis von sozialer Gerechtigkeit ist gerade nicht aus dem liberalen Diskursuniversum entnommen, sondern soll in seiner Offenheit und Weite als Kriterium dienen, um abzuschätzen, ob und inwieweit eine sozialethische Befassung mit dem Thema Arbeit von liberalen Ansätzen profitieren kann.
2. DIE BEDEUTUNG VON ARBEIT FÜR SOZIALE GERECHTIGKEIT IN ZENTRALEN ANSÄTZEN DER LIBERALEN POLITISCHEN PHILOSOPHIE Im Folgenden werden drei paradigmatische Ansätze des Liberalismus vorgestellt und jeweils zu einer programmatischen These zusammengefasst.
2.1 Arbeit ist das Medium gerechter Aneignung (Nozicks Libertarianismus) Als unhintergehbaren Ausgangspunkt seiner Argumentation bestimmt Robert Nozick die fundamentalen Rechte der Menschen. Diese Rechte sind moralischer Art und daher als vorstaatlich aufzufassen. Sie sind so gewichtig und weitreichend, dass sie den Raum staatlicher und sozialstaatlicher Tätigkeit stark einschränken. Allein gerechtfertigt ist ein „Minimalstaat“, dessen einzige Aufgabe der Schutz der In-
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Vgl. Koller (2003); Möhring-Hesse (2004), 9-26; Miller (2008). Miller (2008), 42.
Potenzial liberaler Theorien für die sozialethische Reflexion
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dividuen vor Rechtsbruch und Gewalt ist.4 Im Zentrum stehen dabei, wie Nozick in starker Anlehnung an John Locke schreibt, das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum.5 Soziale Sicherheit gehört mithin nicht zu den Staatsaufgaben.6 Eine gerechte gesellschaftliche Ordnung umfasst neben den Freiheitsrechten ein Konzept, das Nozick „Gerechtigkeit bezüglich der Besitztümer“7 der Menschen nennt. Dessen zentraler Kern ist eine „Anspruchstheorie“, die Nozick für geeigneter als die herkömmlichen Auffassungen von Verteilungsgerechtigkeit hält; letztlich aber reflektiert sie lediglich das faktische Marktgeschehen. Ein Eigentumsanspruch ist dann rechtmäßig, wenn die betreffende Person ein Gut von einem rechtmäßigen Eigentümer erworben hat (Grundsatz der gerechten Übertragung) oder aber wenn sie, ohne Rechte Dritter zu verletzen, sich ein herrenloses Gut angeeignet hat (Grundsatz der gerechten Aneignung). Der Vorgang, kraft dessen etwas gemäß dem Prinzip der Aneignung in den Zustand eines Besitztums überführt wird, ist Arbeit. Das Recht auf Erstaneignung ist durch die Bedingung begrenzt, dass für andere noch genug und gleich Gutes bleibt (das „Lockesche Proviso“).8 „Während Locke [aber] noch glaubte, dass die Weiten Nordamerikas seine Theorie retten würden“, muss Nozick einen anderen Ausweg suchen, den Markt: „Der Appropriationsoptimismus Lockes weicht bei Nozick einem Marktoptimismus“9. Zwar haben Nachgeborene den Nachteil, dass sich die meisten Güter der Erde bereits im Eigentum anderer befinden. Aber da das Zusammenspiel von Privateigentum und Marktmechanismus das Sozialprodukt vergrößert, ist im Großen und Ganzen niemand schlechter gestellt, weil im Prinzip jeder durch Lohnarbeit (anstelle von Aneignungsarbeit) einen ausreichend großen und guten Anteil an den naturalen bzw. sozialen Gütern erhalten kann. 4 5 6
7 8 9
Vgl. Nozick (1974), 11. Vgl. Locke (1977), II §§ 4, 6; Nozick (1974), 25. Die Begründung ist eine doppelte. Zum einen bestreitet Nozick die Möglichkeit einer kompetenten zentralen Verteilungsagentur. Zum anderen erachtet er Steuern zur Finanzierung des Sozialstaats als illegitime Aneignung fremden Besitzes und damit als eine Verletzung grundlegender Rechte der Menschen; vgl. Nozick (1974), 143. Vgl. Nozick (1974), 143-170. Vgl. Locke (1977), II §§ 31, 33. Kersting (2005), 51.
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Jochen Ostheimer
Arbeit stellt dabei, so die gemeinsame Annahme von Locke und Nozick, eine unerschöpfliche Quelle des Wohlstands dar, so dass für Knappheitskonflikte eine grundsätzliche Lösung zu erwarten ist.10 Daher besitzen Umverteilungsfragen auf dieser grundsätzlichen Ebene keine besondere Dringlichkeit noch Gewichtigkeit. Soziale Gerechtigkeit im Sinne einer gerechten Regelung der Verhältnisse in einer Gesellschaft bedeutet bei Nozick also folgendes: „Jeder nach dem, was er tun möchte; jedem nach dem, was er für sich selbst herstellt (möglicherweise mit der vertraglichen Mithilfe anderer), und was andere für ihn zu tun bereit sind und ihm von dem zu geben bereit sind, was sie vorher (gemäß diesem Grundsatz) erhalten und noch nicht verbraucht oder übertragen haben.“ Oder kurz zusammengefasst: „Jeder, wie er will, und jedem, wie die anderen wollen.“11 In diesem Sinn gilt: (sozial) gerecht ist, was Arbeit schafft („Arbeit“ ist grammatisches Subjekt des Satzes). Gerecht ist das Ergebnis freier Markttransaktionen. Denn hier zeigt sich, was „die anderen wollen“, wie sie die Leistungen der anderen wertschätzen.
2.2 Arbeit dient der moralisch irrelevanten Entfaltung individuellen Wohlstands (Dworkins Ressourcenegalitarismus) Beim Egalitarismus lassen sich vereinfacht drei Grundtypen unterscheiden: Konzepte der Wohlergehensgleichheit, der Ressourcengleichheit und der Chancengleichheit. Im ersten Fall gilt eine Gesellschaft als gerecht, wenn es allen gleich gut geht; eine Position, die in der philosophischen Theorie wenig vertreten wird und die praktisch kaum umsetzbar ist.12 Chancengleichheit fordert, gesellschaftliche Bedingungen dafür zu schaffen, dass jeder Bürger ähnlich gute Startbedingungen vorfindet; dazu zählen insbesondere das Gesundheitssystem (vor allem mit Blick auf Geburt und Kindheit) und der Bildungssektor.13 Die sich im weiteren Verlauf ergebenden Unterschiede 10 11 12
13
Vgl. Locke (1977), II §§ 40, 43. Nozick (1974), 152 (i .O. herv.). Zu Darstellung und Kritik vgl. Dworkin (2011), Kap. 1. Zu einer allgemeinen Diskussion des Egalitarismus vgl. Krebs (2000). Eine so verstandene Chancengerechtigkeit kann auch jenseits egalitaristischer Vorstellungen vertreten werden, so etwa Kersting (2005), 44-49. Gleichheit ist dann nicht das Ziel, sondern das Nebenprodukt einer Sozialpolitik, die am Ziel der Selbständigkeit der Bürger orientiert ist. Die aktuellen Entwicklungen im Sozialstaat sind
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verlangen nach diesem Konzept keinen Ausgleich. Die Interpretation von sozialer Gerechtigkeit als Ressourcengleichheit ist differenziert und wirkmächtig von Ronald Dworkin vertreten worden und soll hier als exemplarische Position näher untersucht werden. Dworkin bezieht das Konzept der Ressourcengleichheit primär auf den Besitz privater Ressourcen, wobei er den Ressourcenbegriff möglichst weit fasst und auch individuelle Begabungen darunter subsumiert; ausgeklammert werden die politische Macht sowie Gemeinschaftsgüter. Soziale Gerechtigkeit verlangt die Gleichverteilung der Ressourcen. Ressourcengleichheit besteht – kriteriell betrachtet – innerhalb einer Gesellschaft dann, wenn jeder mit seinem Bündel an Ressourcen zufrieden ist, wenn keiner die Gesamtheit an materiellen Gütern und körperlich-geistiger Ausstattung eines anderen lieber hätte, mithin wenn der Neidtest negativ ausfällt. Die zeitliche Perspektive, unter der die Ressourcenbündel verglichen werden, ist die der gesamten Lebensspanne. Darin unterscheidet sich die Ressourcengleichheit von der Chancengleichheit, die Dworkin auch als „Startblocktheorie“ bezeichnet.14 Zur Veranschaulichung und Begründung seiner Theorie nutzt Dworkin ein Gedankenexperiment: Schiffbrüchige landen auf einer unbewohnten und isolierten Insel mit vielfältigen Ressourcen und stehen nun vor der Aufgabe, diese gerecht aufzuteilen. Dworkin entwickelt dafür das Modell einer „ursprünglichen Auktion“. Alle Neuankömmlinge erhalten die gleiche Summe an eigens zu diesem Zweck eingeführtem Muschelgeld als Startkapital und bieten in einer Versteigerung für die Ressourcenbündel, die ihnen besonders wertvoll sind. Deren Preis bemisst sich wie in einem Markt an der Nachfrage durch Andere. Der Markt wird also als das geeignetste Instrument zur Verteilung von Gütern anerkannt, weil er auf die Vielfalt der individuellen Präferenzen eingeht und zugleich deren Opportunitätskosten widerspiegelt, das heißt den entgangenen Nutzen derjenigen, denen die fraglichen Güter dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn alle gemäß dem Neidtest mit dem Ergebnis der Versteigerung einverstanden sind, darf jeder versuchen, nach seiner Façon und mit den Ressourcen, die für ihn besonders bedeutsam sind, selig zu werden.
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stark an der Herstellung von Chancengerechtigkeit ausgerichtet; vgl. Ostheimer(2012a). Zum Unterschied zwischen Gleichheit als Ziel und Nebenfolge vgl. auch Krebs (2002), 108f., 119-124. Dworkin (2011),112 u. ö. Diese sei für das Spiel Monopoly geeignet, nicht aber für das Leben.
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Mit Blick auf eine echte Gleichheit müssen Behinderungen kompensiert werden. Denn diese führen häufig dazu, dass mehr Ressourcen benötigt werden, um dasselbe Wohlergehensniveau zu erreichen, ohne dass dies – im Unterschied Luxuspräferenzen – individuell zu verantworten ist. Behinderungen sind als Folge der Lotterie des Schicksals „reines Pech“ und damit moralisch relevant.15 Die Kompensationen für Behinderungen sollen durch eine Einkommenssteuer finanziert werden. Ebenfalls zu kompensieren nach der Art von Behinderungen ist ein Mangel an Talenten. Gleichwohl darf niemand für seine Begabung bestraft werden. Daher gehört die Arbeitskraft als solche dem Individuum und ist kein Bestandteil der Auktion. Alles andere nämlich würde auf eine „Versklavung der Talentierten“16 hinauslaufen. Der Ressourcenegalitarismus plädiert zwar für eine fundamentale Gleichheit im Wert der Ausstattung. Die Konsequenzen seiner Entscheidungen für bestimmte Lebensstile muss hingegen jeder selbst tragen. Ob jemand arbeitet, ist folglich eine Entscheidung, die jedem Einzelnen freigestellt ist. Letztlich hängt sein Wohlergehen davon ab, nicht aber die soziale Gerechtigkeit. Wohlergehensunterschiede, vor allem Unterschiede im Vermögen, sind für den Ressourcenegalitarismus dann kein Thema mehr.
2.3 Arbeit ist das vorzügliche Mittel der bürgerlichen Selbstversorgung und Selbstverwirklichung (Kerstings „liberaler Liberalismus“) Eine weitere Variante des Liberalismus bringt Wolfgang Kersting in die Diskussion der politischen Philosophie ein. Er bezeichnet sie zuweilen als „Liberalismus sansphrase“ oder auch als „liberalen Liberalismus“. Seine erklärten Gegner sind die Spielarten des Egalitarismus, aber auch zu libertären Strömungen ist seine Haltung eher distanziert. 15 16
Vgl. Dworkin (2011), 92-106; zur Natur als moralisch willkürliche Lotterie vgl. auch Rawls(1975), 94. Dworkin (2011), 115, vgl. insgesamt 106-130. Das Modell ist also, so die berühmte Formulierung, begabungs-unsensibel, aber ambitions-sensibel. Die Verteilung muss Kosten und Nutzen der Entscheidungen für Andere widerspiegeln, so dass nicht die Faulen belohnt und die Fleißigen bestraft werden, ohne aber diejenigen, die infolge von Behinderung oder sonstigem Pech weniger produktiv sind, ebenfalls (und also doppelt) zu benachteiligen; vgl. Kersting (2000), 189-193; zu einer Kritik an der Kompensationsforderung und der ihr zugrunde liegenden Gleichbehandlung externer und interner Ressourcen ebd. 197-212.
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Sein Ideal und normativer Bezugspunkt ist die eigenständige und selbstverantwortliche Person, die ihre jeweiligen naturalen und sozialen Bedingungen als Gestaltungschancen auffasst. Zum persontheoretischen Ideal der Selbständigkeit gehört folglich Arbeit. Arbeit ist nicht nur ein der conditiohumana geschuldetes notwendiges Übel, sondern immer auch eine Chance der „Selbstverwirklichung“. Von dort her entfaltet sich Kerstings Auffassung zum Sozialstaat. In seinem Modell ist der Sozialstaat zweistufig aufgebaut. Er bietet zum einen eine Grundsicherung, die sich mit dem Gebot der Solidarität begründen lässt.17 Zum anderen organisiert der Sozialstaat auf dem normativen Fundament einer „flachen Chancengleichheit“ ein gutes Bildungssystem und betreibt eine wirksame Beschäftigungspolitik. Diese zweite Stufe im Sinne einer investiven Aktivierungspolitik ist freiheits- oder „selbständigkeitsfunktional“18, sie ist am Ideal des selbständigen und eigenverantwortlichen Bürgers ausgerichtet.19 Die Finanzierung dieses „Minimalsozialstaats“ ist zum einen eine solidarische Gemeinschaftsleistung, zum anderen kann Kersting eine spezifische Umverteilung im Sinne einer progressiven Einkommenssteuer rechtfertigen. Deren Begründung erfolgt äußerst sparsam. Wer ein hohes Einkommen erzielt, nutzt in aller Regel die gesellschaftlichen Einrichtungen (etwa das Ausbildungs- und das Rechtssystem, die Verkehrswege, das soziokulturelle Wissen usw.) direkt oder indirekt 17
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Kersting (2000), 381-383, unterscheidet „drei Klassen sozialer Normen“: die Normen der Gerechtigkeit, die „der objektive Ausdruck individueller Rechtspflichten“ sind, bedingungslos gelten, „jedermann gegenüber jedermann“ verpflichten sowie epistemologisch transparent sind; die Normen der Hilfeleistung, die als „situationsgebundene Handlungsregeln“ Begehungshandlungen verlangen und wiederum „jeden Menschen gegenüber jedem Menschen“ zu einer leistbaren Nothilfe verpflichten. Normen der Solidarität sind hingegen partikularistisch; sie verpflichten nur die Mitglieder einer je bestimmten Gemeinschaft, so dass jede Gemeinschaft ihr eigenes „Obligationsprofil“ besitzt. Der solidarische Sozialstaat wird also nicht über Verteilungsgerechtigkeit begründet. An dieser kritisiert Kersting zum einen und ähnlich wie Nozick u. a. Libertäre, dass sie widersprüchlich und unbrauchbar sei; vgl. Kersting (2006), 12; ders. (2000), 376f. Zum anderen stellt er auf menschenrechtlicher Ebene die negativen Freiheits- den positiven Sozialrechten gegenüber, um dann zu zeigen, „dass der Begriff der positiven Freiheit weder als theoretische Legitimationskategorie noch als praktischer Orientierungsbegriff taugt“ (Kersting (2006), 12). Ein an der Idee der positiven Freiheit ausgerichteter (Sozial-)Staat muss permanent umverteilen, ohne dass es ein der Freiheit selbst innewohnendes Maß und Ende gäbe. Der Sozialstaat tendiert daher zur „Selbstverewigung“ (Kersting [2003]). Kersting (2000), 392. Vgl. Kersting (2000), 381-383, 385-398; ders. (2005), 37-44;ders. (2009), 60-66.
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stärker und muss dafür eine entsprechend höhere „Benutzungsgebühr“ entrichten.20 Mit Blick auf das Thema Arbeit kritisiert Kersting am Sozialstaat insbesondere, dass dieser aufgrund seiner ausufernden Alimentierung die Selbständigkeit der Bürger massiv gefährdet: „In demselben Maße, in dem im solidaritätsbegründeten Wohlfahrtsstaat die Berechtigten zu Klienten werden und ökonomisch orientiertes Verhalten an den Tag legen, möglichst große private Ausnutzungsmargen suchen und sich politisch organisieren, um ihre gruppenbezogene Gesamtzuteilung zu erhöhen, verkümmern die verantwortungsethischen Anreize, die Selbstbeanspruchungsbereitschaft und das pure, nach Unabhängigkeit von fremden Erhaltungsleistungen trachtende Selbständigkeitsbedürfnis.“21
3. DAS POTENZIAL LIBERALER ANSÄTZE FÜR DIE SOZIALETHISCHE REFLEXION AUF ARBEIT UND SOZIALSTAAT – EINE KRITISCHE ZUSAMMENFASSUNG Es ist hier nicht möglich, die vielfältigen Anregungen liberaler Ansätze differenziert aufzunehmen und auszuwerten. An erster Stelle zu nennen wäre der Gesichtspunkt der Selbstversorgung durch Arbeit, der (ungeachtet der möglichen Probleme) mehrere positive Konsequenzen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft entfalten kann. Stattdessen soll näher untersucht werden, inwieweit die dargestellten liberalen Ansätze in der Lage sind, die aktuellen Probleme in der Arbeitswelt sowie im Sozialstaat angemessen zu reflektieren, und inwieweit sie folglich für die sozialethische Reflexion fruchtbar gemacht werden können. Hierzu werden zwei Thesen vertreten: (1) Die genannten liberalen Ansätze verfügen über keinen zureichenden Arbeitsbegriff. (2) Sie kennen nur zwei gesellschaftliche Gerechtigkeitsinstanzen: den Rechtsstaat (der hier nicht weiter zum Thema gemacht wird) und den Markt; der Sozialstaat wird hingegen abgelehnt oder nicht ausreichend gewürdigt.
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Vgl. Kersting (2005), 90-93; ders. (2000), 168-171. Kersting (2006), 38. Vgl. auch Stolle/Rothstein (2004), 282, denen zufolge selektive Wohlfahrtsprogramme, die also im Unterschied zu universalen Maßnahmen wie etwa einer Grundsicherung Bedürftigkeit spezifisch bestimmen und die insbesondere für den intermediären Typus von Wohlfahrtsstaat kennzeichnend sind, leicht das Selbstwertgefühl der Empfänger beeinträchtigen können.
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3.1 Erwerbsarbeit und Tätigkeit Das erste hier zu benennende Theorieproblem liegt im Arbeitsbegriff. Arbeit wird in den oben knapp diskutierten Ansätzen des Liberalismus als entlohnte Erwerbsarbeit verstanden und damit einerseits von Freizeit sowie reproduktiven oder ehrenamtlichen Tätigkeiten und andererseits von Konsum unterschieden.22 Infolgedessen wird kaum bedacht, dass in der Gesellschaft Tätigkeiten geleistet werden, die wichtig sind, aber nicht als Arbeit anerkannt werden. Sie haben weder den offiziellen Status von Arbeit, noch werden sie wie Arbeit entlohnt (und in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen). Zu diesen Tätigkeiten gehört neben den vielfältigen Formen ehrenamtlichen Engagements, die das gesellschaftliche Leben reich machen, die Familienarbeit, wie hier kurz ausgeführt werden soll. Mit Blick auf Familienarbeit zeigt Angelika Krebs klar das gegenwärtig bestehende Unrecht (im Sinne einer sozialen Ungerechtigkeit) auf. Familienarbeit in dem von Krebs definierten engen Sinn umfasst die Fürsorge für Hilfsbedürftige im eigenen Haushalt, das heißt zunächst und zumeist für Kinder, dann auch für alte Menschen (meist die Eltern oder Schwiegereltern) sowie für einen kranken Partner. „Partnerarbeit“, das heißt die „Reproduktionsarbeit am erwachsenen, gesunden Partner“, gehört ebenso wie die „Eigenarbeit“ nicht zur Familienarbeit.23 Familienarbeit nimmt faktisch am gesellschaftlichen Leistungsaustausch teil, wie sich deutlich am Kriterium des Substitutionsbedarfes zeigt. Würden nämlich die vielfältigen Pflege- und Erziehungsleistungen nicht in der Familie erbracht, müssten sie von anderer Seite erfüllt werden: durch private Anbieter wie etwa im Bereich der Raumpflege, aber auch durch staatliche Maßnahmen wie Kindertagesstätten, Ganztagesschulen oder Pflegeheime. Dieser Bedarf bestünde nicht nur rein faktisch, sondern die entsprechenden Leistungen wären großteils auch normativ geboten.24 Die fehlende Anerkennung von Familienarbeit als Arbeit analysiert Krebs als ein vierfaches Gerechtigkeitsproblem. Erstens ist das Anerkennungsdefizit als solches ein Unrecht. Zweitens resultiert aus diesem Defizit eine mangelnde Entlohnung wie auch eine fehlende eigenständige soziale Sicherung. Da Familienarbeit zumeist von Frauen geleistet wird, liegt drittens eine Diskriminierung von Frauen vor. 22 23 24
Vgl. Krebs (2002), 23-51; Ostheimer (2012b). Vgl. Krebs (2002), 67-69. Vgl. Krebs (2002), 59-67.
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Nicht zuletzt profitieren die Kinderlosen von den Erziehungsleistungen und den zeitlichen, emotionalen und finanziellen Aufwendungen der Eltern; am deutlichsten zeigt sich dies in der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Die Investitionen der einen in die Zukunft einer Gesellschaft im Ganzen werden von den anderen „ausgebeutet“.25 Daher, so die These von Krebs, ist Familienarbeit unter einer ökonomischen Perspektive zu sehen und mit der Erwerbsarbeit gleichzustellen.26 Wie positionieren sich nun die oben genannten philosophischen Konzepte zu diesem Problem, wie es exemplarisch mit Krebs analysiert wurde? Aus libertärer Sicht stellt sich dieses Problem nicht. Denn Anerkennung ist jenseits menschenrechtlicher Fragen kein Thema. Die Anerkennung von Tätigkeiten als Arbeit (mitsamt der damit verbundenen Entlohnung) wird über Marktmechanismen autonom geregelt. Gleiches gilt für die „Ausbeutung“ der Eltern durch die Kinderlosen. Bei der Kindererziehung handelt es sich um eine freiwillige Entscheidung, in die der Staat nicht intervenieren darf. Auch für Dworkin ergibt sich hier kein sonderliches Problem. Ressourcengleichheit verlangt, auch Kinder in angemessener Weise gleich zu behandeln, was sicherlich zu Umverteilungen führen würde. Diese finden aber nur indirekt zugunsten der Familie statt; die eigentliche Legitimation gründet in dem Grundsatz der allgemeinen Gleichheit. Aber ob bestimmte Tätigkeiten als Arbeit im ökonomischen Sinn mitsamt den daran hängenden Folgen (Entlohnung, Sozialversicherungsansprüche) anerkannt werden, ist für ihn dann kein Thema mehr. Denn auch Dworkin setzt auf die Marktmechanismen.27 Kersting äußert sich zur sozialen und monetären Anerkennung von Tätigkeiten nicht gesondert. Aber angesichts seines Bürgerideals der Selbstversorgungsbereitschaft wäre er gegenüber einem Erziehungsgehalt wohl ebenfalls sehr skeptisch. Allerdings sieht er mit Blick auf die Rentenversicherung ebenfalls ein Ausbeutungsproblem. Als Lö25
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Vgl. dazu Lampert (2008), v. a. die Übersicht 345: Die Aufwendungen für Kinder bis zum 18. Lebensjahr betragen in den alten Bundesländern je nach Familientyp zwischen 250.000 € und 336.000 €, wovon die öffentliche Hand etwa 100.000 € übernimmt. Sinn (2003) berechnet den „Barwert des fiskalischen Beitrags eines neu geborenen Kindes für das Rentensystem im Jahr 1997“ auf etwa 90.000 €. Vgl. Krebs (2002), 35-37, 52-69. So könnte Dworkin darauf verweisen, dass sich derartige Tätigkeiten ähnlich wie Unterbeschäftigung durch eine entsprechende Versicherung, sofern sie denn am Markt zustande käme, absichern ließen; vgl. Dworkin (2011), 119-130.
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sung deutet er den Umstieg auf eine private und kapitalgedeckte Versicherung an.28 Diese knappe Untersuchung zeigt, dass die vorgestellten liberalen Theorien, die allesamt allein auf die Anerkennungsmechanismen des Marktes setzen, gewichtige gesellschaftliche Probleme aus dem Blick verlieren. Daher ist ein weiter Begriff von Arbeit, der über die faktische Erwerbsarbeit hinausgeht und Arbeit im größeren gesellschaftlichen Kontext sieht, für die sozialethische Argumentation methodisch wichtig.
3.2 Unterkomplexe Vorstellung vom Sozialstaat Im hier vorgestellten liberalen Diskurs spielt der Sozialstaat keine große Rolle, wenn es um die Frage sozialer Gerechtigkeit geht. Dies liegt, unabhängig von ethischen Bewertungen, zum Teil auch an einer unterkomplexen Vorstellung vom Sozialstaat. Der Sozialstaat wird zunächst und zumeist als Geld umverteilende Kompensationsagentur gesehen. Dies ist sowohl empirisch als auch systematisch unzureichend, und zwar gleichermaßen grundsätzlich wie auch mit Blick auf die Probleme der modernen Arbeitswelt, die vom Liberalismus kaum als politisch-philosophisches Thema wahrgenommen werden.29 Umverteilung ist nicht spezifisch für den Sozialstaat Die Betrachtung des Sozialstaats wird von einer ökonomistischen oder genauer monetaristischen Perspektive dominiert. Es geht um die Verteilung und Umverteilung von Geld und um die Frage, ob diese Umverteilungen gerecht sind. Dies ist eine relevante Frage, und Beiträge zu ihrer Klärung sind wertvoll. Allgemein betrachtet können Umverteilungen bloße Nebenwirkungen politischer Entscheidungen sein (so erzeugt zum Beispiel die Verteidigungspolitik eine Umverteilung von den Steuerzahlern hin zu 28
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Vgl. Kersting (2000), 379-381. – Allerdings wird dabei zu wenig berücksichtigt, dass Eltern infolge der Kosten für die Kinderaufzucht zuweilen die Mittel für eine ausreichende private Altersvorsorge fehlen. Dieses Defizit hängt sicherlich auch mit dem Entstehungskontext der verschiedenen Theorien zusammen: mit dem anders strukturierten Wohlfahrtswesen in den USA (Nozicks Theorie entspricht genau der Beschreibung des Menschen- und Weltbildes „der neuenglischen Sekten“ bei Manow [2008],128) sowie mit dem beginnenden grundlegenden Wandel der westlichen Sozialstaatsmodelle seit den 1990er Jahren; zu diesen Veränderungen vgl. etwa Lessenich (2008).
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Waffenherstellern oder wie bei Blauhelmeinsätzen zu hilfsbedürftigen Menschen im Ausland), oder sie können eigens angestrebt und durch ausdrückliche Verteilungsziele begründet sein.30 Letzteres ist der Fall bei der Sozialpolitik, doch ebenso beispielsweise in den Bereichen Wirtschaft, Landwirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit, Sport- oder Kulturförderung. Insofern ist Umverteilung kein exklusives Charakteristikum der Sozialpolitik. Darüber hinaus wird nicht wahrgenommen, dass der soziale Bereich nicht allein aus Transferzahlungen besteht (wie etwa Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Rente), sondern darüber hinaus eine Vielzahl an Sachleistungen umfasst.31 So ließe sich dem Aufgabenbereich des Sozialstaats wohl auch der Bildungssektor zurechnen32; vor allem aber sind Kinder- und Jugendhilfe, Obdachlosenarbeit, psychosoziale Beratung oder Seniorentagesstätten unumstrittener Teil des Sozialwesens. Infolgedessen wird übersehen, dass der Sozialstaat zusätzlich zur defizitorientierten Kompensations- und Reparaturperspektive auch unter dem Blickwinkel der Befähigung betrachtet werden muss.33 Beschäftigungspolitische Wirkungen von Sozialpolitik Wegen dieser recht undifferenzierten Betrachtung des Sozialstaats fehlt des Weiteren das methodische Instrumentarium, um die systemischen Auswirkungen sozialpolitischer Maßnahmen differenziert zu 30
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Diese Unterscheidung ist für Nozicks Begriff der Umverteilung entscheidend; vgl. Nozick (1974), 38. Er würde daher konsequent sämtliche im Folgenden genannten Förderungen ablehnen. In diesem Zusammenhang müsste einerseits und grundsätzlich bedacht werden, dass das Wirkungsfeld und damit auch die Gestalt der Sozialpolitik recht diffus ist, weil „das Soziale“ im Unterschied etwa zur „Wirtschaft“ kein eigenständig abgrenzbares soziales System ist; vgl. Kaufmann (2009), 77-79. Zum anderen müsste stärker reflektiert werden, dass nicht nur die Bereiche, sondern auch die Formen sozialpolitischer Intervention vielfältig sind, beispielsweise auch „die Verbesserung des rechtlichen Status von Personen“ und „der Handlungskompetenz von Personen“ einschließen, was die monetaristische Perspektive ebenfalls nicht zu erfassen in der Lage ist; vgl. Kaufmann (2009), 88-108. Insbesondere im angloamerikanischen Bereich ist diese Zuordnung selbstverständlich; vgl. Heidenheimer(1987). Ähnlich kritisieren Manow/van Kersbergen (2009), 3, an Esping-Andersens Ansatz, dass er gegenüber der Arbeit den Bereich der Bildung vernachlässige. Im politisch-philosophischen Kontext spricht z. B. Kersting immer wieder von der Bedeutung der Bildung, z. B. (2009), 63; insofern scheint er Bildung der Sphäre des Sozialstaats zuzurechnen. In diesem Sinn lässt sich auch Möhring-Hesses mit Nachdruck geäußerte These verstehen, dass Staat und Wirtschaft zwei gleichursprüngliche Verteilungsinstanzen seien (2004, 199-205).
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erfassen34, etwa ihren Beschäftigungseffekt. Denn viele sozialpolitische Entscheidungen tragen gezielt oder indirekt dazu bei, dass das Angebot der Ware Arbeit verringert oder erhöht wird (etwa über Festlegungen des Renteneintrittsalters oder der Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld).35 Diese de- oder rekommodifizierend wirkenden Maßnahmen36 in ihrer Bedeutung sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen ethisch zu bewerten, wäre aber eine wichtige Aufgabe für die politische Philosophie. Gesellschaftstheoretische Defizite Den meisten Theorien im liberalen Diskursuniversum fehlt ein theoretisch gehaltvolles und empirisch fundiertes Gesellschaftskonzept.37 Der ethisch sinnvolle normative Individualismus wird mit einem gesellschaftstheoretisch-methodischen Individualismus verknüpft, der aber den gängigen soziologischen Theorien widerspricht. Daraus resultiert, wie sich vielfach in kontraktualistischen Ansätzen, aber auch in ökonomischen und libertären Argumentationen zeigt, die simple Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Diese ist jedoch ein Relikt aus der Zeit vor dem 20. Jahrhundert. Insofern in diesem Modell das Gesellschaftliche von der Privatsphäre der Individuen her gedacht wird, ist es zum einen naheliegend, dem Staat nur minimale Eingriffe zu gestatten und also den Sozialstaat abzulehnen. Eine derartige Perspektive findet sich in Nozicks Idee, sämtliche Umverteilungen jenseits einer sehr engen Grenze als unmoralisch zu verwerfen und soziale Probleme in den Bereich der privaten Mildtätigkeit zu verweisen. Dieser Vorschlag ist ethisch gesehen eine Antwortverweige-
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Dies gilt freilich auch umgekehrt: die Ausweitung von Marktmechanismen erzeugt Kosten, die die Allgemeinheit und damit auch der Sozialstaat auffangen müssen; vgl. Streeck (2009), 148-150. Vgl. dazu auch Manow (2008), 60f.: für das Verständnis des Sozialstaats ist dessen Ausgestaltung wichtiger als die bloße Höhe der Ausgaben; ähnlich Esping-Andersen (1990), 19f. Vgl. Esping-Andersen(1990),21f.:Individuen, deren materielle Versorgung allein vom erfolgreichen Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängt, können als kommodifiziert angesehen werden. Dekommodifizierung bedeutet, dass der Unterhalt einer Person nicht vom Markt abhängt, sondern beispielsweise von sozialen Dienstleistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht. Von der folgenden Kritik ist Kersting auszunehmen; insbesondere in seine für ihn zentralen persontheoretischen Annahmen sind letztlich auch gesellschaftliche Aspekte eingegangen; vgl. Kersting (2009), v. a. 9-35; ders. (2000), 369-373.
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rung38, und soziologisch betrachtet verkennt er die Komplexität der modernen Gesellschaft mit ihren teils heterogenen Rationalitäten, Wertvorstellungen und Distributionsstrukturen39; Letzteres gilt im Übrigen auch für den Egalitarismus. Zum anderen kann infolge der einfachen Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat die Gesellschaft schnell mit dem Markt gleichgesetzt werden.40 Dies spiegelt jedoch den Reflexionsstand der frühliberalen Marktgesellschaft als einer Vielzahl individueller und voneinander unabhängiger Tauschhandlungen wider und wird damit der arbeitsteilig differenzierten Industriegesellschaft nicht gerecht. Folglich bleibt kaum Platz für eine kritische Diskussion etwa des Themas gerechter Lohn. Denn der Lohn wird über den Markt bestimmt, und der Markt gilt (neben dem Rechtsstaat) als die einzige gesellschaftliche „Gerechtigkeitsinstanz“.41 Anders würde die Betrachtung ausfallen, wenn die Gesellschaft – wie etwa bei Rawls – infolge ihres arbeitsteiligen Charakters als Kooperationsgemeinschaft angesetzt wird. Dann wird nämlich offensichtlich, dass es „praktisch unmöglich [...]ist, individuelle Beiträge, Leistungen, Fähigkeiten und Anstrengungen im Hinblick auf die entsprechenden Anteile am Gesamtprodukt auch nur annähernd exakt auszuweise [...] Und auch die Höhe von Preisen und Löhnen, die Einrichtung oder der Abbau von Ar38
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Allerdings ließen sich mit Nozicks Überlegungen zur gerechten Aneignung wohl doch gewisse sozialpolitische Maßnahmen rechtfertigen. Etliche natürliche Ressourcen stehen aus historischen Gründen nicht mehr zu freien Aneignung zur Verfügung. Solange aber ihre Nutzung über den Markt ermöglicht wird, stellt dies nach Nozick kein Unrecht dar. Diese Überlegung impliziert jedoch, dass diejenigen, die um die Möglichkeit der Erstaneignung gebracht worden sind, über die faktische Möglichkeit verfügen müssen, in den Markt einzutreten; sie müssen also über Geld verfügen. Andernfalls würde sie schlechter dastehen, was nach Nozick (1974), 169f., verboten ist. Folglich müssen sie eine ausreichend entlohnte Beschäftigung finden. Umgekehrt bedeutet dies, dass fehlende Vollbeschäftigung sozialstaatlich zu kompensieren ist; vgl. Kersting (2000), 327f. Vgl. dazu etwa Luhmann (1998); Walzer (1994); Liebig/Lengfeld (2002); Boltanski/ Thévenot(2007); Miller (2008); Ullrich (2004). Vgl. mit Blick auf Nozick Kersting (1994), 311 (sowie 343 bzgl. Buchanan, der hier nicht weiter berücksichtigt wird). Dies heißt aus libertärer Sicht nicht, dass der Markt ein gerechtes Ergebnis produziert, sondern das Marktgeschehen ist insofern gerecht(fertigt), als sich die Teilnehmer an die Regeln, v.a. das Eigentums- und Vertragsrecht, halten, die ihrerseits moralisch begründet sind und vom Rechtsstaat gewährleistet werden. In diesem Sinn funktioniert der Markt wie ein „moralischer Syllogismus“: Wenn die „Prämissen“ moralisch gerechtfertigt sind, dann gilt dies auch für das Resultat. Vgl. etwa Hayek (1981), 151; ders. (1977), 24; Nozick (1974), 144; zu einer Kritik Koller (1987), 166173.
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beitsplätzen etc. richten sich [...] weit eher nach ökonomisch und politisch komplexen Verhältnissen von ‚Angebot und Nachfrage‘ als nach individueller Begabung, persönlicher Anstrengung oder moralischem Verdienst.“42 Diese Diagnose macht deutlich, dass die liberale Forderung, dass der Staat gegenüber individuellen Lebensplänen, die sich dann auch als Präferenzen in marktvermittelten Austauschbeziehungen äußern, Neutralität wahren soll, wie in großer Übereinstimmung fast sämtliche Liberale von Rawls über Dworkin und van Parijs bis zu Nozick, Hayek und Buchanan schreiben43, zu einseitig ist, der gesellschaftlichen Komplexität nicht gerecht wird.
4. FAZIT Jede politische Theorie enthält drei Elemente. Ganz offensichtlich sind die normativen Prinzipien. Diese zeigen sich beispielsweise in der Debatte darüber, ob Verteilungsgerechtigkeit eine sinnvolle Kategorie ist oder besser durch eine der Tauschgerechtigkeit ähnelnden Theorie der gerechten Aneignung (wie bei Nozick) oder durch die Normen der Solidarität zu ersetzen ist (wie bei Kersting). Der zweite konstitutive Bestandteil stammt aus der philosophischen Anthropologie. Die Bedeutung der persontheoretischen Annahmen zeigt sich beispielsweise in der unterschiedlichen Auffassung darüber, ob genetische und familiäre Startbedingungen Ausgleichsansprüche rechtfertigen oder nicht.44 Als dritter Gesichtspunkt kommt das Gesellschaftsverständnis hinzu: etwa ob die Gesellschaft als Summe unzähliger independenter Tauschakte oder als interdependente, arbeitsteilige und komplexe Kooperationsgemeinschaft gesehen wird, um nur den hier augenfällig gewordenen Unterschied zu benennen. Ebenso relevant wäre die besonders bei Nozick zu erkennende Vorstellung, die Gesellschaft als bloßes Aggregat der Individuen zu sehen, eine Sichtweise, die sich auch gerne bei Ökonomen wiederfindet, die aber angesichts der neueren Soziologie unhaltbar ist. Nicht zuletzt wäre auch zu untersuchen,
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Große Kracht (2004), 409. Der Staat wird damit implizit auf seine Dimension als Rechtsstaat (als die zweite soziale Gerechtigkeitsinstanz) verkürzt. – Zu einer Kritik an der Idee der Neutralität vgl. (aus unterschiedlichen Positionen) Neal (1997), v. a. 15-33 und 185-205, Raz (1986), Miller (2000)oder Höffe (2006), 273-278. Auf diese beiden Aspekte geht auch Miller (2000), 99, ein, nicht aber auf den dritten.
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wie sehr das Denken der hier besprochenen Autoren vor der faktischen Gestalt ihrer Herkunftsgesellschaft und dem dortigen Wohlfahrtsarrangement geprägt ist. Vorentscheidungen in allen drei Dimensionen prägen den weiteren Verlauf der Argumentation, wie eine exemplarische Analyse liberaler Positionen zum Thema Arbeit als ein Schlüssel für soziale Gerechtigkeit gezeigt hat. Die analysierten Vorentscheidungen sind an einigen Stellen fragwürdig. Sie sind aber nicht, zumindest nicht in ihrer Gesamtheit, notwendig mit dem liberalen Projekt verbunden, was bereits durch den internen Pluralismus des Liberalismus deutlich wird. Insofern bleibt es eine Aufgabe, trotz der aufgezeigten Defizite das Potenzial des Liberalismus für die Sozialethik herauszuarbeiten.
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Unpersönliche Arbeit. Sozialethische Überlegungen im Anschluss an die Kapitalismusanalyse Max Webers Christian Stoll
In der Enzyklika Laborem exercens gilt die menschliche Arbeit als „ein wesentlicher Schlüssel in der gesamten sozialen Frage“ 1. Die lateinische Fassung setzt einen etwas anderen Akzent: die menschliche Arbeit sei wie eine Türangel („cardo totius questionis socialis“). Darin kommt die Einsicht zur Sprache, dass die soziale Wirklichkeit wesentlich von menschlicher Arbeit bestimmt ist, jene an dieser hängt und von ihr getragen wird. Mehr noch war Max Weber der Auffassung, dass es die spezifische Gestalt menschlicher Arbeit ist, die die abendländische Kultur von Grund auf prägt. In seiner Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie von 1920 fragt er nach dem kulturgeschichtlichen Proprium des Abendlandes. Die bedeutendste abendländische Kulturerscheinung sei der Kapitalismus und mit ihm eine bestimmte Gestalt von Arbeit: Das Spezifikum des Kapitalismus ist danach „die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“ 2. Weber suchte nach dem Grund dieser organisierten Form kapitalistischer Arbeit und stieß auf ihre habitualisierte Verankerung in den Köpfen der arbeitenden Menschen. Nach Weber vermochte eine bestimmte „Wirtschaftsgesinnung“3 den sozialen Kosmos so zu verändern, dass jene dem Kapitalismus eigene Form rationalisierter Arbeit sich objektiv greifbar organisierten konnte. Es ist die Überzeugung von der sozialen Wirksamkeit der cognitive maps der arbeitenden Menschen, die Weber nach dem fragen ließ, was der unter den Bedingun-
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Vgl. Laborem exercens, 1. Weber (1920a), 7. Vgl. Weber (1920a), 12.
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gen des abendländischen Kapitalismus arbeitende Mensch unter Arbeit versteht und wes Geistes Kind er ist. Nach Weber kennzeichnet den Kapitalismus ein Arbeitskonzept, das sich „unpersönliche Arbeit“ nennen lässt. Obwohl Weber diesen Begriff nicht verwendet, eignet er sich, um die grundlegende anthropologische Bestimmung kapitalistischer Arbeit, wie Weber sie vorstellt, zu kennzeichnen. Ihm zufolge arbeitet der abendländischkapitalistische Mensch nicht als Person, sondern unpersönlich, indem er Teile seines Personseins marginalisiert und aus dem Sinnhorizont seiner Arbeit ausklammert. Als „Persönlichkeit“ – so Webers Gegenbegriff – fügt er sich in rastloser Betriebsamkeit den rationalisierten Strukturen des modernen Kapitalismus bedingungslos ein. In einem ersten Schritt möchte ich darlegen, was „unpersönliche Arbeit“ im Sinne Webers meinen kann, welche Gestalt sie hat und woher sie stammt. Im zweiten Teil ist dann zu fragen, inwiefern Webers Analyse Gegenstand einer ethischen Überlegung sein kann. Hier zeigt sich, dass Weber auch für Probleme in der heutigen westlichen Arbeitswelt zwar eine tiefgreifende Diagnose bieten kann, sich aber den Weg in eine sozialethische Reflexion selbst abschneidet. Das Unbehagen Webers über die zu affirmierende Unvermeidlichkeit kapitalistischer Arbeit bleibt jedoch erkennbar. Dagegen möchte ich in einem dritten Schritt ein ethisches Kriterium einführen, indem ich auf Laborem exercens und die dort zu findende anthropologische Bestimmung von Arbeit zurückkomme – nämlich die, dass Arbeit stets Arbeit der Person, also personale Arbeit, ist. Auf dieser Basis lassen sich die Grundlinien einer theologisch-ethischen Reflexion auf das Phänomen der unpersönlichen Arbeit skizzieren. Dabei geht es nicht nur darum, wie das Leitbild der personalen Arbeit unter den Bedingungen des Kapitalismus zur Geltung gebracht werden kann, sondern auch um die selbstkritische Rückfrage an die eigene theologische Tradition
1. UNPERSÖNLICHE ARBEIT ALS KENNZEICHEN DES MODERNEN KAPITALISMUS 1.1 Die Widernatürlichkeit des kapitalistischen Geistes Das Konzept unpersönlicher Arbeit lässt sich zunächst als Thema der berühmten Schrift Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ausweisen. Was soll die Rede von einem „Geist“ des Kapitalismus be-
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sagen? Hartmann Tyrell hat auf die Deutung der Protestantismusschrift durch den mit Weber zeitweise befreundeten Theologen Ernst Troeltsch hingewiesen. Der entscheidende Grund, einen „Geist des Kapitalismus“ zu postulieren, liegt Troeltsch zufolge in der Widernatürlichkeit des Kapitalismus selbst: „Er ist zu sehr gegen die Natur des Menschen, als dass er ohne eine die Natur gewaltsam und systematisch unterdrückende ungeheure Geistesmacht sich hätte bilden können.“4 Weber spricht von „Hemmungen“ und „Widerständen“, die den modernen Kapitalismus insgesamt zu einem sehr unwahrscheinlichen Tatbestand machen.5 Diese erwachsen der menschlichen „Natur“ – ein Begriff, den der Soziologe Weber meint, nur in Anführungszeichen verwenden zu können. Webers Lieblingsbeispiel für den Idealtypus einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung illustriert, warum der Geist kapitalistischer Arbeit gegen die „Natur“ ist. Es findet sich in Benjamin Franklins ökonomischer Paränese Necessary hints to those that would be rich aus dem Jahr 1736. Wenn Franklin dort in einer Reihe von Mahnungen den unbedingten rationalisierten Gelderwerb einschärft,6 betreibt er nach Weber die Umwertung aller Werte einer „natürlichen“ ökonomischen Ethik: Das summum bonum dieser Ethik ist „der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens“7. Einfach gewendet: Der Erwerb dient nicht mehr dem Menschen und seinen Zielen, sondern der Zweck des Menschen besteht im Erwerb – denn Konsum hat in der Franklinschen Erwerbslogik ebenso wenig Platz wie Muße. Lakonisch kommentiert Weber: „Diese für das unbefangene Empfinden schlechthin sinnlose Umkehrung des, wie wir sagen würden, ‚natürlichen’ Sachverhalts ist nun ganz offenbar ebenso unbedingt ein Leitmotiv des Kapitalismus ...“8. Es erinnert an einen gnadentheologischen Traktat, wenn Weber den 4 5 6
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Zit. bei Tyrell (1990), 135. Vgl. Weber (1920a), 12. Z.B. „Bedenke, daß die Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat nebendem noch fünf Schillinge ausgegeben oder vielmehr weggeworfen.“ „Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet (!) alles, was damit hätte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling.“ Zit. Weber (1920b), 31, Hervorhebung i. Orig. Weber (1920b), 35. Weber (1920b), 35.
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Gelderwerb als „etwas gegenüber dem „Glück“ oder dem „Nutzen“ gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales“ vorstellt.9 Webers Auslegung der Franklinschen Hinweise zum Reichwerden geben einen ersten wichtigen Eindruck von dem, was unpersönliche Arbeit ist. Unpersönlich ist der Franklinische Erwerb für Weber durch die sie antreibende widernatürliche, letztlich irrationale Kraft, den kapitalistischen Geist. Er zielt auf den unbedingten Gelderwerb, auf endlose Reinvestition des Gewinns ohne Genuss der Früchte. Die Person und ihr Sinnhorizont, das von ihr erstrebte Gute ist nicht das telos der Erwerbsarbeit. Vielmehr bildet sich ein in sich geschlossener ökonomischer Kreislauf von Investition und Reinvestition, in dem der arbeitende Mensch in noch näher zu bestimmender Weise unsichtbar ist. Die Protestantismusschrift geht aber noch einen Schritt weiter. Sie illustriert nicht nur den Geist des Kapitalismus, sondern versucht eine genetische Erklärung, die Weber bekanntlich zum Studium der protestantischen, insbesondere der calvinistischen Ethik geführt hat. Für Weber liegt der Ursprung des kapitalistischen Geistes und seiner Arbeitsform im calvinistischen Verständnis von Askese. Weber besteht mit Nachdruck darauf, dass die Arbeit des kapitalistischen Unternehmers nicht Ausdruck einer „Weltfreude“, sondern einer Fremdheit gegenüber Natur und Welt ist.10 Dieser Gedanke kennzeichnet nach Weber bereits die antike Form Trieb bezwingender Askese. Sie kann das Arbeitsethos des kapitalistischen Zeitalters jedoch noch nicht hervorbringen. Es bedarf einer neuen Form, die sich nicht auf eine mönchische Übung hinter Klostermauern beschränkt, sondern einer „in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindringende, unendlich lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung“11. Der „Geist des Kapitalismus“ muss also weit mehr überwinden als eine dunkle menschliche Triebnatur. Die neue Art der Lebensführung in Gestalt des kapitalistischen Arbeitsethos ist nur denkbar als Ergebnis des „universalgeschichtlichen“ Vorgangs der Reformation: „Jetzt trat sie auf den Markt des Lebens, schlug die Türe des Klosters hinter sich zu, und unternahm es, gerade das weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, es zu einem ratio-
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Vgl. Weber (1920b), 35. Vgl. Weber (1920b), 28. Weber (1920b), 20.
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nalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.“12 Ein Leben in aber doch nicht von oder für die Welt zu führen, kennzeichnet die Askese des calvinistischen Puritaners in radikaler Weise. Sie beruht auf einer Weltsicht, die nach Weber aus dem „religionsgeschichtlichen Prozess der Entzauberung der Welt“ erwächst.13 Eine entzauberte Welt findet Weber in der calvinistischen Lehre von der doppelten Prädestination zum Ausdruck gebracht. Calvin lehrt die ewige Vorherbestimmung der Erwählten und Verdammten. Diese Lehre birgt eine radikale Metaphysik der Gottferne, die sich in alle Bereiche des Lebens auswirkt. Der calvinistische Gläubige kennt keine Hilfe durch Sakrament und Amt, keine besondere Form gottgefälligen Lebens. Gott, der sich beinahe ins Nichts zurückzieht, setzt eine verderbte Kreatürlichkeit frei, die nur mit äußerstem Argwohn und unter dem Damoklesschwert ihrer ewigen Verdammung geduldet wird. Die Kreatur wird zum Schatten ohne eigenen Wert: „nicht die Kreatur um ihrer selbst willen, aber die Ordnung des Kreatürlichen unter seinem [d. h. Gottes, CS] Willen.“14 Die calvinistische Lehre will Gott die höchste Ehre geben, indem er ihn aus der Welt verbannt. Zurück bleibt zweierlei: der gläubige Einzelne in einer „unerhörten inneren Vereinsamung“ und der befehlende Wille Gottes, der das „sachlich Zweckhafte“ zum Mittel der Weltgestaltung und zum Modus der menschlichen Ehrerbietung ihm gegenüber bestimmt.15 Der vereinsamte Einzelne, der sich in tiefer Innerlichkeit allein vor Gott weiß und das eherne Gesetz der Weltgestaltung nach dem Plan formaler Rationalität finden schließlich in der „rastlosen Berufsarbeit“ des Kapitalisten zueinander. Warum sie gerade hier aufeinandertreffen, versucht Weber mit einem Bündel von Argumenten plausibel zu machen. Da ist zunächst der schon genannte Trieb bezwingende Aspekt der Askese, der auch die puritanische Form prägt. Gegen sexuelle Anfechtungen eines „unclean life“ empfiehlt die puritanische Pastoral: „Arbeite hart in deinem Beruf!“16 Der Argwohn gegenüber allem Kreatürlichen und Emotionalen trifft auch die Sexualität, deren Versuchungen durch asketische Arbeit überwunden werden sollen. 12 13 14 15 16
Weber (1920b), 163. Vgl. Weber (1920b), 95. Weber (1920b), 99, Fn.1. Weber (1920b), 93; 99 Fn.1. Weber (1920b), 171.
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Wichtig ist sodann der moderne Berufsgedanke. Weber interessiert dabei die Herkunft der Berufspflicht und er kann darlegen, dass der Begriff „Beruf“ mit seiner religiösen Konnotation ein Produkt der protestantischen Bibelübersetzungen ist. Mehr als das Luthertum, für das Weber wiederholt seine Verachtung zum Ausdruck bringt, nimmt das reformierte Berufskonzept Askese ernst, indem es jede Rücksicht auf Schranken einer Ordnungstheologie der Schöpfung abweist. Es vermag daher jene Dynamik zu entfalten, die kapitalistische Berufsarbeit auszeichnet. Allerdings erklärt dies noch nicht, warum gerade rastlose Berufsarbeit unter der Maxime unbedingten Gelderwerbs zur bevorzugten Praxisform einer derart gespaltenen Weltsicht wird. Weber räumt ein, dass von der calvinistischen Prädestinationslehre kein direkter Weg dorthin führt. Zwar ist die Pflicht zur Berufsarbeit ein unbedingter Befehl Gottes. Dies hält Weber jedoch noch nicht für eine ausreichende Erklärung: „Logisch“ müsse nämlich aus dem Prädestinationsglauben Fatalismus und nicht rastlose Berufsarbeit folgen. „Psychologisch“ liege es jedoch anders. „Denn das für uns entscheidende ist erst: wie wurde diese Lehre ertragen ...?“17 Angesichts der ungeheuren Heilsangst, die das Dogma freisetzt, schärfen die Nachfolger Calvins schon bald die rastlose Berufsarbeit ein: „Sie und sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe Sicherheit des Gnadenstandes.“18 Die Seligkeit kann nicht erkauft werden, aber „die Angst um die Seligkeit“ schwindet mit dem Anwachsen der Früchte ruheloser Arbeit. Es ist bemerkenswert, dass Weber das psychologische Motiv, die Angst vor der Verdammnis nicht ertragen zu können, für den entscheidenden Antrieb zur rastlosen Berufsarbeit hält. Der Gedanke des Gehorsams gegenüber der rein theonomen Pflicht zur formalrationalisierten Arbeit tritt dadurch etwas zurück. Der Trieb bezwingende Sinn der Askese schwingt ebenfalls noch mit. Der „Geist des Kapitalismus“ ist so in mehrerlei Hinsicht das Andere von Natur und Welt: gegenüber der menschlichen Triebnatur, gegenüber einer von Angst vor der Verdammnis geplagten Psyche in einer entzauberten Welt, sowie als extrinsezistische Pflicht. Wer in diesem Geist arbeitet, bringt daher die affektive Natur und Weltlichkeit seines eigenen personalen Seins zum Verschwinden.
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Weber (1920b), 102. Weber (1920b), 105f.
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1.2 Die Arbeit der 'Persönlichkeit' Das Konzept der unpersönlichen Arbeit ist für Weber das Ergebnis eines universalgeschichtlichen Vorgangs. Er erfasst nicht nur die Erwerbsarbeit im engeren Sinne, sondern weite Teile der Praxis der modernen Menschen. Dies gilt auch für die Arbeit Max Webers, seinen „Beruf“ als Wissenschaftler, der ebenso unpersönlich zu nennen ist wie die Arbeit des puritanischen Unternehmers. Um dies zu zeigen, muss man nicht auf das Feld biographischer Forschung übergehen.19 Was unpersönliche Arbeit für Weber selbst bedeutet, lässt sich vielmehr gut an seinem bekannten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ ablesen, den er in einer Reihe mit dem Titel „Geistige Arbeit als Beruf“ 1917 in München hielt. Auch hier begegnen wir einem Arbeitskonzept, dass der affektiven Natur und Weltlichkeit des Menschen äußerlich ist. Parallel zum puritanischen Unternehmer klafft zwischen der Person des Wissenschaftlers und seiner Arbeit ein tiefer Graben. Wie die Arbeit des Puritaners wird auch die moderne Wissenschaft erst möglich in einer entzauberten Welt, in der es „prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe ...“20. Wissenschaft geschieht in einer Welt ohne Geheimnisse, die den einsamen Einzelnen der formal-zweckhaften Rationalität überlässt. Sie ist wie die Arbeit des Puritaners ohne einen ihr eigenen Wert. Weber lässt Tolstoi die Frage nach dem Sinn der Wissenschaft beantworten: „Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben? keine Antwort gibt.“21 Kann der Puritaner durch seine rastlose Anstrengung nicht Gott erreichen, vermag es auch die Wissenschaft nicht. Im Gegenteil: Sie ist die „spezifisch gottfremde Macht“, die jeden Glauben an einen Sinn der Welt zerstreut.22 Die Arbeitsform der modernen Wissenschaft hat ihren Ort ebenso wie die
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Joachim Radkaus große Weber-Biographie weiß zu Webers persönlichen Arbeitsgewohnheiten allerdings Interessantes zu berichten. Vgl. Radkau (2005), 316-350. Man kann sich hier der psychologisierenden Rückfrage nicht ganz entziehen. Immerhin ist die Protestantismusschrift Webers erste große Veröffentlichung nach einer langen Phase psychischer Krankheit. Radkau weist darauf hin, dass Webers Bewunderung asketischer rastloser Arbeit nicht nur seine eigene ungeheure Produktivität abbildet, sondern auch die Qualen, die es dem psychisch labilen Weber bereitet, gerade nicht arbeiten zu können. Weber selbst sah das Arbeitenkönnen als Zeichen der Überwindung der eigenen Krankheit. Weber (1917), 87. Weber (1917), 93. Vgl. Weber (1917), 92.
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des Kapitalisten in einer restlos entzauberten Welt. Wilhelm Hennis deutet die Entzauberung treffend als Prozess „allgemeiner Versachlichung, d. h. [...] Verunpersönlichung mit der Folge der Verunmöglichung individuell ethischer Ausdeutung personaler Lebensführung“. Bis zu diesem Punkt erscheint uns Weber als Wissenschaftler dem calvinistischen Unternehmer recht ähnlich. Aber Weber war kein Calvinist; er sah seine Gegenwart als „gottferne und prophetenlose Zeit“23. Für sich selbst und seine Zeit kam Gottes schroffes Gebot als Grund rastloser Arbeit daher nicht mehr in Frage. Was ist aber an dessen Stelle getreten im Zeitalter des „illusionslosen Individualismus“24? Zwar findet Weber bereits bei den Puritanern Nebenmotive in der Bewältigung von Triebnatur und Heilsangst. Diese Säkularisate des göttlichen Arbeitsbefehls kann man für Weber selbst jedoch nur vermuten.25 Erhellend ist dagegen ein Blick auf den Gebrauch des Begriffs der Persönlichkeit in „Wissenschaft als Beruf“. Er begegnet dort nicht im technischen Sinne, sondern eher beiläufig und steht für Webers Beharren auf die unbedingte Pflicht zur Arbeit. Wer diese Pflicht erfülle, illustriert nach Weber, was eine Persönlichkeit ist: Eine Persönlichkeit affirmiert das Andere ihrer selbst und bezwingt so ihre eigene Natur und Welt. Die Pflicht zur Arbeit erzeugt sie in einem inneren Kraftakt der Hyper-Askese. Mit Gründen ist diese Pflicht nicht einsichtig zu machen, da Weber Rationalität rein formal und instrumentell auffasst. Sie wird schlicht gesetzt. Eine Persönlichkeit zu werden, heißt daher, sich eine in sich sinnlose Arbeit aufzuerlegen, das rastlose Immerwieder einer formal-instrumentellen Vernunft gegenüber einer als irrational aufgefassten Natur und Welt zu behaupten. „’Persönlichkeit’ auf wissenschaftlichem Gebiet“ – betont Weber – „hat nur der, der rein der Sache dient.“ Die „Sache“, der die Persönlichkeit dient, bleibt ihr dabei äußerlich.26
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Vgl. Weber (1917), 106. Vgl. Weber (1920b), 95. Natürlich kommt die Heilsangst dabei nicht mehr als thematisch religiöses Motiv in Frage. Wohl aber kann Arbeit als ein Mittel gegen die Angst vor der Einsicht in die Sinnlosigkeit der Welt verstanden werden. Vgl. dazu Scheler (1999), 33-68, bes. 63ff. Indem der Sinn der Arbeit durch den Einzelnen selbst hervorgebracht werden muss, droht Arbeit zur „Narkose“ psychologisiert zu werden. Scheler findet dies durch Hieronymus Lorm treffend in Verse gebracht: „Nur Arbeit hebet dich hinweg/ Aus trübem Weltverneinen/ Sie gibt der Stunde einen Zweck/ Hat auch das Leben keinen.“ eber (1917), 84f. Hervorhebung i. Orig.
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Man mag daher mit Wolfgang Schluchter Webers philosophischen Standpunkt als „dualistischen Anthropozentrismus“ bezeichnen, der für ein „bewusstes Leben in der Spannung“ optiert.27 In diesem Leben muss die grundlose Affirmation kapitalistischer Arbeit immer neu in einem Kraftakt hervorgebracht werden. Unpersönliche Arbeit ist also nicht die Arbeit der Person, sondern die Arbeit der auf sich selbst zurückgeworfenen Persönlichkeit.
2. UNPERSÖNLICHE ARBEIT ALS GEGENSTAND DER SOZIALETHIK Hat Max Webers Analyse unpersönlicher Arbeit als Signum des Kapitalismus einen Wert für die Sozialethik? In der Regel begegnet die wissenschaftliche Ethik epochalen Großthesen eher mit Misstrauen. Zu wenig konkret scheint die Fragestellung, zu groß die Gefahr angesichts einer pessimistischen Gesamtdiagnose in allgemeinen Kulturbetrachtungen stecken zu bleiben. Dieses Misstrauen besteht dann zu Recht, wenn die Sozialethik als angewandte Ethik den Blick auf den konkreten Menschen der Gegenwart einfordert.28 Ob sich diesbezüglich von Weber etwas lernen lässt, hängt davon ab, wieweit sich Webers Beobachtungen für die heutige Arbeitssituation westlicher Gesellschaften empirisch bestätigen lassen.29 Ich halte dies zumindest teilweise für plausibel, ohne dass das Feld der empirischen Arbeitsforschung hier betreten werden könnte. Es gibt eine wachsende Zahl von
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Vgl. Schluchter (1980), 36. Dieser Blick unterscheidet eine christliche Ethik von allen lediglich allgemeinen Betrachtungen zur „Lage“ einer Kultur. Allerdings darf eine wissenschaftliche Ethik auch nicht dem Irrtum verfallen, allein mittels recht spezifischer Strukturmaßnahmen grundlegende geistige Prägungen verändern zu können. Demgegenüber wird unter 3. eine Perspektive vorgeschlagen, die unpersönliche Arbeit als ethische Aufgabe für die Sendung der ganzen Kirche ansieht. Diese regionale Einschränkung ist für die unter 3. skizzierte ethische Überlegung wichtig. Das bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch eingedrungene Wort von der „Sinnkrise“, das etwas von den Problemen der westlichen Arbeitswelt ausdrückt, ist in anderen Zusammenhängen – wie etwa unter extrem ausbeuterischen Arbeitsbedingungen – völlig unangebracht. Wo elementare Rechte vorenthalten werden, ist es nicht zuerst an den Betroffenen, dem einen „Sinn“ abzugewinnen. Die im Folgenden angesprochenen Krisenphänomene der westlichen Arbeitswelt beruhen jedoch nicht primär auf der Missachtung elementarer Rechte, sondern m. E. auf einem Sinndefizit, das sich in Form von Angst- und Suchtreaktionen pathologisch ausprägen kann.
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Menschen, die unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus ihrer Arbeit nachgehen, ohne sie in einem grundlegenden Zusammenhang mit ihrem eigenen personalen Sinnhorizont deuten zu können. Viele wissen nicht, warum sie arbeiten, und begeben sich doch ganz in eine Struktur, die sie darin unterstützt, sich selbst und die eigene Sinnfrage zu verdrängen. Oberflächenphänomene wie der „Workaholismus“ und die wachsende Zahl von „burn outs“ und Depressionserscheinungen im Arbeitsleben lassen Züge unpersönlicher Arbeit erkennen. Das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit und mit ihr der menschlichen Arbeit ist hier verloren gegangen. Die Webersche Persönlichkeit, die sich und ihre personalen Sinndimensionen systematisch zugunsten einer äußerlichen Funktionsfähigkeit unterdrückt, erscheint als Vorstufe des modernen „Workaholic“. Diese pathologischen Phänomene scheinen mir der sichtbare Ausdruck eines prekären Lebens „in der Spannung“ zu sein, dessen immer rastlosere Betriebsamkeit letztlich keinen Grund hat.30 Was bedeuten diese Phänomene nun für eine Ethik der Arbeit? Reagieren lässt sich darauf nur mit einem gehaltvollen ethischen Kriterium. Damit sind wir bei dem anderen Feld, in dem ein Blick auf Weber lehrreich, aber auch herausfordernd ist. Es betrifft die Möglichkeit einer Ethik als philosophischer oder theologischer Disziplin. Ist man wie Weber der Auffassung, dass auch die Wissenschaft zu einer zirkulären, in sich sinnlosen Praxisform geworden ist, bleibt für ein sozialethisches Urteil epistemologisch kein Raum mehr. Bleibt man angesichts der hinter der „Sache“ verschwindenden Personen einfach stumm? Ohne die uferlose Diskussion um Webers Postulat einer wertfreien Wissenschaft hier nachzuzeichnen, ist erkennbar, dass Weber selbst mit dem Verzicht auf ethische Urteile immer wieder gehadert hat. Dies lässt sich gut an der Schlusspassage der Protestantischen Ethik zeigen. Dort heißt es: Aus der Sorge um die äußeren Güter habe das „Verhängnis“ „ein stahlhartes Gehäuse“ werden lassen.31 Diese Güter gewannen eine „zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwi-
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Diese jungen, verbreiteten Phänomene bedürfen gründlicher empirischer Klärung. Vgl. zum Workaholismus Heide (2002). Vgl. Weber (1920b), 203.
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chen.“32 Und weiter: „Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung. Dann allerdings könnte für die „letzten Menschen“ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: „Fachmenschen“ ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“33 Wer wird bestreiten, dass hier sprachgewaltig die versteinerten Formen des Kapitalismus und der Bürokratie beklagt werden und ein erneuerter „Geist“ als Ausweg aus dem „stählernen Gehäuse“ angedeutet wird? Es liegt nahe, hier mit Wilhelm Hennis einen Einspruch für den Menschen gegenüber einer erstarrten Technokratie zu hören. Aber Webers Unentschiedenheit zeigt sich schon, wenn er der zitierten Stelle sogleich anfügt, damit sei das „Gebiet der Wert- und Glaubensurteile“ betreten, „mit welchen diese rein historische Darstellung nicht belastet werden soll.“34 Die Schlusspassage der Protestantischen Ethik zeigt zumindest, dass Weber Unbehagen verspürte, auf ethische Urteile einfach zu verzichten. Er sah sich aber auch nicht in der Lage, das selbst angelegte Korsett der Werturteilsfreiheit zu lösen und sich den Möglichkeiten einer philosophischen Ethik zu öffnen. Ihre Rudimente finden sich in der immer wieder eingeschärften Pflicht, das „eine, das not tut“ zu tun, der „Sache“ zu dienen oder der „Forderung des Tages“ zu genügen.35 Weber beschränkt sich auf den individuellen Appell zur Affirmation rationalisierter, kapitalistischer Strukturen, an welchen er doch zu leiden schien. Die Rede von der unpersönlichen Arbeit, wie sie sich im Ausgang von Max Weber nahelegt, stellt eine ethische Überlegung somit vor eine doppelte Aufgabe: Einerseits gilt es konkret zu erwägen, wie dem Geist der „unpersönlichen Arbeit“ zu begegnen ist. Angesichts der Tatsache, dass Webers Befund keine bereichsethische Mikrodiagnose 32 33 34
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Weber (1920b), 204. Weber (1920b), 205. Weber (1920b), 205. Diese Spannung, die der Text selbst bietet, ist ernst zu nehmen. Sie lässt sich nicht einfach auflösen, indem man das Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft in eine Forderung nach „Freiheit zur praktischen Wertung“ umdeutet. Vgl. Hennis (1987), 45. Vgl. Weber (1917), 84, 102, 111.
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darstellt, die auf ein bestimmtes Problem hinweist, sondern den epochalen Geist eines gesellschaftlichen Gefüges kennzeichnet, ist dies zwar eine konkrete, jedoch sehr umfassende ethische Aufgabe. Andererseits führt Webers Diagnose ein metaethisches Problem mit sich: Der Geist unpersönlicher Arbeit verdrängt die Person nicht nur aus der kapitalistischen Arbeit, sondern auch aus der Wissenschaft und verunmöglicht so eine wissenschaftlichen Ethik. Die Pflicht der Persönlichkeit, der „Sache“ zu dienen, reicht für eine sozialethische Reflexion, wie sie die katholische Soziallehre kennt, nicht aus. Dies soll nun ein abschließender Blick auf Laborem exercens deutlich machen.
3. PERSONALE ARBEIT ALS LEITKATEGORIE EINER THEOLOGISCHEN ARBEITSETHIK In der Enzyklika Laborem exercens aus dem Jahr 1981 widmet sich Johannes Paul II. anlässlich des neunzigjährigen Jubiläums von Rerum novarum eingehend der philosophischen und theologischen Deutung der menschlichen Arbeit. Wie die Sozialverkündigung des polnischen Papstes insgesamt, so hat auch Laborem exercens ein recht positives Echo gefunden.36 Ohne auf die Enzyklika im Detail eingehen zu können, sei im Folgenden der Versuch unternommen, im Anschluss an ihre Grundbestimmungen eine ethische Reflexion auf das Phänomen der unpersönlichen Arbeit zu skizzieren. Der Leitgedanke der Enzyklika ist, dass die menschliche Person und ihre Arbeit in einem Sinnzusammenhang stehen. Arbeit ist personale Arbeit und gewinnt von daher ihre spezifische Würde, die sich in ethische Zielbestimmungen auf individueller wie struktureller Ebene übersetzten lässt: „Denn es steht außer Zweifel, dass die menschliche Arbeit ihren Wert hat, der unmittelbar und direkt mit der Tatsache verbunden ist, dass der, welcher sie ausführt, Person ist.“37 Die Arbeit ist actus personae. Sie steht im Dienst der kreatürlichen Entfaltung des Menschen, der Kultivierung seiner mitmenschlichen Gemeinschaft und letztlich auch der Ehre Gottes, womit der letzte Sinngrund allen kreatürlichen Seins in den Horizont des Arbeitens aufgenommen ist. „Als Person ist der Mensch daher Subjekt der Arbeit. Als Person arbeitet er und vollzieht die verschiedenen Handlungen, die 36
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Vgl. Klein/Krämer (1982) mit Beiträgen u.a. von Walter Kerber, Friedhelm Hengsbach und Oswald von Nell-Breuning. Laborem exercens, 6.
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zum Arbeitsprozess gehören; unabhängig von ihrem objektiven Inhalt müssen diese alle der Verwirklichung seines Menschseins dienen, der Erfüllung seiner Berufung zum Personsein, die ihm eben aufgrund seines Menschseins eigen ist.“38 Diese Bestimmung gibt einer ethischen Reflexion über Arbeit eine spezifische Kontur. Das wird gerade im Kontrast zu Weber deutlich, indem ein anderer metaethischer Standpunkt eingenommen wird. Einer philosophischen Ethik wird hier ein materiales Kriterium für ethische Urteile angeboten: Arbeit dient der Entfaltung der Person. Das ethische Urteil fußt dabei nicht auf einer argumentativ nicht einholbaren Setzung, sondern ergibt sich aus der Hinordnung der Arbeit auf die Entfaltung der Person. Damit ist auch der Grund für eine wissenschaftliche Ethik gelegt, die die Zielbestimmung menschlicher Arbeit zur Geltung bringen soll. Im Unterschied zu Webers minimalistischer „Ethik“, die sich auf die Affirmation kapitalistischer Strukturen in der Aktualisierung ihres Geistes beschränkt, erwächst hier die Möglichkeit eines kritischen Urteils. Erst dann lässt sich von einer Ethik überhaupt sprechen. Die elementare Sinneinheit, in der die Person und ihre Arbeit stehen, soll – so vermerkt Johannes Paul II. nachdrücklich – unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus ihr kritisches Potenzial entfalten.39 Der integrale Zusammenhang von Person und Arbeit zeigt dabei die Grundlinien eines ethischen Programms, das den Einzelnen ermächtigt, seine Arbeit als Entfaltung seiner selbst und der Gemeinschaft, in der er lebt, zu begreifen. Dies verlangt nach Strukturen, die es Menschen ermöglichen, ihre eigene Arbeit als sinnerfülltes Tätigsein zu verstehen. Von einem solchen Boden aus lassen sich Fragen nach der Gerechtigkeit wirtschaftlicher Strukturen, des Lohnes oder anderer Arbeitsbedingungen, überhaupt erst stellen. Webers Aufruf, der „Forderung des Tages“ genüge zu tun, fehlt dagegen die ethische Urteilskraft, ein „stahlhartes Gehäuse“ aufzubrechen. Andererseits lässt sich gerade bei Weber lernen, dass die Strukturen des Kapitalismus Produkte eines Geistes sind, der diese Strukturen bis in die habituelle Prägung des arbeitenden Menschen hinein verlängert. Insofern fragt die Enzyklika zu Recht nach dem rechten Ver38 39
Laborem exercens, 6. Die entschiedene Betonung des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital, sowie die Absage an den „harten Kapitalismus“ und sein exklusives Eigentumsverständnis haben im unmittelbaren Nachklang zur Enzyklika zu lebhaften Diskussionen geführt. Vgl. Ludwig (1982).
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ständnis von Arbeit, indem es die subjektive Seite der Arbeit beleuchtet. Gegenüber diesem Argumentationsstrang wurde geltend gemacht, dass er die ethische Bestimmtheit der Enzyklika abschwäche, indem lediglich abstrakt über den Menschen gesprochen werde.40 Nimmt man Weber jedoch ernst, zeigt sich, dass eine reine Strukturenethik dem Hang zur Unpersönlichkeit des kapitalistischen Geistes allein nicht Herr werden kann. Das „stahlharte Gehäuse“ muss auch von innen gesprengt werden. Für die einzelne arbeitende Person gilt, dass sie ihre Arbeit nur dann mit sich selbst in einem dynamischen Sinnhorizont sehen kann, wenn sie sich diesem Horizont öffnet und ihm Raum gibt. Daher schließt das Hinwirken auf eine sinnvolle personale Arbeit auch die Frage nach dem guten Leben des arbeitenden Menschen ein. Laborem excercens verliert diesen Aspekt nicht aus den Augen, wenn die personale Aneignung der eigenen Arbeit beleuchtet und – für den christlichen Kontext – auch eine Spiritualität der Arbeit umrissen wird.41 Im Ausgang von Laborem exercens werden somit die Grundzüge einer ethischen Reflexion auf das Phänomen der unpersönlichen Arbeit erkennbar. Mit der personalen Fundierung der Arbeit bietet die Enzyklika ein materiales Kriterium, um gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen kritisch zu befragen. Die ethische Herausforderung, die von Max Webers Analyse kapitalistischer Arbeit ausgeht, ist jedoch umfassender als die Frage nach gerechten Strukturen. Es bedarf eines umfassenden sinnstiftenden Engagements, das Strukturen der Arbeitswelt und Haltungen der arbeitenden Menschen gleichermaßen im Blick behält. Den strukturell Benachteiligten dürfen strukturelle Verbesserungen nicht vorenthalten werden. Manch anderem, der am Sinnverlust in der modernen Arbeitswelt verzweifelt, wird man jedoch schon dadurch helfen können, dass man sein Vertrauen in den Sinn seiner Arbeit und seines Lebens stärkt. An diesem dringlichen Dienst kann die Kirche als Ganze mitwirken. Er geht über die Expertise der Sozialethik hinaus, da jeder Einzelne wie auch die christlichen Gemeinschaften angehalten sind, sinnstiftend zu wirken und so die Haltungen wie die Strukturen unpersönlicher Arbeit zu wandeln.
40 41
Vgl. Hengsbach (1982). Ob eine Spiritualität der Arbeit nicht auch andere Formen annehmen kann, sei hier dahingestellt. Zunächst ist es bemerkenswert, dass überhaupt ein Zusammenhang zwischen geistlichem Leben und „weltlicher“ Arbeit hergestellt wird. Vgl. dazu Kroh (1982), 52.
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Webers Genealogie des kapitalistischen Geistes ermutigt jedoch nicht nur zu einer den kapitalistischen Arbeitstypus transformierenden Mission, sondern auch zur selbstkritischen Rückfrage. Es gilt, sich mit Weber daran zu erinnern, dass der „Geist des Kapitalismus“ gerade eine Frucht des Christentums sein soll. Weber denkt zwar selbst in konfessionell recht exklusiven Schablonen und traut den „Geist des Kapitalismus“ nur dem Protestantismus zu. Aber auch die katholische Theologie sollte sich selbstkritisch fragen, wo sie einen solchen Welt und Natur entwertenden Geist befördert hat. Liest man etwa in Laborem exercens von den bibeltheologischen Grundlagen menschlicher Arbeit, erstaunt angesichts der heute unübersehbaren ökologischen Probleme, wie stark dort auf den Herrschaftsauftrag und die Unterwerfung der Schöpfung abgehoben wird. Es ist uns heute klarer, dass die Wunden kapitalistischer Weltbeherrschung nur durch einen Geist geheilt werden können, der der Schöpfung wie der Natur des Menschen eine grundsätzliche Integrität einräumt und sie nicht zur widergöttlichen Verfügungsmasse menschlicher Machtbestrebungen degradiert. Lehrt nicht das Beispiel des puritanischen Unternehmers, wie Weber ihn schildert, dass Gott über alles Weltliche erhaben zu wissen, auch ein Vorwand sein kann, sich Natur und Welt in schädlicher Weise zu bemächtigen? Eine christliche Positionsbestimmung gegenüber dem in Struktur und Geist mächtigen Phänomen der kapitalistischen Arbeit verlangt nach Klärung des eigenen Gottesbegriffs. Dies lässt sich gerade von Weber lernen, auch wenn er dem Christentum nach der großen es selbst erledigenden Entzauberung aus dem eigenen Schoß nichts mehr zutrauen wollte. Eine christliche Theologie muss in Webers Rekonstruktion des Gott-Welt-Verhältnisses in der Geschichte des abendländischen Christentums vor allem ein zentrales Motiv vermissen: die Inkarnation. So richtig es ist, dass die protestantische Theologie Gott und Mensch weiter getrennt hat und nicht mehr durch ein metaphysisches Band verbunden wissen wollte, so geschah dies doch im Bestreben, das zentrale Heilsgeschehen, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, in radikaler Weise zu denken. Ein in der Geschichte handeln könnender Gott, so die Überzeugung von Luther bis Karl Barth, ist zwar von der Welt radikal verschieden, aber ebenso radikal an der Welt und dem Heil des Menschen interessiert, dass er sich ganz auf sie einlässt. Steht dieser Gedanke im Mittelpunkt des christlichen Glaubens, erwächst christliches Handeln – und damit auch christliche Arbeit – zuerst aus einem Leben der Hoffnung, das Welt und Natur des
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Menschen in ihrer Ganzheit einschließt. Gott erhöht die menschliche Person, nicht indem er sie überwindet, sondern indem er sie „in Stand“ setzt und die Fülle personalen Lebens und mithin personaler Arbeit will.
Literatur Heide, Holger (Hg.), Massenphänomen Arbeitssucht – historische Hintergründe und aktuelle Entwicklung einer neuen Volkskrankheit, Bremen 2002. Hengsbach, Friedhelm, Die gesellschaftliche Dimension der menschlichen Arbeit, in: Klein, Wolfgang/Krämer, Werner (Hgg.), Sinn und Zukunft der Arbeit. Konsequenzen aus Laborem exercens, Mainz 1982, 95-99. Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung, in: Ders., Max Webers Fragestellung, 3-58, Tübingen 1987. Klein, Wolfgang/ Krämer, Werner (Hgg.), Sinn und Zukunft der Arbeit. Konsequenzen aus Laborem exercens, Mainz 1982. Kroh, Werner, Laborem exercens aus der Sicht politischer Theologie, in: Klein, Wolfgang/Krämer, Werner (Hgg.), Sinn und Zukunft der Arbeit. Konsequenzen aus Laborem exercens, Mainz 1982, 48-58. Ludwig, Heiner, Also doch antikapitalistisch? Zum Selbstverständnis der katholischen Soziallehre nach Laborem exercens, in: Klein, Wolfgang/Krämer, Werner (Hgg.), Sinn und Zukunft der Arbeit. Konsequenzen aus Laborem exercens, Mainz 1982, 59-71. Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, in: Sämtliche Werke, hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 5, München 1980, 345-412. Radkau, Joachim, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München/Wien 2005. Scheler, Max, Ethik und Kapitalismus. Zum Problem des kapitalistischen Geistes, Berlin 1999. Schluchter, Wolfgang, Die Paradoxie der Rationalisierung. Zum Verhältnis von „Ethik“ und „Welt“ bei Max Weber, in: Ders., Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt 1980, 9-40. Tyrell, Hartmann, Worum geht es in der „Protestantischen Ethik“? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, in: Saeculum 41 (1990), 130-177.
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Weber, Max, Wissenschaft als Beruf, in: Max Weber Gesamtausgabe, hrsg. von Horst Baier u.a., Bd. 17, Tübingen 1992, 70-111. Weber, Max, Vorbemerkung, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, 8. photomechan. Nachdruck, 1-16. Weber, Max, Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, 8. photomechan. Nachdruck, 17-206.
Arbeit und das kritische Potenzial von Gerechtigkeitsvorstellungen
Prekäre Beschäftigung und Anerkennung – Eine Missachtungsphänomenologie1 Stefanie A. Wahl
1. EINLEITUNG Seit den großen Arbeitsmarktreformen zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich der deutsche Arbeitsmarkt einem massiven Wandel unterzogen. Eine Folge ist unter anderem die Zunahme an atypischen und prekären Beschäftigungsverhältnissen, die gesellschaftliche und soziale Konsequenzen nach sich ziehen. Als „prekär“ wird Erwerbsarbeit dann bezeichnet, „wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird.“2 Die Arbeit eines prekär Beschäftigten erfährt also innerhalb der Gesellschaft auf verschiedensten Ebenen weniger Anerkennung, als die eines „normal“ Beschäftigten und birgt somit soziales Konfliktpotenzial. Insgesamt ist die Anzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse von 1998 bis 2008 um 46,2%3 angestiegen und betrifft 7,7 Millionen Menschen. Als häufigste Formen atypischer Beschäftigung in Deutschland gelten: Leih- und Zeitarbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, sowie Mini- und MidiJobs. All diese Arbeitsformen entsprechen nicht dem Normalarbeitsverhältnis und bergen damit die Gefahr prekär zu sein und Menschen in eine prekäre Lebenssituation zu zwingen. Dieser Artikel widmet sich dem hier bereits angedeuteten Zusammenhang zwischen prekärer Beschäftigung und Anerkennung oder gerade der Nicht1
2 3
Überarbeitete Version des bereits erschienenen Artikels: Wahl, Stefanie A. (2011): Prekäre Beschäftigung und Anerkennung, in: Austausch. German Studies Online Journal, Vol. 2, No. 2, 36 – 55. Brinkmann Dörre/Röbenack (2006), 17. Vgl. Böckler Impuls 13/2010.
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Anerkennung und Missachtung in und durch Arbeit. Die Sozialphilosophie liefert mit der Anerkennungstheorie den entsprechenden theoretischen Rahmen. In einem ersten Schritt gilt es das Thema Prekarisierung und prekäre Beschäftigung genauer zu betrachten. Zweitens ist eine Bestimmung des Zusammenhangs von Arbeit und Anerkennung innerhalb der Anerkennungstheorie von Axel Honneth nötig und anschließend erfolgt eine Kontextualisierung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in die sozialphilosophische Tradition der Anerkennungstheorie.
2. PREKARISIERUNG UND PREKÄRE BESCHÄFTIGUNG Der öffentliche Diskurs um Prekarisierung setzte in Deutschland 2006 ein, als die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) eine Studie zu „Gesellschaft im Reformprozess“ veröffentlichte und darin 8% der Bundesbürger als „abgehängtes Prekariat“ betitelt wurden. Die Studie hat zum einen „das neue Prekariat aus dem Schutzraum akademischer Zirkel entlassen“4 und auf der anderen Seite die Ängste um einen neuen Klassenkampf geschürt. Als eine „deutsche Sondersituation“ bezeichnen dies Robert Castel und Klaus Dörre im Vergleich mit der langjährigen französischen sozialwissenschaftliche Debatte rund um die Begriffe Prekariat, Prekarität, Prekarisierung und prekär. Pierre Bourdieu u.a mit seinem Artikel „Prekarität ist überall“ und Robert Castel mit seinem Werk „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ gelten als Stammväter der Diskussion und boten Anschlussmöglichkeiten für die deutsche Debatte. Brinkmann, Dörre und Röbenack haben 2006 im Auftrag der FES ein Papier zu „Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse“ vorgelegt und unternahmen in diesem den Versuch der deutschen Debatte rund um Prekarisierung eine Grundlage zu geben. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die These, dass „die Ausbreitung atypischer und häufig prekärer Beschäftigungsverhältnisse samt der damit einhergehenden Ausbreitung sozialer Unsicherheit zu den prägenden Merkmalen eines nach-fordistischen Produktionsmodells gehört“5 und sehen die Ursache für das Einsetzen der Prekarisisierung auf der ökonomisch-politischen Ebene. Auf dieser fanden die Entscheidungen statt, die den Prozess der Prekarisierung von Be4 5
Vogel (2006). Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 6.
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schäftigungsverhältnissen ausgelöst haben. Der Wechsel hin zu einer auf Flexibilisierung und Deregulierung ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik liegt in der neoliberalen Wende in den 70er Jahren begründet. Die Krise der fordistischen Produktionsweise, die sich in der wirtschaftlichen Krise der 70er Jahre ausdrückte u.a. durch geringe Produktivitätssteigerungsraten und steigende Arbeitslosigkeit, führte zur Einführung neuer Formen betrieblicher Rationalisierungs- und Reorganisationsstrategien, wie Dezentralisierung und Vermarktlichung. Damit wurde der Versuch unternommen „Zugriff auf bislang nur begrenzt zugängliche Ressourcen und Potenziale von Arbeitskraft“6 zu erhalten. Dezentralisierung meint die Neuordnung der Wertschöpfungsketten und Vermarktlichung beschreibt die Öffnung und Unterwerfung der Unternehmen unter Marktzwänge und damit die Anpassung an Marktbewegungen. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu gewährleisten und zu steigern, wurde die Forderung nach flexiblen und deregulierten Arbeitsmärkten laut, die den Prinzipien Dezentralisierung und Vermarktlichung entsprachen. „In der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und im Übergang zu möglichst marktgerechten Löhnen wird der entscheidende Ansatzpunkt gesehen, um die strukturelle Arbeitslosigkeit zu überwinden“7. Damit wurde die Verantwortung in die Hände der Politik gelegt, die nun aufgefordert war, vor allem seitens der wirtschaftlichen Akteure, oben genannte Arbeitsmarktbedingungen herzustellen. In den 1980er Jahren trugen diese neo-klassischen Forderungen dann erste Früchte, in den 1990er Jahren wurde der Prozess forciert und gipfelte in den Hartz-Gesetzen der Schröder Regierung. Der angestoßene Prozess führte zu einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und löste, wie Brinkmann und Dörre zeigen, die Prekarisierung von Erwerbsarbeit in Deutschland aus.8 Das Normalarbeitsverhältnis hatte sich in Deutschland in der fordistischen Nachkriegswirtschaft etabliert und ist gekennzeichnet durch: eine Vollzeitbeschäftigung oder eine Teilzeittätigkeit mit einer Wochenarbeitszeit von mindestens 21 Stunden, ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis, die volle Integration in die 6 7 8
In Schweiger (2009), 44, zitiert nach: N. Kratzer: Arbeitskraft in Entgrenzung, 39. Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 8. Diese unsicheren und prekären Beschäftigungsbedingungen sind, aus neoklassischer Perspektive, gar nicht existent, vielmehr erfüllen sie eine „Brückenfunktion“ um Arbeitslose in Arbeit zu bringen. Damit wird „prekär“ aus bourdieu’scher Perspektive zum „politischen Kampfbegriff“, der sich „gegen die Theodizee, das Glaubenssystem neoklassischer Ökonomie richtet“ (vgl., Brinkmann/ Dörre/ Röbenack (2006), 8).
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sozialen Sicherungssysteme, die Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis.9 Des Weiteren kann noch hinzugefügt werden, dass für das Normarbeitsverhältnis auch charakteristisch ist, das als „Kernerwerbstätigem“ dem Beschäftigten auch umfangreiche Partizipationsrechte zukommen, die durch das Betriebsverfassungsgesetz und das Mitbestimmungsgesetz geregelt sind. Diese Rechte entstammen vor allem dem „sozialen Kompromiss des Industriekapitalismus“ zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat, ebenfalls aus der Gründungszeit nach 1949. 2011 macht das NAV noch einen Anteil von 60% aller Beschäftigungsverhältnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt aus. In den letzten 10 Jahren ist ein immenser Zuwachs der bereits erwähnten atypischen Beschäftigungsverhältnisse zu verzeichnen – allein von 1998 bis 2008 ein Anstieg von 46,2%. „Atypisch“ ist eine Beschäftigung dann, wenn sie „von den im Kern des Arbeitsmarktes üblichen Standards abweicht“10. Das Statistische Bundesamt zählt zu diesen Beschäftigungsformen: Teilzeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger Arbeitsstunden pro Woche, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung sowie Zeitarbeitsverhältnisse. Laut Statistischem Bundesamt befanden sich 2008 7,7 Mio. ArbeitnehmerInnen in atypischer Beschäftigung, was einem Anteil von ca. einem Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse entspricht. Die Anzahl der Teilzeitbeschäftigten liegt bei 4,9 Mio., der der befristet Beschäftigten bei 2,7 Mio., bei Zeit- und Leiharbeiterfirmen sind 610.000 Beschäftigte unter Vertrag und 2,5 Mio. Menschen sind nur geringfügig beschäftigt. Ob atypische Beschäftigungsverhältnisse das NAV verdrängen oder nicht, ist umstritten, aber vor allem neugeschaffene Arbeitsplätze sind häufig atypische. So ist fast jede zweite Neueinstellung eine befristete (46%) und auch die Zahl der Teilzeitbeschäftigten hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt von 4,45 Mio. auf 8,7 Mio. Im Folgenden sollen die Formen von atypischer Beschäftigung genauer erläutert werden und dabei ihre Funktion und die Auswirkungen auf die Beschäftigten im Vordergrund stehen.
9 10
Statisches Bundesamt (2009), 8. Diözesanrat der Katholiken der Erzdiözese München und Freising (2010), 7.
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2.1 Teilzeitarbeit Teilzeitarbeit wird zur atypischen Beschäftigungsform, wenn die durchschnittliche Wochenarbeitszeit unter 21 Stunden liegt. Es handelt sich um eine flexible Beschäftigungsform, da sie dem Beschäftigten „ein besseres Gleichgewicht zwischen Berufs- und Familienleben, Bildung, Freizeitgestaltung oder bürgerschaftliches Engagement“11, ermöglicht und damit vor allem als Sprungbrett für Frauen zurück in den Arbeitsmarkt dienen soll. Und tatsächlich ist Teilzeitarbeit vor allem Frauenarbeit mit einem Anteil von 75%12 aller Teilzeitbeschäftigten. Die Förderung von Teilzeitbeschäftigung ging vor allem aus dem Flexibilisierungsvorhaben des Arbeitsmarktes hervor. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz trat in Deutschland 2001 in Kraft und beinhaltet den Anspruch des Arbeitnehmers auf Verkürzung und auf Verlängerung der Arbeitszeit. Es sollte eine Befreiung des Arbeitnehmers werden und vor allem für Frauen die Möglichkeit bieten Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen und sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber tatsächlich wird Teilzeitbeschäftigung häufig zur Warteschleife auf eine Vollzeitbeschäftigung, in der vor allem Frauen festhängen und damit die Freiwilligkeit der Teilzeitbeschäftigung nicht mehr gegeben ist. Problematisch ist dies vor allem deswegen, „weil Einkommen und Versorgungsansprüche aus Teilzeitarbeit keine eigenständige Existenzsicherung zulassen“13. Des Weiteren lässt sich ein Trend zu einem Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigung zu Gunsten nicht sozialversicherungspflichtiger Teilzeitbeschäftigung beobachten.14
2.2 Befristete Beschäftigung Bei einem befristeten Arbeitsverhältnis ist das Ende der Beschäftigung festgesetzt und es bedarf keiner Kündigung mehr. Die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse steigt stetig und hat sich seit 1991 fast verdoppelt. Dabei trifft es fast immer junge Menschen und mehr Frau-
11
12 13 14
EUROFOUND Definition „Part-time work“, URL: http://www.eurofound.europa. eu/areas/industrialrelations/dictionary/definitions/PARTTIMEWORK.htm, Mai 2009. Vgl. Wagner (2011). Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 33. Vgl. Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 33f.
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en als Männer. Für den Arbeitnehmer hat ein befristetet Arbeitsverhältnis zunächst „nur“ die Konsequenz, dass seine Beschäftigung nur für einen begrenzten Zeitraum gesichert ist, bevor möglicherweise Arbeitslosigkeit droht. Aber aus dieser begrenzten Beschäftigungszeit ergeben sich weitere Nachteile: Da Abfindungszahlungen, Kündigungsschutz, Prämien und Zusatzrenten häufig an eine Mindestbeschäftigungsdauer gebunden sind, hat der befristet Beschäftigte keinen Anspruch darauf. Insgesamt sinken damit die Verpflichtungen des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer. Bis 1985 war eine befristete Beschäftigung ohne sachlichen Grund bei Neueinstellung maximal für ein Jahr möglich. Heute sind es bis zu zwei Jahre, bei neu gegründeten Unternehmen bis zu vier Jahren. Für den Beschäftigten bedeutet diese Beschäftigungsform vor allem Unsicherheit und führt zu Brüchen in der Erwerbsbiographie, was sich negativ auf die soziale Sicherung auswirken kann. Die angesprochene Unsicherheit erschwert die Lebensplanung und der Diözesanrat München merkt an: „Wenn ein Viertel aller Beschäftigten unter 25 Jahren nur einen befristeten Arbeitsvertrag hat, ist es nicht verwunderlich, wenn die Entscheidung für Kinder immer weiter hinausgezögert wird – bis es dann vielleicht zu spät ist.“15
2.3 Leiharbeit Die Leiharbeit ist die wohl meist thematisierte Form atypischer Beschäftigung in Deutschland. Bei der Leiharbeit16 handelt es sich um ein „Dreiecksverhältnis“. Hier wird nicht, wie beim Normalarbeitsverhältnis, zwischen zwei Vertragsparteien ein Arbeitsvertrag geschlossen, sondern es kommt ein Zwischenhändler in Spiel. So genannte Zeitarbeits- oder Leiharbeitsagentur schließen Verträge mit ArbeitnehmerInnen ab. Die Agentur vermittelt dann den Arbeitnehmer an ein Unternehmen – das Unternehmen leiht den Arbeitnehmer aus. Als gesetzliche Grundlage für die Leiharbeit dient das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG), das 2004 neu in Kraft trat. War die Überlassungsdauer, also der Einsatz eines Leiharbeiters, bis dahin begrenzt (drei Monate und wurde dann schrittweise auf 24 Monate ausgeweitet), so schaffte das AÜG sie völlig ab. Außerdem wurde das Synchronisationsverbot abgeschafft, welches regelte, dass Leiharbeiter ledig15 16
Diözesanrat der Katholiken der Erzdiözese München und Freising (2010), 21. Auch Zeitarbeit genannt.
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lich parallel zu einem Entleih-Einsatz einzustellen sind. Zwar wurde zur Verbesserung der Stellung der Leiharbeiter die tarifliche Entlohnung eingeführt, dennoch liegen die Löhne überwiegend unter denen der Leihbetriebe. Damit wird die eigentliche Funktion von Leihund Zeitarbeit ad absurdum geführt. Die flexibel einsetzbaren Arbeitskräfte sollten den Unternehmen die Möglichkeit bieten, bei plötzlich steigendem Personalbedarf, der zeitlich begrenzt war, auf Personal zurückgreifen zu können, dass sie nicht gleich ans Unternehmen binden müssen, also eine Überbrückungsoption darstellen. Der flexible Leiharbeiter hatte damit auch einen höheren Preis, er wurde für seine Flexibilität bezahlt und verzichtete damit auf einen festen Vertrag und einen sicheren Arbeitsplatz. In der deutschen Arbeitsmarktrealität dienen Leiharbeiter aber vor allem dazu eine Konkurrenzsituation innerhalb der Unternehmen zu schaffen, indem sie für weniger Geld arbeiten. Unternehmen gründen auch eigene Leiharbeiterfirmen, wie im Falle der Telekom die Tochterfirma Vivento, um bei Bedarf schnell auf Leiharbeiter Zugriff zu haben oder um Mitarbeiter „zwischenzulagern“17. In diesen Fällen dient Leiharbeit der Verdrängung der Normalarbeit. Dass die Leiharbeit ihre Funktion auch erfüllen kann bezüglich schneller Entlassung und Einstellung des Personals, zeigt die Weltwirtschaftskrise. Leiharbeiter litten am meisten unter dieser, da es zu massenhaften Entlassungen kam, was gleichzeitig auch wieder die Problematik der Leih- und Zeitarbeit offenbart. Durch die zu geringen Löhne gibt es kein Polster auf das Leiharbeiter finanziell zurückgreifen können, um damit ggf. Zeiten die Nichtbeschäftigung ausgleichen können. Die permanente Unsicherheit, der die Leiharbeiter ausgesetzt sind und die schlechten Aussichten aus Leiharbeit eine Festanstellung zu bekommen, machen die Leiharbeit nicht nur zu einer extrem prekären und ausbeuterischen Beschäftigungsform, sondern auch zum Symbol für den Wandel der auf dem deutschen Arbeitsmarkt stattgefunden hat. Wie bei der Teilzeitarbeit und bei der befristeten Beschäftigung besteht die Gefahr, dass die soziale Sicherung eines Leiharbeiters gefährdet ist und beispielsweise Altersarmut droht. Für Gewerkschaften und Betriebsräte ist es zudem sehr schwierig die Position der Leiharbeiter zu stärken, da sie nicht die Rechtsposition eines regulär Beschäftigten haben, sowohl Schutzrechte als auch Partizipationsrechte werden dadurch für einen Leiharbeiter eingeschränkt. 17
Vgl. Diözesanrat der Katholiken der Erzdiözese München und Freising (2010), 16.
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2.4 Geringfügige Beschäftigung (Mini-Jobs) Definiert wird eine geringfügige Beschäftigung über das monatliche Einkommen, das 400 € im Monat nicht übersteigt. Daher stammt auch die Bezeichnung 400€-Jobs oder Mini-Jobs. Die Hartz-Gesetze aus dem Jahr 2003 regelten diese Form der Beschäftigung neu, indem die Verdienstgrenze für Minijobs von 325 € auf 400 € angehoben und die 15Stundengrenze abgeschafft. Die Versicherungspflicht in Nebenjobs wurde aufgehoben, die Gesamtabgaben für die Arbeitgeber auf 25 Prozent festgelegt, die Mitte 2006 auf 30 Prozent angehoben wurden.18 Die gesetzlichen Rahmenbedingungen machen auf den ersten Blick deutlich, warum es sich bei Mini-Jobs um eine atypische und prekäre Beschäftigungsform handelt. Neben der geringen Bezahlung besteht bei einem Mini-Job keine Sozialversicherungspflicht. Zwar zahlt der Arbeitgeber einen Arbeitgeberanteil in die Sozialkassen ein, diese werden aber dem Arbeitnehmer nicht gut geschrieben. Häufig werden im Zuge einer geringfügigen Beschäftigung arbeits- und tarifrechtliche Ansprüche nicht gewährt, obwohl sie dem Beschäftigten zustehen. Der Arbeitgeber kann hier von der prekären Lage des Beschäftigten und der Verfügbarkeit von potenziellen Arbeitskräften profitieren. Häufig nutzen Arbeitgeber die Form der geringfügigen Beschäftigung um teurere Vollzeitstellen nach und nach abzubauen, was die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses weiter vorantreibt. Mini-Jobs gelten zwar als gute Nebenverdienstmöglichkeit für Studierende oder bereits sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (ca. 32%), stellen aber für viele Beschäftigte die einzige Einnahmequelle da. Diesen Beschäftigten droht im Vergleich zu den bereits genannten Gruppen am häufigsten die Altersarmut, da sie über die geringfügige Beschäftigung nicht in die Rentenversicherung einzahlen.
3. ARBEIT UND ANERKENNUNG Der Wert und die Bedeutung von Arbeit für die Gesellschaft und die in ihr lebenden Menschen haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Heute könnte man unsere Gesellschaft als „Arbeitsgesellschaft“ beschreiben, in der „die Verteilung der gesellschaftlichen Güter, der Lebenschancen, des gesellschaftlichen Ansehens und
18
Vgl. Keller/Seifert (2009).
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des individuellen Selbstwertgefühls bei uns weitgehend über die Erwerbsarbeit geregelt ist“19 und damit Erwerbsarbeit selbst ein sehr hoher Stellenwert zukommt. Ein guter Job bedeutet entsprechend gesellschaftliche Anerkennung. Der Begriff der Anerkennung ist für die heutige sozialphilosophische Debatte von großer Bedeutung. Axel Honneth sorgte mit seiner 1992 veröffentlichten Anerkennungstheorie für diese Renaissance.
3.1 Honneths Anerkennungstheorie und die Anerkennung in und durch Arbeit Ausgangspunkt von Axel Honneths Anerkennungstheorie ist die Annahme, dass “Erfahrung von Anerkennung die intersubjektive Voraussetzung der menschlichen Identitätsentwicklung [ist], die es dem Menschen ermöglichen, sich als gleichberechtigtes und zugleich einzigartiges Mitglied einer Gesellschaft [zu] begreifen“20. Honneth führt dabei Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie, die die Bedeutung von Anerkennung für die menschliche Entwicklung und Identitätsbildung betonen, mit den sozialphilosophischen Analysen Hegels und Meads zur intersubjektiven Anerkennung zusammen. Entscheidend für die Subjektbildung sind drei verschiedene Ebenen der Anerkennung: Liebe, Recht und Solidarität. Liebe oder emotionale Bejahung bezieht sich auf die Primärbeziehungen des Subjekts, also Freundschaften, Partnerschaften, Elter-Kind-Beziehungen, usw. und sind in der Sphäre der Familie zu verorten. Gegenseitige Anerkennung findet aber auch auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene statt. Das posttraditionale Rechtssystem basiert auf der Annahme, dass sich die Rechtssubjekte gegenseitig als Personen anerkennen, „weil sie denselben Gesetzen gehorchen“21. Die dritte Ebene bezieht sich auf „die Anerkennung besonderer Eigenschaften, Leistungen und Beiträge in Bezug auf geteilte Werte und Ziele, die in die Gesellschaften eingelassen sind“22 und wird Ebene der sozialen Wertschätzung oder auch als Solidarität bezeichnet. Honneths Analyse impliziert aber auch ein gesellschaftlich-dynamisches Moment. Kommt es auf einer dieser Ebenen zu einer Verletzung der „impliziten Regeln der wechselseitigen Anerken19 20 21 22
Haeffner (1999), 18. Schweiger/Pleitler (2010), 338. Becka (2009), 95. Schweiger/Pleitler (2010), 338.
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nung“23, so wird diese zu einer Unrechtserfahrung und kann zur Motivation für Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung werden und ist als Kampf um angemessene soziale Anerkennung zu verstehen. Was bedeutet also Anerkennung in und durch Arbeit konkret innerhalb der Anerkennungstheorie? In seinem Artikel „Arbeit und Anerkennung – Versuch einer Neubestimmung“24 beruft sich Honneth unter anderem auf Hegels und Durkheims Analysen zur gesellschaftlichen Funktion von Arbeit, die zeigen, dass der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation moralische Prinzipien innewohnen, die zur Legitimität des Systems beitragen. Ausgangspunkt ist für beide das Prinzip der Arbeitsteilung, welches eine sozialintegrative Wirkung hat. Für Hegel liegt die integrative Leistung des Systems darin, dass die „subjektive Selbstsucht des Einzelnen“ zur Bedürfnisbefriedigung in die individuelle Bereitschaft, „zur Befriedigung aller anderen tätig zu sein“ verwandelt wird. Die eigene Tätigkeit trägt zum allgemeinen Wohl bei. Allerdings ist die Bereitschaft, auf solche Weise zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen, nun umgekehrt an die Voraussetzung einer entsprechenden Gegenleistung geknüpft: Jeder Teilnehmer an dem marktvermittelten Leistungsaustausch hat das Recht, sein Brot zu verdienen. 2. Errungenschaft: System der wechselseitigen Abhängigkeit, das die ökonomischen Subsistenz aller seiner Mitglieder sichern muss. Dieses System von wechselseitigen Abhängigkeiten erzeugt Solidarität unter den MarkteilnehmerInnen. Sie ergibt sich aus der ökonomischen Wirklichkeit, so Durkheim. Die Perspektive der Sozialintegration, so Honneth, ist notwendig um „den Markt weiterhin als Teil der sozialen Lebenswelt“ zu analysieren und kann erklären, „dass gekämpft und aufbegehrt wird und nicht bloß mit strategischer Apathie reagiert wird“25. Im Anschluss an Honneth hat Stephan Voswinkel den Versuch unternommen eine anerkennungstheoretische Soziologie der Arbeit zu entwickeln. Voswinkel bringt die Kategorien „Bewunderung und Würdigung“ ins Spiel. Damit grenzt er sich von einer Arbeitssoziologie des Interesses in marxistischer Tradition ab und betont bewusst die Notwendigkeit der Anerkennungsdimension, die trotz der Dominanz der ökonomischen Dimension wie folgt zu begründen ist: „Aber weil die Arbeitskraft zwar ohne die Person angemietet, nicht aber ohne sie eingesetzt werden kann, spielt die Personalität des Arbeitnehmers 23 24 25
Honneth (1992), 241. Vgl. Honneth (2008). Honneth (2008), 341.
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eben doch eine Rolle bei der Produktion.“26 Anerkennungstheoretisch werden die beiden Kategorien von Voswinkel auf der Ebene der sozialen Wertschätzung eingeordnet und während Bewunderung als „primär kompetitiver Kampf“ zu sehen ist, ist die Kategorie Würdigung „gemeinschaftsorientiert“. Voswinkel begründet diese Mithilfe einer historischen Analyse von Anerkennungskämpfen der Arbeiterschaft, beispielsweise während der Industrialisierung, die zur Entstehung von Gewerkschaften, also Repräsentationsorganisationen, führte. „Diese beiden Formen [Bewunderung und Würdigung] von Anerkennung als sozialer Wertschätzung konstituieren Selbstschätzung und schätzen die „Ehre“ und Würde der Beschäftigten“27 und sorgen für die Möglichkeit der präziseren Bestimmung von Anerkennung in der Arbeit.
3.2 Ebenen der Anerkennung Arbeit bzw. Erwerbsarbeit ist Teil gesellschaftlicher Anerkennungsverhältnisse, wie Honneth und Voswinkel aufgezeigt haben. Dabei spielen alle drei Ebenen der Anerkennungstheorie eine Rolle. Erwerbsarbeit lässt sich zunächst als rechtlichen Status beschreiben, da ein Arbeitsverhältnis ein Rechtsverhältnis ist. Im deutschen Kontext kommen dann noch das Arbeitsrecht, die Mitbestimmungsgesetze und das Betriebsverfassungsgesetz hinzu. Arbeit ist aber vor allem auf Ebene der Solidarität wiederzufinden bzw. der sozialen Wertschätzung. Honneth betont die sozialintegrative Wirkung der Arbeitsteilung und auch Voswinkel ordnet die Komponenten Würdigung und Bewunderung auf dieser Ebene ein bzw. teilt die Ebene der sozialen Wertschätzung so auf. Mit dieser Kategorisierung bringt er auch Rechte am Arbeitsplatz und soziale Rechte durch Arbeit von der Ebene der kognitiven Achtung auf die Ebene der sozialen Wertschätzung und Würdigung. Auch die Entlohnung der Arbeit fällt in diesen Bereich. Schweiger und Pleitler stimmen in ihrem Text „Umkämpfte Arbeit – umkämpftes Leben“ zu und betonen „Entgelt, Rechte am Arbeitsplatz, Einbindung in das soziale Sicherungssystem sind ebenso Formen der Anerkennung wie Karrieremöglichkeiten, Statussymbole und Mitbestimmungsmöglichkeit“28. Partizipationsmöglichkeiten, Koalitionsfreiheit und Interessenvertretung spielen ebenfalls eine wichtige Rol26 27 28
Voswinkel (2001), 283. Schweiger/Pleitler (2010), 340. Schweiger/Pleitler (2010), 340.
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le. Die Ebene Liebe oder emotionale Zuwendung ist ebenfalls relevant, da für den Arbeitnehmer der Arbeitsplatz auch Ort des Miteinanders ist und Freundschaften entstehen können, die auch zur Identitätsbildung beitragen. Schweiger und Pleitler unterscheiden weiter zwischen drei Ebenen, Mikro-, Meso- und Makroebene, und ermöglichen eine präzisere Bestimmung der Anerkennungsformen in den Arbeitsbeziehungen und verdeutlichen die verschiedene Akteure und Bereiche in den Anerkennung ermöglicht, aber auch verweigert werden kann. Insgesamt wird aber Anerkennung in und durch Arbeit vor allem auf der gesellschaftlichen Ebene gelegt, durch Prominenz, Reputation, Prestige (Bewunderung), Entgelt, Rechte am Arbeitsplatz, soziale Rechte verbunden mit Arbeit (Würdigung) und Menschenrechte, Bürgerrechte, Sozialrechte (kognitive Achtung). Die Mesoebene umfasst Bonuszahlungen und Ehrungen (Bewunderung), Senioritätsprinzip und Jubiläen (Würdigung), sowie Gleichbehandlung und Partizipation (kognitive Achtung). Die Mikroebene betrifft alle frei Anerkennungsebenen und beinhaltet Liebe, Sympathie und Freundschaft (emotionale Bejahung), Lob (Bewunderung, Dankbarkeit (Würdigung) und Höflichkeit und Respekt (kognitive Achtung). Die Einordnung macht auch deutlich, dass die Analyse immer auf Basis eines bestimmten „Wertehorizonts“ stattfindet, was hier bedeutet, dass wir Arbeitsverhältnisse in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf Basis des „sozialen Kompromisses des Industriekapitalismus“29 beschreiben. Referenzpunkt bei Missachtungserfahrungen ist damit das bereits genauer charakterisierte Normalarbeitsverhältnis. Missachtungserfahrungen sind auch der Ausgangspunkt für Axel Bohmeyers Versuch einer „Reaktualisierung des Arbeitsbegriffs“ in einem anerkennungstheoretischen Kontext, um den es im Folgenden gehen soll.
3.3 Missachtungserfahrungen Missachtungserfahrungen gelten in Honneths Theorie als „Triebfeder sozialer Konflikte und Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung“30 und lösen Anerkennungskämpfe aus. In einer Gesellschaft, die sich selbst als Arbeitsgesellschaft begreift, ist Erwerbsarbeit ein wichti29 30
Castel (2009), 21. Schweiger/Pleitler (2010), 339.
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ger Teil der Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse und betrifft innerhalb der Anerkennungstheorie vor allem die Ebene der sozialen Wertschätzung. Missachtungserfahrungen auf dieser Ebene repräsentieren „ein gesellschaftliches Leiden, das mit der gesellschaftlichen Verteilung und Bewertung von Arbeit zusammenhängt“31. Für Axel Bohmeyer war dies der Ausgangspunkt zur Erstellung einer Phänomenologie der Missachtungserfahrungen. Dabei widmet er sich drei Problemfeldern, die für ihn relevant erscheinen. Zunächst beschreibt er Missachtungserfahrungen, die durch die Bewertung der Arbeit bzw. eben genau durch das Ausbleiben der Bewertung entstehen. Als Beispiel führt er das Problem von unbezahlter Arbeit auf, das vor allem Frauen betrifft. Bohmeyer stellt fest: „Es existiert eine gesellschaftliche Ordnung der Anerkennungswürdigkeit der verschiedenen Arbeitsformen, die festlegt, welches Maß an sozialer Wertschätzung der Einzelne für seine Arbeit erwarten kann. Die Subjekte können sich der sozialen Wertschätzung nicht schon dadurch versichern, dass sie eine ihnen zugeordnete Tätigkeit erledigen. Denn die soziale Anerkennung einer Arbeit ist von einem gemeinsamen Konzept des guten Lebens abhängig.“32 Die gesellschaftliche Ordnung der Anerkennungswürdigkeit oder der „Wertehorizont“ werden zum Maßstab gesellschaftlicher Anerkennung. Arbeit unterliegt damit keiner wertfreien Beurteilung, sondern den „impliziten Regeln“ der jeweiligen Gesellschaft. Hausarbeit und andere Reproduktionsarbeiten sind zwar Arbeit, zählen aber nicht zur Erwerbsarbeit und auch die Referenzfolie des oben angesprochenen Normalarbeitsverhältnisses kann nicht angewendet werden. Die innergesellschaftliche Differenzierung von menschlicher Arbeit „per se“ und Erwerbsarbeit ist hier das Problem. Bohmeyer behauptet zwar, dass die Nichtbewertung „Unrechtsempfinden“ hervorruft, erklärt aber nicht warum. Aber die durch solche Unrechtserfahrungen angestoßenen Anerkennungskämpfe wollen erreichen, „dass im Bereich der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein geschichtlicher Umdeutungsprozess in Gang gesetzt wird“33. Eine weitere Form der Missachtung in der Bewertung der Arbeit entsteht durch Differenzierung zwischen den Formen der Arbeit. Berufe können innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Anerkennung erfahren, was
31 32 33
Bohmeyer (2006), 232. Bohmeyer (2006), 233. Bohmeyer (2006), 234.
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sich beispielsweise in unterschiedlicher Entlohnung ausdrückt. Ein Beispiel wäre die Debatte um die Begrenzung von Managergehältern. Arbeitslosigkeit sieht Bohmeyer als zweites wichtiges Missachtungsphänomen. In einer Gesellschaft in der Erwerbsarbeit einen so hohen Stellenwert hat, wie in der heutigen Arbeitsgesellschaft, bedeutet der Ausschluss von eben jener Erwerbsarbeit auch, dass verwehrt bleiben von gesellschaftlicher, sozialer Wertschätzung. Geringeres Einkommen, weniger soziale Sicherheit, sowie auf psychischer Ebene ein geringeres Selbstwertgefühl sind die konkreten Folgen. Mithilfe der Anerkennungstheorie lässt sich begründen, dass durch die Arbeitslosigkeit „die personale wie soziale Identität des Arbeitslosen“ bedroht wird und sie damit „die negative Kehrseite der identitätsbildenden Kraft der Erwerbsarbeit“34 darstellt. Zuletzt arbeitet Bohmeyer Missachtungserfahrungen durch Entfremdung auf. Wird gesellschaftliche Arbeit „als ein moralisch orientierter Handlungsprozess beschrieben“35, so löst die Erfahrung von der „Enteignung der eigenen Arbeitstätigkeit“36, also entfremdete Arbeit, moralische Empörung aus. Damit entsteht ein Anspruch auf selbstbestimmte Arbeit. Durch die „Subjektivierung von Arbeit“ schien das Entfremdungsproblem der Arbeit im Kapitalismus überwunden worden zu sein, doch Bohmeyer selbst merkt an, dass sich Arbeit zwar einem Wandel unterzogen habe, aber die „kapitalistische Gesellschaftsordnung sich parasitär an einem einstmals emanzipatorischen Forschritt bedient, den normativen Fortschritt bisweilen in das Gegenteil verkehrt und so Entfremdungstendenzen hervorruft“. Der Begriff der Subjektivierung der Arbeit kann zur Ideologie werden und der „Arbeitskraftunternehmer“37 zum Ideal. Während sich gut ausgebildete Arbeitskräfte in diesem Ideal wiederfinden, ist das bei Geringqualifizierten und/oder Beschäftigten, die überwiegend körperliche Arbeiten verrichten nicht immer der Fall. Die Gefahr liegt des Weiteren darin, dass Subjektivierung zur Leistungsoptimierung des Arbeitnehmers instrumentalisiert wird und damit der Arbeitnehmer selbst einer größeren Ausbeutung ausgesetzt wird. Hier drückt sich die Doppeldeutigkeit des Subjektivierungsbegriffs aus. Deswegen fordert Bohmeyer, dass „zwischen solchen Anerkennungsformen unterschieden werden [muss], die die persönliche Autonomie steigern, und 34 35 36 37
Bohmeyer (2006), 236. Bohmeyer (2006), 240. Bohmeyer (2006), 240, aus: Honneth (1980), 223. Vgl. Pongratz/Voß (2003).
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solchen, die für gegenteilige ideologische Zwecke eingesetzt werden“38. Leider endet Bohmeyers Phänomenologie an dieser Stelle, denn auch prekäre Beschäftigung kann aufgrund ihrer Beschaffenheit zur Missachtungserfahrung werden. Eine entsprechende Einordnung soll im Folgenden unternommen werden.
4. MISSACHTUNGSERFAHRUNGEN DURCH PREKÄRE BESCHÄFTIGUNG Prekarisierung, so haben Brinkmann und Dörre festgestellt, ist vor allem ein Prozess der Entstandardisierung. Im Falle von Beschäftigung heißt das, dass das gesellschaftlich anerkannte Beschäftigungsmodell, das Normalarbeitsverhältnis, durch Prozesse der Flexibilisierung und Deregulierung erodiert und durch neue, atypische Beschäftigungsformen ersetzt wurde. Doch nicht nur das Normalarbeitsverhältnis erodiert, auch die sozialen Anerkennungsstrukturen werden angegriffen bzw. es kommt zunehmend zu Missachtungserfahrungen in und durch Arbeit. Brinkmann und Dörre schlüsseln diese Missachtungserfahrungen in Desintegrationspotenzialen auf verschiedenen Ebenen auf. Sie identifizieren insgesamt fünf Dimensionen39: Die reproduktiv-materielle Dimension zielt auf das Einkommen. Erwerbsarbeit ist prekär, wenn die ausgeübte Beschäftigung kein existenzsicherendes Einkommen garantiert. Stattdessen ist es unter Umständen notwendig mehreren Erwerbstätigkeiten nachzugehen, um ein „gesellschaftlich anerkanntes kulturelles Minimum“40 zu erreichen. Die sozial-kommunikative Dimension deutet auf Erwerbsarbeit und ihre soziale Integrationsfunktion hin. Der Arbeitsort ist hier gleichzeitig Ort der Arbeit und Ort des Miteinanders. Die rechtlich-institutionelle oder Partizipationsdimension weist auf die sozialen und Partizipationsrechte hin, die institutionell verankert sind und dem Arbeitnehmer zugesichert werden. Bei den sozialen Rechten handelt es sich meistens um Schutzrechte, wie Kündigungsschutz, oder Sicherungsrechte, wie Renten- oder Arbeitslosenversicherung. Des Weiteren geht es um Mitbestimmungs- bzw. Partizipationsrechte, die beispielsweise durch das Betriebsverfassungs- oder das Mitbestimmungsgesetz garan38 39 40
Bohmeyer (2006), 243. Vgl. Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 18. Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 18.
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tiert werden. Im Fall von prekärer Beschäftigung kommt es zum (teilweisen) Ausschluss von diesen Rechten und Partizipationsmöglichkeiten. Bei der Status- und Anerkennungsdimension „handelt sich um eine Sphäre symbolischer Konflikte, die auf vielfältige Weise mit materiellen Interessenkämpfen verflochten sind“41, d.h. die Erfahrung sozialer Missachtung der Arbeit. Die letzte Dimension beschreiben Brinkmann und Dörre als arbeitsinhaltliche Dimension, die dann betroffen ist, „wenn die Berufstätigkeit von dauerhaften Sinnverlust begleitet ist oder wenn sie im Gegenteil zu einer krankhaften Überidentifikation mit Arbeit führt“42. Die Folgen sind beispielsweise der Anstieg bei den Burn-out-Syndrom Erkrankungen und Probleme im privaten/familiären Bereich, da keine Zeit mehr für das Privatleben bleibt. Schweiger und Pleitler greifen diese Desintegrationspotenziale auf, um mit deren Hilfe prekäre Beschäftigung anerkennungstheoretisch zu interpretieren. Wie bei Bohmeyer ist auch ihr Ausgangspunkt die Missachtungserfahrungen, die in prekärer Beschäftigung enthalten sind und deuten diese vor allem als ein strukturelles (Anerkennungs-) Problem. Aus diesem Grund verknüpfen sie die Dimensionen von Prekarität mit den drei Ebenen der Anerkennung und stellen dem die entsprechende Form der Missachtung gegenüber. Mithilfe dieser Zuordnung ist es mir möglich auch die konkreten Formen von prekärer Beschäftigung entsprechend zu interpretieren. Die bereits erläuterte erste, reproduktiv-materielle Dimension betrifft die Ebene der sozialen Wertschätzung. Die finanzielle Vergütung von Arbeit stellt eine wichtige gesellschaftliche Funktion von Arbeit dar, die Verteilungsfunktion. Reicht das Einkommen, das durch Arbeit erzielt wird nicht aus, um „ein gesellschaftlich anerkanntes kulturelles Minimum“ zu erreichen, dann wird das geringfügige Einkommen zu einem Exklusionsmechanismus. Zudem drückt geringe Bezahlung eine Geringschätzung gegenüber dem Beschäftigten und seiner Arbeit aus. Beschäftigungsformen, die diese Dimension betreffen, sind Teilzeitarbeit und Mini-Jobs, aber auch Leiharbeit kann davon betroffen sein. Die sozial-kommunikative Dimension betrifft zwei Ebenen der Anerkennung: die der sozialen Wertschätzung und die der emotionalen Zuwendung. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben häufig zur Folge, dass es für den Beschäftigten schwieriger ist, soziale Bindungen
41 42
Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 18. Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 18.
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am Arbeitsplatz auszubilden. Dies betrifft alle Formen prekärer Beschäftigung. Bei Leiharbeit und befristeter Beschäftigung ist die Konstitution des Beschäftigungsverhältnisses schon so angelegt, dass sie temporär begrenzt ist, was zwar nicht dazu führen muss, dass sich keine Bindungen ergeben, aber es ist schwerer solche aufzubauen. Das Fehlen solcher sozialen Netze am Arbeitsplatz/ bzw. –ort können durch Familie und soziales Umfeld ausgeglichen werden, dies ist aber nicht immer der Fall. Zu wissen, dass das Beschäftigungsverhältnis nicht von Dauer sein wird, sorgt auch dafür, dass das Gefühl der Geringschätzung entsteht. Vor allem bei Leiharbeit ist das der Fall, da hier ja meist mit Beschäftigten der Firma zusammengearbeitet wird, die ein „normales“ Beschäftigungsverhältnis haben. Der Vergleich macht die ungleiche Behandlung sofort deutlich. Aber auch Mini-Jobs und Teilzeitbeschäftigung beinhalten das Potenzial auf der sozialkommunikativen Ebene Missachtungserfahrungen zu machen, da der Aufenthalt am Arbeitsplatz auch begrenzt bzw. nicht Vollzeit ist. Die dritte Dimension, die des rechtlich-institutionellen Bereichs und der Partizipationsmöglichkeiten, beinhaltet Folgen für die zweite Anerkennungsebene, sowie für die dritte Ebene. Leiharbeit, Mini-Jobs und befristete Beschäftigungen gehen oft einher mit einem begrenzten Zugriff auf Partizipationsrechte bzw. den Ausschluss von Arbeitsrechten oder tariflichen Vorteilen. Bei der Leiharbeit ist durch die Vermittlungsagentur das Unternehmen „geschützt“ vor Verantwortung gegenüber dem Beschäftigten, d.h. während Kollegen im Entleihunternehmen Anspruch auf Sonderzahlungen oder die Möglichkeit von Einzahlungen in eine betriebliche Rentenkasse haben, bleibt dies dem Leiharbeiter verwährt. Auch von Lohnerhöhungen im Rahmen von neuen Tarifverträgen bleibt der Leiharbeiter ausgeschlossen. Bei Mini-Jobblern ist es noch gravierender. Diese werden sogar von den Sozialversicherungen ausgeschlossen und damit bleibt ihnen die soziale Absicherung völlig verwehrt. Für die Arbeit von Interessenvertretern, Gewerkschaften, Vertrauensleuten und Betriebsräten, ist dieser Ausschluss auch mit Problemen behaftet. Sie können oft nicht aktiv werden, wenn zum Beispiel ein Leiharbeiter über schlechte Arbeitsbedingungen im Entleihbetrieb klagt. Auch gehören Leiharbeiter nicht zur Stammbelegschaft und können daher im Falle einer Tarifauseinandersetzung nicht mobilisiert und sogar als Streikbrecher missbraucht werden. Ähnliches gilt für befristet Beschäftigte, die nur für einen begrenzten Zeitraum einen Vertrag haben, und Teilzeitbeschäftigte. Um die Option auf eine Verlängerung bzw. eine Aufsto-
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ckung zu erhalten, verzichten viele auf gewerkschaftliches Engagement und halten sich bei Lohnforderungen zurück, zugunsten eines möglicherweise unbefristeten Vertrages oder einer Vollzeitstelle. Die Status- und Anerkennungsdimension greift die Problematik rund um die gesellschaftliche Wertung von Tätigkeiten auf und erinnert an Bohmeyers Bewertungsdiskussion. Soziale Missachtung der Arbeit bzw. das Fehlen sozialer Wertschätzung für eine Arbeitsform ist an eine „gesellschaftliche Ordnung der Anerkennungswürdigkeit“ geknüpft. Hier sind vor allem die Mini-Jobbler betroffen, aber auch die Leiharbeiter. Die soziale Wertschätzung, die der Beschäftigte für seine Arbeit erwarten kann, befindet sich auf einem niedrigen Niveau. Der Name Leiharbeit drückt gewissermaßen schon eine Ersetzbarkeit aus und auch der Mini-Jobbler unterliegt dem Vorurteil der Ersetzbarkeit. Herrscht viel Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, sei es durch hohe Arbeitslosigkeit oder in einem Berufssegment mit hoher Arbeitslosigkeit, dann wird das Gefühl der Ersetzbarkeit noch verstärkt. Bei der arbeitsinhaltlichen Dimension fällt es schwer eine Zuweisung zu machen. Brinkmann und Dörre sprechen hier das Thema des Sinnverlustes an oder das Überidentifizieren mit der Arbeit und sehen darin „mögliche Ursachen von Prekarität“. Vielleicht kann hier die Entfremdungsdebatte anschließen, die Bohmeyer bereits angedeutet hat. Der Diskurs um die „Subjektivierung von Arbeit“ und die durch das kapitalistische System vorgenommene parasitäre Umdeutung bzw. Ideologisierung sind als eine Ursache für das Ansteigen von Arbeitswut, Burn-out-Syndrom und andere „Pathologien der Arbeitswelt“43 zu sehen. Die bereits angesprochenen gesundheitlichen Folgen lassen Pleitler und Schweiger von Misshandlung in physischer und psychischer Form sprechen. Der Beschäftigte erfährt damit eine Entwürdigung und Beleidigung. Als gefährdete gelten auch hier wieder fast alle atypischen Beschäftigungsformen. Überstunden und hoher Arbeitseinsatz sind häufige Folgen von unsicherer Beschäftigung. Es geht um die Arbeitsplatzsicherheit und der entsprechende (Arbeits-) Einsatz gründet auf der Hoffnung auf eine feste Vollzeitanstellung. Die Tabelle (1) fasst die Ergebnisse der Analyse nochmals zusammen. Die hier vorgelegte Konkretisierung von prekärer Beschäftigung und Missachtungserfahrungen im Kontext der Anerkennungstheorie macht das soziale Konfliktpotenzial der Prekarisierung von Erwerbsarbeit deutlich. Missachtungserfahrungen auf allen Ebenen müssten, 43
Brinkmann/Dörre/Röbenack (2006), 18.
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folgt man der Theorie, zu entsprechenden Anerkennungskämpfen führen. Leider bleiben diese Kämpfe bis dato aus. Gewerkschaften, Sozialverbände und Kirchen weisen auf die Folgen der Prekarisierung für die Gesellschaft hin, finden aber auf politischer Ebene kaum Gehör. Die langwierige Mindestlohndebatte zeigt auch, dass man Möglichkeiten, die Symptome der Prekarisierung zu bekämpfen, erkannt hat, aber auch etwas hilflos der rasanten Entwicklung der Realitäten des Arbeitsmarktes gegenübersteht und prekäre Beschäftigung scheint zum neuen Merkmal des deutschen Arbeitsmarktes zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass Kampagnen wie die Decent Work Agenda der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder Gute Arbeit des Deutschen Gewerkschaftbundes (DGB) Früchte tragen und die Situation für die prekär Beschäftigten sich verbessert. Hat man Brinkmanns und Dörres Prekarisierungsthese vor Augen, wonach prekäre Beschäftigung vor allem als ein Merkmal des nachfordistischen Produktionsmodells zu sehen ist, so ist es notwendig, dass „eine wirksame Politik der Entprekarisierung (Mindestlöhne, Grundeinkommen, Selbstorganisation, solidarische Ökonomie) […] eine erneuerte „Sozialkritik des Kapitalismus“ zur Voraussetzung [hat]“44. Dimension von Prekarität
Form der Anerkennung
Form der Missachtung
Beschäftigungsform
Reproduktivmaterielle Dimension
Soziale Wertschätzung
Ausschließung, Entwürdigung, Geringschätzung und Stigmatisierung (bedroht: soziale Integrität; „Ehre“ und „Würde“; Prestige)
Teilzeit, Mini-Job
Sozialkommunikative Dimension
Soziale Wertschätzung; emotionale Zuwendung
Ausschließung, Entwürdigung, Geringschätzung und Stigmatisierung (bedroht: soziale Integrität; psychische Integrität; „Ehre“ und „Würde“; Prestige)
Leiharbeit, Mini-Job, Teilzeit, befristete Beschäftigung
Rechtlichinstitutionell oder Partizipationsdimension
Rechte und kognitive Achtung, soziale Wertschätzung
Entrechtung und Ausschließung (bedroht: soziale Integrität)
Leiharbeit, Mini-Job, befristete Beschäftigung
44
Dörre, Klaus (2007); Bezug auf Boltanski/Chiapello 2003.
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78 Status- und Anerkennungsdimension
Soziale Wertschätzung
Entwürdigung und Beleidigung, Geringschätzung und Stigmatisierung (bedroht: „Ehre“ und „Würde“; Prestige)
Mini-Job, Leiharbeit
Arbeitsinhaltliche Dimension
Soziale Wertschätzung, emotionale Zuwendung
Misshandlung, Entwürdigung und Beleidigung, (bedroht: psychische und physische Integrität; „Ehre“ und „Würde“)
Teilzeit, Leiharbeit, Mini-Job, befristete Beschäftigung
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Ausbeutung und Entfremdung: Zwei Perspektiven einer kritischen Bewertung des Umbruchs in der Arbeitswelt Martin Schneider
Seit dem 19. Jahrhundert bildet die Arbeit das „Epizentrum der sozialen Frage“1. In der 1981 erschienenen Enzyklika Laborem exercens bestätigt Johannes Paul II. diese Einschätzung: Die menschliche Arbeit, so der verstorbene Papst, ist „der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der gesamten sozialen Frage“2. Zwischenzeitlich, das heißt vor allem in den 1980er und 1990er Jahren, hat zwar die These vom Ende der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft „eine üppige soziologische oder pseudosoziologische Literatur aufblühen“3 lassen. Aber diese Diagnose war etwas voreilig. Hält man sich an die Zahlen und Fakten, dann hat die Erwerbsarbeit nach wie vor einen zentralen Stellenwert in der Sozialstruktur der Industriegesellschaften. „Trotz aller gegenteiligen Prognosen [...] ist es nicht zu einem Relevanzverlust der Arbeit in der gesellschaftlichen Lebenswelt gekommen.“4 Nach wie vor bildet für die Mehrheit der Bevölkerung die Rolle im organisierten Arbeitsprozess „die existentielle Grundlage für die Sicherung des Lebensunterhalts, die soziale Integration und die persönliche Entfaltung“5. Ja, dieser Anteil dürfte sogar noch erheblich zugenommen haben, „nachdem sich der Arbeitsmarkt in einem bislang nicht gekannten Maße für Frauen geöffnet hat“6. Die Arbeit hat aber nicht nur in statis1
2 3 4 5 6
Castel (2011), 37; vgl. Castel (2008). – Wenn in diesem Beitrag von der „Arbeit“ die Rede ist, ist immer die Erwerbsarbeit gemeint. Andere Formen von Arbeit wie die Familienarbeit oder die ehrenamtliche Arbeit sind nicht im Blick. Johannes Paul II. (1981), Nr. 3,2. Castel (2011c), 81. Honneth (2010a), 79. DBK/EKD (1997), Nr. 168. Honneth (2010a), 79.
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tischer Hinsicht seine Bedeutung in der Lebenswelt behalten. Dies gilt auch in normativer Hinsicht. Nicht zuletzt die Intensität der Leiden und täglichen Sorgen, die die Arbeit hervorrufen kann, verdeutlichen deren zentralen Stellenwert für das Leben des Einzelnen. Es gibt wahrscheinlich keinen anderen gesellschaftlichen Bereich, um den stärker die Nöte, Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung kreisen. Weil die Betroffenen normative Erwartungen an die Arbeitswelt haben, ist diese auch das klassische Objekt der Gesellschaftskritik. Paradigmatisch stehen hierfür die Kategorien der Ausbeutung und der Entfremdung. Im Folgenden wird dargelegt, inwieweit sich diese „alten“ Begriffe noch eignen, um aktuelle Tendenzen in der Arbeitswelt kritisch zu beleuchten. Dazu wird zunächst vorgeschlagen, von den subjektiven Erfahrungen von Arbeitnehmer(innen) auszugehen. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, warum subjektive Erwartungen auf eine Reartikulation und eine normative Begründung angewiesen sind. Im Anschluss an diese methodologischen Überlegungen werden die Kategorien Ausbeutung und Entfremdung als Artikulationsformen für Ungerechtigkeitsempfindungen eingeführt. Ausgehend von sozialgeschichtlichen Überlegungen wird die Bedeutung dieser beiden Kategorien für die Gesellschafts- und Kapitalismuskritik verortet. Daran anschließend wird die These für ihre bleibende Aktualität begründet und anhand von Situationsbeschreibungen plausibilisiert. Im letzten Abschnitt wird der Schritt von der Diagnose zur Therapie gewagt. Lösungsansätze, die Situationen der Ausbeutung und Entfremdung verhindern können, werden vorgestellt.
1. VON DEN SUBJEKTEN HER GEDACHT: NORMATIVE ERWARTUNGEN AN DIE ARBEITSWELT Die Behauptung von der Aktualität der Kategorien Ausbeutung und Entfremdung hat eine methodologische Voraussetzung. Sie geht davon aus, dass die Arbeitswelt auf der Basis von normativen Kriterien bewertet werden kann. Wer Arbeitsverhältnisse als ausbeuterisch und entfremdend anprangert, nimmt eine kritische Perspektive ein. Jede Kritik setzt aber einen normativen Maßstab voraus. In der christlichen Sozialethik erfüllt diese Rolle das Prinzip der Personalität. Demnach ist „das erste zu schützende und zu nutzende Kapital der Mensch ..., die Person in ihrer Ganzheit – ‚ist doch der Mensch Urheber, Mittel-
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punkt und Ziel aller Wirtschaft‘“7. Folglich darf der arbeitende Mensch nicht wie eine Ware behandelt werden. Diese Form einer Kritik ist nicht unbedeutend. Mit ihr sind aber auch Nachteile verbunden. Die Kriterien für die Bewertung sind dem kritisierten Gegenstand äußerlich. Die Folge davon ist: Die Analysen haben zum einen einen allgemeinen, oft auch abstrakten Charakter, zum anderen erscheint der Gegenstand nicht selten als ein „normfreies System“, an das aus einer externen Perspektive normative Kriterien angelegt werden. Gerade weil aber um die Arbeitswelt die konkreten Nöte, Sorgen und Hoffnungen der Menschen kreisen, bietet sich ein anderer Weg der Kritik und Bewertung an. Warum nicht von den Leidenserfahrungen der Betroffenen ausgehen und ihre normativen Erwartungen in den Blick nehmen? Lässt man nämlich die Arbeitnehmer(innen) selbst zu Wort kommen, wie dies zum Beispiel in Studien der französischen Soziologen Pierre Bourdieu (Das Elend der Welt) und François Dubet (Ungerechtigkeiten) der Fall ist8, dann zeigt sich, dass die Sphäre des Arbeitsmarktes kein „normfreies“, sich selbst regulierendes System ist. Beschäftigte haben an ihren Arbeitsplatz normative Erwartungen.9 Dies drückt sich zunächst in einem negativen Vokabular aus: Die Mehrzahl der Bevölkerung leidet unter den existierenden Arbeitsverhältnissen und sieht die vorherrschenden Strukturen für ungerecht an. Als Gründe nennen die Beschäftigten: Sie werden ungleich behandelt und diskriminiert, fühlen sich in ihren Leistungen nicht angemessen gewürdigt und sie werden in ihrer Integrität verletzt, weil sie „als bloße Arbeitskraft und nicht als Mensch“10 behandelt werden. Vor allem Dubets auf Interviews und Fragebogen beruhende Studie zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz macht auf 7
8
9 10
Benedikt XVI. (2009), Nr. 25. Benedikt XVI. beruft sich hier auf Gaudium et spes, Nr. 63. Vgl. Dubet (2008); Bourdieu (1997). – Bourdieus 1993 veröffentlichte Studie über die „alltäglichen Leiden an der Gesellschaft“ haben zu einer großen Aufmerksamkeit und Leserschaft geführt. Von Franz Schultheis und Kristina Schulz ist Bourdieus Forschungsansatz auf den deutschen Kontext übertragen worden (Studie Gesellschaft mit begrenzter Haftung; Schultheis/Schulz (2005)). In der 2010 veröffentlichten Nachfolgestudie Ein halbes Leben sind knapp vierzig biographische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch versammelt (Schultheis u. a. (2010)). Dubets 2006 veröffentlichte Studie über Ungerechtigkeitserfahrungen am Arbeitsplatz hat in Frankreich die gesellschaftliche Diskussion stark beeinflusst. In Deutschland nimmt die Rezeption zu. Hans J. Pongratz ist der Meinung, dass „sich Dubets Analyse in den wesentlichen Teilen als übertragbar auf deutsche Verhältnisse erweist“ (Pongratz (2011), 23). Vgl. Honneth (2010a), 80. Dubet (2008), 29.
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die normative Aktivität der Akteure aufmerksam.11 Die befragten Leiharbeiter(innen), Landwirte, Lehrer(innen), Dozent(inn)en, Kassierer(innen), Taxifahrer(innen) u. a. verfügen über kritische Kompetenzen und bringen soziales Leiden und Ungerechtigkeiten zur Sprache. „Statt ganz allgemein eine gesellschaftliche Situation zu beurteilen“, so Dubet, „sollte man sich fragen, inwiefern die Akteure ihre Situation und die Welt, in der sie leben, gerecht oder ungerecht finden“12. Martin Hartmann spricht in diesem Zusammenhang von „empirisch verifizierbaren Gerechtigkeitserwartungen der Subjekte“13. Dubets Ansatz müsste bei christlichen Sozialethikern auf Zustimmung stoßen. Denn zu deren Aufgaben zählt es nicht nur, Sozialprinzipien zu begründen und ihre Zuordnung begrifflich zu bestimmen. Für sie gilt auch der Auftrag der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, vor allem der Bedrängten“14 in den Blick zu nehmen. Daraus folgt ein Ansatz, der bei den Betroffenen und bei der konkreten sozialen Situation ansetzt.15 Auf diese Weise kann die christliche Sozialethik eine advokatorische Rolle einnehmen und jene Erfahrungen sozialen Leids und Unrechts thematisieren, „die aufgrund der Filterwirkungen der bürgerlichen Öffentlichkeit die Stufe der politischen Thematisierung und Organisation noch gar nicht erreicht haben“16.
2. NORMATIVE BEGRÜNDUNG VON ERFAHRUNGSGESÄTTIGTEN GERECHTIGKEITSERWARTUNGEN So richtig und einleuchtend es klingt, auch in normativen Reflexionen von den Erfahrungen der Betroffen auszugehen, so berechtigt scheint aber auch die Kritik daran zu sein. Der Soziologe Robert Castel zum Beispiel bezweifelt, „dass sich das Verhalten der sozialen Akteure, einschließlich ihrer Erfahrungen und Motive, begreifen lässt, ohne dass man den objektiven Zwängen, die auch ihr ganz persönli-
11 12 13 14 15 16
Dubet (2008), 17; vgl. dazu Potthast (2011). Dubet (2008), 47. Hartmann (2011), 12. Gaudium et spes (1965), Nr.1. Vgl. Schneider (2006a); ders. (2006b). Honneth (2003), 138.
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ches Erleben prägen, breiten Raum gewährt“17. Aus diesem Grund ist es seiner Ansicht nach notwendig, „übergreifende Prozesse, die die Weite der Gesellschaft durchziehen und die konkreten Situationen prägen“18, aufzudecken. Castel meint hier nicht nur die Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern auch die Rekonstruktion von sozialgeschichtlichen Entwicklungen. Eine aktuelle Situation muss, so seine These, stets in einen Transformationsprozess eingeordnet werden. Es bedarf „einer ‚Geschichte der Gegenwart‘, die das Heutige als vorläufiges Resultat einer Dynamik begreift, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat“19. Eine zweite Form von Kritik an Studien, die von subjektiven Erfahrungen ausgehen, hat eine normative Zielrichtung. Sie geht von der Tatsache aus, dass ein Gefühl der Empörung und Ungerechtigkeit immer auf eine angemessene Artikulation angewiesen ist. „Ein Gefühl der Ungerechtigkeit ist an sich noch keine Grundlage für Kritik“20, so der Sozialphilosoph Axel Honneth. Aus der puren Tatsache von Ansprüchen und Forderungen, die von bestimmten Gruppen angesichts der sozialen Lage oder der Arbeitssituation erhoben werden, kann nicht zwangsläufig auf deren moralische Rechtfertigbarkeit geschlossen werden. Es fehlt ihnen „jenes Element an nachweisbarer Vernünftigkeit, das sie erst zu gerechtfertigten Maßstäben einer immanenten Kritik machen würde“21. Luc Boltanski und Eve Chiapello unterscheiden deshalb zwei Ebenen der Gesellschaftskritik: „eine ursprüngliche Ebene, das Gefilde der nie ganz verstummenden Emotionen, die immer dann hochschlagen, wenn sich eine neue, empörende Situation ergibt, sowie eine zweite, theoretisch-argumentative Reflexionsebene, durch die eine ideologische Auseinandersetzung überhaupt erst möglich wird.“ Die zweite Ebene, so Boltanski und Chiapello weiter, setzt eine normative, an „universalistischen Werten“ orientierte „Deutungsressource“ voraus.22 Nur auf dieser Basis können zum Beispiel gerechtfertigte von ungerechtfertigten Erwartungen und Bedürfnissen unterschieden werden. Das von Boltanski und Chiapello empfohlene Verfahren trifft sich mit dem Vorschlag von Honneth. Auch dieser hebt die Bedeutung von „theoretischen Ressourcen“ hervor. Ohne diese, so 17 18 19 20 21 22
Castel (2011a), 52. Castel (2011a), 51. Castel (2011a), 50 f. Boltanski/Honneth (2009), 97; vgl. Honneth (2010a), 85 f. Honneth (2010a), 86. Boltanski/Chiapello (2006), 79 f.
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Honneth, würde man zu der absurden Konsequenz gezwungen sein, „alle Erwartungen als gerechtfertigt zu akzeptieren“23. Ausgehend von dieser Feststellung beschreibt er die Aufgaben einer normativen Gesellschaftskritik und bestimmt auf diese Weise das Verhältnis zwischen Theorie und Selbstverständnis der Akteure.24 Erstens soll „die Theorie ein bestimmtes historisches Narrativ und Bild der Moderne“ rekonstruieren. Zweitens ist es in den Augen von Honneth Aufgabe der Theorie, „mit Bezug auf die entsprechenden normativen Prinzipien die gerechtfertigten Erwartungen der Akteure zu reartikulieren“ und „den moralischen Charakter der artikulierten Erwartungen so klar wie möglich herauszustellen“. Dazu zählt drittens, die Akteure in der öffentlichen Debatte zu unterstützen und ihnen bei der Artikulation ihrer (oft impliziten) normativen Erwartungen und Ansprüche zu helfen. Die hier vorgebrachten Einwände gegen rein von subjektiven Erfahrungen ausgehende Studien sind berechtigt und weiterführend. Richtig ist aber auch, dass auf die oben erwähnten Studien von Bourdieu und Dubet die Einwände nicht zutreffen. So ist sich zum Beispiel Bourdieu der wechselseitigen Ergänzungsbedürftigkeit von subjektiven und strukturellen Analysen bewusst.25 Seine Studie blickt hinter die Oberfläche der offenkundigen Tatbestände und geht den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Abhängigkeiten nach.26 Auch Dubet liefert sich nicht einfach blind dem empirischen Material aus. Seine Studie ist in zweifacher Hinsicht „theoriegeleitet“27. Zum einen praktiziert er eine „Homologie von Akteuren und Soziologen“28 und stellt O-Töne aus Interviews zu Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz neben Aussagen soziologischer Autor(inn)en. Zum anderen liegen der Analyse des empirischen Materials drei zentrale
23 24 25 26
27 28
Boltanski/Honneth (2009), 96. Zum Folgenden vgl. Boltanski/Honneth (2009), 98-100. Vgl. Schneider (2006b), 156 f. Vgl. Bourdieu (1997), 825. – Bourdieu vergleicht die Aufgabe eines Gesellschaftsdiagnostikers mit der eines Arztes. Wie dieser die vom Körper des Patienten ausgesendeten diffusen Signale auf eine zu Grunde liegende Krankheit zurückführen muss, so soll der Gesellschaftsdiagnostiker jene strukturellen Mechanismen aufdecken, die das Leben leidvoll und oft unerträglich machen, sich aber auf der Ebene der Aussagen und der sichtbaren Zeichen nur in Gestalt von Verschleierungen enthüllen (vgl. Bourdieu [1997], 824-826; Schultheis [2004]; Schultheis/Schulz [2005], 586; Honneth [2000], 56-58). Hartmann (2001), 12. Potthast (2011), 35.
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Gerechtigkeitsprinzipien zugrunde: Gleichheit, Leistung und Autonomie. Diese drei Gerechtigkeitsprinzipien liefern den theoretischen Rahmen für die Auswertung der Ergebnisse. Dubet geht dabei davon aus, dass nicht nur er als Theoretiker das empirische Material ordnet. Auch die Gerechtigkeitsgefühle der Akteure werden seiner Ansicht nach von diesen Prinzipien geleitet, gewährleisten ihre Vernünftigkeit29 und verleihen den subjektiven Urteilen „das Siegel ihrer Moralität“30 Dadurch dass sich die Subjekte implizit oder explizit auf die Gerechtigkeitsprinzipien beziehen, werden die subjektiven Erfahrungen zu gerechtfertigten Erfahrungen: „Die Prinzipien der Gerechtigkeit“, so Dubet, „thronen nicht nach Art von Friedensrichtern über der Erfahrung der Ungerechtigkeit; sie bestimmen die kritischen Aktivitäten der Individuen, ihre normative Aktivität. Wir können auf diese Weise vom normativen Aspekt der gesellschaftlichen Erfahrung sprechen [...].“31 Die drei Gerechtigkeitsprinzipien bilden auch das zentrale Ordnungsprinzip für die Darstellung der empirischen Ergebnisse.32 Diese zeichnet sich dadurch aus, dass zwischen Äußerungen der befragten Arbeitnehmer(innen) und soziologischen Resümees gewechselt wird. Dadurch bietet diese Studie eine besondere Möglichkeit, die Erfahrung von Ungerechtigkeit nachzuempfinden und ihre Entstehung zugleich analytisch zu vergleichen. Im Grunde führt Dubet den von Boltanski, Chiapello und Honneth angemahnten zweiten Schritt einer Gesellschaftskritik aus: Mit Bezug auf einen normativen Theorierahmen reartikuliert er die gerechtfertigten Erwartungen der Akteure. Was aber fehlt, ist eine sozialgeschichtlich informierte Begründung der normativen Prinzipien. Dies ist nicht nur wichtig – um wie Castel –, die aktuelle Situation besser zu verstehen, sondern auch, um die in modernen Institutionen verkörperten normativen Prinzipien zu rekonstruieren. Honneth nennt dieses Vorgehen normative Rekonstruktion.33 Damit vermeidet man seiner Ansicht das Verfahren einer externen Kritik, bei dem Prinzipien zunächst losgelöst von der gesellschaftlichen Faktizität begründet werden, um sie dann in einem zweiten Schritt auf diese anzuwenden. Honneth favorisiert demgegenüber eine interne Kritik. Diese erfolgt „nicht von abstrakten, bloß gesollten Normen her“. Sie beruft sich 29 30 31 32 33
Vgl. Dubet (2008), 16 f. Dubet (2008), 17 f. Dubet (2008), 17. Vgl. Potthast (2011), 36. Vgl. Honneth (2011), 14-31.
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vielmehr „auf bereits institutionalisierte und daher weitgehend akzeptierte Prinzipien“; „sie muss daher rekonstruktiv verfahren, indem sie am historisch-sozialen Prozess die Normen offen legt, die aufgrund ihrer Institutionalisierung schon einen bestimmten Grad an sozialer Zustimmung vermuten lassen“.34 Das Interessante ist nun, dass Honneth in seiner Rekonstruktion des modernen Systems der Marktwirtschaft und der Arbeitswelt drei normative Erwartungen ausfindig macht, die den Gerechtigkeitsprinzipien Gleichheit, Leistung, Autonomie von Dubet entsprechen (ohne dass er explizit auf Dubet Bezug nimmt): Es soll nicht nur, so Honneth, „weitgehende Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit herrschen, sondern auch für allseitig ‚sinnvolle‘ Arbeitstätigkeiten“35 gesorgt sein. Im Folgenden werden diese drei Gerechtigkeitsprinzipien in ihrer negativen Ausprägung im Mittelpunkt stehen: als Erfahrung von Ausbeutung und Entfremdung.
3. EINFÜHRUNG DER KATEGORIEN AUSBEUTUNG UND ENTFREMDUNG 3.1 Artikulationsformen für Ungerechtigkeitsempfindungen Folgt man der Studie von Dubet, dann ist festzustellen: Die Arbeitnehmer(innen) beziehen sich meist nicht direkt auf eines der drei Gerechtigkeitsprinzipien; sie sprechen in negativer Form von Erfahrungen des Leidens und der Missachtung. Aus diesem Grund ordnet Dubet den drei Gerechtigkeitsprinzipien jeweils eine zentrale negative Ausprägung zu: Der Gleichheit die Diskriminierung, der Leistung die Ausbeutung und der Autonomie die Entfremdung. Die Ausgangsthese für die folgenden Überlegungen ist, dass die Kategorien Ausbeutung und Entfremdung als „versprachlichte Empörung“ angesehen werden können. Mit beiden Begriffen werden spezifische Ungerechtigkeitsempfindungen artikuliert. Damit wird nur zum Teil die Zuordnung von Dubet aufgegriffen. Auf die Kategorie der Diskriminierung wird nicht eingegangen. Dies hat nicht nur pragmatische, dem Umfang dieses Beitrages geschuldete Gründe. Es spricht auch vieles dafür, die Kategorie der Ausbeutung nicht nur auf den unfairen Leistungsaustausch, sondern auch auf die Diskriminierung und fehlende Gleichheit zu beziehen. So besteht zum Beispiel ein deutlicher 34 35
Boltanski/Honneth (2009), 113. Honneth (2011), 328.
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Zusammenhang zwischen der Nichtbeachtung von rechtlichen Vorschriften und dem Gefühl der Ausbeutung.36 Exempel hierfür sind unbezahlte Überstunden, illegale Arbeitszeiten, ignorierte Sicherheitsvorschriften und ungesetzlich verlängerte prekäre Beschäftigungsverhältnisse.37 In diesen Fällen rührt das Gefühl der Ungerechtigkeit daher, dass die Gleichheit negiert wird. Die Arbeitnehmer(innen) „stoßen auf eine Macht, die sie überwältigt und die Vorschriften zu ihren Gunsten verdreht. Sie werden manipuliert und wie Bürger zweiter Klasse behandelt.“38 Demgegenüber ist es ein Ziel der Gleichheit, dass asymmetrische Machtverhältnisse abgebaut werden und sich Arbeitgeber(innen) und Arbeitnehmer(innen) auf gleicher Augenhöhe begegnen können bzw. müssen.
3.2 Begriffsbestimmungen Die Grundlage für die weiteren Überlegungen sind die Begriffsbestimmungen:39 Die Kategorie der Ausbeutung verweist auf die Erfahrung von Armut und Ungleichheit. Als ausbeuterisch wird diese Situation angeprangert, weil sie als „Beraubung“ erlebt wird. Es wird „eine Verbindungslinie von der Armut der Armen zum Reichtum der Reichen [gezogen, M. S.], weil die Reichen nur insofern reich sind, als durch sie die Armen ärmer werden. Die Ausbeutung verbindet deshalb die Frage der Armut und der Ungleichheit mit der Frage des Egoismus der Reichen und der fehlenden Solidarität“40. Ausbeuterische Verhältnisse liegen u. a. dann vor, wenn der/die Arbeitnehmer(in) für seine Leistung keine angemessene Gegenleistung erhält und ihm/ihr ein angemessener Lohn vorenthalten wird.41 An diesem Beispiel zeigt sich: Eine Ursache für die Ausbeutung ist die Machtasymmetrie. Ohne rechtliche und soziale Absicherung ist der/die Arbeitnehmer(in) dem/der Arbeitgeber(in) schutzlos ausgeliefert. Diese(r) kann die
36
37 38 39 40 41
Vgl. Castel (2011b). – Dubet sieht den Zusammenhang zwischen Ausbeutung und Diskriminierung, insofern für ihn die Verteidigung der Rechte ein Zwischenglied zwischen Gleichheit und Leistung ist (vgl. Dubet [2008], 180-194). Vgl. Dubet (2008), 182. Dubet (2008), 189. Die folgenden Differenzierungen basieren auf Boltanski/Chiapello (2006), 80 f. Boltanski/Chiapello (2006), 613 Anm. 49. Vgl. Dubet (2008), 467.
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Arbeitsbedingungen und Löhne diktieren. Der „Mehrwert“, der aus diesem Verhältnis resultiert, geht an den/die Unternehmer(in). Die Kategorie der Entfremdung verweist auf die Erfahrung des Sinnverlustes.42 Das Fehlen von individueller Autonomie, Authentizität und Kreativität steht hier im Mittelpunkt. Man fühlt sich entfremdet, weil die Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft daran hindern, „ein ‚authentisches‘ Leben, ein wirklich menschliches Leben zu führen“43. Eine Quelle dafür ist die Kollision mit den Zwängen des Marktes und der Arbeitsorganisation. Letztere führt zu einer Situation der Entfremdung, wenn Tätigkeiten entweder mechanisiert und rationalisiert werden oder wenn die Kräfte des/der Arbeitnehmers(in) zu sehr beansprucht werden, so dass er/sie immer mehr erschöpft und ausgezerrt ist.44 Bereits diese stichpunktartigen Differenzierungen zeigen, dass sich die Kategorien Ausbeutung und Entfremdung gut dafür eignen, soziales Leiden zu reartikulieren und bestehende Verhältnisse zu kritisieren. Boltanski und Chiapello verknüpfen daher beide Kategorien mit den – ihrer Ansicht nach – zwei zentralen Traditionslinien der Kapitalismuskritik: mit der Sozialkritik und mit der Künstlerkritik. Während bei der Sozialkritik die Erfahrung von Ausbeutung im Mittelpunkt steht, ist es bei der Künstlerkritik die Entfremdung.45 Im Folgenden wird ausgehend von sozialgeschichtlichen Informationen die Bedeutung dieser beiden Kategorien für die Gesellschafts- und Kapitalismuskritik verortet. Daran anschließend wird die These für ihre bleibende Aktualität begründet und anhand von Situationsbeschreibungen plausibilisiert.
4. DIE AKTUALITÄT DER KATEGORIEN AUSBEUTUNG UND ENTFREMDUNG: SOZIALGESCHICHTLICHE ANMERKUNGEN Ausbeutung und Entfremdung sind zentrale Begriffe der kultur- und klassenkämpferischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihre
42 43 44
45
Zur Rehabilitierung der Kategorie der Entfremdung vgl. Jaeggi (2005). Boltanski/Chiapello (2006), 613 Anm. 49. Diese zwei entfremdenden Konsequenzen der Arbeitsorganisation resultieren zum einen aus der „tayloristischen Rationalisierung“ und zum anderen aus der „Subjektivierung von Arbeit“ (vgl. Dubet [2008], 312-342). Zu dieser Unterscheidung siehe auch Kap. 5.2 in diesem Beitrag. Vgl. Boltanski/Chiapello (2006), 81-84.
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„Hochzeit“ ist eng verknüpft mit der Sozialen Frage. Seit Ende des 19. Jahrhunderts trifft diese Ausgangssituation nicht mehr zu. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit wurde zwar nicht aufgelöst oder überwunden, er wurde aber durch den „sozialen Kompromiss“ befriedet. Der liberale Kapitalismus hat sich zu einem sozial gezähmten Kapitalismus gewandelt. Castel nennt drei Faktoren, die die Grundlage dafür bilden: „ein wachstumsabhängiges Einkommen, das nicht unter den Sozialhilfesatz rutscht, ein Arbeitsrecht, das der Arbeitgeberwillkür zunehmend Grenzen setzt, ein soziales Netz, das bei den hauptsächlichen Wechselfällen des Lebens wie Krankheit, Unfällen oder dem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess (Ruhestand) schützt.“46 Durch den „sozialen Kompromiss“ wurden zwar Ausbeutung und Entfremdung nicht völlig besiegt, die Arbeit wurde aber „dignifiziert, indem sie zur Grundlage von Rechten geworden ist“47. Das heißt: Es wurde nicht mehr nur der Nutzen des Arbeiters gesehen (bzw. „ausgenutzt“), sondern es wurde auch seine Würde anerkannt. Der ungeschützte und ausgebeutete Proletarier wurde zu einem geschützten Arbeitnehmer; er wurde zu einem Rechtssubjekt. Die wildwüchsigen Kräfteverhältnisse innerhalb des Lohnarbeiterverhältnisses wurden durch Rechtsverhältnisse ersetzt. Die These von der Überholtheit der Kategorien Ausbeutung und Entfremdung kann aber auch angezweifelt werden. Dafür spricht, dass der „soziale Kompromiss“ des Industriekapitalismus seit Mitte der 1970er Jahre ins Stocken geraten ist und wir einen Verfall von sozialen und rechtlichen Sicherheiten erleben. Castel spricht von einer „Wiederkehr der sozialen Unsicherheit“, einer „Unsicherheit, die in hohem Maße der Schwächung und Auflösung der schützenden Strukturen geschuldet ist, die sich im Inneren der Lohnarbeitsgesellschaft herausgebildet hatten“48. Seiner Ansicht nach stehen wir kurz davor, das Ende eines sozialstaatlich gesicherten Status der Lohnarbeit zu erleben. Castel hebt zwei Tendenzen hervor, die für diese Diagnose sprechen:49 Zum einen der Personabbau, der zu Arbeitslosigkeit führt und häufig auch scheinbar sichere Arbeitsplätze vernichtet. Zum anderen die massive Entwicklung zu Prekarität, Unterbeschäftigung und Niedriglöhnen. Verantwortlich dafür ist eine „Neuordnung des Kapitalismus“, der rund um die Finanzmärkte erfolgt und Hand in Hand 46 47 48 49
Castel (2011a), 15; vgl. Castel (2011b), 68. Castel (2011a), 68. Castel (2009), 27. Vgl. Castel (2011c), 79 f.
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geht mit einem starken Anreiz zur Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeit.50 Die Dominanz des internationalen Finanzkapitals verlangt von den Unternehmen maximale Renditen und zwingt sie dazu, „die Kosten der Arbeit so weit wie möglich zu senken und gleichzeitig ihre Produktivität so weit wie möglich zu steigern, was zu Personalabbau und ‚Outsourcing‘ von immer mehr Tätigkeiten unter immer stärker prekarisierten und weniger gesicherten Bedingungen führt“51. „Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherheiten gelten fortan als Hemmnisse für den kategorischen Imperativ der Wettbewerbsfähigkeit.“52 Damit wird „jene ‚soziale Frage‘ erneut zur Herausforderung [...], von der das 20. Jahrhundert in seiner zweiten Hälfte angenommen hatte, daß sie zum erfolgreich bewältigten Erbe des 19. Jahrhunderts gehört“53. Diese Diagnose legt es nahe, mit den Kategorien Ausbeutung und Entfremdung einen kritischen Blick auf den aktuellen Wandel der Arbeitswelt zu werfen. Den Ausgangspunkt bildet das Erleben von denjenigen Menschen, die in unterschiedlichen Berufsfeldern und Arbeitszusammenhängen tätig sind.
5. SITUATIONEN UND ERFAHRUNGEN VON AUSBEUTUNG UND ENTFREMDUNG: EINE PHÄNOMENORIENTIERTE ANALYSE 5.1 Situationen und Erfahrungen von Ausbeutung Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse anzuprangern, ist – wie erwähnt – vor allem zu jenem Zeitpunkt berechtigt, „als die maximale Ausbeutung der Arbeiterschaft die notwendige Kehrseite zur Industrialisierung zu sein schien“54. Dass die Erfahrung von Ausbeutung auch aktuell noch von Bedeutung ist, hat mit der Entwertung von Arbeit zu tun. Dies äußert sich zum Beispiel darin, dass die Machtasymmetrie „zwischen den oben und unten“ dazu benutzt wird, die Untergebenen zu schikanieren. In Dubets Studie zu den Ungerechtigkeitserfahrungen am Arbeitsplatz ist immer wieder davon die Rede, dass gerade weniger
50 51 52 53 54
Vgl. Boltanski/Chiapello (2006), 24. Castel (2011c), 79. Castel (2011c), 77. Honneth (2010b), 219. Castel (2011a), 45.
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qualifizierte Arbeitnehmer(innen) „wie Hunde behandelt“55 werden. Das geht so weit, dass sich „manche Arbeiter ihrer Würde beraubt“56 sehen. Diese Form der „Ausbeutung ist eine Herrschaft, die sich in einer Kette von Drohungen, Zwängen und Gemeinheiten ausdrückt“57. Die Prekarisierung der Erwerbsarbeit verstärkt diese Tendenz. Für die Betroffenen bedeuten diese ein geringes Einkommen, hohe Unsicherheit und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung. Dubet spricht in diesem Zusammenhang von „moderner Sklaverei“ und lässt zur Bestätigung eine junge Zeitarbeiterin zu Wort kommen: „Die Zeitarbeit ist für mich schrecklich. Man kann nichts von heute auf morgen planen. Keinen bezahlten Urlaub haben, sich nie seine Firma aussuchen [...]. Man macht Zeitarbeit, weil es nichts anderes gibt, für mich ist das moderne Sklaverei, auch wenn es nicht vergleichbar ist, was vor hundert oder zweihundert Jahren passiert ist. Das ist Sklaverei, weil man rund um die Uhr verfügbar sein muss, man hat praktisch kein Privatleben.“58 Die Zeit- bzw. Leiharbeiter(innen) sind es auch, die bei der nächsten Konjunkturkrise und beim nächsten Nachfrageeinbruch „als erste nach Hause geschickt“ werden. Die prekäre Situation der Leiharbeiter(innen) ist ein deutliches Zeichen für die Folgen der Betriebspolitiken der vergangenen Jahre. Insbesondere weltmarktorientierte Unternehmen sind zu „kapitalmarktorientierten Steuerungsformen“ und einer „straffen Profitorientierung“ übergegangen.59 Damit verbunden sind Maßnahmen wie Umstrukturierungen, Fusionen, Abspaltungen und Auslagerungen. Die Konsequenz ist: Die Unternehmen verwandeln sich in lose verkoppelte Wertschöpfungsketten mit einem kleiner werdenden Stamm fester Mitarbeiter und einer größer werdenden flexiblen „Reservearmee“ aus befristet Beschäftigten, Leiharbeitern, Aushilfskräften, freien Mitarbeitern, Subunternehmern und Praktikanten. Diese Strategien werden von den Beschäftigten großenteils als belastend empfunden. Physische und psychische Erschöpfung, Müdigkeit, Abstumpfung sind Indizien dafür. Dubet zieht daraus den Schluss: „Die Arbeit wird ausgebeutet, der Arbeiter opfert seine Lebenssubstanz [...]“60.
55 56 57 58 59 60
Dubet (2008), 53-57. Dubet (2008), 56. Dubet (2008), 121. Dubet (2008), 120. Dörre (2009), 62. Zum Folgenden vgl. Schneider (2011), 21. Dubet (2008), 123.
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In der von Franz Schultheis, Berthold Vogel und Michael Gemperle herausgegebenen Studie über Biographische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch finden sich vielfältige Zeugnisse, die bestätigen, dass diese Tendenz nicht nur auf prekäre Arbeitsverhältnisse beschränkt ist. Die dort versammelten Interviews zeigen, dass der von Boltanski und Chiapello diagnostizierte Neue Geist des Kapitalismus vor allem als Verdichtung und Intensivierung der Arbeit und als Zwang zu Flexibilität und Mobilität erlebt wird. Zu einem Gefühl der Ausbeutung verdichtet sich diese Erfahrung, wenn „die Diskrepanz zwischen dem Arbeitseinsatz auf der einen Seite und den Gratifikationen auf der anderen Seite erheblich zugenommen hat“61. Auch in Dubets Studie wird auf diesen Zusammenhang hingewiesen: „Das Fehlen von Bestätigung, von materiellen und symbolischen Entschädigungen für die in die Arbeit investierten Anstrengungen führt zu einem Gefühl der Ausbeutung.“62 Der klassische Rahmen der Arbeiterausbeutung hat scheinbar nichts von seiner Erklärungskraft verloren. Ausgebeutet fühlt man sich, wenn der „vom Arbeitnehmer produzierte Wert von den Arbeitgebern angeeignet wird“63, ohne dass es eine angemessene Gratifikation für die erbrachte Leistung gibt. Bei den Löhnen ist diese Tendenz in einigen Bereichen offenkundig. Gravierend ist hier auch, dass unterschiedliche Tarife für die gleiche Arbeit gezahlt werden. Insbesondere Leiharbeiter(innen) machen diese Erfahrung. Wenn sie genauso viel arbeiten wie die fest angestellten Kollegen nebenan, selber aber ein Drittel weniger verdienen und weniger Urlaub haben, dann fühlen sie sich ungerecht behandelt. Zudem führt diese Praxis zu einer wachsenden Kluft zwischen Stammarbeitern und Leiharbeitern.64 Ein analoger Prozess scheint sich auch auf der symbolischen Ebene abzuspielen. Angesichts dessen, was als Anerkennung und Wertschätzung zurückkommt, „scheint die Investition, die abverlangt wird, nicht mehr zu stimmen.“65 Dubet nennt in seiner Studie eine Zahl, wie verbreitet das Gefühl der Ausbeutung ist: „Letzten Endes bezeichnen sich mit Ausnahme der Unternehmensleiter, der Führungskräfte und der akademischen Berufe alle in unserer Erhebung
61 62 63 64 65
Schultheis u. a. (2010), 751; vgl. ebd., 733. Dubet (2008), 119. Dubet (2008), 119. Vgl. Dubet (2008), 337f.; Schneider (2011). Schultheis u. a. (2010), 751; vgl. ebd., 733.
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befragten Berufsgruppen in 25 Prozent der Fälle als ausgebeutet, während es bei den Arbeitern knapp 47 Prozent sind.“66
5.2 Situationen und Erfahrungen von Entfremdung Die in empirischen Studien zu findenden Aussagen über das „Gefühl der Ausbeutung“ bestätigten die oben dargelegte Begriffsbestimmung. Mit der Kategorie der Ausbeutung vergleicht man zum einen die eigene Situation mit der von anderen, zum anderen fragt man danach, ob die Gratifikation für die eigene Leistung angemessen ist. Bei der Kategorie der Entfremdung ist die Blickrichtung eine andere: Hier steht die eigene Person im Mittelpunkt, seine Authentizität, Kreativität und individuelle Autonomie. Von Hegel über Marx bis hin zu Johannes Paul II. wird die Arbeit als wesentliche Form der Selbstverwirklichung und als höchster Ausdruck menschlicher Kreativität angesehen. Arbeit ist demnach mehr als ein Leistungsaustausch, sie ist immer auch „das Engagement eines Subjekts in einer Tätigkeit, die ihm innere Befriedigung, Lust und Glück verschafft, ein Gefühl der Entfaltung und der Freiheit; sie kann im Gegensatz dazu aber auch das Gefühl geben, entfremdet zu sein, kaputtgemacht oder verschlissen, selbst wenn man gut bezahlt wird und eine annehmbare Stellung innehat.“67 Dubet spricht hier von der „anthropologischen Dimension der Arbeit“68. Wenn die Arbeitenden ihre Situation in dieser Perspektive bewerten, so der französische Soziologe, entwickeln sie eine ganz besondere Kritik, die sich von derjenigen im Rahmen von Ausbeutung unterscheidet: „Sie sprechen nicht von ihrem Lohn und sozialen Ungleichheiten, sondern kritisieren die mit der Arbeit verbundene Herrschaft, die es ihnen verbietet, sich in ihrer Arbeit als Subjekte auszudrücken.“69 Dabei, so Dubet weiter, „verbinden sich zwei Hauptgruppen der Kritik: Die erste betrifft die Kontrolle über die Arbeit, die Zerstörung jeder persönlichen Initiative. Die zweite bezieht sich auf die zerstörerischen Auswirkungen der Arbeit, die die Integrität des Subjekts bedrohen, vor allem in Bezug auf Erschöpfung und Stress.“70 Letzteres ist eine Tendenz, die durch klinische Indikatoren 66 67 68 69 70
Dubet (2008), 126. Dubet (2008), 137. Dubet (2008), 137. Dubet (2008), 170. Dubet (2008), 171.
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bestätigt wird. Herzinfarkt, Depression und Angst sind Volkskrankheiten geworden. Das Mehr an Flexibilität, der ständig steigende Druck und die permanente Arbeitsplatzangst ergeben eine ungesunde Mischung. Die Folge ist eine enorme Zunahme von Stress- und Angststörungen. Zwischen 1997 und 2009 stieg die Zahl der durch den Arbeitsplatz verursachten psychischen Erkrankungen und depressiven Störungen um 70 Prozent.71 Eine Ursache dafür ist eine Entwicklung, die mit dem Schlagwort „Subjektivierung von Arbeit“ umschrieben wird.72 Damit ist gemeint, dass Arbeitnehmer(innen) nicht mehr länger als abhängig Beschäftigte, sondern als kreative „Unternehmer(innen)“ ihrer selbst angesehen werden.73 Man könnte das Mehr an Engagement, Flexibilität, Eigeninitiative und Projektorientierung als Fortschritt ansehen, wenn man sie vergleichend gegen rigide oder stationäre Arbeits- und Lebensformen hält. Ein(e) flexible(r) und kreative(r) Arbeitnehmer(in) ist aus den Hörigkeiten einer verbürokratisierten Arbeitsgesellschaft befreit. Seine/ihre Fähigkeiten und Ideen sind gefragt. Aber bereits für die qualifizierte Elite von Wissensarbeiter(inne)n zeigen sich die Schattenseiten: Viele erfahren die Imperative der Managementtheorien wie „sei kreativ“, „verwirkliche dich selbst“ als Überforderung. Mit der Verantwortung wächst der Erfolgsdruck, der Arbeitstag wird intensiver und länger, die Grenzen zwischen beruflichem und privatem Dasein drohen zu verschwimmen. Die Zusage selbständiger Arbeit und flexibler Arbeitszeiten wird durchkreuzt von der Erwartung der Arbeitgeber(innen), rund um die Uhr erreichbar zu sein und auf Urlaub zu verzichten. Auch der Abbau von Unternehmenshierarchien hat seine Schattenseiten. Denn damit verbunden ist die „Verstetigung der Konkurrenz unter den Arbeitenden“74. Um in dieser Wettbewerbssituation mithalten zu können, sehen sich die einzelnen Arbeitnehmer(innen) gezwungen, die Arbeit zu intensivieren. Die „Selbstverwirklichung“ in der Erwerbsarbeit wird also eingetauscht gegen eine Fremdbestimmung, die durch Termindruck, kooperierende Konkurrenten und das direkte Marktrisiko erzeugt wird.75 Die Folge ist: Die Erwerbsarbeit wird „in einem Maße zur ‚Hauptsache‘, dass es weder für die einzelnen Arbeitnehmer noch 71 72
73 74 75
Vgl. Möhring-Hesse (2011), 16. Vgl. Möhring-Hesse (2011); Schneider (2006b), 159f.; Dubet (2008), 324-333; Kocyba (2000); Baethge (1991). Vgl. Voß/Pongratz (1998); Bröckling (2007), 47-50. Dörre (2009), 62. Vgl. Voswinkel (2002).
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für ihre privaten Lebensverhältnisse und die Gesellschaft im ganzen ‚bekömmlich‘ ist“76. Auch in den oben genannten Studien schildern flexible Arbeitnehmer(innen), wie sie gemeinsame Zeiten mit dem Ehepartner und den Kindern rigoros zusammenstreichen, Nächte und Sonntage im Büro verbringen, bis ihnen Schlafstörungen, Rückenschmerzen und Partnerschaftskonflikte über den Kopf wachsen. Diese Entwicklung trifft aber nicht nur die hochqualifizierten und deshalb besser entlohnten Arbeitnehmer(innen). „Alles zu geben, was sie an Fähigkeiten mitbringen, wird auch von den schlechter bezahlten Arbeitnehmern erwartet.“77 Verstärkt wird dieser Druck durch die Prekarisierung der Arbeitswelt. Wer direkt davon betroffen ist, das heißt, wer sich in einem rechtlich ungeschützten, sozial ungesicherten und schlecht entlohnten Arbeitsverhältnis befindet, lebt im Zeichen permanenter Verunsicherung und Angst. Er gehört zu jener „Verfügungsmasse von Arbeitskräften …, die dem Produktionsprozess bei Bedarf flexibel zugeführt werden, und die lautlos verschwinden, wenn sie überflüssig sind“78. Aber auch wer das Glück hat, zur Stammbelegschaft mit geschützten Normalarbeitsverhältnissen zu zählen, ist von dem Trend zur Verunsicherung betroffen. Jedem Arbeitnehmer, auch dem Festangestellten, wird das Gefühl eingeflöst, „daß er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg“79. Weil die fest angestellten Arbeitnehmer(innen) die prekäre Arbeitsrealität von befristet Beschäftigten, Leiharbeiter(inne)n und Praktikanten(innen) ständig vor Augen haben, beschleicht sie ein diffuses Gefühl von Ersetzbarkeit. Die stetige Angst und Verunsicherung diszipliniert die Arbeitnehmer(innen). Sie sehen sich gezwungen, „alles zu geben und zudem zu zeigen, dass sie alles geben – was die Anerkennung der eigenen Arbeit unsicher werden lässt und entsprechende Bemühungen unter Dauerstress bringt“80. Matthias Möhring-Hesse spricht in diesem Zusammenhang von einer „Vernutzung von Arbeitsvermögen“81. Zu einer Situation der Entfremdung führt dies, weil durch den Druck und Stress die Unzufriedenheit mit der Arbeit wächst. Die Arbeit macht keinen Spaß mehr. Mehr noch: Man fühlt 76 77 78 79 80 81
Möhring-Hesse (2011), 15. Möhring-Hesse (2011), 14. Schneider (2011), 26. Bourdieu (1998), 97; Dubet (2008), 337f. Möhring-Hesse (2011), 14. Möhring-Hesse (2011), 16.
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sich wie ein Rädchen im Getriebe, das Höchstleistungen zu bringen hat und ausgetauscht wird, wenn es dazu nicht mehr fähig ist. Dies erzeugt nicht selten ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, ja des Gefangenseins. Denn wer entfremdet ist, ist „weniger verletzt als vielmehr überwältigt“82. Der bisher im Vordergrund stehende Aspekt der Vernutzung bei der Analyse von Entfremdungserfahrungen kann ergänzt werden durch zwei Begriffe, die Schultheis, Vogel und Gemperle in ihrer Interpretation der biographischen Interviews in den Mittelpunkt stellen: Entzauberung und Entkernung. Mit Entzauberung meinen Schultheis, Vogel und Gemperle die „Erfahrung einer sukzessiven Erosion anfänglicher Hoffnungen, Erwartungen und Ziele der beruflichen Laufbahn“83. Vor allem im Sozialbereich und bei denjenigen, die im Bildungs- und Ausbildungssystem tätig sind, ist eine Abkühlung bzw. Enttäuschung von berufsspezifischen Erwartungen weit verbreitet. Für die Diagnose dieses Gefühls, so Schultheis, Vogel und Gemperle, eignet sich nicht so sehr die Rede vom „Burn-out“, sondern eher das Konzept des „Cooling-out“ des amerikanischen Soziologen Ervin Goffman: „schrittweise verfällt hier ein berufliches Engagement mit ‚Leib und Seele‘84 – ein Engagement, das nicht zuletzt von der sozialen Berufung und von der Erwartung auf ein Tätigkeitsfeld jenseits der profitorientierten Logik lebt. Mit Entkernung ist gemeint, dass die Arbeit nicht mehr ihren Bestimmungszweck erfüllt und „insofern zunehmend ihres Inhalts beraubt wird“85. Diese Erfahrung machen zum Beispiel selbstständige Handwerker und Landwirte, die infolge von Sachzwängen nicht mehr das klassische Berufsbild in die Praxis umsetzen können. Was ursprünglich als „schöpferische“ und kreative Tätigkeit wahrgenommen wurde, wird „unter den Prämissen von Effizienzsteigerung, Mechanisierung und Rationalisierung mehr und mehr zu einem standardisierten Routinebetrieb“86. Die Folge ist: „Sachfremde“ und im Prinzip unvereinbare Aufgaben und Tätigkeiten „entfremden“ einen Großteil der zur Verfügung stehenden Arbeitszeit. Die eigenen Ansprüche an die Qualität der Arbeit und die Realität werden als eine Kluft erlebt, die kaum mehr zu überbücken ist. 82 83 84 85 86
Dubet (2008), 443. Schultheis u. a. (2010), 734. Schultheis u. a. (2010), 735. Schultheis u. a. (2010), 735. Schultheis u. a. (2010), 735.
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Die unterschiedlichen Aussagen und Einschätzungen verbindet das Unbehagen an dem Wandel und Umbruch der Arbeitswelt. Die weitaus meisten Personen, die in den genannten Studien zu Wort kommen, erleben die Veränderungen in den letzten Jahren als Zumutung und Verunsicherung. Schultheis, Vogel und Gemperle beenden ihre Interpretation der Interviews daher mit folgender Diagnose: „Auf bemerkenswerte Weise schildern alle unsere Gesprächspartner, wie viel Energie es erfordert, sich in einem veränderten arbeitsgesellschaftlichen Kontext zu behaupten. Der Kampf um den eigenen Status, die Realisierung beruflicher Ansprüche, deren gesellschaftliche Anerkennung, aber auch die Bewahrung eines Rests von Freiheit gegenüber der eigenen Arbeit strengt an, erfordert eine ständige Anpassung und zehrt auf.“87 Der Druck auf die Arbeitnehmer(innen) scheint heute ein Hauptbestandteil des Arbeitsverhältnisses zu sein. „Die Probleme, die sich früher in Form von arbeitsplatzbedingten Verschleißerscheinungen, Berufskrankheiten, Psychopathologien des Arbeitslebens etc. stellten, behalten und erlangen damit wieder brennende Aktualität. [...] Unter der ideologischen Darstellung einer von alten Zwängen befreiten Arbeit [setzt sich, M. S.] ein Leiden an der Arbeit fort, eine unglückliche Lage der Arbeiter, die sich, wenngleich mit anderen Symptomen immer noch in den Rahmen dessen einfügt, 88 was man einstmals ‚entfremdete Arbeit‘ nannte.“
6. VON DER DIAGNOSE ZUR THERAPIE: LÖSUNGSANSÄTZE FÜR DIE BEKÄMPFUNG VON AUSBEUTUNG UND ENTFREMDUNG Ausbeutung und Entfremdung sind traditionelle Kategorien der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik. Sie haben aber nichts von ihrer kritischen Bedeutung eingebüßt. Natürlich sind die Probleme heute andere als noch im 19. Jahrhundert. In Deutschland ist niemand mehr völlig schutzlos der Willkür seines Arbeitgebers ausgeliefert oder steht im Falle von Krankheit völlig hilf- und mittellos dar. Aber auch in unserer Zeit empfinden nach wie vor die Menschen ihre Arbeitsbedingungen als ausbeuterisch und entfremdend. Die Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes, die steigende Anzahl von gering entlohnten und prekären Beschäftigungsverhältnissen, deprimie87 88
Schultheis u. a. (2010), 738. Castel 2011c, 85; vgl. Dubet (2008), 468: „‚Alte‘ Entfremdungskritik und Kritik des ‚neuen‘ Geistes des Kapitalismus mischen sich permanent.“
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rende Erlebnisse der rapiden Dequalifizierung von Arbeitsleistungen, die „Vernutzung“ von Arbeitsvermögen durch Verdichtung und Intensivierung der Arbeitsprozesse, das immer mehr um sich greifende Gefühl von Überforderung und Ausgebranntsein – all diese Entwicklungen sind Indizien für pathologische Tendenzen in der Arbeitswelt von heute. Mit den Kategorien Ausbeutung und Entfremdung können die Erfahrungen von Leid und Ungerechtigkeit auf den Begriff gebracht werden. Wie bei der Diagnose einer Krankheit stellt sich aber auch hier die Frage nach therapeutischen Maßnahmen: Was trägt dazu bei, dass die Menschen Arbeitsbedingungen vorfinden, die ihnen die Erfahrung von Ausbeutung und Entfremdung ersparen? Ein erster Lösungsansatz kann darin bestehen, für alle diejenigen, die vom Mahlstrom des Wandels ergriffen sind, Sicherheiten und neue Rechtsansprüche zu gewährleisten. Gerade weil durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Arbeitsverhältnisse „entsichert“ und prekarisiert worden sind, muss man die Personen absichern.89 Die Rolle des/der Arbeitnehmers(in) als Rechtssubjekt muss gestärkt werden, damit er nicht schutzlos der Logik des Marktes ausgesetzt ist. Ein zweiter Lösungsansatz hat verbindliche Regulierungssysteme für eine angemessene Gratifikation der Arbeitsleistung zum Ziel. Die Einführung eines Mindestlohnes ist ein nicht unbedeutendes Beispiel hierfür. Ein dritter Lösungsansatz richtet sich gegen die Vernutzung von Arbeitsvermögen. Möhring-Hesse schlägt hierfür die Orientierung am Prinzip der Nachhaltigkeit vor. So wie die natürlichen Ressourcen nachhaltig genutzt und gepflegt werden müssen, so auch die Arbeitsvermögen. Dazu gehört nach Ansicht von Möhring-Hesse ein besserer Gesundheitsschutz, um „Raubbau“ an somatischen und psychischen Möglichkeiten zu vermeiden. Darüber hinaus bedarf es vermehrter „Auszeiten“ und Räume, in denen Arbeitnehmer „ein Leben außerhalb der Erwerbsarbeit leben können, ohne darin übermäßig von beruflichen Erfordernissen eingenommen und beschränkt zu werden“90. Die nachhaltige Nutzung und Pflege des Arbeitsvermögens ist nicht nur aus ethischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen von Bedeutung. Die geschilderten Effekte haben für die Funktionsfähigkeit eines marktwirtschaftlichen Systems kontraproduktive Effekte. Auf lange Sicht können Arbeitnehmer(innen) nur dann leistungsfähig, kreativ und verantwortungsbewusst sein, wenn sie auf ein Min-
89 90
Vgl. Castel (2011a), 47; Castel (2011b), 71f. Möhring-Hesse (2011), 17.
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destmaß an Sicherheiten, Aus- und Fortbildungsrechten, Ruhepausen und Respekt bauen können und nicht wie „Wegwerfarbeiter“ behandelt werden. Arbeitnehmer(innen), die „unter dem Diktat der Termine“ stehen, „die man nach Belieben auspressen kann“ und die ständig mit der Angst leben, von heute auf morgen auf der Straße zu stehen, sind auf lange Sicht nicht produktiv. Der Raubbau am Arbeitsvermögen ist unrentabel.91 Denn damit trocknet eine für ein marktwirtschaftliches System entscheidende Ressource aus: die Investitionsbereitschaft und die Kreativität.
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91
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Arbeit und Beschleunigung durch neue Arbeitszeitmodelle
Zwischen Rationalisierung und Gamification: Zur Semantik von Arbeitsutopien aus sozialethischer Sicht Simone Horstmann
In der Frage, welche Impulse die Utopie für ein Verständnis von Arbeit bereithält, scheint die Replik bereits nahezu rein begriffsanalytisch möglich. Als ouv-to,poj, Nicht-Ort oder Kein-Ort, legt die Utopie von ihrer Etymologie her und übertragen auf die Arbeit schon den Gedanken einer Arbeit ohne Ort nahe, einen Platz also, an dem (Erwerbs-)Arbeit ortlos und auch nicht mehr notwendig ist. Und in der Tat ist zumindest die Arbeitszeitverkürzung zentraler Traum fast aller europäischen Utopien: Die Einschätzung der Arbeit als mühevoller Last und notwendigem Übel scheint bis zur protestantischen Ethik“ Konsenspunkt, und sogar Oswald von Nell-Breuning hielt 1981 die Möglichkeit einer Arbeitszeitverkürzung auf lediglich einen Tag pro Woche für realisierbar.1 In den folgenden Überlegungen sollen Tendenzen zukünftiger Arbeit auf ihre „Utopie-Fähigkeit“ hin geprüft werden. Für die sozialethische Analyse setzt dies zunächst eine Verhältnisbestimmung von Ethik und Utopie mit Blick auf die Arbeit voraus (Kap. 1), sowie die Entwicklung einer daran anschließenden Methodik (Kap. 2). Die Konkretisierungen (Kap. 3) wenden diese auf die zu untersuchenden Utopien der Rationalisierung und Entgrenzung an. Ein zusammenfassender Rückblick (Kap. 4) schließt die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten einer sozialethischen Utopie unter Berücksichtigung der Ergebnisse ab.
1
Vgl. Nell-Breuning (1985), 98 ff.
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1. ARBEIT ZWISCHEN ETHIK UND UTOPIE Um das Verhältnis von Arbeit und Utopie unter ethischen Prämissen zu konkretisieren, ist zunächst auf die methodischen Schnittpunkte zwischen ethischem und utopischem Denken aufmerksam zu machen. Karl Mannheim versteht unter Utopien realitätstranszendierende Vorstellungen, die im Gegensatz zu Ideologien, die am Status quo festhalten, den Anspruch mit sich führen, Realität zu verändern.2 Die Leitdifferenz von Utopie und Realität mag in diesem Sinne als Spielart der für die Ethik konstitutiven Sein-Sollens-Dichotomie ausmachbar zu sein. Genauso, wie das normative Sprechen der Ethik nicht nur den Anspruch erhebt, zu sagen, was der Fall ist, sondern darüber hinaus angeben zu können, was sein soll, so bietet auch die Utopie über den methodischen Bruch mit den als kontingent erfahrenen Restriktionen der Realität die Möglichkeit, geronnene gesellschaftliche Normalität zu hinterfragen. Hinzu kommt die soziologische Einschätzung von Utopien nicht nur als konstruktive Fiktionen, sondern hinsichtlich ihrer Genese auch als Resonanzphänomen sozialer Umstände, die auch die Wirkung der Utopien nach Außen plausibilisieren. Dabei geht die der Utopie inhärente Sozialkritik über ein wenig konstruktives Negieren der Wirklichkeit hinaus, sie verhandelt in der Frage der (Un-)Möglichkeiten ihrer Konkretisierung gewissermaßen das Verhältnis von Offenheit und Geschlossenheit utopischer Perspektiven. Aus diesem Grund war auch die Utopie oft verdächtig, in repressive Herrschaftsverhältnisse zurückzuführen, von der Utopie also in die Dystopie zu kippen. Emil Angehrn bescheinigt dem utopischen Konstrukt daher, im Kern einen Widerspruch zu enthalten und „in dem Maße, in dem es vorgestellt und konkret entfaltet wird, seine utopische Kraft einzubüßen“.3 Im historischen Rückblick kann Europa zweifelsfrei als Zentrum utopischen Denkens gelten: Sowohl Thomas Morus‘ Utopia, Tommaso Campanellas Sonnenstaat als auch Thomas Hobbes‘ Leviathan stellen die platonische Frage nach dem idealen Staat. Morus‘ programmatischer Entwurf zeichnet das Bild eines im fernen Ozean entdeckten Vernunftstaates, innerhalb dessen realisierter Gütergemeinschaft die zum Leben nötigen Dinge kostenlos distribuiert werden. Damit ist gleichzeitig die stärkste Ausprägungsphase der Utopie im 17. und 18.
2 3
Vgl. Mannheim (1995). Angehrn (2001), 197.
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Jahrhundert genannt, in der die beginnende Moderne von Stillstand auf Bewegung, von Konstruktion auf Konstruktibilität, von Perfektion auf Perfektibilität von Welt und Mensch umstellte. Durch die so mögliche Verbindung von Erfahrungs- und Erwartungshorizont lesen sich die frühen Utopien, beispielsweise Morus‘ Utopia, als Ausdruck der Verzweiflung jener Kleinbauern, die, von ihren Höfen vertrieben, umherzogen und das erste Proletariat der Geschichte darstellten, das als Gruppe von Lohnarbeitern gezwungen war, die eigene körperliche Arbeitskraft zu verkaufen.4 Trotz der lauten Kritik an diesen entfremdeten Arbeitsverhältnissen kennen diese frühen Utopien keinen völligen Arbeitsverzicht als Forderung, vielmehr herrscht hier, mit Ausnahme der Gebrechlichen und Kranken, die Pflicht zur Arbeit; bei Morus sind es sechs, bei Campanella vier Stunden täglich. Das heißt: Arbeit ist auch hier „genuiner Vollzugsmodus menschlichen Seinkönnens. Das zu überwindende Übel liegt nicht in der Arbeit selbst, sondern in der Gestalt ihrer möglichen entfremdenden Bedingungen“.5 Ein klares Arbeitsethos ist in den europäischen Utopien dennoch nicht eindeutig auszumachen, da auch hier ein bestenfalls distanziertes Verhältnis besonders zur Handarbeit zu konstatieren ist. Als unliebsames aber noch notwendiges Übel ist sie in den Utopien gemeinsam zu bewältigen, damit verbundene Freude ist der Utopie fremd.
2. DIE MODERNE ZEIT-UTOPIE ALS SOZIALETHISCHE HEURISTIK Die hier vorzustellende Argumentation knüpft in ihrer Fokussierung auf aktuelle Utopien an eine Beobachtung Ruth Levitas an, die besonders mit Blick auf Morus‘ Utopia die Tendenz der frühen Utopie ausmacht, von ihrer Form der Sozialkritik zu einer Raumutopie überzuleiten.6 Mit anderen Worten: Das soziale Ungenügen wird philosophisch wie literarisch transformiert im Modus geografischer Verschiebung, Morus‘ Insel wird im noch unerforschten Weltmeer entdeckt, der Sonnenstaat Campanellas liegt im Inneren des exotisch-fremden Ceylons. Diese Axiomatik erfährt in der Moderne jedoch einen folgenschweren Bruch: Im Zuge von Entdeckungen und Eroberungen 4 5 6
Vgl. Horkheimer (1986), 178 f. Korff (1986), 20. Vgl. Levitas (1979), 26.
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der Meere und Kontinente, mithin des Weltraums, verliert die Auslagerung der Utopie in geografische Perspektiven gewissermaßen ihre Berechtigung, da diese geografischen Räume als bekannt vorausgesetzt werden können und ihr utopisches Potenzial somit eingebüßt zu haben scheinen. Sobald diese Auslagerung in den Raum keine Option mehr ist, schließt sich eine Dimensionierung an, die auch für utopische Entwürfe von Arbeit nicht folgenlos ist: Die Perspektive der Utopie-Entwürfe verschiebt sich vom räumlich ins zeitlich Entfernte. Die modernen Utopien sind Zeit-Utopien. Um dieses Verschiebungsproblem einschätzen zu können, müssen zuvor noch einige Bemerkungen zur modernen Zeitsemantik gemacht werden. Die Gesellschaft der europäischen Moderne kann strukturell als funktional-differenziert charakterisiert werden. Ihre nicht mehr hierarchisch geordneten Funktionssysteme beschreiben radikal verschiedene Beobachtungsverhältnisse, die nicht ineinander überführbar oder von einem zentralen gesellschaftlichen Punkt aus zu bündeln wären. Mit Blick auf die Dimension der Zeit löst die Moderne das soziologische Integrationsproblem, wie gesellschaftliche Ordnung angesichts von Differenzierung überhaupt möglich ist, durch die Temporalisierung der durch Differenzierung entstandenen Komplexität einerseits, und die Universalisierung von Temporalität (man denke etwa an die sog. Weltzeit) andererseits.7 Das bedeutet: Es entwickeln sich nebeneinander verschiedene Eigenzeiten der jeweiligen Systeme heraus, gleichzeitig wird Zeit in ihrer universalisierten Form vollends linearisiert und als verrechenbares, abstraktes Medium begriffen, und dies mit Konsequenzen: Die Universalisierung der Zeit ist nur um den Preis einer starken Formalisierung zu haben, und geht einher mit der Entkopplung von Zeit und Sinn (zuvor waren beide etwa in der Chiffre „Fortschritt“ kombiniert). Zeit degeneriert in der Moderne gewissermaßen zur Chiffre für die lediglich technische Bewerkstelligung der Gleichzeitigkeit von Differentem, sie immunisiert sich so gegen das, was in ihr geschieht. Für unseren Fokus ist folgende Beobachtung wichtig: In der Moderne gibt es Eigenzeiten der beobachtenden Systeme, aber auch den Versuch, diese Eigenzeiten gesamtgesellschaftlich zu synchronisieren, obwohl es die dafür nötige Perspektive, darauf hat die Systemtheorie aufmerksam gemacht, gar nicht mehr gibt. Genau an dieser Stelle
7
Vgl. Nassehi (1996), 246.
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greifen Utopien: Sie simulieren in semantischer Form die gesamtgesellschaftlich verlorene Einheit.8 Der sozialethische Gehalt der utopischen Analyse lässt sich damit wie folgt umreißen: Utopisches Denken realisiert sich in sozialethischen Fragen nicht länger in einem ausschließlich materialen Kriterium, es verweist nicht ausschließlich auf ein inhaltliches Merkmal guter und erfüllter Arbeit, sondern kann auch auf das formale Kriterium der Synchronisation der systemischen Eigenzeiten zurückgreifen. Wenn der gesamtgesellschaftlich nicht mehr auszumachende Fixpunkt, den die Utopien simulieren, keinem wirklichen, ontischen Korrelat entspricht, sollte ihr für unzulässige Vereinnahmungen anfälliger Ersatz, der jeweils konstruiert wird, besonders in den Fokus der Sozialethik rücken. Gleichzeitig, und hier zeigt sich erneut der oszillierende Charakter der Utopie, kommt aber auch die Sozialethik nicht ohne einen ebenfalls utopischen Entwurf guter Arbeit und Arbeitsorganisation aus, wie die abschließenden Überlegungen des Artikels verdeutlichen sollen. Zunächst bleibt festzuhalten: Die utopische Analyse kann für die Sozialethik eine normative Heuristik darstellen, mittels derer zunächst ein Bewusstsein für bestehende Ungleichzeitigkeiten geschaffen werden kann, wenn nämlich die (faktische) Ungleichzeitigkeit des (semantisch) Gleichzeitigen als ethisch unzulässige Überschneidung bestimmt werden soll. Dies soll nun an zwei Entwicklungsdimensionen der Arbeitsorganisation konkretisiert werden, in denen sich utopische Gehalte mit deutlichem Fokus auf die Dimension der Zeit präsentieren. Beide entwerfen eine je unterschiedliche Idee davon, wie Arbeit im Sinne der europäischen Utopie wenn auch nicht gänzlich abgeschafft, so doch deutlich reduziert werden könne. Die Beispiele der Rationalisierung (als erhöhte Produktion in immer kürzeren zeitlichen Abständen) und Entgrenzung (als Suggestion des Verzichts auf zeitliche und räumliche Grenzen) von Arbeit mögen dabei den Anlass bilden, das Bild des Denkens über Arbeit und die damit verbundenen Prozesse ihrer Plausibilisierung zu hinterfragen.
8
Vgl. Nassehi (1996), 254, nähert diese Frage der Kantischen Transzendentalphilosophie an: Das, was das transzendentale Subjekt als Konstrukt bei Kant bedeutet, bilde analog die transzendentale Zeit als Kollektivsingular angesichts faktischer Differenzierung.
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3. ENTWICKLUNGSDIMENSIONEN VON ARBEIT 3.1 Rationalisierung Der Begriff der Rationalisierung hat seine wohl stärkste Prägung durch die Kritik von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Kontext der Dialektik der Aufklärung erfahren. Gemeint ist hier die Erfahrung, dass auch die im Zuge aufklärerischen Fortschrittsoptimismus entstandenen Entwicklungen zunehmender Technisierung, Effizienzsteigerung, Automatisierung, kurz: Rationalisierung gerade nicht mit dem Glück der meisten Menschen koinzidieren. Die zur instrumentellen Vernunft degenerierte Rationalität, so Horkheimer, sei durch keinen Sinn mehr integrierbar und müsse in der Konsequenz menschenfeindliche Formen annehmen.9 Dem eingangs referierten utopischen Traum vom Leben ohne Arbeit kommt dieser Begriff der Rationalisierung dabei dennoch bereits erstaunlich nahe: Verpackt in die Struktur eines Paradoxons suggeriert er die Befreiung des Menschen von der Arbeit durch (zeitweise Mehr-)Arbeit. Er lebt gewissermaßen von der Vorstellung eines quantitativ umreißbaren Gesamt an auch zukünftig absehbarer Arbeit, das durch die zeitliche Vorverlagerung und durch technisches Know-how schneller erledigt werden könnte, um so eine Phase gänzlich ohne Arbeit anschließen zu können. Damit verhält er sich analog zu der im ersten Teil bestimmten Form der Zeit-Utopie. Lassen sich diese Ausprägungen von Rationalisierung nun in Verbindung bringen mit ethisch relevanten und möglicherweise unzulässigen Zeitstrukturen von Arbeit? Anschaulich lässt sich dies an Fallstudien zur öffentlichen Verwaltung und zu Umstrukturierungsmaßnahmen der Deutschen Bahn AG zeigen.10 Aus diesen gehen neben dem direkten Abbau von Stellen betriebsübergreifende Verschiebungen hervor, die als Maßnahmen der internen Rationalisierung geführt werden. In der arbeitssoziologischen Debatte wird diese neue Form der Arbeitsorganisation als „marktgesteuerte Dezentralisierung“ diskutiert, die auf der subjektwissenschaftlichen Stufe der Arbeitsorganisation anzusiedeln ist. Mit anderen Worten: Formen der Subjektivierung von Arbeit entsprechen der neuen Logik von Rationalisierung, in deren Folge sich ebenfalls das arbeitsökonomische Leitbild des autonomen Arbeiters herauskristallisierte. Als „unternehmerische 9 10
Vgl. Horkheimer (1985), ebenso Horkheimer/Adorno (1988). Vgl. Völker (1999).
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Persönlichkeit“ kann dieser die bekannten Charakteristika des homo oeconomicus mit einem Repertoire sozialer Verhaltenstechniken spielend verbinden.11 Konkret sehen die Umstrukturierungen vor, dass die Beschäftigten stärker individuell für die Ergebnisse ihrer Arbeit verantwortlich zu machen sind, dass also mit Blick auf die Verantwortung für die Arbeit ein Outsourcing auf das Subjekt stattfinden soll. Ganz analog dazu ist das sog. Neue Steuerungsmodell (NSM), das Anfang der 1990er Jahre von der „Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung“ (KGSt) ausgearbeitet wurde, zu sehen.12 Diese Entwicklung schlägt sich ebenfalls nieder in der Vorstellung eines Angestelltenbildes als aktiver Teilhaberschaft, wobei hier sowohl eine Erfolgsbeteiligung am Marktgeschehen als auch eine Risikoteilhabe der Angestellten angesprochen ist. Ein so verstandenes Bild der Angestellten ist verbunden mit der Suggestion unternehmerisch tätiger Subjekte; der Anforderungskatalog steigt damit und umfasst ökonomisch effizientes, selbstverantwortliches Denken und Handeln ebenso wie umfassende und bedarfsangepasste örtliche, zeitliche und arbeitsinhaltliche Flexibilität und die maximale Ausrichtung der Dienstleitung am Kundeninteresse. Diese Erwartungsstrukturen stellen damit einen Versuch dar, die Risikolage der Marktanforderungen und der Umstrukturierungsmaßnahmen durch die Subjektpotenziale der Angestellten gewissermaßen zu kompensieren und flexibel darauf reagieren zu können. Moldaschl spricht daher von einem abzusehenden wachsenden „Subjektivitätsbedarf“: So soll die arbeitsorganisatorisch eingeplante Subjektivierung „die bürokratisch verschütteten subjektiven Potenziale freilegen, Engagement und Begeisterung mobilisieren, teure Kontrollsysteme durch kostenlose und effektivere Selbstkontrolle substituieren, Herrschaft durch Selbstbeherrschung virtualisieren und Planung durch Improvisation flexibilisieren“13. Dass dieses Profil des Subjekts in letzter Konsequenz auf das Foucaultsche „sujet“, im Wortsinne also auf das Unterworfene, hinaus steuert, scheint besonders in der Formulierung von der Ersetzung von Herrschaft durch Selbstbeherrschung spürbar zu sein. Konkret festzustellen sind drei Anforderungskonstellationen, die das arbeitende Subjekt im Rahmen dieser Rationalisierungsstrategie überfordern: (1) Demnach erfahren die Angestellten den Umbau in Form von Arbeitsverdichtungen, begleitet von einem massiven Beschäftigungsabbau und 11 12 13
Vgl. Moldaschl (2003), 25-32. Vgl. Andresen/Völker (2005), 96 f. Moldaschl (2003), 31.
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der Ausdünnung ganzer Hierarchieebenen. Auf diese Weise werden ihnen höchst widersprüchliche Balanceakte zwischen Zeit- und Kosteneffizenz auf der einen und Kundenorientierung auf der anderen Seite abverlangt, deren Austarierung den Beschäftigten auferlegt ist. Dies erweist sich ebenfalls als widersprüchlich, schließlich verfügen gerade Beschäftigte im direkten Kundenkontakt häufig über gar keine Entscheidungsmacht. (2) Die flexible Nutzung der Arbeitskräfte in Form sog. Dispo-Schichten verdeutlicht darüber hinaus, dass die sich hier abzeichnenden Grenzverschiebungen in ihrer Dynamik eine neue Qualität aufweisen, die strukturell vom Bereich der Erwerbsarbeit gegenüber dem außerbetrieblichen Leben dominiert ist. (3) Darüber hinaus markieren die großen Diskontinuitäten der Umstrukturierungen wie etwa das Pendeln zwischen Zentralisierungs- und Dezentralisierungsmaßnahmen oder häufige Führungswechsel, ein Kernproblem der Rationalisierungsstrategien.14 Mit Blick auf unsere Leitfrage nach möglichen konfligierenden Zeit-Kalkülen ist besonders die empirische Frage nach den faktischen Lösungsstrategien betroffener Angestellten von Interesse. Andresen und Völker verweisen darauf, dass hier vor allem eine ambivalente Taktik zwischen Anpassung und Abwehr angesichts der Mehrfachbelastungen gewählt wird. Die von ihnen befragten Frauen reagierten auf die Subjektivierung von Arbeit, indem sie ihre Lebensführung dem betrieblichen Takt unterordneten, gleichzeitig aber auch strikte Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Leben zogen: „Sie praktizieren zudem in ihrem beruflichen Handeln eine distanzierte, instrumentellere und kräfteschonendere Haltung. Freiwillige Zusatzarbeiten gerade auch außerhalb der Arbeitszeit unterbleiben bewusst, der Einsatz der gesamten Person zur Lösung betrieblicher Probleme wird zunehmend verweigert.“15 Die verstärkte Subjektivierung der Arbeitsanforderungen korreliert mit anderen Worten mit Entscheidungen der Distanznahme zur Arbeit, beispielsweise in strategischen Formen „freiwilliger“ Karrierebeschränkung. Der Versuch des hier beschriebenen Konzepts utopischer Arbeitszeitverkürzung durch Rationalisierung muss sozialethisch aus drei Gründen kritisiert werden: (1) Der in Form der Subjektivierung von Arbeit skizzierte Eingriff in die Belange der Arbeitsregulierung der Beschäftigten ist insofern unzulässig, als er der „Eigenzeit“ der Betrie-
14 15
Vgl. Andresen/Völker (2005), 102. Andresen/Völker (2005), 106.
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be systematischen Vorrang einräumt. Familienzeiten und private Freizeit fallen damit zwar nicht gänzlich aus, werden aber zugunsten der betrieblichen Monoperspektive eingeschränkt oder dem Takt des Unternehmens zwangsläufig angepasst. (2) Der Arbeitszeitverkürzung als semantischer Suggestion der Rationalisierung und Subjektivierung von Arbeit muss ihr utopischer Gehalt abgesprochen werden, zumal auch der Anspruch, Arbeit durch spezifische Maßnahmen effektiver und zeitsparender gestalten zu können, durch die hier deutlich gemachten Versuche, Mehrarbeit zu invisibilisieren, unterlaufen wird: Die Utopie der Arbeitszeitverkürzung scheint so in die Dystopie der nicht kenntlich gemachten und doch mitzuleistenden Mehrarbeit zu kippen. (3) Auch aus Sicht der Betriebe scheint Rationalisierung in dieser Form langfristig defizitär: Die empirischen Ergebnisse deuten gerade darauf hin, dass der Anspruch, Arbeit kosteneffektiver und zeitsparender gestalten zu können, durch Strategien der Distanznahme zur Arbeit von Seiten der Angestellten faktisch unterlaufen wird.
3.2 Entgrenzung Entgrenzung von Arbeit erfasst mit einem sehr weiten Begriff die Komplementarität verschiedener Tendenzen der Moderne, die vormals oft verbindungslos diskutiert wurden, etwa die Flexibilisierung und De-Regulation von Arbeit oder das Ende des Normalarbeitsverhältnisses. Auch die Demarkationslinien zwischen Arbeit und Freizeit werden porös und erscheinen als kontingent. Als ein Auseinanderdriften und Wegfall etablierter Strukturen unterläuft Entgrenzung die Prämisse der Funktionalität sozialer Differenzierung und Strukturbildung, der zum Kernbestand soziologischer Theorie gezählt werden darf. Entdifferenzierung wird somit als Problem eingestuft, das ohne Gegenmaßnahmen in Form von Re-Strukturierungen und neu organisierten Grenzen mit möglicherweise unzumutbaren Erfordernissen an Selbstorganisation und -regulierung des Subjekts einhergeht. Vorschnell wäre es allerdings, diesen Entwicklungen gänzlich ihre Legitimation absprechen zu wollen, insbesondere da Entgrenzungsdynamiken ethisch unerwünschte Strukturen und Regulierungen kontingent setzen, und diese so reflexiv, kritisierbar und änderbar werden. Auch für die Unzulässigkeit der Differenzierung von Freizeit bzw. Privatsphäre auf der einen und Arbeitswelt auf der anderen Seite müssen
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dann andere Gründe angeführt werden als der bloße Hinweis auf das Bestehen der semantischen Unterscheidung. Zur Rationalisierung verhält sich betrieblich verordnete Entgrenzung gewissermaßen dialektisch: Zwar tritt sie ebenfalls mit dem Telos effektiverer Arbeitsverrichtung an, überschreitet aber die klassischen Koordinaten tayloristisch-fordistischer Arbeitsorganisation wie der Trennung von Planung und Ausführung, von Hand- und Denkarbeit, der Steuerung durch Hierarchie-Ebenen und der personalen Kontrolle.16 Die zuvor erwähnte Subjektivierung von Arbeit gehört damit genaugenommen in die Phase entgrenzter Rationalität und reagiert funktional auf die Schwierigkeit, dass Arbeitsteilung, Spezialisierung und Trennung in zu ausgeprägter Form mangels integrierender Gesamtfaktoren letztlich dysfunktional werden. Entgrenzung geht mit anderen Worten nicht explizit aus der Kritik der Dialektik der Aufklärung hervor und versucht, diese zu beheben, sondern führt das Ziel rationalisierter Arbeit unter anderen methodischen Vorzeichen fort, die allerdings Gestaltungsspielraum für das Subjekt mit sich bringen. Wie lassen sich Entgrenzungen nun konkreter fassen? Deutlich wird zunächst, dass hier letztlich alle Dimensionen sozialen Handelns tangiert sind. Kratzer und Sauer zählen als Merkmale (1) die entgrenzte Belegschaft, also das Entstehen sogenannter Randbelegschaften als Puffer für Auslastungsschwankungen und Konjunkturwellen und darüber hinaus das Outsourcing aller nicht direkt zur Kernkompetenz des Betriebs zählenden Aufgaben, so dass äußerst heterogene Belegschaftssegmente entstehen, sowie (2) die zeitlich und räumlich entgrenzte Arbeit, wobei letztere in „normalisierter“ Form unter dem Schlagwort der Flexibilisierung bereits weitestgehende Akzeptanz gefunden hat, (3) die Selbstorganisation des Arbeitseinsatzes und damit die Suggestion, dass die Steuerungskompetenz scheinbar an die Subjekte delegiert sei, ebenso (4) die Umstellung auf indirekte Steuerung, wobei kein Verzicht auf Steuerung, sondern deren Formwandel angesprochen ist, (5) den Subjektbezug der Arbeit, bei dem das Subjekt wie oben erläutert als Rationalisierungsakteur auf den Plan tritt und (6) die Informalität, die an die Stelle institutioneller Strukturen und formalisierter Verfahren tritt.17 In wie weit kann bei dieser Vorstellung von entgrenzter Arbeit nun von einem gerechtfertigtem utopischen Konzept gesprochen werden?
16 17
Vgl. Kratzer/Sauer (2005), 94. Vgl. Kratzer/Sauer (2005), 111-115.
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Zunächst fällt auf, dass diese Entwicklungsform mit einer erhöhten Eigenverantwortlichkeit der Beschäftigten einhergeht und eine Ausweitung von deren Entscheidungsspielräumen darstellt. Der Vorrang, der innerhalb von Rationalisierungs-Konzepten von Arbeit noch der Zeitschiene des Betriebs zukam, aber in Teilen noch von der Einsatzbereitschaft des Subjekts abhängig war, gilt nun auf den ersten Blick den Präferenzen des Subjekts. Auch wenn damit ein Autonomiegewinn verbunden werden kann, darf eine sozialethische Auseinandersetzung nicht deren Janusköpfigkeit aus den Augen verlieren, wenn nämlich der Hinweis auf die Eigenverantwortlichkeit zeitlicher Strukturierung nur auf den ersten Blick als Metapher individueller Souveränität fungiert, de facto aber auch die systemisch verordnete Abgabe von Verantwortung seitens der Betriebe protegiert. Insbesondere dann, wenn sich Konflikte in der Familie durch die Mehrbelastungen häufen, zeigt sich die Notwendigkeit, Lösungsmodelle zur Kombinatorik individueller Zeitpräferenzen und Arbeitsanforderungen zu schaffen. Diese Erfordernis bringt auch die Einführung des Begriffs des Zeithandelns in der Soziologie zum Ausdruck: Zwar ist Zeithandeln auf der Mikroebene sozialer Handlungen zu verorten, erfordert aber immer auch die Berücksichtigung der Meso- und Makroebene. Der zeitlichen Entgrenzung kommt demnach eine systematische Priorität zu, als sie in unmittelbarer Wechselwirkung zum außerbetrieblichen Leben steht. Denn gerade dann, wenn kollektive Zeitmuster für das Sozialleben prägend sind, können die genannten Diffusionsphänomene unbekannte Risikolagen schaffen: Mit dem Wegfall überindividuell verbindlicher Freizeiten als Orientierungsmarke wächst der Rechtfertigungsdruck gerade für diejenigen Beschäftigten, die nicht bereit sind, zu allen Zeiten Erwerbsarbeit zu leisten. Hinzu kommt der nun zum Subjekt verlagerte Synchronisationsaufwand, wenn Angestellte flexible Arbeitszeiten und soziale Kontakte aufrecht erhalten wollen.18 Die Utopie der entgrenzten Arbeit, in der Leben und Arbeit ineinander übergehen, krankt meines Erachtens an einem systemischen Problem: (1) Die Deregulierung und Flexibilisierung, die dem Subjekt im System der Arbeit überantwortet wird, korreliert (bislang) mit keinem Äquivalent im Bereich der Freizeit und Privatsphäre; hier scheint es sich vielmehr so zu verhalten, dass verbindliche Zeitrahmen das soziale Leben strukturieren und eine arbeitsbedingte Abweichung 18
Vgl. Jürgens (2005), 43.
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eher noch sanktionieren. Die Frage nach einer gelingenden Form von Arbeit hängt damit wesentlich von den Vereinbarkeitspotenzialen der Lebensbereiche ab.19 (2) Der von der Utopie in das zeitliche Außen, die Zukunft, verlagerte Ausblick auf die Freizeit von der Arbeit erweist sich auch hier als problematisch. Jürgens macht darauf aufmerksam, dass etwa das der Flexibilisierung entstammende Modell der Arbeitszeitkonten nicht ohne sozialethische Schwierigkeiten auskommt: Die Beschäftigten müssen hinsichtlich ihrer Arbeit in Vorleistung gehen und ihr Leben nachholen. Ohne die Sicherheit zu haben, Lebenszeit später als erwerbsfreie Zeit nachholen zu können, müssen sie diese vorab einsetzen.20 (3) Auch der vermeintliche Zugewinn an Autonomie und Entscheidungsmacht des Subjekts muss als deutlich ambivalent eingestuft werden: Zwar zeigen sich neue Chancen auf strategische Partizipation, die in Form der als positiv empfundenen Öffnungs- und Flexibilisierungsdynamiken der Erwartung der Angestellten entgegenkommen, sich als ganze Person in die Arbeit einzubringen, gleichzeitig birgt dieser Zugewinn Probleme der (Neu-)Integration von nicht länger klar umrissenen Teilbereichen mit sich, die möglicherweise wieder zu Versuchen der Neueingrenzung und stärkeren Regulierung angesichts der erodierten Ordnung führen. (4) So ergibt sich als sozialethisches Desiderat einer gelungenen Utopie von Arbeit trotz oder vielleicht gerade angesichts der Tendenz zur Entgrenzung die Notwendigkeit, die neuen Beschäftigungsformen nicht in Form einer impliziten Möglichkeit oder gar Pflicht, sondern als Recht auf diskontinuierliche Erwerbsarbeit zu fassen, die die Hoffnung auf persönliche Einflussnahme und das Einbringen der eigenen Person nicht betrieblich ausbeutbar macht. Erst ein Recht auf wählbare Zeit, die die indirekte Form der Entgrenzung in tarifliche Rahmenbedingungen einfügt, kommt dem in diesem Modell anvisierten Ideal der Autonomie wirklich nahe und minimiert die genannten Schwierigkeiten, die sich aus der zeitlichen Abstimmung von Arbeit und (Privat-)Leben ergeben. 3.2.1 Tertiarisierung Eine ebenfalls unmittelbar mit der semantischen Analyse zusammenhängende Erscheinungsform entgrenzter Arbeit wird in der Arbeitsso19
20
Vgl. Janczyk (2005), 117, beschreibt dieses Anforderungskriterium als externe Soziabilität. Vgl. Jürgens (2005), 50.
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ziologie unter dem Begriff der Tertiarisierung verhandelt. Tertiarisierung nimmt Bezug auf die Drei-Sektoren-Hypothese Jean Fourastiés, der zufolge Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistung die drei Sektoren der Arbeit darstellen. Obwohl diese Begriffsbildung durchaus prominenten Status erreicht hat, muss dennoch nach der Trennschärfe der von ihr definierten Sektoren und möglichen Schwierigkeiten der Beibehaltung dieser Kategorisierung gefragt werden. Während sich die Beschäftigung in der Landwirtschaft in Westeuropa auf 3-5% reduziert hat, kann für den Dienstleistungssektor eine Differenzierungsstufe angenommen werden, die die Vergleichbarkeit dieser Formen fragwürdig erscheinen lässt, zumal vielfach bereits von einem vierten Sektor der Wissensarbeit gesprochen wird.21 Tertiarisierung meint somit die Überlagerung von Aufgaben des Dienstleistungsbereichs in die ersten zwei Sektoren, wenn beispielsweise die Tätigkeitsfelder der im produzierenden Sektor Beschäftigten nicht mehr nur von klassischer Produktionsarbeit geprägt sind, sondern immer mehr auch Dienstleistungsaufgaben umfasst. Darunter fallen primäre Dienstleistungsaufgaben wie Handels- und Bürotätigkeit, Reinigungsarbeit und Bewirtungstätigkeiten, eben wie sekundäre Dienstleistungsaufgaben wie Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, Organisation und Beratung. Das semantische Gerüst und die suggerierte Trennschärfe der drei Sektoren führt also mit dazu, dass es zu deutlich breiteren aber oft systematisch invisibilisierten Tätigkeitszuschnitten kommt, wenn die Qualifikationsanforderungen und der Arbeitsumfang im Zuge innerer Tertiarisierung steigen. Luczak veranschaulicht das Anforderungsprofil eines Beschäftigten wie folgt: „Im Idealfall ist er Kundenberater, Problemlöser und unter Umständen sogar Verkäufer in einer Person. Er ist versiert auf den Gebieten der Elektrik und Elektronik sowie der Mechanik und Mechatronik. Er spricht alle Weltsprachen und ist mir fremdländischen Kulturen und Gebräuchen bestens vertraut. Er lernt schnell, bringt sich alle notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten selbst bei und ist als Pädagoge auch in der Lage, sein Wissen an den Kunden und an Kollegen weiterzugeben. Außerdem zeichnet er sich durch Einsatzbereitschaft, Loyalität und Sensibilität für die Wünsche des Kunden aus. Nicht zuletzt ist der „ideale“ Servicetechniker auch an der Grenze seiner Belastbarkeit stets freundlich“.22
21 22
Vgl. Steinmüller (2010), 233-242. Luczak (1999), 105.
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Tertiarisierung kann singulär betrachtet nur mit Schwierigkeiten als utopisches Konzept betrachtet werden, hängt aber unmittelbar mit der Entgrenzung von Arbeit zusammen. Die sozialethische Analyse muss auf diese blinden Flecken und die Probleme hinweisen, die aus der gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit entstehen, die verschiedene Produktions-, Arbeits- und Beschäftigungsformen gegeneinander verwirft. Besonders mit Blick auf die Arbeitszeit kann die fortschreitende Tertiarisierung zu produktionsbegleitender Mehrarbeit führen und spezielle Zeitregelungen außerhalb der Normalarbeitszeit nötig machen. Diese sind nicht per se problematisch, können die individuelle Autonomie aber unterlaufen, wenn sie unter der Hand und unausgesprochen vorausgesetzt werden. Auch hier gilt das Desiderat, entsprechende Mehrarbeit kenntlich zu machen und als solche, auch wenn sie „sektor-fremd“ ist, anzuerkennen. Angesichts der Diffusion von Grenzen, wie sie hier vorliegen, sollte in diesem Fall der Differenzierung von Strukturen der Vorzug vor deren Diffusion gegeben werden, mit anderen Worten: Undeutliche Tätigkeitszuschnitte müssen durch die Überführung in gesetzliche Regelungen klarifiziert und explizit gemacht werden. 3.2.2 „Gamification“: Arbeit als Spiel Grenzüberschreitungen deuten sich auch zwischen den Feldern von Arbeit und Spiel an, so etwa in den Bemühungen, eintönige aber komplexe Arbeitsschritte, wie sie beispielsweise bei der Verwaltung großer Datenbanken vorliegen, in Spielformate zu überführen, um die Konzentration der Beschäftigten stärker zu fokussieren. Hier wird mit anderen Worten versucht, die intrinsische Motivation, die mit dem Spielerischen verknüpft ist, strategisch auf die Arbeitsaufgaben zu übertragen und einen höheren Leistungsoutput in Aussicht zu stellen. In diesem Zusammenhang sind auch die Anstrengungen moderner Firmenphilosophien einzuordnen, die ihre Betriebsgelände durch Fitnessanlagen, Basketballplätze oder Entspannungsräume ergänzen und ihrer Belegschaft deren Nutzung während der Arbeitszeit nahelegen. Diese Spielmöglichkeiten setzen auf den Effekt, dass sich die Rekreationsphasen trotz deren Unproduktivität durch die sich anschließende Phase erhöhter Produktivität amortisieren lassen. Arbeit und Nicht-Arbeit werden hier durchmischt, oder genauer: Die NichtArbeit wird systematisch in den Dienst der Arbeit gestellt. Arlie Hochschild geht in ihrer vielbeachteten Studie Keine Zeit auf die Konsequenzen dieser Strategien ein, die den Beschäftigten eine hohe Iden-
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tifikation mit den Betrieben ermöglichen. Neben den Folgen der Überarbeitung und des Überengagements kann sie zeigen, dass der Arbeitsplatz hier die zentrale Rolle sozialer Identifikation einnimmt, während gleichzeitig die Familie und das Zuhause zunehmend als Sphäre belastender, taylorisierter Arbeit23 wahrgenommen werden. Die Familie entwickelt sich so von einer quasi natürlichen Ressource zu einer aktiven und voraussetzungsvollen Herstellungsleistung24. Die Funktionalisierung, die hier mit der Indienstnahme der NichtArbeit zugunsten der Arbeit verbunden ist, verweist in der sozialethischen Reflexion auf ein Defizit in der Bestimmung dieser Relation, die Freizeit gerade nur als Nicht-Arbeit definiert und damit die vermeintliche Vorrangstellung der Arbeit verfestigt. Gerade die kirchliche Lehrverkündigung betont demgegenüber die Freizeit als ein eigenständiges und dynamisches, von der Arbeit abgekoppelt zu sehendes Phänomen menschlichen Daseins. Mit besonderer Betonung verweist die Enzyklika Mater et magistra daher auf den Stellenwert der Unterbrechung der Arbeit für die persönliche Erholung und das soziale Zusammensein25: Erst außerhalb der funktionalistischen Vereinnahmung kann Freizeit Teil einer gelingenden Utopie guter Arbeit sein.
4. RÜCKBLICK: WAS BLEIBT VON DER UTOPIE DER ARBEIT? Moderne Utopien sind Zeit-Utopien, so der Ausgangspunkt der Überlegungen. In einer funktional-differenzierten Gesellschaft stellen sie damit ein paradoxes Konstrukt dar: Sie simulieren eine übergreifende und integrierende Zeitperspektive in einer Gesellschaft, der jene Zentralperspektive bereits abhanden gekommen ist. Dennoch kann sich die Sozialethik auch diesen jeweiligen utopischen Entwürfen in Form einer Beobachtung zweiter Ordnung nähern und konzeptionelle Schwächen sichtbar machen, die sich aus den utopischen Perspektiven und ihren jeweiligen Vorschlägen, die systemischen Eigenzeiten zu synchronisieren, ergeben. Damit macht sie zugleich deutlich: Wenn Gesellschaft als zunehmend spezialisiert und ausdifferenziert erscheint, muss sie in gleichem Maße an der Integration der sich damit ergebenden Perspektiven arbeiten.
23 24 25
Vgl. Hochschild (2006). Vgl. Schier/Jurczyk (2007), 10-17. Vgl. Johannes XXIII. (1961), Mater et magistra, Nr. 249-251.
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Die untersuchten Arbeitskonzepte der Rationalisierung und Entgrenzung haben sich dabei als zwei verschiedene Möglichkeiten dargestellt, die fehlende zeitliche Zentralperspektive auf die Arbeit nachzubilden: Während Rationalisierung dabei vornehmlich dem Erwerbsbereich die Strukturdominanz über die zeitliche Ausgestaltung der Arbeit einräumte, zeigte sich bei der entgrenzten Arbeit ein ambivalentes Bild: Der ins Subjekt verlagerte Synchronisationsaufwand bietet, wenn er in gesetzliche Regelungen überführt wird, die Chance zu neuer strategischer Partizipation und ermöglicht das Einbringen der eigenen Person in die Arbeit. Während dieser Gedanke dem utopischen Ideal bereits nahe kommt, bleibt aber immer auch die Möglichkeit der Ausbeutung derartiger Flexibilisierungsdynamiken zu sehen. Diese Ergebnisse scheinen der Ausgangsfrage nach den (Un-)Möglichkeiten einer sozialethischen Utopie die Form einer ‚negativen‘, immer nur annäherungsweise verfahrenden und nie erschöpfend fassbaren Utopie zu verleihen. Zwar bietet die Zeitutopie eine formale Heuristik, unzulässige Eingriffe in die Eigenzeiten aufzudecken, sie lässt die Frage nach den möglichen Auswegen aber systematisch offen: Die konkrete positive Bestimmung einer sozialethischen Utopie von würdevoller Arbeit verbleibt als Desiderat, das sich angesichts der Dystopie-Erfahrungen einer vorschnellen Vereinnahmung entziehen muss.
Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988. Andresen, Sünne/Völker, Susanne, Hat das Arbeitssubjekt der Zukunft (k)ein Geschlecht? Überlegungen zur Analyse der aktuellen Umbrüche in der Arbeit aus genderkritischer Perspektive, in: Lohr, Karin/Nickel, Hildegard (Hgg.), Subjektivierung von Arbeit – Riskante Chancen, Münster 2005, 92-114. Angehrn, Emil, Dialektik der Utopie. Von der Unverzichtbarkeit und Fragwürdigkeit utopischen Denkens, in: Hofmann-Riedinger, Monika (Hg.), Anerkennung. Eine philosophische Propädeutik. Festschrift für Annemarie Pieper, Freiburg u.a. 2001, 186-199.
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Hochschild, Arlie, Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Wiesbaden 22006. Horkheimer, Max: Die Utopie, in: Neusüss, Arnhelm (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Berlin 1986, 178-192. Horkheimer, Max, Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1985. Janczyk, Stefanie: Arbeit, Leben, Soziabilität. Zur Frage von Interdependenzen in einer ausdifferenzierten (Arbeits-)Gesellschaft, in: Dies./Kurz-Scherf, Ingrid Correll, Lena (Hgg.), In Arbeit: Die Zukunft der Arbeit und der Arbeitsforschung liegt in ihrem Wandel, Münster 2005, 104122. Johannes XXIII., Mater et magistra [1961], in: Bundesverband der Katholischen Arbeitsnehmer-Bewegung Deutschlands KAB (Hg.), Texte zur Katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, mit Einführungen von Oswald von Nell-Breuning und Johannes Schasching, Köln/Kevelaer 1989, 211-280. Jürgens, Kerstin, Zeithandeln – eine neue Kategorie der Arbeitssoziologie, in: Gottschall, Karin/Voß, G. Günther (Hgg.), Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privat2 sphäre im Alltag, München 2005, 37-58. Korff, Wilhelm, Wandlungen im Verständnis der Arbeit aus der Sicht der christlichen Soziallehre, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 27 (1986), 11-34. Kratzer, Nick/Sauer, Dieter, Entgrenzung von Arbeit. Konzept, Thesen, Befunde, in: Gottschall, Karin/Voß, G. Günther (Hgg.), Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Er2 werbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München 2005, 87-123. Levitas, Ruth, Sociology and Utopia, in: Sociology 31 (1979), 19-33. Luczak, Holger, Servicemanagement mit System. Erfolgreiche Methoden für die Investitionsgüterindustrie, Berlin 1999. Mannheim, Karl, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1995. Moldaschl, Manfred, Subjektivierung. Eine neue Stufe in der Entwicklung der Arbeitswissenschaften? in: Ders./Voß, G. Günther (Hgg.), Subjekti2 vierung von Arbeit, München 2003, 25-32. Nassehi, Armin, Keine Zeit für Utopien. Über das Verschwinden utopischer Gehalte aus modernen Zeitsemantiken, in: Ders./Eikelpasch, Rolf (Hgg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a. M. 1996, 242-287. Nell-Breuning, Oswald von, Arbeitet der Mensch zuviel?, Freiburg 1985.
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Muße – Eine vernachlässigte Dimension in der beschleunigten Arbeitsgesellschaft Anthropologische und theologische Überlegungen zum Verhältnis von Arbeit und Muße Sonja Sailer-Pfister
Stress, Hektik und Zeitdruck prägen unseren Alltag. Viele müssen versuchen, die unterschiedlichsten Aufgaben und Verpflichtungen in den Tagesablauf zu integrieren. Die zur Verfügung stehende Zeit muss nahezu perfekt eingeteilt und geplant werden. Beruf, Karriere, Familie und eigentlich auch Hobbies und Freundeskreis in Einklang zu bringen, stellt eine alltägliche Herausforderung dar. Es muss alles immer schneller gehen, Termine für Projekte sind einzuhalten, für vieles wird viel zu wenig Zeit eingeplant. Manche vorgegebenen Zeitpläne sind völlig unrealistisch und gar nicht einzuhalten, der Druck steigt. Wo bleiben da die Ruhe, die Entspannung, die Muße? Der folgende Artikel versucht, ausgehend von dem Phänomen der Beschleunigung als Kennzeichen einer modernen Arbeitsgesellschaft, gegen eine Verabsolutierung der Arbeit vor allem den anthropologischen Stellenwert der Muße, des Kultes und des Festes als gesellschaftlich notwendige und sinnvolle Dimensionen menschlicher Existenz herauszuarbeiten und die anthropologische und theologische Relevanz der christlichen Sonntagstradition stark zu machen. Am Ende steht ein Plädoyer für den Schutz des Sonntags als Tag der Muße und des Kultes, als ein arbeitsfreier Tag, der nicht kapitalistischen Zwängen unterworfen ist.
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1. BESCHLEUNIGUNG – EIN KRISENPHÄNOMEN DER MODERNEN ARBEITSGESELLSCHAFT? Immer mehr Menschen leiden unter der modernen Arbeitswelt, ihrer Unübersichtlichkeit, ihrer Unberechenbarkeit, ihrer Beschleunigung. Ein Indiz dafür sind die steigenden Krankmeldungen wegen Depression und Burn-out. Viele fühlen sich gehetzt, überfordert, ausgebrannt … „Kommen wir hier noch raus?“ so lautet eine Überschrift im Feuilleton der Zeit vom 25. 8. 2011.1 Der Artikel porträtiert einen britischen Intellektuellen, namens Tom Hodgkinson, der 2004 das Buch „How To Be Idle“ (Anleitung zum Müßiggang) geschrieben hat. Im Vorwort schreibt Hodgkinson: „Der Zweck dieses Buches ... ist es ... die Arbeitskultur der westlichen Welt anzugreifen, die so viele von uns versklavt, demoralisiert und deprimiert hat.“2 „Unsere Gesellschaft leidet an Gier, Konkurrenz, einsamen Streben, Grauheit, Schulden, McDonald´s ... Wir leben im falschen System. Wir müssen uns befreien von Sorgen, Angstzuständen, Hypotheken, Geld, Schuldgefühlen, Schulden, Regierungen, Langeweile, Supermärkten, Rechnungen, Melancholie, Schmerz, Depressionen und Verschwendung“3, so Hodgkinson. Eine radikale These, deren Forderungen durchaus sehr bedenkenswert sind. Hodgkinson selbst zeigt keine wirklichen Alternativen auf. Seine Empfehlung lautet: „Hört auf zu jammern! Kündigt eure Jobs, arbeitet frei oder in Teilzeit! Lernt ein Handwerk, gründet ein Geschäft, baut Gemüse an, zerschneidet eure Kreditkarten! Zieht auf´s Land, wo alles billiger ist. Backt Brot, spielt Ukulele! ... Das heißt: Weg mit Auto, teuren Reisen, iPods, Pradagürteln und vor allem weg mit dem Fernsehapparat.“4 Sein Programm lautet also radikaler Konsumverzicht. Die Probleme seines Vorschlags liegen auf der Hand. Es stellt sich die Frage, ob dieses Konzept nicht schlichtweg naiv ist? Kann Wirtschaft so funktionieren? Und außerdem ist es nicht zynisch angesichts von Arbeitslosigkeit, Existenzsorgen vieler Menschen und sozialer Spannungen? Er selbst kann sich als britischer Intellektueller der Oberschicht, als freiberuflich Tätiger, ein alternatives Leben leisten, sicher aber nicht Call-Center Mitarbeiter, Busfahrer oder Polizisten 1 2 3 4
Gaschke (2011), 39-40. Zitiert nach Gaschke (2011), 39. Gaschke (2011), 39. Gaschke (2011), 40.
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etc. Ihre Arbeit fordert nun mal körperliche Anwesenheit! Sind also seine Ideen nur „luxuriöse Mittelklassefantasien“? Oder, wie ich meine, doch in manchen Teilen bedenkenswert? Ein anderer Artikel in diesem Feuilleton hat den Titel „Nur die Ruhe. Bremsen, nachdenken, umsteigen: Die rasende Moderne beginnt mit ihrer Selbstreparatur.“5 Darin heißt es: „Am vorläufigen Ende dieser Moderne stehen wir heute, schwindelig vor Mails, powershoped, erschöpft und wütend nach Auszeiten suchend, erleichtert über jede Flugpause, die ein isländischer Vulkan in das lärmende Übliche zwingt. Zwar geht alles schneller, doch soll auch immer mehr an Begebenheiten, Produkten und Tätigkeiten in eine Stunde passen. Jedes Neue verdampft, bevor wir es gespürt und begriffen hätten, und immer mehr Ressourcen verschlingt der Heißhunger nach augenblicks schon Vergangenem ...“6 Diese Feststellung stellt ebenfalls unsere moderne rasende bzw. beschleunigte Gesellschaft in Frage – die Frage nach Langsamkeit, nach Ruhe und Muße ist also am Puls der Zeit. Der Soziologe Hartmut Rosa hat die eben skizzierten Befunde zu einer Theorie der Moderne verdichtet. „Die Temporalstrukturen der Moderne ... stehen vor allem im Zeichen der Beschleunigung. Die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen ist ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft.“7 Rosa unterscheidet drei grundlegende Dimensionen der sozialen Beschleunigung in der modernen Gesellschaft: 1. Phänomene technischer Beschleunigung, das heißt Beschleunigung des Transportes, der Kommunikation und der Produktion. 2. Beschleunigung des sozialen Wandels, „das heißt die Steigerung der sozialen Veränderungsraten im Hinblick auf die Assoziationsstrukturen, die (theoretischen, praktischen und moralischen) Wissensbestände sowie die Handlungsorientierungen und Praxisformen der Gesellschaft.“8 Beschleunigung heißt z. B. schnelle Veränderung der Moden und Lebensstile, aber auch beschleunigte Veränderung der Arbeitsverhältnisse, Familienstrukturen oder der politischen und religiösen Bindungen ... 3. Beschleunigung des Lebenstempos. Sie manifestiert sich in der Erfahrung von Zeitnot und Stress und kann als „Steigerung der
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Thadden (2011), 39. Thadden (2011), 39. Rosa (2005), 15. Rosa (2005), 462.
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Zahl der Handlungs- und /oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“9 definiert werden. Die Beschleunigung des Lebenstempos wird an Fast-Foodketten oder Speed-Dating sichtbar, durch die Verkürzung von Pausen oder Leerzeiten und durch eine Verdichtung der Handlungen durch Multi-tasking. Die Beschleunigung führt gleichzeitig zu einer „progressiven Fragmentierung der Handlungsstränge“10, das heißt die Menschen konzentrieren sich immer kürzere Zeitspannen auf eine Sache. Permanente Erreichbarkeit und Verfügbarkeit leisten einen erheblichen Beitrag zu dieser Entwicklung. Die Auswirkungen dieses beschleunigten sozialen Wandels sind horrend sowohl für das Individuum als auch für eine Gesellschaft und ihre Organisationen. Das Individuum und die Organisationen stehen unter ständig wachsendem Adaptionsdruck, der das Gefühl verleiht, überall auf abrutschendem Terrain bzw. auf der Rolltreppe nach unten zu stehen: „Um seine Position zu halten, um Optionen und Anschlussmöglichkeiten nicht zu verlieren und um die Synchronisationsanforderungen zu erfüllen, müssen die Umweltveränderungen stets mit- und nachvollzogen werden. Phasen des Stillstandes oder des temporären Ausstieges sind dann durch ein erhöhtes Aufholtempo wieder wettzumachen.“11 In allen Industriestaaten klagen die Bürgerinnen und Bürger über Stress, Zeitnot und die latente Angst, nicht mehr Schritt halten zu können. Auf der einen Seite herrscht so etwas wie Verpassensangst, die Sorge im eigenen Leben irgendetwas Wichtiges zu versäumen, die zur Verfügung stehende Zeit nicht optimal auszufüllen und zu nutzen, und auf der anderen Seite der ständige Druck, sich an das Tempo des gesellschaftlichen und technischen Wandels anzupassen, verbunden mit dem Gefühl stets seiner Zeit hinterher zu hecheln und doch immer zu langsam zu sein. Es gibt keinen Punkt mehr, keine Ruheposition, von der aus man die Sachen und Entwicklungen in Ruhe sondieren könnte, um dann Handlungsoptionen zu entwickeln. Oft stehen die Entscheidungsträgerinnen und -träger unter so großem Zeitdruck, dass sie keine Möglichkeit haben, verschiedene Optionen zu erwägen, geschweige denn Auswirkungen und Folgen zu überdenken und abzuschätzen. 9 10 11
Rosa (2005), 463. Rosa (2005), 469. Rosa (2005), 468.
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Die Beschleunigung hat auch massive gesellschaftliche Auswirkungen. Die intergenerationelle Kluft in den lebensweltlichen oder alltagspraktischen Orientierungen wächst. Erfahrungen für den Generationenaustausch werden entwertet. Welche Folgen diese Prozesse für die Weitergabe kulturellen und religiösen Wissens haben, sind ebenso wenig erforscht, wie die Möglichkeit der Aufrechterhaltung einer intergenerationellen Solidarität.12 Wo ist angesichts solcher gesellschaftlicher Entwicklungen und Prozesse Platz für die Langsamkeit, für die Ruhe und die Muße? Ist eine Entschleunigung überhaupt möglich? Bevor ich auf die Suche nach der scheinbar verlorenen Muße in der beschleunigten Arbeitsgesellschaft gehe, und diese anthropologisch und theologisch deute, ist es notwendig, einige Begriffsklärungen vorzunehmen.
2. BEGRIFFSKLÄRUNGEN Bei all den Diskussionen um die Entwicklungen und Problemlagen der beschleunigten Arbeitsgesellschaft muss immer wieder deutlich werden, dass nicht jedes menschliche Aktiv-sein, dass nicht jede Tätigkeit „Arbeit“ ist. Daher möchte ich zunächst einige Abgrenzungen treffen, auch um der gängigen Verengung von Arbeit als Erwerbsarbeit in der modernen Gesellschaft entgegen zu treten. Arbeit ist viel umfassender zu verstehen als die auf Gelderwerb ausgerichtete Tätigkeit.
2.1 Arbeit – Freizeit, Ruhe, Erholung Im Alltagsprachgebrauch ist der Gegenbegriff von Arbeit „Freizeit“ oder „Urlaub“. Das Freizeitbudget des modernen Menschen stieg stetig an, vor allem durch zunehmende Verkürzung der Arbeitszeiten durch die Gewerkschaften. Dieser gewonnene zeitliche Raum erscheint uns heute als eine Selbstverständlichkeit. Je mehr „Freizeit“ möglich war, desto stärker suchte man auch nach einer Deutung dieser Zeitspannen.13
12 13
Vgl. Rosa (2005), 468. Vgl. Bleistein (2000), 808-813.
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Jürgen Habermas teilte der Freizeit eine „regenerative, suspensive oder kompensatorische Funktion“14 zu. Plasch Spescha unterschied zwischen Arbeitszeit, Freizeit und Sozialzeit15, vor allem um auch die soziale Verpflichtung des Menschen zu betonen. Freizeit wurde und wird teilweise heute noch mit einer hedonistischen Selbstverwirklichung und Egoismus assoziiert. Soziale und gesellschaftliche Verpflichtungen bleiben dann auf der Strecke. Dies wird auch aktuell immer wieder in der Debatte um das Ehrenamt und das bürgerschaftliche Engagement moniert. Bei dieser ganzen Entwicklung ist zu beobachten, dass alles, was bislang als „Muße“ begriffen wurde, unter dem Begriff „Freizeit“ subsumiert wurde und häufig dem Diktat der Freizeitindustrie, in der dann wieder Menschen arbeiten, unterstellt wurde mit dem Resultat, dass eine neue Art Stress entstand, der so genannten Freizeitstress. Freizeit hat heute oft Eventcharakter. Man möchte in seiner Freizeit etwas erleben, Neues entdecken und natürlich auch hier den neuesten Trends folgen.
2.2 Arbeit – Muße Eine zweite Abgrenzung ist zu ziehen zwischen Arbeit und Muße, denn Muße meint nicht dasselbe wie Freizeit. Muße wird hier verstanden als eine „Art von Tätigkeit ... die nicht eines Anderen wegen getan wird, für das oder den sie Mittel wäre ..., sondern die Selbstzweck ist: 16 also um ihrer selbst willen ... getan wird.“ Solche Tätigkeiten sind zum Beispiel Sport, insofern er nicht primär ökonomisch verzweckt wird, Tanz, Theater- oder Konzertbesuche, Lektüre von Gedichten und Romanen, Fernsehen, spazieren gehen, Spielen, Meditation und zweckfreies Gebet.17 Muße zu haben, bedeutet, Zeit zu haben, um neue Ideen zu entwickeln, Zeit, um eingefahrene Verhaltensmuster zu überdenken, Alternativen auszuprobieren ...18 Stunden der Muße sind „jene Stunden, in denen wir ganz das Gefühl haben, Herr über unsere eigene Zeit zu sein, in denen wir einmal nicht dem Geld, der Karriere oder dem 14 15 16 17 18
Habermas (1958), 221. Vgl. Spescha (1981). Haeffner (1999), 12. Vgl. Haeffner (1999), 13. Vgl. Schnabel (2010), 19.
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Erfolg hinterherrennen, sondern in denen wir zu uns selbst und unserer eigentlichen Bestimmung kommen.“19 Muße beschränkt sich also nicht auf das Nichtstun. Muße kann zum Beispiel beim Wandern oder Musizieren entstehen oder durch eine inspirierende Unterhaltung! Wesentlich ist, dass Muße nicht der modernen Verwertungslogik unterworfen ist!20 Muße ist zweckfrei, sie hat einen Wert an sich! Aufgrund dieser eben vorgenommenen Abgrenzung ist Arbeit eine zweckgebundene21 und zielorientierte Tätigkeit. Vorrangiger Zweck ist die Sicherung der eigenen Existenz bzw. die der Familie, aber auch andere Zwecke und das Erreichen von Zielen, zum Beispiel die Fertigstellung eines Projektes, die Förderung der Gemeinschaft, eine gute Erziehung der Kinder etc. sind anzuführen. Arbeit dient nicht nur materiellen Zwecken und Zielen. Deshalb sind Haus- und Familienarbeit, Bildung, Studium und wissenschaftliche Tätigkeit unter dem Arbeitsbegriff zusammenzufassen und damit der Erwerbsarbeit gleichrangig. Wenn auch die Abgrenzungen der Begriffe schwierig sind und nicht immer klare Trennlinien zwischen Tätigkeiten, die als Arbeit qualifiziert werden, und jenen, die dem Bereich der Muße zuzurechnen sind, gezogen werden können, so steht Arbeit hier für eine zweckgebundene und zielorientierte, oft mühevolle, regelmäßige, einen beträchtlichen Teil der aktivitätsfähigen Lebenszeit ausfüllende Tätigkeit, die als Pendant zur Muße die Personalität des Menschen ausdrückt.
2.3 Arbeit – Fest, Kult Die letzte Abgrenzung, die in diesem Kontext, vorzunehmen ist, ist die zwischen ‚arbeiten‘ und ‚feiern‘ bzw. wenn man die religiöse Komponente mit berücksichtigt, kann Arbeit auch ein Gegenbegriff zu „Kult“ sein. Bei religiösen oder kultischen Handeln kommen noch andere Zeitdimensionen, die ebenfalls für den Menschen sehr wichtig sind, zum Vorschein. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von „sakraler Zeit“22. Es ist erstaunlich, dass ein Gesellschaftstheoretiker diese 19 20 21
22
Schnabel (2010), 21. Vgl. Schnabel (2010), 21. Vgl. zum Verständnis von Arbeit als zweckrationales Handeln Krebs (2002), 24f. bzw. zu einem zweckorientierten Arbeitsbegriff Haeffner (1999), 5-8. Rosa (2005), 36.
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Zeitdimension hervorhebt. „Die sakrale Zeit hat dabei im Gegensatz zur linearen, quantitativen, der diesseitigen Welt und dem Alltag („Werktag“) zugehörigen profanen Zeit einen zeitlos-zyklischen, qualitativen, einer anderen oder höheren Welt zugehörigen Charakter. Sie verbindet sich an außeralltäglichen „nodalen“ Punkten23, das heißt zu besonderen Zeiten, Ritualen und Festen (im christlichen Kulturkreis etwa an Sonntagen, zu Weihnachten oder zu Ostern), mit der profanen Zeit, indem sie den Alltag gleichsam im Sinne einer „Auszeit“ deutlich unterbricht ...“24 Genau hier hat die christliche Sabbat- und Sonntagstradition ihren Sitz im Leben, ihre anthropologische und theologische Relevanz, wie in den weiteren Ausführungen noch deutlich wird.
3. ANTHROPOLOGISCHE UND THEOLOGISCHE DEUTUNGEN 3.1 Arbeit und Muße als Ausdruck der Menschenwürde und Personalität Arbeit und Muße sind typisch für den Menschen, der sich als aktives, sich verwirklichendes Wesen versteht, der aber „wie alle Natur – in einem Rhythmus von Tätigkeit und Ruhe, von Ein- und Ausatmen, von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, von Aufgang und Niedergang eingebunden ist. In seinem Lebensganzen setzt sich dieses kreatürliche Prinzip in Arbeit und Freizeit um, denn ein ganzer Mensch verwirklicht sich in der unmittelbaren Einheit von Arbeit und Freizeit, wobei dem Raum der Freizeit eine eher rekreative Funktion in Freiheit zufiele.“25 Freie Zeit, Ruhe und Muße26 sind das Pendant zur Arbeit. Beide Aspekte sind Ausdruck eines ganzheitlichen Menschen, der Person bzw. theologisch ausgedrückt der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Daher ergibt sich auch die Forderung einer sinnvollen Gestaltung der freien Zeit im Sinne der Wiederentdeckung der Muße, des Kultes und des Festes. Freizeit soll den Festcharakter des Lebens ausdrücken, jenseits alltäglicher Sachzwänge. Sie ist eine zweckfreie Zeit. Ein solches Verständnis von Freizeit wendet sich gegen eine immer stärkere Kommerzialisierung, gegen eine Instrumentalisierung der freien Zeit. Da23 24 25 26
Das bedeutet ‚Knotenpunkte‘. Rosa (2005), 36. Bleistein (2000), 809. Vgl. zur Sabbattradition Sailer-Pfister (2006), 508-511.
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her scheinen die Begriffe Ruhe und Muße eher das Pendant zur Arbeit auszudrücken bzw. die anthropologische Dimension zu beschreiben, die neben der Arbeit als zweckgebundene und zielorientierte Tätigkeit so wichtig ist für die Entfaltung der Person, nämlich Zeit zu haben für sich und persönliche Interessen, Zeit zum Nachdenken und Reflektieren, Zeit für Beziehungen, Zeit zum Feste feiern. Daher ist die Verabsolutierung der Arbeit vor allem der Erwerbsarbeit in der modernen Arbeitsgesellschaft aus anthropologischethischer Perspektive stark zu hinterfragen, denn dadurch werden grundlegende anthropologische Dimensionen vernachlässigt. Der Mensch wird auf seine Erwerbsarbeit reduziert. Ruhe und Muße müssen daher als anthropologisch der Arbeit gleichwertige Dimensionen menschlicher Existenz neu entdeckt werden. Dabei kann die Sabbatbzw. Sonntagstradition Pate stehen.
3.2 Arbeit im Horizont der Sabbattradition 3.2.1 Teilhabe des Menschen an der Ruhe Gottes Arbeit und Ruhe bzw. Muße gehören zusammen. Der siebte Tag im priesterlichen Schöpfungsbericht gehört konstitutiv zur Schöpfung, denn sie ist am sechsten Tag noch nicht vollendet, sondern wird durch den siebten Tag, dem Tag der Ruhe geheiligt.27 Gott ist ein Arbeitender und ein Ruhender.28 Der Mensch als Mitschöpfer und Gottes Ebenbild hat nicht nur Teil an der Arbeit, sondern auch an der Ruhe Gottes. Nicht nur durch Arbeit hat der Mensch am Schöpfungswerk teil, sondern auch Ruhe und Muße hat Schöpfungsqualität. Gerade in einer von Erwerbsarbeit dominierten Gesellschaft ist diese Reflexion wichtig. Das menschliche Leben ist mehr als Arbeit. Die Erwerbsarbeitszentrierung vernachlässigt wichtige Lebensvollzüge wie Ruhe, Muße, Zeit für sich und die anderen bzw. Zeit zum Nachdenken oder Reflektieren, Zeit für Spiritualität oder Religion und Zeit zum Feiern. Erwerbstätige Menschen haben zumeist relativ viel Freizeit, die jedoch zunehmend unter dem Konsumzwang der Freizeitindustrie steht. Freizeitgestaltung produziert abermals Stress. Damit Arbeit sinnvoll und menschlich bleibt, bedarf sie einer Ergänzung anderer Art, das heißt nicht durch eine ebenfalls kommerzia27 28
Vgl. Bieberstein (2003), 15-29. Vgl. Sailer-Pfister (2006), 429-462.
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lisierte Freizeitindustrie, in der dann wieder Menschen arbeiten, sondern eine Ergänzung spiritueller Art. Dazu kann eine theologische Reflexion des Sabbatgebotes eine Hilfe sein. Der Sabbat ist bibeltheologisch nicht primär zum Ausruhen von den Anstrengungen der voran gegangenen Arbeitswoche da und zur Vorbereitung auf den nächsten Stress gedacht. Diese geläufige vor allem in der modernen Gesellschaft gebrauchte Instrumentalisierung des Ruhetages trifft nicht die Intention des siebten Tages. Am Sabbat geht es um die Vergegenwärtigung des bisher Geleisteten, die Vergegenwärtigung der Vollendung des primären Schöpfungswerkes von Seiten Gottes. „Sie wird in der Beendigung der Wochenarbeit gefeiert. Dieses Ende ist zugleich Vollendung und als solche Heiligung Gottes (Gen 2,3; Ex 20,11).“29 Es geht um die Vergegenwärtigung dessen, was Menschen als Teilhaber am Schöpfungswerk, welches im Sinne der Schöpfungserhaltung und Gestaltung noch nicht vollendet ist und in dem Gottes Geist durch die Menschen weiter wirkt, geleistet oder auch versäumt haben. Das bedeutet, dass das wöchentliche Arbeitspensum so beschaffen sein sollte, das es in sechs Tagen vollendet werden kann, sodass ein Neubeginn möglich ist. Dies ist heute in Bezug auf die moderne Arbeitsgesellschaft in der Flexibilisierung, Entgrenzung und Prekarisierung im Vordergrund stehen, so dass kaum mehr Pausen möglich sind, geschweige denn Leerzeiten oder Auszeiten für alle gleichzeitig, wieder neu zu bedenken. Man kann und will sich Auszeiten nicht mehr leisten. Man ist immer und überall erreichbar. Ruhezeiten sind ein Gegenpol zum „beschleunigten Leben“30, dessen alltägliche Abläufe immer schneller, effizienter und zeitsparender sein müssen. Die Menschen haben das Gefühl, zur Beschleunigung gezwungen zu sein. Die Begrenzung menschlichen Daseins zwingt aber nicht nur zur Beschleunigung. „Sie zwingt uns auch zu Verlangsamungen und Unterbrechungen. Wenn unser Leben befristet ist, können wir gar nicht alles Mögliche erreichen. ... Der Wettlauf mit dem Tod ist nicht zu gewinnen – auch nicht mit dem Trick, die Erlebnisdichte pro Zeiteinheit zu erhöhen, um in einem Durchschnittsleben das Pensum von zwei oder drei Existenzen zu schaffen. ... Die Bilanz wird immer so ausfallen, dass die verpassten Gelegenheiten im Vergleich zu den genutzten in der Überzahl sind. Daher zwingt uns die Zeit dazu, nicht alles Mögliche zu wollen, sondern nur Einiges. Wir müssen ent-
29 30
Bietenhard (1998), 11. Vgl. Sailer-Pfister (2006), 355-356 bzw. Glotz (1999), vor allem 131-139.
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scheiden und wählen.“31 Diese Entscheidungsprozesse benötigen Zeit, denn um von ihnen auch profitieren zu können, ist ein Verweilen bei einer Sache nötig. Diese Verweilzeiten sorgen für Genauigkeit und stellen Vertrautheit her.32 „Das Verweilen – mag es sich als ästhetisches Anschauen oder als religiöse Kontemplation vollziehen – ist eine Möglichkeit des ‚Zeitgewinns‘, bei der wir nicht mehr das Vergehen von Zeit beschleunigen.“33 Dieser Prozess beinhaltet aber mehr, als einfach stehen zu bleiben und zurück zu schauen. Es ist ein befristetes Zurückschauen, ein befristetes Nicht-Weitergehen. „Hier geht es darum, das Vergängliche, das in die Zeit Kommende und mit der Zeit (Ver-) Gehende auf sein Bleibendes freigeben zu wollen. Dazu wird verlangt, dass der Mensch etwas sein lassen kann, auf ein Machen und WeiterMachen verzichtet.“34 Damit scheint der Konflikt mit der Gesellschaft, die das Nonstop-Prinzip zum Lebensprinzip erhoben hat, vorprogrammiert zu sein. Doch gerade dieses gesellschaftskritische Potenzial beinhaltet die Sabbattraditionen. Das Aufhören und Verweilen ist nicht Widerpart alles Vitalen oder gegen jede produktive Handlung, sondern deren Vollendung. „Zur Kreativität des Hervorbringens gehört es nämlich, zum richtigen Zeitpunkt nichts mehr zu tun. ... Das rechtzeitige Aufhören ist eine Sinnbedingung für ein gutes Ende. Das Aufhören des Hervorbringens führt hier zum Eigen- und Selbstsein des Hervorgebrachten.“35 Für dieses notwendige Aufhören steht der Ruhetag, der dem Schaffen erst Sinn gibt. Aufhören kommt ebenso einem Neubeginn zu Gute. Dieser sollte gelegentlich auch erst nach einer längeren Pause geschehen. Es ist wichtig, von Zeit zu Zeit nichts zu tun. „In diesem Nicht(s)tun ist es dann möglich, sich des Sinnes vom Anfange und Aufhören zu vergewissern. Dann lassen sich auch Antworten finden, was es heißt, am Leben zu sein ...“36 3.2.2 Arbeit als Vorbereitung auf den Sabbat – vom Sinn des Festes und des Kultes Im Zentrum eines religiösen Zeitverständnisses stehen regelmäßige Auszeiten, Gedenktage, Fest- und Feiertage.37 „Ökonomisch gesehen 31 32 33 34 35 36 37
Höhn (2001), 20. Vgl. Höhn (2001), 20. Höhn (2001), 21. Höhn (2001), 21. Höhn (2001), 21. Höhn (2001), 21. Vgl. Höhn (2001), 22.
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rechnen sie sich nicht. Stattdessen erfragen, erschließen, repräsentieren sie inmitten des funktionalen Systems der technisch-ökonomischen Daseinssicherung das, was nicht funktionalisierbar ist. Sie sind ‚Leerstelle‘ für das, was den Sinn aller Funktionalität ausmacht; sie halten die Zeit offen für das, was keine ökonomischen und technischen Äquivalente hat. Darin liegt auch ihre Säkularisierungsresistenz.“38 So bekommen Feste, Feiern und Rituale eine neue Bedeutung. Matthew Fox spricht von einer „Neuerfindung der Arbeit durch Wiederentdeckung des Festlichen.“39 Auf diese Weise kann auch der Sabbat bzw. der Sonntag neu entdeckt werden. Die Krise der Muße und der Mangel an festlicher Einstellung kennzeichnet die moderne Arbeitsgesellschaft. Muße ist mit den äußeren Faktoren Arbeitspause, Freizeit, Wochenende, Urlaub noch nicht gegeben. „Muße ist ein Zustand der Seele.“40 Sie ist eine Haltung der Nicht-Aktivität, der inneren Ungeschäftigkeit, des Geschehen-Lassens, des Schweigens.41 Muße ist etwas „von der Heiterkeit des Nichtbegreifenkönnens, von der Anerkennung des Geheimnischarakters der Welt.“42 Muße beinhaltet eine Öffnung der Seele in Hinblick auf die Frage, was die Welt im Innersten zusammen hält, Muße ist die Haltung feiernder Betrachtung und steht gegen die Ausschließlichkeit des Richtbildes der Arbeit als soziale Funktion.43 Eine andere Bezeichnung von Muße ist Sabbat, Sonntag oder Ruhetag. „Der Sabbat ist ein Tag, eine Zeit, eine Haltung, Arbeit loszulassen, um die Heiligkeit des Daseins wieder erleben zu können, einschließlich unserer eigenen Fähigkeit zu arbeiten und mitzuschaffen. ... Arbeit ist Vorbereitung auf den Sabbat.“44 Diese Dimension des Ruhetages die Wiederentdeckung der Muße, die sich im Feiern am Besten ausdrückt,45 gilt es in einer Arbeitsgesellschaft neu zu entdecken. „Wenn aber Feiern der Kern von Muße ist, dann empfängt die Muße ihre innere Ermöglichung und Legitimierung von eben dort her, von woher das Fest und die Feier ihren Sinn und ihre Ermöglichung emp-
38 39 40 41 42 43 44 45
Höhn (2001), 22. Fox (1996), 315. Pieper (1961), 51. Vgl. Pieper (1961), 52. Pieper (1961), 52. Vgl. Pieper (1961), 53-56. Vgl. Fox (1996), 333. Pieper (1961), 77.
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fangen. Dies ist aber Kult!“46 Die Zustimmung zur Welt auf unalltägliche Weise zu begehen, macht den Sinn des Festes aus. Es kann aber keine intensivere Zustimmung zur Welt gedacht werden als GottesLob, die Preisung des Schöpfers dieser Welt.47 So geht mit der Wiederentdeckung der Muße auch die Wiederentdeckung der für Christen sonntäglichen Liturgie einher. Sie ist Muße, Fest, Lob Gottes. Dies ist die notwendige Gegenbewegung, damit Arbeit nicht selbst zum Kult, zur Religion wird.48 Nicht nur Arbeit, sondern auch Muße und Feste feiern haben theologische und anthropologische Relevanz, die ebenfalls ethische Konsequenzen zeitigen, denn beide sind Ausdruck der Menschenwürde. Ein prominentes Beispiel, das hier noch angeführt wird, ist die Debatte zum Schutz des Sonntags.
4. PLÄDOYER FÜR DEN SCHUTZ DES SONNTAGS Die Dimension der Muße, des Festes und auch der religiösen Feiern manifestiert sich in der gesellschaftspolitischen Debatte um den Schutz des Sonntags, der nicht nur als arbeitsfreier Tag gilt, sondern auch als ein Tag begangen werden kann, der sich dem Diktat der Wirtschaft entzieht, als ein Tag der Muße, ein Tag, der eine spirituelle Dimension haben kann, aber auch als ein Tag, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert.
4.1 „Menschen brauchen den Sonntag“ Auch die beiden großen Kirchen haben sich der Thematik angenommen. Sie haben 1999 eine gemeinsame Erklärung mit dem Titel „Menschen brauchen den Sonntag“ verabschiedet. Darin wird der Sonntag zu den wichtigsten Beiträgen des Christentums zur Kultur unserer Gesellschaft erklärt.49 „Weiterhin wird der Sontag als gemeinsamer Ruhetag, als Schutz der Arbeitenden, als Symbol der Freiheit und als Tag des christlichen Gottesdienstes anerkannt und geachtet.“50
46 47 48 49 50
Pieper (1961), 77. Vgl. Pieper (1961), 77f. Vgl. Pieper (1961), 82-84. Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 1. Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 1.
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Der Sonntag hat also nicht nur den Zweck, sich von der Arbeit zu erholen, sondern hat einen gesellschaftlichen und religiösen Stellenwert. Daher gehört es auch zu den Aufgaben der Kirchen, den Sonntag zu schützen und sich für die Sonntagskultur einzusetzen. Theologisch verankert ist dies in den Zehn Geboten, die es gebieten, einen gemeinsamen Ruhetag einzuhalten. Für Christinnen und Christen ist der Sonntag der Tag der Auferstehung Jesu Christi.51 Deshalb ist es wichtig, den Sonntag zu gestalten durch Liturgie und Zusammenkünfte in den Gemeinden, aber auch im persönlichen Bereich. Die Beibehaltung und Weiterentwicklung einer ausgeprägten Sonntagskultur ist daher ein genuiner Auftrag vor allem für Christinnen und Christen in einer modernen und pluralen Gesellschaft. „Die Menschen brauchen den Sonntag“ – diese These begründen die Kirchen mit folgenden Argumenten: Anthropologisch, wie in diesem Artikel schon deutlich wurde, gehört der Wechsel von Arbeit und Ruhe wesentlich zum menschlichen Leben. „Der Sonntag unterbricht den Kreislauf von Arbeit und Konsum“52. Der Grundsatz „Zeit ist Geld“ wird durchbrochen, andere Lebensziele treten in den Vordergrund. Im Hinblick auf die beschleunigte Gesellschaft formulieren die beiden Kirchen, dass der Sonntag „dem Zeitempfinden einen wiederkehrenden Rhythmus (gibt S.-Pf.) und ... einen regelmäßigen Freiraum (gewährt S.-Pf.). Er verhilft zu dem notwendigen Abstand von dem sich beschleunigten Wandel, von den Anpassungsdruck des Erwerbslebens wie des Freizeitverhaltens.“53 Der freie Sonntag dient also auch zur Entschleunigung, zum Ausstieg aus der Beschleunigungsgesellschaft, zum Bremsen und innehalten. Die Dimension der „Muße“, die ich oben beschrieben habe, bekommt eine Chance, sich zu entfalten. Neben diesen anthropologischen Überlegungen argumentieren die Kirchen auch mit der sozialen Dimension des Sonntags, da Beziehungen nur gelingen können, wenn möglichst viele Menschen gleichzeitig freie Zeit zu Verfügung haben.54 Gemeinsam verbrachte Zeit und gemeinsame Erlebnisse stärken den Zusammenhalt und das Zusammenhörigkeitsgefühl in Familien, aber auch in der Gesellschaft. Natürlich hat der Sonntag als Tag der Auferstehung für die Kirchen auch eine besondere religiöse Bedeutung. Diese wird in der Stellung51 52 53 54
Vgl. Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 3. Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 10. Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 10. Vgl. Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 11.
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nahme auch sehr deutlich. „Der Sonntag ist Hinweis und Verheißung auf die erlösende Ruhe und Freude im Reich Gottes.“55 Daher verpflichten sich die Kirchen in besonderer Weise für den Schutz des Sonntags einzutreten und sich für den Erhalt der Sonntagsruhe zu engagieren. Dies geschieht nicht nur, wie dargelegt, aus religiösem Interesse, sondern auch aus anthropologischen Gründen und auf der Basis gesellschaftspolitischer Überlegungen.
4.2 „Allianz für den freien Sonntag“ – Sonntagsschutz konkret Nicht nur die Kirchen, sondern auch andere Akteure der Zivilgesellschaft engagieren sich für den freien Sonntag. So wurde auf Bundesebene 2006 die so genannte „Allianz für den Sonntag“ gegründet. „Die Allianz für den freien Sonntag ist ein bundesweites Netzwerk vielfältiger Akteure aus Kirchen und Gewerkschaften, Familienverbänden, Nichtregierungsorganisationen und anderen gesellschaftlichen Bereichen. In vielen Bundesländern und Kommunen engagieren sich selbstständige Allianzen. Sie verstehen sich als politisch unparteilicher Zusammenschluss im Engagement für den arbeitsfreien Sonntag.“56 Trägerorganisationen dieser Allianz sind: Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen (BVEA), die Katholische Betriebsseelsorge und der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt der EKD (KDA).57 In ihrer Grundsatzerklärung stellen die Trägerorganisationen fest, dass die Feiertagsruhe gefährdet ist, dass wirtschaftliche Interessen und die ökonomische Betrachtungsweise absolut gesetzt werden, während die anderen Dimensionen des Lebens untergeordnet und vernachlässigt werden. Ein prominentes Beispiel für diese Tendenz ist die inflationsartige Zunahme der verkaufsoffenen Sonntage.58 Der Sonntag steht für die Freiheit des Menschen, aus den ökonomischen Zwängen auszusteigen und sich einer rein ökonomisch orientierten Lebensweise zu entziehen. Ein gemeinsamer freier Tag schafft einen „verbindlichen Ordnungsrahmen für den kollektiven Zeit-
55 56 57 58
Gemeinsame Erklärung 1999, Nr. 15. Allianz für den freien Sonntag. Allianz für den freien Sonntag. Vgl. Allianz für den freien Sonntag, Grundsatzerklärung.
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rhythmus in allen Lebensbereichen. Das Bündnis argumentiert in seiner Grundsatzerklärung folgendermaßen: „Das natürliche Bedürfnis des Menschen nach Erholung, Muße und Freizeit lässt sich nur in einer für alle gemeinsamen Ruhezeit befriedigen. Ein wirksamer Sonn- und Feiertagsschutz dient der humanen Qualität unserer Gesellschaft. Der Sonntag schützt den Menschen, die Familie, die gottesdienstliche Feier und die persönliche Gestaltung freier Zeit. Er verschafft allen die notwendige Zeit der Erholung, der Begegnung, der Besinnung und der Lebensgestaltung. Das Erleben gemeinsamer freier Zeit mit den Familien, Freunden, Verwandten und Bekannten, das Engagement im Ehrenamt ist auf freie Sonnund Feiertage angewiesen ...“59 Diese Überlegungen zeigen, dass in unserer beschleunigten Gesellschaft durchaus schon in manchen Gruppen und bei den Interessensvertretern ein Bewusstsein für die Problematik vorhanden ist. Arbeit und Freizeit, Erholung und Muße müssen in eine Balance gebracht werden, um eine menschenwürdige Gesellschaft zu gestalten. Freie Zeit, freie Sonn- und Feiertage stellt ein besonderes Anliegen der Kirchen dar, damit Zeit für den Glauben und die spirituelle Dimension des Lebens bleibt. Es ist aber auch ein anthropologisches und gesellschaftspolitisches Anliegen, denn jeder Mensch braucht Zeit, um sich zu erholen und etwas für seine persönliche Entfaltung zu tun. Jede Gesellschaft lebt vom sozialen, politischen und kulturellen Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger und nicht nur von deren wirtschaftlicher Leistung.
Literatur Allianz für den freien Sonntag; URL: http://www.allianz-fuer-denfreien-sonntag.de (10.01.2012). Allianz für den freien Sonntag, Grundsatzerklärung; URL http://www. allianz-fuer-den-freien-sonntag.de/grundsatzerklärung (10.01.2012).
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Allianz für den freien Sonntag, Grundsatzerklärung.
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Bieberstein, Klaus, Vom Sabbat und Siebten Tag zum Sabbat am Siebten Tag. Zur Vorgeschichte des christlichen Sonntags, in: Roth, Ursula u.a. (Hgg.), Sonntäglich. Zugänge zum Verständnis von Sonntag, Sonntagskultur und Sonntagspredigt. Festgabe für Ludwig Mödl zum 65. Geburtstag, München 2003, 15-29. Bietenhard, Sophia, Vollendung – Menschenwürde-Gerechtigkeit. Arbeit im Alten Testament, in: Dies./Kosch, Daniel (Hg.), „Ans Tagwerk bis zum Abend“, Arbeit und Arbeitswelt in der Bibel. Bibeltheologi2 sche Grundlagen, Zürich 1998, 4-13. Bleistein, Roman, Art. Freizeit, in: Lexikon der Bioethik, Bd. 1, Gütersloh 2000, 808-813. Evangelische Kirche in Deutschland/Deutsche Bischofskonferenz: Menschen brauchen den Sonntag. Gemeinsame Erklärung, 1999; URL: http://www.ekd./EKD-Texte/sonntag/sonntagstext.html (10.01.2012). Fox, Matthew, Revolution der Arbeit. Damit alle sinnvoll leben und arbeiten können, aus dem Amerikanischen von Jörg Wichmann, München 1996. Gaschke, Susanne, Kommen wir hier noch raus? Ja, sagt der britische Intellektuelle Tom Hodgkinson. Wir leben zwar im falschen System, aber wir könnten auch anders, in: DIE ZEIT (2011), Nr. 35, 39-40. Glotz, Peter, Die beschleunigte Gesellschaft. Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München 1999. Haeffner, Gerd, Elemente einer Anthropologie der Arbeit, in: Brieskorn, Nor-bert/Wallacher, Joachim (Hgg.), Arbeit im Umbruch. Sozialethische Maßstäbe für die Arbeitswelt von morgen, Stuttgart 1999, 1-23. Habermas, Jürgen, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, in: Funke, G. (Hg.), Konkrete Vernunft, Bonn 1958, 221. Höhn, Hans-Joachim, „Beeil dich!?“ Über die Beschleunigung des Lebens und die Befristung des Daseins, in: Wissenschaftliche Arbeitsstelle des Oswald-von-Nell-Breunig-Hauses (Hg.), Zeitgeister: Ringen um Arbeit – Zeit – Leben, Münster 2001, 13-22. Krebs, Angelika, Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 2002. 6 Pieper, Josef, Muße und Kult, München 1961. Rosa, Hartmut, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005.
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Sailer-Pfister, Sonja, Theologie der Arbeit vor neuen Herausforderungen. Sozialethische Untersuchungen im Anschluß an Marie-Dominique Chenu und Dorothee Sölle, Berlin 2006. Schnabel, Ulrich: Muße. Vom Glück des Nichtstuns, München 52010. Spescha, Plasch, Arbeit – Freizeit – Sozialzeit, Bern 1981. Thadden, Elisabeth von, Nur die Ruhe. Bremsen, nachdenken, umsteigen: Die rasende Moderne beginnt mit ihrer Selbstreparatur, in: DIE ZEIT (2011), Nr. 35, 39.
Arbeit im sozialen Sektor
Warum Gerechtigkeit in weiter Ferne liegt. Fürsorgearbeit zwischen Familienarbeit und Niedriglohnsektor Christine Globig
Bei einem Spaziergang durch eine der reichen Städte Deutschlands habe ich einen neuen Trend aufgeschnappt. Er heißt „Complete Care“ – „vollkommene Fürsorge“. So oder ähnlich steht es auf verschiedenen Ladenschildern. In einem Complete-Care-Salon kann ich Haut und Haar versorgen lassen, dazu natürlich auch edelsten Latte Macchiato trinken, aber noch mehr als das: Geboten wird zugleich eine Form der Lebensberatung und emotional-geistigen Rundum-Versorgung. Das beinhaltet Styling- und Typ-Analyse, aber auch Lebensberatung, intensives persönliches Coaching, bis hin zur Ausrüstung mit philosophischen Einsichten. Auf einer der Angebotslisten steht explizit: „Philosophie“. Wenn ich es richtig verstehe, bedeutet diese neue Variante der Wellness-Industrie, die „Complete Care“ heißt, dass ich mir für einige Stunden totale Zuwendung kaufen kann, an Haut und Haaren, aber auch für meinen Geist und das möglicherweise angeschlagene Ego. Es wird mir angepriesen, dass ich, wenn ich den Laden verlasse, mit neuen, wahrhaft philosophischen Perspektiven auf mein Ich und mein Leben hinausgehe.
1. „CARE“ UND „FÜRSORGE“ IM GEGENWÄRTIGEN DISKURS Was die Marketing-Strategen und -Strateginnen, die diese Nische entdeckt haben, vielleicht nicht unbedingt wissen, ist, dass Care und Fürsorge tatsächlich philosophische Konzepte sind, wenn auch erst seit den 1980er Jahren. Die Diskussion um den Begriff Care wurde von
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Christine Globig
der US-amerikanischen Entwicklungspsychologie aufgebracht,1 doch besonders in der philosophischen Ethik weiterverfolgt und hat dort eine längere Debatte ausgelöst.2 Seit Beginn des 21. Jahrhunderts werden die Begriffe Care und Fürsorge auch in verschiedenen anderen Fachdiskursen immer wichtiger:3 in der gender-reflektierten Soziologie,4 Ökonomie5 und Erziehungswissenschaft.6 Weiterhin und schon etwas länger kursiert der Begriff in der Medizinethik und Pflegewissenschaft,7 wo sich „Cure“ und „Care“ einander gegenüberstellen lassen: „Cure“ als Impuls für das ärztliche, therapeutische Handeln, Care als Imperativ für die Fachkräfte der Pflege. Einen theologischen Entwurf zur Fürsorgeethik hat Christa Schnabl vorgelegt (2005). Die offenkundigen Mängel im Bereich der Betreuung, Erziehung, Versorgung und Pflege sind es, die den Fürsorgebegriff wissenschaftlich neu ins Blickfeld gezogen haben. Ich verstehe das Angebot des „Complete Care“ als Parallele zu eben diesen Diskursen, als merkantilen Ausdruck des ebengleichen Defizits: Fürsorge im leib-seelischen Zusammenhang ist etwas, was in einer reichen Stadt und vielleicht insgesamt in der westlichen Gesellschaft gründlich fehlt, zugleich aber etwas, was wir elementar brauchen. Fürsorge ist traditionell ein Stück Frauenkultur, aber eine Kultur, die abhanden gekommen ist, die in einem arbeitsreichen, stressigen und gleichzeitig materiell überversorgten Leben verloren ging – und deshalb als Marktlücke wiederaufersteht. 1
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Ausgangspunkt und stetige Referenz für die nachfolgende Diskussion ist Gilligan (1982). Vgl. zum deutschsprachigen philosophisch-ethischen Diskurs: Nunner-Winkler (1991, 1995); Nagl-Docekal/Pauer-Studer (1993); Pauer-Studer (1996); Horster (1998); Biller-Andorno (2001); Conradi (2001). Ein vieldiskutierter Beitrag stammt von Axel Honneth (1994, 2000). Alle Diskurse sind international und verzweigt; ich verweise im Folgenden wesentlich auf neuere Überblicks-Darstellungen, von denen aus sich die weitere Literatur erschließen lässt. Forschungsprojekte zum Begriff Care laufen an der GeorgetownUniversität/USA (http://care.georgetown.edu/TheProject.html) und an der Universität Tilburg (www.zorgethiek.nu). Für den Gender-orientierten soziologischen Diskurs um den Begriff Care sind die Beiträge von Ute Gerhard besonders hilfreich: Gerhard 2008; 2009a; 2009b u. ö.; vgl. auch Gerhard/Hausen 2008. Zu den bilateralen und internationalen Diskursen vgl. die Beiträge in: Ungerson (1990); Lewis (1998); Hobson/Lewis/Siim (2002) und den Literaturüberblick von Lewis (2006). Vgl. das Themenheft Care – eine feministische Kritik der politischen Ökonomie? (2011); sowie Jochimsen (2002). Vgl. Moser/Pinhard (2010). Vgl. Biller-Andorno (2001), Kumbruck/Rumpf/Senghaas-Knobloch (2010).
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Die Soziologin Arlie Russell Hochschild hat den Begriff des „Fürsorgedefizits“ wissenschaftlich eingeführt.8 Nach ihrer Analyse betrifft der Mangel an Zeit und Ausdrucksformen der Zuwendung, Unterstützung, Pflege und Hilfe vor allem Kinder und Alte, Kranke und anderweitig Bedürftige. Es sind aber nicht diese allein. Jeder Mensch findet sich, unabhängig von der Altersstufe, immer wieder in Abhängigkeitssituationen vor, in denen er oder sie der Fürsorge bedürftig ist, und keine/r kann sich von der Unterstützung anderer Menschen grundsätzlich freimachen. Mit dem Fürsorgedefizit ist zugleich vom Faktor „Zeit“ in einem Haushalt berufstätiger Menschen zu sprechen. Zeit gehört hier zu den extrem knappen Ressourcen. Die Ursachen sind bekannt: Der komplexe, globalisierte Arbeitsmarkt macht Berufstätigkeit generell zeitintensiv und erfordert erhebliche innere und äußere Mobilität. Das vermindert die Ressourcen für traditionelle Aufgaben, die auf Konstanz, Begleitung und Zuwendung gerichtet sind.9 Es ist aber natürlich nicht davon auszugehen, dass sich diese letzteren Aufgaben, um der Ansprüche des Berufslebens willen, von selbst erledigen. Den Konflikt spüren nahezu alle. Er verschärft sich, wenn Kinder oder bedürftige Ältere mit einkalkuliert werden müssen. Infolgedessen gibt es derzeit viel öffentliches Interesse für diese Fragen: Man denke an die politischen Diskussionen um Kleinkinderbetreuung und die Bemühungen zur Pflegeabsicherung, oder an das Thema der partnerschaftlichen Arbeitsteilung, wie es in den Medien sehr präsent ist. Parallel ist eine weitgefächerte wissenschaftliche Diskussion entstanden. Der zunehmende Diskurs in der Öffentlichkeit weckt indes oft verfehlte Erwartungen, denn Theorie und Praxis fallen bezüglich der Fürsorgearbeit sehr stark auseinander. Es dürfte „kaum ein politisches Anliegen von vergleichbarer öffentlicher Resonanz geben, das in der Praxis so widersprüchlich wirksam geworden ist.“10 Praktisch hat sich nicht viel geändert: Fürsorgearbeit wird immer noch überwiegend von Frauen geleistet, zudem ist sie weiterhin häufig unbezahlt oder nur niedrig entlohnt. Außerdem sind der Haushalt und die häusliche Pflege ein Thema der Arbeitsmigration. Ich gehe später noch auf die weiblichen, osteuropäischen Pflegekräfte ein, deren anwachsende Zahl
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Vgl. Hochschild (1995). Vgl. Hochschild (2006). Rerrich (2008), 18.
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besonders präzise auf das Fürsorgedefizit in Deutschland verweist (s. u. 4.2). Zusammengefasst also: Wir haben es im Bereich der Fürsorge mit Tätigkeiten zu tun, die über ihr Defizit thematisch geworden sind, die besonders sensibel auf die Frage der Zeit-Ressourcen in den Lebensbeziehungen reagieren und die, entgegen der Prominenz des Themas in Theorie und Medien, in der Praxis ein Sektor weiblicher, schlecht bezahlter Arbeitskräfte geblieben sind.
2. GENAUERE BEGRIFFSBESTIMMUNG: FÜRSORGE UND FÜRSORGEARBEIT Um die Fragestellung genauer einzukreisen, unterscheide ich im Folgenden zwischen Fürsorge und Fürsorgearbeit: Als Fürsorge definiere ich Tätigkeiten zugunsten des Wohlergehens anderer, die eine empathische Einstellung voraussetzen und ausdrücken, die oft einen Bezug zum körperlichen Wohlergehen haben und die in einer Abhängigkeitssituation geschehen. Ich sorge für einen Menschen, der zurzeit, aus welchen Gründen auch immer, nicht oder nur eingeschränkt für sich sorgen kann. Die Tätigkeiten selbst können sehr unterschiedlich sein. Als Fürsorgearbeit definiere ich diese Tätigkeiten dann, wenn sie eine klare gesellschaftliche Relevanz haben. Das setzt einen bestimmten Arbeitsbegriff voraus: „Arbeit“ ist nach dieser Definition eine Tätigkeit, die Teil des gesellschaftlichen Leistungsaustausches ist. Ich folge hier der Philosophin Angelika Krebs.11 Als Fürsorgearbeit fasse ich also, innerhalb des breiteren Spektrums von Fürsorgetätigkeiten, diejenigen Aufgaben, die für den Bestand einer Gesellschaft unabdingbar sind. Bei Bedarf sind sie daher durch die Gesellschaft zu gewährleisten. Dazu gehören definitiv alle Tätigkeiten, die die Betreuung von hilfsbedürftigen Kranken und Behinderten, von alten und siechen Menschen, und die Versorgung, Betreuung und Erziehung von Kindern betreffen. All diese Tätigkeiten sind kein Beiwerk einer Gesellschaft, vielmehr liegt es im allgemeinen Interesse, dass diese Arbeit stattfindet. Anders ist es in Partnerschafts- oder Freundschaftsbeziehungen: Es gibt zahlreiche fürsorgliche Hilfeleistungen innerhalb einer Partner-
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Vgl. Krebs (2002), 46ff.
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schaft, in der beide gesund und in der Lage sind, die Aufgaben auch für sich allein zu bewältigen. Auch in diesen Beziehungen sind Abhängigkeiten vorhanden: Denn nicht jede/r wird in jedem Moment alles leisten können, und Freundschaft und Partnerschaft gedeihen durch die Bereitschaft, Fürsorge zu üben und anzunehmen. Doch in diesen Beziehungen sind die Grenzen zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit in der Regel weicher und flexibler als in einem Setting der Pflege beispielsweise und können schnell wechseln. Die Abhängigkeiten sind nicht konstant (oder sollten es zumindest nicht sein). Im Ergebnis heißt das: Die Fürsorge für einen erwachsenen, gesunden Menschen gehört zur Partner- oder Freundschaftsbeziehung, ist aber keine Fürsorgearbeit im strengen Sinne.12 Ebenso ist die Fürsorge für mich selbst – dass ich beispielsweise genügend Sport treibe oder mir Möglichkeiten der Entspannung sichere – keine allgemeine oder gar gesellschaftlich zu gewährleistende Arbeit, sondern ein Teil der Selbstverantwortung. Aufgaben der Fürsorgearbeit hingegen setzen Verhältnisse voraus, die von konstanten Abhängigkeitsbeziehungen geprägt sind, daher auch gesellschaftlich gestützt werden müssen. Diese Unterscheidung wird allerdings darin noch einmal kompliziert, dass auch die konstanten Abhängigkeiten zu einem großen Teil in Familien bewirtschaftet werden. Immer noch werden hier die meisten Kinder großgezogen, die leicht Erkrankten gepflegt und teilweise auch noch Alte mitbetreut.13 Das ist ja auch durchaus sinnvoll. Faktisch lasten diese Umstände aber denjenigen Menschen, die einen Haushalt führen, viel Fürsorgearbeit auf, die sich mit z. B. partnerschaftlichen Fürsorgetätigkeiten vermischt. Diese Vermischung wiederum ist für die Gesellschaft entlastend, weil sie ermöglicht, Anteile der Fürsorgearbeit, die für sich genommen in der gesellschaftlichen Verantwortung liegen, im Privatleben – und möglichst unsichtbar – zu halten. Schon bei der Suche nach einem Kindergartenplatz zeigt sich für viele Familien, dass das Postulat der gesellschaftlichen Verantwortung faktisch nicht gedeckt ist. Eine gesellschaftlich bedrohliche, aber klare Antwort auf dieses Desiderat ist die absinkende Zahl von Geburten. 12
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Eine ähnliche, aber nicht deckungsgleiche Unterscheidung hat Kari Wærness angeboten; sie unterscheidet zwischen persönlicher Dienstleistung, Fürsorgearbeit und spontaner Fürsorge; vgl. Wærness (1984); Wærness (2000). Als Familie kann jeder Haushalt gelten, in dem „mindestens ein Erwachsener mit mindestens einer hilfsbedürftigen Person ... zusammenlebt“; d. h. zum Beispiel auch ein Haushalt, in dem eine alte Frau ihre noch ältere Schwester pflegt; Krebs (2002), 68.
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3. KONTINUITÄTEN UND NEUE PERSPEKTIVEN 1980 hat die norwegische Soziologin Kari Waerness Fürsorgearbeit als „nicht entlohnte Arbeit“ definiert, „die das Merkmal der ‚Unsichtbarkeit‘ hat und doch elementaren biologischen, psychischen und sozialen Bedarf abdeckt“, und sie konstatierte: „Die Fürsorgewelt ist im wesentlichen eine Frauenwelt“.14 Wie wir bereits gesehen haben, wäre heute stärker zu differenzieren: Fürsorgearbeit ist erheblich „sichtbarer“ geworden, aber sie wird immer noch wenig geachtet; sie wird nicht nur, aber immer noch wesentlich von Frauen ausgeübt; sie wird zum Teil bezahlt, aber in der Regel zu gering. Weiterhin ist eine Abgrenzung zu den älteren Konzepten der Haus-, Familien- und Reproduktionsarbeit hilfreich: Die neue Diskussion um Care / Fürsorge steht einerseits in Kontinuität zu den bisherigen Diskursen, insofern noch immer das Ziel verfolgt wird, die verfehlte Gleichung „Arbeit = Erwerbsarbeit“ aufzubrechen. Andererseits können auch Unterschiede und neue Perspektiven benannt werden, zum einen hinsichtlich einer sich aufweichenden Unterscheidung von „Haus“ und „Öffentlichkeit“, zum anderen im Blick auf die emotionale Komponente, die der Fürsorgebegriff einträgt. Die „Hausarbeitsdebatte“, die in der Frauenbewegung der 1970er Jahre initiiert wurde, war ein erster Versuch, die in der Regel unentgeltlich geleistete „Arbeit aus Liebe“15 sichtbar zu machen und öffentlich zu diskutieren. Diese Debatte und die nachfolgenden Diskurse um Familienarbeit und Reproduktionsarbeit16 haben wesentlich darauf gezielt, die Vergleichbarkeit der häuslichen Arbeitsvollzüge mit anderen Arbeitsvorgängen in den Blick zu bekommen, also Arbeit mit Arbeit zu vergleichen.17 Das Anliegen ist aktuell geblieben: Bis heute 14 15 16
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Wærness (2000), 58. Bock/Duden (1976). Der Begriff Familienarbeit wurde eingeführt, weil „dieser stärker [als „Hausarbeit“] den eigentlichen Kern der ... Tätigkeit, nämlich die Betreuungs- und Pflegearbeit sowie die Befriedigung persönlich-menschlicher Bedürfnisse (auch des Partners) trifft. Hausarbeit wird nämlich primär mit manuellen Tätigkeiten wie Putzen, Waschen oder Kochen assoziiert“; Eckstein (2009), 37. Der Begriff der Reproduktionsarbeit entstammt der marxistischen Analyse; heute ist er im Wesentlichen durch den Care-Begriff abgelöst, auch wenn umstritten bleibt, ob „Reproduktionsarbeit“ nicht doch der präzisere Terminus ist; vgl. Apitzsch/Schmidbauer (2010b), 11f.; Haug (2011); Heck (2011). Frigga Haug erinnert allerdings daran, dass der „Lohn für Hausarbeit“ nicht das erste Ziel der Hausarbeitsarbeitsdebatte gewesen ist. „Unbezahlt als Gegenüber von bezahlt, mündend in der Forderung nach Lohn für Hausarbeit war nicht das Gewoll-
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sind Begriffe wie Familien- oder Fürsorgearbeit ein Signal, um versteckten Tätigkeiten Anerkennung zu verschaffen, die hart, entbehrlich – und volkswirtschaftlich höchst relevant sind. Der Begriff der Fürsorge ist im Unterschied zu den älteren Konzepten aber nicht so auf den häuslichen Bereich fokussiert; wie denn auch Fürsorgearbeit ebenso in der stationären Pflege, in der öffentlichen Kinderbetreuung usw. geleistet wird. Die verschiedenen Arbeitsfelder der Fürsorge geben keine Trennung zwischen eindeutig abgegrenzten Lebensbereichen mehr vor. Der Fürsorgebegriff, der weniger lokal, als vielmehr durch den Charakter der Tätigkeit bestimmt ist, trägt der gegenwärtigen Entwicklung Rechnung, bei der wir zunehmend von einer offeneren Grenzziehung zwischen öffentlichem und privatem Leben ausgehen. Es ist schwieriger geworden, bestimmte Arbeitsvorgänge – ob bejahend oder kritisch, aber jedenfalls sachlich eindeutig – dem „Haus“ zuordnen zu können. Weiterhin zielt der Begriff der „Fürsorge“ stärker als die älteren Konzepte auf die sinnstiftenden Elemente innerhalb der (z. B. hauswirtschaftlichen) Tätigkeiten und benennt damit auch eine emotionale Dimension. Hier ist im Blick, dass etwa die Hausarbeit nicht nur als Arbeit, sondern auch als zwischenmenschliches Gut wertzuschätzen ist, dass also, wie wir eingangs gesehen haben, etwas fehlt, wenn Fürsorge nicht mehr geleistet wird, und zwar nicht nur in der Arbeitsbilanz, sondern auch in einer emotionalen Verarmung. Wenn Familienrituale gekürzt, Feste nicht mehr gefeiert, Kinder nicht mehr zum MitTun angehalten, Mahlzeiten nicht mehr zelebriert werden, so sind hier auch emotionale Prozesse unterbunden. Das, was den Wert eines „Zuhauses“ ausmacht, ist für viele Menschen mit der Ausübung oder der Erfahrung von Fürsorge verbunden. Das geht soweit, dass die Delegation von Fürsorgetätigkeiten an Außenstehende schwierig werden kann, wenn Fürsorge rein pragmatisch als Erwerbsarbeit geleistet wird.18
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te von damals. Wir benutzten das Wort umsonst für die von Frauen zu Hause privat geleisteten Pflegearbeiten und zielten daher nicht auf Bezahlung, sondern auf den anderen Charakter dieser Arbeiten, die ‚aus Liebe’, jedenfalls nicht eigennützig, nicht des Geldes wegen, nicht kalkuliert, aber Not wendend getan wurden“; Haug (2011), 350f . „Während die Linie Lohn für Hausarbeit theoretisch die umstrittenste war ... war sie praktisch die erfolgreichste, weil sie mit der Lohnforderung ins Terrain gewerkschaftlich geführter Kämpfe vordrang“; Haug (2011), 351. „Die Erledigung dieser Aufgaben ist ‚entgrenzt‘, sie betreffen die ganze Person ... [es] kann daher ein Sinndefizit entstehen, wenn Haushaltsarbeiten von Externen als Erwerbsarbeit erledigt wird“; Geissler (2008), 41.
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Im Folgenden konkretisiere ich die bisherigen Ausführungen anhand von zwei Bereichen, in denen Fürsorgearbeit besonders relevant ist: nämlich Haushaltsführung und Pflege. Beim zweiten Thema beschränke ich mich auf ein besonders brisantes Phänomen: die zunehmende Zahl von Migrantinnen in der häuslichen Pflege.
4. BEREICHE DER FÜRSORGEARBEIT 4.1 Haushalt Um den Bereich des Haushalts in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu erfassen, ist die Zeitbudgetstudie des Familienministeriums und des Statistischen Bundesamtes von 2001/2002 eine sehr gute Quelle.19 Ihr Vorzug gegenüber früheren Erhebungen liegt darin, dass sie die „unsichtbare Arbeit“, die in den Haushalten und insbesondere im Zusammenleben von Familien geschieht, recht präzise abbildet. Eines ihrer hervorstechenden Ergebnisse ist der Nachweis, dass das Volumen der unentgeltlich geleisteten Arbeit im Jahr 2001 1,7fach höher als das der Erwerbsarbeit war.20 Die Wertschöpfung der privaten Haushalte entsprach in diesem Jahr „in etwa der Bruttowertschöpfung der deutschen Industrie ... und der Bereiche Handel, Gastgewerbe und Verkehr ... zusammen.“21 Darüber hinaus hält die Studie fest, dass die „gesellschaftliche Bedeutung der Haus- und Familienarbeit ... weit über die ... ökonomische Bedeutung hinausgeht“22 und zielt damit auf die Wertschöpfung jenseits der reinen Arbeitsleistung, so wie ich es oben benannt habe. Die Studie weist nach, „dass Frauen mit knapp 31 Stunden [pro Woche] deutlich mehr unbezahlte Arbeit leisten als Männer mit 19½ Stunden. Bei der Erwerbsarbeit, zu der hier auch Arbeitssuche und Wegezeiten gezählt werden, kehrt sich das Verhältnis um“.23 Die Differenz zwischen den Geschlechtern steigert sich im Blick auf das Quantum der Fürsorgearbeit erheblich, sobald Kinder im Haus sind, und das auch dann, wenn die Frauen berufstätig sind. „Erwerbstätige 19 20 21 22 23
Bundesministerium (2003). Vgl. Bundesministerium (2003), 11. Bundesministerium (2003), 13. Bundesministerium (2003). Hier arbeiten Frauen durchschnittlich 12, Männer im Schnitt 22 ½ Stunden; Bundesministerium (2003), 9.
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Frauen mit Kindern unter 6 Jahren wenden für die Betreuung ihres Nachwuchses mit 2,5 Stunden (pro Tag) doppelt so viel Zeit auf wie erwerbstätige Männer“.24 Wenn die Kinder älter sind, vermindert sich zwar die aufzuwendende Zeit, aber „verändert sich die Verteilung der zeitlichen Belastung auf Mütter und Väter kaum.“25 Dass berufstätige Frauen mit Kindern in der Fürsorgearbeit etwa doppelt so belastet sind wie ihre Partner, ist auch andernorts belegt.26 In der Pflege von Eltern oder Schwiegereltern ist das Verhältnis ausgeglichener, doch pflegt insgesamt ein kleiner Prozentsatz: „2,3% aller Männer und 3,3% der Frauen im Erwachsenenalter leisten diese Art der Unterstützung.“27 Seit die Pflegeversicherung eingeführt wurde, hat der Anteil der pflegenden Söhne zugenommen.28 Ein wesentlich größerer Teil der Bevölkerung geht den (Schwieger-)Eltern mit Hilfen bei der Organisation des Haushalts zur Hand. In der Altersgruppe der 40-65jährigen ist der Zeitaufwand für diese alltäglichen Hilfen im Haushalt der Eltern bereits recht hoch: Die Unterstützung erfordert durchschnittlich 1,5 Stunden (Männer), bzw. 2 Stunden (Frauen) pro Woche.29 Die Belastung von Frauen und Männern ist dabei – wie in der Pflege, anders als in der Kinderbetreuung – vergleichbar hoch. Dennoch hält die Studie des Familienministeriums für den Zeitraum zwischen 1991/1992 und 2001/2002 in der Gesamtbilanz die Tatsache fest, dass sich im häuslichen Bereich nur sehr geringfügige Verbesserungen der Arbeitsteilung erkennen lassen, dass „ein Fortschritt zugunsten der Frauen nur mühsam und nur mit gutem Willen feststellbar ist.“30 Auch andere Untersuchungen konstatieren eine „Utopie der partnerschaftlichen Gleichverteilung ... von Hausarbeit“.31 Es wurde sogar nachgewiesen, „dass die Wahrscheinlichkeit einer größeren Beteiligung des Mannes an den Routinetätigkeiten des Haushalts im Verlauf der Ehe systematisch abnimmt.“32 Ich will das nicht kommentieren; das ist eine ernüchternde und herausfordernde Bilanz.
24 25 26 27 28 29 30 31 32
Bundesministerium (2003), 25. Bundesministerium (2003). Vgl. Ludwig u. a. (2002), 61.244f. Bundesministerium (2003), 20. Vgl. Kohlen (2010), 122. Vgl. Bundesministerium 2003, 20. Bundesministerium (2003), 2. Rerrich (2008); Vgl. auch Ludwig u. a. (2002), 60ff. Schulz/Blossfeld (2006), 23.
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4.2 Migrantinnen in der Pflege Um das Thema der Pflege noch einmal zu vertiefen und seine politische Relevanz zu verdeutlichen, nehme ich ein Beispiel auf, das für das konstatierte Fürsorgedefizit besonders aussagekräftig ist: die Zahl der osteuropäischen Migrantinnen in deutschen Haushalten. Alte und kranke Menschen brauchen nicht nur medizinische und pflegerische Versorgung, sondern haben einen hohen Begleitungsbedarf, brauchen Kontinuität, Nähe und Zuwendung. Die Antwort auf diesen Bedarf ist eine steigende Zahl von Migrantinnen aus Mittelund Osteuropa, die sich in deutschen Haushalten in der Pflege und Betreuung verdingen. Es sind weibliche, oft gut qualifizierte Arbeitskräfte. Die Nähe einer Frau, die im Haus wohnt, erscheint vielen Angehörigen als glückliche Lösung. Hier ist ein neuer Markt, auch ein Schwarzmarkt der Fürsorgearbeit entstanden. Die erste große empirische Untersuchung,33 die Zahlen liefern kann, stammt von 2009 und arbeitet mit Schätzwerten, denn die meisten Dienstverhältnisse sind entweder illegal oder durch Arbeitsagenturen vermittelt und daher empirisch nicht vollständig zu erfassen.34 Die Zahl der in Deutschland arbeitenden Migrantinnen im Bereich Haushalt / Pflege wurde in dieser Studie auf 100.000 geschätzt, bei steigender Tendenz. Nur etwas mehr als 3000 Dienstverhältnisse waren durch die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit vermittelt. Häufiger geschieht die Vermittlung durch Arbeitsagenturen, die mit osteuropäischen Partnerorganisationen zusammenarbeiten. Sozialversicherungsbeiträge werden im Heimatland gezahlt.35 Daneben ist ein Schwarzmarkt entstanden: Es gibt Migrantinnen, die ab 700 Euro monatlich rund um die Uhr betreuen und pflegen.36 Aber auch für die durch Agenturen vermittelten Pflegekräfte gilt, dass die Arbeitsbedingungen nicht klar umrissen sind. Insofern Pflegehilfskräfte aus kommenden EU-Beitrittländern nie dem Anwerbestopp unterlegen haben, wird deutlich, dass diese offene Situation durchaus politisch gewollt ist.
33
34 35 36
Vgl. Neuhaus/Isfort/Weidner (2009); vgl. weiterhin Gather/Geissler/Rerrich (2002); Lutz (2008); Apitzsch/Schmidbaur (2010a), Hochschild 2010. Vgl. Neuhaus/Isfort/Weidner (2009), 8. Vgl. Am Rande (2008), 74. Vgl. ver.di (2008).
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Die Identifikation der Arbeitskräfte mit ihren Aufgaben gilt als hoch, das Verhältnis oft als „familiär“.37 Die Kompensation von Fürsorgedefiziten durch Migrantinnen ist als „quantitativ bedeutsamste Umschichtung von Familienarbeit“ eingeschätzt worden.38 Die Umschichtung geschieht nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen Frauen, die aus unterschiedlichen Ländern stammen. Wenn die Betreuerinnen eigene Kinder oder versorgungsbedürftige Verwandte in ihrem Heimatland zurücklassen, werden dort häufig ähnliche Betreuungsverhältnisse organisiert. Ukrainerinnen arbeiten in Polen, während Polinnen, oder neuerdings Rumäninnen, eine Stelle in Deutschland suchen. Man spricht von einem Abfluss von „Versorgungs- und Betreuungskapital“, von einem „care drain“ in den jeweils ärmeren Ländern, von der „global care chain“, einer weltweiten weiblichen Fürsorgekette und sogar von einer „global care crisis“.39 Fürsorgearbeit wird mittlerweile in einer Terminologie erfasst, die deutlich macht, wie knapp die Ressourcen sind. In der Weise der Verlustrechnung wird Fürsorge als Wirtschaftsfaktor im globalisierten Horizont sehr präzise deutlich.
5. ERGEBNISSE UND NEUE FRAGESTELLUNGEN Im Blick auf die Frage, ob Fürsorgearbeit ein „Schlüssel für soziale Gerechtigkeit“ sein kann, kann das Ergebnis, nach den bisherigen Ausführungen, zunächst nicht positiv sein. Denn (erstens): dass Fürsorgearbeit nicht geschlechtergerecht ist, ist nach Ausweis der Fakten eindeutig. Zweitens: Wenn Fürsorgearbeit zurzeit, qua ihres erfahrbaren Defizits, stärkere öffentliche Beachtung erfährt, heißt das nicht, dass sie gesellschaftlich wertgeschätzt würde oder gar angemessen bezahlt. Auch die als Erwerbsarbeit geleistete Fürsorgearbeit spiegelt keine Gerechtigkeit wieder, wie sich in den Löhnen und Arbeitsbedingungen in der Pflege besonders eklatant zeigt.40 Drittens: Ich halte die Perspektiven, die Elterngeld und Familienpflegezeit neuerdings eröffnen, noch keineswegs für eine Lösung. Zum einen sichern die Gelder nur kurze Zeiträume ab, zum anderen sind sie allzu offensichtlich von dem Interesse getrieben, qualifizierte Frauen respektive Paa37 38 39 40
Neuhaus/Isfort/Weidner (2009), 34. Rumpf (2007), 120. Neuhaus/Isfort/Weidner (2009) 33f; zit. ebd. 34; vgl. Rerrich (2006), 15. Vgl. Reichert (2009).
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re auf dem Arbeitsmarkt zu halten, nicht aber die Fürsorgearbeit so zu unterstützen, wie sie tatsächlich Arbeit und Kosten verursacht. Das Elterngeld für Hartz 4-Empfänger ist faktisch gestrichen. Die Familienpflegezeit, die ab dem 1.1.2012 theoretisch offensteht, ist nur für diejenigen Arbeitnehmer(innen) eine Option, die von 75% ihres Gehalts leben können.41 Um die Forderung nach Gerechtigkeit auf die Dimensionen von Erwerbs- und Fürsorgearbeit zu beziehen, muss auch das „Recht auf Arbeit“ noch einmal differenziert werden. Diese klassische Forderung lässt die Fürsorgearbeit in der Regel völlig außen vor. Es scheint darum nötig, über das Recht auf Arbeit hinaus, von einem zweiten Recht der Anerkennung von Arbeit sprechen. Letzteres impliziert, dass Menschen, „die ihren Arbeitsbeitrag zum gesellschaftlichen Leistungsaustausch leisten, aber behandelt werden, als arbeiteten sie gar nicht“, als in ihrer Menschenwürde verletzt und als ungerecht behandelt gelten müssen.42 Es gehört ja zu den absurden Seiten unserer Chiffrierung der Welt, das wir Menschen als „arbeitslos“ bezeichnen, die einen Haushalt mit kleinen Kindern verwalten oder einen Pflegefall in der Wohnung haben. Von sozialer Gerechtigkeit kann aber überhaupt nur dann gesprochen werden, wenn grundsätzlich bewusst ist, dass die Arbeit, die in den Arbeitsämtern vermittelt wird, immer nur einen Teil des Gesamt-Arbeitsvolumens einer Gesellschaft ausmacht. Das „Recht auf Arbeit“ kann man für eine Arbeitsgesellschaft formulieren, die wir aber wohl schon nicht mehr sind. Die Forderung nach einem Recht auf Anerkennung von Arbeit geht darum weiter, weil nicht nur nach den Chancen der Erwerbsarbeit gefragt wird, sondern ebenso nach den Bedingungen von Arbeitsvorgängen, die verdeckt geschehen. Gleichfalls ist eine Veränderung der Wahrnehmung dahingehend nötig, dass Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten ethisch anders gewertet werden.43 Wenn ein Mensch wesentlich unter dem Maßstab des autonomen Erwerbstätigen taxiert wird – als ein Mensch, der sein Leben selbständig in der Hand hat und versagt, wenn er es nicht hat, als einer, der ein Recht auf Arbeit und eine Pflicht dazu hat – ist das sicher eine Perspektive. Es reicht aber nicht aus, den Menschen wie den Begriff der Arbeit nur von der menschlichen Lebensmitte her zu begreifen. Wenn nun Fürsorgearbeit als 41 42 43
Vgl. Winker (2011), 338f. Krebs (2002), 210f. Vgl. Globig (2011).
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Schlüssel zur Gerechtigkeit verstanden wird, hätte das zur Folge, dass einerseits die grundlegende Asymmetrie unserer Lebensbeziehungen – die enorme Bedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen, mit der Menschen durchs Leben gehen – für die ethische Reflexion größeres Gewicht bekommt, wie ebenso die Räume, in denen diese Abhängigkeit gelebt wird, auf das ethische Tableau rücken würden. Eines jeden Menschen primäre Welterfahrung ist die, ein Säugling zu sein, ganz und gar von der Fürsorge anderer abhängig. Die meisten von uns werden am Ende ihres Lebens in eine vergleichbare Abhängigkeit zurückkehren. Zwischendurch können Phasen der Krankheit oder anderweitiger Verletzlichkeit die Bindungen, unter denen wir stehen, deutlich zum Ausdruck bringen. Diese Realität ist meines Erachtens bisher arbeitsethisch nicht hinreichend reflektiert. Ich denke, dass die biblische Tradition Anknüpfungspunkte bietet, um in einer Nach-Arbeits-Gesellschaft, in er aber weiter ununterbrochen Fürsorgearbeit geleistet wird, andere Prämissen einzuführen. Die Zuwendung Gottes ist denen zugesagt, die etwas brauchen, die sich nichts leisten können, die nicht allzu gut aufgestellt sind. Kein Mensch gilt, nach der biblischen Botschaft, als autonom und sich selbst genug; nichts ist besser bezeugt als die die Angewiesenheit des einen Menschen auf den anderen. Insofern muss in einer theologischen Ethik gerade die Arbeit, die – leise und ungesehen und stetig – anderen zugute kommt, besonders hoch bewertet werden. Fürsorge fehlt – das war mein erster Anknüpfungspunkt. Die westlichen Gesellschaften werden, auch nicht mittels Ausbeutung von Migrantinnen, so viel Fürsorge importieren und kaufen können, wie sie tatsächlich brauchen. Insofern ist die Neubewertung von Fürsorgearbeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eine Theorie, die Arbeit als Schlüssel der Gerechtigkeit verstehen will, kann Fürsorgearbeit zum Ansatzpunkt eines erweiterten Arbeitsbegriffs machen, indem die Gleichsetzung von Arbeit und Erwerbsarbeit gesprengt wird. Dabei ist zugleich das Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit im Arbeitsleben anders zu bewerten. Arbeit ist nicht weniger wertlos, wenn sie an besonders Bedürftigen oder seitens von Menschen mit Einschränkungen geschieht; soziale Gerechtigkeit spiegelt sich vielmehr darin, dass diese Arbeit in gebührender Weise wertgeschätzt und bezahlt wird. Das nun setzt voraus, dass Verletzlichkeit und Abhängigkeit als Konstanten des Menschseins ethisch ernst genommen werden. Genau das wünsche ich mir für die theologische Ethik.
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„Behinderte Teilhabe“ durch die Werkstatt? Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung als Weg zur Teilhabe am Arbeitsmarkt – eine kritische Sondierung Peter Meiners
Im Dezember 2006 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Konvention über die Rechte behinderter Menschen“ (nachfolgend: UN-BRK) verabschiedet. Unter dem Leitbegriff der Inklusion will die Konvention eine „umfassende rechtliche und soziale Gleichberechtigung sowie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in allen menschenrechtlich geschützten Lebensbereichen, in der Vorschule mit ihren Kindergärten und -tagesstätten, der Schule, der Arbeit, der Freizeit, dem Wohnen und Leben in den Städten, Kommunen und Gemeinden, ob in Kirchen und Pfarrgemeinden, Volkshochschulen, Vereinen oder anderen kulturellen und öffentlichen Räumen [garantieren].“1 Kurioserweise wird in der offiziellen deutschsprachigen Übersetzung der Konvention der Begriff der Inklusion mit „Integration“ wiedergegeben. Darin sehen die Fachverbände bereits eine Tendenz, das „kritische Veränderungspotenzial der Konvention zu verwässern“2, weshalb auch eine kritisch modifizierte „Schattenübersetzung“ erstellt
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Markowetz (2011), 26; Bei der UN-BRK handelt es sich keineswegs um „Sonderrechte“ von Menschen mit Behinderung. Die Konvention bestätigt, bekräftigt und konkretisiert vielmehr die allgemeinen Menschenrechte. Wenn etwas „speziell“ an der UN-BRK ist, dann ist es die Erfahrungsperspektive von Menschen mit Behinderungen. Von dorther wird das „ganze Spektrum der Menschenrechte [...] noch einmal neu durchgestaltet und weiterentwickelt. Genau dadurch stärkt die BRK den Universalismus der Menschenrechte, der überhaupt nur dann glaubwürdig vertreten werden kann, wenn die unterschiedlichen Lebenslagen von Menschen systematische Berücksichtigung finden.“ (Bielefeldt (2011), 66 [Hervorhebung im Original].) Bielefeldt (2011), 74.
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wurde.3 Zwar ist durchaus umstritten, worin im Einzelnen der Unterschied zwischen Inklusion und Integration bestehen soll, da sich unter letzterem sehr unterschiedliche Verstehensweisen verbergen können, und beide Begriffe in Fachdebatten „häufig derart vage, vieldeutig und unreflektiert benutzt werden, dass sich in der Tat keine eindeutig ersichtlichen Differenzen ergeben.“4 In dem Begriff der Inklusion spiegelt sich jedoch ein Paradigmenwechsel wider, „weg von einer primär institutionell-systemischen Logik hin zu einem Denken, das die Würde und Selbstbestimmungsrechte der betroffenen Menschen zum Ausgangspunkt nimmt.“5 Gegenüber dem Begriff der Integration, bei dem es – bildhaft gesprochen – darum geht, innerhalb eines bestimmten Systems Türen und Fenster zu öffnen, um damit möglichst auch Platz für Menschen mit einer Behinderung6 zu schaffen, geht es bei der Inklusion „langfristig um die Gestaltung einer Gesellschaft, in der sich alle als selbstverständlich dazugehörig erleben können. [...] Für dieses Ziel müssen [...] Wände verstellt und womöglich manche Mauern eingerissen werden. In allen gesellschaftlichen Bereichen soll Behinderung als Bestandteil normalen menschlichen Zusammenlebens verstanden und akzeptiert werden. Dies gilt für den Arbeitsmarkt, das Wohnungswesen, Ehe und Familie, Kultur, Politik, das Gesundheitssystem, die Systeme der sozialen Sicherung und das Bildungssystem vom Kindergarten über die Schule bis zur Universität.“7 3
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Die „Schattenübersetzung“ wird im Folgenden zugrunde gelegt und ist online abrufbar unter: www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/093_schattenuebersetzungendgs. pdf, abgerufen am 13.01.12. Theunissen (2011), 56. Bielefeldt (2011), 74. Die Definition von Behinderung hat sich in den letzten Jahren vielfach gewandelt. Während der Begriff früher als biologisch-medizinisches Schicksal und Abweichung von einer nicht-behinderten Norm verstanden wurde, so wird heute entsprechend der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ der WHO vor allem die Folge von Behinderung in Form der Teilhabestörung am gesellschaftlichen Leben berücksichtigt. „Behinderung“ wird folglich definiert als eine gesundheitliche Störung, die durch Beeinträchtigung der Aktivitäten und im Zusammenwirken mit individuellen und/oder gesellschaftlichen Kontextfaktoren die Teilhabe von Menschen beeinträchtigt. Auch die UN-BRK beschreibt Behinderung als „die strukturell bedingte und im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen größere Einschränkung der individuellen Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie erkennt eine Behinderung dort, wo die Wechselwirkungen zwischen einer Beeinträchtigung und einer gesellschaftlichen Barriere dazu führt, dass Menschen mit Behinderungen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert werden.“ (Aichele (2010), 14). Bielefeldt (2011), 74-75.
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In der UN-BRK wird auch das Recht auf Arbeit und Beschäftigung von Menschen mit einer Behinderung gefordert. Dies schließt die Möglichkeit ein, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.“8 (Art. 27 (1) UN-BRK) Um die berufliche Teilhabe für Menschen mit Behinderung zu sichern und zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsstaaten im Art. 26 (Habilitation und Rehabilitation), geeignete und effiziente Maßnahmen zu treffen und umfassende und Zielführende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme „insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste“ (Art. 26 (1) UN-BRK) zu organisieren, zu stärken und zu erweitern. Mit der Ratifizierung dieses völkerrechtlichen Vertrags hat sich auch die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung für Menschen mit Behinderungen zu garantieren. Tatsächlich ist die Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt von Menschen mit einer (geistigen) Behinderung in Deutschland jedoch stark eingeschränkt. In den meisten Fällen werden sie „in Berufsbildungswerken, Werkstätten und beruflichen Rehabilitationseinrichtungen ausgebildet, die selten in eine existenzsichernde Teilnahme am Erwerbsleben mündet.“9 Im folgenden Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob die „Werkstatt für behinderte Menschen“ (kurz: WfbM) eine Möglichkeit im Sinne der UN-BRK darstellt, Menschen mit geistiger Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt zu beteiligen. Kann die WfbM als ein „wichtiger Baustein“10 oder sogar als „Garant für Teilhabe von Menschen mit einer geistigen und einer schweren Behinderung“11 bezeichnet werden? Oder bildet sie eine „Struktur faktischer Separierung“12, die es im Sinne einer freiheitlichen, barrierefreien Gesellschaft abzuschaffen gilt? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine kurze Vorstellung der „Werkstatt für behinderte Menschen“ nötig. Zuvor soll allerdings die grundsätzliche Bedeutung der Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben für Menschen mit einer geistigen Behinderung aufgezeigt werden. 8 9 10 11 12
Schattenübersetzung des Netzwerk Artikel 3 [Hervorhebung: P.M.]. Pfahl/Powell (2010), 32 [Hervorhebung: P.M]. BMAS (2009), 60. Bundesvereinigung Lebenshilfe (2006), 23. Bielefeldt (2011), 75.
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1. ZUR FUNKTION UND BEDEUTUNG VON ERWERBSTÄTIGKEIT FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG Nach wie vor dominiert die Auffassung, dass ein Mensch, der „Arbeit hat“, nicht einfach nur beschäftigt, sondern erwerbstätig ist.13 Auch das im neunten Sozialgesetzbuch verankerte Ziel der „Teilhabe am Arbeitsleben“ ist auf Erwerbsarbeit hingeordnet. Grundsätzlich bezieht sich der Begriff der Erwerbsarbeit auf eine Form der Arbeit, „die darauf ausgerichtet ist, zum Zweck des Tausches auf dem Markt Güter herzustellen oder Dienstleistungen zu erbringen. Sie meint Arbeit, von der man lebt, durch die man verdient – sei es in abhängiger oder selbstständiger Stellung oder in einer der vielen Zwischenstufen, sei es mit manueller oder nicht-manueller, mit mehr oder weniger qualifizierter Tätigkeit.“14 Erwerbsarbeit erschöpft sich aber nicht nur in der Funktion der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen sowie der Einkommenssicherung, sondern kann auch weitere Funktionen beinhalten: So kann Erwerbsarbeit dem Leben eine Zeitstruktur verleihen: Erwerbstätige erleben einen Wechsel zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Anspannung und Entspannung; ein fester Zeitrhythmus prägt den Alltag; Erwerbsarbeit kann soziale Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen außerhalb der eigenen Familie ermöglichen,15 was nicht nur das soziale Umfeld entlastet, sondern auch die eigenen Handlungsmöglichkeiten vergrößert. Darüber hinaus vermittelt eine Erwerbstätigkeit sozialen Status und sichert damit das Selbstwertgefühl einer Person. Nicht zuletzt kann eine Erwerbstätigkeit auch Fähigkeiten in kognitiver, sozialer und ggf. schöpferischer Hinsicht mobilisieren. Mit Blick auf Menschen mit geistiger Behinderung sind viele dieser Funktionen und Erfahrungspotentiale von spezifischer Bedeutung: So kann die Erwerbstätigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung auch ein wahrnehmbarer Beleg für deren Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft in der Öffentlichkeit und für die Gesellschaft dar13
14 15
Im Folgenden nach Bieker (2005a), 12-17; so knüpfen die beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme nach wie vor an Erwerbsarbeit an, während andere Formen der Arbeit, beispielsweise Haus- und Familienarbeit als Bemessungsgrundlage ausgeschlossen sind. Bieker (2005a), 12. Vgl. Eurich (2008), 403.
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stellen. Durch die Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben werden statt des Defizitären individuelle Fähigkeiten, Begabungen und Kompetenzen von Männern und Frauen mit geistiger Behinderung sichtbar, was zugleich ihre Identität prägt, insofern eine „gewöhnliche soziale Rolle“ eingenommen wird. Darüber hinaus kann durch eine Erwerbstätigkeit die Abhängigkeit von öffentlicher Unterstützung zumindest geringfügig verringert werden. Zugleich erfährt sich die erwerbstätige Person als ein Mensch, „der nicht nur Hilfen, Gelder etc. (ver-) braucht, sondern selber auch etwas schaffen bzw. geben kann, nämlich seine Arbeitskraft.“16 Auch kann durch eine Erwerbstätigkeit das besonders für Menschen mit geistigen Behinderungen hohe Risiko sozialer Isolation vermindert werden. Die bei Menschen mit einer Behinderung häufig zur „normalen“ Lebensbiographie gehörende Enge des Lebensbereichs Wohnheim/Wohngruppe kann durch den Arbeitsplatz um einen weiteren Ort der Lebensführung mit anderen inhaltlichen Bezügen, Anforderungen und vor allem mit sozialen Kontakten erweitert werden. In Anbetracht dieser Erfahrungs- und Bedeutungspotentiale von Erwerbstätigkeit ist die Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben als notwendig und erstrebenswert für Menschen mit einer geistigen Behinderung anzusehen. Kann aber durch die WfbM eine Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben umgesetzt werden?
2. DIE „WERKSTATT FÜR BEHINDERTE MENSCHEN“: EINE KURZE DARSTELLUNG Als eigenständige, weitgehend wohnortnahe Einrichtung der beruflichen Teilhabe hat sich die „Werkstatt für behinderte Menschen“ in den 1960er Jahren entwickelt und ist in erster Linie aus Bastel- und Werkeinrichtungen für geistig behinderte Kinder und Jugendliche hervorgegangen, die von betroffenen und engagierten Eltern gegründet worden waren.17 Heute ist die Werkstatt hingegen ein gemeinnütziges Dienstleistungs- und Sozialunternehmen für diejenigen, deren Leistungsfähigkeit aufgrund der Art oder Schwere einer Behinderung sich „nach dem nüchternen Rentabilitätskalkül gewinnwirtschaftlicher 16
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Stöpel (2000), 39. Diese Erfahrung wird insofern verstärkt, dass diese Tätigkeit mit einem Lohn honoriert wird, welches aufgrund eigener Kompetenzen – und nicht aufgrund von Inkompetenz – bezogen wird. Im Folgenden nach Bieker (2005b).
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Unternehmen „nicht rechnet“, deren Auffälligkeiten und Eigenheiten in einem „normalen Betrieb“ nicht verkraftbar erscheinen“18. Auf den ersten Blick ist eine Tätigkeit im Arbeitsbereich einer WfbM auch „keine Erwerbstätigkeit“19, denn der sozialrechtliche Zweck einer WfbM ist nicht die Einkommensbeschaffung für die Beschäftigten, sondern „die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen oder zu sichern“ (§ 39 SGB IX). Werkstätten sind auch keine Unternehmen mit dem Ziel der ökonomischen Gewinnmaximierung; sie sind öffentlich geförderte Sozialunternehmen, deren „Markttätigkeit das Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst [ist].“20 Bei einer näheren Betrachtung fallen jedoch diverse Ähnlichkeiten zwischen Werkstattarbeit und Erwerbsarbeit auf: Wer im Arbeitsbereich einer WfbM arbeiten will, muss zu einem „Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ (§ 136 Abs. 2 SGB IX) fähig sein; aus der Verwertung dieser Arbeitskraft wird ein leistungsbezogenes Entgelt gezahlt.21 Dieses Entgelt basiert auf einem Grundbetrag, der gesetzlich vorgeschrieben ist. Darauf aufbauend wird ein Steigerungsbetrag gezahlt, der leistungsabhängig sein soll. Bei der Bemessung des Steigerungsbetrages werden, je nach Konzept der Werkstatt, neben quantitativen und qualitativen Aspekten der Arbeitsleistung auch die Komplexität des Arbeitsplatzes, Schmutz- und Lärmzulagen, Lebensalter und die Werkstattzugehörigkeit berücksichtigt. Weitere für eine Erwerbstätigkeit typische Elemente sind die vertragliche Bindung, die Geltung von Arbeitnehmerschutzrechten und das Recht auf innerbetriebliche Mitbestimmung. Ebenso sind die Ar18 19 20 21
Bieker (2005b), 313. Bieker, (2005a), 12. Bieker, (2005a), 12. Mitarbeiter/Innen, deren Entgelt nicht mehr als 325 € beträgt, erhalten seit 2001 eine zusätzliche Arbeitsförderungsgeld bis zu 26 € monatlich (vgl. § 43 SGB IX), um die niedrigen Werkstattlöhne aufzubessern. Das bundesdurchschnittliche Arbeitsentgelt beträgt um die 170 € im Monat. Die Durchschnittsverdienste differieren von Werkstatt zu Werkstatt beträchtlich und reichen von 67 € bis über 600 € monatlich. Das resultiert u. a. aus den unterschiedlichen Konzeptionen der Werkstattträger: Auch Art und Schwere der Behinderung sind relevant. Ist z. B. der pflegerischbetreuende Bedarf besonders umfangreich, steht eine wesentlich geringere Zeit für die produktive Tätigkeit zur Verfügung. Zudem muss berücksichtigt werden, dass eine Werkstatt nicht jene profitablen Aufträge annehmen kann, die die Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter/Innen übersteigen.
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beitsinhalte und die Ausstattung der Arbeitsplätze mit jenen in gewinnorientierten Unternehmen vergleichbar. Zudem stehen die im Arbeitsbereich der Werkstätten tätigen Menschen mit Behinderung in der Regel in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis; so sind sie in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Unfallversicherung pflichtversichert.22 Und schließlich ist auch vom persönlichen Standpunkt der Beschäftigten aus das Interesse an der Beschäftigung in einer Werkstatt mit dem Wunsch der Einkommenserzielung verbunden. In ihrer Wahrnehmung ist die Arbeit in der Werkstatt „Arbeit wie andere Arbeit auch“23. Werkstätten stehen grundsätzlich erwachsenen Menschen mit geistigen, psychischen und schweren körperlichen Behinderungen offen. Als eine Einrichtung zur Teilhabe am Arbeitsleben wendet sie sich vor allem an Personen, die wegen der Art oder Schwere ihrer Behinderung (noch) nicht am allgemeinen Arbeitsmarkt ausgebildet oder beschäftigt werden können.24 Sie ist jedoch nicht für Menschen vorgesehen, die aufgrund der besonderen Schwere ihrer Behinderung nicht in den auf wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung ausgerichteten Rahmen der WfbM einbezogen oder nicht ausreichend gefördert werden können. Im SGB IX werden diejenigen Personen von der Aufnahme in einer WfbM ausgeschlossen, die auch nach entsprechender Förderung kein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen können und „bei denen trotz einer der Behinderung angemessenen Betreuung eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung zu erwarten ist oder das Ausmaß der erforderlichen Betreuung und Pflege die Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich oder sonstige Umstände ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Arbeitsbereich dauerhaft nicht zulassen.“ (§ 136 Abs. 2 SGB IX). Angesichts der Zielperspektive Inklusion ist diese gesetzliche Regelung jedoch sehr problematisch und umstritten, da der Ausschluss von Menschen mit einer schweren geistigen und/oder mehrfachen Behinderung nicht nur vom allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auch
22
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Werkstattbeschäftigten steht nach einer Beschäftigungszeit von mindestens 20 Jahren zudem eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu. Bieker (2005a), 13. Vgl. § 137 Abs. 1 SGB IX. In diesem Sinne bildet die WfbM einen exklusiven Arbeitsmarkt für Menschen mit einer Behinderung.
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vom Arbeitsleben in den „Werkstätten für Menschen mit Behinderung“, das Ziel der Inklusion konterkariert.25 Diejenigen Personen, die laut SGB IX nicht in einer WfbM aufgenommen werden können, werden zumeist in Gruppen untergebracht, die der Werkstatt organisatorisch-räumlich angegliedert sind, rechtlich aber nicht zu ihr gehören. Die Betreuung und Förderung in diesen sogenannte Fördergruppen bzw. Schwerstbehindertengruppen „unter dem verlängerten Dach der Werkstatt“26 kann zwar einen möglichen Wechsel in die Werkstatt erleichtern, bietet aber auch das Risiko einer weiteren Ausgrenzung der Menschen, die bereits „durch eine Werkstatt als einer Sondereinrichtung der beruflichen Teilhabe aus dem allgemeinen Beschäftigungssystem ausgegrenzt sind.“27 Die WfbM intendiert, „dass Art und Schwere einer Behinderung nicht zum diskriminierenden Ausschlusskriterium für die Teilhabe am Arbeitsleben werden.“28 Hierzu soll die individuelle Leistungsfähigkeit der Beschäftigten in der Weise entwickelt und erhöht werden, dass diese entweder in der Werkstatt ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen oder optimalerweise in das Erwerbsarbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind beispielsweise in den Bereichen Spedition und Transport, Bauen und Montage, Reinigung und Entsorgung, in der Landwirtschaft, in Großküchen oder Hotels gegeben.29 Um eine Erwerbstätigkeit in diesen Bereichen zu ermöglichen, bietet die „Werkstatt für behinderte Menschen“ Leistungen zur „Beruflichen Bildung“ und „Beschäftigung“ an. In der „Beruflichen Bildung“ erfolgt eine 2jährige Qualifizierung in den Werkstatteigenen Räumen; die Leistungen in diesem Bereich sollen die Erwerbsfähigkeit der Teilnehmenden mit Behinderung so weit wie möglich entwickeln, verbessern oder wiederherstellen und sie befähigen, später ein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung“ zu erbringen. Die Lernziele erstrecken sich über das Erlernen von Kulturtechniken (z. B. Verbesserung der Fähigkeiten des Lesens, Rechnens und Schreibens), beruflicher Kernqualifikationen (z. B. Unterscheidung von Vorlagen, Materialien, Bedienen von Schaltern, Montieren/Demontieren, Qualitätsbeurtei25 26 27 28 29
Vgl. Brinkmann/Hinderberger (2011). Bieker (2005b), 315. Bieker (2005b), 315 [Hervorhebung: P.M.]. Bieker (2005b), 313. Vgl. Bieker (2005b), 322.
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lung), von Arbeitsprozess-Qualifikationen (z. B. Gefahrenerkennung, Aushalten von Stress-Situationen) bis hin zu Schlüsselqualifikationen (z. B. Selbstständigkeit, lebenspraktische Fähigkeiten wie An- und Umziehen, Konfliktfähigkeit, Kommunikation, Ausdauer und Motivation). Die Angebote sind nicht nur binnenorientiert, d. h. auf eine spätere Tätigkeit in der Werkstatt ausgerichtet, sondern auf die berufliche Qualifizierung und persönliche Förderung zur allgemeinen Arbeitswelt hin ausgerichtet. Zugleich sollen sich die Arbeitsgestaltung und Arbeitsabläufe in der WfbM aber so weit wie möglich den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeiter/Innen anpassen.30 Als gemeinnützige Sozial- und Dienstleistungsunternehmen können Werkstätten ihre Aufgabe nur durch Präsenz am Markt erfüllen, unter dessen Bedingungen sie in Konkurrenz mit anderen Leistungsanbietern stehen.31 Das Maß des wirtschaftlichen Erfolgs einer WfbM hängt davon ab, in welchem Umfang die Fähigkeiten und Kräfte der Mitarbeiter/Innen auf ökonomische Produktivität ausgerichtet werden und umgekehrt Aktivitäten vermieden werden, deren Rentabilität zu hinterfragen ist.32
3. ZUR FRAGE DER TEILHABE AM ARBEITSMARKT DURCH DIE „WERKSTATT FÜR BEHINDERTE MENSCHEN“ 3.1. Die Vermittlungsquote der WfbM zum regulären Arbeitsmarkt Die „Werkstätten für behinderte Menschen“ haben den gesetzlichen Auftrag, den Übergang von Menschen mit Behinderungen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern.33 Die Zahl erfolgreicher Übergänge ist jedoch sehr niedrig; unter 1% der Betroffenen wird wirklich vermittelt.34 Über 99% aller Werkstattbeschäftigten bleiben damit die 30 31
32
33 34
Vgl. Bieker (2005b), 319. Zu den Bedingungen des Marktes zählen u. a. wettbewerbsfähige Preise, Zuverlässigkeit und Termintreue, Qualität, Schnelligkeit und Flexibilität. Zur Bedeutung der WfbM für die öffentlichen Haushalte und die regionale Wirtschaft vgl. die Studie des SROI (Social Return on Investment) für „Werkstätten für behinderte Menschen“ vgl. Halfar/Wagner (2011). Vgl. § 41 II SGB IX. Vgl. Vieweg (2006), 117. So hat sich die Übergangsquote nur marginal von 0,15 % im Jahr 2002 auf 0,17 % im Jahr 2006 erhöht. Dabei verteilten sich diese Übergänge aber jeweils nur auf 1/5 bis 1/4 der Werkstätten: „Während die eine Hälfte der Werkstätten für den gesamten Fünfjahreszeitraum zumindest einen Übergang be-
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gesamte Zeit ihres Arbeitslebens in der WfbM. So stellt auch der Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen fest, dass „[d]ie Förderung des Übergangs Werkstattbeschäftigter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt [...] in vielen Werkstätten nicht selbstverständlich [ist]. So haben in den Jahren 2002 bis 2006 in dem jeweiligen Jahr nur jeweils 20-25% der Werkstätten mindestens einen Übergang zu verzeichnen.“ 35 Ein Grund für diese geringe Quote ist, dass der flexible Wechsel sozialer Bezüge und des Arbeitsplatzes für Menschen mit geistiger Behinderung im Regelfall eine größere Herausforderung darstellt als für Menschen ohne Behinderung. Auch wirkt sich das zunehmende Verschwinden industrieller Arbeitsplätze mit geringerem kognitiven Anforderungsniveau negativ aus. Einen weiteren Grund stellt ein strukturelles Dilemma der WfbM dar36: Um das Ziel der Erwerbstätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt zu erreichen, muss sich die Werkstatt als zuverlässiger, kompetenter und leistungsfähige Partnerin auf dem Markt bewähren. Dies gelingt jedoch umso weniger, je häufiger sie die produktivsten und leistungsfähigsten ihrer Mitarbeiter/Innen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt entlässt. Folglich gibt es seitens der Werkstatt einen Anreiz, ihre „Leistungsträger“ zu behalten. So lautet ein gängiger Vorwurf, dass „die meisten WfbM gar nicht daran interessiert [seien], ihre Leistungsträger‘ ins gesellschaftliche Arbeitsleben zu entlassen. Würde ein solches Ziel fokussiert, kämen womöglich erhebliche ökonomische Probleme auf die WfbM zu, die ihre Existenz gefährden könnten.“37 Daher müssen die gegensätzlichen Ziele der Übergangsförderung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt und der erfolgreichen Führung eines wirtschaftlichen Sozialunternehmens in der Praxis stets ausbalanciert werden. Die WfbM ist als gemeinnütziges Sozialunternehmen mit Marktpräsenz zugleich mit weiteren Herausforderungen konfrontiert: So führt eine allzu intensive Ausrichtung auf ökonomische Produktivität der Werkstatt schnell zu einer Überforderung der Beschäftigten. Die Werkstatt muss also „zwei Herren dienen“38: den Anforderungen des
35 36 37 38
richtete, konnte die andere Hälfte keinen einzigen solchen Fall vermelden.“ (ISB (2008), 11). Vgl. BMAS (2009), 60. Vgl. im Folgenden Bieker (2005b), 330. Theunissen (2005), 340. Bieker (2005b), 323.
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Marktes und den Bedürfnissen ihrer Beschäftigten (deren Leistungsfähigkeit zudem individuell unterschiedlich ist und deren Anspruch sich nicht allein in wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erschöpft, die aber auch ein Einkommen erzielen wollen). Diese Grundspannung muss die WfbM bereits bei der Sichtung von Aufträgen bedenken und stets neu in ein angemessenes Verhältnis setzen.39 Es bleibt daher festzuhalten, dass die WfbM ihrem Auftrag, möglichst viele Menschen mit Behinderungen nicht nur auf Tätigkeiten im gesellschaftlichen Arbeitsleben vorzubereiten, sondern auch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, angesichts der geringen Übergangsquoten von weniger als 1% nicht gerecht wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sind nicht nur in der WfbM oder bei den Menschen mit geistiger Behinderung selbst zu suchen. Werkstätten daher als sicheren Garant für die berufliche Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung zu verstehen, ist angesichts der äußerst geringen Vermittlungsquote fragwürdig. Stellen die „Werkstätten für behinderte Menschen“ daher eine separierende Sonderwelt dar, die mit dem Inklusionsgedanken der UN-BRK unvereinbar sind?
3.2 Die WfbM – Eine Welt jenseits der Unwirtlichkeit der gewöhnlichen Arbeitswelt? Mit Art. 27 der UN-BRK, der das „gleichberechtigte Recht von Menschen mit Behinderung auf Arbeit“ einfordert, überträgt die Konvention die Ablehnung von Sonderwelten konsequent auf den Bereich der Arbeit. Damit intendiert sie jedoch nicht eine Teilhabe an einem exklusiven Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung, den die Werkstätten bilden.40 Ein solches Verständnis schwächt vielmehr die Forderung der Konvention ab, „verstärkt Barrieren abzubauen und Bedingungen zu schaffen, die behinderten Menschen Optionen für eine subjektiv bedeutsame Arbeit und einen gleichberechtigten Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen.“41 In diesem Zusammenhang ist erneut darauf hinzuweisen, dass insbesondere für Menschen mit einer geistigen Behinderung die WfbM häufig nur die 39
40 41
Allerdings sind in den letzten Jahren die externen Anforderungen an die Werkstätten und damit vor allem an ihre Beschäftigten gestiegen, wie etwa Just-in-timeLieferung, Zuverlässigkeit, Schnelligkeit und Flexibilität in der Auftragsabwicklung. Vgl. Theunissen (2011), 54. Theunissen (2011), 55.
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einzige „Wahl“ darstellt.42 Dies steht allerdings im Widerspruch zu den Forderungen der UN-BRK und den Leitlinien des SGB IX, die auf die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und auf die Förderung von Selbstbestimmung abzielen. Der beispielsweise zu beobachtende Automatismus des Übergangs von der Förderschule zur WfbM für den Personenkreis der Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung ist nicht vereinbar mit dem Anspruch der UN-BRK, „Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Selbstbestimmung [...] zu erreichen und zu bewahren.“ (Art. 26 (1) UN-BRK [Hervorhebung: P.M.]) Es ist überdies problematisch, die Tätigkeit in einer Werkstatt bereits als berufliche Teilhabe zu deklarieren, denn dann wäre berufliche Teilhabe letztlich nur ein Sammelbegriff für jedwede Maßnahme, die Menschen mit geistiger Behinderung in Bezug auf Arbeit fördern.43 Die WfbM kann zwar einen Ort bilden, an dem viele Menschen mit einer geistigen Behinderung sinnvoll tätig sein und durch eigene Arbeit zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beitragen können. Unerlässlich hierfür ist aber der stets offene Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt. Ein beständiger Einwand gegen das Leitbild der Inklusion lautet, dass es für Menschen mit Behinderungen sinnvoll sei, „Schonräume“ zu haben, in denen sie vor den Zumutungen der „normalen“ Arbeitswelt beschützt werden. Sicherlich muss eine inklusive Gesellschaft auch eine Gesellschaft sein, „in der, bildhaft gesprochen, auch Nischen, Sofaecken und Ruhezonen existieren.“44 Es ist allerdings nicht mit der Zielperspektive der Inklusion vereinbar, wenn Menschen mit einer Behinderung kategorisch auf solche Schonräume verwiesen und damit separiert werden. Einen Schonraum, der frei ist von jedweden Zumutungen und Ansprüchen an ihre Beschäftigten, will und sollte die WfbM als eine Einrichtung zur Eingliederung in das allgemeine Arbeitsleben deshalb auch nicht bilden.45 Denn obwohl die Werkstatt eine Einrichtung ist, die behinderungsspezifische Schwierigkeiten berücksichtigt und günstige bzw. auch schonende Arbeitsbedingungen bietet, ist sie den Bedingungen und Herausforderungen des Marktes unterworfen und damit auch Teil der allgemeinen Lebens42 43 44 45
Vgl. Fischer/Heger/Laubenstein (2011), 15. Vgl. Vieweg (2006), 117. Bielefeldt (2011), 76. Laut Rudolf Bieker bilde die WfbM „keine pädagogisch-therapeutische Gegenwelt zur Unwirtlichkeit des gewöhnlichen Erwerbslebens.“ (Bieker (2005b), 324)
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welt. Die Werkstatt deshalb lediglich „unter dem Blickwinkel der Förderung zu sehen, würde Menschen mit einer geistigen Behinderung den Anspruch vorenthalten, als selbstverständliche Teilnehmer am gesellschaftlichen System Arbeit zu gelten und als solche anerkannt zu werden.“46
4. RESÜMEE Sind die „Werkstätten für behinderte Menschen“ mit den Forderungen der UN-BRK vereinbar? Ein expliziter Hinweis auf die Werkstätten findet sich in der Konvention nicht. Allerdings wird in Artikel 27 ausdrücklich auf berufliche Beratungsangebote sowie auf Programme einer beruflichen Rehabilitation hingewiesen, die den Zugang von Menschen mit einer Behinderung zum regulären Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Der Konvention geht es im Wesentlichen um das Recht jeder Person mit einer Behinderung, „unbehindert am allgemeinen Arbeitsleben teilhaben zu können.“47 Die Entscheidung obliegt somit der betreffenden Person, was dazu führen kann, dass „im Einzelfall spezielle Settings (Systeme des zweiten Arbeitsmarkts) bevorzugt werden. Solche Möglichkeiten spezieller Settings [...] lässt die Behindertenrechtskonvention jedoch nur unter der Voraussetzung zu, dass das Recht auf eine eigene Entscheidung (Wahlfreiheit) sowie der Zugang zu allgemeinen Systemen nicht eingeschränkt wurden.“48 Artikel 27 der Konvention bleibt demnach unerfüllt, solange faktisch nur die Wahl bleibt zwischen Werkstatt oder Arbeitslosigkeit und keine weiteren Möglichkeiten zur beruflichen Teilhabe vorhanden sind.49 Auch wird eine alleinige Koppelung des Rechts auf Unterstützung zur Teilhabe am Arbeitsleben an die „Werkstatt für behinderte Menschen“ dem Inklusionsanspruch nicht gerecht. Die „Werkstatt für behinderte Menschen“ sollte deshalb nur eine von vielen Möglichkeiten bilden, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung einer ihren Bedürfnissen und Kompetenzen angemessenen Tätigkeit und Lebensgestaltung nachgehen können. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes werden die Werkstätten auch künftig eine tragende Säule der beruflichen Bildung 46 47 48 49
Bieker (2005b), 324. Theunissen (2011), 55. Theunissen (2011), 55. Vgl. Kurth (2009).
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ihrer Klient/Innen bleiben. Sie gewährleisten eine weitgehende Berücksichtigung behinderungsspezifischer Belange der Beschäftigten. Zugleich drohen sie jedoch angesichts der geringen Vermittlungsquote sowie steigender Zugangszahlen eine separierende Sondereinrichtung zu bilden, die die Teilhabe behinderter Menschen am allgemeinen Arbeitsmarkt verhindern. Um dies zu vermeiden bedarf es – neben der Bereitschaft von Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts, behinderte Menschen zu beschäftigen50 – auch künftig der Anstrengungen der WfbM, den Beschäftigten den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Neben Betriebspraktika sind vor allem Außenarbeitsplätze51, d. h. Arbeitsplätze in den Betriebsstätten von Auftraggebern, dazu geeignet, Betriebe für die Beschäftigung eines Menschen mit einer geistigen Behinderung zu interessieren. So können auch die Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich besser erschlossen werden, bei denen die Qualifizierung vor Ort sinnvoll ist (z. B. in den Bereichen Hotel und Gastronomie oder im Bereich Pflege). Eine solche „Öffnungs- und Anbahnungsfunktion“52 muss allerdings mit der Bedingung einhergehen, dass „Außenarbeitsplätze in der unbefristeten Variante nicht beliebig verfügbar sind.“53 Denn die Vorteile von Außenarbeitsplätzen für Betriebe sind oft so groß, dass sie eine ernsthafte Konkurrenz zu regulären Arbeitsplätzen für die Werkstattbeschäftigten bilden und damit Teilhabe somit „auf halben Weg [...] stehen bleibt.“54 Angesichts der Zielperspektive Inklusion muss der Einbezug von Menschen mit einer schweren geistigen und/oder mehrfachen Behinderung gewährleistet sein. Leistungsfähigkeit im Sinne wirtschaftlicher Verwertbarkeit der Arbeitsleistung darf nicht die alleinige Zugangsvoraussetzung zu Leistungen der beruflichen Bildung und der Teilhabe am Arbeitsleben sein, da sonst Menschen mit schwerer Be50
51 52 53
54
Diesbezüglich soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Ziel der Inklusion insbesondere den ‚vermeintlich Nicht-Betroffenen‘ verlangt, „dass alles beseitigt oder verhindert wird, was die Zugehörigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen behindert.“ (Schäper (2007), 183) Durch die räumliche Verlagerung verändert sich der Rechtsstatus der MitarbeiterInnen dieser Außenarbeitsgruppen nicht, sie bleiben Beschäftigte der Werkstatt. ISB (2008), 12. ISB (2008), 12. Darüber hinaus stellt die Inklusion aller Kinder und Jugendlichen in gemeinsamen Schulklassen einen wichtigen und unerlässlichen Schritt dar. Denn maßgeblich für den Zugang zum allgemein Arbeitsmarkt sind und bleiben qualifizierende Bildungsabschlüsse; vgl. Pfahl/Powell (2010), 38. ISB (2008), 12.
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hinderung vom Arbeitsleben in den „Werkstätten für behinderte Menschen“ ausgeschlossen werden.55 In dieser Hinsicht ist eine Gefahr der WfbM der einseitige Blick auf die Leistungsfähigkeit bzw. „wirtschaftliche Verwertbarkeit“ eines Menschen mit Behinderung. Denn eine alleinige Fixierung auf das Prinzip Leistung kann innerhalb der WfbM die Tendenz bewirken, leistungsschwache geistig behinderte Mitarbeiter/Innen in den jeweiligen Fördergruppen zu separieren. Ein solcher Ausschluss von Menschen mit schwersten Behinderungen „aus dem Projekt der Inklusion führt aber die Idee von Inklusion insgesamt ad absurdum.“56 Um dies zu verringern, muss die Fördergruppe in einer WfbM stets „durchlässig nach oben“ sein. Mit Art. 27 der UN-BRK wächst der Druck auf die Werkstätten für behinderte Menschen, ihrem Auftrag nachzukommen, Menschen mit einer Behinderung Möglichkeiten der Beschäftigung auch außerhalb der Werkstatt anzubieten und optimalerweise in das Erwerbsarbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Die UN-BRK enthält keine Absage an die WfbM, sondern fordert „am einzelnen Menschen orientiert nach Möglichkeiten einer beruflichen Teilhabe zu suchen, unter Einbezug von Wünschen, Interessen, Fähigkeiten und Potenzialen sowie sozialen und räumlichen Ressourcen.“57 Aus diesem Grund müssen ungünstige und mit dem Anspruch auf Inklusion disparate Rahmenbedingungen und Strukturen verändert werden. Der Begriff der Inklusion fordert schließlich dazu auf, den Arbeitsbegriff zu erweitern, sodass sinnstiftende Tätigkeit nicht nur als Lohnerwerbsarbeit definiert wird. In letzter Konsequenz resultiert aus dem Ziel der Inklusion „die Forderung, dass die Arbeitswelt sich dem Menschen anpassen muss und sich nicht die Menschen den – ebenfalls sozial konstruierten – Zwängen der Arbeitswelt unterordnen müssen.“58 Die Ausweitung sinnstiftender Tätigkeit darf jedoch den Anspruch auf Teilhabe am Erwerbsarbeitsleben im Hinblick auf Menschen am Rand des allgemeinen Arbeitsmarkts keinesfalls mindern. 55
56 57 58
Diesbezüglich muss etwa die in § 136 SGB IX beschriebene Unterscheidung zwischen sog. „werkstattfähigen“ und „nicht-werkstattfähigen“ Personen aufgehoben werden und der Paragraph derart umgestaltet werden, dass die Vorschriften „nicht auf Leistungen in anerkannten WfbM beschränkt bleiben, sondern konsequent – im Sinne des Personenzentrierten Ansatzes – am individuellen Bedarf der leistungsberechtigten Person ausgerichtet werden.“ (Brinkmann/Hinderberger (2009), 1). Schäper (2007), 177. Fischer/Heger/Laubenstein (2011), 32. Kurth (2009).
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Dieser Anspruch bleibt unerlässlich, denn Erwerbsarbeit ist und wird auf absehbare Zeit eine wichtige Möglichkeit zur Realisierung von Lebenschancen und eine Leitwährung gesellschaftlicher Teilhabe bleiben.
Literatur Aichele, Valentin, Behinderung und Menschenrechte: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: APuZ 23 (2010), 13-19. Bieker, Rudolf, Individuelle Funktionen und Potentiale der Arbeitsintegration, in: Ders. (Hg.), Teilhabe am Arbeitsleben. Weg der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung, Stuttgart 2005, 12-24. Bieker, Rudolf, Werkstätten für behinderte Menschen. Berufliche Teilhabe zwischen Marktanpassung und individueller Förderung, in: Ders. (Hg.), Teilhabe am Arbeitsleben. Weg der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung, Stuttgart 2005, 313-334. Bielefeldt, Heiner, Inklusion als Menschenrechtsprinzip, in: Eurich, Johannes/Lob-Hüdepohl, Andreas (Hgg.), Inklusive Kirche (= Behinderung – Theologie – Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies, Bd. 1), Stuttgart 2011, 64-79. BMAS, Behindertenbericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderung für die 16. Legislaturperiode, Bonn 2009. Brinkmann, Sylvia/Hinderberger, Jörg (i. A. der Verbände), Verbändeübergreifende Stellungnahme „Diskriminierung beenden – Rechtsanspruch auf berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit schwerer geistiger und/oder mehrfacher Behinderung sicherstellen!“, Dezember 2011; URL: www.lebenshilfe.de/de/aus_fachlicher_ sicht/downloads/Diskriminierung-beenden-03.12.2011.pdf (21.01.12). Bundesvereinigung Lebenshilfe, Zugangsvoraussetzungen für behinderte Menschen in Werkstätten. Position der Bundesvereinigung Lebenshilfe, in: Fachdienst der Lebenshilfe (2006); URL: http://fachinformatio nen.diakoniewissen.de/sites/default/files/legacy/Positionspapie rBVLH ZugangsvoraussetzungenVersion0506_endf.pdf (13.01.12.). Eurich, Johannes, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung: Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven, Frankfurt 2008.
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Stöpel, Frank, Förderung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen durch eine berufliche Tätigkeit, in: Heilpädagogische Forschung 1 (2000), 36-47. Theunissen, Georg, Lebensperspektiven ohne Erwerbsarbeit – Arbeitsmöglichkeiten und tagesstrukturierende Maßnahmen für schwerst mehrfachbehinderte Menschen, in: Bieker, Rudolf (Hg.), Teilhabe am Arbeitsleben. Weg der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung, Stuttgart 2005, 335-346. Theunissen, Georg, Von der „Asylierung“ zur „Inklusion“ – zeitgenössische Paradigmen in der Behindertenhilfe, in: Eurich, Johannes/LobHüdepohl, Andreas (Hgg.), Inklusive Kirche (= Behinderung – Theologie – Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies, Bd. 1), Stuttgart 2011, 50-63. Vieweg, Barbara, Inklusion und Arbeit, in: Dederich, Markus (Hg.), Inklusion statt Integration. Heilpädagogik als Kulturtechnik, Gießen 2006, 114-124.
Arbeit und der Dritte Weg der Kirchen im kirchlichen Arbeitsrecht
Ist der „dritte Weg“ der Kirchen gerecht? Hermann Lührs
In der Kontroverse um die Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen in den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden wird die kirchliche Sonderstellung im Arbeitsrecht oft als „dritter Weg“ bezeichnet. Der „erste Weg“ – so diese Lesart – bestehe in der einseitigen, patriarchalen Festlegung der Arbeitsbedingungen durch Arbeitgeber. Im „zweiten Weg“, dem Tarifvertragssystem, stünden Arbeitgeber und Gewerkschaften als Kampfformationen sich befehdend gegenüber. Im „dritten Weg der Kirchen“ dagegen würden die Arbeitsbedingungen in Arbeitsrechtlichen Kommissionen ohne Arbeitskampf friedlich und vernünftig beschlossen. „Ich halte den Dritten Weg“, so meint der Vorsitzende des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD), „nicht nur für unsere Kirchen, sondern für weite Teile der Sozialwirtschaft, des zweitgrößten Bereiches unserer Gesamtwirtschaft, für wegweisend, weil er als Diskurs vernünftiger Menschen methodisch dem pfeifenden und kreischenden Straßenkampf um Lohnerhöhungen haushoch überlegen ist.“1 Die Lohnfindung in Arbeitsrechtlichen Kommissionen ist jedoch so umstritten wie noch nie. Ist dieses Verfahren gerecht? In den Kirchen, Diakonie und Caritas arbeiten ungefähr 1,3 Millionen Menschen. In der Metall- und Elektroindustrie sind es 3,2 Millionen. Darauf folgen der öffentliche Dienst und der Einzelhandel mit jeweils über 2 Millionen Angestellten. Auf Platz vier dieser Skala steht der kirchliche Sektor noch vor dem Groß- und Außenhandel oder der Automobilindustrie.2 Kirchen, Diakonie und Caritas sind somit ein bedeutender Teil der Arbeitsgesellschaft in Deutschland. Im Bereich der sozialen Dienste prägen die konfessionellen Wohlfahrtsverbände die Gestalt des deutschen Sozialstaates. Diakonie und Caritas stellen 1 2
diakonie-unternehmen Ausgabe 2/2011, 11. Vgl. Lührs (2010), 74.
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den überwiegenden Teil der dort beruflich Tätigen. Die besonderen Arbeitsbeziehungen im kirchlichen Sektor sind deshalb keine innerkirchliche Fragestellung.3 Sie haben öffentliche Bedeutung. Ansatzweise kann man Gerechtigkeit als institutionell gesicherte Qualität von Beziehungen zwischen Menschen in Gesellschaft auffassen. Zur Klärung der institutionellen Qualität der Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen im kirchlichen Sektor wird im Folgenden einigen systematischen, empirischen und arbeitssoziologischen Gesichtspunkten nachgegangen, die für die Fragestellung relevant sind.
1. IRRIGE REDE VOM „DRITTEN WEG“ Zunächst ist in diesem Zusammenhang die Rede vom „ersten“, „zweiten“ und „dritten“ Weg irreführend. Betrachtet man den oben genannten „ersten Weg“ unter demokratietheoretischen und rechts- und sozialstaatlichen Gesichtspunkten, so ist festzuhalten, dass es in Deutschland einen „ersten Weg“ – verstanden als einseitige, ohne Verhandlungs- oder Vertragsgrundlage durch Arbeitgeber gesetzte Bestimmung von Arbeitsbedingungen in Arbeitsvertragsverhältnissen – seit Geltung des Grundgesetzes 1949 nicht (mehr) gibt. Arbeitsverhältnisse können in der Bundesrepublik nicht durch einseitige Setzung begründet und gestaltet werden. Sie sind freie Vertragsverhältnisse.4 Das bedeutet, dass ein Vertrag geschlossen werden muss, damit ein Arbeitsverhältnis zustande kommt. Verträge sind in der Sprache der Juristen übereinstimmende Willenserklärungen von Parteien, die ihren Willen frei gebildet und erklärt haben. Das gilt für das Zustandekommen und Beenden des Vertrages, für dessen Inhalte und für 3
4
Kirchen, Diakonie und Caritas nehmen auch in weiteren Bereichen eine arbeitsrechtliche und arbeitspolitische Sonderstellung ein. Sie sind von der Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes ausgenommen. Die Kirchen haben dafür eigene kirchliche betriebliche Mitarbeitervertretungsregelungen aufgestellt. Die Kirchen und ihre Einrichtungen sind von der Geltung der Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung ausgenommen. Es existieren jedoch keine kirchlichen Regelungen in diesem Bereich. Von den kirchlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen werden individuell besondere kündigungswirksame Loyalitätspflichten verlangt, die weit in die persönliche Lebensführung hineinreichen. Dazu zählen z. B. im katholischen Bereich Wiederverheiratungsverbote, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, Schwangerschaftsabbruch. Dies unterscheidet sie von Beamtenverhältnissen, die durch Ernennung und nicht durch Vertragsabschluss zustande kommen. Zum Arbeitnehmerbegriff siehe Richardi (2005), Einführung.
Ist der „dritte Weg“ der Kirchen gerecht?
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Änderungen der Inhalte. Soziologisch gehören Arbeitsvertragsverhältnisse, um mit Max Weber zu sprechen, dem auf Erwerb gerichteten Waren- und Güterverkehr moderner Gesellschaften an. Sie sind grundlegend für moderne marktbasierte Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften. Das auf Erwerb gerichtete abhängige Arbeitsverhältnis, man kann auch sagen Lohnarbeitsverhältnis, wurde in Deutschland vor 1918, also im Kaiserreich und vor der Weimarer Reichsverfassung, überwiegend nicht als Vertragsverhältnis betrachtet, sondern als personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis. Während der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 – 1945 wurde dieses Gemeinschaftsverhältnis ideologisch als Betriebsgemeinschaft zwischen Führer und Gefolgschaft konstruiert: Dem Betriebsführer obliegt die Weisung und Fürsorge gegenüber der Gefolgschaft – der Gefolgschaft obliegt die Treue gegenüber dem Betriebsführer. Vertragliche Vereinbarungen stehen diesen Konstruktionen fremd gegenüber. Einseitige Setzungen der Arbeitsbedingungen durch Arbeitgeber – der erste Weg – sind die Kennzeichen dieser Wertungen des Arbeitsverhältnisses und zwar sowohl in seiner vor-demokratischen Form als auch in seiner antidemokratischen, faschistischen Form. Demgegenüber gehört es zu den Kennzeichen demokratisch und rechtsstaatlich verfasster marktförmiger Industriegesellschaften, dass Arbeitsverhältnisse vertragsförmig sind und auf freien vertraglichen Vereinbarungen beruhen. Die einseitige Bestimmung von Vertragsinhalten – auch in Arbeitsverträgen – ist rechtlich unter gewissen Bedingungen möglich. Diese Möglichkeit ist daran gebunden, dass sie als Regelung vereinbart werden muss. Die maßgeblichen Rechtsnormen hierzu finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch in den §§ 315 folgende. Und wenn solche Vereinbarungen getroffen worden sind, kann die eine Seite, hier der Arbeitgeber, nicht nach Belieben agieren. Einseitige Bestimmungen von Vertragsinhalten unterliegen der gerichtlichen Inhaltskontrolle. Hier sind also Vorkehrungen eingebaut, die im Ansatz das freie Vertragsverhältnis gewissermaßen wieder ins Lot bringen und ungleiche Machtpositionen mindestens teilweise ausgleichen.5 5
Eine Besonderheit liegt vor bei Hoheitsverhältnissen, etwa bei den Beamten und Beamtinnen. Hier können legislative Körperschaften Arbeitsbedingungen festlegen. Aber sie gelten nur für Beamte und Beamtinnen und auch sie sind durch Verwaltungsgerichte oder das Bundesverfassungsgericht überprüfbar. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung werden die Arbeitsvertragsverhältnisse der Angestellten durch Tarifverträge reguliert und nicht durch hoheitliche Akte.
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Die Rede vom „dritten Weg der Kirchen“ ist überdies geschichtlich falsch. Die historische und industriesoziologische Forschung informiert uns darüber, dass es zu Beginn der Industrialisierung zwei Formen der einseitigen Festsetzung von Arbeitsbedingungen gab. Die weit überwiegende war die Setzung durch autokratische und patriarchalische Unternehmer. Von dem Industriellen Stumm im Saarland gibt es ein Zitat aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, das die Sache auf den Punkt bringt: ‚Wenn ein Fabrikunternehmen gedeihen soll‘, sagte Stumm, ‚so muss es militärisch, nicht parlamentarisch organisiert sein.‘6 In dieser Formulierung wird der „erste Weg“ prägnant auf den Begriff gebracht. Weniger bekannt ist die andere Form der einseitigen Festlegung von Arbeitsbedingungen. Sie war zu finden in kleingewerblichen Sektoren mit hoch organisierten Gruppen gelernter Handwerker und sie bestand darin, dass die Arbeitnehmer die Arbeitsbedingungen einseitig bestimmten. Besonders die englische Sozialgeschichte ist reich an Beispielen autonomer Regulierung von ‚work rules‘ durch Berufsgewerkschaften, die eine faktische Kontrolle über das Arbeitsangebot ausübten. Hierzu diente z. B. die gewerkschaftliche Zwangsmitgliedschaft (Closed Shop), die den Mitgliedern nur erlaubte, in solchen Betrieben die Arbeit aufzunehmen, in denen die Unternehmer die von der Berufsgewerkschaft festgesetzten Löhne und Arbeitsbedingungen akzeptierten. Die traditionellen Berufs- und Arbeitsnormen galten den Berufsgewerkschaften lange Zeit als innergewerkschaftliche Angelegenheit und sie wurden als solche auch nicht mit den Unternehmern verhandelt.7 Die einseitige Setzung von Arbeitsbedingungen war in den industrialisierten Regionen Europas die vorherrschende Regulierungsweise bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – und zwar entweder als Setzung durch Arbeitgeber oder als Setzung durch Arbeitnehmer. Man kann deshalb auch sagen: Wenn der erste Weg die einseitige Setzung durch Arbeitgeber ist, dann ist der zweite Weg die einseitige Setzung durch Arbeitnehmer. Für beide Formen ist kennzeichnend, dass keine geregelten Verhandlungen zwischen den Parteien stattfanden. Erst das 20. Jahrhundert brachte etwas Neues hervor: Die Anerkennung des Tarifvertrages als Regulierungsweise und Vereinbarungsform von Arbeitsbedingungen. Bis dahin gab es keine auf Kompro-
6 7
Zit. n. Müller-Jentsch (2007), 25. Vgl. Müller-Jentsch (2007), 25.
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miss ausgerichteten regelmäßigen Verhandlungen über Arbeitsbedingungen. Forderungen wurden entweder angenommen oder abgelehnt. Verfahren für wiederkehrende Verhandlungskompromisse existierten nicht. Die Lage hatte im Streitfall nur die Optionen Sieg oder Niederlage. Die darum geführten Kämpfe waren häufig gewaltsam und nicht selten endeten sie mit Toten. Der französische Schriftsteller Emile Zola hat diese Konstellation in dem Roman Germinal anhand eines Bergarbeiterstreikes literarisch eindrücklich verarbeitet. Erst die arbeitspolitische und rechtliche Durchsetzung des Tarifvertrages überführte die bis dahin hoch konfliktive Sieg/NiederlageKonstellation von Arbeitskämpfen in eine kompromissbasierte Verhandlungskonstellation mit regelmäßig wiederholbaren, Macht ausgleichenden Prozeduren. Das Tarifvertragssystem wurzelt in der prinzipiellen wechselseitigen Anerkennung der Tarifparteien, und eben gerade nicht darin, dass sich die Tarifparteien in ihrer Existenz bekämpfen. Arbeitskampf im Tarifvertragssystem ist existenziell einigungsorientiert, gleicht Machtgewichte aus und dient diesem Ausgleich. Insofern bringt das Tarifvertragssystem Konflikt und Kooperation in Balance. Das ist die historische Leistung von Tarifverträgen. Man kann das Tarifvertragssystem deshalb als den eigentlichen dritten Weg bezeichnen.
2. ARBEITSRECHTLICHE KOMMISSIONEN 2.1 Aufbau und Funktionsweise von Arbeitsrechtlichen Kommissionen Im Unterschied dazu sind Arbeitsrechtliche Kommissionen keine freiwilligen Verhandlungssysteme. Man kann sie zutreffender als Entscheidungs- oder Zwangsverhandlungssysteme beschreiben.8 Die in den Kommissionen Tätigen kommen nicht unter selbst gewählten oder wechselseitig vereinbarten Bedingungen an den Verhandlungstisch. Die Errichtung der Kommissionen, der Zugang zu ihnen, ihre Beschlussverfahren und Entscheidungsregeln werden durch die kirchlichen Leitungsgremien, die Synoden der Landeskirchen bzw. durch die katholischen Bischöfe oder durch die verbandlichen Leitungsinstanzen der Diakonie bzw. der Caritas bestimmt.
8
Vgl. die Klassifizierung von Verhandlungssystemen bei Scharpf (2000).
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Gegenwärtig gibt es bundesweit in beiden Konfessionen 31 solcher Kommissionen, die flächenbezogen Arbeitsbedingungen beschließen.9 Strukturell kommen in allen Kommissionen zwei Entscheidungsebenen vor. Die erste Ebene wird durch die Kommission gebildet. Die zweite Ebene ist eine so genannten Schieds- oder Schlichtungskommission. Zur ersten Ebene: Die Kommissionen haben eine gerade Zahl von Mitgliedern. Die Zahl der Arbeitgebervertreter und Arbeitnehmervertreter ist jeweils gleich. Der Zugang zu den Kommissionen geschieht durch Entsendung bzw. Berufung und in anderen Fällen durch Wahl. Die Wahl- oder Berufungsperioden betragen vier oder fünf Jahre. Persönliche Voraussetzung der Entsendung ist Kirchenmitgliedschaft, häufig auch die Wählbarkeit in kirchliche Leitungsämter und die hauptberufliche Tätigkeit in einer kirchlichen Einrichtung. Die Vertreter der Arbeitgeber bzw. Anstellungsträger werden in die Kommissionen in der Regel durch Leitungsorgane delegiert. In den evangelischen Kirchen sind es zumeist die Landeskirchenämter; in den katholischen Diözesen die Bischöfe oder deren Generalvikare. In den Kommissionen der Diakonie und der Caritas werden die Arbeitgebervertreter durch Verbandsgremien berufen. Im Fall der ARK des Diakonischen Werkes der EKD werden die Arbeitgebervertreter auf einer Delegiertenversammlung gewählt, die aus Geschäftsführern oder Vorständen von Einrichtungen und aus Verbandsvertretern besteht. In der Regel handelt es sich bei den Vertretern der Arbeitgeber in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen um die LeiterInnen von Rechts-/Personal- und Finanzabteilungen oder um die GeschäftsführerInnen und Vorstände von Einrichtungen. Geistliche und Theologen bilden eine Minderheit. Die Arbeitnehmervertreter werden in drei unterschiedlichen Formen delegiert. Die häufigste Form sind Wahl- bzw. Urwahlverfahren durch die Beschäftigten. Das ist im katholischen Bereich der Fall. Im evangelischen Bereich delegieren überwiegend Zusammenschlüsse von Mitarbeitervertretungen oder kirchliche Mitarbeiterverbände Arbeitnehmervertreter in die Kommission. Die Arbeitnehmervertreter in den Kommissionen sind häufig auch Mitglieder oder frühere Mitglieder betrieblicher Mitarbeitervertretungen. Allen Kommissionen ist gemeinsam, dass ihre Mitglieder formell unabhängig sind. Sie dürfen nicht an Weisungen gebunden werden. 9
Vgl. Lührs (2010), 162.
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Die Mitglieder der Kommissionen sind außerdem nicht rechenschaftspflichtig gegenüber den Stellen, die sie in die Kommission entsenden. Das gilt auch für die Vertreter von Verbänden. Zur zweiten Ebene: Die Schiedskommissionen oder Schlichtungsausschüsse haben eine ungerade Zahl von Mitgliedern. Die Mitglieder bestehen aus gleich vielen Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer und einer weiteren vorsitzenden Person, die von beiden Seiten bestimmt wird. Sie gibt in einer Abstimmung den Ausschlag. Die Schlichtungsausschüsse schlichten nicht im eigentlichen Sinn. Sie werden tätig, wenn die Kommission keine Entscheidung trifft oder wenn sie eine Entscheidung getroffen hat, gegen die anschließend Einwände erhoben wurden. Entscheidungen des Schlichtungsausschusses ersetzen getroffene Beschlüsse der Kommission oder treten an die Stelle nicht getroffener Beschlüsse. Im katholischen Bereich müssen die Beschlüsse der Kommissionen, auch die der Caritas, von den zuständigen Diözesanbischöfen bestätigt werden. Im Fall eines „unabweisbaren Regelungsbedürfnisses“, das der Bischof selber feststellt, kann er abweichend von der Kommission eigene Setzungen treffen. Die Ebenen der Arbeitsrechtlichen Kommissionen bilden ein zusammenhängendes und nach außen abgeriegeltes System. Dieses System basiert auf den Prinzipien: Geschlossenheit, zahlenmäßige Gleichheit, Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der Mitglieder; Verbindlichkeit der ersetzenden Entscheidung. Noch ein Punkt verdient Beachtung: Die 31 Kommissionen hatten im Jahr 2008 zusammen 674 Mitglieder, davon 142 Frauen. Ihr Anteil beträgt 21%. Der Anteil der Frauen, die im kirchlichen Sektor arbeiten, liegt bei über 75%. In den Kommissionen sind Frauen also umgekehrt proportional vertreten.10
2.2 Ausschluss der Gewerkschaften Gewerkschaften sind nach partizipatorischen und demokratischen Grundsätzen aufgebaute Mitgliederorganisationen. Ihre Kernleistung besteht darin, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen ihrer Mitglieder in organisierter Weise zu vertreten und durchzusetzen. Tarifverhandlungen werden von gewählten Tarif- und Verhandlungskommissionen geführt. Sie entscheiden über die Tariffor-
10
Vgl. Lührs (2010), 164.
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derungen, über die Annahme und Ablehnung von Verhandlungsergebnissen, über das Scheitern von Verhandlungen, sowie über den Abschluss und die Kündigung von Tarifverträgen.11 Arbeitskämpfe zur Durchsetzung von Tarifforderungen finden auf der Grundlage von Urabstimmungen der Mitglieder statt. Weichen bei Arbeitskämpfen Verhandlungsergebnisse von den zuvor aufgestellten Forderungen ab, entscheiden die Mitglieder erneut in Urabstimmungen.12 Diese Verfahren und Strukturen sind für die Gewerkschaften konstitutiv. Sie sind entsprechend satzungsmäßig verankert. Die Mitglieder Arbeitsrechtlicher Kommissionen können zwar gleichzeitig auch Mitglied einer Gewerkschaft sein, aber sie können in den Kommissionen nicht für die Gewerkschaften verhandeln. Hiergegen sind institutionelle Schranken errichtet. Die Schranken bestehen – zum einen – in der Delegationsform der Arbeitnehmervertreter. In 25 von den insgesamt 31 flächenorientierten Kommissionen können Gewerkschaften von vornherein keine Vertreter entsenden, weil die Arbeitnehmervertreter direkt bzw. durch Wahlpersonengremien indirekt durch die Beschäftigten gewählt werden oder sie werden durch Zusammenschlüsse betrieblicher Mitarbeitervertretungen benannt.13 Diese 25 Kommissionen erfassen mit über 950.000 Beschäftigten den größten Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im kirchlichen Sektor. Hier sind bereits durch die Delegationsform der jeweiligen Kommission die Gewerkschaften von der Benennung ausgeschlossen. Nur in sechs Kommissionen werden Arbeitnehmervertreter durch Verbände delegiert. In diese Kommissionen können Gewerkschaften Vertreter entsenden.14 Aber auch für sie gilt strukturell – zum anderen – dass ihre Vertreter nach den kirchenrechtlichen Bestimmungen als Mitglied der Kommission von Weisungen frei gehalten sind und keiner Rechenschaft unterworfen sind. Das bedeutet, dass diese Kommissionsmitglieder im Fall der Entgegennahme von Wei11
12 13 14
Vgl. z. B. die Satzung der Gewerkschaft ver.di Abschnitt VIII. Tarifpolitik i.d.F. Sept. 2011. Vgl. die Arbeitskampfrichtlinie der Gewerkschaft ver.di vom 30.09.2010. Vgl. Lührs (2010), 228ff. Z. B. hat die Ärztevertretung Marburger Bund zwei Vertreter in die Arbeitsrechtliche Kommission Rheinland-Westfalen-Lippe entsandt. Erstmals hat die Gewerkschaft ver.di im Jahr 2006 vier Vertreter in die Arbeits- und Dienstrechtliche Kommission der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen delegiert. Vgl. Lührs (2010), 214 ff. Diese Delegation wurde in 2010 beendet und nicht fortgeführt. Die Gewerkschaft strebt den Abschluss von Tarifverträgen an. Siehe Mitteilung ver.di vom 17.03.2011 auf http://nds-bremen.verdi.de/ (07.01.2012).
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sungen durch die gewerkschaftlichen Gremien gegen die kirchenrechtlichen Bestimmungen verstoßen oder im Fall der Weisungs- oder Rechenschaftsverweigerung die Satzungsvorschriften ihrer Gewerkschaft verletzen. In allen Fällen werden die Beschlüsse der Kommission durch Abstimmungen ihrer individuellen Mitglieder gefasst bzw. durch die Entscheidungen der Schlichtungsinstanz ersetzt. Durch diese Form schließen alle Arbeitsrechtlichen Kommissionen die gewerkschaftliche Koalition als Verhandlungspartei aus.
3. WANDEL DER RAHMENBEDINGUNGEN Materiell beschließen die Kommissionen kirchliche Dienst- und Arbeitsvertragsordnungen. Im Fall der Diakonie und der Caritas heißen sie Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR). Gegenwärtig gibt es insgesamt 37 solcher Vertragsordnungen. Alle diese Vertragsordnungen hatten bis zum Jahr 2003 einen gemeinsamen Bezugspunkt. Sie entsprachen dem Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT). Die Abweichungen vom BAT waren überwiegend geringfügig und begrenzt auf Besonderheiten bestimmter Arbeitsfelder und Beschäftigtengruppen. Die wesentlichen Regelungen des BAT wurden über die Vertragsordnungen zum Bestandteil der vielen kirchlichen Einzelarbeitsverhältnisse. Der Hintergrund ist die Finanzierungsweise der Personalkosten, vor allem in den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden. Die Personalkosten von Diakonie und Caritas werden fast vollständig aus staatlichen Sozialversicherungssystemen refinanziert. Diese Finanzierung basierte bis Mitte der 1990er Jahre auf dem Selbstkostendeckungsprinzip und dem gesetzlich festgeschriebenen Vorrang der freigemeinnützigen Träger. Auf Basis dieser Prinzipien wurden die Personalkosten erstattet, wenn sie gemäß BAT nachgewiesen wurden. Die Kommissionen stellten sicher, dass der BAT über unterschiedlichste Arbeits- und Tätigkeitsfelder hinweg in zehntausenden von rechtlich selbstständigen Trägern und Einrichtungen gleichartig angewendet wurde. Das Kommissionensystem fungierte als Koordinierungsmechanismus für die Anwendung des BAT und regelmäßige Anpassung an wichtige Veränderungen des BAT, vor allem bei den Gehalts- und Arbeitszeittarifverträgen. Die Kernfunktion der Kommissionen war eine Koordinierungsleistung. Die Bindung an den BAT und die Koordinierungsfunktion der Kommissionen bedeutete für die Stellung der Arbeitgeber- und Ar-
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beitnehmervertreter zueinander, dass sie keinen Konflikt über den Austausch von Arbeitsleistung gegen Entgelt führten. Mit dem BAT übernahmen die Kommissionen ein außerhalb von ihnen bereits gefundenes Konfliktergebnis und übertrugen es auf die kirchlichen Arbeitsverhältnisse. Die Stellung der Arbeitgebervertreter und der Arbeitnehmervertreter zueinander war die der Kooperation entlang prinzipiell ähnlich gelagerter Interessen. Denn auch für die Arbeitnehmervertreter in den Kommissionen kam es darauf an, dass der BAT in seiner jeweils aktuellen Fassung möglichst einheitlich angewendet wurde. Seit den 1990er Jahren werden die staatliche Sozialpolitik der Daseinsvorsorge und die damit verbundenen Finanzflüsse Schritt um Schritt anders gesteuert. Das Refinanzierungsprinzip der Träger sozialer Dienste ist nicht mehr Kostendeckung sondern Kostendeckelung. Gesteuert wird durch Kontraktmanagement, Fallpauschalen, definierte Budgets und vor allem durch Kostenkonkurrenz der Träger bei gleichzeitiger Unterfinanzierung der sozialen Aufgaben. Diese veränderte Logik und Zielsetzung der staatlichen Sozialpolitik wird häufig als Ökonomisierung des Sozialen bezeichnet. Sie hat die Rolle und die Funktion der Arbeitsrechtlichen Kommissionen grundlegend umgeformt.
3.1 Unterfinanzierung und Kostenkonkurrenz Die Kommissionen haben unter den neuen Bedingungen der Kostensteuerung nicht mehr die Funktion, gleiche Vergütungsstandards über verschiedenste Bereiche hinweg auf einem einheitlichen, vormals durch den BAT definierten Niveau zu gewährleisten. Unter den neuen Bedingungen geht es um etwas grundlegend anderes. Die Stichworte lauten: Diversifizierung der Personalkosten nach Sparten, Regionen und Finanzierungsbedingungen; Flexibilisierung nach betrieblichen Erfordernissen; Personalkostenbegrenzung und Personalkostensenkung. Das bedeutet für die Beschäftigten: Spreizung der Gehälter; Ausdehnung der Arbeitszeit; Absenkung der unteren Lohngruppen; Abkopplung von sonstigen Lohnniveaus. Auf der betrieblichen Ebene bedeutet es: Leiharbeit, Outsourcing, Zunahme prekärer Beschäftigung. Äußerlich sichtbar wurde die Umformung der Funktion der Kommissionen in den Jahren 2005 bis 2008. Im Jahr 2005 und 2006 wurde
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der BAT im öffentlichen Dienst des Bundes, der Kommunen und der Länder durch den TVöD ersetzt. Diese Veränderung wurde im kirchlichen Sektor nicht mit vollzogen. Nur in den katholischen Diözesen und in evangelischen Landeskirchen wurden die kirchlichen Vertragsordnungen vom BAT auf den TVöD umgestellt. In den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden wurden bis auf zwei Ausnahmen (Württemberg und Rheinland-Westfalen-Lippe) dagegen eigene, vom öffentlichen Dienst unabhängige Vertragsordnungen aufgestellt. Die bundesweiten Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werkes der EKD und die des Caritasverbandes wurden nicht auf den TVöD bezogen. Die Gehaltstabellen, Arbeitszeitregeln und Eingruppierungsvorschriften in diesen Bereichen sind anders aufgebaut als im TVöD; die Zahlenwerte und Gehaltstabellen sind nominal und strukturell verschieden. Selbst wenn man wollte, könnte man Gehaltsanpassungen, die im öffentlichen Dienst mit den Gewerkschaften vereinbart werden, nicht mehr mit gleichen Ergebnissen auf die Arbeitsvertragsrichtlinien in der Diakonie und der Caritas übertragen. Diese Änderung betrifft die meisten Beschäftigungsverhältnisse in der Diakonie und weite Teile der Caritas und damit den Großteil der Beschäftigten im gesamten kirchlichen Sektor. Im Bereich der Caritas geht man neuerdings – zumindest in Teilen – wieder auf den Tarif des öffentlichen Dienstes zurück. In der Pflege-, im Sozial- und Erziehungsdienst und bei der Ärztevergütung entsprechen die AVR-Caritas wieder den Regelungen im öffentlichen Dienst. Nicht so in der Diakonie. Die AVR-DW.EKD entfernen sich weiter vom TVöD. Generell gilt: Unter den neuen Bedingungen werden die Tarifergebnisse des öffentlichen Dienstes nicht mehr übernommen, wie das vorher der Fall war. Vor allem in den Kommissionen der Diakonie werden seit dem Jahr 2007 unabhängig vom TVöD selbstständige Verhandlungen geführt über die Kerne der Arbeitsbedingungen, also die Höhe des Lohnes und die Dauer der Arbeitszeit. Diese Änderung bewirkt eine andere Stellung der Arbeitgebervertreter und der Arbeitnehmervertreter zueinander in den Arbeitsrechtlichen Kommissionen.
3.2 Neue Stellung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter Unter den neuen Bedingungen folgen die Verhandlungen nicht mehr prinzipiell gleichgerichteten und lediglich zu koordinierenden Inte-
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ressen. Die Interessen sind gegenläufig. Die Entlastung der Personalkostenhaushalte aus Arbeitgebersicht bedeutet die Belastung der Einkommenshaushalte aus Arbeitnehmersicht – und umgekehrt. Bei selbstständigen Lohnverhandlungen unter den neuen Bedingungen tritt an die Stelle der früheren Koordination von Sachentscheidungen nun Schritt um Schritt der Konflikt von Interessen. Der ArbeitgeberArbeitnehmer-Gegensatz um die Höhe des Lohnes und die Dauer der Arbeitszeit bricht auf. Die neuen Verhandlungen werden jedoch in denselben Arbeitsrechtlichen Kommissionen mit denselben Strukturprinzipien geführt. Hierzu liegen inzwischen wissenschaftlich ausgewertete Untersuchungen über die ersten Lohnrunden im kirchlichen Sektor seit dem Jahr 2005 vor.15 Zunächst kann man feststellen, dass verschiedene Konfliktelemente des Tarifvertragssystems in das Kommissionensystem einziehen. Man findet das auf der Ebene der Sprache vor. In fast allen Kommissionen wird inzwischen von Tarifarbeit, Lohnrunden, Tarifforderungen und dergleichen gesprochen. Das gab es vor dem Jahr 2000 überhaupt nicht. Auf der institutionellen Ebene wandelt sich die bisherige Verbandsstruktur. In der Diakonie hat sich mit dem Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) ein eigenständiger Arbeitgeberverband als pressure group gebildet. Der Verband trat im Jahr 2000 der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bei. Gründungszweck des VdDD ist, Einfluss auf die Entscheidungen der Kommissionen zu nehmen. Auf der praktischen Ebene verschieben sich die Interaktionen der Beteiligten, also die Art und Weise wie innerhalb und außerhalb der Kommissionen agiert wird. Diese Interaktionen werden konfrontativ. Sie finden öffentlich statt. Arbeitnehmervertreter und Arbeitgebervertreter wenden sich an die betriebliche und außerbetriebliche Öffentlichkeit. Die Beschäftigten in den kirchlichen Einrichtungen werden mobilisiert. Teilweise gehen solche Interaktionen in die Richtung von Arbeitskampfmaßnahmen. Die wichtigste beobachtbare Änderung besteht darin, dass sich die Vorentscheidungen der Kommissionen aus ihren formalen Verhandlungsrahmen herauslösen und sich in diejenigen Strukturen hinein verlagern, aus denen die Vertreter in die Kommission entsendet werden. Die eigentlichen Entscheidungsprozesse vollziehen sich informal außerhalb der Kommissionen. Sie gehen den Beschlüssen in der Kom15
Vgl. Lührs (2010), 142ff.
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mission voraus. Sie bestimmen den Verlauf der Verhandlungen in der Kommission. Vielfach ermöglicht erst die informale Entwicklung außerhalb der Kommission die formale Einigung innerhalb der Kommission. In den Prozessen außerhalb der Kommission werden Forderungen aufgestellt, Zugeständnisse und Kompromisslinien formuliert und mögliche Beschlussergebnisse auf ihre Konsensfähigkeit, Durchsetzbarkeit und Verpflichtungsfähigkeit hin austariert. Dieser Prozess vollzieht sich vor allem auf der Arbeitgeberseite in der Diakonie und der Caritas. Besonderen Einfluss gewinnen dabei die Unternehmenszusammenschlüsse in der Diakonie, wie der VdDD oder die AcU (Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen) in der Caritas. Erst wenn diese Prozesse unter den entscheidenden Akteuren außerhalb der Kommission stattgefunden haben, kommen Beschlüsse in der Kommission zustande. Ein einfaches Zitat veranschaulicht das Prinzip an einem Beispiel: Im Februar 2005 teilte der VdDD seinen Mitgliedern mit: „Auf der Leitungskonferenz sämtlicher gliedkirchlicher Diakonischer Werke und dem DW der EKD in Berlin am 09.02. wurde mit uns (dem VdDD, HL) fest vereinbart, dass zunächst eine gemeinsame Bewertung der Tarifeinigung im Öffentlichen Dienst zeitnah erfolgen soll, zwischenzeitlich keinerlei regionale Aktivitäten bezüglich einer etwaigen Übernahme von Teilen oder der gesamten Einigung entfaltet werden und insbesondere die Verhandlungen zur AVR-Reform (ARK DWEKD) mit diakoniespezifischen Schwerpunkten von allen Landesverbänden mit befördert werden wird.“16 Der Verlagerungsprozess ist unter den neuen Bedingungen der Ökonomisierung des Sozialen unvermeidbar und er ist notwendig. Er ist unvermeidbar, weil sich die Beschlüsse der Kommissionen auf unterschiedliche Konkurrenzbedingungen, Kostenstrukturen und Interessenlagen der Träger unterschiedlich auswirken. Sie beeinflussen nachhaltig die Entwicklung der Einrichtungen, ihr Wachstum oder ihre Schrumpfung, ihren Bestand oder ihr Verschwinden. Deshalb melden sich die Träger außerhalb der Kommissionen zu Wort. Der Prozess ist notwendig, weil diese unterschiedlichen Wortmeldungen und Interessenartikulationen aufeinander bezogen und gebündelt werden müssen, wenn man Desintegration, Tarifflucht und verbandliche Auflösung vermeiden will. Die Verlagerung der Forderungs- und
16
Zit. n: http://www.berliner-altenpflege.de/Kotnik/presse/Dienstrecht/view (30.6.2010).
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Konzessionsprozesse und der Ratifikations- und Verpflichtungsprozesse aus der Kommission heraus in die delegierenden Strukturen hinein ist ein politischer Prozess. Er ist einflussgebunden und machtabhängig. Er bestimmt die Macht am Verhandlungstisch.
4. SOZIALE MÄCHTIGKEIT Das Wechselspiel zwischen den formalen Verhandlungen am Tisch und externen informalen Machtprozessen außerhalb des Verhandlungsraumes ist typisch für Kollektivverhandlungen in Konfliktlagen. Das Tarifvertragssystem bringt diese Logik in Balance. Das Kommissionensystem ist unter Konfliktbedingungen derselben Logik ausgesetzt. Es kann sie jedoch nicht balancieren, denn die soziale Mächtigkeit der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in Bezug auf das Kommissionensystem ist ungleich. Arbeitgeber sind sozial mächtig, weil sie Arbeitgeber sind. Das ist im kirchlichen Bereich nicht anders als bei Arbeitsverhältnissen in der Privatwirtschaft. Das Arbeitsverhältnis als solches ist asymmetrisch. Vor diesem Hintergrund haben sich Gewerkschaften als Koalition der Arbeitnehmer gebildet, um die individuelle Asymmetrie des Arbeitsverhältnisses kollektiv auszugleichen. Im Unterschied zu den Arbeitgebern der Privatwirtschaft beschließen aber in der Diakonie und der Caritas die Spitzenverbände der Einrichtungen und Träger, die gleichzeitig die Arbeitgeber sind, die Ordnungen ihrer Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Sie legen damit die Bedingungen fest, unter denen verhandelt wird. In der Privatwirtschaft unter Tarifvertragsbedingungen wäre das keinem Arbeitgeberverband möglich. In der Diakonie und in der Caritas können darüber hinaus z. B. der jeweilige Landesverband oder andere verbandliche Entscheidungsgremien den Mitgliedern erlauben, von der geltenden Gehaltstabelle abzuweichen oder sie können Ausnahmen von den Arbeitsvertragsordnungen genehmigen.17 Damit geht die soziale Mächtigkeit der konfessionellen Wohlfahrtsverbände als Arbeitgeber
17
Das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-Schlesisische Oberlausitz genehmigte im Jahr 2011 50 Diakoniestationen, den Entgeltbeschluss der Schlichtungsausschusses der zuständigen ARK nicht anzuwenden. Siehe ZMV 4/2011. Der Caritasverband erlaubte dem Deutschen Orden bei dessen Aufnahme in den Verband ab 2012 Ausnahmen von der Anwendung der geltenden Arbeitsvertragsrichtlinien. Vgl. Pressemeldung des Caritasverbandes am 23.11.2011 und AK-Info Mitarbeiterseite ARK Caritas 15.12.2011.
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über die der Verbände der Arbeitgeber in der Privatwirtschaft weit hinaus. Auf der anderen Seite verfügen die Arbeitnehmer in Bezug auf das Kommissionensystem über keine eigene soziale Mächtigkeit. Bei der Delegation ihrer Vertreter – mithin bei der Bildung ihrer Koalition – sind sie auf die Vorgaben verwiesen, die ihnen die kirchlichen Leitungsinstanzen bzw. die konfessionellen Verbände machen. Die kirchlich Beschäftigten entscheiden nicht, ob ihre Vertreter durch Verbände, durch Zusammenschlüsse von Mitarbeitervertretungen, durch Wahl oder durch eine andere Form ihre Interessen vertreten. Sie entscheiden nicht, welche Handlungsräume ihre Interessenvertretung hat und welche Bewegungsformen sie nimmt. Auch die Auswahl der Personen, die als Arbeitnehmervertreter in die Kommission gelangen können, ist an auferlegte Kriterien gebunden und nicht frei. Die Form der Koalition, die Voraussetzungen der Nominierung von Vertretern und die Form und Regeln der kollektiven Interessenvertretung im Kommissionensystem werden den Arbeitnehmern durch die Leitungsinstanzen der Kirchen, Diakonie und Caritas vorgegeben. Arbeitsrechtliche Kommissionen sind geschlossene Systeme. Sie sehen für die Arbeitnehmer außerhalb der Kommission keine selbst bestimmten Handlungsräume vor. Den betrieblichen Mitarbeitervertretungen in der Diakonie wird in einer Entscheidung des Kirchengerichtshofes der EKD vom Januar 2010 inzwischen sogar verwehrt, über Verhandlungen in der Kommission zu berichten.18 Ohne selbst sozial mächtig zu sein, müssen die Arbeitnehmervertreter bei ihren Forderungen und Kompromisslinien die soziale Mächtigkeit und die Machtprozesse auf der Arbeitgeberseite außerhalb der Kommission kennen und beachten, wenn sie überhaupt zu Ergebnissen kommen wollen. Für die Arbeitgebervertreter in der Kommission wiederum ist die Entwicklung auf der Arbeitnehmerseite außerhalb der Kommission irrelevant, weil und solange es außerhalb der Kommission keine handlungsmächtigen Akteure auf der Arbeitnehmerseite gibt. Darin liegt die ungleiche Verhandlungsmacht bei zahlenmäßiger Gleichheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im System der Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Das hat Folgen für den Bestand der Kommissionen. Spielen die Arbeitgebervertreter ihre institutionelle Überlegenheit aus, so bauen die
18
Vgl. KGH.EKD I-0124/R 41-09. Dokumentiert unter http://www.ekd.de/mitarbei tervertretungsrecht/mitarbeitervertretungsrecht_I-0124-R41-09.html (07.01.2012).
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Arbeitnehmervertreter zuerst Veto- oder Blockade-Positionen auf zur Abwehr dieser Überlegenheit nach Maßgabe der Geschäftsordnung. Sie haben keine anderen Mittel als die der Geschäftsordnung. Verfängt diese Option nicht, geraten sie in eine Lage, in der ihr letztes Mittel, Einfluss innerhalb des Systems zurück zu gewinnen, die Drohung ist, das System zu verlassen. Das kann nicht oft wiederholt werden. Mit jeder Wiederholung nutzt die Wirkung ab. Realisiert werden kann die Exit-Drohung nur einmal. Weichen die Arbeitgebervertreter in der Kommission vor der Vetooder Blockadeposition der Arbeitnehmervertreter zurück oder geben der Exit-Drohung der Arbeitnehmervertreter nach und setzen eigene, als wichtig angesehene Positionen nicht durch, führt das zu Auflösungstendenzen und „Tarifflucht“ in den Strukturen der Arbeitgeber. Um Blockadepositionen zu brechen, machen die Arbeitgeber von ihren institutionellen Möglichkeiten Gebrauch: Die Zutritts- und Verhandlungsregeln der Kommission werden geändert. Dies wiederum treibt die Exit-Position der Arbeitnehmervertreter vorwärts. Dieser Prozess findet tendenziell in allen Kommissionen statt, in denen selbstständig Lohnhöhen und Arbeitszeiten verhandelt werden. Der Prozess löst unbeabsichtigt die tragenden und legitimierenden Prinzipien des Kommissionensystems auf. Die Geschlossenheit des Systems wird mit der Verlagerung der Vorentscheidungen durchlöchert. Für den Verlauf der Forderungs- und Konzessionsprozesse außerhalb der Kommission und deren Rückübersetzung in die Kommission spielt die gleiche Zahl der Verhandelnden keine Rolle. Die Weisungsfreiheit und Unabhängigkeit der Mitglieder wird im Hinblick auf die Machtprozesse außerhalb der Kommission sogar zu einem Funktionshindernis. Würden z. B. die Mitglieder der Kommissionen unabhängig und weisungsfrei Beschlüsse fassen, die den zuvor geführten Konzessions- und Verpflichtungsprozessen in den Strukturen zum Beispiel der Arbeitgeber außerhalb der Kommission widersprechen, dann wären die Bestandsaussichten dieser Beschlüsse düster. Desintegration und verstärkte Tarifflucht der Arbeitgeber wäre die Folge. Dasselbe gilt für ersetzende Entscheidungen der Schlichtungsausschüsse. Wenn in diesen Entscheidungen relevante Machtpositionen außerhalb der Kommission ignoriert werden, dann ist die Auseinandersetzung nicht
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beendet. Sie wird fortgeführt oder auf andere Ebenen verlagert und wird selbst zum Störfaktor und Auslöser neuer Konflikte.19
5. ERGEBNIS Die zentralen Defizite der Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen im System der Arbeitsrechtlichen Kommissionen lauten zusammengefasst: Die kirchlichen Arbeitnehmer können die Delegationsform, in der sie Vertreter nominieren, nicht selbst bestimmen. Diese Form wird ihnen vorgegeben. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmer ihre Koalition im Kommissionensystem nicht selbst bestimmen. Alle Arbeitsrechtlichen Kommissionen schließen darüber hinaus die gewerkschaftliche Koalition als Verhandlungspartei institutionell aus. Die Bedingungen, Regeln und Ressourcenzugänge unter denen die Arbeitnehmervertreter im Kommissionensystem Verhandlungen führen, werden einseitig von den Leitungsinstanzen festgelegt und bei Bedarf von ihnen geändert. Der bei selbstständigen und unabhängig von Referenztarifen geführten Lohnverhandlungen in den Kommissionen aufbrechende Arbeitgeber-/Arbeitnehmerkonflikt verlagert die faktischen Entscheidungsprozesse außerhalb des formalen Verhandlungsraumes. Dem Kommissionensystem fehlen dabei regelmäßig wiederholbare, Macht ausgleichende Prozesse außerhalb der formalen Prozeduren, die Konflikt und Kooperation in Balance bringen. In sich verschärfenden Konflikten steuern beide Seiten durch folgerichtiges Verhalten auf Bruch-Optionen zu. Die ungleiche soziale Macht der Akteure wird virulent. Für die Gerechtigkeitsfrage der Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen im kirchlichen Sektor besagen diese Befunde, dass im System der Arbeitsrechtlichen Kommissionen grundlegende Koalitionsrechte 19
Das konnte man anhand der Entwicklung in der ARK Rheinland-Westfalen-Lippe ab Oktober 2007 beobachten, als der Schiedsausschuss gegen die Stimmen der Arbeitgeber die Übernahme des TVöD auch für den Bereich der Diakonie beschloss. Eine Klage der evangelischen Krankenhausgesellschaft Herne vor dem staatlichen Arbeitsgericht und der beabsichtigte Umbau der Kommission gegen die Interessen des VKM-RWL (Verband kirchlicher Mitarbeiter Rheinland-Westfalen-Lippe) war die Folge. Vergleichbares bewirkte eine Entscheidung des Schlichtungsausschusses in der ARK-DW.EKD über Entgelte im Jahr 2008, in dem Fall zu Lasten der Arbeitnehmer. Die vorgesehene Entgeltanpassung lag unterhalb der Branchenentwicklung und wurde in den Strukturen der Mitarbeitervertretungen abgelehnt. Die Beschlussunfähigkeit der Kommission über Monate hinweg war die Folge. Vgl. Lührs (2010), 185ff.
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von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verletzt oder eingeschränkt sind. Ein Beziehungssystem von Menschen in Gesellschaft, in dem strukturell Grund- und Menschenrechte verletzt werden und die Arbeitsbedingungen abhängig Beschäftigter zwischen sozial ungleich Mächtigen festgelegt werden, kann nicht gerecht genannt werden. Es ist ungerecht.
Literatur diakonie-unternehmen. Magazin des Verbandes diakonischer Dienstgeber in Deutschland VdDD. Berlin. Die Mitarbeitervertretung – Zeitschrift für die Praxis der Mitarbeitervertretung in den Einrichtungen der katholischen und evangelischen Kirche – ZMV, Köln 2011. Lührs, Hermann, Die Zukunft der Arbeitsrechtlichen Kommissionen – Arbeitsbeziehungen in den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas zwischen Kontinuität, Wandel und Umbruch, Baden-Baden 2010. Müller-Jentsch, Walther, Strukturwandel der industriellen Beziehungen, Wiesbaden 2007. Richardi, Reinhard, Arbeitsgesetze 2005. München 2005. Scharpf, Fritz W., Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Opladen 2000.
Rechtliche Einheit als Gerechtigkeit. Kirchenrechtsethische Annäherung an die Novellierung der Grundordnung des kirchlichen Dienstes Judith Hahn
1. KIRCHLICHER DIENST UNTER DEM PARADIGMA GERECHTER ARBEIT Mit dem Tagungsthema „Arbeit – ein Schlüssel sozialer Gerechtigkeit“ tätigte das Vorbereitungsteam des Forum Sozialethik eine Aussage, die mehrere Bedeutungsebenen anreißt. So stellt sich auf einer gesellschaftlichen Makroebene die Frage, über welche Bedeutung der Faktor Arbeit in einer Arbeitsgesellschaft in Bezug auf gerechte gesellschaftliche Verhältnisse verfügt. Hinsichtlich der Einzelarbeitsverhältnisse und des rechtlichen Bedingungsraums, in dem sie zustande kommen, ist zentral, inwieweit Arbeitsverhältnisse und der rechtliche Rahmen, in dem sie entstehen, selber Kriterien der Gerechtigkeit genügen müssen. Auf der Mesoebene stehen dabei gesellschaftlich etablierte und (arbeits)rechtlich fixierte Verfahren im Zentrum der Untersuchung, die Arbeitsstrukturen bestimmen. (Re)produzieren sie arbeitsrechtliche Voraussetzungen, die geeignet sind, gerechte Verhältnisse erzeugen? Wendet man den Blick auf die Mikroebene der Arbeitsverhältnisse, lässt sich ermitteln, ob die so erzeugten arbeitsrechtlichen Strukturen im Ergebnis zu als gerecht interpretierbaren Verhältnissen führen. Bezugsgröße stellt hierbei die jeweils geltende Arbeitsrechtsordnung dar, die entweder Verfahren zeitigt, deren Ergebnisse mit der Gerechtigkeitsvermutung verknüpft werden, oder denen der Ruf anhaftet, nicht geeignet zu sein, gerechte Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten. In der Regel steht die staatliche Arbeitsrechtsordnung auf einem solchen Prüfstand. Bildet allerdings nicht die staatliche, sondern eine Ordnung anderen Ursprungs die Basis von Arbeitsverhältnissen, so ist
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diese Gegenstand kritischer Untersuchung. Die von Hermann Lührs im vorliegenden Band gestellte Frage „Ist der dritte Weg gerecht?“ verweist in diesem Sinne auf die Arbeitsrechtsordnung kirchlichen Ursprungs, auf deren Grundlage die kollektivarbeitsrechtliche Regelung der Arbeitsverhältnisse der in Deutschland im kirchlichen Dienst Beschäftigten beruht. Die Anfragen, die man vor dem Hintergrund des Gerechtigkeitsparadigmas an die Gestaltung der kirchlichen Lohnarbeitsverhältnisse richten kann, stellen dabei nicht allein eine externe, also aus der Umwelt der kirchlichen Arbeitsrechtsordnung an diese gerichtete Erkundigung dar. Vielmehr muss man gleichermaßen die Forderung nach gerechter Arbeit und nach sie bedingenden Strukturen als einen binnenkirchlichen Anspruch verstehen, der sich sowohl auf die Gestaltung nichtkirchlicher als auch kirchlicher Arbeitsverhältnisse erstreckt. Inwieweit der Gerechtigkeitsbegriff das kirchliche Verständnis menschlicher Lohnarbeit prägt, lässt sich aus meiner – und das ist aus kirchenrechtlicher – Perspektive am leichtesten anhand des Begriffs der Lohngerechtigkeit nachzeichnen: das Erfordernis, menschliche Arbeitsleistung mit einem gerechten Lohn zu vergüten, stellt nämlich nicht allein einen Appell des kirchlichen Lehramts dar, sondern wurde vom universalkirchlichen Gesetzgeber im Recht der Kirche konkretisiert.
2. LOHNGERECHTIGKEIT ALS FORDERUNG KIRCHLICHER LEHRE UND KIRCHLICHEN RECHTS Einige wenige Worte zur Lohngerechtigkeit in beiden Bereichen normativen Wirkens universalkirchlicher Autorität: Als Johannes Paul II. in der Enzyklika Laborem exercens die Frage des gerechten Lohnes für die geleistete menschliche Arbeit als ein „Schlüsselproblem der Sozialethik“ kennzeichnete (Art. 19), verknüpfte er als höchste kirchliche Autorität in Fragen der kirchlichen Lehre diese deskriptiv formulierte Aussage mit dem normativen Anspruch, für Lohngerechtigkeit zu sorgen, und richtet diese Forderung an alle Beschäftigungsträgerinnen und -träger, die mit Menschen das Austauschverhältnis von Entgelt gegen Arbeitsleistung eingehen. Dabei adressierte er gleichermaßen nichtkirchliche und kirchliche Trägerinnen und Träger. Äußert sich die höchste kirchliche Autorität hingegen in rechtlicher Hinsicht normativ, so kann sie mit ihrem gesetzgeberischen Handeln nur na-
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türliche oder juristische Personen in der Kirche binden, also Menschen und Personen- oder Sachgesamtheiten, die über eine kirchliche Rechtspersönlichkeit verfügen. Die einer kirchenrechtlichen Anordnung unterworfene rechtsfähige Gemeinschaft ist somit kleiner als der Adressatinnen- und Adressatenkreis kirchlicher Sozialverkündigung. Dies verdeutlicht ein Blick auf das Gebot der Lohngerechtigkeit im Codex Iuris Canonici (CIC), dem universalen Gesetzbuch der lateinischen Kirche. In c. 1286 n. 2 CIC hat der kirchliche Gesetzgeber die Verpflichtung der kirchlichen Vermögensverwalterinnen und -verwalter aufgenommen, denjenigen, die auf der Grundlage von Vertragsbeziehungen ihre Arbeitskraft für ein Entgelt einsetzen, einen gerechten und ehrlichen Lohn (iustam et honestam mercedem) zu zahlen, der die Beschäftigten in die Lage versetzt, ihren materiellen Bedarf und den ihrer Familie angemessen zu befriedigen. Im Blick des Gesetzgebers ist hierbei die bzw. der Vollzeiterwerbstätige, die bzw. der durch ihre bzw. seine Arbeit den ökonomischen Bedarf der Partnerin bzw. des Partners, der Kinder und gegebenenfalls auch pflegebedürftiger Angehöriger befriedigen können soll. Insoweit die Lektüre lehramtlicher Texte nahelegt, dass die Verfasser lehramtlicher Texte vom Regelfall einer sexistischen familiären Arbeitsteilung ausgehen, ist der Ermittlung eines angemessenen Lohnniveaus ein Einverdienerkonzept zugrunde zu legen. Das Entgeltniveau muss damit mindestens so hoch sein, dass es bei Vollzeiterwerbstätigkeit einer Person für die Bedarfssicherung einer ganzen Familie ausreicht.
2.1 Beschränkte universalkirchenrechtliche Verbindlichkeit Als rechtlich verbindlicher Anspruch richtet sich die Pflicht, dies sicherzustellen, an die Ökonominnen und Ökonomen, die Kirchenvermögen verwalten. Das sind die Personen, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter öffentlicher juristischer Personen des kirchlichen Rechts entlohnen. Als öffentlich-rechtliche Rechtspersönlichkeiten der Kirche gelten die kirchlichen Personen- oder Sachgesamtheiten, die als öffentliche Person errichtet (oder von der zuständigen Autorität als solche anerkannt) wurden und sich in kirchlichem Namen im Hinblick auf das öffentliche kirchliche Wohl an der kirchlichen Sendungserfüllung, also an Werken der Frömmigkeit, des Apostolats oder der Caritas beteiligen (vgl. cc. 114-116). Das betrifft die kirchenarbeitsrechtlich dem Bereich der verfassten Kirche zugeordneten Einrich-
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tungen. Aufgrund ihrer Errichtung und der Eingliederung in die amtlich-kirchliche Sendung besteht zwischen ihnen und der zuständigen kirchlichen Autorität eine kirchenverfassungsrechtlich begründete hierarchische Beziehung. Daher sind sie an Weisungen und Anordnungen der zuständigen kirchlichen Autorität, die sie betreffen, unmittelbar gebunden; ein Merkmal, das für private Personen des kirchlichen Rechts nicht gilt (und das für das vorliegend bearbeitete Thema große Bedeutung hat, wie im Verlauf der weiteren Ausführungen herausgearbeitet wird). Warum ist die Geltung des c. 1286 eingeschränkt auf öffentlichrechtliche kirchliche Rechtspersönlichkeiten? Das hat rechtssystematische Gründe: Bei c. 1286 handelt es sich um eine Norm des kirchlichen Vermögensrechts, das Erwerb, Besitz, Verwaltung und Veräußerung von Kirchenvermögen regelt (vgl. c. 1254 § 1). Insoweit zum Kirchenvermögen nur die materiellen Güter öffentlicher juristischer Personen des kirchlichen Rechts gehören (vgl. c. 1257 § 1), werden die Mittel privater juristischer Personen des kirchlichen Rechts nicht erfasst.1 Für die Lohngerechtigkeit im kirchlichen Dienst ist diese Differenzierung bedauerlich, könnte c. 1286 andernfalls herangezogen werden, um für die überwiegende2 Zahl der Beschäftigungsverhältnisse mit kirchlichen Einrichtungen einen Mindestlohn zu begründen. Dieser wäre eben gemäß n. 2 so hoch, dass er bei einer Alleinverdienerin bzw. einem -verdiener mit Vollzeitstelle ausreichte, den Bedarf der gesamten Familie in angemessener Weise zu befriedigen. So aber ist hinzunehmen, dass der Normgehalt des c. 1286 nur für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im verfasst-kirchlichen Bereich rechtliche Folgen verzeichnet.
2.2 Lohngerechtigkeit als partikularkirchenrechtliches Agendum Soweit der universalkirchenrechtliche Befund. Dem entspricht auf der Ebene der deutschen Teilkirchen das Bemühen der deutschen Diözesanbischöfe, durch partikulare Gesetzgebung Lohngerechtigkeit für 1
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Die in ihnen geltenden Vorgaben zur Vermögensverwaltung schreibt nicht der kirchliche Gesetzgeber vor, sondern sie ergeben sich aus den eigenen Statuten der Rechtsperson (vgl. c. 1257 § 2). Alle Beschäftigungsverhältnisse mit kirchlichen Einrichtungen kann das universale Recht der Kirche nicht erreichen, da viele Einrichtungen, die Teil des kirchlichen Dienstes sind, über keine kirchliche Rechtspersönlichkeit verfügen und insoweit keine Adressatinnen kirchlichen Rechts darstellen.
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alle kirchlichen Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten. Die Bischöfe haben den Grundsatz der Lohngerechtigkeit, wie er in c. 1286 n. 2 rechtlich berücksichtigt wurde, für den gesamten kirchlichen Dienst in einem Tariffindungsverfahren zu sichern versucht, dessen prozedurale Ausgestaltung nach ihrem Selbstverständnis gewährleistet, dass gerechte Entgeltergebnisse gefunden werden.3 In paritätisch besetzten Kommissionen verhandeln Vertreterinnen und Vertretern der Beschäftigten- und der Dienstgeberinnen- und -geberseite über Entgelthöhe, Sonderzahlungen und Urlaubszeitregelungen der kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ein Schlichtungsverfahren dient der Konfliktlösung, da die Arbeitskampfmittel von Streik und Aussperrung nach bischöflichem Selbstverständnis nicht als Mittel der Konfliktaustragung und Machtbalancierung zwischen den kirchlichen Verhandlungsparteien zur Verfügung stehen. Die Arbeitsweise der (über)diözesanen Kommissionen zur Gestaltung des Arbeitsvertragsrechts werden in entsprechenden (über)diözesanen Ordnungen geregelt, die von den Diözesanbischöfen als kirchlichen Gesetzgebern für ihre (Erz)Bistümer in Kraft gesetzt werden. Etwas abweichend gestaltet sich das Verfahren für Arbeitsverhältnisse mit Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes. Insoweit dessen prozedurale Struktur in Grundzügen der diözesaner Kommissionen ähneln, wird vorliegend auf eine differenzierte Beschreibung verzichtet.
3. DER KIRCHLICHE SONDERWEG IM ARBEITSRECHT 3.1 Elemente des Kirchenarbeitsrechts Das kirchliche Tariffindungssystem – das so genannte kirchliche Arbeitsrechtsregelungsverfahren – stellt einen Bestandteil des kirchlichen Kollektivarbeitsrechtswegs dar, der an die Stelle des Tarifvertragssystems tritt, das heißt die in anderen Branchen üblichen tarifau3
Ob das kirchliche Verfahren dahingehend gelungen ist, dass es Grundsätzen tariflicher Verfahrensgerechtigkeit entspricht – als ein Reizthema neben anderen kann man zum Beispiel die Frage der Gewährleistung materiell-paritätischer Verhältnisse zwischen Beschäftigten- und Dienstgeberinnen- und -geberseite benennen –, möchte ich vorliegend nicht zum Gegenstand meiner Erörterung machen. Eine Antwort darauf kann Hermann Lührs Beitrag in ebendiesem Sammelband entnommen werden. Mit der Frage habe ich mich zudem im Beitrag „Dienstgemeinschaft und Dritter Weg. Das kirchliche Selbstverständnis als Grund und Grenze kirchlicher Tariffindung“ (in: ZMV Sonderheft 2010, 33-39) befasst.
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tonomen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ersetzt. Einen weiteren Aspekt der kirchlichen Kollektivordnung bildet die kirchlich-betriebliche Mitbestimmung auf der Grundlage des kirchlichen Mitarbeitervertretungsrechts, das im Kirchenbereich die Funktion des staatlichen Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrechts übernimmt. Neben den kollektivarbeitsrechtlichen Regelungen spielen individualarbeitsrechtliche Besonderheiten für kirchliche Arbeitsverhältnisse eine Rolle, vor allem spezifisch kirchliche Einstellungsvoraussetzungen (wie zum Beispiel konfessionelle Merkmale), besondere Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Beschäftigter sowie die Möglichkeit kirchlicher Beschäftigungsträgerinnen und -träger, die Verletzung von Obliegenheiten durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kündigungsrechtlich zu sanktionieren.
3.2 Verfassungsrechtliche Grundlage Dass ein kircheneigener Sonderweg möglich ist – also den kirchlichen Gesetzgebern die rechtliche Möglichkeit eröffnet wurde, den kirchlichen Dienst durch kircheneigene Arbeitsrechtsregelungen zu ord nen –, beruht auf dem in der deutschen Rechtsordnung einzigartigen Freiraum, den der deutsche Verfassungsgesetzgeber den Religionsgemeinschaften gewährt. Dieser hat in der Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV eine grundsätzliche kirchliche Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsbefugnis in Bezug auf die Angelegenheiten begründet, die zum Schutz des kirchlichen Selbstverständnisses einer kircheneigenen Regelung bedürfen. Als solche Angelegenheiten, die von der Kirche selbst zu ordnen sind, werden auch arbeitsrechtliche Fragen verstanden, insoweit eine von den staatlichen Arbeitsrechtsvorgaben abweichende kirchliche Regelung für notwendig erachtet wird, um das kirchliche Selbstverständnis hinsichtlich des kirchlichen Dienstes und eine selbstverständnisgemäße Erfüllung kirchlicher Aufgaben zu sichern. Auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV entstand so eine kirchliche Arbeitsrechtsordnung, die in den benannten Bereichen für kirchliche Arbeitsverhältnisse die staatlich geordnete Arbeitsverfassung ersetzt.
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3.3 Die einende Funktion der kirchlichen Grundordnung Die Implementierung der grundlegenden Strukturen der kirchlichen Arbeitsverfassung in kirchlichen Einrichtungen wird dadurch begründet, dass kirchliche Beschäftigungsträgerinnen bzw. -träger der Geltung des kirchlichen Normtextes4, das die Grundzüge der kirchlichen Arbeitsrechtsordnung enthält, durch bischöfliche Anordnung unterstellt sind (im verfasst-kirchlichen Bereich) bzw. sich ihm durch Übernahme für ihren Bereich unterstellen (im Fall von Trägerinnen und Trägern, die in keiner kirchenverfassungsrechtlich begründeten hierarchischen Beziehung zum Diözesanbischof stehen).5 Dieser Normtext und damit die rechtliche Scharnierfunktion zwischen einer kirchlichen Einrichtung und der kirchlichen Arbeitsrechtsordnung ist die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse. In ihr werden die Grundstrukturen des kirchlichen Arbeitsrechts entfaltet. Es finden sich die spezifisch kirchlichen Einstellungsvoraussetzungen, es werden besondere Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Beschäftigter genannt, das Kommissionsmodell zur Tariffindung und die kircheneigene Form der Mitarbeiterinnenund Mitarbeiterbeteiligung an Entscheidungen auf Einrichtungsebene in Grundzügen beschrieben. Zudem wird ein kirchlicher Rechtsweg für Streitfälle aus dem Arbeitsrechtsregelungsverfahren und dem Mitarbeitervertretungsrecht eröffnet.6 Als Grundstrukturenordnung beschränkt sich die Ordnung im kollektiv-arbeitsrechtlichen Bereich auf die Grundlegung der kollektiven Verfahren; die nähere Ausgestaltung erfolgt in entsprechenden weiteren kirchlichen Ordnungen. Gilt also die Grundordnung für die Arbeitsverhältnisse einer Beschäftigungsträgerin bzw. eines -trägers, finden die in ihr für kirchli4
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Bewusst wird vorliegend nicht von einem kirchlichen Gesetz gesprochen, auch wenn die Grundordnung bisher immer so bezeichnet wurde, insoweit Klaus Lüdicke in der jüngsten Zeit berechtigterweise in der Grundordnungsdebatte Zweifel daran geäußert hat, ob der Grundordnung tatsächlich Gesetzesqualität zukomme. Dieser Frage soll vorliegend aber nicht weiter nachgegangen werden. So wird eine Einrichtung dem Geltungsbereich der Grundordnung zugeordnet und zu einer Einrichtung, in der kirchliches Arbeitsrecht zur Anwendung kommt. Die Geltung kirchlichen Arbeitsrechts auf individualarbeitsrechtlicher Ebene, also für die einzelnen Beschäftigten, wird allerdings erst dadurch bindend, dass sie arbeitsvertraglich verankert wird. Für Streitsachen aus dem Individualarbeitsrecht steht hingegen der Gang zu den staatlichen Arbeitsgerichten offen. Die Entscheidungen staatlicher Arbeitsgerichte aller Instanzen in Kündigungsfragen kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zeugen davon.
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che Arbeitsverhältnisse geregelten Vorgaben Anwendung. So sind die Beschäftigten zur Beachtung der Loyalitätsobliegenheiten verpflichtet, die Beschäftigungsträgerinnen bzw. -träger müssen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die im Kommissionsverfahren erarbeiteten Entgeltergebnisse zahlen, ihnen Mitbestimmungsmöglichkeiten im Sinne des kirchlichen Mitarbeitervertretungsrechts eröffnen. Und solange alle Einrichtungen – auch die außerhalb des bischöflichhierarchischen Zugriffs – die Grundordnung selbstverständlich übernahmen und konsequent alle rechtlichen Aspekte der kirchlichen Arbeitsverfassung für ihre Arbeitsverhältnisse zur Anwendung kommen ließen, konnte ohne Weiteres von der „Einheit des kirchlichen Dienstes“ gesprochen und so ein Leitbild erzeugt werden, das sich in der Grundordnung selber findet (vgl. Art. 7 Abs. 2 S. 1) und die Kommentarliteratur durchzieht.7 In diesem Sinne wird mit dem Einheitsbegriff nicht nur die Zusammengehörigkeit und gemeinsame Zweckverfolgung aller im kirchlichen Dienst Beschäftigten beschrieben, sondern zugleich auf die Einheitlichkeit der kirchlichen Arbeitsrechtsstrukturen abgestellt. Dass diese arbeitsrechtliche Homogenität von der Kirchenleitung nicht nur als eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch als Voraussetzung kirchlicher Glaubwürdigkeit in Bezug auf den kirchlichen Dienst beurteilt wurde, verdeutlicht unter anderem die Einlassung Kardinal Lehmanns, die er 2006 bei einer Mitarbeitervertretungsversammlung in Mainz tätigte: Die „Ausstrahlung unserer Einrichtungen beruht auch auf einem Arbeitsrecht, das der Sendung der Kirche verpflichtet ist und ein einigendes Band für alle Beteiligten darstellt.“8
4. DIE NEUE UNÜBERSICHTLICHKEIT: PLURALISIERUNGSTENDENZEN IM KIRCHLICHEN DIENST 4.1 Phänomene Die „Einheit des kirchlichen Dienstes“ bezeichnet also eine lange Zeit geübte arbeitsrechtliche Praxis und das bis heute geltende Idealbild arbeitsrechtlicher Konformität im kirchlichen Dienst. Abweichend konnte man in den vergangenen Jahren beobachten, dass einzelne 7
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Vgl. dazu die ausführlichen Literaturangaben in den Fn 95-97 in: Gehring/Thiele (2002), 997. Lehmann (2006), 5.
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kirchliche Beschäftigungsträgerinnen und -träger sich aus dem Geltungsbereich der Grundordnung lösten. Sei es, dass sie vollständig ihren Ausstieg aus dem kirchlichen Arbeitsrechtssystem erklärten, sei es, dass sie trotz Bindung an die Grundordnung mit der in ihr grundgelegten Arbeitsrechtsordnung selektiv umgingen. So wurde in manchen Einrichtungen auf die Beachtung der Loyalitätsobliegenheiten Wert gelegt und auf Einrichtungsebene das kirchliche Mitbestimmungssystem praktiziert, zugleich aber das kirchliche Entgeltniveau unterlaufen, insoweit man sich aus ökonomischen Gründen nicht im Stande sah, die aus dem kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsverfahren resultierenden Kommissionsergebnisse mitzutragen. Der Rückgang des staatlichen Refinanzierungsvolumens im Sozialbereich und die Öffnung des Sozialsektors für konkurrierende Privatanbieterinnen und -anbieter sozialer Dienstleistungen verzeichneten vielerorts diese Folge. Zum Zerfall der kirchlichen Einheitlichkeit in Tariffragen trugen und tragen neben der Tarifflucht einzelner kirchlicher Beschäftigungsträgerinnen und -träger auch Prozesse wie Ausgliederungen ehemals kirchlicher Einrichtungsteile („Outsourcing“) und der die kurzfristige Beschäftigungsbedarfsdeckung überschreitende Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern in kirchlichen Einrichtungen bei. Die Arbeitsverhältnisse im verfasst-kirchlichen Bereich, in dem sowohl Grundordnung als auch diözesane Arbeitsrechtsregelungen unmittelbar aufgrund bischöflicher Anordnung gelten, blieben von solchen Entwicklungen weitgehend unberührt. Anders der Befund bei den privaten Rechtspersonen bzw. den Beschäftigungsträgerinnen und -trägern ohne kirchliche Rechtspersönlichkeit. Insoweit sie nicht verfassungsrechtlich in einem hierarchischen Verhältnis zum Diözesanbischof stehen, reicht die jurisdiktionelle Befugnis der Bischöfe nicht aus, um die Geltung der Grundordnung in den ihnen angehörenden Einrichtungen anzuordnen9 und die Beachtung aller mit der Grundordnung vorgelegten Aspekte der kirchlichen Arbeitsrechtsordnung durchzusetzen. Daher entstanden in diesem Bereich in tariflicher Hinsicht sehr uneinheitliche Arbeitsbedingungen.
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Vgl. Dütz (2011), 151.
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4.2 Differenzen als Anfragen an die Verteilungsgerechtigkeit Diese stellen im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Dienstes eine Herausforderung dar und verfügen über einen Bezug zur Gerechtigkeitsfrage. Die entstandene Lohnungleichheit – „ungleicher Lohn bei gleicher Tätigkeit“ – zwischen den Beschäftigten teils unterschiedlicher, teils (im Fall von Leiharbeit) derselben Einrichtungen, wirft sowohl unter Berücksichtigung von Gerechtigkeit als Gleichheit, als auch bei der Deutung von Gerechtigkeit als Leistung die Gerechtigkeitsfrage auf.10 Auch wer bei Entgeltfragen auf die Bedarfsgerechtigkeit abstellt, wird sich die Gerechtigkeitsfrage stellen müssen, insoweit die unteren Lohngruppen, deren im kirchlichen Tariffindungsverfahren ermitteltes Lohnniveau nur knapp zur Bedarfssicherung ausreicht, am stärksten von den genannten Maßnahmen betroffen sind.11 Zur Erinnerung: nach kirchlichem Selbstverständnis muss eine Vollzeiterwerbstätigkeit den Bedarf der bzw. des Beschäftigten und ihrer bzw. seiner Familie in angemessener Weise decken. Ist dies nicht erfüllt, kann nicht von einer bedarfsgerechten Entlohnung gesprochen werden.
4.3 Anfragen an die Verfahrensgerechtigkeit Geht man davon aus, dass das in der Grundordnung verankerte kirchliche Tariffindungsverfahren in Grundzügen Grundsätzen der Verfahrensgerechtigkeit Rechnung trägt – ob das tatsächlich in Bezug auf alle Aspekte des Verfahrens zu bejahen ist, wird ja vorliegend nicht zum Thema gemacht –12 und daher Ergebnisse erzeugt, die mit der Gerechtigkeitsvermutung behaftet sind, so verlieren Tarifergebnisse diesen Anschein, wenn kirchliche Beschäftigungsträgerinnen bzw. -träger den kirchlichen Verfahrensweg verlassen und das kirchliche Lohnniveau unterlaufen. Um sie mit einer Gerechtigkeitsvermutung zu versehen, müssten sie aus einem alternativen adäquaten Verfahren 10 11
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Vgl. Hengsbach (2009), 4. Eine Ermittlung der Armutsrisiken der verschiedenen kirchlichen Vergütungsgruppen der evangelischen Landeskirche in Baden haben Mitarbeiter der Werkstatt Ökonomie 2001 durchgeführt (vgl. Heidel/Henschen/Jakobi (2001), 44-60) und dabei auf das hohe Risiko der unteren Lohngruppen hingewiesen. Ein Blick auf die aktuellen Entgeltzahlen im katholischen Tarifbereich verdeutlicht, dass diese Analyse auch die Situation in der katholischen Kirche heute nicht unzutreffend beschreibt. Vgl. Fn 3.
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tariflicher Orientierung resultieren, dessen Ergebnisse ebenso über die Plausibilität verfügen, gerecht zu sein. Das wäre der Fall, wenn sich die kirchlichen Beschäftigungsträgerinnen bzw. -träger den Verhandlungsbedingungen unterstellten, die für nichtkirchliche Unternehmen und Betriebe gelten, das heißt sich als potenzielle Verhandlungspartnerinnen bzw. -partner im tarifautonomen Tarifvertragssystem verstehen. Für ihre Arbeitsverhältnisse wären dann kirchliche Sonderrechte wie der vollständige Ausschluss von Arbeitskämpfen nicht mehr aufrechtzuhalten,13 insoweit diese den tarifautonomen Verhandlungsgrundsätzen widersprechen. Der kirchliche Dienst zerfiele in einen Bereich, in dem kirchliches Arbeitsrecht zur Anwendung käme, und einen Bereich, in dem das tarifautonome Verfahren die Entgeltfindung prägte. Eine solche tarifsystemisch differenzierte kirchliche Landschaft wurde von den katholischen Bischöfen in Deutschland allerdings bisher nie gewünscht.14 Als Negativfolie, von der man sich bewusst abgrenzte, diente die uneinheitliche Situation in den evangelischen Landeskirchen und den Einrichtungen der Diakonie. Während im evangelischen kirchlichen Dienst großteils das Kommissionsmodell zum Einsatz kommt, findet in Teilen – in der Nordelbisch Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) – das Tarifvertragssystem Anwendung. Die katholischen Bischöfe bestehen im Gegenzug auf einem einheitlichen Verfahren. Der Grundsatz der Einheit des kirchlichen Dienstes solle auch im Hinblick auf die Nutzung eines gemeinsamen Tariffindungssystems zum Ausdruck kommen.
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Inwieweit ein solcher Ausschluss auch im Rahmen des Dritten Weges trägt, wird allerdings diskutiert. Man denke an die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm, Az. 8 Sa 788/10, vom 13. Januar 2011, in der die Richterinnen und Richter den Streik in kirchlichen Einrichtungen nicht für ausnahmslos unzulässig erklärten. Eine abschließende Klärung der Streikfrage ist bisher nicht möglich, es bleibt die Revisionsentscheidung des Bundesarbeitsgerichts abzuwarten (Az. 1 AZR 179/11), die für Frühjahr 2012 angekündigt ist. Das sich daran bis heute nichts geändert hat, verdeutlicht ihre Entscheidung, in der gerade erfolgten Novellierung der Grundordnung den Art. 7 der Grundordnung, in dem das kirchliche Arbeitsrechtsregelungsverfahren normiert ist, nicht zu überarbeiten und es im kirchlichen Bereich bei einem einheitlichen Tariffindungsverfahren zu belassen.
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5. REAKTIVIERUNG DER EINENDEN FUNKTION DER GRUNDORDNUNG Vom Ziel, den kirchlichen Dienst nicht nur ideologisch, sondern auch arbeitsrechtlich als Einheit zu gestalten, zeugt dementsprechend der Versuch, die Grundordnung in allen kirchlichen Einrichtungen zur Geltung zu bringen. Um alle Beschäftigungsträgerinnen und -träger zur Anwendung kirchlichen Arbeitsrechts in ihrem Bereich zu bewegen, verknüpfte man – unausgesprochen – die Geltung der Grundordnung mit dem Prädikat der „Kirchlichkeit“ einer Einrichtung. Es galt eine Einrichtung als kirchliche, wenn in ihr kirchliches Arbeitsrecht die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten bestimmte. Die Brüchigkeit dieser Verknüpfung wurde nun vor kurzem überdeutlich gerichtlich ausgewiesen. Dass es auf der Grundlage des bis dato geltenden Rechts eine rechtliche Möglichkeit darstellte, kirchliche Einrichtung zu sein, ohne sich dem Geltungsbereich der Grundordnung zu unterstellen, arbeiteten die Richter eines Delegationsgerichts des höchsten kirchlichen Gerichts der Apostolischen Signatur im Jahr 2010 klar heraus. Die Richter hielten fest, dass „die Kirchlichkeit des Rechtsträgers und der Einrichtung zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung“15 dafür sei, dass die Grundordnung in ihr gelte. So lassen sich also Einrichtungen als kirchliche verstehen, obwohl kein kirchliches Arbeitsrecht in ihnen zur Anwendung kommt. Insoweit das dem Wunsch der Bischöfe nach rechtlicher Einheit des kirchlichen Dienstes wiederspricht, belegte die Feststellung des Delegationsgerichts die Überarbeitungsbedürftigkeit der Grundordnung. Es musste eine rechtliche Lösung gefunden werden, mit der auch die kirchlichen Trägerinnen und Träger, in deren Einrichtungen die Grundordnung nicht unmittelbar aufgrund diözesanbischöflichhierarchischer Anordnung gilt, gezwungen werden konnten, die Geltung kirchlichen Arbeitsrechts für ihre Arbeitsverhältnisse sicherzustellen. Dabei war zunächst nicht klar, wie umfangreich die Novellierung der Grundordnung ausfallen sollte. Wollte man sich darauf beschränken, alle kirchlichen Beschäftigungsträgerinnen und -träger zu ver15
Tribunal delegatum et a Supremo Signaturae Apostolicae Tribunali constitutum, Urteil in der Streitsache Kolping-Bildungszentren gGmbH-Mitarbeitervertretung des KolpingBildungszentrums Arnsberg vom 31. März 2010, Az. KAGH M 13/08 & M 01/10, 13, URL: www.dbk.de/fileadmin/redaktion/microsites/Kirchlicher_ Arbeitsgerichtshof/Anonymisierte%20Fassung.pdf (11.11.2011).
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pflichten, die Geltung der Grundordnung für ihre Arbeitsverhältnisse sicherzustellen? Oder sollte, um den Trägerinnen und -trägern diese Entscheidung zu erleichtern, zudem das einheitliche Arbeitsrechtsregelungsverfahren zugunsten flexiblerer Tarifgestaltungsmöglichkeiten aufgegeben werden?16 Wie man der novellierten Fassung entnehmen kann, entschieden sich die deutschen Bischöfe nur für die erste Anpassung, am einheitlichen Dritten Weg wurde hingegen festgehalten. Die novellierte Fassung der Grundordnung wurde von der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands am 20. Juni 2011 beschlossen und in der Folgezeit von den deutschen Bischöfen jeweils für ihr Gebiet in Kraft gesetzt. Die Veränderungen finden sich alle in Art. 2 in Bezug auf die Festlegung des Geltungsbereichs der Grundordnung. Der Abs. 1, in dem normiert ist, welche kirchlichen Beschäftigungsträgerinnen und -träger von der Geltung der Grundordnung unmittelbar betroffen sind, weist in novellierter Fassung sprachliche Veränderungen auf, inhaltlich geändert wurde nur eine Marginalie, die es hier nicht weiter zu besprechen gilt. Die genannten Beschäftigungsträgerinnen und -träger sind entweder dem Diözesanbischof unterstellte öffentliche juristischen Personen des kirchlichen Rechts und unterstehen daher diözesanbischöflicher Weisungsbefugnis oder sie tun es, weil sie aus anderen Gründen der bischöflichen Gesetzgebungsgewalt unterliegen; in allen Fällen handelt es sich aber um Beschäftigungsträgerinnen und -träger, hinsichtlich derer der Diözesanbischof über verfassungsrechtlich begründete hierarchische Kompetenz verfügt und daher die unmittelbare Geltung der Grundordnung anordnen kann.
5.1 Aufforderung zur Übernahme der Grundordnung In Abs. 2 des Art. 2 finden sich weitreichendere Änderungen. Betroffen sind die Beschäftigungsträgerinnen und -träger, die in keinem verfassungsrechtlich begründeten hierarchischen Verhältnis zur kirchlichen Autorität stehen und für deren Arbeitsverhältnisse daher die Geltung der Grundordnung nicht unmittelbar durch bischöfliche Inkraftsetzung der Ordnung erzeugt wurde. Hieß es in der alten Fassung des Art. 2 Abs. 2 der Grundordnung, dass selbige im Bereich
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Vgl. Feldhoff (2010); Ihli (2010), 164-166.
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dieser Beschäftigungsträgerinnen und -träger anzuwenden sei und diese „gehalten“ seien, „die Grundordnung für ihren Bereich rechtsverbindlich zu übernehmen“, erhöhten die deutschen Bischöfe in der novellierten Fassung ihre Erwartungen. Die Beschäftigungsträgerinnen und -träger werden nun verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2013 in ihren Statuten ihren Beitritt zum Geltungsbereich der Grundordnung zu erklären. Es heißt: „Kirchliche Rechtsträger, die nicht der bischöflichen Gesetzgebungsgewalt unterliegen, sind verpflichtet, bis spätestens zum 31.12.2013 diese Grundordnung durch Übernahme in ihr Statut verbindlich zu übernehmen. Wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen, haben sie im Hinblick auf die arbeitsrechtlichen Beziehungen nicht am Selbstbestimmungsrecht der Kirche gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV teil.“ Sowohl in der alten als auch in der neuen Fassung ist die Regelung Ausdruck davon, dass die Bischöfe die Beschäftigungsträgerinnen und -träger, die keiner bischöflichen Anordnungsbefugnis unterstehen, nicht unmittelbar zur Übernahme der Grundordnung zwingen können. Sprachlich wurde das vor allem in der alten Fassung des Abs. 2 deutlich (die Formulierung, die entsprechenden Rechtsträgerinnen und -träger seien „gehalten“, sich der Grundordnung zu unterstellen, wurde ja bereits erwähnt). Die Rede von der „Verpflichtung“, die sich in der neuen Fassung findet, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich an der Grenze, die der bischöflichen Vollmacht gegenüber den entsprechenden Beschäftigungsträgerinnen und -trägern gezogen ist, nichts geändert hat. Da eine unmittelbare Kompetenz der Bischöfe, diese zu zwingen, nicht besteht, hat man sich auf einen mittelbaren Weg geeinigt, um ausreichenden Druck zu erzeugen. Es findet sich nun die Drohung, den Trägerinnen und Trägern außerhalb der Grundordnungsgeltung die Partizipation am kirchlichen Selbstbestimmungsrecht abzusprechen.
5.2 Rechtsfolgen bei Nichtübernahme der Grundordnung Bei Nichtbeitritt zum Geltungsbereich der Grundordnung riskieren die kirchlichen Dienstgeberinnen und -geber somit ihren Anteil am verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirche. Ein Ausschluss aus dem Bereich kirchlicher Selbstbestimmung hätte zur Folge, dass sie keine den Kirchen im Bereich des Arbeitsrechts vom Staat garantierten Freiräume mehr in Anspruch nehmen dürften
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und arbeitsrechtlich wie nichtkirchliche Arbeitgeberinnen und -geber zu behandeln wären. An die Stelle der kircheneigenen Tariffindung im Rahmen des Kommissionssystems träten dann tarifautonome tarifliche Suchprozesse, in deren Rahmen Entgeltfindung antagonistisch zwischen Arbeitgeberinnen bzw. Arbeitgebern auf der einen, den Gewerkschaften auf der anderen Seite betrieben wird, bei Bedarf unter Einsatz adäquater Arbeitskampmaßnahmen. An die Stelle des kirchlichen Mitarbeitervertretungssystems als spezifisch kirchlicher Form der Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterbeteiligung rückte das staatliche Betriebsverfassungsrecht. Die Möglichkeit, von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein besonders ausgeprägtes loyales Verhalten gegenüber der Beschäftigungsträgerin bzw. dem -träger zu erwarten, würde eingeschränkt und auf das Niveau von Tendenzschutzmaßnahmen reduziert.
5.3 Verlust der Kirchlichkeit einer Einrichtung? Wird eine Ausgrenzung aus dem Bereich kirchlicher Selbstbestimmung explizit als Rechtsfolge der Nichtübernahme der Grundordnung benannt, lässt sich dem Normtext des Art. 2 Abs. 2 der Grundordnung nicht entnehmen, welche Folgen die Nichtübernahme im Hinblick auf das Recht einer Einrichtungsträgerin bzw. eines -trägers verzeichnet, ihre bzw. seine Einrichtung weiterhin mit dem Prädikat einer katholisch-kirchlichen Einrichtung zu versehen. Dürfen Trägerinnen und Träger ihre Einrichtung weiterhin als kirchliche bezeichnen und somit ihren Bezug zur katholischen Kirche ausweisen, obwohl sie kein kirchliches Arbeitsrecht anwenden und sich zum Schutz der Eigenart der in der Einrichtung verfolgten Ziele nicht mehr auf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften berufen können? Für Ihli ist die Konsequenz klar: Die kirchliche Feststellung, dass eine Einrichtung nicht mehr am kirchlichen Selbstbestimmungsrecht teilhabe, müsse gleichzeitig die Folge habe, dass die Einrichtung nicht mehr als kirchliche Einrichtung gelte.17 In diesem Sinne werde die Kolping-Bildungszentren gGmbH, um die sich das Urteil des Delegationsgerichts der Apostolischen Signatur vom 31. März 2010 (Az. KAGH M 13/08 & M 01/10) drehte, nicht mehr als kirchliche Einrichtung verstanden.18 17 18
Vgl. Ihli (2010), 163. So die Auskunft bei Ihli (2010), 163.
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Doch ist eine Verknüpfung von Selbstbestimmungsrechtsgeltung und Kirchlichkeit stringent? Gewiss ist, dass die kirchlichen Autoritäten Einfluss darauf haben, ob eine Einrichtung den Begriff „katholisch“ im Namen führen darf oder nicht. Kirchenrechtlich ist festgelegt, dass eine kirchliche Initiative sich nicht ohne Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität als katholische bezeichnen dürfe (vgl. cc. 216 und 300). Staatlich-namensschutzrechtlich geklärt ist, dass die kirchlichen Autoritäten eine Verwendung des Begriffs „katholisch“ im Namen einer Einrichtung untersagen können, wenn sie diesen Begriff in Zusammenhängen verwendet sehen, die keinen Bezug zur römisch-katholischen Kirche aufweisen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Nov. 1993, Az. XII ZR 51/92, in: BGHZ 124, 173). Das ist aber bei Einrichtungen, die kirchliche Ziele verfolgen, aber kein kirchliches Arbeitsrecht anwenden, ja nicht grundsätzlich der Fall. Es liegt in den Zielen und der grundsätzlichen Ausrichtung der Einrichtungen ja regelmäßig ein klarer Bezug zur katholischen Kirche vor, auch wenn dieser sich nicht arbeitsrechtlich spiegelt. Am Beispiel der KolpingBildungszentren gGmbH lässt sich das verdeutlichen. Insoweit unstreitig ist, dass das Kolping Bildungswerk Paderborn als ein Raum unter dem Dach des Kolpingwerks verstanden wird, ist eine inhaltliche Zuordnung zu einem der traditionellen katholischen Bildungsträger offenkundig. Zwar findet sich im Leitbild und der Selbstbeschreibung des Kolping Bildungswerks Paderborn gGmbH kein direkter Verweis auf Kirche und Kirchlichkeit – insoweit die Einrichtung formal nicht mehr als kirchliche verstanden wird –, doch drückt sich die Kirchennähe und der Bezug zur Kirche in vielerlei Hinsicht aus. So wird auf das christliche Menschenbild rekurriert und im Leitbild der GmbH die katholische Soziallehre bemüht. Eine Nichtzuordnung zur Kirche mag daher formal vorliegen, ist deshalb aber dennoch aus inhaltlichen Gründen nur schwierig nachzuvollziehen und birgt darüber hinaus gewisse Risiken, wie nachfolgend zu klären ist.
6. CHANCEN UND RISIKEN Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Androhung, sie könnten die aus dem Selbstbestimmungsrecht resultierenden Rechte und ihre Einrichtungen formal den Status einer kirchlichen Einrichtungen verlieren, die Bereitschaft der meisten adressierten Beschäftigungs-
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trägerinnen und -träger erhöhen wird, für ihren Bereich die Geltung der Grundordnung anzuordnen.
6.1 Identifizierungsinteresse kirchlicher Trägerinnen und Träger Vor allem die Gefahr, mit dem Herausfallen aus dem selbstbestimmt organisierten Bereich des kirchlichen Dienstes öffentlich nicht mehr als kirchliche Einrichtung wahrgenommen zu werden, bietet einen Anreiz, sich dem Geltungsbereich der Grundordnung zuzuordnen. Sich als kirchliche Einrichtung identifizierbar zu machen, stellt nämlich einen Marktvorteil dar, insoweit viele Klientinnen und Klienten einer kirchlichen Einrichtung mit besonderem Vertrauen begegnen.19 Ob dies in Folge des Vertrauen erschütternden kirchlichen Missbrauchsskandals immer noch zutrifft, müsste man beizeiten erheben. Es sei vorliegend unterstellt, dass die eindeutige Zuordnung zum kirchlichen Dienst zumindest im karitativen Sektor weiterhin vorteilhaft ist, insoweit, so mein Eindruck, der Caritasbereich von dem durch den Missbrauchsskandal hervorgerufenen Glaubwürdigkeitsverlust weitgehend verschont blieb. Da also angenommen werden kann, dass die Trägerinnen und Träger der meisten kirchlichen Einrichtungen, die sich bisher nicht an die Grundordnung gebunden haben, ein Interesse daran haben, weiterhin eindeutig dem kirchlichen Bereich zugeordnet zu werden, könnte die Drohung der Bischöfe erfolgversprechend sein und somit bewirken, die Einheit des kirchlichen Wegs in rechtlicher Hinsicht wiederherzustellen.
6.2 Tendenzschutz statt Selbstbestimmung Doch sicher ist das nicht. Der ökonomische Druck, dem viele Trägerinnen und Träger unterstehen, bietet ein starkes Motiv, um von der mit der Übernahme der Grundordnung erzeugten Geltung kirchlicher Entgeltsysteme abzusehen. Was also wird mit den Einrichtungen geschehen, in denen die Grundordnung auch nach dem 31. Dezem19
„Die Einrichtungen profitieren ihrerseits von ihrer Zugehörigkeit zur Kirche. Nach wie vor stellen wir fest, dass die Bevölkerung sozialen Angeboten und Diensten in kirchlicher Trägerschaft ein großes Vertrauen entgegen bringt. Viele entscheiden sich für ein kirchliches Krankenhaus oder einen kirchlichen Kindergarten, wenn sie die Auswahl haben. Dazu trägt sicher der hohe Stellenwert einer ganzheitlichen Betrachtungsweise in unseren Einrichtungen bei.“ (Lehmann (2006), 5).
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ber 2013 nicht zur Geltung gelangt? Werden die Bischöfe in ihrem Fall das rechtliche Exempel statuieren und die Einrichtungen aus dem Bereich kirchlicher Selbstbestimmung herausfallen lassen? Das ist die in Art. 2 Abs. 2 S. 2 der Grundordnung rechtlich fixierte Konsequenz, birgt aber Risiken. Denn nur weil sich der rechtliche Status einer Einrichtung ändert, wenn diese aus dem Bereich des selbstbestimmt-kirchlich geregelten Arbeitsrechts herausfällt, verschiebt sich, wie dargelegt, nicht automatisch das Einrichtungsprofil. Nur weil kein kirchliches Arbeitsrecht zur Anwendung kommt, bedeutet das nicht, dass nicht materiell kirchliche Ziele in der Einrichtung verfolgt werden. Weiterhin werden die entsprechenden Einrichtungen dieselben Dienste erbringen, die genuin als Verfolgung und Umsetzung spezifisch kirchlicher Ziele zu bewerten sind. Ihrer Tätigkeit und ihrem Aufgabenprofil nach werden die Einrichtungen also weiterhin als kirchliche identifizierbar sein und in der Öffentlichkeit als solche verstanden werden. Sie erbringen kirchliche Dienste, allerdings nun nicht mehr im Rahmen kirchlicher, sondern nichtkirchlich geordneter Beschäftigungsverhältnisse. Die arbeitsrechtliche Form ändert sich, die inhaltliche Bestimmung bleibt – zumindest im Regelfall. Folge ist: Der kirchliche Dienst zerfällt in einen kirchenarbeitsrechtlich geregelten kirchlichen Dienst und in einen informell-kirchlichen Dienst, dessen arbeitsrechtlichen Rahmen der staatliche Gesetzgeber vorgibt. Die informell-kirchlichen Einrichtungen, die vollständig staatlicher Arbeitsrechtsordnung unterstehen, werden den staatlichen Vorgaben aber nicht unterschiedslos unterstellt. Zum Schutz der kirchlich-konfessionellen und religiösen Ziele, die in den Einrichtungen verfolgt werden, können sich die Einrichtungsträgerinnen und -träger auf die staatlichen Vorgaben zum Tendenzschutz berufen. Insoweit sie also karitative Zwecke verfolgen, erzieherisch, wissenschaftlich oder künstlerisch tätig sind, fallen diese kirchlichen Einrichtungen als Tendenzeinrichtungen unter den Tendenzschutz. Die Berufung auf den Tendenzschutz bewirkt die Freistellung von der Geltung staatlichen Arbeitsrechts in dem Umfang, in dem sie zum Schutz der tendenziösen Betätigung notwendig ist. Das Schutzniveau unterschreitet dabei das von der Garantie des Selbstbestimmungsrechts erzeugte. Während die arbeitsrechtlichen Eigenarten des kirchenarbeitsrechtlich geordneten kirchlichen Dienstes auf dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht beruhen und daher sehr weitreichend sind, können sich die Einrichtungen im Bereich des staatlich-rechtlich gerahmten informell-kirchlichen Dienstes zum Schutz ihrer kirchlich-
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konfessionellen und religiösen Ziele also „nur“ auf die staatlichen Vorgaben zum Tendenzschutz berufen.
6.3 Unplausibilität der Differenzierung Zu Recht kann man fragen, was an einer solchen Zweigliedrigkeit des kirchlichen Dienstes problematisch wäre. Es sei beispielhaft ein Grund benannt: Es ist nicht zu erwarten, dass in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen einer kirchlichen Einrichtung, die am kirchlichen Selbstbestimmungsrecht teilhat, und einer Einrichtung, die inhaltlich kirchliche Zwecke verfolgt, sich zur Sicherung dieser Ziele aber nur auf den Tendenzschutz berufen kann, unterschieden wird. Spätestens wenn diese Differenzierung staatlichen Arbeitsrichterinnen und -richtern, die bei Kündigungsklagen kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zuständig sind, nicht mehr plausibel gemacht werden kann, ist nicht mehr davon auszugehen, dass diese einem umfassenden, auf dem Selbstbestimmungsrecht basierenden arbeitsrechtlichen Freiraum der Kirchen länger Rechnung tragen. So werden, so meine Prognose, alle kirchlichen Einrichtungen nach einem gewissen Zeitraum zu „Tendenzbetrieben“ degradiert. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche in Arbeitsrechtssachen erodiert. Werden die kirchlichen Autoritäten ein solches Risiko, dass einer rechtlichen Selbstbeschneidung anhaftet, eingehen? Sind sie bereit, Einrichtungen, die die Grundordnung nicht übernehmen, aus der Arena kirchlicher Selbstbestimmung herauszubefördern und so dem staatlichen Gesetzgeber und der Rechtsprechung zu signalisieren, dass im Bereich der professionell-organisierten religiös-kirchlichen Zweckverfolgung der Bedarf nach einem umfassenden kirchlichen Selbstbestimmungsrecht nicht mehr besteht? Insoweit die betroffenen Einrichtungen weiterhin mit dem kirchlichen Auftrag in Verbindung gebrachte Dienste verrichten, lässt sich schließlich kaum verdeutlichen, warum Beschäftigungsträgerinnen und -träger aus dem selbstbestimmten kirchlichen Bereich dazu des Selbstbestimmungsrechts bedürfen, wären andere vergleichbare Aufgaben ohne Teilhabe am Selbstbestimmungsrecht bewerkstelligen können. So wird ohne Not der Raum des Selbstbestimmungsrechts verengt und es lässt sich kaum verhindern, dass er in Folge vom staatlichen Gesetzgeber noch enger aufgefasst wird. Dass die Zeiten, in denen der staatliche Gesetzgeber und die staatlichen Richterinnen und Richter dem kirchlichen An-
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spruch auf Schutz der kirchlichen Angelegenheiten einen sehr großen Freiraum zusprachen, dem Ende zugehen, kann man für angemessen halten oder bedauern. Wer es bedauert, und das sei den Bischöfen unterstellt, sollte Vorsicht walten lassen, den Bereich kircheneigener Selbstbestimmung ohne Not selber zu beschneiden.
7. FAZIT Erzeugen die Anstöße, die durch die Überarbeitung der Grundordnung gegeben wurden, gerechtere kirchliche Arbeitsverhältnisse? Eine umfassende Antwort auf diese Frage zu geben, überfordert eine Kirchenrechtswissenschaftlerin. Sozialethikerinnen und -ethiker werden – wie in der Vergangenheit vielfach geschehen – die Arbeit übernehmen müssen, die durch die rechtlichen Schritte bewirkten faktischen Entwicklungen im Einzelnen zu prüfen und die Gerechtigkeitsfrage an sie zu richten. Aus der Perspektive des Rechts erscheint mir mit der Neufassung der Grundordnung aber grundsätzlich ein Anfang gemacht zu sein, der mehr Gerechtigkeit im kirchlichen Dienst zu sichern vermag. Insoweit durch die Änderung des Art. 2 der Ordnung eine grundlegende rechtliche Einheitlichkeit in den Einrichtungen, die zukünftig als kirchliche gelten werden, erzwungen wird, wird eine Einheit der kirchlichen Arbeitsbedingungen hergestellt. Das hat keineswegs zur Folge, dass die vereinheitlichten Voraussetzungen deshalb automatisch als gerechte ausgewiesen wären. Auch ein flächendeckend gleiches Lohnniveau kann ungerecht niedrig sein, übergreifend geltende Mitspracherechte zu gering ausgeprägt sein. Doch werden in Zukunft die kirchlichen Arbeitsbedingungen entweder einheitlich gerecht oder ungerecht sein. Das mag sarkastisch klingen, ist so aber nicht gemeint. Denn einheitliche Ungerechtigkeiten lassen sich leichter bekämpfen als nur vereinzelt und damit verdeckt auftretende. Flächendeckend Ungerechtes ist leichter zu identifizieren; es zieht geballter Kritik auf sich als Einzelfälle, wird von größeren Interessenvertretungsgruppen zum Thema gemacht und daher in der Regel schneller beseitigt. Einheit ist also nicht automatisch gerecht, bietet aber bessere Ansatzpunkte zur Herstellung gerechter Verhältnisse als eine uneinheitliche rechtliche Situation. Vor allem verhindert die neue Regelung, dass einzelne Dienstgeberinnen und Dienstgeber das gemeinsame Arbeitsbedingungsniveau unterschreiten. Lohndumping und Tarifflucht unter dem Deckmantel der Kirchlichkeit werden so
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stark begrenzt. Der allen Beschäftigten zugesprochene Mitbestimmungsumfang ist festgelegt. Klare und einheitliche Anforderungen an die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verlangten Loyalitäten sind formuliert. Insoweit geht von der Novellierung das richtige Signal aus, das auf die Verwirklichung einer gerechteren kirchlichen Arbeitsrechtsordnung zielt. Dies trägt zur Glaubwürdigkeit des kirchlichen Dienstes bei. Doch dürfen die rechtlichen Bedenken nicht unbeachtet gelassen werden, die mit der Konsequenz einhergehen, dass die deutschen Bischöfe Beschäftigungsträgerinnen und -träger, die die Grundordnung bis zum Ende des Jahres 2013 nicht übernehmen, aus dem Bereich der kirchlichen Selbstbestimmung auszugrenzen planen. Die Bischöfe müssen dafür Sorge tragen, den kirchlichen Dienst nicht inkonsistent werden zu lassen; dies stünde aber zu befürchten, wenn durch die Ausgliederung ehemals kirchlicher Einrichtungen aus dem Bereich des Kirchenarbeitsrechts ein kirchlicher Dienst erster und einer zweiter Klasse – nämlich ein informell-kirchlicher Dienst – erzeugt würde. Dies schadete der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Tuns und machte das kirchliche Arbeitsrechtssystem angreifbar. Daher steht es als Aufgabe für die nächsten beiden Jahre im Raum, Anreize zu verdeutlichen oder neu zu schaffen, die die Beschäftigungsträgerinnen und -träger motivieren, sich auch weiterhin – über das Jahr 2013 hinaus – dem kirchlichen Dienst zuzuordnen.
Literatur Dütz, Wilhelm, Kirchliche Einrichtungen im gesetzlichen Normengeflecht. Besprechung des Urteils des Delegationsgerichts der Apostolischen Signatur vom 31. März 2010, in: Kirche und Recht (2010), 151-157. Gabriel, Karl, Caritas und Sozialstaat unter Veränderungsdruck. Analysen und Perspektiven, Berlin 2007. Gehring, Heinrich/Thiele, Christoph, Kommentierung zu § 630 Anhang Kirchenarbeitsrecht, in: Schliemann, Harald (Hg.)/Ascheid, Reiner (Bearb.), Das Arbeitsrecht im BGB. Kommentar, Berlin/New York 2 2002, 978-1122. Feldhoff, Norbert, Wer will den Arbeitskampf in der Kirche? Überlegungen dazu, in: neue caritas 111 (2010), Heft 16, 24-27.
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Judith Hahn
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Arbeit jenseits von Selbstverwirklichung und Menschenrecht
Arbeitest du noch oder lebst du schon? Warum Arbeit im Kapitalismus nicht glücklich macht und die Katholiken das früher auch wussten Stefan Leibold
1. EINLEITUNG In Erwerbsarbeit zu kommen bzw. zu bleiben erscheint heute als vorrangiges Ziel der meisten Menschen in Deutschland. Getreu der Philosophie „Jede Arbeit ist besser als keine“ müssen sich umgekehrt diejenigen, die nicht bereit sind, jede Arbeitsstelle unabhängig von ihrer Qualität anzunehmen, den Vorwurf des „sozialen Schmarotzertums“ gefallen lassen. Helmut Kohl wie Gerhard Schröder hielten fest, dass es kein „Recht auf Faulheit“ gebe. Zweifellos ist Deutschland eine „Arbeitsgesellschaft“. Integration und soziale Anerkennung sind an Erwerbsarbeit gebunden. Die Arbeitsmedizin weiß: „Eine Erwerbstätigkeit sichert nicht nur die Verdienstmöglichkeiten als zentrale Funktion für den Lebensunterhalt, sondern gibt eine Zeitstruktur vor, erweitert die sozialen Beziehungen, setzt übergeordnete Ziele, weist sozialen Status zu, stiftet Identität und regt zu regelmäßigen Aktivitäten an.“1 Bei Arbeitslosen sind denn auch psychische Krankheiten gehäuft anzutreffen.2 Paul Lafargues „Lob der Faulheit“ von 1883 oder das „Manifest gegen die Arbeit“ der Gruppe Krisis aus dem Jahr 1999 muten uns angesichts des verzweifelten Ringens vieler Menschen, einen Arbeitsplatz zu bekommen, befremdlich an. Lafargues Äußerungen aus dem 19. Jahrhundert klingen allerdings erstaunlich zeitgemäß: „Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht. Diese Sucht, die Einzel- und Massen1 2
Hollereder (2008), 29. Vgl. DGB (2010).
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elend zur Folge hat, quält die traurige Menschheit seit zwei Jahrhunderten. Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende Arbeitssucht, getrieben bis zur Erschöpfung der Lebensenergie des Einzelnen und seiner Nachkommen. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen.“3 Für ihn ist Arbeit im Kapitalismus dagegen „die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung“4. Die Aufgabe des Proletariats sei es, die Menschheit von der knechtischen Arbeit zu befreien.5 Die „Arbeiterbewegung“ mit ihren „Arbeiterparteien“ ist Lafargue nicht gefolgt: So formulierte die „Internationale“ ganz selbstverständlich: „Die Müßiggänger schiebt beiseite“. Im Geiste von Lafargue möchte der Beitrag das „Glücksversprechen der Arbeit“ in Frage stellen und deutlich machen, dass Erwerbsarbeit im Kapitalismus eine den Menschen entfremdende Zwangsveranstaltung darstellt, von deren „Aufhebung“ wir alle profitieren würden. Das Erstaunliche: In der katholischen sozialethischen Tradition lassen sich Anknüpfungspunkte für eine solche kritische Betrachtung dieses Glücksversprechens finden.
2. WARUM ARBEIT IM KAPITALISMUS ENTFREMDET 2.1. Der entfremdende Charakter der Arbeit im Kapitalismus bei Marx Bei Marx scheint die Bewertung der Arbeit ambivalent, wenn nicht widersprüchlich zu sein. So begreift er zum einen den Menschen als Resultat seiner Arbeit: „Die Arbeit ist ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert ... Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm einwirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur.“6 Der Mensch verwirkliche in der Arbeit seinen von ihm selbst gesetzten Zweck. Auf der anderen Seite fällt Marx ein vernichtendes Urteil über die Arbeit: „Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern ge3 4 5 6
Lafargue (1883), 4. Lafargue (1883), 4. Vgl. Lafargue (1883), 5. Marx (1988), 192.
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zwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.“7 Diese Widersprüche lassen sich mit Hilfe des Begriffs der „produktiven menschlichen Tätigkeit“ auflösen.8 Bei der produktiven menschlichen Tätigkeit geht es im Kern um die freie Ziel- und Zwecksetzung der Aktivitäten durch das handelnde Subjekt selbst. Diese Selbstbestimmung der Lebenstätigkeit macht, so Marx, den wesentlichen Unterschied von Mensch und Tier aus. Bei der gemeinten Produktivität geht es im Unterschied zum heutigen Alltagsverständnis nicht um das Resultat, sondern um die Qualität der Aktivität. So ist auch ein Spaziergang aufgrund des selbst aufgestellten Handlungszweckes in diesem Sinne produktiv. Petersen fasst zentrale Aspekte produktiver Tätigkeit wie folgt zusammen9: Neben der Zielbestimmung durch das Subjekt (1) fällt das eventuell anfallende Resultat der Tätigkeit dem Individuum zu. Materielle Güter müssen die Bedürfnisse der Produzentinnen und Produzenten befriedigen (2). Dieses Bedürfnis kann auch darin liegen, einer anderen Person einen Gegenstand zur Bedürfnisbefriedigung zu verschaffen und daran Freude zu empfinden. Produktive Arbeit kann die Form gegenseitigen Schenkens annehmen (3). Zur produktiven Tätigkeit gehört geistige Arbeit, die intellektuelle Beherrschung der Handlungsabläufe. Kopfund Handarbeit sollen nicht auseinandergerissen werden (4). Das Ergebnis der Tätigkeit soll schließlich nützliche und konkrete Ergebnisse verkörpern, in Marxscher Terminologie: einen Gebrauchswert darstellen (5). Nach solchen produktiven Tätigkeiten hat jeder Mensch das Bedürfnis. Sie ermöglichen den Prozess der Selbsterschaffung des Menschen. Kapitalistische Produktion nun ist keine produktive Tätigkeit im oben beschriebenen Sinne, vielmehr entfremdet sie den Menschen in vielfacher Weise. Entfremdet ist er vom Produkt seiner Arbeit: „Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. ... Die Entäußrung des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung, nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einer äußern Existenz wird, sondern daß sie außer ihm, unabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige 7 8 9
Marx (1990), 514. Vgl. zum Folgenden Petersen (2004). Vgl. Petersen (2004), 2f.
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Macht ihm gegenüber wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehn hat, ihm feindlich und fremd gegenübertritt.“10 Den Waren im Kapitalismus „klebt“ nach Marx „ein Fetischismus an“. Der “Warenfetischismus“ ist dabei mehr als falsches Bewusstsein; dieser drückt einen tatsächlichen Sachverhalt aus. Tatsächlich „beziehen sich – unter den Bedingungen der Warenproduktion – die Produzenten nicht unmittelbar gesellschaftlich aufeinander; sie beziehen sich erst im Austausch aufeinander – und zwar vermittels ihrer Arbeitsprodukte.“11 Ob die individuell verausgabte Arbeit als Teil der Gesamtarbeit anerkannt wird und in welchem Ausmaß, darüber gibt erst der Wert der Ware im Tausch Auskunft (der sich durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt). Von dieser Auskunft hängt allerdings in entscheidender Weise das Wohlergehen ab. Der Wert der Waren ist vom Einzelnen aber nicht bestimmbar, vielmehr wechseln die Wertgrößen „beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“12 Insofern sind die Warenwerte Ausdruck einer übermächtigen, von den Menschen nicht zu kontrollierenden Gesellschaftlichkeit. Herrschaft im Kapitalismus ist anders als im Feudalismus keine persönliche, sondern eine von „Sachzwängen“.13 Zur Entfremdung vom Produkt kommt diejenige vom Akt der Produktion selbst: Dieses Verhältnis zum Akt der Produktion „ist das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eignen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, die Tätigkeit als Leiden, die Kraft als Ohnmacht ... sein persönliches Leben – denn was ist Leben [anderes] als Tätigkeit – als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm unabhängige, ihm nicht gehörige Tätigkeit. Die Selbstentfremdung, wie oben die Entfremdung der Sache.“14 Entfremdet sind die Arbeitenden im Kapitalismus auch von der Natur und ihrem Gattungsleben: Individuen sind bei Marx in einem grundsätzlichen Sinn gesellschaftliche Wesen. Sie verhalten sich zur Natur immer gesellschaftlich, Arbeit ist immer gesellschaftliche Arbeit (auch wenn diese Einsicht im Kapitalismus verstellt ist). Marx nennt 10 11 12 13
14
Marx (1990), 513. Heinrich (2004), 71f. Marx (1988), 89. Zu Marx’ Konzepten von Wert- und Warenproduktion vgl. ausführlicher z. B. Heinrich (2004) und Jappe (2005). Marx (1990), 514.
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dies das „Gattungswesen“ der Menschen. „Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens.“15 Zu verweisen ist schließlich auf die Entfremdung vom Mitmenschen: Wenn ein Mensch seinem Gattungswesen entfremdet ist, dann auch ein Mensch dem anderen. Entfremdung drückt also für Marx die Entfernung des real existierenden Menschen vom „wahren Menschen“, von der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als Selbstzweck, aus. Tätigkeit im Kapitalismus wird von „abstrakter Arbeit“ dominiert. Arbeit im Kapitalismus ist einerseits immer konkret, sie drückt sich in der unendlichen Vielfalt der Arbeiten aus: im Tischlern, Acker pflügen, Text schreiben usw. Auf der anderen Seite ist sie wertbildend, sie zielt auf den Tauschwert von Waren. Die verschiedenen Arbeiten, die den Wert der Waren produzieren, sind im Tausch qualitativ gleich; insofern produziert Tischlerarbeit nicht als Tischlerarbeit Wert (als solche produziert sie bspw. einen Tisch), sondern als Arbeit, deren Produkt mit anderen Produkten getauscht werden kann. Sie produziert Wert als Abstraktion von ihrer konkreten Gestalt. Im Tausch wird vom Gebrauchswert der Waren abstrahiert. „Abstrakt“ ist also nicht etwa die eintönige Fließbandarbeit im Gegensatz zur handwerklichen Tischlerarbeit; von allen konkreten Arbeiten wird im Kapitalismus abstrahiert, auf ihren Gebrauchswert kommt es nicht an. Kriterium für die Beurteilung von Panzern oder Brot ist, ob sie Wert schaffen bzw. mit Gewinn verkauft werden können, nichts anderes. Auch in einer „postkapitalistischen“ Gesellschaft wären Entfremdungsprozesse nach Marx nicht vollständig aufgehoben; gesellschaftliche Arbeitsteilung impliziert immer einen gewissen Grad an Entfremdung des Individuums. Auch in einer kommunistischen Gesellschaft gebe es ein „Reich der Notwendigkeit“: Inhaltlich geht es hierbei um Tätigkeiten zur Existenzsicherung der Menschen. Der Mensch muss produzieren, weil die Natur nicht unmittelbar für die Bedürfnisbefriedigung sorgt, er muss Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnraum usw. bereitstellen. Petersen stellt fest: „Selbst die Assoziation der freien ProduzentInnen unterliegt hinsichtlich ihrer Ziele in diesem Bereich einer Fremdbestimmung durch die biologischen Lebensprozesse, sodass es sich bei den betreffenden Tätigkeiten um entfremdete han15
Marx (1990), 514.
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delt.“16 Ist eine vollständige Aufhebung von Entfremdung nicht realistisch, kommt es für Marx doch darauf an, das Volumen der Arbeiten, die zum „Reich der Notwendigkeit“ gehören, auf ein Minimum zu reduzieren, die Tätigkeiten jedoch, die zum „Reich der Freiheit“ gehören, weitgehend auszubauen. Beim „Reich der Freiheit“ handelt es sich um die Tätigkeiten, die dem Ideal der produktiven menschlichen Tätigkeit (s. o.) entsprechen. Die entfremdende Arbeit im Kapitalismus gilt es daher nicht etwa besser zu entlohnen, sondern im Marxschen Wortlaut „aufzuheben“, um sich diesem Ideal annähern zu können.
2.2. Die Enteignung der Zeit als Merkmal der Entfremdung in kapitalistischen Gesellschaften Warenproduktion und die Dominanz der abstrakten Arbeit führen in Ergänzung zu den genannten Dimensionen von Entfremdung dazu, dass die Menschen ihre „Eigenzeit“ verlieren. Diese These möchte ich im Folgenden in Anlehnung an die Studie von E. P. Thompson „Time, work-discipline and industrial capitalism“ (engl. 1967, dt. 2007) kurz ausführen. Abstrakter Arbeit entspricht im Kapitalismus „abstrakte Zeit“. So stellt Holloway in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe der Studie fest: „Während frühere Formen der Zeitmessung sich eher um das menschliche Tun drehten ... trennt die Durchsetzung der Uhrzeit die Zeitmessung vollständig von der menschlichen Aktivität. ... Der Uhr sind unsere Leidenschaften, unsere Intensitäten und Langeweilen, die Rhythmen unseres Lebens und Tuns vollkommen gleichgültig. Die Uhrzeit konnte nur in einer Gesellschaft beherrschend werden, in der das Tun selbst vom Tun abstrahiert, in der das Tun selbst gleichgültig gegenüber seinen eigenen Inhalten wird.“17 Thompson zeigt in seiner Studie, dass sich das Zeitverständnis innerhalb des europäischen Kulturkreises zwischen 1300 und 1650 entscheidend gewandelt hat. Vorher hingen die Zeitmaße von unterschiedlichen Arbeitssituationen ab, etwa von den Zeitrhythmen der Ernte oder des Meeres. Die Trennung zwischen Arbeit und Leben war nur gering ausgeprägt. Mit der Ablösung der unabhängigen Bauern und Handwerker durch abhängig Beschäftigte verschwindet die aufgabenbezogene Zeit. Der Unternehmer will die Zeit der Beschäftigten 16 17
Petersen (2004), 6. Holloway/Thompson (2007), 7f.
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optimal nutzen und achtet darauf, dass sie nicht verschwendet wird. Thompson konstatiert: „Nicht die Aufgabe, sondern der aufs Geld reduzierte Wert der Zeit wird vorherrschend. Die Zeit wird nun zu einem Zahlungsmittel: Man lässt sie nicht mehr verstreichen, sondern man ‚verbraucht‘ sie.“18 Die Beschäftigten nehmen nun den Unterschied zwischen ihrer eigenen und der Zeit des Unternehmers wahr. Die Industrialisierung brachte eine enorme Synchronisation des Arbeitsprozesses mit sich: Die Maschinen geben den Menschen den Takt vor. Der Sieg der abstrakten Zeit über die gelebte Zeit, so Thompson, brauchte zu seiner Durchsetzung einen Jahrhunderte andauernden Kampf. Die Ausrichtung am Takt der Stechuhr widersprach offensichtlich den Bedürfnissen der Menschen: „Wo immer die Menschen ihren Arbeitsrhythmus selbst bestimmen, bildete sich ein Wechsel von höchster Arbeitsintensität und Müßiggang heraus“19. Heute wird dies noch Menschen in als besonders kreativ angesehenen Berufen zugestanden. Bei fast allen Gewerben wurde nach intensiver Arbeit der „blaue Montag“ gefeiert. Spätestens mit der Schule lernen die Kinder im Kapitalismus, ihre Zeit effektiv zu nutzen bzw. sich an die „Zeitdisziplin“ zu halten. Zur Internalisierung des neuen Zeitverständnisses trug laut Thompson in einem erheblichen Ausmaß die puritanische Ethik bei. So heißt es etwa im „Christian directory“ des englischen Kirchenführers Richard Baxter von 1673: „Nutze jede Minute als eine kostbare Gabe und verbringe sie vollständig in Pflichterfüllung.“20 Der zweckgebundene Umgang mit der Zeit führt nach Thompson zum Verlust der Lebenskunst, Zeit verliert ihre Bedeutung als „Öffnung, die jeden Moment ... auf seine Möglichkeiten hin erkundet“21. Die Entfremdung von ihrer gelebten Zeit und die historische Einmaligkeit dieses Zeitverständnisses sind den meisten Menschen heute nicht mehr bewusst.22
18 19 20 21 22
Holloway/Thompson (2007), 26. Holloway/Thompson (2007), 38. Zit. nach Holloway/Thompson (2007), 58. Holloway/Thompson (2007), 13. Auf den Wandel des Zeitbegriffs in einer Situation der enormen Zunahme von Druck auf den einzelnen arbeitenden Menschen im zeitgenössischen Kapitalismus hat in jüngerer Zeit der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Werk „Der flexible Mensch“ (Sennett 1998) hingewiesen.
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2.3. Entfremdung trotz „Subjektivierung der Arbeit?“ Heute von Entfremdung durch Arbeit zu sprechen, wirkt gerade in akademischen Kreisen leicht befremdlich. Vom eigenen Selbstverständnis her arbeiten akademisch tätige Menschen oder „Führungskräfte“ oft kreativ und selbstbestimmt; sie können sich mit ihrer Persönlichkeit in den Arbeitsprozess einbringen. Dass monotone Fließbandarbeit entfremdend wirkt, wird zugestanden; diese sei aber auf dem Rückzug. Hier möchte ich die These vertreten, dass auch die „Subjektivierung der Arbeit“ an der grundsätzlichen Entfremdung der Arbeit im Kapitalismus nichts ändert, sondern ihr eine neue Dimension gibt. Matthias Möhring-Hesse hat in seinem Beitrag „Erwerbsarbeit überbewertet“23 darauf hingewiesen, dass die in einem Arbeitsvertrag dem Unternehmer zur Verfügung gestellte Arbeitskraft am konkreten Menschen als deren Träger hängt. Tatsächlich umfasst der Arbeitsvertrag nur die Verfügung des Unternehmers über die Arbeitszeit der Lohnabhängigen, nicht aber über deren Arbeitsvermögen. „Ein Großteil der Fähigkeiten, die Menschen besitzen, lässt sich nicht wie Bildungsund Ausbildungsabschlüsse objektivieren, so dass sie nicht zum Gegenstand von Arbeitsverträgen gemacht werden können.“24 Diese Fähigkeiten hängen derart an den Subjekten, dass sie von außen nicht einseh- und feststellbar sind und nicht objektiviert werden können. Zu diesen subjektgebundenen Fähigkeiten „gehören etwa Erfahrungen, die in der Bewältigung der Arbeitsgegenstände und im Umgang mit den Arbeitsmitteln gemacht werden und in der weiteren Arbeit eingesetzt werden, aber auch Erfahrungen, die außerhalb der Arbeit erworben ... werden.“25 In Erwerbsarbeit, so Möhring-Hesse, vollziehen Arbeitende zugleich ihr Arbeitsvermögen. In jüngerer Zeit nun wurde der Wert dieses subjektiven Arbeitsvermögen den Unternehmern bewusst und zum strategischen Ziel. Nun sollen die Beschäftigten verstärkt zum Einbringen ihrer subjektiven Fähigkeiten motiviert werden. In diesem Sinne lassen sich neue Formen der Arbeitsgestaltung wie etwa Gruppenarbeit, partizipative Organisations- und Managementkonzepte oder Projektarbeit als Formen der „Subjektivierung von Arbeit“ begreifen. Damit können die Beschäftigten hohe Arbeitsmotivation und Kreativität aufbringen, kognitive Anforderungen 23 24 25
Möhring-Hesse (2008). Möhring-Hesse (2008), 5. Möhring-Hesse (2008), 5.
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werden erhöht, individuelle Leistungen werden aufgewertet und Möglichkeiten zur Selbstorganisation des Arbeitsprozesses eingeräumt. „Gerade im Bereich höher qualifizierter Arbeit sind entsprechende Arbeitsbedingungen – neben hohen Arbeitsentgelten – Bedingung dafür, dass die Beschäftigten zur Veräußerung ihres Arbeitsvermögens bereit sind und diese [sic!] nicht nur im eigenen, sondern zugleich im Interesse ihrer Unternehmen einsetzen.“26 Das Ziel, das subjektive Arbeitsvermögen umfassend zu nutzen, wird gegenüber unterschiedlichen Gruppen von Lohnabhängigen allerdings unterschiedlich umgesetzt: Während hoch qualifizierte und schwer ersetzbare Arbeitnehmer(innen) mit hohen Gehältern, großer Autonomie und guten Arbeitsbedingungen gewonnen werden sollen, ist dies bei niedriger qualifizierten und insofern leicht ersetzbaren Beschäftigten nicht notwendig. Diese Gruppen werden schon allein durch die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes dazu gebracht, ihr Arbeitsvermögen für das Unternehmen einzusetzen. Die Scheren zwischen den Beschäftigtengruppen in Bezug auf Einkommen, Arbeitsbedingungen und Autonomie im Arbeitsprozess werden durch diese Bemühungen größer. Für die Gewinner dieser Entwicklungen ließe sich nun annehmen, dass sich ihre Arbeitssituation erheblich verbessert habe. Möhring-Hesse hält dem entgegen: „Dadurch, dass Arbeitgeber das Arbeitsvermögen ihrer Beschäftigten in ihr strategisches Kalkül genommen haben und darin von diesen unterstützt werden, haben deren Belastungen nicht abgenommen, sondern – im Gegenteil – eher zugenommen. Die von ihnen geleistete Arbeit wurde – zeitlich gesehen – verdichtet und – material gesehen – intensiviert.“27 Dieser dauerhaften Belastung können viele Beschäftigte nicht entsprechen, es besteht die Gefahr, dass ihr Arbeitsvermögen aufgebraucht wird und es zum „Burnout“ kommt. Auch wenn dies nicht geschieht, ist mit MöhringHesse zu konstatieren, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit dadurch verschwimmen: Die „high potentials“ sind unablässig im Einsatz für die Firma und ständig erreichbar. Im Unterschied zu vorkapitalistischen Zeiten steht dieses Zusammengehen von Arbeit und Leben nun unter dem Diktat der abstrakten Arbeit. Überforderung und Burnout betreffen im Übrigen auch die niedrig qualifizierten und gering entlohnten Arbeitenden. Diese können jedoch im Unterschied zu den schwer ersetzbaren oft problemlos ge-
26 27
Möhring-Hesse (2008), 14. Möhring-Hesse (2008), 16.
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gen „frische“ Beschäftigte ausgetauscht werden, wenn sie „ausgebrannt“ sind. Für alle Beschäftigten besteht die Asymmetrie zwischen Unternehmern und Beschäftigten auch bei „subjektivierter Arbeit“ weiter. Die oben beschriebenen Entfremdungsprozesse im Kapitalismus werden höchstens in einigen Aspekten für bestimmte kleine Gruppen von Beschäftigten relativiert und sind mit neuen Belastungen verbunden. Entfremdung ist innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht aufhebbar; konsequenterweise forderte Marx daher die „Aufhebung der Arbeit“28 [im Kapitalismus].
3. DIE KATHOLIKEN UND DIE ARBEIT Bisher war vom entfremdenden Charakter der Arbeit im Kapitalismus in verschiedenen Dimensionen die Rede. Diese Analysen laufen dem Selbstverständnis der bürgerlichen Arbeits- und Leistungsgesellschaft und ihren dominanten Diskursen entgegen. In diesen lässt sich eher ein „Glücksversprechen“ der Arbeit ausmachen: Wer sich anstrengt und rechtschaffen arbeitet, dem wird in der modernen kapitalistischen Gesellschaft Wohlstand beschert. Nicht mehr Hierarchie und Herkommen sollten über die Würde und das Ansehen entscheiden, sondern die erbrachte Leistung: „Nun sollte sich in der Welt der kleinen Selbständigen, der Handwerker und Gewerbetreibenden eigene Leistung lohnen, eigene Arbeit sollte frei machen. Im Hintergrund dieser arbeitsgesellschaftlichen Aufbrüche stand das Idealbild einer ‚klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen‘ …, einer egalitären Kleinbürgergesellschaft, in der jeder über ein kleines produktives Privateigentum verfügen konnte, das ihm seine ökonomische Unabhängigkeit gewährleisten und die Chance eröffnen sollte, durch Fleiß und Tüchtigkeit sein individuelles Glück zu machen.“29 Beispielhaft wird diese Haltung in Schillers „Glocke“, wenn es heißt: „Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis, Ehrt den König seine Würde, Ehret u n s der Hände Fleiss“30. An diese individualisierende Aufwertung eigener regelmäßiger Arbeit knüpfte die protestantische Berufstheologie an: „Die reformatorische Überzeugung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen und 28 29 30
Marx/Engels (1969), 77. Große Kracht (2011), 3. Schiller (1799).
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der iustificatio sola fide ... setzte einen nachhaltigen Egalisierungsschub frei, in dessen Rahmen die weltliche Arbeit des Alltags als Gottesdienst geadelt und dem Gebet gleichgestellt werden konnte. In frommer Gesinnung verrichtete Berufsarbeit im jeweiligen Stand wurde so zur besonderen Pflicht und spezifischen Auszeichnung des Christenmenschen ...“31. Das bürgerliche Arbeitsversprechen hatte auch seine Kehrseite: Denjenigen, die in Armut lebten und die keinen Wohlstand erlangten, wurde der Wille, arbeiten zu wollen, abgesprochen und ihre Armut wurde als verdiente Strafe hingestellt. Die darauf aufbauende Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen hat von ihrer Wirkmächtigkeit bis hin zu heutigen „Faulenzer“-Debatten nichts eingebüßt. In der Praxis bestand statt einer Bürgergesellschaft freier Kleineigentümer längst die Masse der Arbeitenden, die nichts zu verkaufen hatten als ihre Arbeitskraft. Über das Wohlergehen der Einzelnen entscheiden im Kapitalismus anonyme Kräfte, undurchschaubare Entwicklungen der (Welt-)Wirtschaft und die Interessen der Kapitaleigentümer. Den westeuropäischen Gesellschaften gelang es besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in der fordistisch geprägten Phase des Kapitalismus, das arbeitsethische Emanzipations- und Integrationsversprechen auch auf die abhängig Beschäftigten auszuweiten. In dieser Phase wurden Normalarbeitsverhältnisse (für die Männer) konstruiert, die sozialstaatlich flankiert wurden und mit Unterstützung von ideologischen Modellen wie der besonders in Deutschland wirkmächtigen „sozialen Marktwirtschaft“32 zu einer hohen Akzeptanz der kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ beitrugen. Durch Erwerbsarbeit wurden und werden die Subjekte vergesellschaftet und sozial integriert. Wenn sie dem Zwang zur Erwerbsarbeit nachkommen, erhalten sie durch ihr Einkommen einen Anteil am gesellschaftlichen Einkommen, sozialen Schutz und soziale Anerkennung.33 Mit der Krise des Kapitalismus seit den 70er Jahren haben sich die Schwierigkeit, seine Arbeitskraft verkaufen zu können wie auf der anderen Seite der Zwang zur Erwerbsarbeit erheblich verschärft. Dadurch gehören Arbeitslose „nicht mit gleichen Rechten und vergleichbaren Handlungsund Beteiligungsmöglichkeiten, nicht mit gleicher Wertschätzung und in anerkannten sozialen Positionen der Gesellschaft an.“34 Auch 31 32 33 34
Große Kracht (2010), 2. Zu Anspruch und Wirklichkeit der „sozialen Marktwirtschaft“ vgl. Leibold (2010). Vgl. dazu Möhring-Hesse (2008), 7f. Möhring-Hesse (2008), 8.
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wenn kaum jemand eine Schmiede besitzt, ist der ideologische Diskurs des „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ bis heute einflussreich. Wie haben sich nun katholische Diskurse bzw. hat sich die katholische Sozialethik angesichts dieser bürgerlichen Arbeitsideologie positioniert? Hier kann nur ein kursorischer Überblick gegeben und keine Geschichte der „Theologie der Arbeit“ nachgezeichnet werden.35 Beim folgenden Überblick orientiere ich mich an jüngsten Arbeiten von Hermann-Josef Große Kracht.36 Im Frühmittelalter wurde die Verrichtung körperlicher Arbeit als göttlicher Auftrag zur Bestreitung des Lebensunterhaltes verstanden. Arbeit galt gerade in ihrer Beschwernis und Bürde als Heilmittel gegen die Laster der Trägheit und Begehrlichkeit. Auch im christlichen Hochmittelalter war Arbeit eine zu erfüllende Pflicht und eine Tätigkeit, die weder adelte noch schändete. Im Rahmen der hierarchischen Ständeordnung waren „für jeden Einzelnen der gesellschaftliche Status und die damit verbundenen Rechte und Pflichten durch die Geburt vorgegeben und durch die Vorstellung einer statischen, von Gott für alle Zeiten gesetzten Seinsordnung der Welt ontologisch abgesichert, so dass hier für eine theologische Würdigung individueller Mühen und Anstrengungen keinerlei Raum entstehen konnte.“37 Diesem ständischen Ordo-Gedanken bleiben die Katholiken lange verhaftet. Bis ins 20. Jahrhundert hinein spielte die mittelalterliche Almosenkonzeption, in der der gebende Reiche und der empfangende Arme füreinander wichtig sind, eine wichtige Rolle. Die Aufgabe des Armen bestand darin, für die Seele des Reichen zu beten; dadurch und nicht durch individuelle Arbeit erwarb er seine theologische Dignität. Auch Papst Leo XIII. propagierte in seiner Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891 ständisch-feudale Ordnungsmuster als vielversprechende Wege zur Lösung der sozialen Frage. Ein Charakter personaler Selbstentfaltung wird der Arbeit nicht zugesprochen. Die erste langandauernde Phase katholischer Reaktionen auf das bürgerliche Arbeitsversprechen bezeichnet Große Kracht insofern als „verlängertes Mittelalter“. Allerdings kam es seit Ende des 19. Jahrhunderts auch zu „industriegesellschaftlichen Aufbrüchen“: In einem sozialphilosophischen Klärungsprozess wurden alte sozialromantische Vorstellungen aufgegeben, dabei die kapitalistische Gesellschaft prinzipiell an35 36 37
Vgl. hierfür z. B. Biesinger/Schmidt (2010) und Sailer-Pfister (2005). Große Kracht (2010) und (2011). Große Kracht (2010), 2.
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erkannt. Den Arbeitenden standen dabei Schutzrechte und ein gerechter Familienlohn zu. Katholische Akteure waren maßgeblich an Konzeption und Aufbau des deutschen Wohlfahrtsstaats beteiligt und prägten und prägen dessen institutionelle Gestalt bis heute.38 Solidaristische Konzeptionen nahmen neue Erkenntnisse der Volkswirtschaftslehre auf und entwickelten ein Arbeitskonzept „in der Form eines von vorn herein volkswirtschaftlich-kollektiv angelegten Arbeitsverständnisses, das ... die nicht mehr eigenverantwortlich-individuell, sondern nur noch politisch-gemeinschaftlich zu lösenden Fragen nach den Bedingungen guter Arbeit unter den Komplexitätsbedingungen industrialisierter Arbeitsgesellschaften in den Blick zu nehmen versuchte.“39 Erst spät kommt es im Katholizismus zu theologischen Aufladungen der Arbeit. Maßgeblichen Anteil daran hatte die 1956 erschienene Schrift des Dominikaners Marie-Dominique Chenu „Pour une théologie du travail“, der darin eine schöpfungstheologisch-inkarnatorische Theologie der Arbeit entwarf. Chenu griff dabei anthropologische Annahmen von Marx über den Stellenwert produktiver Tätigkeit (s. o.) auf und bescheinigte der industriellen Arbeit einen schöpferischen Dienst an der Menschheit: Sie werde zum „Werkzeug der Befreiung“ und sei ein „Faktor der ‚Humanisation‘ [der Menschheit], sie ist der Angelpunkt ihrer ‚Sozialisation‘, kraft derer die Menschheit eine entscheidungsvolle Wegstrecke zu ihrer Vergesellschaftung und ihrer Kollektivität zurücklegt.“40 Diese Motive wurden im II. Vatikanischen Konzil aufgegriffen. In der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ heißt es: „Durch seine Gott dargebrachte Arbeit verbindet der Mensch sich mit dem Erlösungswerk Jesu Christi selbst, der, indem er in Nazareth mit eigenen Händen arbeitete, der Arbeit eine einzigartige Würde verliehen hat. Dadurch ergibt sich für jeden einzelnen sowohl die Verpflichtung zu gewissenhafter Arbeit wie auch das Recht auf Arbeit“ (GS 67). Die Enzyklika „Laborem exercens“ von Papst Johannes Paul II. bildet den (vorläufigen) Höhepunkt des neuen katholischkollektiven Arbeitskonzepts. Durch die Arbeit verwirkliche sich der Mensch erst selbst; die Arbeit habe prinzipiell Vorrang vor dem Kapital. „Maßstab für jedwede Arbeit ist die Würde ihres Subjekts, also der Person, des Menschen, der sie verrichtet. ... Ziel der Arbeit, und zwar 38
39 40
Zum besonderen Typ des katholischen „social capitalism“ vgl. van Kersbergen (1995). Große Kracht (2010), 11. Chenu (1956), 59.
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jedweder Arbeit, mögen es hochbedeutsame Dienste sein oder völlig eintönige oder nach der öffentlichen Meinung auf die niedrigste gesellschaftliche Schicht herabdrückende Schmutzarbeit, bleibt letztlich doch immer der Mensch selbst“ (LE 6,6). Der spezifische Charakter der Arbeit im Kapitalismus gerät dem Katholizismus nur selten in den Blick. Dass das Ziel der abhängigen Lohnarbeit real die Erzeugung von (Tausch)Wert ist und das Ziel der Produktion die Verwertung des Kapitals, nicht aber die Bedürfnisbefriedigung der Arbeitenden oder ihre Selbstverwirklichung und insofern die Postulate der katholischen Arbeitsethik nur unzureichend in der kapitalistischen Realität geerdet sind, wird in den theologischen Aufladungen von Arbeit weitgehend ausgeblendet. Grund dafür und für unrealistische Hoffnungen wie die Lösung der alten und neuen „sozialen Fragen“ durch Beteiligung der Arbeitenden am Unternehmen, ein Recht auf Arbeit oder den Staat als Garanten des Gemeinwohls lassen sich aus der Frontstellung des Katholizismus gegenüber der sozialistischen Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert erklären. Die Ablehnung von „Klassenkampf“ und „ökonomischem Materialismus“, die auch in „Laborem exercens“ noch anzutreffen ist, sowie die prinzipielle Akzeptanz des Kapitalismus und des privaten Eigentums haben weitgehend verhindert, dass der besondere Charakter des Kapitalismus und seiner entfremdenden Wirkungen auf die Arbeit wirklich verstanden werden konnte (auch wenn es immer kapitalismuskritische Strömungen und Aussagen bis hin zu „Laborem exercens“ gegeben hat). Maßgeblich dafür war und ist sicher auch eine ausgebliebene bis fehlinterpretierende Marx-Rezeption in katholischen Kreisen (die in der Arbeiterbewegung allerdings auch festzustellen ist). Während die theologische Aufladung von Arbeit große Ähnlichkeit mit Marx’ Konzept produktiver Tätigkeit aufweist, leidet sie unter der unzureichenden Analyse des Kapitalismus.
4. SCHLUSS Entgegen dem bürgerlichen Versprechen, dass Arbeit zu Selbstverwirklichung und Wohlstand führt, kam es mir darauf an, auf die Entfremdungsprozesse, die im Kapitalismus strukturell verankert sind, aufmerksam zu machen. Dass sie sich durch Arbeit selbst verwirklichen, bestimmt real das Bewusstsein nur weniger privilegierter Gruppen von Menschen, und diese zahlen dafür teilweise einen hohen
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Preis. Den meisten Arbeitenden ist sehr bewusst, dass abhängige Arbeit zwar notwendig ist, um ihre Existenz zu sichern und in die bestehende Arbeitsgesellschaft mit ihren Rechten und der durch sie vermittelten sozialen Anerkennung integriert werden zu können, ihre Begeisterung über die Qualität ihrer Arbeit hält sich jedoch in Grenzen.41 Dass der individuelle Wohlstand in einer vergesellschafteten kapitalistischen Industriegesellschaft von vielen unkontrollierbaren Faktoren der weltweiten kapitalistischen Entwicklung abhängt (nicht zu vergessen von der Stärke kollektiver Bewegungen) und nicht von der (ohnehin i. d. R. nicht messbaren) individuellen Leistung, haben viele Arbeitslose und sozial Schwächere im Lauf der Jahre und besonders in den letzten Jahrzehnten leidvoll erfahren. Die Erfahrungen von „Ausbeutung“ und „Entfremdung“ in der Arbeit sind zuletzt im französischen Raum verstärkt wahrgenommen und reflektiert worden.42 Für die katholische Sozialethik scheint es mir wichtig, in den Debatten die Unterscheidung von „produktiver menschlicher Tätigkeit“ und „Arbeit im kapitalistischen Zusammenhang“ zu beachten und diese nicht vorschnell in eins zu setzen. Die Sozialethik kann heute in ihrer Kritik von „Entfremdung“ an der Lebensrealität vieler Menschen anknüpfen; mit Marx wäre das Endziel eine „Aufhebung“ dieser entfremdeten Arbeit, um die Würde des Menschen in seiner Arbeit tatsächlich realisieren zu können. Erste Schritte auf dem Weg dahin liegen m. E. trotz aller Ambivalenzen im Einsatz für einen gerechten Lohn, der gerade heute angesichts prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Schaffung eines Niedriglohnsektors für viele Arbeitende in keiner Weise gegeben ist wie auch in der Ausweitung selbst bestimmter Flexibilität und autonom organisierter Arbeitsprozesse von abhängig Arbeitenden. Auf längere Sicht ist eine politische Bewegung für die Aufhebung der Arbeit notwendig. Diese erscheint heute kaum realistisch, angesichts der gravierenden Krisen des Kapitalismus können sich die Kräfteverhältnisse aber schneller verschieben als man prognostizieren kann. Für die katholische Sozialethik käme es heute darauf an, dem Glücksversprechen der Arbeit und der „Eigenverantwortlichkeit“ der Menschen für ihr Schicksal im Arbeitsprozess zu widersprechen und im Hier und Jetzt an einer Gesellschaft mitzuwirken, in der das „Reich der Freiheit“ wachsen kann.
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Vgl. Studien zur Arbeitszufriedenheit, z. B. aktuell IAQ (2011). Bourdieu et al. (1997), Dubet (2008).
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Stefan Leibold
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Gibt es ein Recht auf Arbeit? Eike Bohlken
Die Frage, ob es ein Recht auf Arbeit gibt, mag auf den ersten Blick unangemessen scheinen, formuliert doch die ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ mit Artikel 23 genau ein solches Recht. Und das moralische Gewicht, das mit diesem Sachverhalt verbunden ist, sollte nicht leichtfertig in Frage gestellt werden. Auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu übersehen, dass erstens die Forderung eines Rechts auf Arbeit in einer deutlichen, diskussionsbedürftigen Spannung zu den sozialwissenschaftlichen Diagnosen eines Endes der Arbeitsgesellschaft und des Abschieds vom Ideal der Vollbeschäftigung steht und zweitens die inhaltliche Bestimmung des Rechts auf Arbeit in Artikel 23 der Menschenrechtserklärung ziemlich vage ausfällt. Es ist daher sinnvoll, zu überprüfen, ob man entweder dem Recht auf Arbeit einen überzeugenderen Zuschnitt geben kann oder ob es sich um einen Anspruch handelt, dem zu Unrecht der Status eines allgemeinen Menschenrechtes zuerkannt wird. Prüfungsbedürftig ist insbesondere die enge Koppelung von „Arbeit“, „Selbstachtung“ und „Menschenwürde“, die die philosophische und theologische Diskussion um ein Recht auf Arbeit prägt. Die im Folgenden vorgenommene Prüfung vollzieht sich in drei Schritten: In einem ersten Schritt werden verschiedene Möglichkeiten der inhaltlichen Bestimmung des Rechts auf Arbeit erörtert. Anschließend werden zweitens Probleme diskutiert, die sich aus den möglichen Umsetzungen als subjektiv-öffentliches oder objektivöffentliches Recht ergeben. In einem dritten Schritt stelle ich eine Alternative zur Diskussion: Unter den gegenwärtigen historischen Bedingungen scheint es plausibler, von einem Menschenrecht auf Grundsicherung auszugehen, dessen grundrechtliche Gewährleistung eher von einem (bedingungslosen) Grundeinkommen (Bürgergeld) als von einem Recht auf Arbeit zu erwarten ist.
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1. DER INHALT EINES RECHTS AUF ARBEIT 1.1 Das Recht auf Arbeit in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ Der mit der Überschrift „Das Recht auf Arbeit“ versehene Artikel 23 der ‚Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte‘ beinhaltet neben dem Recht auf Arbeit das Recht auf „freie Berufswahl“, das Recht auf „freie und gerechte Arbeitsbedingungen“ sowie „auf Schutz vor Arbeitslosigkeit“. Gemäß der vorherrschenden gesetzgeberischen Praxis wird das nicht näher inhaltlich bestimmte Recht auf Arbeit jedoch nicht als einklagbares Recht behandelt, und auch der zugesprochene „Schutz vor Arbeitslosigkeit“ wird nicht als Sicherung oder gar Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern eher im Sinne eines Schutzes vor willkürlichen Kündigungen oder sozialer Auffangmechanismen für die einmal arbeitslos Gewordenen behandelt. Ähnlich wird die Koppelung von Arbeit und Existenzsicherung in Ziffer 3 nur demjenigen zugesichert, „der arbeitet“, nicht aber dem, der gerne Arbeit hätte.1 Artikel 23 enthält demnach gar nicht das, was man eigentlich von einem Recht auf Arbeit erwarten würde, nämlich das Recht darauf, sich seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen zu können. Er ist weit von der einklagbaren Garantie eines Arbeitsplatzes entfernt. Der Sache nach bietet er mit dem Recht der freien Berufswahl und den ergänzenden Schutzbestimmungen lediglich ein sehr viel unverbindlicheres Recht zur Arbeit als Abwehrrecht gegen staatliche Berufsverbote sowie wichtige Forderungen zur menschenwürdigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen, des Kündigungsrechts sowie der Absicherung von Arbeitslosen. Für ein seinem Namen gerecht werdendes Recht auf Arbeit bedürfte es dagegen einer verbindlicheren und anspruchsvolleren Fassung. Eine solche Fassung würde allerdings massive Probleme nach sich ziehen, wie sich schon an einem kurzen historischen Vergleich von Umsetzungen des Rechts auf Arbeit in den Verfassungen der Weimarer Republik, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik veranschaulichen lässt.
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Im genauen Wortlaut heißt es: „Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.“
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1.2 Das Recht auf Arbeit in der deutschen Rechtsgeschichte Die Weimarer Verfassung von 1919 enthielt mit Artikel 163 ein „Recht auf Arbeit“. Im Gegenzug zu der „sittliche[n] Pflicht“, die eigenen „geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“, wurde dieses Recht folgendermaßen formuliert: „Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt.“ Damit war zwar die Garantie eines Arbeitsplatzes als Rechtsgut benannt, dessen Realisierung aber in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: Erstens wurde es nur in der schwachen Modalität eines Sollens, d. h. in Form eines moralischen Appells, an Politik und Gesellschaft ausgesprochen. Zweitens konnte der moralische Anspruch auf dieses Gut durch die Ersatzleistung einer wirtschaftlichen Existenzsicherung abgegolten werden. Im Sinne der Weimarer Verfassung war das Recht auf Arbeit daher nicht mehr als ein „erstrebenswertes Ziel“ und „lediglich“ Gegenstand einer positiven „Fürsorgepflicht“ des Staates.2 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kennt trotz der Ratifizierung der UNO-Deklaration der Menschenrechte kein explizites (Grund-)Recht auf Arbeit.3 Der Verzicht auf einen entsprechenden Artikel lässt sich als bewusste Absetzung von der Weimarer Verfassung erklären. Bei der Formulierung des Grundrechtsteils der bundesrepublikanischen Verfassung wurde darauf geachtet, dass er keine moralischen Appelle enthält, sondern nur Rechtsnormen, die gerichtlich einklagbar sind.4 Allerdings verlangt das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ von 1967 Bund und Ländern ab, u. a. für einen hohen Beschäftigungsstand zu sorgen. Damit geht das Grundgesetz nicht über die in der Weimarer Verfassung genannten moralischen Fürsorgeansprüche hinaus. Aus der historischen Erfahrung, dass den katastrophalen Folgen der Massenarbeitslosigkeit durch ein Recht auf Arbeit nicht wirksam begegnet werden konnte, wurde nicht die Konsequenz gezogen, dieses verbindlicher, d. h. einklagbar zu machen. Um keine falschen Erwartungen zu wecken, verzichtete man lieber ganz darauf. 2 3
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Gürtler (2000), 871. Ein Recht auf Arbeit findet sich allerdings in den Landesverfassungen von Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bremen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Recht_auf_Arbeit; Zugriff 11.01.2012.
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Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik enthielt hingegen mit Artikel 24 ein echtes Recht auf Arbeit. Dieses stellte „das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation“ in Aussicht. Die damit implizierte Vollbeschäftigung war allerdings nur um den Preis von Arbeitsverhältnissen möglich, in denen es zum Teil nichts oder wenig Sinnvolles zu tun gab. Und die „freie Wahl“ des Arbeitsplatzes erwies sich faktisch weniger an die „persönliche Qualifikation“ als an politisch genehmes Verhalten gekoppelt. Die in dieser Gegenüberstellung bereits anklingenden Unterschiede zwischen verschiedenen Verständnissen und Umsetzungsstrategien sollen nun durch weitere historische und systematische Überlegungen ergänzt und vertieft werden.
1.3 Der Zusammenhang von Arbeit, Selbsterhaltung und Selbstachtung Die Vorstellung, dass es ein (Menschen-)Recht auf Arbeit gibt, fußt historisch auf einer zweifachen Grundlage. Sie basiert zum einen auf der weltanschaulichen These, dass Arbeit und Selbsterhaltung und damit auch Arbeit und Selbstachtung untrennbar miteinander verbunden sind. Zu dieser allgemeinen religiös-weltanschaulichen Komponente kommt als zweite Grundlage des Rechts auf Arbeit die Erfahrung der zyklisch auftretenden Massenarbeitslosigkeit und des damit verbundenen Elends in den Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese zweite Grundlage betrifft das Verhältnis von Kapital und Arbeit, von Menschen, die (Groß-)Eigentümer von Produktionsmitteln sind, und solchen, die weitgehend besitzlos sind und auf dem Markt nur ihre Arbeitskraft anbieten können. So legt Ferdinand Tönnies in seinem 1935 veröffentlichten Aufsatz ‚Das Recht auf Arbeit‘5 diesem die Zielsetzung zugrunde, die Macht des Kapitals einzu-
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Der Text, der über weite Strecken ein Referat des Buches „Ar Arbeidslaeren: Retten til Arbeide“ (Oslo 1933) des norwegischen Volkswirts und Soziologen Ewald Bosse darstellt, wurde in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ veröffentlicht, die nach der Emigration von Horkheimer und Adorno in Paris erschien. Mit seinem ersten Satz benennt Tönnies das emanzipatorische Potenzial des Rechts auf Arbeit: „Recht auf Arbeit ist eine Formel, die sich dadurch empfiehlt, dass sie Ansprüchen, die sonst dreist und willkürlich erscheinen würden, ein Selbstvertrauen auf ihre moralische Begründung verleiht, das im Kampfe der Parteien und auch der wissenschaftlichen Meinungen umso wertvoller sich geltend macht, je mehr das Recht als solches beach-
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schränken. Das Recht auf Arbeit habe eine wichtige Korrektivfunktion als „Korrelat zur einseitigen Machtstellung des Eigentumsrechts“6. Seiner ideengeschichtlichen Herkunft nach beanspruche es den Status eines „natürliche[n] Recht[s] auf freie Betätigung der Arbeitskraft, die ein Mensch sein eigen nennt, gegenüber den tatsächlichen Hemmungen“7. Gemäß dieser Zielsetzung wäre das Recht auf Arbeit als einklagbare Forderung an Staat und Wirtschaft zu verstehen, so viele Arbeitsplätze wie möglich zu schaffen. Sein Inhalt müsste in dem „rechtsförmige[n] Anspruch auf Eingliederung in das Arbeitsleben einer Gesellschaft“8, d. h. in dem Anspruch auf einen Arbeitsplatz bestehen. Systematisch betrachtet kann dem „Besitz“ eines Arbeitsplatzes in dreifacher Hinsicht Bedeutung zugeschrieben werden: Wer Arbeit hat, ist erstens über den erzielten Verdienst in der Lage, sich selbst und Familienangehörige mit Nahrungsmitteln und weiteren lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Für diejenigen, die nicht über ein ererbtes finanzielles Vermögen verfügen, ist Erwerbsarbeit Mittel zur Existenzsicherung.9 Über die Sicherung der bloßen Existenz hinaus spielt der Besitz eines Arbeitsplatzes zweitens eine wichtige Rolle für die Ermöglichung sozialer und kultureller Teilhabe: Dies beginnt mit der bloßen Integration in die Arbeitswelt als einem vielfältigen Netz sozialer Beziehungen, in dem die Arbeitenden mit anderen Arbeitenden, Kunden und Auftraggebern oder anderen durch die berufliche Tätigkeit berührten Menschen verbunden sind; Erwerbsarbeit beinhaltet in den meisten Fällen eine Vielzahl sozialer Kontakte, deren Wegfall durch den Verlust des Arbeitsplatzes oder durch Pensionierung von vielen als Verlust erlebt wird.10 Auch über die Berufswelt hinaus bildet Lohnarbeit oft einen wichtigen Faktor für soziale Teilhabe. Das erziel-
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tet und der Staat wesentlich als zur Verwirklichung des Rechts gedacht wird“ (Tönnies (1998), 428). Tönnies (1998), 433. Tönnies (1998), 429. Gürtler (2000), 868. Eine nicht zu vernachlässigende Ausnahme bilden allerdings die sogenannten „working poor“, deren durch Arbeit erzieltes Einkommen nicht zur Versorgung mit dem Lebensnotwendigen ausreicht (absolute Armut) oder unterhalb eines gesellschaftlich bestimmten „Existenzminimums“ bleibt (relative Armut). Als problematisch erweist sich das Fehlen der durch Arbeit möglichen sozialen Inklusion insb. für Migranten und Flüchtlinge, die z. T. mit Arbeitsverboten belegt oder in ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt massiven Einschränkungen unterworfen werden.
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te Einkommen bietet die Möglichkeit, in der Freizeit an gemeinsamen kulturellen Praktiken teilzunehmen (von Kinobesuch und Kneipengang bis zur Mitgliedschaft in Vereinen). Der Besitz eines Arbeitsplatzes ist zudem von erheblicher Bedeutung für das soziale Ansehen eines Menschen. Auf der einen Seite schlagen der ausgeübte Beruf selbst und die mit dem erzielten Einkommen erworbenen und konsumierten Güter (Statussymbole) positiv wie negativ zu Buche. Auf der anderen Seite fallen diejenigen, die keine Arbeit haben, nicht nur aus vielen sozialen Praktiken und Beziehungen heraus, sie werden zusätzlich als ‚arbeitslos‘ stigmatisiert, ein Etikett, das in der Leistungsgesellschaft leicht mit Faulheit, mangelnder Eigeninitiative und – zum Teil von den Betroffenen selbst – mit eigenem Verschulden verbunden wird. In engem Zusammenhang mit den Aspekten der Existenzsicherung (Selbstversorgung) und der soziokulturellen Teilhabe bildet der Besitz eines Arbeitsplatzes drittens für viele Menschen eine wichtige Quelle der Selbstverwirklichung und eines positiven Selbstwertgefühls (Selbstachtung). Die Art und Weise, wie Arbeit als Existenzsicherung (1) und soziale Teilhabe durch Erwerbsarbeit (2) gestaltet sind, kann so aussehen, dass Erwerbsarbeit als Selbstverwirklichung und damit als wichtige Komponente der Selbstachtung fungiert. Dies ist jedoch nicht per se der Fall. Auf der einen Seite können sowohl Arbeitsprozesse und -bedingungen als auch die Bindung soziokultureller Teilhabe an Beruf und Einkommen als unbefriedigend und entfremdend erlebt werden. Dabei wirken objektive und subjektive Faktoren zusammen – von „unmenschlichen“ z. B. stark gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen bis hin zu Vorstellungen einer work-life-balance, die je nach Gesellschaftsform und Kultur, aber auch individuell sehr verschieden ausfallen können. Auf der anderen Seite steht die Beobachtung, dass es Menschen gibt, denen es gelingt, auch unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit oder gar absoluter Armut ein Leben in Würde und Selbstachtung zu führen. Allerdings sollten Gegenbeispiele dieser Art nur mit Vorsicht gebraucht und zurückhaltend interpretiert werden. Die Tatsache, dass es Menschen möglich ist, auch unter objektiv „unmenschlichen“ oder „menschenunwürdigen“ Bedingungen ihre Selbstachtung zu bewahren, zeigt nicht, dass die betreffenden Bedingungen auch anderen zugemutet werden können und darf nicht zur Rechtfertigung moralisch inakzeptabler Verhältnisse herangezogen werden. Was sie zumindest andeutet, ist, dass der Zusammenhang zwischen Erwerbs-
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arbeit und Selbstachtung oder Selbstverwirklichung nicht intrinsisch ist. Abzüglich der genannten Einschränkungen kann der „Besitz“ eines Arbeitsplatzes damit als ein wichtiges soziales Gut, vielleicht sogar als Grundgut verstanden werden. Zu den positiven Auswirkungen für die betreffenden Individuen kommen erhebliche positive Wirkungen einer hohen Beschäftigungsquote für das Gemeinwesen: Dem auf Seiten des Staates erhöhten Steueraufkommen und der durch die Sozialabgaben vergrößerten Verteilungsmasse in den Systemen der sozialen Sicherung entspricht auf Seiten der Bürger(innen) eine Reduzierung sozialer Bedürftigkeit. Ist der „Besitz“ eines Arbeitsplatzes aber tatsächlich ein Grundgut, das durch ein Recht auf Arbeit zu schützen ist?
1.4 Arbeit als Grundgut? Um dies mit Recht behaupten zu können, müsste gezeigt werden, dass Erwerbsarbeit eine notwendige Bedingung einer würdevollen menschlichen Existenz darstellt. In modernen, insbesondere in sozialstaatlichen Gesellschaften scheint dies aber nicht der Fall zu sein: Kinder, Rentner(innen), Hausfrauen und -männer, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger(innen) werden teils vom Staat, teils von Partnern und Verwandten mit den nötigen materialen Gemeinwohlgütern versorgt, ohne (aktuell) dafür zu arbeiten. Schaut man genauer hin, spielen im Hintergrund zwar zumeist Arbeitsverhältnisse eine Rolle: Die Empfänger(innen) von Renten und Arbeitslosengeld haben selbst ein ganzes Berufsleben oder zumindest einige Jahre gearbeitet und dadurch Versorgungsansprüche erworben. Hausfrauen und -männer sind keinesfalls untätig, sondern leisten im Haushalt sogenannte Reproduktionsarbeit; diese Arbeit wird allerdings offiziell nicht bezahlt und gilt nicht als Teil der produktiven Ökonomie. Hausfrauen und -männer haben zwar „zu tun“, besitzen aber gemäß der üblichen Verwendungsweise des Wortes keinen Arbeitsplatz. Kinder gehen grundsätzlich keiner beruflichen Arbeit nach; ähnlich wie bei Rentnern(innen) könnte man aber von einer phasenverschobenen Berufstätigkeit ausgehen. Dies würde bedeuten, dass sie zwar in ihrer Kindheit nicht arbeiten, aber als Jugendliche oder Erwachsene ins Berufsleben eintreten und dann eigene Partner und/oder Kinder sowie eventuell auch ihre Eltern versorgen.
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Spätestens bei der Gruppe der Sozialhilfeempfänger(innen) wird jedoch deutlich, dass der Zusammenhang zwischen Existenzsicherung und dem Besitz eines Arbeitsplatzes in modernen Gesellschaften nicht mehr ein notwendiger ist. Auch wenn es angesichts einer hohen Beschäftigungsquote11 überzogen scheinen mag, von einem Ende der Arbeitsgesellschaft zu sprechen, ist unverkennbar, dass der Zusammenhang zwischen Arbeit und dem Anspruch auf die Versorgung mit existenznotwendigen Gütern faktisch für ganze Gruppen außer Kraft gesetzt ist. Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass es eine Amphibolie des Arbeitsbegriffs gibt, die sich in der unzulässigen Gleichsetzung von „Erwerbsarbeit“ bzw. „Besitz eines Arbeitsplatzes“ und „Arbeit“ manifestiert. Diese Gleichsetzung ist deshalb problematisch, weil sie eine Fetischisierung und Idealisierung der Erwerbsarbeit befördert, indem sie andere Formen von Arbeit, z. B. reproduktive und ehrenamtliche Arbeit, unter den Tisch fallen lässt oder ihnen die volle Anerkennung verweigert.12 Bestehen mithin begründete Zweifel an der faktischen Koppelung eines Rechts auf Arbeit und einer Sicherung der eigenen Existenz, sollen die beiden folgenden Abschnitte klären, wie es in normativer Hinsicht um diesen Zusammenhang bestellt ist. Zu diesem Zweck sollen zunächst die verschiedenen Möglichkeiten einer (grund-) rechtlichen Kodifizierung des Rechts auf Arbeit diskutiert werden.
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Dass die Beschäftigungsquote in Deutschland derzeit hoch ausfällt, ist allerdings zum Teil der Tatsache geschuldet, dass auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (Mini- und Ein-Euro-Jobs) sowie Teilzeit-, Kurz- und Leiharbeit einbezogen werden. Eine Systematik, die diese Verkürzung vermeiden will, sollte auf einer obersten Ebene von einem „Tun“ ausgehen, das in einen selbstzweckhaften Bereich (Muße) und einen instrumentell-zweckgebundenen Bereich (Arbeit) unterteilt werden kann. Innerhalb des instrumentell-zweckgebundenen Bereiches könnte dann näher zwischen beruflicher und nicht beruflicher Arbeit unterschieden werden. Auf der untersten Ebene wäre schließlich die Unterscheidung zwischen produktiver, reproduktiver und ehrenamtlicher Arbeit zu verorten. Ehrenamtliche Arbeit ist schon per definitionem dem Bereich der nicht beruflichen Arbeit zuzuschlagen; die Zuordnung produktiver und reproduktiver Arbeit ist hingegen von historisch-materialen Gesichtspunkten abhängig: So könnten Arbeiten wie z. B. elterliche Erziehung, die bisher als reproduktiv eingestuft werden, weil sie nicht beruflich organisiert und offiziell bezahlt sind, durchaus als berufliche Tätigkeiten anerkannt und entsprechend finanziell gratifiziert werden.
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2. STRATEGIEN UND PROBLEME DER RECHTLICHEN KODIFIZIERUNG DES RECHTS AUF ARBEIT Systematisch betrachtet kann ein Recht auf Arbeit entweder als subjektiv-öffentliches Recht oder als objektiv-öffentliches Recht verstanden und entsprechend kodifiziert werden.13 Als subjektiv-öffentliches Recht wäre es ein einklagbares Individualrecht auf die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes. In letzter Konsequenz müsste ein solches Recht den Anspruch auf Vollbeschäftigung bzw. auf „Arbeit für alle“ beinhalten.14 Als objektiv-öffentliches Recht wäre der Inhalt eines Rechts auf Arbeit hingegen einfacher zu gewährleisten. Es würde kein einklagbares Individualrecht darstellen, sondern stünde lediglich für den allgemeinen Anspruch auf eine „angemessene“ Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Von einer solchen Politik könnte bereits dann gesprochen werden, wenn die Zugänge zum Arbeitsmarkt und das Bildungswesen (start-)chancengerecht gestaltet sind und ein hoher Beschäftigungsstand herrscht. Das Recht auf Arbeit wäre gemäß diesem Verständnis „ein positives Leistungs- und Teilhaberecht, das dem Staat Eingriffe in die ökonomische Sphäre abfordert und ihm Verantwortung für die gesellschaftliche Integration zuschreibt“15. Beide Strategien einer rechtsförmigen Umsetzung des Menschenrechts bringen jedoch in normativer Hinsicht erhebliche Probleme mit sich. Als subjektiv-öffentliches Recht ist das Recht auf Arbeit in der Wirtschaftsordnung der freien Marktwirtschaft bzw. in dem hinter dieser stehenden Modell des liberalen Rechtsstaats nicht durchsetzbar.16 Denn erstens widerspräche das Recht auf Arbeit verfassungsrechtlich den Rechten der Freiheit des Eigentums und der freien Berufswahl sowie der Vertrags- und Gewerbefreiheit, sofern staatliche Instanzen
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Vgl. Gürtler (2000), 870f. Bei der Forderung der Vollbeschäftigung gilt es allerdings zu berücksichtigen, an welchen Arbeitsverhältnissen sie gemessen wird, da Arbeitszeiten und Intensität der Arbeit historisch stark variieren. So wäre zu klären, ob auch mit einem großen Anteil von Teilzeit- oder Kurzarbeit von „Vollbeschäftigung“ gesprochen werden kann oder ob für jede(n) eine unbefristete Vollzeitstelle vorgesehen werden müsste. Wenn man die erste Variante für zulässig hält, wäre die Forderung nach „Arbeit für alle“ erheblich leichter umzusetzen. Sie müsste nicht notwendig die Schaffung neuer Arbeitsplätze einschließen, sondern könnte auch durch gerechte Teilung der vorhandenen Arbeit erfüllt werden. Gürtler (2000), 870. Gürtler spricht treffend von einer „strukturelle[n] Bürde [...], die alle sozialen Grundrechte charakterisiert“ (Gürtler (2000), 871); vgl. auch Böckenförde (1991), 161.
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tatsächlich ernsthaft versuchen würden, es als ein einklagbares Recht zu gewährleisten. Zwar könnte der Staat ein Recht auf Arbeit im Sinne eines Rechts auf einen Arbeitsplatz in den Katalog der Grundrechte aufnehmen. Die Durchsetzung dieses Rechtes würde jedoch mit klassischen liberalen Abwehrrechten wie der Freiheit des Eigentums oder der Berufsfreiheit kollidieren – ein Konflikt, der sich auch durch eine ‚Sozialpflichtigkeit des Eigentums‘ nicht aus der Welt schaffen lässt. Solange der Vorrang des liberalen Rechtsstaats vor dem Sozialstaat gewahrt bleibt, fehlt dem Recht auf Arbeit die Justiziabilität. Die Aufgabe dieses Vorrangs würde hingegen mit der planwirtschaftlichen Einrichtung und Vergabe von Arbeitsplätzen bis an die Fundamente der freien Marktwirtschaft gehen. Wie das Beispiel des Rechts auf Arbeit im „real existierenden Sozialismus“ der DDR verdeutlicht, ist eine solche Abkehr deskriptiv wie normativ mit gravierenden Problemen verbunden: Das System als Ganzes war totalitär und paternalistisch. Entgegen seinem Anspruch unterdrückte es die Freiheit seiner Bürger. Diese Differenz zeigte sich auch im Hinblick auf das Recht auf Arbeit: Zum einen war der Zugang zur akademischen Bildung sowie zu anspruchsvolleren Arbeiten an politisch opportunes Verhalten gebunden. Zum anderen erwies sich die offizielle Vollbeschäftigung bei näherem Hinsehen als „verdeckte Arbeitslosigkeit“17, weil viele Menschen zwar nominell einen Arbeitsplatz besaßen, faktisch aber ohne echte Beschäftigung waren. Hinzu kam, dass es trotz zunächst hoher politischer Motivation nicht gelang, eine funktionsfähige wirtschaftliche Anreizstruktur zu schaffen. Die Umsetzung des (Menschen-) Rechts auf Arbeit als subjektiv-öffentliches (Grund-)Recht scheint mithin kein gangbarer Weg zu sein, da sie sowohl in der freien Marktwirtschaft als auch in der Systemalternative Planwirtschaft auf gravierende Hindernisse stößt. Als objektiv-öffentliches Recht würde ein Recht auf Arbeit weniger Anstrengungen von Seiten des Staates erfordern. Es beschränkte sich, wie bereits oben ausgeführt, auf eine allgemeine Fürsorgepflicht, die durch eine angemessene Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zu erfüllen wäre. Eine solche Politik könnte weitgehend darin bestehen, positive und negative Anreize zu setzen, um so indirekt auf einen möglichst hohen Beschäftigungsstand hinzuwirken. Der Vorteil dieser Art der „Kodifizierung“ eines Rechts auf Arbeit besteht darin, paternalistische Verletzungen des Eigentumsrechts zu vermeiden. Es ist jedoch
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fraglich, ob überhaupt noch von einem Recht auf Arbeit gesprochen werden kann, wenn dieses Recht nicht einklagbar ist und nur unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen für einen hinreichend großen Teil der Betreffenden gewährleistet werden kann. Hier greifen die eingangs genannten Probleme einer Massenarbeitslosigkeit, die nicht katastrophal über einzelne Gesellschaften hereinbricht, sondern als strukturell bedingter Effekt einer auf Rationalisierung und globale Konkurrenz setzenden Marktwirtschaft systemisch auftritt. Es ist genau dieses Phänomen, das Sozialwissenschaftler dazu veranlasst hat, von einem Ende der Arbeitsgesellschaft zu sprechen und die Hoffnung auf Vollbeschäftigung für illusorisch zu erklären.18 Wider besseres Wissen daran festzuhalten, erscheint aus der Perspektive derjenigen, die in prekären Jobverhältnissen stecken oder keine reelle Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben, zynisch und beschämend. Die These, dass das von der Politik weitgehend praktizierte Festhalten an den Konzepten der Arbeitsgesellschaft und der Vollbeschäftigung wider besseres Wissen oder zumindest gegen die Möglichkeit eines solchen erfolgt, bestätigt sich, wenn man die Hoffnungen auf eine wachsende Wirtschaftsleistung, die eine weltweite Vollbeschäftigung gewährleisten könnte, mit den ökologischen Grenzen des Wachstums konfrontiert und das parallele Wachstum der Weltbevölkerung mit einbezieht. Das Bild fällt noch negativer aus, wenn man berücksichtigt, dass der bisherige Index wirtschaftlichen Wachstums, das Bruttoinlandsprodukt, die Zerstörung lebenszuträglicher Umweltbedingungen in doppelter Weise als „produktiv“ verbucht: erstens in dem zerstörerischen Akt selbst, zweitens in den gelingenden wie misslingenden Versuchen, der Zerstörung durch „Reparaturen“ oder ausgleichende Maßnahmen Herr(in) zu werden. Nachdem es für eine grundrechtliche Sicherung des Rechts auf Arbeit in deskriptiver wie in normativer Hinsicht nicht gut aussieht, möchte ich abschließend einen Vorschlag als Alternative diskutieren, der auf den ersten Blick nicht jedem als solche erscheinen mag: das bedingungslose Grundeinkommen.
Folgt man dieser Einschätzung, ergibt sich die Pointe, dass das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit nicht nur den historischen Ausgangspunkt, sondern – unter gewandelten historischen Bedingungen – auch das Ende eines Rechts auf Arbeit markiert.
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3. DAS BEDINGUNGSLOSE GRUNDEINKOMMEN ALS ALTERNATIVE ZU EINEM RECHT AUF ARBEIT? Als Alternative soll hier ein subjektiv-öffentliches Recht auf Grundsicherung vorgeschlagen werden, das durch ein Bürgergeld in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens gewährleistet werden könnte. Allerdings bedarf der Begriff der Bedingungslosigkeit einer näheren Erläuterung bzw. Einschränkung: Das von verschiedener Seite postulierte Grundeinkommen ist insofern „bedingungslos“, als es weder an eine Prüfung der Besitzverhältnisse noch an den Nachweis der Bereitschaft, eine Erwerbsarbeit auszuüben, geknüpft ist. Dieser Abkoppelung von zentralen Vorstellungen der Leistungs- bzw. Arbeitsgesellschaft wird vorgeworfen, dass sie objektiv ungerecht sei oder zumindest die moralischen Intuitionen vieler Menschen verletze: Wie kann es gerecht sein, dass manche Mitglieder eines Gemeinwesens arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während andere von den Früchten des Sozialprodukts ernährt werden, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen? Dieser Einwand scheint auf den ersten Blick plausibel; seine Plausibilität beruht jedoch auf der oben kritisierten Amphibolie des Arbeitsbegriffs, der stillschweigenden Gleichsetzung von „Arbeit“ und „Erwerbsarbeit“. In der Tat wäre es ungerecht, wenn einige Mitglieder des Gemeinwesens insofern auf Kosten der Allgemeinheit leben würden, als sie Leistungen empfangen würden, ohne – die Fähigkeit dazu vorausgesetzt19 – mindestens bereit zu sein, dafür auch etwas zurückzugeben. Gefordert ist damit aber lediglich die Bereitschaft, an der Produktion, Bereithaltung und langfristigen Sicherung von basalen Gemeinwohlgütern mitzuwirken. Unter diesen Gütern verstehe ich diejenigen materiellen und immateriellen Güter, die ein Mensch als in Gemeinschaft lebendes Natur-KulturWesen braucht, um sich in seiner Existenz zu erhalten. Gemäß den „naturhaften“ und den kulturellen Anteilen des Menschen handelt es sich dabei zum einen um Güter, die das physische Überleben betreffen – Nahrungsmittel, sauberes Trinkwasser, Kleidung, Behausung, aber auch eine rudimentäre medizinische Versorgung, lebenszuträgliche Umweltbedingungen und eine Rechtsordnung, die das Recht auf Es wäre ebenso sinnlos wie unfair, die Korrespondenz von Leistungen und Gegenleistungen bzw. von Rechten und Pflichten auch bei Mitgliedern des Gemeinwesens in Anschlag zu bringen, die, wie z. B. Menschen mit Behinderung, empfangene Unterstützung gar nicht oder nur eingeschränkt in der handelsüblichen Währung ‚produktiver Leistungen‘ vergelten können.
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Leib und Leben schützt. Zum anderen beinhaltet der hier nur skizzierte Begriff eines basalen Gemeinwohls20 die Sicherung der kulturellen Autonomie des Menschen. Hierzu bedarf es einer basalen Schulbildung, die Grundkenntnisse über verschiedene universell verstehbare Kulturbereiche und über die Art und Weise, sich frei in diesen Bereichen zu betätigen, vermittelt, sowie der dafür nötigen Bildungsinstitutionen. Über die Art und Weise, in der diese Mitwirkung zu erfolgen hat, – ob durch produktive, reproduktive oder ehrenamtliche Arbeit – ist damit jedoch noch nichts gesagt. Ein zweiter wichtiger Einwand gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen lautet, dass Arbeitslosigkeit und die Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung häufig als erhebliche Einschränkung des Selbstwertgefühls erlebt werden und langfristig oft zu einer Passivierung der Betroffenen führen. Diese Passivierung ist jedoch zu nicht unerheblichem Anteil an die Art gebunden, wie staatliche Transferleistungen „gewährt“ werden. Das bürokratische System von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bringt die darauf angewiesenen Bürger leicht nicht nur in die Rolle eines passiven Empfängers, sondern auch in die eines vom „Wohlwollen“ der Beamten(innen) abhängigen Bittstellers, da es gerade für Menschen aus bildungsfernen Schichten oft eine nicht unbeträchtliche Hürde darstellt, von ihren Rechten auf Widerspruch oder Kontrollklagen auch tatsächlich Gebrauch zu machen. Der Vorwurf der Passivierung spricht daher nicht per se für Kürzungen oder gar eine Abschaffung öffentlicher Unterstützung. Gerade das Modell des bedingungslosen Grundeinkommens könnte der Passivierung und einer Abhängigkeitsmentalität der Bürger ebenfalls, vielleicht sogar besser entgegenwirken.21 Da die faktische Realisierung eines Rechts auf Arbeit für den Einzelnen in der freien Marktwirtschaft oft nicht gesichert ist, fordern die Vertreter einer Koppelung von „Arbeit“ und „Selbstachtung“ als Gegenleistung für sozialstaatliche Leistungen für Arbeitslose keine Pflicht zur Arbeit, sondern lediglich die Bereitschaft, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, und sich durch (Aus-)Bildung so Für eine ausführliche Darstellung vgl. Bohlken (2011), 202-209. Allerdings kann auch diesem Modell entgegengehalten werden, dass es mit der Vorstellung aktiver und autonomer Mitglieder des Gemeinwesens auf einer zu idealistischen und zu einseitig an den Selbstverwirklichungsidealen des Bildungsbürgertums ausgerichteten Auffassung beruht. Hinzu kommen pragmatische Einwände hinsichtlich der Umsetzbarkeit einer grundlegenden Transformation des gesamten Sozialsystems und der Finanzierbarkeit einer solchen Umstellung, die einer sorgfältigen Prüfung und öffentlichen Diskussion bedürfen.
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gut wie möglich für diesen zu qualifizieren. So wird im Sinne einer bloßen employability von einer Pflicht für Jugendliche gesprochen, „sich zum künftigen Wirtschaftsbürger sowohl zu entwickeln als auch entwickeln zu lassen“22. Dem Argument, es sei zynisch, allen Mitgliedern des Gemeinwesens eine solche Qualifikationsbereitschaft für das Berufsleben abzuverlangen, wenn absehbar ist, dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz nie oder allenfalls kurzzeitig eine Arbeit finden wird, kann noch entgegengehalten werden, dass die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt auch als Anregung zum Erwerb und zur Entfaltung von Fähigkeiten und Qualifikationen diene und daher unabhängig vom späteren beruflichen Erfolg im wohlverstandenen Eigeninteresse liege. Dies ändert aber nichts daran, dass das auf der Gegenseite zu postulierende objektiv-öffentliche Recht auf Arbeit absehbar für immer mehr Menschen zwangsläufig ins Leere führt.
4. FAZIT Mein Fazit lautet, dass die Rede von einem Recht auf Arbeit letztlich in die Irre führt. Sofern es, wie sein Name nahelegt, den Anspruch auf einen Arbeitsplatz beinhaltet, lässt es sich entweder gar nicht oder nur unzureichend rechtlich verwirklichen: Als subjektiv-öffentliches Recht kollidiert das Recht auf Arbeit mit den ebenfalls als Grundrechten geschützten Abwehrrechten der Freiheit des Eigentums und/oder der freien Berufswahl. Auch als objektiv-öffentliches Recht muss es angesichts einer Vermehrung der Weltbevölkerung auf der einen und der absehbaren Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums auf der anderen Seite zwangsläufig hinter dem zurückbleiben, was es verheißt. Aufgrund der Amphibolie des Arbeitsbegriffs und der resultierenden Fixierung auf Erwerbsarbeit als der vermeintlich einzigen Form produktiver Arbeit behindert es erstens den mentalen Abschied von der Arbeitsgesellschaft, der im zukunftsträchtigeren Modell des bedingungslosen Grundeinkommens bereits vollzogen ist; zweitens steht es mit seiner Fixierung auf vermeintlich produktive Erwerbsarbeit auch dem ökologisch gebotenen Wechsel zu einer nachhaltigen Reproduktionsökonomie im Weg. Die in Artikel 23 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ unter Schutz gestellten moralischen Rechte von Arbeitnehmern(innen) werden durch diese Kritik keineswegs in ihrer
Höffe (2004), 29.
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Berechtigung in Frage gestellt. Es wäre aber folgerichtig, sie nicht unter dem Titel eines Rechts auf Arbeit zu fassen, sondern schlicht von einem „Recht auf Schutz der Arbeit“ zu sprechen. Auch wenn es zutrifft, dass Selbstachtung und Würde zu großen Teilen an eine – idealerweise befriedigende – Arbeit gekoppelt sind, besagt dies nicht, dass es sich bei einer solchen Arbeit notwendig um eine an einen Arbeitsplatz gebundene Erwerbsarbeit handeln muss. Selbstachtung und Erwerbsarbeit sind nicht intrinsisch miteinander verknüpft. Diese Einsicht wird dann verschmerzbar, wenn ein bedingungsloses Grundeinkommen an die Stelle der Selbstversorgung tritt und andere Formen gemeinschaftsorientierten Tuns, z. B. Reproduktionsarbeit und ehrenamtliches Engagement, das entstehende Sinndefizit füllen.
Literatur Böckenförde, Wolfgang, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, 143-169. Bohlken, Eike, Die Verantwortung der Eliten. Eine Theorie der Gemeinwohlpflichten, Frankfurt a. M./New York 2011. Gürtler, Sabine, Drei philosophische Argumente für ein Recht auf Arbeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000) Heft 6, 867-888. Höffe, Otfried, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München 2004. Tönnies, Ferdinand, Das Recht auf Arbeit, in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe hrsg. v. Lars Clausen/Alexander Deichsel/Cornelius Bickel/Rolf Fechner/Carsten Schlüter-Knauer, Bd. 22 Berlin/ New York 1998, 428-442.
Autoren und Herausgeber Bohlken, Eike, geb. 1967, PD Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover und Privatdozent am Seminar für Philosophie der Universität Tübingen. Kontakt: [email protected] Fisch, Andreas, geb. 1971, Dr. theol., Tischlerlehre, Studium der Kath. Theologie und einer Zusatzqualifikation in Volkswirtschaftslehre, Dozent für Wirtschaftsethik an der Kommende Dortmund, Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn (www.kommende-dortmund.de), Lehraufträge an Fachhochschulen und Universitäten. Kontakt: [email protected] Globig, Christine, geb. 1961, Dr. theol., ev. Pfarrerin, bis 2009 Dozentin für Systematische Theologie und Theologische Frauenforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel, zur Zeit Abschluss der Habilitationsschrift zur Fürsorgeethik. Kontakt: [email protected] Hahn, Judith, geb. 1978, Dr. theol., Lic. iur. can., Juniorprofessorin für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum, Arbeitsschwerpunkte: (Kirchen)Rechtstheorie, Rechtsethik, Recht und Gender, Kirchenrecht in den Medien, Kirchliches Arbeitsrecht. Kontakt: [email protected] Horstmann, Simone, geb. 1984, M.Ed., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Moraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum, Promotionsprojekt zu einem ethischen Verständnis von Normalität. Kontakt: [email protected] Kirmse, Daniela, geb. 1985, M.Ed., Studium der Kath. Theologie und Germanistik, wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum, Promotionsprojekt zu gesellschaftspolitischen Fragen der Würzburger Synode. Kontakt: [email protected]
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Leibold, Stefan, geb. 1967, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster und in einem Forschungsprojekt zu kirchlichen Reformprozessen. Kontakt: [email protected] Lührs, Hermann, geb. 1958, Dr. rer. soc., Dipl. Sozialwissenschaftler, langjährig im kirchlichen Dienst beruflich tätig, Lehrbeauftragter für Politische Theorie, Arbeits- und Sozialpolitik an den Universitäten Tübingen und Bonn. Kontakt: [email protected] Meiners, Peter, geb. 1982, Dipl. theol., Bildungsreferent in der Jugendbildungsstätte Marstall Clemenswerth (Sögel) mit dem Schwerpunkt „Menschen mit Behinderungen“. Kontakt: [email protected] Ostheimer, Jochen, geb. 1975, Dr. theol., M.A. phil., Akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, Lehrbeauftragter an der KSFH München. Kontakt: [email protected] Sailer-Pfister, Sonja, geb. 1974, Dr. theol., Referentin des Stadtdechanten, Kath. Stadtdekanat Köln; Lehrbeauftragte für Christliche Gesellschaftslehre an der Philosophisch-theologischen Hochschule der Pallottiner in Vallendar, Promotion zur „Theologie der Arbeit“. Kontakt: [email protected] Schneider, Martin, geb. 1971, Dr. theol., theologischer Grundsatzreferent des Diözesanrates der Katholiken der Erzdiözese München und Freising; Lehrbeauftragter an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Abt. Benediktbeuern. Forschungsschwerpunkte: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Anerkennungstheorie und Sozialethik, Prekarisierung der Arbeitswelt und ihre Folgen; sozialethische Grundlegung raumbezogener Gerechtigkeit. Kontakt: [email protected]
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Stoll, Christian, geb. 1982, Studium der Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und der katholischen Theologie in Freiburg (Brsg.) und an der Yale University. Seit 2010 Universitätsassistent am Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Promotionsprojekt zu Christentum und Öffentlichkeit im Anschluss an E. Peterson und H. Schlier. Kontakt: [email protected]. Wahl, Stefanie A., geb. 1984, M.A. Politikwissenschaft und kath. Theologie, MA Labour Policies and Globalisation (im Rahmen der Global Labour University), Promotionsprojekt an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema „Menschenwürdige Arbeit“, Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Kontakt: [email protected] Zink, Sebastian, geb. 1978, Studium der Geschichte, Germanistik, kath. Theologie und Erziehungswissenschaften, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, Promotionsprojekt zu Fragen einer Ethik der Erinnerungen. Kontakt: [email protected]