Gerechtfertigte Ungleichheiten: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit [Reprint 2012 ed.] 9783110896121, 9783110176261

"Demokratische Systeme sind auch dann, wenn sie den grundrechtlichen Forderungen politischer Gerechtigkeit genügen,

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German Pages 360 [364] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
1. Kapitel: Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze
1. Politische und bürgerliche Grundfreiheiten
2. Faire Chancengleichheit
3. Einkommen und Vermögen als Grundgüter
4. Das Differenzprinzip
5. Liberale Gleichheit
6. Der Vorrang der fairen Chancengleichheit
7. Verfahrensgerechtigkeit und die Tendenz zur Gleichheit
2. Kapitel: Der Vorrang der Grundfreiheiten
1. Harts Kritik und Rawls’ Revision seiner Freiheitslehre
2. Bürger als moralische Personen: Zwei grundlegende Vermögen
3. Die Hierarchie der Grundgüter
4. Das Vorrang-Argument im Überblick
5. Ein höchstrangiges Interesse
6. Die Begründung des Vorrangs
7. Drei weitere Argumente
3. Kapitel: Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls
1. Die Notwendigkeit eines Konsenses
2. Das Argumentationsmodell des Urzustandes
3. Die methodische Rolle des Urzustandes
4. Die beiden grundlegenden Vergleiche
5. Die Maximin-Strategie
6. Harsanyis Kritik
7. Die Laplace’sche Regel
8. Die „strains of commitment“
9. Individuelle Entscheidung und moralische Rechtfertigung
10. Begründung für ein garantiertes Minimum
11. Andere Gründe für das Differenzprinzip
4. Kapitel: Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung
1. Selbstachtung und ihre sozialen Grundlagen
2. Das Ressourcen-Argument
3. Selbstachtung und Anerkennung
4. Das Anerkennungs-Argument
5. Kapitel: Die öffentliche Rechtfertigung von Normen
1. Autonomie und öffentliche Rechtfertigung
2. Der öffentliche Standpunkt
3. Die argumentative Rolle des Personbegriffs
4. Personen als Adressaten normativer Rechtfertigungen
5. Eine methodische Anmerkung
6. Vernünftiger Pluralismus und öffentliche Rechtfertigung
7. MacIntyres Konzeption der Normbegründung
8. Verteidigung des Autonomieprinzips
9. Zusammenfassung
6. Kapitel: Bedarfsbezogene moralische Ansprüche
1. Gütergleichheit als Basis
2. Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen
3. Ausblick auf den weiteren Argumentationsgang
4. Hilfe in Notlagen
5. Notlagen und begründete moralische Ansprüche
6. Die subjektive Wahrnehmung von Notlagen
7. Sechs Bedingungen
8. Paternalistische Hilfe
9. Die Möglichkeit eines begründeten Konsenses
10. Beurteilungskriterien für bedarfsbezogene Ansprüche
7. Kapitel: Interpersonelle Vergleiche
1. Bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche
2. Öffentlich anerkannte Werte
3. Hedonistische Wohlfahrtskonzeptionen
4. Wohlergehen als Präferenzerfüllung
5. Objektive Wohlfahrtskonzeptionen
6. Öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale
7. Wohlfahrt und Wohlfahrtschancen
8. Gütergleichheit und minimale Wohlfahrtsoptionen
9. Sens „functionings“ und „capabilities“
10. Abschließende Bemerkungen
8. Kapitel: Leistungsbezogene moralische Ansprüche
1. Leistung als moralisches Verteilungskriterium
2. Subjektive Anstrengungen und Entbehrungen
3. Interpersonelle Leistungsvergleiche
4. Der Wert produktiver Beiträge
5. Die Identifikation individueller Beiträge
6. Das Problem der moralischen Zurechnung
7. Drei Argumente für die Nicht-Zurechenbarkeit produktiver Leistungen
8. Die Bedeutung eigenverantwortlicher Entscheidungen
9. Praktische Konsequenzen
9. Kapitel: Herleitung des Differenzprinzips
1. Voraussetzungen
2. Die Bedingung reziproker Vorteile
3. Herleitung des Differenzprinzips
4. Maximin- und Leximin-Verteilungen
5. Ein möglicher Einwand: Verteilungen rechts von d*
6. Nötige Qualifikationen: Verteilungen links von d*
7. Der Envy-Test
8. Abschließende Bemerkungen
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Register
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Gerechtfertigte Ungleichheiten: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit [Reprint 2012 ed.]
 9783110896121, 9783110176261

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Wilfried Hinsch Gerechtfertigte Ungleichheiten

W G DE

Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2002

Wilfried Hinsch

Gerechtfertigte Ungleichheiten Grundsätze sozialer Gerechtigkeit

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Hinsch, Wilfried: Gerechtfertigte Ungleichheiten : Grundsätze sozialer Gerechtigkeit / Wilfried Hinsch. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Ideen & Argumente) ISBN 3-11-017626-2

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH Sc Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: +malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen Titelbild: Gerster/AGE/Mauritius Diskettenkonvertierung: Readymade, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: WB-Druck, Rieden /Allgäu

Für Nina

Inhaltsverzeichnis Vorwort 1. Kapitel: Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Politische und bürgerliche Grundfreiheiten Faire Chancengleichheit Einkommen und Vermögen als Grundgüter . . . . Das Differenzprinzip Liberale Gleichheit Der Vorrang der fairen Chancengleichheit Verfahrensgerechtigkeit und die Tendenz zur Gleichheit

2. Kapitel: Der Vorrang der Grundfreiheiten 1. Harts Kritik und Rawls' Revision seiner Freiheitslehre 2. Bürger als moralische Personen: Zwei grundlegende Vermögen 3. Die Hierarchie der Grundgüter 4. Das Vorrang-Argument im Überblick 5. Ein höchstrangiges Interesse 6. Die Begründung des Vorrangs 7. Drei weitere Argumente 3. Kapitel: Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls 1. Die Notwendigkeit eines Konsenses 2. Das Argumentationsmodell des Urzustandes . . . .

XI 1 3 4 8 11 17 18 20 23 25 27 31 33 35 38 45

51 53 56

Vili

Inhaltsverzeichnis

3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Die methodische Rolle des Urzustandes Die beiden grundlegenden Vergleiche Die Maximin-Strategie Harsanyis Kritik Die Laplace'sche Regel Die „strains of commitment" Individuelle Entscheidung und moralische Rechtfertigung 10. Begründung für ein garantiertes Minimum 11. Andere Gründe für das Differenzprinzip

59 64 65 67 73 84 91 93 96

4. Kapitel: Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung . . 101 1. 2. 3. 4.

Selbstachtung und ihre sozialen Grundlagen Das Ressourcen-Argument Selbstachtung und Anerkennung Das Anerkennungs-Argument

102 104 110 111

5. Kapitel: Die öffentliche Rechtfertigung von Normen . . 117 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Autonomie und öffentliche Rechtfertigung Der öffentliche Standpunkt Die argumentative Rolle des Personbegriffs Personen als Adressaten normativer Rechtfertigungen Eine methodische Anmerkung Vernünftiger Pluralismus und öffentliche Rechtfertigung Maclntyres Konzeption der Normbegründung . . . Verteidigung des Autonomieprinzips Zusammenfassung

6. Kapitel: Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

119 122 129 134 142 146 151 157 167 169

1. Gütergleichheit als Basis 169 2. Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen . 170 3. Ausblick auf den weiteren Argumentationsgang . . 173

Inhaltsverzeichnis 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Hilfe in Notlagen Notlagen und begründete moralische Ansprüche Die subjektive Wahrnehmung von Notlagen . . . . Sechs Bedingungen Paternalistische Hilfe Die Möglichkeit eines begründeten Konsenses . . Beurteilungskriterien für bedarfsbezogene Ansprüche

7. Kapitel: Interpersonelle Vergleiche 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche Öffentlich anerkannte Werte Hedonistische Wohlfahrtskonzeptionen Wohlergehen als Präferenzerfüllung Objektive Wohlfahrtskonzeptionen Öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale . . . . Wohlfahrt und Wohlfahrtschancen Gütergleichheit und minimale Wohlfahrtsoptionen 9. Sens „functionings" und „capabilities" 10. Abschließende Bemerkungen

IX 174 177 179 181 184 187 192 195 196 201 204 207 215 225 228 232 233 235

8. Kapitel: Leistungsbezogene moralische Ansprüche . . . 2 3 9 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Leistung als moralisches Verteilungskriterium . . . 2 4 0 Subjektive Anstrengungen und Entbehrungen . . . 2 4 4 Interpersonelle Leistungsvergleiche 247 Der Wert produktiver Beiträge 249 Die Identifikation individueller Beiträge 252 Das Problem der moralischen Zurechnung 255 Drei Argumente für die Nicht-Zurechenbarkeit produktiver Leistungen 257 8. Die Bedeutung eigenverantwortlicher Entscheidungen 261 9. Praktische Konsequenzen 264

X

Inhaltsverzeichnis

9. Kapitel: Herleitung des Differenzprinzips 1. 2. 3. 4. 5.

Voraussetzungen Die Bedingung reziproker Vorteile Herleitung des Differenzprinzips Maximin- und Leximin-Verteilungen Ein möglicher Einwand: Verteilungen rechts von d* 6. Nötige Qualifikationen: Verteilungen links von d* 7. Der Envy-Test 8. Abschließende Bemerkungen

267 267 270 273 276 279 282 288 290

Anmerkungen

295

Literaturverzeichnis

323

Register

337

Vorwort Spätestens seit der Entstehung kapitalistischer Industriegesellschaften im 19. Jahrhundert hat die Idee der sozialen Gerechtigkeit eine entscheidende Rolle in der Kritik demokratischer Institutionen gespielt. Die moralische Legitimität der liberalen Demokratie wurde durch kaum etwas so sehr in Frage gestellt wie durch die Marx'sche These, sie sei, trotz formeller politischer Gleichstellung aller, ein Instrument bürgerlicher Klassenherrschaft, das unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen zur Verelendung der Arbeiterschaft führe. Die Verelendungstheorie hat sich als falsch erwiesen, doch die mit ihr verbundene Kritik politischer Institutionen unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit ist nach wie vor gültig. Demokratische Systeme sind auch dann, wenn sie den grundrechtlichen Forderungen politischer Gerechtigkeit genügen, kritikwürdig und reformbedürftig, solange es ihnen nicht gelingt, allen Bürgern gerechte Anteile an den gesellschaftlich produzierten Reichtümern zu sichern. John Rawls nennt die Gerechtigkeit in A Theory of Justice zu Recht die erste Tugend gesellschaftlicher Institutionen, und dies schließt politische und soziale Gerechtigkeit ein. Eine politische Gerechtigkeitskonzeption beschreibt auf der Ebene elementarer Grundsätze die institutionellen Voraussetzungen, unter denen gerechte und kollektiv verbindliche Entscheidungen zustande kommen. In der Hauptsache handelt sie von den politischen Partizipationsrechten und den liberalen Freiheitsrechten freier und gleicher Bürger. Die soziale Gerechtigkeit hat demgegenüber ein weiteres Anwendungsfeld. Sie bezieht sich auf die gesamte institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft und die durch sie bestimmten sozialen Strukturen. Ihre Grundsätze sagen uns, wie die in einer Gesellschaft kollektiv verfügbaren

XII

Vorwort

Güter und Ressourcen gerechterweise zu verteilen sind. Das Verhältnis von politischer und sozialer Gerechtigkeit wird dadurch bestimmt, dass soziale Gerechtigkeit ein kollektives, nur durch Kooperation aller Gesellschaftsmitglieder zu realisierendes Gut ist. Für alle Formen gesellschaftsweiter Kooperation gilt, dass sich die Verteilung gemeinsam produzierter Güter und nutzbar gemachter Ressourcen der Kontrolle durch Einzelne entzieht. Keine Person kann durch ihr individuelles Handeln kontrollieren, welche Güterverteilung in einer Gesellschaft realisiert wird. Es ist deshalb die Aufgabe politischer Einrichtungen, durch geeignete institutionelle Regelungen für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Eine ausschließlich an Problemen demokratischer Partizipation und individueller Freiheitsrechte orientierte Konzeption politischer Gerechtigkeit ist notwendigerweise unvollständig und auf sie ergänzende Grundsätze für die Verteilung materieller Güter und Ressourcen angewiesen. Ohne diese könnte sie nicht alle Aspekte erfassen, unter denen politische Institutionen und die von ihnen generierten kollektiven Entscheidungen als ungerecht kritisiert werden können. In der vorliegenden Arbeit soll eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit vorgestellt werden, die sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit John Rawls' Auffassung der Gerechtigkeit als Fairness entwickelt hat. Rawls zufolge sind die für eine wohlgeordnete Demokratie angemessenen Grundsätze solche, die gleichberechtigte Bürger unter fairen Bedingungen für ihre Gesellschaft wählen würden. Er konkretisiert diese Vorstellung mithilfe seines Modells eines Urzustandes. Dabei handelt es sich um eine fiktive Situation, in der Bürger hinter einem „Schleier der Unwissenheit" beraten und kollektiv entscheiden, welche Gerechtigkeitsgrundsätze ihre Gesellschaft regulieren sollen. Wegen des Schleiers der Unwissenheit wissen die Bürger im Urzustand weder, welche persönlichen Interessen sie in ihrer Gesellschaft haben, noch welche soziale Position sie in ihr einnehmen. Damit wird sichergestellt, dass partikulare Interessenlagen ohne Einfluss auf ihre Entscheidung für bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze bleiben. Demokratische Bür-

Vorwort

XIII

ger, so die Leitidee dieses Gedankenexperiments, betrachten einander als gleichgestellte Kooperationspartner mit gleichen Ansprüchen auf alle kollektiv zu verteilenden Rechte, Privilegien und Güter. Sie sind deshalb bereit, von allem abzusehen, was irgendjemandem bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen Vorteile gegenüber seinen Mitbürgern verschaffen könnte. Der Schleier der Unwissenheit bewirkt, dass die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen, ähnlich wie Rousseau es sich vorgestellt hat, im Sinne einer volonté générale ausschließlich durch Interessen bestimmt wird, die alle Bürger teilen. Nach Rawls würden sich die Bürger unter diesen Umständen auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze einigen. Der erste fordert für alle Bürger ein adäquates System gleicher politischer Rechte und liberaler Freiheiten. Der zweite Grundsatz bezieht sich auf die in einer Gesellschaft bestehenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten. Sie sind nach Rawls nur dann gerecht, wenn alle sozialen Positionen erstens allen Bürgern unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen und wenn die bestehenden Ungleichheiten sich zweitens zum größtmöglichen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken. Der zweite Teil des zweiten Grundsatzes, das so genannte Differenzprinzip, bildet den Zielpunkt der vorliegenden Studie. Gleiche Grundfreiheiten für alle Bürger und faire Chancengleichheit sind in modernen Demokratien weithin anerkannte Forderungen politischer und sozialer Gerechtigkeit. Das Differenzprinzip hat dagegen seit dem Erscheinen von A Theory of Justice 1971 nur vereinzelt Zustimmung gefunden. Viele betrachten es als Ausdruck einer radikal egalitären Gerechtigkeitsauffassung mit fragwürdigen normativen Implikationen. Und in der Tat ist nicht ohne weiteres einzusehen, warum sich die Verteilung materieller Güter in einer Gesellschaft vorrangig an den Interessen ihrer am wenigsten begünstigten Mitglieder orientieren sollte. Dies scheint jedenfalls der Vorstellung zu widersprechen, dass moralische Grundsätze und soziale Normen die Interessen aller von ihnen Betroffenen gleichermaßen berücksichtigen müssen.

XIV

Vorwort

Methodisch richten sich die Einwände vor allem auf den Rawls'schen Versuch einer Herleitung seines Differenzprinzips mithilfe der Konstruktion des Urzustandes. Es wird bestritten, dass rationale Personen dieses Prinzip als Verteilungsregel für materielle Güter und Ressourcen wählen würden, wenn sie hinter einem Schleier der Unwissenheit in Unkenntnis ihrer mehr oder weniger vorteilhaften sozialen und persönlichen Lebensumstände zu entscheiden hätten. Das Differenzprinzip bietet Bürgern, die im Urzustand ihre tatsächliche gesellschaftliche Stellung nicht kennen und sich deshalb vor sozialen und ökonomischen Risiken schützen wollen, die größtmögliche Absicherung für den Fall, dass sie zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehören sollten. Dies geschieht jedoch um den Preis unbestimmt großer Nachteile in Form von Einkommenseinbußen durch Umverteilungen, falls sich herausstellen sollte, dass sie tatsächlich einer begünstigteren Gruppe angehören. Von rationalen Personen sollten wir erwarten, dass sie die Vor- und Nachteile verschiedener Güterverteilungen mit Blick auf alle sozialen Positionen gegeneinander abwägen, wenn jede dieser Positionen ihre eigene sein könnte, und eben dies müssen sie hinter dem Schleier der Unwissenheit annehmen. Es ist deshalb nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, warum Bürger im Urzustand ihre Entscheidung so treffen sollten, als seien die Nachteile einer Verteilung nach dem Differenzprinzip für begünstigtere Positionen gegenüber den Vorteilen für die am wenigsten Begünstigten vernachlässigbar. In der vorliegenden Arbeit soll das Differenzprinzip gleichwohl als ein angemessener Grundsatz für die Verteilung der Einkommen und Vermögen verteidigt werden. Auch wenn es nicht gelingt, diesen Grundsatz mithilfe des Modells rationaler individueller Entscheidungen hinter einem Schleier der Unwissenheit zu begründen, lässt sich, so meine These, doch zeigen, dass in demokratischen Gesellschaften nur solche Güterverteilungen öffentlich zu rechtfertigen sind, die den am wenigsten Begünstigten größtmögliche Vorteile bieten. In den Kapiteln 1-4 wird die Rawls'sche Gerechtigkeitskonzeption und die Stellung des Differenzprinzips in ihr diskutiert.

Vorwort

XV

Sie haben den Charakter einer kritischen Bestandsaufnahme. Kapitel 1 stellt die beiden Rawls'scheen Gerechtigkeitsgrundsätze vor. In Kapitel 2 wird Rawls' These vom Vorrang der politischen und liberalen Grundfreiheiten gegenüber den Forderungen sozialer Gerechtigkeit diskutiert und bestätigt. Dies ist für die Begründung des Differenzprinzips nicht unmittelbar von Bedeutung, trägt jedoch zum Verständnis der Stellung dieses Grundsatzes im Gefüge der anderen Gerechtigkeitsforderungen bei. Auch hilft es uns in Kapitel 3 bei der Analyse der Rawls'schen Begründungsstrategie. In ihm wird die Herleitung des Differenzprinzips als das Ergebnis rationaler individueller Entscheidungen hinter einem Schleier der Unwissenheit erörtert. Es zeigt sich, dass es Rawls nicht gelungen ist, eine schlüssige entscheidungstheoretische Begründung seines Verteilungsprinzips zu liefern. Kapitel 4 untersucht in Auseinandersetzung mit Joshua Cohen die Möglichkeiten einer Begründung des Differenzprinzips im Rekurs auf die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Auch dieses Kapitel endet mit einem negativen Ergebnis. In den Kapiteln 5-9 werden die Grundzüge der Konzeption der gerechtfertigten Ungleichheiten entwickelt. Diese geht von der Idee der öffentlichen Rechtfertigung sozialer Normen aus und liefert den Ansatz für eine Begründung des Differenzprinzips in Kapitel 9. Unangesehen sonstiger Differenzen teilt sie drei wichtige Bauelemente mit der Rawls'schen Theorie. Dies sind erstens die Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft als eines fairen Systems sozialer Kooperation, das von öffentlich anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen reguliert wird; zweitens der Begriff der moralischen Person; und drittens die von mir und Rawls gemeinsam entwickelte Konzeption eines vernünftigen Pluralismus von normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Ausgehend von der Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft und vom Personbegriff stelle ich in Kapitel 5 meine Konzeption der öffentlichen Rechtfertigung von Normen in einer Gesellschaft moralisch autonomer Personen vor. In Kapitel 6 wird diese Konzeption auf das Problem einer gerechten Güter-

XVI

Vorwort

Verteilung angewendet. Alle Bürger, so meine Ausgangsthese, haben als freie und gleiche moralische Personen prima facie gleiche Ansprüche auf die in ihrer Gesellschaft kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen. Das Problem der Begründung von Grundsätzen der Verteilungsgerechtigkeit stellt sich deshalb als Problem der öffentlichen Rechtfertigung von Ungleichverteilungen. Die leitende Fragestellung ist nicht länger, wie bei Rawls, welche Verteilungsgrundsätze Bürger hinter einem Schleier der Unwissenheit rationalerweise für sich selbst wählen würden, sondern: Wie können Bürger, die einander als gleichberechtigte Kooperationspartner anerkennen, in voller Kenntnis der zwischen ihnen bestehenden Interessengegensätze und Meinungsverschiedenheiten Ungleichverteilungen voreinander öffentlich rechtfertigen? Kapitel 6 entwirft eine Typologie von Gründen für Ungleichverteilungen von Gütern und Ressourcen und liefert damit das Grundgerüst für alles Weitere. Als Rechtfertigungsgründe für soziale und ökonomische Ungleichheiten kommen demnach nur (1) bedarfsbezogene Ansprüche, (2) leistungsbezogene Ansprüche und (3) prudenzielle Gründe in Frage. Im Anschluss wird untersucht, unter welchen Bedingungen in pluralistischen Gesellschaften begründete bedarfsbezogene moralische Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen entstehen. So ergeben sich die Grundzüge einer Theorie der sozialen Unterstützung von Personen in .öffentlich anerkannten Notlagen'. Ungleichverteilungen von Gütern sind ihr zufolge dann gerechtfertigt, wenn sie notwendig sind, um Gesellschaftsmitglieder, die dazu nicht selbst in der Lage sind, mit dem für ein selbstbestimmtes Leben notwendigen Minimum an Gütern und Handlungsmöglichkeiten zu versorgen. So sind zum Beispiel chronisch Kranke und Behinderte häufig auf teure Medikamente und aufwendige Apparaturen angewiesen, die sie ohne soziale Unterstützung nicht finanzieren könnten. Die Konzeption eines durch bedarfsbezogene Ansprüche begründeten moralischen Minimums wird in Kapitel 7 zur Beantwortung der für jede Konzeption sozialer Gerechtigkeit grundlegenden Frage

Vorwort

XVII

herangezogen, nach welchen Kriterien das Wohlergehen verschiedener Personen verglichen werden soll und unter welchen Bedingungen Personen als materialiter gleichgestellt betrachtet werden. Kapitel 8 ist dem Problem leistungsbezogener moralischer Ansprüche gewidmet. Im Einzelnen wird dargelegt, warum leistungsbezogene Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen, entgegen einer weit verbreiteten Auffassung, keine eigenständigen moralischen Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen bieten. Sie können, so die These des Kapitels, in einer gerechten Gesellschaft nur eine aus prudentiellen Erwägungen abgeleitete Rolle spielen, wenn leistungsbezogene Entlohnungen zu Produktivitätssteigerungen führen, die allen zugute kommen. Kapitel 9 schließlich enthält meine Begründung des Differenzprinzips. Es wird gezeigt, warum nach Erfüllung aller begründeten bedarfsbezogenen Ansprüche Ungleichverteilungen nur öffentlich zu rechtfertigen sind, wenn sie zum größtmöglichen Vorteil der am wenigsten Begünstigten ausfallen. Die Arbeit endet mit dem Ergebnis, dass eine wohlgeordnete Gesellschaft, deren Bürger einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen, nur dann gerecht ist, wenn die in ihr bestehende Verteilung materieller Güter und Ressourcen zwei Bedingungen erfüllt: (1) Allen Gesellschaftsmitgliedern, die dazu aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, wird das zur Erfüllung ihrer bedarfsbezogenen Ansprüche notwendige Minimum an Gütern und Ressourcen garantiert. (2) Alle Güter und Ressourcen, die nicht zur Erfüllung bedarfsbezogener Ansprüche benötigt werden, werden nach dem Differenzprinzip so verteilt, dass der auf die am wenigsten Begünstigten entfallende Anteil so groß wie möglich ist. Diese Arbeit ist in einer früheren Fassung 1997 vom Fachbereich Geschichte/Philosophie der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster als Habilitationsschrift angenommen worden. Ich danke den Gutachtern Dieter Birnbacher, Peter Rohs, Ludwig Siep und Wilhelm Vossenkuhl für ihre Kommen-

XVIII

Vorwort

tare und Anregungen, auf die ich bei der Überarbeitung zurückgreifen konnte. Seitdem hatte ich Gelegenheit, meine Überlegungen und Thesen in zahlreichen Diskussionen nach Vorträgen und in Seminaren zu erproben. Ich verdanke all denen, die sich an diesen Diskussionen mit Kritik und Ermutigung beteiligt haben, viel mehr, als vereinzelte Nennungen von Namen zu erkennen geben. Während eines zweijährigen Aufenthalts in Harvard haben die Gespräche mit Alyssa Bernstein, Burton Dreben, Peter de Marneffe, Elijah Millgram, Thomas Pogge, Thomas Scanion und vor allem John Rawls mein Verständnis für die Probleme der Gerechtigkeitstheorie nachhaltig geprägt, noch bevor es dann in Münster mit dem Projekt der gerechtfertigten Ungleichheiten losging. Dort waren es neben Peter Rohs und Ludwig Siep Michael Anderheiden, Kurt Bayertz, Walter Brinkmann, Christoph Fehige, Rotraud Hansberger, Dieter Janssen, Georg Mohr, Ise Raters, Christian Suhm und Marcus Willaschek, mit denen sich ein reger Austausch entwickelte. Wichtige Kommentare zu Vorfassungen und englischen oder deutschen Vortragsversionen von einzelnen Kapiteln erhielt ich auch von Robert Alexy, Bruce Brouwer, Allen Buchanan, Joshua Cohen, Rainer Forst, Frank Dietrich, Ulrich Gähde, Wulf Gaertner, Bernward Gesang, Miguel Giusti, Stefan Gosepath, Richard Hare, Hartmut Kliemt, Arthur Kuflik, Nadia Mazouz, Ulrich Nortmann, Rudolf Schüssler, Thomas Spitzley, Bob Summers, Ernst Tugendhat und Carola von Villiez. Rotraud Hansberger, Werner Hein, Ise Raters und Markus Stepanians haben zu verschiedenen Zeiten die Mühe auf sich genommen, den gesamten Text sorgfältig zu studieren; sie machten wertvolle Verbesserungsvorschläge und haben mich vor mancher Torheit bewahrt. Ihnen möchte ich ganz besonders danken, ebenso wie Anne Leist, die mir in Saarbrücken mit unendlicher Geduld und Sorgfalt bei der Schlussredaktion geholfen hat. Für die Gelegenheit, alles noch einmal in „Einsamkeit und Freiheit" zu überdenken und zum Abschluss zu bringen, bin ich

Vorwort

XIX

dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld und seinen Mitarbeitern dankbar, die mich im Sommersemester 2002 als Fellow großzügig unterstützten. Den Mitgliedern der Forschergruppe „Procedural Approaches to Conflict Resolution" von Matthias Raith, Walter Trockel und Joachim Rosenmüller danke ich für lebhafte Diskussionen und den guten Geist interdisziplinärer Zusammenarbeit. Münster, im Juli 2002

Wilfried Hinsch

1. Kapitel:

Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze Nach Rawls zeichnet sich eine gerechte Gesellschaft dadurch aus, dass ihre wichtigsten Institutionen zwei Grundsätzen genügen. Diese lauten nach einer Formulierung aus Political Liberalism: I. Jede Person hat den gleichen Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundrechte und Freiheiten, das mit demselben System für alle vereinbar ist, und innerhalb dieses Systems wird der faire Wert der gleichen politischen (und nur der politischen) Freiheiten garantiert. II. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Amtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen, und zweitens müssen sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.1

Zu den beiden Grundsätzen gehört außerdem eine Festlegung der zwischen ihren Teilen bestehenden Vorrangverhältnisse. So wird dem ersten Grundsatz ein absoluter Vorrang vor den beiden Teilen des zweiten Grundsatzes zugesprochen, und innerhalb des zweiten Grundsatzes hat das Prinzip der fairen Chancengleichheit einen absoluten Vorrang vor dem Differenzprinzip, das größtmögliche Vorteile für die durch soziale und ökonomische Ungleichheiten am wenigsten Begünstigten fordert. 2 Der Inhalt der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze wird von Rawls durch eine Liste von Grundgütern (primary goods) konkretisiert, um deren Verteilung es geht. Unter Grundgütern versteht Rawls bestimmte Freiheiten, Vorrechte und allgemein

2

Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze

dienliche Mittel, auf die alle Bürger gleichermaßen angewiesen sind, um die für gerechte soziale Kooperation grundlegenden moralischen Vermögen angemessen zu entwickeln und auszuüben. 3 Die Liste der Grundgüter umfasst: (1) die aus den Verfassungen moderner Demokratien vertrauten politischen Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten - das aktive und passive Wahlrecht, die Freiheit der politischen Rede, Religions- und Gewissensfreiheit und die im Gedanken der Rechtsstaatlichkeit zusammengefassten persönlichen Schutzrechte und Freiheiten, (2) Freizügigkeit und freie Berufswahl, (3) die mit öffentlichen Ämtern und gesellschaftlichen Positionen verbundenen Vorrechte und Privilegien, (4) Einkommen und Vermögen, (5) die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. 4 Diese Grundgüter sind gesellschaftliche Güter und unterscheiden sich von natürlichen Gütern wie Gesundheit und Geisteskraft dadurch, dass ihre Bereitstellung und Verteilung, mehr oder weniger direkt, durch die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft bestimmt wird, das heißt durch deren politische Verfassung, ihre Wirtschaftsordnung und andere grundlegende Einrichtungen, wie zum Beispiel die Familie und das Bildungssystem. 5 Wir können die Rawls'schen Grundgüter danach einteilen, welcher der beiden Grundsätze ihre Verteilung regelt. Die politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten fallen unter den ersten Grundsatz; soziale Vorrechte und Privilegien, Einkommen und Vermögen unter den zweiten. Die Zuordnung der freien Berufswahl und der Freizügigkeit ist nicht ganz eindeutig. Einerseits gehören sie nach Rawls zu den wesentlichen Verfassungsinhalten, die, so nehmen wir an, durch grundrechtliche Garantien geschützt werden, andererseits zählt Rawls selbst sie nicht zu den durch den ersten Grundsatz regulierten Grundrechten und Freiheiten. 6 Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung nehmen unter den Grundgütern eine Sonderstellung ein, zum einen wegen ihrer großen Bedeutung für alle Gesellschaftsmitglieder, zum anderen, weil ihre Gewährleistung voraussetzt, dass alle anderen Grundgüter in Übereinstimmung mit den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen gerecht verteilt werden. 7

Politische und bürgerliche Grundfreiheiten

1. Politische

und bürgerliche

3

Grundfreiheiten

Mit Blick auf die Anwendung der beiden Grundsätze lassen sich zwei Bereiche innerhalb der institutionellen Grundstruktur einer Gesellschaft unterscheiden: der Bereich des Politischen und der des Sozialen. Inhaltlich fordert der erste Grundsatz, allen Gesellschaftsmitgliedern erstens gleiche und angemessene politische Freiheiten zu garantieren und dadurch institutionell zu gewährleisten, dass sie die gleichen Mitwirkungsrechte beim Zustandekommen kollektiv verbindlicher Entscheidungen haben. Zweitens sollen allen gleiche und angemessene bürgerliche Grundfreiheiten gewährt werden, die festlegen, innerhalb welcher Grenzen kollektive Entscheidungen in das Leben einzelner Gesellschaftsmitglieder eingreifen dürfen. Der erste Grundsatz zielt mit anderen Worten auf die Verwirklichung eines demokratischen und liberalen Verfassungsstaates, der das Prinzip der Volkssouveränität realisiert und seinen Bürgern unverletzliche individuelle Freiheitsrechte garantiert. Die Forderung nach gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten und die Garantie des fairen Wertes der politischen Freiheiten legen zusammen institutionell-rechtliche und materiell-empirische Rahmenbedingungen fest, unter denen in einer gerechten Gesellschaft legitime politische Entscheidungen zustande kommen. Darunter sind solche Entscheidungen zu verstehen, die für alle Bürger verbindlich sind und die nötigenfalls mit staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden. Die politischen Grundfreiheiten beziehen sich ausschließlich auf die institutionelle Gewährleistung gleicher und angemessener formeller Rechte der Beteiligung an kollektiv verbindlichen Entscheidungen. Durch die Garantie des fairen Wertes der politischen Freiheiten soll darüber hinaus sichergestellt werden, dass die mit ihnen verbundenen Rechte von allen Bürgern wahrgenommen und genutzt werden können. Alle Bürger sollen, dem Gedanken der demokratischen Gleichheit gemäß, bei ähnlichen Begabungen und Fähigkeiten unabhängig von ihrer sozialen Stellung vergleichbare Chancen haben, politische Ämter zu

4

Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze

übernehmen und an kollektiven Entscheidungen teilzunehmen. Um dies zu erreichen, müssen den auch in einer gerechten Gesellschaft bestehenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten ausgleichende Maßnahmen entgegengesetzt werden. So können denjenigen, die über mehr Mittel verfügen, Beschränkungen für den Gebrauch ihrer Ressourcen im Prozess der politischen Entscheidungsfindung auferlegt werden, oder es können denen mit einem geringeren Einfluss öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, um ihnen faire Chancen der politischen Partizipation zu geben. So lässt sich verhindern, dass Bürger, die aufgrund ihrer sozialen Stellung über größere Ressourcen und bessere Einflussmöglichkeiten als andere verfügen, dadurch unfaire Vorteile im Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung erlangen.8

2. Faire Chancengleichheit9 Der zweite mit dem Problem sozialer Gerechtigkeit befasste Grundsatz hat ein weiteres Anwendungsfeld als der Freiheitsgrundsatz. Er betrifft die gesamte institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft einschließlich ihrer Wirtschafts-, Sozial- und Bildungssysteme mit allen durch sie bedingten Formen sozialer Schichtung und Differenzierung. Rawls geht davon aus, dass auch in einer gerechten Gesellschaft soziale und ökonomische Ungleichheiten bestehen werden, so dass sich das Problem sozialer Gerechtigkeit als Frage nach dem zulässigen Ausmaß solcher Ungleichheiten stellt. Für die Beantwortung dieser Frage stellen die beiden Teile des zweiten Grundsatzes oberste Richtlinien auf. Der erste Teil fordert für alle Gesellschaftsmitglieder faire Chancen im Wettbewerb um erstrebenswerte soziale Positionen. Der zweite Teil, das Differenzprinzip, betrifft die Verteilung der Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft. Sie ist nach Rawls nur dann gerecht, wenn die bestehenden materiellen Ungleichheiten zum größtmöglichen Vorteil der von ihnen am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder ausfallen.

Faire Chancengleichheit

5

Der von Rawls in die Diskussion eingeführte Begriff der fairen Chancengleichheit ist ein sowohl in analytisch-begrifflicher als auch in moralischer Hinsicht komplexer und schwierig zu fassender Begriff.10 Ich begnüge mich mit einigen elementaren und zum Verständnis der Stellung des Differenzprinzips im Kontext der Rawls'schen Gerechtigkeitsauffassung nötigen Klärungen. Die Bedeutung der fairen Chancengleichheit wird deutlich, wenn wir sie der formalen Chancengleichheit gegenüberstellen. Letztere ist in einer Gesellschaft bereits dann verwirklicht, wenn deren Institutionen allen Gesellschaftsmitgliedern dieselben rechtlichen Möglichkeiten bieten, durch eigene Anstrengungen erstrebenswerte gesellschaftliche Positionen zu erreichen. Niemand wird durch gesetzliche Bestimmungen daran gehindert, eine gewünschte Ausbildung aufzunehmen oder einen bestimmten Beruf zu ergreifen, wenn er (oder sie) die jeweils sachlich einschlägigen Anforderungen erfüllt. Gesetze, die es bestimmten Personen allein aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Religionszugehörigkeit ohne Rücksicht auf ihre fachliche Qualifikation gesetzlich verbieten, bestimmte Berufe zu ergreifen oder Ämter wahrzunehmen, verletzen den Grundsatz formaler Chancengleichheit und sind insofern ungerecht. Die Vorstellung der fairen Chancengleichheit geht über diese minimale Forderung einer rechtlichen Gleichstellung hinaus. Sie zielt auf die Realisation einer sozialen Welt, in der es für alle nicht nur rechtlich zulässig ist, attraktive soziale Positionen anzustreben und einzunehmen, sondern in der darüber hinaus alle Bürger mit ähnlichen Begabungen und Talenten tatsächlich vergleichbare Chancen haben, diesbezügliche Lebenspläne zu verwirklichen. Und dies setzt voraus, dass niemand durch die materielle Lage seiner Herkunftsfamilie oder durch andere Formen der sozialen Benachteiligung und Diskriminierung daran gehindert wird, seine Talente und Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben. Während formale Chancengleichheit bereits durch eine geeignete rechtliche Ausgestaltung aller relevanten gesellschaftlichen Institutionen erreicht werden kann, setzt faire Chancengleichheit

6

Die beiden

Gerechtigkeitsgrundsätze

darüber hinaus umfassende sozialpolitische Programme voraus. Sie müssen, zum Beispiel durch öffentliche Finanzierung von Bildungs- und Fortbildungseinrichtungen, darauf hinwirken, bestehende Formen der sozialen Benachteiligung und Diskriminierung innerhalb und außerhalb der Familie abzubauen und auszugleichen. Von den beiden Teilforderungen des zweiten Grundsatzes bereiten das Prinzip der fairen Chancengleichheit und seine Umsetzung die größeren Schwierigkeiten. Während sich bei der Anwendung des Differenzprinzips im Wesentlichen praktischökonomische Probleme stellen, führt der Versuch, Chancengleichheit zu verwirklichen, in grundsätzliche moralische Verwicklungen. Es wird weithin anerkannt, dass eine gerechte Gesellschaft über formale Chancengleichheit hinausgehen muss. Alle Gesellschaftsmitglieder haben prima facie den gleichen Anspruch auf die Verwirklichung anspruchsvoller und erfüllender Lebenspläne, die ihren Begabungen und Talenten entsprechen, und die Beschränkung der Lebenschancen Einzelner durch ihre gesellschaftlichen Startpositionen oder andere Formen der Benachteiligung ist moralisch nicht zu rechtfertigen. Sozialpolitische Programme, etwa zur Verbesserung der Bildungschancen benachteiligter Gruppen, sind deshalb nicht nur politisch wünschenswert, sondern notwendige Forderungen sozialer Gerechtigkeit. Wie bei allen inhaltlich bestimmten Gerechtigkeitszielen treten bei der Verwirklichung der Chancengleichheit jedoch Ziel- und Normenkonflikte auf. Dies wird in den Bereichen der Bildungs- und Frauenförderung deutlich. So werden die Bildungschancen einer Person wesentlich durch ihre primäre Sozialisation in der Familie und damit durch die soziale Stellung ihrer Eltern mitbestimmt. Die meisten auf Ausgleich zielenden staatlichen Fördermaßnahmen können erst im Kindergarten- und Schulalter wirksam werden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Talente und Fähigkeiten einer Person in ihren Grundzügen bereits festliegen und gemäß dem jeweiligen familiären Hintergrund ausgeprägt wurden. Dies setzt der Realisation von Chancengleichheit vergleichsweise enge Grenzen.

Faire

Chancengleichheit

7

Das Ideal vollständiger sozialer Gleichheit wäre nur dann zu realisieren, wenn Kinder nicht bei ihren Eltern aufwüchsen, sondern von staatlichen Institutionen erzogen würden, weil nur sie allen annähernd gleiche Bedingungen für die Entwicklung ihrer Anlagen und Talente bieten könnten. Dies tritt jedoch nicht nur mit dem für Kinder normalerweise sehr großen Wert in Konflikt, bei den eigenen Eltern aufzuwachsen, sondern auch mit dem in einer freien und pluralistischen Gesellschaft anerkannten Anspruch der Eltern, ihre Kinder im Sinne ihrer eigenen Lebens- und Wertvorstellungen zu erziehen. Vollständige Chancengleichheit ist deshalb in einer freien Gesellschaft nicht zu erreichen. Ich verstehe Rawls' Begriff der fairen Chancengleichheit so, dass er eine Mittelposition zwischen formaler und vollständiger Chancengleichheit beschreibt, die dann realisiert ist, wenn die Lebenschancen aller Gesellschaftsmitglieder mit gleichen Begabungen und Talenten genau soweit angeglichen worden sind, wie es mit allen anderen in einer wohlgeordneten Gesellschaft öffentlich anerkannten Werten und Normen vereinbar ist. Wie schwer es ist, diese Mittelposition genauer zu bestimmen, zeigt sich zum Beispiel in der aktuellen Diskussion über die geeigneten Formen der beruflichen und sozialen Förderung von Frauen. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass über die grundrechtliche Gleichstellung von Frauen hinaus politische Maßnahmen notwendig sind, um der nach wie vor bestehenden sozialen Benachteiligung von Frauen entgegenzuwirken. Umstritten ist dagegen, was es konkret bedeutet, faire Chancengleichheit für Frauen und Männer zu verwirklichen. Müssen Frauen und Männer dazu in allen relevanten gesellschaftlichen Gremien zu gleichen Anteilen vertreten sein, und ist es mit Blick auf die prima fade gleichen Ansprüche aller Beteiligten zulässig, Frauen durch Quotenregelungen bei der Konkurrenz um begehrte und einflussreiche soziale Positionen und Ämter gegenüber Männern zu bevorzugen? Die erste Vorstellung ist unrealistisch, die zweite steht nach der Auffassung nicht weniger Menschen in Konflikt mit der grundrechtlichen Gleichheit

8

Die beiden

Gerechtigkeitsgrundsätze

von Frauen und Männern. Praktisch bedeuten festgelegte Quoten zugunsten von Frauen, dass fachlich gleichermaßen qualifizierte Männer im Einzelfall häufig keine fairen Chancen in der Konkurrenz um eine begehrte Position haben.

3. Einkommen

und Vermögen als Grundgüter

Wir kommen nun zum Differenzprinzip, das im Gefüge der Rawls'schen Grundsätze die gesellschaftliche Verteilung der Einkommen und Vermögen reguliert. Rawls zählt Einkommen und Vermögen - verstanden im Sinne eines freien Verfügens über materielle Güter und Ressourcen - zu den Grundgütern, an denen alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von ihren persönlichen Lebensumständen und Präferenzen rationalerweise interessiert sind. Dies ist von einigen Autoren als eine Fehlorientierung an kapitalistischen Lebensverhältnissen und instrumentalistisch verkürzten Wertmaßstäben kritisiert worden.11 Ich möchte auf die vorgebrachten Kritikpunkte hier nicht im Einzelnen eingehen und nur einige Bemerkungen zur Bedeutung von Einkommen und Vermögen als Grundgütern für alle Gesellschaftsmitglieder machen. Die Möglichkeit, über materielle Güter und Ressourcen frei zu verfügen, hat für die meisten Menschen einen großen instrumenteilen Wert. Die Lebenspläne der meisten setzen zu ihrer Verwirklichung ein ausreichend hohes Einkommen voraus, um materielle Grundbedürfnisse und darüber hinausgehende Wünsche zu befriedigen. Da auch niemand gezwungen ist, ihm zur Verfügung stehende Mittel tatsächlich zu nutzen, ist es unter instrumenteilen Gesichtspunkten in der Regel besser, über mehr Ressourcen zu verfügen als über weniger; denn es ist vergleichsweise einfach, sich überflüssiger Mittel zu entledigen. Niemand wird deshalb vernünftigerweise, wenn es um die Wahl von auf Dauer gültigen Verteilungsgrundsätzen geht, vorab seinen Anspruch auf einen gerechten Anteil an materiellen Gütern aufgeben und sich unwiderruflich mit weniger zufrieden geben.

Einkommen und Vermögen als Grundgüter

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Der Anteil an Gütern und Ressourcen, über die eine Person frei verfügen kann, bestimmt jedoch nicht nur, in welchem Maße sie in der Lage ist, ihre Lebenspläne zu verwirklichen. Er legt auch fest, welchen realen Wert die durch den ersten Grundsatz garantierten Freiheiten und Vorrechte für sie haben. Neben dem instrumentellen Wert von Einkommen und Vermögen für alle Gesellschaftsmitglieder müssen wir ihren freiheitsbezogenen Wert berücksichtigen, wenn wir ihre Rolle als Grundgüter verstehen wollen. Die politischen Freiheiten und das Recht, sich als gleichberechtigter Bürger an kollektiven Entscheidungsprozessen zu beteiligen, sind für eine Person ohne Wert, die nicht in der Lage ist, Zeitungen zu kaufen oder ein Fernsehgerät aufzustellen, um sich über politische Fragen zu informieren. Und das Recht, sich frei zu bewegen und zu reisen, nützt demjenigen nichts, der sich weder Auto noch Fahrrad noch Fahrkarte leisten kann, um sich die Welt anzuschauen. Der Wert aller Rechte, Freiheiten und Privilegien einer Person kann als eine Funktion der Mittel beschrieben werden, die ihr zur Verfügung stehen, um die ihr formal zugestandenen Handlungsmöglichkeiten tatsächlich wahrzunehmen, und im Allgemeinen nehmen wir an, dass dieser Wert für eine Person mit ihrem Anteil an materiellen Ressourcen steigt.12 Wenn wir mit Rawls die politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten als von allen Bürgern benötigte Grundgüter betrachten, kommen wir deshalb nicht umhin, auch den zu ihrer Ausübung und Nutzung erforderlichen materiellen Gütern und Ressourcen diesen Status zuzuerkennen. Rationale Personen werden ihre faktischen Handlungsmöglichkeiten naturgemäß dazu nutzen, ihre Lebenspläne zu verfolgen und zu verwirklichen. Dennoch lässt sich der freiheitsbezogene Wert von Einkommen und Vermögen nicht vollständig auf den instrumentellen Wert materieller Güter für die Erfüllung gegebener Präferenzen und Wünsche reduzieren. Ebenso, wie wir bestimmte uns formal-rechtlich garantierte Freiheiten um ihrer selbst willen schätzen, ohne notwendigerweise daran zu denken, sie jemals zu nutzen, können auch die

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Die beiden Gerecbtigkeitsgrundsätze

zum konkreten Freiheitsgebrauch nötigen materiellen Voraussetzungen einen intrinsischen Wert für uns haben. Wir schätzen sie dann nicht nur deswegen, weil sie uns ermöglichen, Dinge zu tun, die wir tatsächlich tun wollen, sondern weil wir die mit ihnen verbundenen realen Handlungsmöglichkeiten um ihrer selbst willen schätzen. Das Recht einer freien Wahl des Wohnorts und die Möglichkeit, ungehindert im eigenen Lande und über seine Grenzen hinaus zu reisen, hat auch für diejenigen einen Wert, die nicht im Ernst daran denken, jemals ihren Wohnort zu wechseln oder eine Reise zu unternehmen, und dasselbe gilt offenbar für die materiellen Voraussetzungen der Wahrnehmung dieser Rechte und Möglichkeiten. Eine dritte für die Bedeutung von Einkommen und Vermögen als Grundgüter wesentliche Wertdimension ergibt sich aus dem, was ich den formativen Wert materieller Güter und Ressourcen nennen möchte. In diesem Punkt nimmt die Rawls'sche Theorie eine bereits bei Rousseau, Hegel und Marx formulierte Einsicht auf. Eine Gesellschaft ist mehr als ein System sozialer Kooperation zur Befriedigung gegebener Bedürfnisse und Präferenzen; diese entstehen vielmehr erst vor einem Hintergrund bereits existierender gesellschaftlicher Institutionen und etablierter Formen der Bedürfnisbefriedigung. 13 Dasselbe gilt für die zu einer vernünftigen Lebensplanung notwendigen Fähigkeiten und Dispositionen. Die Verteilung der Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft bildet einen sozialen Rahmen, der neben anderen Faktoren dafür bestimmend ist, in welcher Art und Weise sich die Fähigkeiten und Präferenzen der Gesellschaftsmitglieder ausbilden und entwickeln. Wer aufgrund seiner sozialen Herkunft oder Stellung davon ausgehen kann, dauerhaft über mehr Güter und Ressourcen zu verfügen als andere, wird sich in der Regel weiter gesteckte Ziele setzen und aufwendigere Lebenspläne verfolgen als jemand, der sich von früh an bescheiden musste. Auch sind für ihn normalerweise die ökonomischen und sozialen Bedingungen für die Entwicklung seiner Anlagen und Fähigkeiten besser. Für eine Theorie der Gerechtigkeit bedeutet dies, dass sie sich nicht darauf be-

Das

Differenzprinzip

11

schränken darf, gerechte oder faire Bedingungen für die Befriedigung gegebener Präferenzen und Interessen zu spezifizieren. Wir erwarten von ihr eine begründete Antwort auf die Frage, wie die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft eingerichtet sein muss, wenn sie allen Beteiligten gerechte Bedingungen für die Ausbildung und Entwicklung von Bedürfnissen, Präferenzen und Fähigkeiten bieten will. Daraus, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft mit Blick auf den instrumenteilen, freiheitsbezogenen und formativen Wert von Einkommen und Vermögen ein rationales Interesse daran haben, über materielle Güter und Ressourcen zu verfügen, folgt freilich nicht, dass auch alle notwendigerweise ein rationales Interesse daran hätten, ihren Anteil an diesen Gütern zu maximieren. Es ist eine Binsenweisheit, dass materieller Überfluss auch von Schaden sein kann, und offenkundig sind nicht alle Menschen an maximalen Güterzuteilungen interessiert. Wenn wir von den genannten drei Wertdimensionen materieller Ressourcen ausgehen, können wir gleichwohl feststellen, dass in einer gerechten Gesellschaft alle Bürger erstens einen fairen Anteil an materiellen Mitteln zur Verfolgung ihrer persönlichen Lebenspläne erhalten, dass zweitens alle über einen fairen Anteil an Ressourcen zur Ausübung ihrer Freiheiten und anderweitigen Privilegien als Bürger verfügen können und dass drittens für alle faire Bedingungen der Ausbildung und Entwicklung ihrer persönlichen Präferenzen und Fähigkeiten bestehen. Und dies genügt, um die Bedeutung von Einkommen und Vermögen für alle Gesellschaftsmitglieder hoch genug einzuschätzen, um ihre Verteilung durch oberste Gerechtigkeitsgrundsätze zu regulieren.

4. Das

Differenzprinzip

Bei Rawls wird die zunächst unbestimmte Vorstellung einer gerechten oder adäquaten Verteilung materieller Güter und Ressourcen durch das Differenzprinzip konkretisiert. Wir kön-

12

Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze

nen uns seine Bedeutung anhand einer von Rawls verwendeten einfachen Grafik veranschaulichen. 14

Abb. 1 Die OP-Kurve in Abb. 1 bildet die in einer Gesellschaft bei einer gegebenen Einrichtung ihrer institutionellen Grundstruktur realisierbaren Einkommensverteilungen ab. 15 Sie beschreibt die wirtschaftliche Produktivität einer Gesellschaft in Abhängigkeit von der jeweils angestrebten Einkommensverteilung („P" steht für „Produktivität", „0" für die Gleichverteilung der Einkommen im Ursprung des Koordinatensystems). Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass nur zwei soziale Gruppen zu berücksichtigen sind: die Gruppe der von ungleichen Einkommensverteilungen Begünstigten und die Gruppe der weniger Begünstigten. Auf der X-Achse werden die möglichen Einkommenszuwächse der begünstigten Gesellschaftsmitglieder abgetragen, auf der Y-Achse die der weniger Begünstigten, und zwar, so nehmen wir an, jeweils für ein repräsentatives Mitglied der beiden Gruppen. Ausgehend von einer Gleichverteilung aller Einkommen im Ursprung des Koordinatensystems beschreibt die OP-Kurve durch eine gesteigerte Produktivität mögliche Einkommenszuwächse für beide Gruppen. Dabei

Das Differenzprinzip

13

unterstellen wir, dass es sich um reale Einkommenszuwächse handelt, so dass einem höheren Einkommenswert auf den Achsen stets ein größerer Anteil an Gütern und Ressourcen für die Beteiligten entspricht. 16 Außerdem vergleichen wir nicht die von den Mitgliedern einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt erzielten Einkommen, sondern die Lebenszeiteinkommen der für die jeweiligen Gruppen repräsentativen Person resp. ihre diesbezüglichen Einkommenserwartungen. N u r so lassen sich willkürliche, vom jeweiligen Stand individueller Lebensläufe und beruflicher Werdegänge abhängige Einschätzungen vermeiden. Mit Blick auf die normative Begründung des Differenzprinzips k o m m t es weniger auf den exakten Verlauf der OP-Kurve an als darauf, dass sie in etwa die in Abb. 1 beschriebene konkave Form hat, unterhalb der Winkelhalbierenden zügig ansteigend ihr M a x i m u m im Punkt d* erreicht und dann relativ steil abfällt. Dieser f ü r die OP-Kurve typischen Form liegt die empirische Annahme zugrunde, dass die Aussicht, differenzielle Einkommen zu erzielen, allen Gesellschaftsmitgliedern einen Anreiz für produktive Anstrengungen bietet und so zu einer Vermehrung der insgesamt verfügbaren Güter und Ressourcen führt. Bei einer geeigneten Verteilung des Mehrprodukts können alle Beteiligten von einer ungleichen Einkommensverteilung profitieren, also auch diejenigen, die nicht zur Gruppe der Begünstigteren gehören. Weiter nehmen wir an, dass die von Einkommensungleichheiten ausgehenden Produktivitätsanreize mit steigendem Einkommen abnehmen, und zwar umso stärker, je größer die bereits bestehenden Ungleichheiten sind. Dies k o m m t in der abnehmenden Steigung der OP-Kurve zum Ausdruck. 1 7 Welchen konkreten Verlauf die OP-Kurve f ü r eine gegebene Gesellschaft nimmt, ist eine empirische Frage und von verschiedenen Faktoren abhängig. Eine wesentliche Rolle spielt die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft. Sie bestimmt die rechtlichen Rahmenbedingungen für alle wirtschaftlichen Transaktionen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern und beeinflusst so mittelbar die Struktur und Spann-

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Die beiden

Gerechtigkeitsgrundsätze

breite realisierbarer Einkommensverteilungen. Von Bedeutung ist dabei nicht nur die Wirtschafts- und Eigentumsordnung einer Gesellschaft, sondern auch, welchen Einfluss staatliche Institutionen im Rahmen der politischen Verfassung und Rechtsordnung durch Steuern, geldpolitische Maßnahmen, Subventionen und gesetzliche Regulierungen auf den Wirtschaftsprozess nehmen können. 18 Je nach Einrichtung der Grundstruktur ergibt sich ein spezifischer Verlauf der OP-Kurve, das heißt eine Menge realisierbarer Einkommensverteilungen. Welche Einkommensverteilung schließlich realisiert wird, hängt dann zum einen von den wirtschaftlichen Transaktionen aller Beteiligten und zum anderen von distributiv wirksamen staatlichen Eingriffen, zum Beispiel durch Steuern und Transferzahlungen, ab. Wenn wir davon ausgehen, dass das Rawls'sche Differenzprinzip nicht nur einen wünschenswerten sozialen Zustand, sondern eine realisierbare Forderung sozialer Gerechtigkeit beschreibt, müssen wir annehmen, dass es möglich ist, durch eine geeignete Einrichtung der Grundstruktur und durch entsprechende verteilungspolitische Maßnahmen die Realeinkommen der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder zu maximieren und den Verteilungspunkt d* zu realisieren oder sich ihm zumindest anzunähern. Eine Gesellschaft, deren Grundstruktur den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz und die Bedingung fairer Chancengleichheit erfüllt, können wir, da verschiedene Einrichtungen der Wirtschaftsordnung denkbar sind, durch eine Schar von OP-Kurven charakterisieren, die möglicherweise an unterschiedlichen Punkten ihr Maximum erreichen. Ist dies der Fall, fordert das Differenzprinzip, die Grundstruktur institutionell so auszugestalten, dass durch geeignete politische Maßnahmen das Maximum der am höchsten gelegenen OP-Kurve (nennen wir es das absolute Maximum) realisiert werden kann. Im Folgenden gehen wir der Einfachheit halber stets davon aus, dass die jeweils dargestellte OP-Kurve das absolute Maximum für die am wenigsten Begünstigten angibt und dass nur eine maximale OPKurve zu berücksichtigen ist.

Das

Differenzprinzip

15

Ein letzter wichtiger Punkt betrifft die Identifikation der Personen, von denen wir sagen, dass sie durch verschiedene Einkommensverteilungen in unterschiedlicher Weise begünstigt werden. Die Forderung, dass Einkommensungleichheiten zum größtmöglichen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder ausfallen müssen, darf nicht so verstanden werden, als ginge es darum, die Einkommen der Mitglieder einer bestimmten Gruppe von Personen zu maximieren, die sich durch Eigennamen oder definite Kennzeichnungen als Individuen identifizieren ließen. Dies wäre mit der Vorstellung, dass moralische Normen und Grundsätze allen Betroffenen gegenüber unparteiisch sein müssen, unvereinbar. Stellen wir uns vor, die Landwirte einer Gesellschaft befänden sich in der am wenigsten begünstigten Einkommensposition und es wäre möglich, ihre Realeinkommen durch eine staatliche Regulierung der Agrarpreise zu erhöhen, mit der Konsequenz allerdings, dass die Realeinkommen der ungelernten Fabrikarbeiter unter das Ausgangseinkommen der Landwirte fallen würden. In diesem Falle würde die staatliche Erhöhung der Agrarpreise gegen das Differenzprinzip verstoßen. Durch die Preisregulierung würden lediglich die Mitglieder der Gruppe der am wenigsten Begünstigten ausgetauscht, das Realeinkommen dieser Gruppe würde jedoch sinken. Das aber ist mit dem Differenzprinzip als einem Grundsatz distributiver Gerechtigkeit unvereinbar. Niemand hat, so unsere hier zugrunde liegende Intuition, einen moralischen Anspruch auf kollektive Hilfsmaßnahmen zur Verbesserung seiner materiellen Lebenssituation, wenn dadurch andere in eine Situation geraten, die schlechter ist als eben die Situation, aus der er herauskommen möchte. Es geht also nicht darum, die Einkommen bestimmter Personen zu maximieren. Vielmehr soll das Einkommen einer Gruppe von Personen maximiert werden, die nicht durch die zu einem gegebenen Zeitpunkt zu ihr gehörigen Personen definiert ist, sondern durch ihre relative Stellung im System der gesellschaftlich realisierbaren Einkommensverteilungen. Wir können die Menge der in einer Gesellschaft bei einer gegebenen Einrich-

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Die beiden

Gerechtigkeitsgrundsätze

tung der Grundstruktur realisierbaren Einkommensverteilungen (EV) als eine Menge von Vektoren beschreiben. Jeder Komponente eines Vektors entspricht dann eine Einkommensstufe (das Einkommen der repräsentativen Person einer Einkommensgruppe).

Für jeden Vektor können wir ein minimales Element xmin, ymin ... zmin identifizieren, das uns das Einkommen der bei dieser Verteilung am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder angibt, ohne dass wir wissen müssten, wer zu dieser Gruppe tatsächlich gehört, oder dass wir annehmen müssen, dass es sich bei allen Verteilungen um dieselben Individuen handelt. Das Differenzprinzip fordert, dass derjenige Vektor als Einkommensverteilung gewählt wird, dessen minimales Element maximal in dem Sinne ist, dass es keinen anderen Vektor mit einem größeren minimalen Element gibt. Gefordert ist die Maximierung der minimalen Einkommensstufe oder, wie wir auch sagen können, die Realisation von Maximin-Einkommen für die am wenigsten Begünstigten.19 Im Vergleich zum Prinzip der fairen Chancengleichheit ist das Differenzprinzip vergleichsweise einfach anzuwenden, oder besser gesagt, die Schwierigkeiten bei seiner Anwendung betreffen keine internen moralischen Probleme einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit, sondern lediglich praktisch-ökonomische Fragen eines zur Erfüllung des Differenzprinzips optimalen Steuersystems. Wenn wir von einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft ausgehen, in der alle am System sozialer Kooperation Beteiligten durch Marktpreise regulierte Erwerbseinkommen beziehen, geht es schlicht darum, durch ein geeignetes Steuersystem das gesamtgesellschaftliche Steueraufkommen im Sinne der Laffer-Kurve zu maximieren und auf diese

Liberale Gleichheit

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Weise maximale Transferzahlungen an die Gruppe derjenigen mit dem geringsten Realeinkommen zu finanzieren. 20 Da jedoch normalerweise niemand den genauen Verlauf der Lafferund der OP-Kurve für eine Gesellschaft kennt, geht es darum, auf der Grundlage der zu einem Zeitpunkt empirisch am besten begründeten Vermutungen über den Verlauf dieser Kurven zumindest eine Annährung an Maximin-Einkommen für die Gruppe der am wenigsten Begünstigten zu erreichen. Eine zweite sozialpolitische Implikation des Differenzprinzips liegt darin, Ressourcen für die berufliche Bildung vordringlich an die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder zu verteilen, um auf diese Weise ihre ökonomische Stellung langfristig zu verbessern.

5. Liberale Gleichheit Nach Rawls lassen die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze zusammen mit den für sie charakteristischen Vorrangregeln die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness zu einer liberalen und egalitären Gerechtigkeitskonzeption werden. Rawls nennt drei Merkmale, durch die sich eine liberale Gerechtigkeitskonzeption von anderen, insbesondere utilitaristischen und perfektionistischen Konzeptionen unterscheidet: (1) Sie fordert für alle Bürger bestimmte Grundrechte, Freiheiten und Lebenschancen, wie sie in demokratischen Verfassungsstaaten allgemein garantiert werden. (2) Sie spricht diesen Grundrechten, Freiheiten und Chancen einen Vorrang gegenüber dem Allgemeinwohl und anderen Werten zu. (3) Sie fordert für alle einen angemessenen Anteil an allgemein dienlichen Mitteln, damit sie ihre Freiheiten und Chancen effektiv nutzen können. 21 Aus wiederum drei Gründen sind die Rawls'schen Grundsätze Ausdruck einer egalitären Gerechtigkeitsvorstellung: ( 1 ) Mit der Garantie des fairen Werts der politischen Freiheiten gehen sie über die bloß formale Gleichberechtigung aller Bürger bei politischen Entscheidungsprozessen hinaus. (2) Die Forderung der

18

Die beiden

Gerechtigkeitsgrundsätze

fairen gegenüber einer bloß formal-rechtlichen Chancengleichheit zielt auf eine Angleichung der Lebenschancen von Gesellschaftsmitgliedern mit vergleichbaren Begabungen und Talenten. (3) Das Differenzprinzip lässt materielle Ungleichheiten nur in dem Maße zu, in dem sie sich zum maximalen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.22 Rawls' Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness mit den für sie charakteristischen Grundsätzen ist nicht die einzige denkbare liberale und egalitäre Gerechtigkeitskonzeption. Der Inhalt des ersten Grundsatzes wird durch eine Liste von politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten spezifiziert, und es sind begründete Meinungsverschiedenheiten darüber denkbar, welche konkreten Freiheiten als Grundfreiheiten im Rawls'schen Sinne anzusehen sind.23 Ebenso lässt die Idee der fairen Chancengleichheit verschiedene Interpretationen zu, und auch die Forderung eines angemessenen Anteils an materiellen Gütern und Ressourcen, die Rawls mithilfe des Differenzprinzips genauer fasst, ist offen für divergierende Auslegungen. Anders steht es mit dem von Rawls für liberale Konzeptionen reklamierten Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber anderen Werten und insbesondere vor den Forderungen sozialer Gerechtigkeit seines zweiten Grundsatzes. Nach Rawls muss jede Gerechtigkeitskonzeption, wenn sie als eine liberale Konzeption gelten will, eine entsprechende Vorrangregelung treffen. Für das Verständnis der Stellung des Differenzprinzips innerhalb einer liberalen Gerechtigkeitskonzeption ist es deshalb wesentlich, die Bedeutung des von Rawls behaupteten Vorrangs der Grundfreiheiten und seiner Begründung zu verstehen. Darauf gehe ich im nächsten Kapitel ein.

6. Der Vorrang der fairen

Chancengleichheit

Innerhalb des zweiten Grundsatzes spricht Rawls der fairen Chancengleichheit einen Vorrang gegenüber dem Differenzprinzip zu.24 In Konfliktfällen müssen demnach auch die am

Der Vorrang der fairen Chancengleichheit

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wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder prinzipiell vermeidbare Einschränkungen ihrer Einkommen und Vermögen hinnehmen, wenn dies unvermeidlich sein sollte, um allen Gesellschaftsmitgliedern faire Chancen im Wettbewerb um begehrte soziale Positionen zu bieten. So mögen zum Beispiel unter bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen die Realeinkommen der am wenigsten Begünstigten, sagen wir der ungelernten Aushilfen, dauerhaft sinken, wenn in einer Gesellschaft bisher vom Arbeitsmarkt mehr oder weniger ausgeschlossenen sozialen Gruppen (zum Beispiel Hausfrauen oder ausländischen Zuwanderern) durch gesetzliche Reformen der Zugang zu den entsprechenden Tätigkeiten eröffnet oder erleichtert wird. Das Arbeitsangebot in diesem Bereich würde dann steigen, die Löhne würden entsprechend sinken. Rawls' Begründung der Priorität der Chancengleichheit gegenüber dem Differenzprinzip ist nicht, dass gleiche Bildungschancen langfristig gesehen eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der am wenigsten Begünstigten erwarten lassen, auch wenn dies in vielen Fällen tatsächlich der Fall sein mag. Sie beruht vielmehr darauf, dass mit verantwortungsvollen Aufgaben betraute soziale Positionen selbst ein wichtiges Grundgut sind, von welchem niemand um anderer Vorteile willen ausgeschlossen werden darf. 25 Die Rawls'sche Forderung eines Vorrangs der fairen Chancengleichheit gegenüber dem Differenzprinzip entspricht dem bekannten Grundsatz der formalen Gerechtigkeit, in relevanter Weise gleiche Fälle gleich zu behandeln, wenn man sich an den natürlichen Anlagen und Begabungen als vorrangigem Kriterium für die Verteilung von Lebenschancen orientiert. Sie ist aber nicht unproblematisch, weil sie den weniger Begabten unter Umständen Einkommensnachteile zumutet, um sozialpolitische Programme zur Herstellung fairer Chancengleichheit für Begabtere zu finanzieren, von denen sie selbst nicht notwendigerweise profitieren.

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Die beiden

Gerechtigkeitsgrundsätze

7. Verfahrensgerechtigkeit und die Tendenz zur Gleichheit Vergegenwärtigen wir uns zum Abschluss dieses Kapitels die institutionelle Grundstruktur eines von den Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätzen wohlgeordneten Gemeinwesens. Seine politischen Institutionen garantieren allen Bürgern die gleichen formal-rechtlichen politischen Partizipationsmöglichkeiten und darüber hinaus den fairen Wert der politischen Freiheiten: Alle Beteiligten haben, wenn nicht gleiche, so doch faire Chancen, kollektive Entscheidungsprozesse im Sinne ihrer wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen zu beeinflussen. Da außerdem allen die gleichen bürgerlichen Freiheiten garantiert werden, können wir im Idealfall sicher sein (aber nicht in der Praxis), dass demokratisch zustande gekommene kollektive Entscheidungen niemals in ungerechter Weise in das Leben der Bürger eingreifen. Damit sind die Ansprüche der politischen Gerechtigkeit erfüllt. Rawls beschreibt eine durch den ersten Grundsatz wirksam regulierte Gesellschaft als ein System reiner Verfahrensgerechtigkeit.26 Demokratische Entscheidungen, die unter Bedingungen gleicher politischer Freiheiten und fairer Chancen der politischen Einflussnahme zustande kommen und mit gleichen bürgerlichen Grundfreiheiten vereinbar sind, sind gerechte Entscheidungen und dürfen als solche nötigenfalls mit staatlicher Zwangsgewalt durchgesetzt werden. Dieses Ideal einer reinen politischen Verfahrensgerechtigkeit lässt sich aber allenfalls annäherungsweise realisieren. Auch in einem vollkommenen System positiv-rechtlich garantierter politischer Freiheiten wird es unter realistischen Bedingungen schwierig, wenn nicht unmöglich sein, den fairen Wert dieser Freiheiten für alle Bürger zu gewährleisten. Darüber hinaus müssen wir stets mit begründeten Meinungsverschiedenheiten darüber rechnen, ob konkrete politische Entscheidungen tatsächlich den Forderungen gleicher und angemessener politischer und bürgerlicher Grundfreiheiten genügen. Da auch demokratische Mehrheiten sich in diesen Punkten irren können, kann auch eine in ihrer Grundstruktur gerechte politische Gesellschaft unter realisti-

Verfahrensgerechtigkeit und die Tendenz zur Gleichheit

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sehen Bedingungen allenfalls ein System unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit sein. Wenn wir nun der Garantie der gleichen Grundfreiheiten und des fairen Werts der politischen Freiheiten die faire Chancengleichheit hinzufügen, können wir die idealtypische Vorstellung der reinen Verfahrensgerechtigkeit vom Bereich des Politischen auf den des Sozialen übertragen. Politische Gerechtigkeit, im Sinne des ersten Grundsatzes, und faire Chancengleichheit zusammen lassen eine wohlgeordnete Gesellschaft tendenziell zu einem System reiner Verfahrensgerechtigkeit werden, in dem sich die Verteilung der Einkommen und Vermögen ohne politische Eingriffe und Korrekturen einer Maximin-Verteilung annähert.27 Faire demokratische Partizipationsmöglichkeiten für alle Gesellschaftsmitglieder lassen Gesetze erwarten, welche den Interessen der weniger begünstigten Gesellschaftsmitglieder Rechnung tragen. Und faire Chancengleichheit setzt den zu erwartenden sozialen und materiellen Ungleichheiten .natürliche' Grenzen, da sie den Wettbewerb um erstrebenswerte soziale Positionen verstärkt und so dazu beiträgt, die mit diesen Positionen verbundenen Einkommen sinken zu lassen. Aus alledem folgt nicht, dass eine politisch gerechte und faire Chancengleichheit gewährleistende Gesellschaft notwendigerweise auch eine gerechte Gesellschaft im Sinne des Differenzprinzips ist. Wir dürfen jedoch vermuten, dass es eine Gesellschaft ist, deren institutionelle Grundstruktur eine Tendenz zur materiellen Gleichstellung aller Gesellschaftsmitglieder hat. Wie stark diese Tendenz unter realistischen Bedingungen tatsächlich ist und ob sie ausreicht, tatsächlich eine dem Differenzprinzip genügende Einkommensverteilung hervorzubringen, muss offen bleiben.

2. Kapitel:

Der Vorrang der Grundfreiheiten Der Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber anderen politischen und nicht-politischen Werten nimmt bei Rawls die Form eines absoluten Vorrangs des ersten vor dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz an. Sobald in einer Gesellschaft die kulturellen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen dafür bestehen, allen Bürger gleiche Rechte auf autonome Lebensgestaltung und politische Partizipation zu garantieren, ist es demnach unmöglich, Einschränkungen von Grundfreiheiten dadurch zu rechtfertigen, dass sie faire Chancengleichheit fördern oder zur Erfüllung des Differenzprinzips notwendig sind. Wegen der überragenden Bedeutung der gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten für alle Beteiligten dürfen, so Rawls, einzelne Grundfreiheiten nur um anderer Grundfreiheiten willen eingeschränkt werden oder um das System der Grundfreiheiten insgesamt zu stärken, nicht aber aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit oder des Allgemeinwohls.1 In A Theory of Justice hatte Rawls sich bei der Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten im Wesentlichen auf drei Argumente gestützt. Das Interesse an einem selbstbestimmten Leben: Mit steigendem Wohlstand wachse, so Rawls, das Interesse aller Gesellschaftsmitglieder an einem selbstbestimmten Leben, wie es durch die gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten ermöglicht wird. Gleichzeitig nehme der Wert zusätzlicher materieller Verbesserungen ab. Unter hinreichend günstigen ökonomischen Bedingungen, die allen Beteiligten, einschließlich der sozial am wenigsten Begünstigten, einen für die Befriedigung ihrer wichtigsten menschlichen Bedürfnisse ausreichenden Wohlstand gewähren, sei deshalb vernünftigerweise niemand mehr bereit, eine

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

Einschränkung seiner gleichen Grundfreiheiten um zusätzlicher materieller Vorteile willen zu akzeptieren.2 Der strategische Wert der Grundfreiheiten: In einer liberalen Demokratie regulieren die Grundfreiheiten die Ausübung politischer Macht durch Mehrheitsentscheidungen, und sie definieren die Grenzen, innerhalb derer solche Entscheidungen in das Leben der Bürger eingreifen dürfen. Alle gesellschaftlichen Lebensbereiche werden in der einen oder anderen Form durch politische Entscheidungen geprägt, denn sie bestimmen direkt oder indirekt über die gesellschaftliche Verteilung aller Rechte, Chancen und Güter. Aus diesem Grunde haben Bürger ein Interesse sowohl daran, auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen zu können - dies ermöglichen die gleichen politischen Freiheiten - als auch daran, ihre persönliche Lebenssphäre vor unerwünschten kollektiven Eingriffen zu schützen dies leisten die gleichen bürgerlichen Freiheiten. Der strategische Wert der gleichen Grundfreiheiten (und des fairen Werts der politischen Freiheiten) für die Sicherung von Rechten und Gütern des Einzelnen ist nach Rawls so groß, dass niemand seine gleichen Partizipations- und Schutzrechte um anderer Dinge willen aufgeben könnte, ohne zu riskieren, dass ihm als Konsequenz der Einschränkung seiner Grundfreiheiten nach und nach auch andere, schlimmstenfalls alle, für die Verwirklichung seiner Lebenspläne notwendigen Rechte und Güter entzogen werden. 3 Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung: Selbstachtung und Selbstvertrauen sind für alle Gesellschaftsmitglieder unverzichtbare Grundgüter. Ohne sie müssten alle Lebenspläne sinnlos und das Bemühen um ihre Verwirklichung von vornherein vergeblich erscheinen. Rawls' Argument der sozialen Grundlagen der Selbstachtung besagt nun, dass ein System gleicher Grundfreiheiten die beste institutionelle Basis für die angemessene Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen bei allen Gesellschaftsmitgliedern bietet. Die öffentliche Anerkennung eines Systems gleicher politischer Freiheiten bedeutet für alle Beteiligten, dass sie als gleichberechtigte Bürger anerkannt

Harts Kritik und Rawls' Revision seiner Freiheitslehre

25

werden, deren Überzeugungen und Meinungen im Prozess der kollektiven Entscheidungsfindung gehört werden müssen und deren Interessen mit gleichem Gewicht wie die aller anderen zu berücksichtigen sind.4 Die Garantie der gleichen bürgerlichen Grundfreiheiten ist ein Ausdruck der öffentlichen Anerkennung des Wertes der individuellen Autonomie, und so ist sie indirekt auch eine Anerkennung des Wertes der verschiedenen von den Bürgern einer pluralistischen Gesellschaft bejahten Lebenskonzeptionen. Niemand muss innerhalb der durch die bürgerlichen Grundfreiheiten geschützten Sphäre fürchten, aus Gründen des Allgemeinwohls oder aufgrund von Wertvorstellungen, die er nicht teilt, an der Verwirklichung seiner eigenen Lebenspläne gehindert zu werden; jeder darf sich so von seinen Mitbürgern in seinem eigenen Wert und im Wert der von ihm bejahten Lebensvorstellungen öffentlich bestätigt sehen. Eine durch ein System gleicher politischer und bürgerlicher Grundfreiheiten wohlgeordnete Gesellschaft bietet nach Rawls deshalb allen die beste Grundlage für Selbstachtung und Selbstvertrauen, die mit der Vorstellung gleicher Ansprüche aller auf die für ihr Leben nötigen Grundgüter zu vereinbaren ist.5

1. Harts Kritik und Rawls' Revision seiner

Freiheitslehre

Die Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten in A Theory of Justice ist unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches von Herbert Hart kritisch kommentiert worden.6 Es sei Rawls nicht gelungen, überzeugend darzulegen, aus welchen Gründen alle Bürger unabhängig vom konkreten Inhalt ihrer Wertvorstellungen und Lebenskonzeptionen ein höchstrangiges Interesse an einem System gleicher Grundfreiheiten haben sollten. Die Begründung der Vorrangthese im Rekurs auf die rationalen Eigeninteressen aller Bürger bleibe insofern unvollständig und dogmatisch; implizit liege ihr eine spezifisch liberale und keinesfalls allgemein geteilte Idealvorstellung zugrunde: das Ideal des aktiven und engagierten Bürgers, aus dessen Sicht die Werte po-

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Der Vorrang der Grundfreiheiten

litischer Partizipation und autonomer Selbstbestimmung alle anderen materiellen oder immateriellen Werte überwiegen.7 In der Tat setzen Rawls' Argumente an mindestens zwei Punkten bereits etwas voraus, das für eine allgemein gültige Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten erst zu zeigen wäre: dass nämlich alle Mitglieder einer Gesellschaft zumindest unter hinreichend günstigen ökonomischen Bedingungen ein ihren anderen Interessen stets übergeordnetes Interesse an individueller Selbst- und politischer Mitbestimmung haben. Das Argument eines rationalen Eigeninteresses an Autonomie geht davon aus, dass mit zunehmendem gesellschaftlichem Wohlstand der Wert zusätzlicher materieller Vorteile deutlich ab-, der Wert einer autonomen Lebensgestaltung dagegen zunehme. Diese Annahme ist gewiss nicht unplausibel; sie trifft auf die Lebenskonzeptionen vieler Menschen zu. Ein allgemein gültiges Argument für die öffentliche Rechtfertigung eines praktisch absoluten Vorrangs der Grundfreiheiten lässt sich mit ihrer Hilfe aber nicht konstruieren; es ist offensichtlich, dass auch in wohlhabenden Gesellschaften viele Menschen den Wert materieller Güter über den Wert einer Garantie der Grundfreiheiten stellen, ohne dass sie deswegen irrational wären. Ähnliches gilt für das Argument, das von den sozialen Grundlagen der Selbstachtung ausgeht. Es setzt bereits voraus, dass der durch die politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten garantierte Status aller Gesellschaftsmitglieder, freie und gleiche Bürger zu sein, für deren Selbstachtung von größerer Bedeutung ist als die durch eine Einschränkung dieser Freiheiten unter Umständen möglichen materiellen Verbesserungen. In Reaktion auf Harts Kritik hat Rawls seine Freiheitslehre in „The Basic Liberties and their Priority" 8 einer grundlegenden Revision unterzogen. Sie läuft darauf hinaus, anstelle des zuvor vorausgesetzten rationalen Eigeninteresses aller Gesellschaftsmitglieder den Begriff der moralischen Person zur Grundlage einer Begründung für den Vorrang der Grundfreiheiten zu machen. Die Kernaussage des überarbeiteten Arguments lautet: Alle Bürger benötigen als freie und gleiche Personen für die

Bürger als moralische

Personen

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Verwirklichung ihrer rationalen Lebenspläne ein System gleicher Grundfreiheiten dringender als alle anderen Güter, die sie durch eine Einschränkung ihrer gleichen Grundfreiheiten erlangen könnten. Die von Rawls vorgenommene Revision seiner Theorie der Grundfreiheiten stellt keine Widerrufung der in A Theory of Justice vorgebrachten Argumente dar; und auch der Grundansatz einer Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten im Rekurs auf von allen Bürgern geteilte rationale Interessen wird nicht aufgegeben. Rawls' Vorgehen lässt sich am besten so beschreiben, dass die bereits angeführten Gründe mithilfe des Begriffs der freien und gleichen moralischen Person in eine komplexere argumentative Struktur eingebettet werden. Durch diese sollen zum einen die schon genannten Argumente sachlich abgestützt werden, zum anderen ergeben sich aus ihr einige weitere Gründe für den Vorrang der Grundfreiheiten. Die hauptsächliche Schwäche der ersten Begründung für diesen Vorrang lag darin, dass sie keine plausible Erklärung dafür lieferte, warum erstens Bürger unabhängig von ihren konkreten Wertvorstellungen und Idealen ein höchstrangiges Interesse an Autonomie haben sollten und warum zweitens ein System gleicher Grundfreiheiten für ihre Selbstachtung und für ihr Selbstvertrauen stets von größerer Bedeutung sein sollte als etwa Verbesserungen ihrer materiellen Lebenslage. Eben diese beiden Lücken sollen durch die Neubegründung der Vorrangthese im Ausgang vom Begriff der freien und gleichen moralischen Person geschlossen werden.

2. Bürger als moralische Personen: Zwei grundlegende Vermögen Rawls führt den Begriff der moralischen Person im Zusammenhang mit seiner Konzeption der Gesellschaft als eines fairen Systems sozialer Kooperation unter Freien und Gleichen ein. Soziale Kooperation ist mehr als ein durch Regeln koordinier-

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

tes gemeinsames Handeln verschiedener Personen. Sie setzt gleichberechtigte Partner voraus, die zum gegenseitigen Vorteil bestimmte Regeln des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens bereitwillig befolgen, und faire Kooperation impliziert, dass alle Beteiligten die sie bestimmenden Grundsätze und Regeln zumindest stillschweigend anerkennen und dass die Erträge der gemeinsamen Anstrengungen in fairer oder gerechter Weise verteilt werden.9 Damit sich eine Person als gleichberechtigter Partner auf allen Ebenen an einem System sozialer Kooperation beteiligen kann, muss sie über bestimmte Fähigkeiten und über die für das Leben in einer gerechten Gesellschaft notwendigen Verhaltensdispositionen verfügen. Rawls fasst die in dieser Hinsicht notwendigen Voraussetzungen im Begriff der moralischen Person zusammen. Eine Person zeichnet sich danach durch zwei grundlegende moralische Vermögen aus: den Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten. Außerdem hat eine Person eine mehr oder weniger rationale und mehr oder weniger artikulierte Vorstellung von ihrem eigenen Wohlergehen und davon, aufweiche Dinge es ihr im Leben ankommt. Sie bejaht, wie es bei Rawls heißt, eine besondere Konzeption des Guten.10 Unter einem Gerechtigkeitssinn versteht Rawls die Fähigkeit und Bereitschaft, Gerechtigkeitsgrundsätze und - allgemeiner faire soziale Regelungen zu verstehen und im eigenen Verhalten anderen gegenüber zu beachten. Dies schließt sowohl die kognitiven Kompetenzen ein, über die eine Person verfügen muss, um vernünftige Vorstellungen davon zu entwickeln, was es heißt, mit anderen in fairer Weise zu kooperieren, als auch die für faire Kooperation notwendigen praktischen Fähigkeiten. Als motivationale Komponente gehört zum Gerechtigkeitssinn außerdem die Bereitschaft, gerechte soziale Regelungen auch dann zu befolgen und zu unterstützen, wenn dies, wie es unvermeidlich ist, gelegentlich mit persönlichen Nachteilen verbunden ist. Das zweite grundlegende moralische Vermögen, die Befähigung zu einer Konzeption des Guten, ist notwendig, um ein

Bürger als moralische

Personen

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Leben in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der praktischen Rationalität zu führen. Es umfasst alle diejenigen Fähigkeiten und Verhaltensdispositionen, ohne die eine Person nicht in der Lage wäre, über die Merkmale und Voraussetzungen eines guten Lebens nachzudenken und den von ihr bejahten Wertvorstellungen gemäß zu leben. Dazu gehört das Vermögen zur Reflexion über letzte Ziele und Werte ebenso wie die Fähigkeit zu zweckrationalem Handeln. Rationale Personen sind auch in der Lage, ihre Ziele, Absichten und Lebenspläne kritisch zu überprüfen und einer Revision zu unterziehen, wenn dies aufgrund neuer Einsichten, gewandelter Wertvorstellungen oder veränderter Lebensbedingungen notwendig erscheint. Die besondere Konzeption des Guten einer Person sagt uns, durch welche Merkmale sich aus ihrer Sicht ein gutes und gelungenes Leben in Gemeinschaft mit anderen auszeichnet. Sie kann durch kulturelle, religiöse oder moralische Wertvorstellungen geprägt sein. Eine Konzeption des Guten ist keine durch natürliche oder soziale Vorgaben ein für alle Mal fixierte Disposition, vorgegebene Ziele zu verfolgen oder in Übereinstimmung mit bestimmten Werten zu handeln. Sie unterliegt zumindest partiell der rationalen Kontrolle einer Person. Angesichts ihrer Befähigung zur überlegten Revision ihrer Wertvorstellungen und Lebenspläne sind Personen frei in folgendem Sinne: Die von ihnen bejahten Konzeptionen des Guten sind Ausdruck dessen, was sie selbst für gut und richtig halten; sie stimmen mit ihren normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen überein. Zwei weitere Aspekte, unter denen Personen mit hinreichend entwickelten moralischen Grundvermögen von Rawls als freie Personen betrachtet werden, sind folgende: (1) Der Anspruch einer moralischen Person auf faire Berücksichtigung bei der Verteilung der Vor- und Nachteile sozialer Kooperation ist nicht von der von ihr bejahten besonderen Konzeption des Guten abhängig, sondern liegt ausschließlich in ihrer Eigenschaft begründet, Person zu sein. Veränderungen in der Konzeption des Guten einer Person können ihren Status als gleichberechtigter Kooperationspartner deshalb nicht beeinträchtigen. Eine Person ist frei,

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

ihre normativen Überzeugungen zu ändern, aufzugeben oder zu revidieren, ohne fürchten zu müssen, ihren Anspruch auf faire Berücksichtigung durch andere zu verlieren. (2) Personen sind schließlich auch in dem Sinne frei, dass sie aus eigenem Recht Ansprüche gegen andere geltend machen können, ohne sich dabei auf Ansprüche oder Rechte anderer berufen zu müssen. Personen sind, wie es bei Rawls heißt, „ self-authenticating sources of valid claims";11 sie haben einen Anspruch auf faire Gegenseitigkeit, einfach weil sie Personen sind und nicht weil sie in besonderen, durch bestehende Institutionen definierten rechtlichen oder sozialen Beziehungen zu anderen stehen. Die Bedeutung des Gerechtigkeitssinnes und der Befähigung zu einer Konzeption des Guten für das Leben in einer gerechten Gesellschaft ist offensichtlich. Kooperation zum gegenseitigen Vorteil setzt die Fähigkeit zu rationalem Überlegen und Handeln voraus; und faire Kooperation wäre unmöglich ohne die Fähigkeit und Bereitschaft aller Beteiligten, sich in ihren Lebensplänen aufeinander abzustimmen und getroffene Vereinbarungen freiwillig einzuhalten. Die dem Begriff fairer Kooperation zugrunde liegende intuitive Vorstellung freier und gleicher Partner wird von Rawls deshalb mithilfe seiner Konzeption der beiden grundlegenden moralischen Vermögen konkretisiert. Als Freie und Gleiche treten sich die an einem System sozialer Kooperation Beteiligten gegenüber, sobald sie ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten in dem für faire Kooperation nötigen Maße entwickelt haben. Ist diese Bedingung erfüllt, haben alle prima facie denselben Anspruch auf die Achtung und Berücksichtung ihrer normativen Überzeugungen, Bedürfnisse und Interessen, wenn es um die Verteilung von Grundgütern und allgemeiner um die Festlegung sozialer Regeln geht. Mit Blick auf die grundlegende Bedeutung der beiden moralischen Vermögen dafür, ein gleichberechtigter Partner in einem fairen System sozialer Kooperation zu sein, spricht Rawls moralischen Personen als ein weiteres definierendes Merkmal ein höchstrangiges Interesse an den für ihre angemessene Entwick-

Die Hierarchie der Grundgüter

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lung und Ausübung notwendigen sozialen Bedingungen zu. 12 Höchstrangig ist dieses Interesse, weil es allen anderen Interessen einer Person, wie sie sich aus ihrer besonderen Konzeption des Guten ergeben, übergeordnet ist. Folgen wir Rawls, so ist eine Person vernünftigerweise niemals bereit, um anderer Vorteile willen Güter aufzugeben, die für die angemessene Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen notwendig sind.

3. Die Hierarchie der

Grundgüter

Rawls fasst die für die Entwicklung und Ausübung der moralischen Grundvermögen notwendigen sozialen und materiellen Bedingungen in seiner Liste der Grundgüter zusammen. In A Theory of Justice waren Grundgüter zunächst als allgemein dienliche Mittel für die Verfolgung rationaler Lebenspläne definiert worden. Seit „Kantian Constructivism in Moral Theory" betrachtet Rawls sie dagegen als Güter, die für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Grundvermögen unverzichtbar sind.13 Die politischen Grundfreiheiten (Redefreiheit, Pressefreiheit, Wahlrecht) sind notwendige Bedingungen für die freie und informierte Anwendung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze auf die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft. Ohne sie könnten Bürger ihren Gerechtigkeitssinn nicht in angemessener Weise entwickeln und bei der moralischen Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen und Regelungen anwenden. Die bürgerlichen Grundfreiheiten (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) sind Voraussetzungen dafür, dass Bürger ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten angemessen entwickeln und ausüben können. Sie ermöglichen es den Mitgliedern einer Gesellschaft, in Übereinstimmung mit ihren eigenen Einsichten und Überzeugungen moralische, religiöse oder philosophische Konzeptionen des Guten zu bejahen, sie ungehindert zu verfolgen und sie, falls nötig, zu ändern oder zu revidieren. Freizügigkeit und freie Berufswahl vor einem

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

Hintergrund diverser Alternativen sind sowohl für die Verwirklichung von Lebensplänen notwendig als auch dafür, diese, wenn es gewünscht wird, zu ändern. Die mit Ämtern und sozialen Positionen verbundenen Befugnisse und Vorrechte erlauben die Entwicklung und Ausbildung der verschiedenen selbstregulierenden und sozialen Kompetenzen einer Person. Einkommen und Vermögen sind allgemein dienliche Tauschmittel für die Lebenserhaltung und Lebensgestaltung. Als solche sind sie in der einen oder anderen Form zur Verwirklichung praktisch aller Konzeptionen des Guten nötig. Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung schließlich sind Voraussetzungen dafür, dass die Mitglieder einer Gesellschaft einen lebendigen Sinn für ihren Wert als Personen entwickeln und ihre Ziele mit Elan und Selbstvertrauen verfolgen können. Ohne Selbstachtung und Selbstvertrauen wären die Entwicklung und Ausübung der moralischen Vermögen einer Person entscheidend behindert. 14 Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Charakterisierung der Grundgüter müssen wir die These des Vorrangs der Grundfreiheiten gegenüber den Forderungen sozialer Gerechtigkeit, die sich auf die Verteilung sozialer Positionen und materieller Güter in einer Gesellschaft beziehen, so verstehen, dass nicht alle Grundgüter für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen von gleicher Wichtigkeit sind. Die Rawls'schen Vorrangregeln beruhen auf der Annahme, dass die Garantie der Grundfreiheiten in dieser Hinsicht wichtiger ist als die Zugänglichkeit erstrebenswerter sozialer Positionen und dass diese wiederum wichtiger ist als die freie Verfügung über materielle Güter und Ressourcen.15 Bei der Beurteilung der relativen Bedeutung der verschiedenen Arten von Grundgütern für die angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen müssen wir im Blick behalten, dass für die Grundfreiheiten keine absolute Priorität reklamiert wird. Die Vorrangregel gilt nur unter „reasonably favorable conditions". 16 Die uneingeschränkte Garantie der Grundfreiheiten setzt mindestens voraus, dass die

Das Vorrang-Argument im Überblick

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elementaren natürlichen und sozialen Lebensvoraussetzungen gesellschaftsweit gesichert sind. So muss für alle genügend Nahrung, Kleidung und Wohnraum vorhanden sein, und die verfügbaren Ressourcen müssen ausreichen, um allen menschenwürdige Lebensbedingungen zu bieten. Die von Rawls aufgestellte Vorrangregel gilt, sobald die ökonomischen und sozialen Bedingungen dafür bestehen, allen Gesellschaftsmitgliedern Lebensverhältnisse zu bieten, unter denen sie ihre beiden moralischen Vermögen so weit entwickeln können, wie es nötig ist, um ein gerechtes und stabiles System gleicher politischer und bürgerlicher Grundfreiheiten einzurichten. Der von Rawls behauptete Vorrang der Grundfreiheiten beruht demnach nicht auf Vergleichen des absoluten Wertes der verschiedenen Grundgüter für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen. Ohne nähere Qualifikationen müssen alle Grundgüter gleichermaßen als unverzichtbar betrachtet werden. Die der Rawls'schen Vorrangregelung zugrunde liegende Bewertung der verschiedenen Grundgüter ist eine, wie die Ökonomen sagen, marginale17 Bewertung ihrer Bedeutung für Personen oberhalb der kritischen Schwelle einer ausreichenden Versorgung mit allen lebensnotwendigen Gütern: Erst wenn das für die Nutzung der gleichen Grundfreiheiten notwendige Minimum an Handlungsmöglichkeiten, Gütern und Ressourcen allgemein garantiert ist, ist der Wert zusätzlicher materieller Verbesserungen für rationale Personen geringer als der Wert einer allgemeinen Garantie gleicher und angemessener Grundfreiheiten.

4. Das Vorrang-Argument im Überblick Die oben vorgenommene Charakterisierung der Grundgüter im Hinblick auf ihren Beitrag zur Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen ist gewiss zu allgemein und unbestimmt geblieben, um als Prämisse in einem deduktiven Argument zu dienen. Nehmen wir jedoch (1) an, die von Rawls

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Der Vorrang der Grundfreiheiten

genannten Grundgüter seien tatsächlich notwendige Voraussetzungen für die angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen. Und nehmen wir (2) an, es bestehe tatsächlich eine Hierarchie der Grundgüter dergestalt, dass der marginale Wert der gleichen Grundfreiheiten mit Blick auf die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen unter reasonably favorable conditions stets größer sei als der marginale Wert zusätzlicher Verbesserungen der sozialen und materiellen Lebenslage einer Person. Diese beiden Prämissen vorausgesetzt folgt die Vorrangthese, sobald wir (3) annehmen, dass Menschen ein höchstrangiges Interesse an den für die Verwirklichung ihrer moralischen Personalität notwendigen Gütern haben. Weder die Analyse des Beitrags der verschiedenen Arten von Grundgütern zur Entwicklung und Ausübung der moralischen Vermögen noch die Annahme eines höchstrangigen Interesses an diesen Gütern für sich genommen genügen, um den Vorrang der Grundfreiheiten zu begründen. Das unterstellte höchstrangige Interesse moralischer Personen richtet sich auf alle Grundgüter gleichermaßen; aus ihm ergeben sich deshalb keine Vorrangverhältnisse innerhalb dieser Gruppe von Gütern. Und die Analyse der Grundgüter bietet zwar eine Grundlage für die in dieser Hinsicht nötigen Differenzierungen; sie führt jedoch allenfalls zu einer hypothetischen Festlegung von Prioritäten: Wenn jemand an der Entwicklung und Ausübung seiner moralischen Vermögen ein höchstrangiges Interesse hat, dann ist (unter hinreichend günstigen Bedingungen) die Garantie eines Systems gleicher Grundfreiheiten stets wichtiger als zusätzliche Verbesserungen seiner sozialen oder materiellen Lebenslage. Erst die Analyse der Bedeutung von Grundgütern für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen und die Annahme eines auf diese Güter gerichteten höchstrangigen Interesses moralischer Personen zusammen ergeben eine schlüssige Begründung für den Vorrang der Grundfreiheiten gegenüber anderen Grundgütern.

Ein höchstrangiges Interesse 5. Ein höchstrangiges

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Interesse

Was berechtigt uns anzunehmen, dass sich freie und gleiche Personen in ihren rationalen Entscheidungen stets von einem höchstrangigen Interesse an den für die Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Grundvermögen notwendigen Gütern leiten lassen? Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als handle es sich hier um einen definitorischen Kunstgriff, der die Lücken der Begründung für den Vorrang der Grundfreiheiten aus A Theory of Justice zwar überdecken, nicht aber schließen könne. Erinnern wir uns: Die erste Begründung war daran gescheitert, dass sie keine hinreichende Erklärung dafür geben konnte, warum alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von ihren konkreten Zielen, Lebensplänen und Idealen ein ihren anderen Interessen übergeordnetes Interesse an den grundrechtlichen Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben haben sollten. In diesem Punkt sind wir durch die Rawls'sche Analyse der Bedeutung der Grundgüter für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen einen - aber auch nur einen - Schritt weitergekommen: Das Interesse aller Gesellschaftsmitglieder an den gleichen Grundfreiheiten ergibt sich aus ihrem Interesse an der angemessenen Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen. Wenn wir voraussetzen, dass die gleichen Grundfreiheiten in dieser Hinsicht wichtiger sind als andere Güter, dann ist das Interesse moralischer Personen an diesen Freiheiten stärker als zum Beispiel ihr Interesse an zusätzlichen materiellen Vorteilen. Auch wenn wir dies zugestehen, stehen wir freilich vor einem ähnlichen Problem wie dem, an dem die erste Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten scheiterte. Warum sollten Personen sich in ihren Entscheidungen stets daran orientieren, was unabhängig von ihren konkreten Wertvorstellungen und Lebensplänen für die angemessene Entwicklung ihrer beiden moralischen Vermögen von höchstrangiger Bedeutung ist? Klären wir zunächst, welche praktischen Konsequenzen sich für eine Person daraus ergeben, dass sie qua Person ein

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

höchstrangiges Interesse an den für die Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen notwendigen Grundgütern hat. Haben alle Menschen, insofern sie Personen sind, notwendigerweise ein höchstrangiges Interesse an einem System gleicher und für die Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen angemessener Grundfreiheiten? Würde jemand aufhören, eine Person zu sein, wenn er bereit wäre, seine gleichen Grundfreiheiten um materieller Vorteile willen aufzugeben? Oder wäre seine Bereitschaft zur Aufgabe der gleichen Grundfreiheiten irrational, weil sie nicht mit seinen ,wahren' Interessen als Person übereinstimmte? Beides ist offenbar nicht notwendigerweise der Fall. Selbst wenn wir Personen als Wesen definierten, die ein höchstrangiges Interesse an gleichen und angemessenen Grundfreiheiten haben, würde dies nicht implizieren, dass Wesen wie Sie und ich, die Personen sind, rationalerweise stets im Sinne dieses Interesses handeln müssten. Dies ergibt sich einfach daraus, dass wir nicht nur moralische Personen sind, sondern auch Familienmitglieder, Freunde, Lehrer, Kollegen und vieles andere mehr. Als Vater habe ich ein höchstrangiges Interesse am Wohlergehen meiner Kinder, als Lehrer daran, meine Studenten gut zu unterrichten. Wenn die Zeit knapp wird, kann es zu Konflikten zwischen den beiden im jeweiligen Bereich höchstrangigen Interessen kommen. Es hängt dann von den Umständen, von der Stärke der involvierten Interessen und von meinen sonstigen Plänen ab, was ich alles in allem rationalerweise tun sollte: einen Nachmittag mit den Kindern verbringen oder am Schreibtisch ein Seminar vorbereiten. Ebenso ist es mit den Interessen, die uns als Person charakterisieren. Welche Bedeutung sie für unser Handeln haben und inwieweit sie unsere Entscheidungen bestimmen, hängt davon ab, welche Interessen wir sonst noch haben; und so ist es prinzipiell denkbar, dass wir rationalerweise unsere gleichen Grundfreiheiten um anderer Dinge willen aufgeben. Aus dem höchstrangigen Interesse moralischer Personen allein lässt sich also selbst dann kein grundsätzlicher Vorrang der Grundfreiheiten ableiten, wenn wir annehmen, dass

Ein böchstrangiges Interesse

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diese Freiheiten notwendige Bedingungen für die Entwicklung und Ausübung unserer moralischen Grundvermögen sind. Nun können wir Personen natürlich als Wesen definieren, die ihrem Interesse an der Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Grundvermögen auch nach Abwägung aller ihrer Interessen stets Priorität geben würden. Dann würde der Vorrang der Grundfreiheiten unmittelbar aus dem Begriff der moralischen Person folgen, vorausgesetzt nur, die gleichen Grundfreiheiten seien tatsächlich notwendige Bedingungen für die angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen. Für die Begründung der Vorrangthese wäre dadurch freilich wenig gewonnen. Was wir wissen wollen, ist, warum wir als moralische Wesen unsere Prioritäten in dieser Weise festlegen sollten, und die gesuchte Erklärung kann offenbar nicht sein, dass Personen per definitionem von einem entsprechenden höchstrangigen Interesse geleitet werden. Eine adäquate Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten muss demnach zwei Dinge leisten: Sie muss erstens zeigen, dass die Garantie eines Systems gleicher Grundfreiheiten bei hinreichend günstigen Ausgangsbedingungen für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen wichtiger ist als zusätzliche materielle Güter oder Verbesserungen der Chancen, erstrebenswerte soziale Positionen zu erreichen. Zweitens muss sie zeigen, dass das von Rawls vorausgesetzte höchstrangige Interesse moralischer Personen an der Entwicklung und Ausübung ihrer Vermögen ein rational begründetes Interesse in dem Sinne ist, dass Personen unabhängig von ihren besonderen Konzeptionen des Guten stets ausschlaggebende Gründe dafür haben, ihre Entscheidungen in Übereinstimmung mit diesem Interesse zu treffen. Die von Rawls in „The Basic Liberties" genannten Gründe erfüllen beide Anforderungen. Sie geben eine Erklärung sowohl für die hervorgehobene Bedeutung der Grundfreiheiten im Gefüge der Rawls'schen Grundgüter als auch für das höchstrangige Interesse moralischer Personen an der Entwicklung und Ausübung ihrer beiden grundlegenden Vermögen.

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Der Vorrang der Grundfreiheiten

6. Die Begründung

des Vorrangs

Ein wichtiger Grund für den Vorrang der Grundfreiheiten ist der große Wert, den ein stabiles und gerechtes System sozialer Kooperation für alle Beteiligten hat. Ich stelle das Stabilitätsargument an den Anfang, weil es in einer wichtigen Hinsicht von den anderen Argumenten abweicht. Während die noch zu besprechenden Argumente erklären sollen, warum freie und gleiche Personen ein höchstrangiges Interesse daran haben, für sich selbst bestimmte politische und bürgerliche Grundfreiheiten zu sichern, erklärt uns das Stabilitätsargument, warum sie auch ein Interesse daran haben, anderen dieselben Freiheiten zuzugestehen. Stabile soziale Kooperation setzt einen hohen Grad an unerzwungener Regelbefolgung voraus. Die zwangsweise Durchsetzung sozialer Regeln ist mit hohen Opportunitätskosten für alle Beteiligten verbunden, und sie ist in ihrer Reichweite begrenzt. Keine politische und soziale Ordnung könnte lange bestehen, wenn nicht eine Mehrzahl der an ihr Beteiligten die für sie konstitutiven Regeln in der einen oder anderen Form anerkennen und mehr oder weniger freiwillig befolgen würde. Ein Optimum an Stabilität für eine gerechte Gesellschaft wäre in dieser Hinsicht erreicht, wenn alle Gesellschaftsmitglieder über einen gut entwickelten Gerechtigkeitssinn verfügten und gerechte soziale Regelungen in Übereinstimmung mit ihren wohlerwogenen normativen Überzeugungen freiwillig befolgten. Der Grad an Stabilität, den eine Gesellschaft erreichen kann, ist insoweit von der Stärke des Gerechtigkeitssinnes ihrer Mitglieder abhängig. Hier setzt das Stabilitätsargument für den Vorrang der Grundfreiheiten an. Es besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil beruht auf einer moralpsychologischen Analyse der empirischen Bedingungen für die Entwicklung eines starken Gerechtigkeitssinnes, die hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden muss.18 Sie läuft darauf hinaus, dass Personen umso mehr fähig und bereit sein werden, in Übereinstimmung mit gerech-

Die Begründung des Vorrangs

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ten sozialen Regelungen zu handeln, je besser diese drei Anforderungen genügen: (1) Sie müssen einsichtig und leicht anzuwenden sein; (2) sie müssen dem, was für Personen gut ist, entsprechen und es vorbehaltlos fördern; und sie müssen (3) eine positive Einstellung gegenüber der Person und ihrem Wert zum Ausdruck bringen.19 Der Grundsatz gleicher und angemessener Grundfreiheiten erfüllt diese drei Bedingungen in hohem Maße. Er garantiert erstens allen dieselben gleichen Grundfreiheiten unabhängig von komplexen und schwer überschaubaren politischen Kalkulationen und Vorteilserwägungen, und es ist insofern vergleichsweise einfach, seine Konsequenzen nachzuvollziehen und ihn anzuwenden. Zweitens gewährt er allen Bürgern den gleichen Einfluss auf und den gleichen Schutz vor kollektiven Entscheidungen und bestätigt so den Wert und die Bedeutung ihrer Wertvorstellungen und Lebenskonzeptionen. Drittens schließlich bestätigt er den Status und den Wert jedes Bürgers als eines gleichberechtigten Kooperationspartners, dessen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben im Rahmen des durch die Grundfreiheiten Garantierten nicht aus Gründen des Allgemeinwohls oder anderen Erwägungen beschränkt werden darf. Die Zusicherung gleicher Grundfreiheiten garantiert demnach allen Gesellschaftsmitgliedern optimale institutionelle Rahmenbedingungen für die Entwicklung eines starken Gerechtigkeitssinnes und ist aus diesem Grunde für alle Beteiligten mit Blick auf die Erfordernisse stabiler sozialer Kooperation von großem Wert. Sie beseitigt darüber hinaus zwei der wichtigsten Ursachen für soziale und politische Instabilität: den Kampf politisch ausgeschlossener gesellschaftlicher Gruppen um politische Gleichberechtigung und das Ringen diskriminierter kultureller oder religiöser Minderheiten um gesellschaftliche Anerkennung und soziale Entfaltung. Und auch dies gibt allen Bürgern einen Grund, ihren Mitbürgern die gleichen angemessenen Grundfreiheiten wie sich selbst zuzuerkennen, da sie auf deren Bereitschaft zur fairen Kooperation angewiesen sind, um ihre eigenen Lebenspläne zu verwirklichen.

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Der Vorrang der Grundfreiheiten

Das Stabilitäts-Argument für den Vorrang der Grundfreiheiten vor anderen politischen und nicht-politischen Werten ist ein gewichtiges pragmatisches Argument, das an die rationalen Eigeninteressen aller Gesellschaftsmitglieder appelliert. Es bietet aber für sich genommen keinen ausschlaggebenden Grund, den Vorrang der Grundfreiheiten anzuerkennen. Die Kooperationsbereitschaft von Personen kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein, und es ist eine Frage der historischen Umstände, ob und in welchem Maße sie bei benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen zunimmt, wenn ihnen gleiche Grundfreiheiten eingeräumt werden. So mag es in bestimmten historischen Situationen nicht im rationalen Eigeninteresse der Mitglieder einer politisch dominanten Gruppe sein, anderen gesellschaftlichen Gruppen gleiche politische Freiheiten einzuräumen, wenn die damit verbundenen Verluste an politischem Einfluss für sie beträchtlich, die zu erwartenden Stabilitätsgewinne dagegen nur gering sind. Die Bedeutung des Stabilitäts-Arguments für die Begründung der Vorrangthese wird durch diese Relativierung indes nicht gemindert. Die folgenden Argumente, die vom rationalen Interesse moralischer Personen an gleichen Grundfreiheiten für sich selbst ausgehen, zeigen, dass es unter freien und gleichen Bürgern keine gerechte Kooperation ohne die Garantie der gleichen Grundfreiheiten geben kann. Unter dieser Voraussetzung genügt es, wenn das Stabilitäts-Argument zeigt, dass eine den Rawls'schen Grundsätzen genügende Gesellschaft eine Gesellschaft ist, die durch den Gerechtigkeitssinn ihrer Mitglieder optimal stabilisiert wird. Es spricht für den Vorrang der Grundfreiheiten, dass dies so ist, auch wenn Stabilitätserwägungen im Allgemeinen nicht ausreichen, um diesen Vorrang zu rechtfertigen. Wir kommen nun zu den nach meiner Auffassung wichtigsten Gründen für den Vorrang der Grundfreiheiten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie vom Begriff der freien und gleichen moralischen Person ausgehen und von dem Interesse moralischer Personen daran, ihren Status als gleichberechtigte Partner in einem System fairer sozialer Kooperation zu sichern. Zwischen dem Status von Bürgern, freie und gleiche Personen zu sein, und der

Die Begründung des Vorrangs

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Garantie eines Systems gleicher Grundfreiheiten bestehen auf mehreren Ebenen vielfältige Abhängigkeiten, und die Begründung der Vorrangthese beruht zu großen Teilen darauf, eben diese Abhängigkeiten offen zu legen. Eine erste und offenkundige Beziehung zwischen dem normativen Selbstverständnis demokratischer Bürger und der Garantie gleicher Grundfreiheiten liegt darin, dass Bürger schlicht keine gleichberechtigten Kooperationspartner wären, wenn sie nicht denselben Anspruch auf politische Partizipation und persönlichen Schutz hätten. Wie könnten Bürger, die einander als Freie und Gleiche anerkennen, ihren Mitbürgern den Anspruch auf gleiche politische und bürgerliche Grundfreiheiten bestreiten, ohne in Widerspruch zu ihrem individuellen und kollektiven Selbstverständnis zu geraten? Nun ist es denkbar, dass nicht alle Gesellschaftsmitglieder vor dem Hintergrund ihrer besonderen Lebensverhältnisse, Wertvorstellungen und Interessen den gleichen Grundfreiheiten denselben großen Wert beimessen. Viele mögen auch nach einigem Überlegen bereit sein, darauf zu verzichten, ihre gleichen Ansprüche geltend zu machen, wenn sie auf diese Weise andere Dinge bekommen können, die ihnen wichtiger oder wertvoller erscheinen. In diesem Fall, könnte man denken, ließe sich die Einschränkung ihrer gleichen Grundfreiheiten, trotz ursprünglich gleicher Ansprüche aller, öffentlich rechtfertigen. Rawls' Argumente für den Vorrang der Grundfreiheiten sollen zeigen, dass dies tatsächlich nicht so ist. Insgesamt nennt Rawls in „The Basic Liberties" fünf Gründe dafür, weshalb freie und gleiche Personen unter hinreichend günstigen Bedingungen nicht bereit sind, ihren Anspruch auf ein System gleicher Grundfreiheiten um anderer Güter willen aufzugeben. Zwei der Gründe kennen wir bereits aus A Theory of Justice. Sie betreffen den strategischen Wert der gleichen Grundfreiheiten und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Der strategische Wert der gleichen Grundfreiheiten ist für rational planende Personen wegen der durch sie garantierten politischen Partizipations- und liberalen Schutzrechte so groß,

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

dass ihre Einschränkung wegen der mit ihr verbundenen Risiken aus der Sicht jedes Bürgers normalerweise nicht wünschenswert erscheinen kann. Wer seine gleichen politischen Freiheiten aufgibt, verliert sein Recht auf gleichberechtigte Beteiligung an kollektiven Entscheidungen und verringert seine Einflussmöglichkeiten auf die Verteilung praktisch aller kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen. Dies mag in großen Gesellschaften mit vielen Millionen Mitgliedern nicht als ein gravierender Verlust erscheinen, da der politische Einfluss einzelner Personen, von prominenten Ausnahmen abgesehen, ohnehin von verschwindend geringer Bedeutung ist. Wir müssen uns jedoch vor Augen halten, dass es bei der Einschränkung politischer Freiheiten niemals um Einzelpersonen geht, sondern um gesellschaftliche Gruppen, denen bestimmte Partizipationsrechte zuoder aberkannt werden (Frauen, Schwarze, Ausländer, Strafgefangene). Die Mitglieder solcher Gruppen haben in der Regel gemeinsame Interessen, so dass die individuelle Zustimmung zu einer Beschränkung der eigenen politischen Freiheiten zugleich die Zustimmung zu einer Regelung ist, welche nicht nur die eigene Person, sondern auch die eigenen Interessen vom demokratischen Prozess ausschließt, obwohl sie als die Interessen einer (womöglich großen) Gruppe von Personen realistische Chancen hätten, Gehör zu finden. Wäre es anders, bliebe auch unverständlich, welchen Sinn entsprechende Freiheitsbeschränkungen haben könnten. Die von ihnen erhoffte Wirkung muss, wem auch immer sie dienen mag, darauf beruhen, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen ihren bei gleichen politischen Freiheiten faktisch bestehenden Einfluss nicht länger ausüben können. Der strategische Wert der gleichen bürgerlichen Freiheiten liegt in dem durch sie garantierten Schutz der persönlichen Lebenssphäre jedes Bürgers gegen kollektive Übergriffe. Er konkretisiert sich zum einen in den im Gedanken der Rechtsstaatlichkeit zusammengefassten Schutzrechten der Person zum Beispiel gegen willkürliche Verhaftungen und Beschlagnahmungen, zum anderen in den auf die Möglichkeit einer selbstbestimmten

Die Begründung

des Vorrangs

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Lebensgestaltung zielenden Grundrechten der Gedanken-, Gewissens· und Religionsfreiheit. Dass es unter normalen Umständen für eine Person niemals rational sein kann, die mit der Rechtsstaatlichkeit verbundenen Schutzrechte freiwillig preiszugeben, ist offensichtlich; aber auch der große strategische Wert der Gewissens- und Religionsfreiheit für alle Beteiligten ist leicht zu erkennen; denn sie erlaubt es den Mitgliedern einer Gesellschaft, ihre besonderen moralischen oder religiösen Konzeptionen des Guten unabhängig von den moralischen oder religiösen Überzeugungen ihrer Mitbürger resp. der Mehrheit ihrer Mitbürger öffentlich zu bejahen und zu verfolgen. Mit Blick darauf, was auf dem Spiel steht - die Möglichkeit, den tiefsten und wichtigsten eigenen Überzeugungen und Idealen entsprechend zu leben - , wird deshalb niemand vernünftigerweise bereit sein, den durch die gleichen bürgerlichen Grundfreiheiten gewährten Schutz seiner persönlichen Lebenssphäre aufzugeben. Auch das Argument der sozialen Grundlagen der Selbstachtung ist in seinen Grundzügen bereits aus A Theory of Justice vertraut. Es wird von Rawls in „The Basic Liberties" jedoch in einer verbesserten Form vorgestellt. Die Schwachstelle des Arguments in A Theory of Justice - warum haben die gleichen Grundfreiheiten für die Selbstachtung rationaler Personen eine größere Bedeutung als Verbesserungen ihrer sozialen und materiellen Lebenslage? - wird jetzt durch die ausgearbeitete Konzeption der moralischen Person beseitigt. Selbstachtung setzt die Anerkennung der eigenen Person und ihres Wertes durch andere voraus, die selbst als solche Personen geachtet werden, auf deren Anerkennung es ankommt. Das für die Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft charakteristische Anerkennungsverhältnis wird durch Rawls' Konzeption der freien und gleichen moralischen Person charakterisiert. Demokratische Bürger betrachten einander als gleichberechtigte Kooperationspartner mit den für das Leben in einer gerechten Gesellschaft notwendigen Fähigkeiten und Einstellungen. Und dies bedeutet, dass die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrau-

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

en davon abhängig ist, dass eine Person ihre beiden grundlegenden moralischen Vermögen in angemessener Weise entwickeln und ausüben kann. Jede Behinderung einer angemessenen Entwicklung und Ausübung der beiden Vermögen (oder eines der beiden Vermögen) würde den Status einer Person als freie und gleiche Person und damit die Anerkennung, die sie als solche von anderen erfährt, in Frage stellen. Nun gehört die Garantie eines Systems gleicher Grundfreiheiten, wie wir gesehen haben, zu den notwendigen institutionellen Voraussetzungen für die angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen, und eine Einschränkung dieser Freiheiten würde die Selbstachtung und das Selbstvertrauen der von ihr betroffenen Personen in mindestens zweierlei Hinsicht gravierend beeinträchtigen: Erstens bedeutet jede solche Einschränkung unmittelbar eine Minderung des Status eines gleichberechtigten Kooperationspartners. Personen, denen die gleichen politischen Freiheiten vorenthalten werden, fehlt die öffentliche Anerkennung als Bürger, deren Überzeugungen und Interessen im Prozess der politischen Entscheidungsfindung mit gleichem Gewicht berücksichtigt werden müssen, und Personen, die keine gleichen bürgerlichen Freiheiten genießen, werden öffentlich nicht als Bürger anerkannt, deren Leben und Lebensform in demselben Maße schützenswert ist wie das aller anderen Gesellschaftsmitglieder. Zweitens ist eine Einschränkung der gleichen Grundfreiheiten mit großen Risiken für ein selbstbestimmtes Leben verbunden. Das Vertrauen einer Person darauf, ihren Überzeugungen gemäß leben und ihre eigenen Lebenspläne verwirklichen zu können, wird deshalb bei eingeschränkten Grundfreiheiten natürlicherweise geringer sein als bei garantierten gleichen politischen und bürgerlichen Freiheitsrechten. Erstrebenswerte soziale Positionen und zusätzliche materielle Güter und Ressourcen haben demgegenüber eine deutlich erkennbar geringere Bedeutung für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen und damit auch für die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen. Sobald für alle

Drei weitere

Argumente

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Gesellschaftsmitglieder, einschließlich der am wenigsten Begünstigten, hinreichend günstige soziale und materielle Ausgangsbedingungen bestehen, können sie ihre beiden moralischen Vermögen entwickeln und ausüben und damit ihren Status als freie und gleiche Personen sichern, unabhängig davon, wie groß ihr Anteil an materiellen Gütern und Ressourcen über das bereits gesicherte Minimum hinaus ist. Dies bedeutet nicht, dass mit Blick auf die Selbstachtung aller Gesellschaftsmitglieder soziale Lebenschancen, Einkommen und Vermögen nicht ebenso gerecht zu verteilen wären wie die politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten. Es bedeutet aber, dass in Konfliktfällen, in denen eine Verbesserung der sozialen Lebenschancen oder der materiellen Lebenslage der am wenigsten Begünstigten nur um den Preis einer Einschränkung von Grundfreiheiten möglich wäre, rationalerweise die gleichen Grundfreiheiten Vorrang haben. Das Selbstachtungs-Argument, das Stabilitäts-Argument und das Argument der strategischen Bedeutung der Grundfreiheiten bilden die Hauptstützen für die Vorrangthese. Zusammengenommen sind sie stark genug, den Vorrang der Grundfreiheiten vor anderen Gütern und Werten aus der Sicht freier und gleicher moralischer Personen rational erscheinen zu lassen.

7. Drei weitere

Argumente

Rawls nennt insgesamt drei weitere Argumente für den Vorrang der Grundfreiheiten. Ich halte sie für deutlich schwächer als die bereits diskutierten Argumente und bezweifle, dass sie in einer pluralistischen Gesellschaft allgemein Zustimmung finden können. Zwei Argumente betreffen die Befähigung zu einer Konzeption des Guten und ihre Bedeutung für die Verwirklichung des für eine Person Guten. Sie gehen auf John Stuart Mill zurück. Das dritte Argument ergibt sich aus der Bedeutung des Gerechtigkeitssinnes einer Person für die Verwirklichung einer Konzeption des Guten und beruht auf einer Idee Wilhelm von Humboldts.

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Der Vorrang der Grundfreiheiten

Z u der durch die bürgerlichen Grundfreiheiten garantierten Autonomie der persönlichen Lebensgestaltung gehört es, dass Personen ihre eigenen Überzeugungen und Lebensvorstellungen praktisch erproben und sich von ihrer Wahrheit oder Falschheit, Angemessenheit oder Unangemessenheit selbst überzeugen können. Niemand wird innerhalb der Grenzen des durch die Grundfreiheiten gewährten Schutzes gezwungen, moralische, philosophische oder religiöse Überzeugungen aufzugeben, nur weil sie nicht mit denen der Mehrheit seiner Mitbürger übereinstimmen, und niemand wird daran gehindert, Lebenspläne zu verfolgen, die anderen wenig attraktiv, irrational oder sinnlos erscheinen. Wenn jemand seine Pläne aufgibt oder seine Vorstellungen vom Guten ändert, dann deshalb, weil ihm selbst dies alles in allem vernünftig und richtig erscheint. So trägt die Garantie der bürgerlichen Grundfreiheiten zur Entwicklung und Ausbildung der Befähigung zu einer Konzeption des Guten bei und fördert langfristig gesehen die Bereitschaft und Fähigkeit zum eigenständigen praktischen Überlegen und zum rationalen Handeln. Das rationale Interesse aller Mitglieder einer Gesellschaft an der Garantie gleicher Grundfreiheiten ergibt sich diesem Argument zufolge aus dem instrumentellen Wert, den eine gut entwickelte Befähigung zu einer Konzeption des Guten für die Verwirklichung der Lebenspläne rationaler Personen hat. Die Befähigung einer Person zu einer Konzeption des Guten ist aber nicht nur ein Mittel zur Verwirklichung ihrer besonderen Konzeption des Guten, sie ist auch ein Teil dieser Konzeption, und zwar aus folgendem Grund: Die von einer Person bejahte Konzeption des Guten ist keine natürliche Eigenschaft dieser Person, die ihr unabhängig von ihren eigenen Überzeugungen und Präferenzen zugesprochen werden könnte. Dass eine Person eine bestimmte Konzeption des Guten bejaht, bedeutet, dass sie die Grundsätze, Werte und Ideale dieser Konzeption alles in allem für richtig und angemessen hält und sich mit ihnen als Ausdruck dessen, worauf es im Leben ankommt, mehr oder weniger stark identifiziert. Für rationale Personen mit der Befähigung zu einer Konzeption des Guten, die zweifeln können und Überzeu-

Drei weitere Argumente

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gungen nicht einfach deshalb für wahr halten, weil sie ihre Überzeugungen sind, bedeutet dies, dass sie sich ihre Konzeption des Guten vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Erfahrungen und Einsichten durch kritische Reflexion aneignen müssen. Alles, was die Chancen einer Person verbessert, Konzeptionen des Guten in Gedanken und im Handeln zu erproben und zu überprüfen, stärkt zugleich ihre Identifikation mit der von ihr schließlich bejahten Konzeption. Eben hierin liegt der Beitrag der bürgerlichen Grundfreiheiten zu dem für eine Person Guten; denn nur sie garantieren Bedingungen des freien Bedenkens und Erprobens von Lebenskonzeptionen, unter denen sich Personen mit Konzeptionen des Guten tief gehend identifizieren können. Auch der letzte von Rawls angeführte Grund für den Vorrang der Grundfreiheiten bezieht sich auf den Beitrag, den die Garantie gleicher Grundfreiheiten zur Verwirklichung besonderer Konzeptionen des Guten leistet. Er geht auf die Vorstellung Wilhelm von Humboldts zurück, dass erst der aus der Garantie der bürgerlichen Grundfreiheiten resultierende Pluralismus eine umfassende Verwirklichung und Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten und Vollkommenheiten erlaubt. Keine der von den Mitgliedern einer pluralistischen Gesellschaft vertretenen besonderen Konzeptionen des Guten kann die menschlichen Möglichkeiten sinnvoller Wertsetzungen und vernünftiger Lebensorientierungen vollständig erschöpfen. Denn die Bestimmtheit eines konkreten Lebensentwurfs liegt eben darin, dass aus dem Bereich aller möglichen Werte und Zielsetzungen jeweils nur einige zur Verwirklichung ausgewählt werden. Diese aus der Begrenztheit des menschlichen Lebens resultierende Beschränkung aller besonderen Konzeptionen des Guten kann nun in einer pluralistischen Gesellschaft durch die für sie charakteristische Koexistenz verschiedener Konzeptionen des Guten zumindest teilweise überwunden werden. Unter der Voraussetzung, dass die Mitglieder einer solchen Gesellschaft einander als freie und gleiche Personen anerkennen und dass sie einander für die Verfolgung ihrer jeweiligen Konzeptionen des Guten die gleichen Grundfreiheiten zugestehen, können sie ih-

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Der Vorrang der

Grundfreiheiten

ren eigenen Lebensentwurf als Teil eines umfassenderen Projekts verstehen, das keine einzelne Person und keine begrenzte Gruppe von Personen für sich realisieren könnte, sondern nur die Gesellschaft als Ganze. So trägt die Garantie der gleichen Grundfreiheiten zur Realisation eines kollektiven Gutes bei, das für alle erstrebenswert ist, aber von niemandem allein realisiert werden könnte. Zum Abschluss unserer Diskussion des Vorrangs der durch den ersten Rawls'schen Grundsatz garantierten gleichen Grundfreiheiten gegenüber den Forderungen sozialer Gerechtigkeit des zweiten Grundsatzes halten wir fest: Rawls' Neubegründung des Vorrangs der Grundfreiheiten beruht auf dem Begriff des Bürgers als freier und gleicher Person mit den für das Leben in einer gerechten Gesellschaft notwendigen moralischen Fähigkeiten und Einstellungen. Demokratische Bürger, die einander als Freie und Gleiche anerkennen, betrachten sich selbst und einander als gleichberechtigte Kooperationspartner und haben ein höchstrangiges rationales Interesse an der Sicherung dieses Status. Da gleichberechtigte Kooperationspartner nur Personen sein können, deren Gerechtigkeitssinn und deren Befähigung zu einer Konzeption des Guten in dem für faire Kooperation nötigen Maße entwickelt sind, haben Bürger ein höchstrangiges Interesse an den für die angemessene Entwicklung ihrer beiden moralischen Vermögen notwendigen sozialen und institutionellen Bedingungen. Rawls fasst diese Bedingungen in seiner Liste der Grundgüter zusammen. Wenn es nun zutrifft, dass die gleichen Grundfreiheiten unter hinreichend günstigen ökonomischen und sozialen Bedingungen für die Entwicklung der beiden moralischen Vermögen wichtiger sind als zusätzliche materielle oder soziale Verbesserungen, überwiegt ihr rationales Interesse an den gleichen Grundfreiheiten ihr Interesse an diesen Verbesserungen. Die gleichen Grundfreiheiten sind zugleich institutionelle Bedingungen der Entwicklung und der Ausübung der beiden

Drei weitere Argumente

49

moralischen Vermögen. Nur die Garantie gleicher und angemessener Grundfreiheiten sichert das dauerhafte Bestehen eines für alle Beteiligten vorteilhaften Systems sozialer Kooperation, und nur sie gewährt allen Bürgern den Schutz, den sie benötigen, um ihre besondere moralische, religiöse oder philosophische Konzeption des Guten unabhängig von den Überzeugungen und Interessen ihrer Mitbürger öffentlich zu bejahen und zu verfolgen. Bürger werden als freie und gleiche Personen deshalb rationalerweise nicht bereit sein, ihre ursprünglich gleichen Ansprüche auf gleichberechtigte politische Partizipation und gleichen Schutz vor kollektiven Übergriffen um anderer Vorteile willen aufzugeben.

3.

Kapitel:

Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls Eine gerechte und legitime gesellschaftliche Ordnung muss, so die Leitidee der Gerechtigkeit als Fairness, auf Grundsätzen beruhen, die alle Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund vernünftiger Einsichten als für sich und andere verbindlich anerkennen können. Dies knüpft an die klassischen Gesellschaftsvertragstheorien von Locke, Rousseau und Kant an und bringt einen für das Selbstverständnis moderner Demokratien zentralen Punkt zum Tragen: Die für sie grundlegenden politischen Institutionen und gesellschaftlichen Einrichtungen müssen die begründete Zustimmung derjenigen finden können, deren Leben sie regulieren, und dies können sie nur, wenn sie allgemein zustimmungsfähigen Gerechtigkeitsgrundsätzen genügen. Eine wohlgeordnete Gesellschaft ist nach Rawls ein Generationen übergreifendes System sozialer und politischer Kooperation, das von öffentlich anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen wirksam reguliert wird. Im Einzelnen müssen dabei folgende Bedingungen erfüllt sein: (1) Die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen entsprechen den von allen Gesellschaftsmitgliedern aus guten Gründen anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen. (2) Alle Beteiligten handeln gesetzestreu und in Übereinstimmung mit den öffentlich anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen. (3) Alle wissen, dass die Bedingungen (1) und (2) erfüllt sind, und dies ist auch allgemein bekannt. (4) Es besteht Einigkeit über die Begründung der obersten Gerechtigkeitsgrundsätze. 1 In einer durch liberale Gerechtigkeitsgrundsätze wohlgeordneten Gesellschaft genießen alle Bürger unabhängig vom Inhalt ihrer moralischen oder religiösen Überzeugungen uneinge-

52

Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

schränkte Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Als praktische Konsequenz ergibt sich daraus, dass liberale Gesellschaften pluralistische Gesellschaften sind, deren Mitglieder unterschiedliche und zum Teil konträre Lebens- und Wertvorstellungen vertreten. Für die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness bedeutet dies, dass bei der Formulierung und Begründung ihrer Grundsätze nicht davon ausgegangen werden darf, dass Einigkeit über alle Fragen eines guten und richtigen Lebens in Gemeinschaft mit anderen bestünde, denn eben dies ist nicht der Fall. Der Konsens, auf dem eine wohlgeordnete Gesellschaft beruht, kann deshalb kein umfassender Konsens sein, der alle philosophischen, moralischen und religiösen Uberzeugungen aller Gesellschaftsmitglieder einschließt. Mit Blick auf das Faktum des Pluralismus erscheint allenfalls ein partieller, auf Fragen grundlegender politischer und sozialer Gerechtigkeit beschränkter Konsens möglich. Einen solchen Konsens bezeichnet Rawls als „übergreifenden Konsens": Alle Bürger erkennen unangesehen der ansonsten zwischen ihren normativen Überzeugungen bestehenden Divergenzen dieselbe liberale politische Gerechtigkeitskonzeption an. 2 Die Vorstellung einer konsensgetragenen wohlgeordneten Gesellschaft übernimmt im Rahmen der Rawls'schen Theorie zwei verschiedene Aufgaben, die es auseinander zu halten gilt. Zum einen haben wir es mit einer theorie-internen Idealisierung zu tun: Alle Bürger erkennen dieselben Grundsätze an und handeln entsprechend, alle Institutionen genügen den öffentlich anerkannten Grundsätzen. Sie dient dazu, das von einer Theorie der Gerechtigkeit primär zu lösende Problem zu isolieren. Im ersten Schritt geht es lediglich darum, Grundsätze für gerechte soziale Regelungen zu finden, die unter der Voraussetzung angemessen erscheinen, dass alle Bürger sie anerkennen und befolgen und dass alle Institutionen ihnen genügen. So kann Rawls zunächst Fragen ausklammern, die den gerechten Umgang mit ungerechten Handlungen und Institutionen betreffen. Probleme der Strafgerechtigkeit, der Tolerierung ungerechter Institutionen (zum Beispiel der Sklaverei während der

Die Notwendigkeit eines Konsenses

53

Gründungsphase der Vereinigten Staaten) oder der moralischen Zulässigkeit von Revolutionen können für den Anfang ignoriert werden. Sie bilden den Gegenstand einer nachgeordneten Theorie der Gerechtigkeit für eine nicht wohlgeordnete Gesellschaft.3 Die Idee einer wohlgeordneten Gesellschaft ist jedoch mehr als ein pragmatischer Kunstgriff für eine vernünftige Arbeitsplanung. Sie ist auch Ausdruck eines liberalen politischen Ideals, das beschreibt, wie eine vollkommen gerechte Gesellschaft im angestrebten Grenzfall aussähe: Wenn die Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft die von allen als gerecht anerkannten institutionellen Regelungen befolgen und unterstützen, leben sie zugleich in Übereinstimmung mit ihren eigenen umfassenden normativen Überzeugungen. Die Ansprüche individueller Autonomie und die Forderungen politischer und sozialer Gerechtigkeit stehen dann in keinem Gegensatz zueinander, sondern werden gleichzeitig erfüllt. Für die vertragstheoretische Auffassung der Gerechtigkeit als Fairness ist dies wesentlich.

1. Die Notwendigkeit

eines

Konsenses

Die Bedeutung, die Zustimmung und Konsens für Gerechtigkeitsgrundsätze haben, wird deutlich, wenn man deren gesellschaftliche Aufgabe bedenkt, ein System von Institutionen zu regulieren, das dauerhaft friedliche und fruchtbare soziale Kooperation ermöglichen soll. Jede Form dauerhafter politischer Ordnung setzt ein hohes Maß an freiwilliger Kooperation und unerzwungener Regelbefolgung voraus. Die stabilitàtsbezogene, an Hobbes orientierte Konzeption eines politischen Konsenses betrachtet die Zustimmung der Bürger deshalb zu Recht als eine empirisch-kausale Bedingung dauerhafter Ordnung. Worauf es unter diesem Gesichtspunkt ankommt, ist nicht, dass alle Bürger ein Regime bejahen und unterstützen, sondern lediglich, dass hinreichend viele es tun. Einstimmigkeit ist unnötig, da stabile politische Verhältnisse normalerweise auch ohne

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

sie erreicht werden können. Sobald die Anzahl der ,loyalen' Bürger eine kritische Schwelle überschreitet, entstehen für alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von ihrer Einstellung gegenüber dem Regime Bedingungen, die offenen Widerstand als riskant und aussichtslos erscheinen lassen. Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man mit Kant die Forderung, das ganze Volk müsse seine „Einstimmung" geben können, 4 aus dem Gedanken der Autonomie des Individuums herleitet. In diesem Fall besteht die grundlegende Idee darin, dass Bürger als freie und gleiche Personen einen unabweisbaren Anspruch haben, nur solchen Normen unterworfen zu werden, denen sie auf der Grundlage vernünftiger Einsichten zustimmen können. Die Möglichkeit eines begründeten Konsenses wird dabei zu einem konstitutiven Element politischer und sozialer Gerechtigkeit. Dann reicht es nicht, dass die Anzahl der zustimmenden Bürger die für die Stabilität einer Gesellschaft kritische Schwelle überschreitet, sondern als gleichberechtigte autonome Subjekte müssen idealerweise alle zustimmen können. Die Rawls'sche Konzeption eines übergreifenden Konsenses ist in diesem kantischen Sinne zu verstehen. Das Bestehen eines solchen Konsenses in einer wohlgeordneten Gesellschaft bedeutet, dass alle Bürger dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze in Übereinstimmung mit ihren umfassenden normativen Überzeugungen öffentlich voreinander anerkennen können. Niemand muss unter dieser Voraussetzung aus dem gemeinsamen System politischer und sozialer Kooperation ausscheren, um seine moralischen oder religiösen Überzeugungen zu bejahen und zu verfolgen; und alle wissen, dass es für die Lösung von Konflikten, die sich aus bestehenden Interessengegensätzen oder Meinungsverschiedenheiten über politische Regelungen ergeben, eine gemeinsame und von allen öffentlich anerkannte Basis gibt. Für die empirische Stabilität einer institutionellen Ordnung sind die faktischen Einstellungen und Überzeugungen der an ihr Beteiligten entscheidend. Deren Rationalität spielt allenfalls indirekt eine Rolle. Wenn Bürger ein Regime unterstützen, weil sie glauben, dies sei ihre Pflicht oder es liege in ihrem eigenen

Die Notwendigkeit eines Konsenses

55

Interesse, so tragen sie damit zu seiner Stabilität bei, ganz unabhängig davon, ob ihre subjektiven Überzeugungen konsistent oder inkonsistent, begründet oder unbegründet sind. Der kantischen Konzeption von Zustimmung und Konsens dagegen geht es nicht primär um faktische Anerkennung und Unterstützung, sondern um die normative Rechtfertigung von politischen Grundsätzen und Institutionen. Als gerechtfertigt gelten diese aber erst dann, wenn Bürger vor dem Hintergrund ihrer wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen gute Gründe haben, sie als verbindlich für sich und andere anzuerkennen, und nicht schon, wenn alle glauben, solche Gründe zu haben. Der von Rawls angestrebte übergreifende Konsens besteht deshalb nicht in einer bloß faktischen Übereinstimmung der Gerechtigkeitsvorstellungen aller Bürger. Es handelt sich vielmehr um einen auf vernünftig begründeten Einsichten beruhenden Konsens. Und der vorausgesetzte Pluralismus besteht nicht in irgendeiner beliebigen disparaten Vielfalt philosophischer, moralischer und religiöser Überzeugungen und Weltanschauungen, sondern in einer Pluralität von Lehren, die zumindest minimale Standards der Rationalität und Vernünftigkeit erfüllen. 5 Einwände gegen eine politische Gerechtigkeitskonzeption, die sich auf der Grundlage vernünftiger umfassender Lehren und Überzeugungen ergeben, sind prima facie begründete Einwände und müssen von allen Beteiligten als solche anerkannt und berücksichtigt werden. Eine Gerechtigkeitskonzeption, gegen die sich auf der Grundlage vernünftiger Lehren und Überzeugungen keine ausschlaggebenden Einwände vorbringen lassen, und die deshalb zum Gegenstand eines übergreifenden Konsenses werden kann, ist offensichtlich besser begründet oder vernünftiger als eine, gegen die sich solche Einwände richten. Ein übergreifender Konsens über eine politische Gerechtigkeitskonzeption ist, wie Rawls in seiner Erwiderung auf Habermas sagt, nicht nur die sicherste, sondern auch die vernünftigste Grundlage sozialer Einheit und Stabilität.6

56

Die Begründung

des Differenzprinzips

2. Das Argumentationsmodell

des

bei

Rawls

Urzustandes

Die Vorstellung eines allgemeinen und begründeten Konsenses über Gerechtigkeitsgrundsätze wird von Rawls im Sinne der Gerechtigkeit als Fairness konkretisiert. Eine Gesellschaft ist demnach dann und nur dann gerecht, wenn die in ihr vorgenommene Verteilung der Vorteile und Lasten sozialer Kooperation Grundsätzen entspricht, die freie und gleiche Personen unter fairen Bedingungen selbst für ihre Gesellschaft wählen würden. Dieser Gedanke wird durch die Fiktion des Urzustandes ausgeführt. Der Urzustand beschreibt eine hypothetische Situation, in der Bürger (oder ihre Vertreter) hinter einem Schleier der Unwissenheit kollektiv darüber zu entscheiden haben, welche obersten Grundsätze die institutionelle Grundstruktur ihrer Gesellschaft regulieren sollen. Der Schleier der Unwissenheit zwingt sie dazu, sich in Unkenntnis ihrer konkreten persönlichen und sozialen Lebensumstände für bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze zu entscheiden. Weder wissen sie, welche persönlichen Präferenzen und Fähigkeiten sie haben, noch kennen sie ihre besonderen moralischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Darüber hinaus ist ihnen die in ihrer Gesellschaft bestehende Verteilung sozialer Positionen und Lebenslagen unbekannt. 7 Die hypothetische Konstruktion des Schleiers der Unwissenheit ist für die Rawls'sche Argumentation aus mehreren Gründen wesentlich: Erstens betrachten die Bürger einer demokratischen Gesellschaft einander als freie und gleiche moralische Personen. Sie befinden sich, insofern es um die Auswahl und Rechtfertigung distributiver Grundsätze geht, in vollständig symmetrischen Positionen zueinander. Keiner von ihnen hat Anspruch auf besondere Vorrechte und Privilegien. Die Aufgabe des Schleiers der Unwissenheit besteht unter diesem Gesichtspunkt darin sicherzustellen, dass die in allen Gesellschaften bestehende asymmetrische Verteilung von Machtpositionen und Einflussmöglichkeiten ohne Konsequenzen für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen im Urzustand bleibt.

Das Argumentationsmodell des Urzustandes

57

Zweitens soll durch den Schleier der Unwissenheit ausgeschlossen werden, dass die Wahl oberster Gerechtigkeitsgrundsätze für gesellschaftliche Institutionen von Faktoren beeinflusst wird, die selber erst das Ergebnis gerechter oder ungerechter institutioneller Regelungen sind. Und dies gilt eben sowohl für die persönlichen Präferenzen und Fähigkeiten der Bürger als auch für die Verteilung sozialer Positionen und Lebenslagen in einer Gesellschaft. Der Inhalt oberster Gerechtigkeitsgrundsätze für eine Gesellschaft darf weder von persönlichen Präferenzen und Fähigkeiten noch durch gegebene soziale Strukturen beeinflusst werden. Andernfalls könnten solche Grundsätze kein unabhängiges Kriterium dafür bieten, ob die sozialen und institutionellen Bedingungen, die zu diesen Präferenzen, Fähigkeiten und Strukturen geführt haben, selbst das Resultat gerechter oder ungerechter Regelungen sind. Mit Blick auf die systematische, argumentationslogische Herleitung der Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätze eröffnet die Fiktion des Schleiers der Unwissenheit drittens die Möglichkeit einer am Modell rationaler individueller Entscheidungen orientierten Rechtfertigung. 8 Da die Bürger im Urzustand in Unkenntnis ihrer konkreten Lebensumstände beraten, ist es ihnen unmöglich, Grundsätze unter dem Gesichtspunkt der maximalen Förderung partikularer Interessen auszuwählen. Die ihnen auferlegten Informationsbeschränkungen bewirken, dass alle Beteiligten sich in derselben Entscheidungssituation befinden. Wenn es also Grundsätze gibt, die irgendjemand unter den Bedingungen des Urzustandes rationalerweise wählen würde, so müssen es Grundsätze sein, die jeder andere unter denselben Bedingungen ebenfalls wählen würde. Das Problem der normativen Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen wird auf diese Weise zu einem Problem der rationalen individuellen Wahl von Normen unter den durch den Schleier der Unwissenheit geschaffenen fairen Bedingungen. Angesichts der ihnen auferlegten Informationsbeschränkungen gründen die Parteien im Urzustand ihre Entscheidung darauf, dass sie freie und gleiche Bürger mit den für moralische

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

Personen konstitutiven Merkmalen sind. 9 Sie wissen, dass alle Beteiligten über zwei moralische Vermögen - den Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten verfügen und dass sie eine mehr oder weniger umfassende und mehr oder weniger artikulierte Konzeption des Guten verfolgen, deren Inhalt ihnen freilich hinter dem Schleier der Unwissenheit unbekannt ist. 10 Da den Parteien hinter dem Schleier der Unwissenheit alle Informationen über ihre persönlichen und sozialen Lebensumstände fehlen, orientieren sie sich bei der Auswahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen ausschließlich an den höchstrangigen Interessen, die sie als moralische Personen an den für die Verwirklichung ihrer moralischen Personalität notwendigen Grundgütern haben. Sie wählen deshalb Grundsätze, die ihnen die für die Entwicklung und Ausübung ihrer beiden grundlegenden moralischen Vermögen notwendigen institutionellen und materiellen Bedingungen gewährleisten. Wegen der überragenden Bedeutung einer adäquaten Entwicklung der beiden Vermögen und angemessener Bedingungen für ihre Ausübung beurteilen die Parteien die ihnen vorliegenden Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand aus der Perspektive der von sozialen Ungleichheiten am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder. Sie wählen in Übereinstimmung mit der so genannten Maximin-Regel 11 der rationalen Entscheidungstheorie Grundsätze, die ihnen auch für den Fall, dass sie zu den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern gehören, einen für die Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen adäquaten Anteil an Grundgütern garantieren, und einigen sich nach Rawls auf die von ihm vorgeschlagenen Gerechtigkeitsgrundsätze, die im vorigen Kapitel vorgestellt wurden. Die zunächst unbestimmte Vorstellung eines adäquaten Anteils an Grundgütern wird mit Blick auf die Verteilung materieller Güter und Ressourcen durch das Differenzprinzip konkretisiert. Im Folgenden soll überprüft werden, ob die Wahl eines Verteilungsgrundsatzes, der den am wenigsten begünstigten Mitgliedern einer Gesellschaft maximale Einkommen ga-

Die methodische Rolle des Urzustandes

59

rantiert, unter den von Rawls beschriebenen Bedingungen des Urzustandes rational erscheint. Zunächst jedoch einige Bemerkungen zur methodischen Rolle des Urzustandes für die Begründung der Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätze.

3. Die methodische

Rolle des

Urzustandes

Der von Rawls konstruierte Konsens der Parteien im Urzustand ist ein bloß hypothetischer oder fiktiver Konsens. Für sich allein genommen sagt er wenig darüber aus, ob die Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft die von ihm gestützten Gerechtigkeitsgrundsätze tatsächlich vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Interessen und umfassenden normativen Überzeugungen anerkennen können oder nicht. Er kann allenfalls ein Indiz, aber kein ausschlaggebendes Kriterium für die Gültigkeit und Angemessenheit der Rawls'schen Grundsätze sein, denn die Begründung der Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätze kann letztlich nicht darin liegen, dass fiktionale Wesen wie die Parteien des Urzustandes sie unter den durch den Schleier der Unwissenheit geschaffenen kontrafaktischen Bedingungen für ihre Gesellschaft wählen würden. Entscheidend ist, dass leibhaftige Bürger sie unter Berücksichtigung aller ihnen zugänglichen Informationen und in Übereinstimmung mit ihren rationalen Interessen und Überzeugungen als für sich und andere verbindlich anerkennen können. Dies kommt in Rawls' Konzeption einer wohlgeordneten Gesellschaft klar zum Ausdruck. Der für sie notwendige übergreifende Konsens ist, anders als die Übereinkunft im Urzustand, ein faktischer Konsens. Das heißt nicht, dass wir in irgendeiner existierenden Gesellschaft tatsächlich von einer entsprechenden Übereinstimmung der Gerechtigkeitsvorstellungen aller Gesellschaftsmitglieder ausgehen könnten. Die Annahme eines allgemeinen und begründeten Konsenses tritt hier als definierendes Merkmal eines politischen Ideals und nicht als Teil einer Wirklichkeitsbeschreibung auf. Gleichwohl müssen alle Beteiligten in ihren wohlerwoge-

60

Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

nen Gerechtigkeitsvorstellungen wirklich übereinstimmen, damit wir in der Realität von einer wohlgeordneten Gesellschaft sprechen können. Zur Identifikation konsensfähiger Gerechtigkeitsgrundsätze kann die bloße Vorstellung des in einer wohlgeordneten Gesellschaft per definitionem bestehenden Konsenses freilich allenfalls indirekt etwas beitragen. Personen, die das Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft teilen - und wer wollte bestreiten, dass ein allgemeiner Konsens über Gerechtigkeitsgrundsätze wünschenswert ist - , haben damit einen rationalen Grund, sich um eine Annäherung ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen zu bemühen. Ob ihnen diese Annäherung mit Blick auf ihre konkreten normativen Überzeugungen tatsächlich gelingen kann, lässt sich freilich vorab nicht sagen. Der Wunsch allein, dass Übereinstimmung bestehen möge, genügt nicht, um seine Erfüllung zu garantieren oder auch nur wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Damit die Vorstellung einer liberalen und wohlgeordneten Gesellschaft als ein politisches Ideal praktische Relevanz haben kann, ist mehr nötig, als dass eine solche Gesellschaft wünschenswert wäre. Es muss sich darüber hinaus zeigen lassen, dass sie sich zumindest unter günstigen Bedingungen in hinreichendem Maße realisieren lässt. Mit anderen Worten: Wir müssen in den Gesellschaften, in denen wir tatsächlich leben, einen wirklichen Konsens über Gerechtigkeitsgrundsätze und grundlegende institutionelle Regelungen zumindest für möglich halten. An diesem Punkt erweist sich die Konstruktion des Urzustandes als ein brauchbares Argumentationsmodell. In seiner Erwiderung auf Habermas bezeichnet Rawls den Urzustand als ein analytisches Hilfsmittel, um eine Hypothese zu formulieren. Sie lautet, dass die vernünftigsten Gerechtigkeitsgrundsätze für eine demokratische Gesellschaft diejenigen sind, auf die sich freie und gleiche Bürger unter den Bedingungen des Urzustandes kollektiv einigen würden.12 Diese Hypothese ist nichts anderes als der Leitgedanke der Gerechtigkeit als Fairness selbst und bezieht sich nur mittelbar auf die von Rawls vorgeschlage-

Die methodische Rolle des Urzustandes

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nen Gerechtigkeitsgrundsätze. Primär geht es um die Art und Weise der Identifikation vernünftiger Grundsätze für eine Gesellschaft, deren Mitglieder einander als freie und gleiche Bürger betrachten. Dass die von Rawls vorgeschlagenen Gerechtigkeitsgrundsätze selbst die vernünftigsten Grundsätze sind, ist eine zweite von Rawls vertretene Hypothese, die ich als Konsenshypothese bezeichne; Rawls zufolge sind die vernünftigsten Grundsätze eben diejenigen, die in einer pluralistischen Gesellschaft von einem übergreifenden Konsens gestützt werden, weil alle Bürger sie unangesehen ihrer divergierenden philosophischen, moralischen und religiösen Überzeugungen aus vernünftigen Gründen anerkennen können. Rawls vertritt eine holistisch-kohärenztheoretische Auffassung der rationalen Anerkennung moralischer Normen und Werte. Die beiden Grundsätze müssen, wenn sie nach gebührender Reflexion unsere uneingeschränkte Anerkennung finden sollen, mit unseren allgemeinen Auffassungen über das für den Menschen Gute und Richtige ebenso übereinstimmen wie mit unseren konkreteren Gerechtigkeitsvorstellungen. Wir müssen sie, wie es bei Rawls heißt, im ,Überlegungsgleichgewicht' mit allen unseren normativen Überzeugungen bejahen können, nachdem wir alle praktikablen Alternativen verglichen und alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt haben.13 Die Konstruktion des Urzustandes hat mit Blick auf das Zustandekommen eines solchen ,allgemeinen' Überlegungsgleichgewichts lediglich die Funktion, die für die Herleitung von Gerechtigkeitsgrundsätzen einschlägigen Prämissen - die Idee der Fairness, den Begriff der moralischen Person mit bestimmten höchstrangigen Interessen, die Annahme ursprünglich gleicher Ansprüche auf die zur Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen notwendigen Grundgüter - in einer Weise zu bündeln, die erkennen lässt, welche Grundsätze sich durch eine deduktive Schlussfolgerung aus ihrer Konjunktion ergeben. Nehmen wir also an, dass die Bürger einer Gesellschaft die in die Konstruktion des Urzustandes eingegangenen normativen und empirischen Prämissen nach gebührendem Überlegen akzeptier-

62

Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

ten. In diesem Fall wäre das Gedankenexperiment des Urzustandes in der Tat ein geeignetes Mittel, um Grundsätze zu identifizieren, die alle Bürger aus guten Gründen anerkennen können. Ein ,Beweis' der Konsenshypothese für diese Grundsätze wäre ihre deduktive Herleitung aus allgemein anerkannten Prämissen mithilfe des Urzustandes aber auch dann noch nicht, da sie für sich genommen nicht garantieren kann, dass die gewonnenen Grundsätze mit allen normativ relevanten Überzeugungen der Beteiligten - und nicht nur mit denen, die für ihre Herleitung mobilisiert wurden - in der geforderten Weise übereinstimmen. Um uneingeschränkt von allen Bürgern im Überlegungsgleichgewicht bejaht zu werden, müssen die Rawls'schen Grundsätze mindestens drei weitere Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie einen Konsistenztest bestehen und auf allen Ebenen des praktischen Überlegens mit den wohlerwogenen Gerechtigkeitsvorstellungen aller Beteiligten übereinstimmen. Zweitens müssen sie einen Praxistest bestehen. Es muss möglich sein, auf ihrer Basis ein unter realistischen Bedingungen arbeitsfähiges System gesellschaftlicher Institutionen einzurichten, das ebenfalls mit der rationalen Anerkennung aller Bürger rechnen kann. Drittens schließlich müssen sie sich in einem Stabilitätstest bewähren. Ein durch diese Grundsätze reguliertes System von Institutionen muss so beschaffen sein, dass es, wiederum unter realistischen Bedingungen, dauerhaft die Bereitschaft aller Bürger fördert, gerecht zu handeln und gerechte Institutionen zu unterstützen. Nun ist klar, dass es praktisch unmöglich ist, im Sinne der drei genannten Tests zu definitiven Aussagen darüber zu gelangen, ob bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze im Vergleich zu ihren Alternativen die uneingeschränkte Zustimmung aller Bürger im vollkommenen Überlegungsgleichgewicht finden würden. Wir können unmöglich für jeden Einzelnen überprüfen, ob seine konkreten normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen nach gebührendem Überlegen, wenn alle erkennbaren Irrtümer und Missverständnisse ausgeräumt worden sind, mit den von uns bejahten Grundsätzen übereinstimmen oder

Die methodische

Rolle des Urzustandes

63

nicht. Darüber, ob diese in allen Fällen tatsächlich den Konsistenztest bestehen würden, lassen sich deshalb allenfalls mehr oder weniger gut begründete Vermutungen anstellen. Dasselbe gilt für den Praxis- und für den Stabilitätstest. Die Menge und Komplexität der zu berücksichtigenden Informationen ist einfach zu groß, um zu eindeutigen Aussagen zu gelangen. In der Regel wird man sich mit tentativen und komparativen Urteilen zufrieden geben müssen, die sich einer endgültigen Verifikation entziehen. Dies legt nahe, die für die Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness grundlegende Vorstellung eines allgemeinen und begründeten Konsenses über Grundsätze politischer und sozialer Gerechtigkeit als eine Hypothese zu verstehen, die mit Blick auf die Konstruktion des Urzustandes zwar prima facie wohlbegründet erscheint, die aber weder durch das Gedankenexperiment des Urzustandes noch durch irgendeine andere Form der rationalen Begründung abschließend verifiziert werden kann. Wir können uns die Beziehung, die innerhalb der Rawls'schen Theorie zwischen den Konzeptionen des übergreifenden Konsenses und des Überlegungsgleichgewichts besteht, in Analogie zur rationalen Begründung und Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen vorstellen. Die zu begründende resp. zu überprüfende Hypothese liegt in der mit den Grundsätzen einer liberalen politischen Gerechtigkeitskonzeption verbundenen Konsenserwartung. Die Daten, die zur Überprüfung herangezogen werden, sind die wohlerwogenen Überzeugungen der Mitglieder einer von liberalen Grundsätzen regulierten pluralistischen Gesellschaft. Die Konsenshypothese besagt dann in Bezug auf die zu überprüfenden Gerechtigkeitsgrundsätze, dass sie von allen Bürgern einer pluralistischen Gesellschaft nach gebührendem Überlegen im Überlegungsgleichgewicht anerkannt werden können. Sagen wir also, die Konsenshypothese sei wohlbegründet (aber nicht verifiziert), wenn sich die normative Verbindlichkeit der Grundsätze, auf die sie sich bezieht, mit Prämissen begründen lässt, gegen die sich im Lichte vernünftiger umfassender normativer Überzeugungen keine begründeten und ausschlaggebenden Einwände vorbringen lassen.

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei Rawls

Es ist die Aufgabe des Urzustandes, diese Begründung für die beiden Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätze zu liefern, indem gezeigt wird, dass sie sich durch einen deduktiven Schluss aus dem Begriff des Bürgers als freier und gleicher moralischer Person und anderen allgemein anerkannten Prämissen, wie den Begriffen der Rationalität und der Fairness, ergeben.14 Im Folgenden soll überprüft werden, ob es möglich ist, die Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätze und insbesondere das Differenzprinzip als das Ergebnis einer rationalen individuellen Entscheidung freier und gleicher moralischer Personen hinter einem Schleier der Unwissenheit zu rechtfertigen. Für das Differenzprinzip wird sich zeigen, dass dies nicht möglich ist.

4. Die beiden grundlegenden

Vergleiche

Rawls begründet seine beiden Grundsätze mithilfe seines Argumentationsmodells des Urzustandes durch ein kompliziert geknüpftes Netz von Argumenten und stützenden Überlegungen, an dem er seit dem Erscheinen von A Theory of Justice (1971) eine Vielzahl von Veränderungen und Korrekturen vorgenommen hat. Wir müssen die Rawls'sche Argumentation jedoch nicht vollständig darstellen und auch den wichtigeren Argumenten nicht in allen Einzelheiten nachgehen. Es genügt eine Erörterung der hauptsächlichen Argumentationslinien und Rechtfertigungsgründe. Rawls' erklärtes Ziel ist es, mit Gerechtigkeit als Fairness eine Gerechtigkeitskonzeption vorzulegen, die den bekannten Varianten des Utilitarismus überlegen ist und den normativen Grundlagen und Idealen moderner demokratischer Verfassungsstaaten besser entspricht als diese.15 Seine Begründung der beiden Grundsätze vollzieht sich deshalb in Form von Vergleichen zwischen ihnen und verschiedenen utilitaristischen Alternativen. Zwei Vergleiche werden von Rawls dabei als grundlegend betrachtet:16 Im ersten Vergleich stellt Rawls seine beiden Grundsätze zusammengenommen einem unqualifizierten Prinzip der Nutzen-

Die

Maximin-Strategie

65

maximierung (verstanden als Maximierung des Durchschnittsnutzens in einer Gesellschaft) gegenüber. Dies dient im Wesentlichen der Rechtfertigung des ersten Grundsatzes, der allen Bürgern unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Nutzenabwägungen gleiche politische und bürgerliche Freiheiten garantiert. Als Resultat ergibt sich, dass jede Kombination von Gerechtigkeitsgrundsätzen, welche den Freiheitsgrundsatz enthält, wegen der überragenden Bedeutung der gleichen Grundfreiheiten für alle Bürger jeder Kombination von Grundsätzen ohne ihn überlegen ist. Der zweite grundlegende Vergleich geht von der hypothetischen Situation aus, dass gleiche Grundfreiheiten (einschließlich der Garantie des fairen Wertes der politischen Freiheiten) und faire Chancengleichheit anerkannt werden, und ergänzt diese Gerechtigkeitsforderungen einmal durch das Nutzen- und dann durch das Differenzprinzip. Bei diesem Vergleich geht es ausschließlich um das Problem einer gerechten, Einkommens- und Vermögensverteilung. Würden sich die Parteien im Urzustand unter der Voraussetzung, dass gleiche Grundfreiheiten und faire Chancengleichheit für alle gewährleistet sind, rationalerweise für das Nutzen- oder für das Differenzprinzip entscheiden?

5. Die

Maximin-Strategie

Die Überlegenheit seiner beiden Grundsätze gegenüber einem unqualifizierten Nutzenprinzip ergibt sich für Rawls im ersten grundlegenden Vergleich aus der überragenden Bedeutung der politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten für alle Bürger. Rawls nimmt an, dass sich die Parteien im Urzustand angesichts dessen, was für sie auf dem Spiel steht - nämlich die institutionellen Voraussetzungen für die angemessene Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen - , vernünftigerweise extrem risikofeindlich verhalten. Sie entscheiden sich für die beiden Rawls'schen Grundsätze, weil diese ihnen die größtmögliche Absicherung für den Fall bieten, dass

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

sie, nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist, zur Gruppe der durch Ungleichverteilungen am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder gehören. Entscheidungstheoretisch gesprochen bedeutet dies, dass die Parteien Gerechtigkeitsgrundsätze in Übereinstimmung mit der so genannten Maximin-Regel für Entscheidungen unter Unsicherheit wählen.17 Das Argument für ein System gleicher Grundfreiheiten besteht aus zwei Teilargumenten, die mithilfe der argumentativen Leitidee einer Maximin-Entscheidung zusammengebunden werden. Zum einen wird gezeigt, dass eine Gesellschaft, die allen Bürgern gleiche politische und bürgerliche Grundfreiheiten garantiert, ein, wie Rawls sagt, „satisfactory minimum" bietet.18 Zum anderen wird gezeigt, dass ungleiche Grundfreiheiten aus der Perspektive des Urzustandes für alle Bürger mit inakzeptablen Risiken verbunden sind, die mit Blick auf die Bedingungen für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen um jeden Preis vermieden werden müssen. Es lassen sich zwei Begründungsschritte unterscheiden. Zunächst werden allgemeine Bedingungen angegeben, unter denen die Maximin-Regel für Entscheidungen unter Unsicherheit prima facie plausibel erscheint: Erstens muss es unmöglich sein, den verschiedenen Konsequenzen der Entscheidungsalternativen Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen. Es muss sich um eine, wie die Entscheidungstheoretiker sagen, Entscheidung unter Unsicherheit handeln. Zweitens müssen unterhalb der durch Maximin definierten Schwelle gravierende Verluste drohen, denen drittens oberhalb der Schwelle keine großen Gewinne gegenüberstehen. Im zweiten Schritt wird dann gezeigt, dass der Urzustand eben so konstruiert ist, dass die Maximin-Regel sinnvoll angewendet werden kann.19 (1) Die Parteien können hinter dem Schleier der Unwissenheit keine empirisch begründeten Prognosen darüber aufstellen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich, sobald der Schleier gefallen ist, in einer der möglichen von Ungleichverteilungen mehr oder weniger begünstigten sozialen Positionen wiederfinden.

Harsanyis

Kritik

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(2) Die Wahl der beiden Rawls'schen Grundsätze garantiert allen Bürgern (einschließlich der am wenigsten Begünstigten) die für die Entwicklung und ungehinderte Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen notwendigen sozialen Bedingungen und realisiert damit ein Gut, das für alle Beteiligten, insofern sie einander als freie und gleiche moralische Personen betrachten, von überragender Bedeutung ist. Mit Blick auf die große Bedeutung dieses Gutes erscheinen durch die Wahl anderer Grundsätze mögliche zusätzliche Vorteile für einige soziale Positionen als geringfügig. (3) Die Wahl von Grundsätzen, die keine gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten garantieren (resp. ihre Gewährleistung von gesamtgesellschaftlichen Nutzenerwägungen abhängig machen), ist mit inakzeptablen Risiken verbunden, da sie nicht ausschließen, dass sich einige Gesellschaftsmitglieder, nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist, in einer Situation befinden, die ihnen die für die angemessene Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen notwendigen Grundfreiheiten vorenthält. Die inhaltlichen Gründe für die Prämissen (2) und (3) einer Maximin-Entscheidung zugunsten der beiden Rawls'schen Grundsätze zusammen sind im vorigen Kapitel bei der Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten ausführlich vorgestellt worden. Ich kann mich deshalb darauf beschränken, Prämisse (1) zu erörtern, die sich auf die Berechtigung von Risikoabwägungen auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsannahmen im Urzustand bezieht.

6. Harsanyis

Kritik

Die von Rawls verfolgte Maximin-Strategie zur Begründung seiner beiden Gerechtigkeitsgrundsätze ist von John Harsanyi früh und einschneidend kritisiert worden. 20 Seine Einwände richten sich gegen das extrem risikofeindliche Entscheidungs-

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei

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verhalten der Parteien im Urzustand. Eine Maximin-Entscheidung der Parteien im Urzustand sei nicht rational zu begründen, weil niemand hinter dem Schleier der Unwissenheit mit Gewissheit sagen könne, zu welcher gesellschaftlichen Gruppe er gehören wird, nachdem der Schleier gefallen ist, und weil es irrational sei, sich, auch wenn große Werte auf dem Spiel stehen, unabhängig von den mit einer riskanten Entscheidung verbundenen Gewinnmöglichkeiten grundsätzlich so zu verhalten, als ob stets der schlimmste Fall einträte. Andernfalls dürften wir kein Flugzeug mehr besteigen und keine Brücke mehr betreten, solange auch nur die minimale Chance eines Absturzes oder eines Einbruchs besteht. In der Konsequenz würde eine strikte Orientierung an Maximin zu Lebensunfähigkeit führen.21 Harsanyis Kritik kommt unter anderem deshalb große Bedeutung zu, weil seine eigene, utilitaristische Konzeption sozialer Gerechtigkeit auf einem Argumentationsmodell beruht, das dem des Urzustandes in vielen Punkten sehr ähnlich ist, aber zu grundsätzlich anderen Ergebnissen führt. Wie Rawls nimmt Harsanyi an, dass moralische Normen dadurch identifiziert werden können, dass man fragt, welchen Grundsätzen rationale Personen zustimmen würden, wenn sie sich in Unkenntnis ihrer persönlichen Lebensumstände und der aus ihnen resultierenden Interessen zu entscheiden hätten. Im Wesentlichen unterscheidet sich Harsanyis Konzeption von der Rawls'schen in zweierlei Hinsicht: Distributive Grundsätze werden von Harsanyi nicht danach beurteilt, welche Verteilung von Grundgütern sie vorschreiben; als Vergleichsbasis dienen ihm vielmehr die rationalen Nutzenerwartungen (verstanden im Sinne der Erfüllung rationaler persönlicher Präferenzen) der von einem Grundsatz betroffenen Personen (s. Kap. 7.4). Außerdem geht Harsanyi davon aus, dass rational Handelnde sich bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen (und in der Tat bei allen Entscheidungen) idealerweise in Übereinstimmung mit den Axiomen der Bayes'schen Entscheidungstheorie verhalten und eine Maximierung ihrer rationalen Nutzenerwartungen anstreben.22

Harsanyis

Kritik

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Dem zweiten Punkt liegt die plausible und im gewöhnlichen Entscheidungsverhalten der meisten Menschen zutage tretende Vorstellung zugrunde, dass wir uns in unseren wohlerwogenen Entscheidungen nicht nur an unseren Bewertungen der verschiedenen möglichen Entscheidungsergebnisse orientieren was dürfen wir bestenfalls erwarten, was kann schlimmstenfalls geschehen? - , sondern auch daran, für wie wahrscheinlich wir das Eintreten der mit einer Entscheidung verbundenen negativen und positiven Konsequenzen halten. Der Spatz in der Hand sei besser, so sagt man, als die Taube auf dem Dach. Umgekehrt nehmen wir auch große Übel um bescheidener Vergnügungen willen unter der Voraussetzung in Kauf, dass wir ihr Eintreten für hinreichend unwahrscheinlich halten, zum Beispiel wenn wir ein Flugzeug besteigen, um in einem fernen Land am Strand zu liegen. In Unkenntnis ihrer sozialen Position müssten sich rationale Personen hinter einem Schleier der Unwissenheit bei der Wahl distributiver Grundsätze demnach an ihren durch Wahrscheinlichkeiten (p! - pn) gewichteten Nutzeneinschätzungen (uj - un) für die verschiedenen möglichen Positionen (1 - n) orientieren. Dabei müssen sie nach Harsanyi von gleichen Wahrscheinlichkeiten für alle sozialen Positionen ausgehen, weil nur so die für die Wahl moralischer Grundsätze erforderliche Unparteilichkeit ihrer Entscheidung gewährleistet ist.23 Harsanyi nennt dies das „equiprobability model for moral value judgements". 24 Dieses aber führt, wie Harsanyi gezeigt hat, zum Prinzip der Maximierung der durchschnittlichen Nutzenerwartungen aller Gesellschaftsmitglieder und nicht zu den Rawls'schen Grundsätzen. Der mit der Wahl eines bestimmten Grundsatzes verbundene Erwartungswert EW ist die Summe der aus ihm resultierenden Nutzenwartungen für jede einzelne soziale Position. In einer Gesellschaft mit η Mitgliedern ist er bei Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten dafür, ein beliebiges Mitglied i zu sein, gleich ^-u, +-" + | u n . Nach der Bayes'schen Entscheidungstheorie ist deshalb derjenige Grundsatz zu wählen, für den

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Die Begründung des Differenzprinzips

bei Rawls

j=l

maximal ist, und dies ist der Grundsatz des größten Durchschnittsnutzens, der keine Garantie für gleiche Grundfreiheiten und einen Maximin-Anteil an materiellen Gütern vorsieht.25 Wie wir gesehen haben, können dagegen nach Rawls, wenn es um die Verteilung von Grundgütern geht, rationalerweise nur solche Grundsätze gewählt werden, die allen Bürgern für den Fall, dass sie zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehören, eine adäquate Mindestausstattung mit Grundgütern garantieren. Die Parteien im Urzustand orientieren sich bei ihrer Entscheidung ausschließlich am Interesse der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder an den für die Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen notwendigen Gütern. Sie verhalten sich damit so, als gingen sie trotz des Schleiers der Unwissenheit mit Gewissheit davon aus, zu dieser Gruppe zu gehören. 26 Nachteile, welche für die begünstigteren Gesellschaftsmitglieder mit einer Maximin-Entscheidung verbunden sein mögen, bleiben demgegenüber ohne Gewicht und werden von den Parteien bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt. Eben dagegen richtet sich Harsanyis Kritik. Warum sollten sich die Parteien im Urzustand, wenn sie über die möglichen Verteilungen von Grundgütern beraten, anders verhalten als die meisten Menschen bei gewöhnlichen risikobehafteten Entscheidungen, und durch die Wahl der Rawls'schen Grundsätze bestimmte Risiken absolut ausschließen, das heißt unabhängig davon, welche Gewinnmöglichkeiten mit ihnen für sie verbunden sein mögen, falls sie nicht zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehören? Diese Frage wird im Folgenden zu diskutieren sein, zunächst jedoch eine Vorbemerkung zur logischen Struktur der Rawls'schen Argumentation. Harsanyis Kritik geht von der nicht unproblematischen Annahme aus, dass eine rationale Entscheidung stets eine Entscheidung sein müsse, die auf einer angebbaren und für alle

tiarsanyis

Kritik

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Entscheidungssituationen gültigen Regel beruht. 27 Die rationale Rechtfertigung einer Entscheidung bestünde dann darin, eben diese Regel anzugeben. Eine solche universale Regel für rationale Entscheidungen kann Maximin jedoch mit Blick auf die angeführten Beispiele offenkundig nicht sein: ... the whole point about the concept of the original position is to imagine a number of individuals ignorant of their personal circumstances and then to assume that under these conditions of ignorance they would act in a rational manner, i.e. in accordance with a decision rule which consistently leads to reasonable decisions under ignorance and uncertainty. But, as we have seen, the maximin principle is most definitely not a decision rule of this kind.28

Der relevante Situationstyp würde nach Harsanyi in unserem Fall dadurch beschrieben, dass es sich um eine Entscheidung unter Unsicherheit handelt. Hinter dem Schleier der Unwissenheit hat keiner der Beteiligten Informationen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit er sich, nachdem der Schleier gefallen ist, in einer der möglichen sozialen Positionen wiederfindet. Für diesen Fall wird nach Harsanyi die angemessene Entscheidungsregel durch die Bayes'sche Theorie rationaler Entscheidungen formuliert, von der wir wissen, dass sie in einer Vielzahl von risikobehafteten Entscheidungssituationen zu intuitiv plausiblen Ergebnissen führt. 29 Nun hatte Rawls bereits in A Theory of Justice betont, dass die Maximin-Entscheidung der Parteien im Urzustand ihre rationale Rechtfertigung ausschließlich aus den besonderen Merkmalen der Entscheidungssituation bezieht, vor die sie sich bei der Wahl oberster Gerechtigkeitsgrundsätze gestellt sehen. 30 Wir haben es insofern nicht, wie Harsanyi anzunehmen scheint, mit einer deduktiv subsumierenden Herleitung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze aus universalen Prinzipien einer allgemeinen Entscheidungstheorie zu tun. Die Rawls'sche Argumentation läuft gerade nicht so, dass die universelle Gültigkeit der MaximinRegel für alle Entscheidungen unter Unsicherheit vorausgesetzt und der besondere Fall der Auswahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen im Urzustand lediglich unter sie subsumiert würde. Und

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei Rawls

es wird auch nicht vorausgesetzt, dass rational Handelnde sich bei wichtigen Entscheidungen grundsätzlich extrem risikofeindlich verhalten würden.31 Vielmehr wird ausgehend von den spezifischen Merkmalen der konkreten Entscheidungssituation im Urzustand begründet, warum eine rationale kollektive Entscheidung für bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze eine Entscheidung in Übereinstimmung mit der Maximin-Regel sein muss. Vom Argumentationstyp her haben wir es mit einer induktiv aufsteigenden Begründung zu tun. Gleichwohl ist leicht zu sehen, dass Harsanyis Kritik nicht nur eine deduktiv-subsumptive Herleitung der Rawls'schen Grundsätze mithilfe der Maximin-Regel ausschließt, sondern ebenso jede auf die besondere Entscheidungssituation des Urzustandes bezogene induktiv aufsteigende Begründung. Die entscheidende Frage ist nicht, ob es in einer konkreten Situation wie der des Urzustandes rational sein kann, eine MaximinEntscheidung zu treffen, obwohl eine entsprechende Entscheidung in anderen Situationen irrational wäre, sondern ob es jemals, also auch im Urzustand, rational sein kann, unabhängig von Wahrscheinlichkeitsabwägungen Maximin-Entscheidungen zu treffen. Mit Blick auf die von Harsanyi angeführten Beispiele für Risikoabwägungen in alltäglichen Entscheidungssituationen erscheint dies jedenfalls fraglich. Nehmen wir noch einmal das Beispiel des sonnenhungrigen Urlaubers, der sich in ein Flugzeug setzt, um sich in einem fernen Land an den Strand zu legen. Er weiß, dass das Flugzeug abstürzen kann und nimmt seinen Tod, wenn nicht Schlimmeres, um eines vergleichsweise bescheidenen Vergnügens willen in Kauf. Falls er Kinder hat, kann er nicht ausschließen, dass sie ihren Vater verlieren, mit allen negativen Folgen, die sich daraus für sie ergeben mögen. Die zweite und dritte Anwendungsbedingung der Maximin-Regel ist insofern erfüllt: Es stehen bedeutende Güter auf dem Spiel, und es ist vergleichsweise wenig zu gewinnen. Wenn uns die Entscheidung, in den Urlaub zu fliegen, gleichwohl rational erscheint, so deswegen, weil ein Flugzeugabsturz aller Erwartung nach sehr unwahrscheinlich

Die Laplace'sche

Regel

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ist und das Risiko entsprechend gering erscheint. Die erste Anwendungsbedingung der Maximin-Regel ist nicht erfüllt, denn Risikoabwägungen auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen sind möglich. Wüsste unser Mann hinter einem Schleier der Unwissenheit nichts darüber, wie häufig Flugzeuge abstürzen, dürfte er nach der Maximin-Regel und auch nach Bayes unter Voraussetzung der Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten rationalerweise nicht fliegen. Wenn wir dies nun auf die Entscheidung der Parteien im Urzustand übertragen, bedeutet es, dass alles davon abhängt, welche Wahrscheinlichkeitsannahmen in dieser Situation rational gerechtfertigt erscheinen. Harsanyi vertritt die Auffassung, dass die Parteien hinter dem Schleier der Unwissenheit aus Gründen der Unparteilichkeit und in Übereinstimmung mit der Laplace'sehen Regel von gleichen Wahrscheinlichkeiten für alle Positionen ausgehen müssen.32 Rawls hält dies für unzulässig und glaubt, dass angesichts der besonderen Merkmale der Entscheidungssituation im Urzustand nur eine Maximin-Entscheidung der Parteien gerechtfertigt sein könne. Der entscheidende Schritt in Rawls' Begründung besteht also darin zu zeigen, warum die Parteien es im Urzustand rationalerweise ablehnen würden, bei ihrer Entscheidung Risikoabwägungen auf der Grundlage der Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten vorzunehmen.

7. Die Laplace'sche

Regel

Rawls führt verschiedene Argumente dafür an, von Wahrscheinlichkeitserwägungen im Urzustand abzusehen. Sie beziehen sich auf die Anwendung der nach dem Mathematiker Laplace benannten Regel für Entscheidungen unter Unsicherheit. Die Laplace'sche Regel besagt, dass wir in Entscheidungssituationen, in denen wir keinerlei Informationen darüber haben, wie die Wahrscheinlichkeiten für die Konsequenzen unserer Entscheidungen verteilt sind, von gleichen Wahrscheinlichkeiten

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

für alle möglichen Ergebnisse ausgehen sollten. Da die Parteien im Urzustand keine Informationen darüber haben, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie sich in einer bestimmten sozialen Position wiederfinden, nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist, könnten sie sich nach Rawls nur dann rationalerweise für das Durchschnittsnutzenprinzip entscheiden, wenn sie die Laplace'sche Regel anwendeten, und eben dies wäre nach Rawls unzulässig. Rawls' Erörterung der Laplace'schen Regel in A Theory of Justice bleibt eigentümlich unentschieden. Einerseits nennt Rawls Gründe für die Unzulässigkeit von Risikoabwägungen unter Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten für alle sozialen Positionen im Urzustand, und er verweist auf die internen Probleme bei der Anwendung der Laplace'schen Regel. 33 Andererseits sagt er nicht, dass ihre Anwendung durch die Parteien im Urzustand etwa irrational wäre, und er nennt auch keine Argumente, welche die Anwendung der Regel definitiv ausschlössen. Ein von Rawls gegen die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten vorgebrachtes Argument ist, dass für die Parteien im Urzustand zum einen zuviel auf dem Spiel stehe und zum anderen zu wenig zu gewinnen sei, als dass Risikoabwägungen auf der Grundlage der Laplace'schen Regel gerechtfertigt erscheinen könnten. 34 Dieses Argument ist jedoch nur bedingt überzeugend, da auch in gewöhnlichen Entscheidungen viel auf dem Spiel stehen mag (zum Beispiel das eigene Leben gegen etwas Sonnenschein), ohne dass dies den Verzicht auf Wahrscheinlichkeitsabwägungen rechtfertigen würde. So stellt sich die Frage, welche Wahrscheinlichkeitsannahmen für die verschiedenen sozialen Positionen im Urzustand rational erscheinen. Hier setzt ein zweiter Einwand von Rawls an. Die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten beruhe auf dem Prinzip vom unzureichenden Grunde - die Parteien haben wegen des Schleiers der Unwissenheit keine empirischen Kenntnisse über die tatsächliche gesellschaftliche Verteilung sozialer Positionen und könne keine .objektive' Grundlage für Risikoabwägungen bieten. Sie sei deshalb zur Rechtfertigung von riskanten Ent-

Die Laplace'scbe Regel

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Scheidungen, etwa gegenüber den eigenen Kindern, ungeeignet. (So ist zum Beispiel nicht auszuschließen, dass die tatsächlichen Risiken, zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten zu gehören, größer sind, als sie durch die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten vorgestellt werden.) Es ist richtig, dass die Laplace'sche Regel keine .objektive' Grundlage für Risikoabschätzungen bietet, denn sie beruht nicht auf empirischen Erkenntnissen über die Verteilung sozialer Positionen in einer Gesellschaft - genau diese Kenntnisse werden ja durch den Schleier der Unwissenheit ausgeschlossen. Dies kann aber kaum ein Einwand sein, da die Laplace'sche Regel gerade für den Fall eine rationale Entscheidungshilfe bieten soll, in dem es keine objektiv-empirischen Anhaltspunkte für bestimmte Wahrscheinlichkeitsannahmen gibt. Nun ist bekannt, dass die klassische Formulierung der Laplace'schen Regel unter Berufung auf das Prinzip vom unzureichenden Grunde zu einer Reihe von Schwierigkeiten und Widersprüchen führt. Auf drei grundlegende Probleme möchte ich näher eingehen, um deutlich zu machen, dass auch sie nicht gegen die Anwendung dieser Regel im Urzustand sprechen. Die beschränkte Anwendbarkeit der Laplace'schen Regel: Die auf die Laplace'sche Regel gestützte Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ereignisse hatte für die klassische Wahrscheinlichkeitslehre des neunzehnten Jahrhunderts, wie sie im Anschluss an Bernoullis Ars Conjecturandi35 von Laplace systematisch ausformuliert worden war,36 grundlegende Bedeutung. Sie diente sowohl zur Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs als auch zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit komplexer Ereignisse. Laplace definierte die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses als das Zahlenverhältnis zwischen den für sein Eintreten „günstigen" und den „gleich möglichen" Fällen.37 Die „günstigen" Fälle sind dabei diejenigen, die das fragliche Ereignis realisieren; „gleich möglich" sind alle Ereignisse, die gleichermaßen eintreten können. So ergibt sich zum Beispiel als Wahrscheinlichkeit dafür, mit einem vollständig symmetrischen Würfel eine Sechs zu werfen, 1/6; denn

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei Rawls

es gibt einen einzigen „günstigen Fall" (Augenzahl 6) und sechs „gleich mögliche Fälle" (die Augenzahlen 1, 2, 3, 4, 5 und 6). Nun ist klar, dass „gleich möglich" hier nichts anderes bedeutet als „gleich wahrscheinlich", so dass die gegebene Definition auf eine Ergänzung angewiesen ist, wenn sie nicht zirkulär sein soll. Diese Ergänzung liefert das Prinzip vom unzureichenden Grunde, dem zufolge wir genau dann berechtigt sind, zwei Ereignisse für gleich möglich resp. gleich wahrscheinlich zu halten, wenn wir keinen Grund zu der Annahme haben, eines von ihnen sei wahrscheinlicher als das andere. 38 Eben dies ist, wenn wir einmal von Unebenheiten der Tischfläche und Besonderheiten der Wurftechnik absehen, bei einem vollständig symmetrischen Würfel der Fall, und so scheint uns die klassische Definition zumindest für diesen und vergleichbare Fälle eine nicht-zirkuläre Methode zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten zu bieten. Gleichwohl liegt in der Notwendigkeit, zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit von Ereignissen auf gleich wahrscheinliche Alternativen zurückzugehen, eine gravierende Beschränkung der klassischen Definition, denn nicht alle Wahrscheinlichkeitsaussagen lassen sich als Angaben über das numerische Verhältnis „günstiger" zu gleich wahrscheinlichen Fällen analysieren. Nehmen wir zum Beispiel einen „gezinkten" Würfel, der mit geringfügig größerer Wahrscheinlichkeit zu einem Sechserwurf führt als ein vollständig symmetrischer Würfel. Sagen wir, die Wahrscheinlichkeit der Augenzahl 6 sei g + e , mit 0 < e < . Wie sollten sich in diesem Fall die nach der klassischen Definition zur Berechnung des Wertes von notwendigen gleich wahrscheinlichen Fälle bestimmen lassen? Das Ausmaß der Beschränkungen, die sich ergeben, wenn Wahrscheinlichkeitsangaben auf gleich wahrscheinliche Fälle zurückgeführt werden müssen, zeigt sich, sobald wir uns dem Feld der statistischen Wahrscheinlichkeiten zuwenden. Hier ist es normalerweise unmöglich, gleich wahrscheinliche Fälle zu identifizieren, ohne auf abwegige Konstruktionen zurückzugreifen. Nehmen wir zum Beispiel an, die Wahrscheinlichkeit,

Die Laplace'sche Regel

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dass ein 40-j ähriger Mann im Laufe eines Jahres stirbt, sei nach statistischen Erhebungen 0,011. Was könnten in diesem Fall die 1000 gleich wahrscheinlichen Fälle sein, von denen 11 dem Todeseintritt „günstig" wären? 39 Als Grundlage einer allgemeinen Wahrscheinlichkeitstheorie kommt die klassische Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs wegen ihrer eingeschränkten Anwendbarkeit demnach nicht in Frage. Ein Einwand dagegen, nach der Laplace'schen Regel hinter dem Schleier der Unwissenheit für alle sozialen Positionen gleiche Wahrscheinlichkeiten anzunehmen, ist dies jedoch nicht, da es in diesem besonderen Fall leicht ist, die gleich wahrscheinlichen Positionen zu benennen. Die zur Einführung des Schleiers der Unwissenheit führende Notwendigkeit, im Urzustand alle Gesellschaftsmitglieder gleich zu behandeln, gewährleistet die für die Anwendung der Laplaceschen Regel notwendige vollständige Symmetrie aller alternativen sozialen Positionen. Um die Laplace'sche Regel im Urzustand in rationalerweise anzuwenden, müssen wir nicht voraussetzen, dass sie eine geeignete Grundlage für Wahrscheinlichkeitsbestimmungen auch in solchen Fällen bietet, in denen es, anders als im Urzustand, unmöglich ist, gleich wahrscheinliche Alternativen zu identifizieren. 40 Das Problem objektiven Wissens: Ein zweites Problem für die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten in Fällen vollständiger Unwissenheit über die Eintrittswahrscheinlichkeiten der möglichen Alternativen betrifft den epistemologischen Status dieser Annahme. Rawls nennt es als einen der Gründe für seine Ablehnung von Risikoabwägungen auf der Basis der Laplace'schen Regel. 41 Wenn uns jegliches Wissen fehlt, das spezifische Wahrscheinlichkeitsannahmen in Bezug auf bestimmte Ereignisse rechtfertigen würde, dann können wir, so wird gegen die Laplace'sche Regel eingewendet, eben auch nichts darüber sagen, ob diese Ereignisse gleich wahrscheinlich sind oder nicht. Fehlende Gründe dafür, spezifische Eintrittswahrscheinlichkeiten für verschiedene Ereignisse anzunehmen, seien kein Grund zur Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten, da aus Nichtwissen

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bei Rawls

allein unter Zuhilfenahme des Prinzips vom unzureichenden Grunde kein Wissen folgen könne. Wesley Salmon ist ein Vertreter dieser Auffassung: Knowledge of probabilities is concrete knowledge about occurrences; otherwise it is useless for prediction and action. According to the principle of indifference, this kind of knowledge can result immediately from our ignorance of reasons to regard one occurence as more probable as another. This is epistemological magic. Of course, there are ways of transforming ignorance into knowledge - by further investigation and the accumulation of more information. It is the same with all "magic"; to get the rabbit out of the hat you first have to put him in. The principle of indifference tries to perform "real magic". 42

Nach meiner Auffassung beruht die von Salmon vorgebrachte und von vielen geteilte Kritik an der Laplace'schen Regel (Salmon nennt sie Keynes folgend „the principle of indifference") auf einem Missverständnis. In der Tat besteht ein epistemologischer Unterschied zwischen empirisch begründeten Aussagen über die Gleichwahrscheinlichkeit von Ereignissen und der Laplace'schen Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten in Fällen, wo es keinen Grund gibt, von ungleichen Wahrscheinlichkeiten auszugehen. Jemand, der sich nach eingehender Untersuchung des Inhalts einer Urne davon überzeugt hat, dass diese zu gleichen Anteilen mit schwarzen und weißen Kugeln gefüllt ist, hat einen positiven und empirisch gestützten Grund dafür zu glauben, dass die Wahrscheinlichkeit, eine schwarze Kugel zu ziehen, ebenso hoch ist, wie die Wahrscheinlichkeit, eine weiße Kugel zu ziehen. Jemand, der das Zahlenverhältnis zwischen weißen und schwarzen Kugeln in einer Urne nicht kennt und aufgrund der Laplace'schen Regel eine Gleichverteilung unterstellt, hat keinen solchen Grund. Hätte er einen, müsste er nicht auf die Laplace'sche Regel zurückgreifen, um eine rationale Entscheidung zu treffen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass er sich - ebenso wie es die Laplace'sche Regel fordert - genau so verhalten sollte, als ob er einen positiven Grund hätte, von gleich vielen schwarzen und weißen Kugeln in der Urne auszugehen.

Die Laplace'sche Regel

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Auch Entscheidungen, die von empirisch unbegründeten oder sogar falschen Annahmen ausgehen, können rationale Entscheidungen sein, und zwar dann, wenn es (1) unvermeidlich ist, in Übereinstimmung mit irgendeiner Wahrscheinlichkeitsannahme zu handeln, und wenn (2) jede andere Annahme empirisch gleichermaßen unbegründet wäre und ebenso falsch sein könnte. Jemand kann in einer Situation vollständiger Unkenntnis über die Verteilung von Kugeln in einer Urne die Laplace'sche Regel befolgen und von einer Gleichverteilung ausgehen, ohne dass ihn dies darauf festlegen würde, die Annahme der Gleichverteilung als ein positives Wissen - das heißt nach dem üblichen Verständnis als ein begründetes Fürwahrhalten des Wahren - zu betrachten. Es ist ein Unterschied, ob ich rationalerweise glaube, dass p wahr sei, oder ob ich rationalerweise so handle, als ob p wahr sei. Und wir können die Laplace'sche Regel so verstehen, dass sie uns sagt, wie wir angesichts einer vollkommenen Unkenntnis der Wahrscheinlichkeit möglicher Konsequenzen unserer Entscheidungen handeln sollen, und nicht, was wir in einer solchen Situation glauben sollen. Tatsächlich können die Parteien im Rawls'schen Urzustand es auch dann nicht vermeiden, so zu handeln, als ob sie von einer bestimmten Wahrscheinlichkeitsverteilung für soziale Positionen ausgingen, wenn sie nicht der Laplace'schen Regel, sondern der von Rawls favorisierten Maximin-Regel folgten. In diesem Fall würden sie so handeln, als ob die Wahrscheinlichkeit, zur Gruppe der am wenigsten Begünstigen zu gehören, für sie gleich eins wäre. 43 Und diese Annahme ist, anders als die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten, nicht nur möglicherweise, sondern definitiv falsch, denn nicht alle Bürger können zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehören. 44 Die entscheidende Frage ist demnach nicht, wie Salmons Einwand nahe legt, ob die Laplace'sche Regel einen nur durch Zauberei zu bewerkstelligenden Übergang vom Nichtwissen zum positiven Wissen unterstellt, sondern ob sich die womöglich kontrafaktische Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

als handlungsleitende Maxime für Entscheidungen unter Unsicherheit rational rechtfertigen lässt. Auch dies lässt sich bezweifeln. So lehnen Vertreter einer personalistischen Wahrscheinlichkeitskonzeption die Laplace'sche Regel ab, weil eine Person ein Ereignis in konsistenter Weise und Übereinstimmung mit allen ihren wohlerwogenen empirischen Überzeugungen für wahrscheinlicher halten mag als ein anderes, ohne dafür zwingende empirische Gründe vorbringen zu können. 45 Aus der Perspektive einer Person, die sich in einer Situation vollständiger Unkenntnis über Wahrscheinlichkeitsverteilungen fragt, an welchen Wahrscheinlichkeitsannahmen sie sich bei ihrer Entscheidung orientieren soll, haben alle denkbaren Verteilungen, einschließlich der Gleichverteilung, den gleichen Status. Es gibt für sie keinen Grund, irgendeine Verteilung einer anderen vorzuziehen; eben dies ist damit gemeint, wenn wir sagen, sie befände sich in vollständiger Unkenntnis über die vorliegende Verteilung. Die Konsequenz ist, dass ihr die Annahme einer Gleichverteilung ebenso willkürlich erscheinen muss wie die Annahme irgendeiner anderen, ungleichen Verteilung. Alle denkbaren Wahrscheinlichkeitsannahmen erscheinen gleichermaßen gerechtfertigt resp. ungerechtfertigt. Wenn es bei Entscheidungen unter Unsicherheit rational gerechtfertigt werden kann, in Übereinstimmung mit der Laplace'schen Annahme zu handeln, dann, so scheint es, kann es auch rational sein, unter jeder anderen Annahme über Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu handeln. Ich möchte die Frage, ob bei Entscheidungen unter Unsicherheit der Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten im Spektrum aller möglichen Wahrscheinlichkeitsannahmen ein Vorrang zukommt, hier nicht weiter verfolgen. Für die Anwendung der Laplace'schen Regel in der besonderen Entscheidungssituation des Urzustandes ist ihre Beantwortung ohne Bedeutung. Auch dann nämlich, wenn für Entscheidungen unter Unsicherheit im Allgemeinen kein genereller Vorrang der Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten gegenüber anderen Annahmen rational gerechtfertigt wäre, könnten wir den Parteien

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im Urzustand in diesem Punkt keinen Spielraum für persönliche Einschätzungen zugestehen. Gerechtigkeitsgrundsätze für eine wohlgeordnete Gesellschaft müssen als moralische Normen allen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber unparteiisch sein. Es ist eine der Aufgaben des Schleiers der Unwissenheit, diese Unparteilichkeit dadurch sicherzustellen, dass von den Beratungen im Urzustand alle Informationen ausgeschlossen werden, die zu einer Bevorzugung bestimmter Positionen durch die beratenden Parteien führen würden. Wenn wir es nun zuließen, dass die Parteien den verschiedenen möglichen sozialen Positionen unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten zuordnen, würde dies unweigerlich zu einer stärkeren Gewichtung der Interessen derjenigen Positionen führen, denen eine größere Wahrscheinlichkeit zugesprochen wird. Der Schleier der Unwissenheit könnte seine Aufgabe, Unparteilichkeit zu garantieren, dann nicht mehr erfüllen. Nur die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten für alle sozialen Positionen in Übereinstimmung mit der Laplace'schen Regel wird der Aufgabe des Urzustandes gerecht, unparteiische Grundsätze zu identifizieren. Auch wenn andere Wahrscheinlichkeitsverteilungen hinter dem Schleier der Unwissenheit rational ebenso gerechtfertigt erscheinen mögen, sind sie aufgrund der moralischen Aufgabenstellung des Urzustandes nicht zulässig. Wenn die Parteien im Urzustand sich überhaupt auf Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen einlassen, dann müssen diese in Übereinstimmung mit der Laplace'schen Regel stattfinden. Das Problem widersprüchlicher Wahrscheinlichkeitseinschätzungen: Der dritte und aus der Sicht einer allgemeinen Theorie rationaler Entscheidungen gewichtigste Einwand gegen die Laplace'sche Regel besteht darin, dass die Anwendung dieser Regel zu widersprüchlichen Ergebnissen führt. Ich möchte dies an zwei Beispielen illustrieren. Fragen wir zunächst, wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass bei zwei Würfen mit einer Münze mindestens einmal die Zahlseite oben liegt, wenn wir annehmen, dass bei jedem Wurf die Wahrscheinlichkeiten für Zahl und Ähre gleich hoch sind. Es ergeben sich vier intuitiv

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

gleich wahrscheinliche Sequenzen von Wurfergebnissen: Zahl/ Zahl (ZZ), Zahl/Ähre (ZÄ), Ähre/Zahl (ÄZ) und Ähre/Ähre (ÄÄ). Da von den vier möglichen Sequenzen bei dreien mindestens einmal die Zahlseite oben liegt, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser Fall tatsächlich eintritt, gleich 3/4. Nun können wir die möglichen Wurfergebnisse aber auch so beschreiben, dass entweder zwei Zahlen geworfen werden (ZZ) oder zwei Ähren (ÄÄ) oder einmal Zahl und einmal Ähre (ZÄ ODER ÄZ) 4 6 . Bei dieser Beschreibung haben wir nur drei „gleich mögliche" Fälle und zwei „günstige", in denen mindestens einmal die Zahlseite oben liegt. Als Wahrscheinlichkeit ergäbe sich dann nach der Laplace'schen Regel nicht 3/4, sondern 2/3. Unsere beiden Beschreibungen der möglichen Wurfergebnisse sind logisch äquivalent, aber sie führen bei Anwendung der Laplace'schen Regel zu verschiedenen Wahrscheinlichkeitseinschätzungen. An der formalen Darstellung der beiden Beschreibungen können wir leicht ablesen, warum dies so ist und worin der Fehler der zweiten Beschreibung liegt: Z Z ODER Z Ä

ODER Ä Z ODER Ä Ä

=

Z Z ODER Ä Ä ODER ( Z Ä ODER Ä Z )

Während die vier Glieder der ersten Disjunktion vollkommen gleichartig aufgebaut sind, ist das dritte Glied der zweiten Disjunktion im Unterschied zu den ersten beiden selbst eine Disjunktion. Entgegen dem ersten Anschein sind wir nicht berechtigt, die Laplace'sche Regel auf die zweite Disjunktion anzuwenden; denn die uns tatsächlich verfügbaren Informationen zeigen, dass nicht alle drei Glieder gleich wahrscheinlich sein können. Während Z Z und ÄÄ nur durch jeweils eine einzige Sequenz von Wurfergebnissen realisiert werden, wird (ZÄ ODER ÄZ) durch zwei mögliche Sequenzen realisiert und sollte demnach doppelt so wahrscheinlich sein wie jedes der beiden anderen möglichen Ergebnisse. Die Laplace'sche Regel kann demnach nur dann auf eine Menge von einander ausschließenden Alternativen angewendet werden, wenn diese ihrer logischen Form nach gleichartig sind und es unmöglich ist, einzelne Alternativen in Elemente zu zerlegen, die von derselben Form wie die anderen Alternativen sind. 47

Die Laplace'sche Regel

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Welches sind nun die Konsequenzen der Beschreibungsrelativität von Wahrscheinlichkeitseinschätzungen nach der Laplace'schen Regel, wenn wir an die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen im Urzustand denken? Die Parteien im Urzustand sind freie und gleiche Bürger resp. deren Vertreter. Sie wählen Gerechtigkeitsgrundsätze danach aus, welchen Anteil an Grundgütern sie ihnen resp. den durch sie vertretenen Personen garantieren. Die bei Anwendung der Laplace'schen Regel zugrunde zulegenden alternativen sozialen Positionen müssen demnach die individuellen Positionen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder sein. Grundsätzlich wären natürlich auch andere Einteilungen denkbar. Wir könnten zum Beispiel das Leben einer Person in Phasen unterteilen und jede einzelne Phase als eine „soziale Position" betrachten, 48 oder wir könnten uns an Gruppen von Personen anstatt an Individuen orientieren. Je nach der gewählten Basiseinheit würden wir zu unterschiedlichen Einteilungen der „gleich möglichen" sozialen Positionen in einer Gesellschaft gelangen. Welche Gründe jedoch auch immer für die verschiedenen Einteilungsmöglichkeiten sprechen mögen: Es ist offensichtlich, dass nur die Einteilung nach Einzelpersonen mit dem Rawls'schen Ansatz zu vereinbaren ist. Die Parteien im Urzustand sind weder Vertreter der Interessen von Personen während bestimmter Lebensphasen noch Vertreter von Gruppeninteressen, sie vertreten Individuen. Dies lässt es aus ihrer Sicht zwingend erscheinen, wenn sie die Laplace'sche Regel anwenden, mit gleicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, jedes mögliche Gesellschaftsmitglied zu sein. Unsere Diskussion endet demnach mit dem Ergebnis, dass sich aus den Anforderungen einer rationalen und unparteiischen Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen keine Einwände gegen die Anwendung der Laplace'schen Regel durch die Parteien im Urzustand ergeben.

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Die Begründung

des Differenzprinzips

8. Die „strains of

bei

Rawls

commitment"

Die einzige aussichtsreiche Strategie, einen Ausschluss von Wahrscheinlichkeitsannahmen nach der Laplace'schen Regel im Urzustand zu rechtfertigen, liegt meiner Ansicht nach in der Berücksichtigung dessen, was Rawls die „strains of commitment" nennt. Dies sind die mit der Einhaltung eines Vertrages nach seinem Inkrafttreten verbundenen Belastungen für die Vertragsparteien.49 Die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen durch die Parteien im Urzustand hat die Form eines Gesellschaftsvertrags, in dem sich Bürger darauf einigen, nach welchen obersten Grundsätzen sie ihre gemeinsamen politischen und sozialen Institutionen dauerhaft einrichten wollen.50 Der Intention nach handelt es sich um einen für alle Beteiligten und für alle Zeiten gültigen Vertrag. Keine der beteiligten Personen kann ihn, sobald der Schleier der Unwissenheit gefallen ist, aufkündigen, wenn sich herausstellt, dass sie zu den durch ihn weniger begünstigten Gesellschaftsmitgliedern gehört. Der Vertrag im Urzustand muss deshalb von allen in gutem Glauben abgeschlossen werden, dass sie ihn auch dann einhalten können, wenn der für sie ungünstigste Fall eintritt und sie zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehören. In dieser bona/¿'áe-Bedingung kommt eine wichtiger Aspekt des Vertragsgedankens zum Zuge: Er schließt, anders als der bloße Gedanke einer rationalen Wahl unter Unsicherheit, die Vorstellung aus, dass man seine Entscheidung nach besten Kräften zu revidieren versucht, wenn sie sich als für einen persönlich ungünstig erweisen sollte.51 Die Parteien im Urzustand betrachten ihre einhellige Entscheidung für bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze als endgültig, und sie gehen davon aus, dass alle Beteiligten grundsätzlich fähig und bereit sind, den geschlossenen ,Gesellschaftsvertrag' dauerhaft einzuhalten.52 Bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen müssen sie deshalb überprüfen, ob die aus diesen resultierenden strains of commitment für alle Gesellschaftsmitglieder (und insbesondere für die am wenigsten Begünstigten) tragbar und akzeptabel

Die „strains of commitment"

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sind. Dies können sie offenbar nur dann sein, wenn sie allen einen Mindestanteil an Grundgütern garantieren. Alle müssen zumindest über das notwendige Minimum an Rechten, Chancen und Gütern verfügen, um ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten in dem für faire soziale Kooperation notwendigen M a ß e zu entwickeln und auszuüben. Unabhängig davon, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es ihnen hinter dem Schleier der Unwissenheit erscheinen mag, tatsächlich zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten zu gehören, müssen die Parteien im Urzustand das wie auch immer geringe Risiko ausschließen, nicht über die für das Leben einer moralischen Person notwendigen Grundgüter zu verfügen, falls sie zu dieser Gruppe gehören. Denn nur so können sie angesichts der mit einem ,Gesellschaftsvertrag' verbundenen strains of commitment die ihnen durch den Vertragsgedanken auferlegte bona-fide-Bedingung erfüllen. Die Konsequenz ist, dass Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand nicht auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsabwägungen ausgewählt werden dürfen, sondern allein unter dem Gesichtspunkt der Garantie eines für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen angemessenen Anteils von Grundgütern für alle, einschließlich der am wenigsten Begünstigten. So weit das Argument der strains of commitment, wie wir es bei Rawls finden. Es ist nicht ganz klar, wie dieses Argument genau zu verstehen ist und wie es sich mit dem entscheidungstheoretischen Ansatz der Rawls'schen Herleitung seiner beiden Gerechtigkeitsgrundsätze vereinbaren lässt. Ich möchte zwei Varianten des Arguments unterscheiden und auf ihre Schlüssigkeit hin überprüfen. Die erste Variante geht von folgender Frage aus: Kann eine Person im Urzustand in gutem Glauben Gerechtigkeitsgrundsätzen zustimmen, die den am wenigsten Begünstigten keinen angemessenen Mindestanteil an Grundgütern garantieren, wenn sie annehmen muss, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit selbst zu dieser Gruppe von Personen zu gehören? Anders gefragt, kann eine Person guten Glaubens Grundsätzen zustimmen, die ihr mit einer bestimm-

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei Rawls

ten Wahrscheinlichkeit inakzeptable Belastungen auferlegen? Die zweite Variante des Arguments lässt sich durch die Frage charakterisieren, ob es möglich ist, einen ,Gesellschaftsvertrag' über Gerechtigkeitsgrundsätze in gutem Glauben abzuschließen, wenn man mit Gewissheit davon ausgehen muss, dass als Konsequenz des Vertragsschlusses nicht alle Parteien über das für das Leben einer moralischen Person notwendige Minimum an Grundgütern verfügen können und viele deswegen keinen Grund sehen werden, die durch den Vertrag festgelegten Kooperationsbedingungen auch einzuhalten. Betrachten wir zunächst die erste Variante. Es ist allgemein bekannt, dass nicht jeder, der einen Vertrag in gutem Glauben abschließt, die getroffene Vereinbarung zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich einzuhalten vermag. Mit jedem Vertrag ist das Risiko verbunden, dass ein Beteiligter aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse die von ihm zu einem früheren Zeitpunkt gegebenen Zusagen nicht erfüllen kann. Unfälle, plötzliche schwere Erkrankungen und wirtschaftlicher Misserfolg können jeden treffen und es ihm unmöglich machen, vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Rational Handelnde wissen dies und stellen vor Abschluss eines Vertrages die Möglichkeit seiner Nichterfüllung durch irgendeine der beteiligten Parteien (einschließlich ihrer selbst) in Rechnung. Gleichwohl, so scheint es, können Verträge in gutem Glauben abgeschlossen werden, solange die Beteiligten die Möglichkeit eines unvermeidlichen Vertragsbruches zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses für hinreichend unwahrscheinlich halten. Zunächst einmal ist klar, dass rationale Akteure einen Vertrag nur dann eingehen werden, wenn sie das Risiko seiner Nichterfüllung durch eine der beteiligten Parteien für sich persönlich geringer einschätzen als die für sie mit dem Vertragsabschluss verbundenen Gewinnmöglichkeiten. In der Sprache der Entscheidungstheoretiker gesprochen, muss der Erwartungswert des Vertragsabschlusses für alle Beteiligten positiv sein. 53 Dies bedeutet aber nicht, dass eine Person einen Vertrag schon darum guten Glaubens eingehen kann, weil er für sie einen

Die „strains of commitment"

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positiven Erwartungswert hat. Zweifellos kann man sich auch dann vom Abschluss eines Vertrages einen Gewinn versprechen, wenn man weiß, dass man selbst oder ein anderer Beteiligter ihn nicht einhalten wird. Entscheidend für die Erfüllung der bona-fide-Bedingung ist nicht der erwartete oder tatsächliche Wert eines Vertragsabschlusses für eine Person, sondern ihre (begründete) Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Vertragsbruches wegen zu großer Belastungen für sie selbst. Könnten sich die Parteien im Urzustand unter diesen Voraussetzungen in gutem Glauben auf Grundsätze einigen, die für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder nicht den für das Leben einer moralischen Person notwendigen Mindestanteil an Grundgütern garantieren? Ich meine, prinzipiell schon, zumindest solange wir die ¿>o«iJ-/i'de-Bedingung in dem schwachen Sinne verstehen, dass jede Person nur überprüfen muss, ob die Wahrscheinlichkeit untragbarer strains of commitment für sie selbst hinreichend gering ist. Alles hängt davon ab, welche gesellschaftliche Verteilung von Grundgütern aus den zur Wahl stehenden Grundsätzen resultieren würde und wie hoch mit Blick auf diese Verteilung hinter dem Schleier der Unwissenheit die Wahrscheinlichkeit eingeschätzt werden muss, zur Gruppe der am wenigsten begünstigten Personen zu gehören, die nicht über den notwendigen Mindestanteil an Grundgütern verfügen können. Nehmen wir an, in einer Gesellschaft mit 80 Millionen Mitgliedern gehörten nur 1.000 zu dieser Gruppe. In diesem Fall wäre hinter dem Schleier der Unwissenheit bei Anwendung der Laplace'schen Regel gleicher Chancen, jedes beliebige Gesellschaftsmitglied zu sein, die Wahrscheinlichkeit nicht erfüllbarer strains of commitment für jede der beteiligten Parteien hinter dem Schleier der Unwissenheit 0,0125, bei 10.000 am wenigsten begünstigten Mitgliedern wäre sie 0,125 und bei 100.000 1,25. Und auch dieses Risiko ist für jeden Einzelnen jedenfalls nicht offenkundig unvereinbar damit, guten Glaubens Grundsätzen zuzustimmen, die zu einer entsprechenden Verteilung führen würden. Wenn wir annehmen, dass aus der Perspektive des Urzustandes dem Risiko einer kritischen Unterversorgung mit Grund-

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

gütern, falls man zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehört, gewichtige Vorteile für den Fall gegenüberstehen, dass man nicht zu dieser Gruppe gehört; und wenn die Wahrscheinlichkeit, zu ihr zu gehören, hinreichend gering ist, dann können die Parteien im Urzustand, so scheint es, guten Glaubens auch Grundsätze wählen, welche die Möglichkeit einer Unterversorgung mit Grundgütern nicht ausschließen. Die erste Variante des Arguments der strains of commitment vermag demnach nicht zu begründen, warum bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen hinter einem Schleier der Unwissenheit keine Risikoabwägungen auf der Grundlage der Laplace'schen Regel vorgenommen werden dürfen, und zwar einfach deshalb, weil wir die Frage, ob wir mit Blick auf unsere eigenen zukünftigen Belastungen einen Vertrag guten Glaubens abschließen können, selbst auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen beantworten. Betrachten wir nun die zweite Variante des Arguments. Können sich die Parteien hinter dem Schleier der Unwissenheit in gutem Glauben auf Grundsätze einigen, die nicht allen Beteiligten das für moralische Personen notwendige Minimum an Grundgütern garantieren, mit der Konsequenz, dass, nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist, nicht alle bereit sein werden, die vereinbarten Kooperationsbedingungen einzuhalten ? Nach dem stärkeren Verständnis der bona-fide-Bedingung für gültige Verträge setzt diese nicht nur voraus, dass jede der beteiligten Parteien für sich selbst die Wahrscheinlichkeit eines Vertragsbruches wegen zu großer Belastungen als hinreichend gering einschätzt, sondern darüber hinaus, dass dieselbe Annahme auch für alle anderen Beteiligten begründet ist. Diese Bedingung ist jedoch nicht erfüllt, wenn bekannt ist, dass die strains of commitment für eine Gruppe der Beteiligten mit Sicherheit zu groß sein werden, auch wenn es hinter dem Schleier der Unwissenheit unmöglich ist zu identifizieren, wer in persona zu dieser Gruppe gehört. Die zweite Variante des Arguments der strains of commitment liefert somit ein schlüssiges Argument für die Rawls'sche Behauptung, dass die Parteien im

Die „strains of

commitment"

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Urzustand keine Risikoabwägungen unter der Laplace'schen Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten für alle sozialen Positionen vornehmen dürfen. Sobald mit der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen auch nur für einige Gesellschaftsmitglieder Risiken verbunden sind, die im Lichte der höchstrangigen Interessen moralischer Personen inakzeptabel erscheinen54, führt der Versuch einer nutzenmaximierenden Wahl von Grundsätzen unter Voraussetzung der Laplace'schen Annahme notwendigerweise zu einer Verletzung der bona-fide-Bedingung. Und dies bestätigt die Rawls'sche These, dass im Urzustand nur eine Maximin-Entscheidung der Parteien, die zugunsten der beiden Grundsätze ausfällt, rational gerechtfertigt sein kann, wenn die beiden Grundsätze zusammengenommen dem Nutzenprinzip gegenübergestellt werden. Wie fügt sich die erfolgreiche Variante des Arguments der strains of commitment in den entscheidungstheoretischen Grundansatz der Herleitung von Gerechtigkeitsgrundsätzen bei Rawls ein? Eine Pointe des Argumentationsmodells des Urzustandes liegt darin, das Problem der normativen Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen in zwei Teile zu zerlegen: einen moralischen und einen rationalen. Die moralischen Anforderungen der Unparteilichkeit und Fairness werden durch die Konstruktion des Urzustandes repräsentiert (Schleier der Unwissenheit, Begriff der moralischen Person, die symmetrische Stellung der Parteien als freier und gleicher). Der Gedanke der Rationalität kommt darin zum Ausdruck, dass die so beschriebenen und situierten Parteien Gerechtigkeitsgrundsätze allein unter dem Gesichtspunkt einer maximalen Förderung ihrer übergeordneten Interessen als moralische Personen auswählen, ohne dass sie dabei weiteren normativen oder moralischen Einschränkungen unterworfen wären. Dies ist gemeint, wenn Rawls sagt, die Parteien im Urzustand seien „rational autonom" 55 . Insbesondere müssen die Parteien bei ihrer rationalen individuellen Entscheidung nicht die Interessen, Wünsche und Absichten der anderen Parteien berücksichtigen. Die Parteien sind, wie Rawls es nennt, „wechselseitig desinteressiert"56. Jede Partei trifft ihre Entschei-

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei Rawls

dung aus der gewissermaßen egozentrischen Perspektive eines auf sich gestellten rationalen Individuums, ohne die Interessen und potenziellen Lebenslagen der anderen Beteiligten zu berücksichtigen. (Gleichwohl entscheiden sich natürlich alle aufgrund der für alle gleichen Entscheidungssituation für dieselben Grundsätze.) Die erste der beiden von mir vorgestellten Varianten des Arguments der strains of commitment fügt sich problemlos in dieses Argumentationsmodell ein. Jede Partei muss ausschließlich für sich selbst überprüfen, ob sie bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze angesichts der mit ihnen möglicherweise verbundenen Belastungen in gutem Glauben akzeptieren kann. Wir haben gesehen, dass aus dieser Perspektive auch das Risiko einer kritischen Unterversorgung mit Grundgütern in Kauf genommen werden kann, solange die damit verbundenen Gefahren unter der Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten für alle sozialen Positionen hinreichend gering sind. Die zweite, stärkere Variante des Arguments dagegen, die unzumutbare Belastungen unabhängig von Wahrscheinlichkeitserwägungen absolut ausschließt und insofern eine Maximin-Entscheidung rechtfertigt, lässt sich dagegen nicht vollständig aus der egozentrischen Perspektive rationaler moralischer Individuen rekonstruieren. Ein zwingender Grund dafür, Gerechtigkeitsgrundsätze nicht auf der Basis von Wahrscheinlichkeitserwägungen auszuwählen und sich ausschließlich an den nicht durch Wahrscheinlichkeiten gewichteten „absoluten" Risiken zu orientieren, ergibt sich, wenn wir die zweite Variante des Arguments der strains of commitment zugrunde legen, allein daraus, dass jede Partei im Urzustand verpflichtet ist, nicht nur ihre eigenen Interessen und möglichen Lebenslagen zu berücksichtigen, sondern auch die aller anderen am ,Gesellschaftsvertrag' Beteiligten. Doch genau dies ist mit dem von Rawls verfolgten Ansatz einer ausschließlich am rationalen Eigeninteresse orientierten Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen im Urzustand nicht zu vereinbaren. Meine These ist deshalb, dass das einzige überzeugende Argument bei Rawls für eine Maximin-Lösung des Gerechtigkeitsproblems nicht im Rahmen

Individuelle Entscheidung und moralische Rechtfertigung

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einer am Modell rationaler individueller Entscheidungen orientierten Rechtfertigungskonzeption für Gerechtigkeitsgrundsätze formuliert werden kann.

9. Individuelle Entscheidung und moralische

Rechtfertigung

Die Parteien im Urzustand wissen, dass sie Grundsätze für eine wohlgeordnete Gesellschaft auszuwählen haben, das heißt sie wissen, dass sie nur solche Grundsätze wählen können, die die begründete Zustimmung aller Bürger finden können, auch nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist. Unter dieser Voraussetzung aber ist leicht zu sehen, dass sie ihre Entscheidung im Urzustand nicht auf Risikoabwägungen stützen können, wie sie bei gewöhnlichen individuellen Entscheidungen angemessen sind. Wenn wir bei gewöhnlichen risikobehafteten Entscheidungen Unfälle und sogar unseren Tod in Kauf nehmen, weil wir es für hinreichend unwahrscheinlich halten, dass der schlimmste Fall tatsächlich eintritt, ist unser Handeln rational gerechtfertigt, weil wir angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit eines Unglücks alles in allem erwarten können, heil davonzukommen. Nur wenn diese Annahme gerechtfertigt ist, sollten wir verkehrsreiche Straßen überqueren, Flugreisen antreten und ähnliche minimal riskante Unternehmungen wagen. Würden wir diese Art der individuellen Entscheidungsfindung auf das Modell des Urzustandes übertragen, so dürften die Parteien auch ihre Grundfreiheiten oder lebenswichtige materielle Güter aufs Spiel setzen, wenn sie unter Voraussetzung der Laplace'schen Annahme gleicher Wahrscheinlichkeiten für alle sozialen Positionen davon ausgehen könnten, mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten zu gehören. Der Grund, warum sich die Parteien im Urzustand nicht genauso verhalten können, wenn sie öffentlich rechtfertigbare distributive Grundsätze wählen, liegt darin, dass die Annahme, die Sache würde schlicht gut ausgehen, mit Blick auf die tat-

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

sächliche Verteilung sozialer Positionen in der Gesellschaft notwendigerweise falsch ist. Auch wenn die Parteien hinter dem Schleier der Unwissenheit nicht sagen können, wer in persona zur Gruppe der am wenigsten Begünstigten gehören wird, und auch wenn die Wahrscheinlichkeit für jeden Einzelnen dazuzugehören minimal sein mag, wissen doch alle, dass in jedem Fall einige Gesellschaftsmitglieder zu dieser Gruppe gehören und dass die gewählten Grundsätze, sobald der Schleier gefallen ist, auch diesen gegenüber zu rechtfertigen sein müssen. Der Grund für die besondere Berücksichtigung der Interessen und der Lebenslage der am wenigsten Begünstigten durch die Parteien im Urzustand liegt nicht in der individuellen Abwägung bestehender Risiken, sondern in der Notwendigkeit Grundsätze zu finden, die allen gegenüber zu rechtfertigen sind. Der entscheidende Unterschied zwischen einer rationalen und minimal riskanten individuellen Entscheidung für eine Handlung oder Regelung und der rationalen Wahl distributiver Grundsätze liegt darin, dass im ersten Fall niemand zu Schaden kommt, wenn die Sache erwartungsgemäß gut ausgeht (wenn ich zum Beispiel heil über die Straße gekommen bin, habe ich alle Vorteile meiner Entscheidung, und niemand wurde geschädigt). Bei der Wahl distributiver Grundsätze hinter einem Schleier der Unwissenheit, die für die am wenigsten Begünstigten mit inakzeptablen Risiken verbunden sind, ist dagegen von vornherein bekannt, dass mit Sicherheit der schlimmste Fall für irgendjemanden - nämlich für die Mitglieder der am wenigsten begünstigten Gruppe - eintreten wird, so dass die Sache, kollektiv betrachtet, niemals gut ausgehen kann. Und es ist sicher unmöglich, einer Person gegenüber Grundsätze einer dauerhaften sozialen Kooperation zu rechtfertigen, die ihr nicht einmal die für ihr Leben minimal nötigen Grundgüter sichern. Niemand darf anderen willkürlich Lebensbedingungen zumuten, die ihm selbst inakzeptabel erscheinen und die er für sich persönlich hinter einem Schleier der Unwissenheit nur dann in Kauf nehmen würde, wenn rationalerweise nicht mit ihrem Eintreten zu rechnen ist. So kann Rawls mit Recht davon

Begründung für ein garantiertes Minimum

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ausgehen, dass die Parteien im Urzustand sich nicht auf Wahrscheinlichkeitserwägungen einlassen werden, sondern Gerechtigkeitsgrundsätze auf der Grundlage einer Maximin-Entscheidung wählen werden, sobald inakzeptable Risiken bestehen. Nur Maximin-Entscheidungen garantieren unter den oben beschriebenen Bedingungen, dass die gewählten Grundsätze auch denen gegenüber gerechtfertigt werden können, für die der ungünstigste Fall eintritt, nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist.

10. Begründung

für ein garantiertes

Minimum

Ich komme nun zum zweiten grundlegenden Vergleich und zu den Gründen, die für die Wahl des Differenzprinzips statt des Nutzenprinzips sprechen. Ein starkes Argument für das Differenzprinzip im Sinne der Maximin-Strategie ergäbe sich, wenn alle realisierbaren, aber vom Differenzprinzip abweichenden Einkommensverteilungen auf der OP-Kurve dazu führen würden, dass die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder unter eine kritische Einkommensschwelle gerieten. Nehmen wir an, es stünde eine Verteilungsregel zur Wahl (zum Beispiel „Jedem nach seinen marginalen Beiträgen zum Bruttosozialprodukt"), die es zuließe, dass einige Gesellschaftsmitglieder nicht über die für die Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen nötigen materiellen Güter und Ressourcen verfügen könnten. Da aus der Perspektive des Urzustandes jeder Bürger zu dieser Gruppe gehören kann, bestünde dann für jeden das Risiko, nicht über die für die Existenz einer moralischen Person nötigen Mittel zu verfügen, wenn der Schleier gefallen ist. Jeder Grundsatz sozialer Gerechtigkeit, der die rationale Zustimmung von Bürgern hinter einem Schleier der Unwissenheit finden soll, muss deshalb offenbar ein Mindesteinkommen für alle an der sozialen Kooperation Beteiligten garantieren. Es wäre absurd, einer Person überhaupt irgendwelche unabweis-

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Die Begründung

des Differenzprinzips

bei Rawls

baren moralischen Ansprüche zuerkennen zu wollen, wenn wir ihr nicht mindestens einen Anspruch auf die für das Leben einer moralischen Person notwendigen Subsistenzmittel zuerkennen. Einkommenspositionen unterhalb des Existenzminimums kann (1) keiner der Beteiligten rationalerweise für sich selber wollen, und keiner könnte sie (2) anderen gegenüber rechtfertigen. Zwar trifft es zu, dass viele Menschen bereit sind, in existenziellen Grenzsituationen ihr Leben zu opfern oder die Vernichtung ihrer moralischen Personalität in Kauf zu nehmen. Aber der Urzustand ist keine solche Grenzsituation. Es geht um die Wahl zwischen alternativen Verteilungen sozialer Positionen und Lebenslagen durch die institutionelle Grundstruktur einer dauerhaft bestehenden Gesellschaft und nicht darum, in einer singulären und anderweitig ausweglosen Situation eine moralisch verantwortliche Entscheidung zu treffen. So müssen die Parteien im Urzustand in jedem Fall sicherstellen, dass alle Gesellschaftsmitglieder über die für ihre physische Existenz notwendigen Subsistenzmittel verfügen. Was die Gewährleistung eines physischen Existenzminimums betrifft, verhalten sich die Parteien im Urzustand vernünftigerweise unendlich risikofeindlich. Materielle Vorteile oberhalb des Existenzminimums erscheinen vernachlässigbar, wenn sie nur um den Preis realisiert werden können, möglicherweise unter die kritische Schwelle zu geraten. Hinzu kommt, dass die Parteien im Urzustand einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen und deshalb sicherstellen müssen, dass alle Bürger über das physische Existenzminimum hinaus über diejenigen materiellen Mittel verfügen, die für ein autonomes soziales Leben im weiteren Sinne notwendig sind. Da die Parteien im Urzustand einander als freie und gleiche moralische Personen (und nicht nur als physische Kreaturen) betrachten, verhalten sie sich rationalerweise mit Blick auf die materiellen Ansprüche moralischer Personalität ebenso unendlich risikofeindlich wie mit Blick auf die zur physischen Existenzsicherung notwendigen Mittel. Erstens müssen alle mit ausreichenden Gütern und Ressourcen ausge-

Begründung für ein garantiertes Minimum

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stattet sein, um ihr Leben in rationaler und sinnvoller Weise gestalten zu können. Zweitens darf niemand gezwungen sein, unter materiellen Bedingungen zu leben, die es aus seiner Perspektive irrational erscheinen lassen müssen, sich an Gerechtigkeitsgrundsätzen und sozialen Normen zu orientieren. Die Grundvoraussetzung für die Erfüllung dieser beiden Bedingungen ist, dass alle Gesellschaftsmitglieder unter materiellen Bedingungen aufwachsen können, die der Ausbildung, Entwicklung und Ausübung der beiden Grundvermögen moralischer Personen - dem Gerechtigkeitssinn und der Befähigung zu einer Konzeption des Guten - förderlich sind. Sie wählen deshalb Grundsätze distributiver Gerechtigkeit, die allen Bürgern nicht nur das physische, sondern auch das soziale Existenzminimum garantieren. Der auf den ersten Blick nahe liegende Versuch einer Herleitung des Differenzprinzips auf der Grundlage der MaximinEntscheidungsregel hat jedoch zwei entscheidende Schwächen: Erstens fordert das Differenzprinzip nicht nur, dass allen Gesellschaftsmitgliedern die für das Leben einer rationalen moralischen Person erforderlichen materiellen Subsistenzmittel garantiert werden, bevor über das Minimum hinausgehende Einkommen zugelassen werden. Es fordert vielmehr, dass die Einkommen der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder unabhängig von ihrer absoluten Höhe und unabhängig von kritischen empirischen Schwellen wie der des Existenzminimums maximiert wird. Und es ist nicht zu sehen, wie der für eine Maximin-Lösung des Gerechtigkeitsproblems notwendigen unendlichen Risikoaversion der Parteien im Urzustand oberhalb der kritischen Schwelle des moralisch gebotenen Minimums eine plausible sachliche Grundlage verschafft werden könnte. Es zeigt sich zweitens, dass die entscheidungstheoretische Herleitung des Differenzprinzips schon aus Konsistenzgründen vollständig unabhängig sein muss von der Voraussetzung eines in jedem Fall zu gewährleistenden Existenzminimums. Dies ergibt sich daraus, dass die Begründung des Differenzprinzips

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Die Begründung des Differenzprinzips

bei Rawls

von der Annahme ausgeht, dass prima facie alle Bürger als freie und gleiche moralische Personen den gleichen Anspruch auf materielle Güter und Ressourcen haben. Die Forderung einer strikten Gleichverteilung aller materiellen Güter bildet gewissermaßen die moralische Grundlinie der Rechtfertigung des Differenzprinzips. Dies aber setzt bereits voraus, dass bei strikter Gleichverteilung die Anteile aller Bürger über dem kritischen Minimum liegen. Es wäre widersinnig, eine Gleichverteilung von Ressourcen auch nur prima facie als moralische Forderung zu betrachten, wenn sie in der Konsequenz dazu führen würde, dass alle Gesellschaftsmitglieder unter die kritische Schwelle des Existenzminimums gerieten. Wir müssen also annehmen, dass alle Einkommensverteilungen auf der OP-Kurve mit Blick auf die Bedürfnisse freier und gleicher moralischer Personen Subsistenz sichernd sind, und das Argument der „kritischen Schwelle" verliert seine Grundlage. Nach welchen Gesichtspunkten und Grundsätzen materielle Ungleichheiten oberhalb des Minimums beurteilt werden, ist damit völlig offen. Prinzipiell wäre es denkbar, dass oberhalb des Minimums auch ein utilitaristisches Verteilungsprinzip herangezogen wird. Die Hauptaufgabe einer Rechtfertigung des Differenzprinzips besteht deshalb darin zu zeigen, warum auch oberhalb des moralischen Existenzminimums nur eine Maximin-Verteilung aller Einkommen und Vermögen allen Gesellschaftsmitgliedern den geforderten adäquaten Anteil an Gütern und Ressourcen sichert, und dies kann nicht durch das an der Maximin-Strategie orientierte Argument inakzeptabler Risiken geleistet werden.

11. Andere Gründe für das

Differenzprinzip

Als Ergebnis des letzten Abschnitts halten wir fest, dass eine Maximin-Entscheidung der Parteien im Urzustand zugunsten der beiden Rawls'schen Grundsätze rational gerechtfertigt erscheint, wenn diese zusammengenommen dem Grundsatz der Nutzenmaximierung gegenübergestellt werden. Das Differenz-

Andere Gründe für das Differenzprinzip

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prinzip selbst kann so aber nicht gerechtfertigt werden. Unter den von Rawls gemachten Voraussetzungen müssen wir konsistenterweise davon ausgehen, dass alle Einkommen auf der OP-Kurve Subsistenz sichernd sind und allen Gesellschaftsmitgliedern das moralische Minimum an materiellen Gütern und Ressourcen garantieren. Sobald dies aber der Fall ist, lässt sich der für eine Maximin-Entscheidung notwendige Ausschluss von Risikoabwägungen nicht mehr rechtfertigen, da bei einer adäquaten materiellen Mindestversorgung für alle Bürger aus der Perspektive des Urzustandes keine inakzeptablen Risiken mehr bestehen. Prinzipiell wäre es deshalb denkbar, sobald das moralische Minimum garantiert ist, an der Stelle des Differenzprinzips das Nutzenprinzip in die beiden Rawls'schen Grundsätze einzusetzen. Eine gerechte Gesellschaft würde sich dann dadurch auszeichnen, dass sie insgesamt fünf oberste Gerechtigkeitsanforderungen erfüllt, wobei an fünfter Stelle wahlweise das Differenz- oder das Nutzenprinzip einzusetzen wäre: (1) (2) (3) (4) (5a)

gleiche politische und bürgerliche Freiheiten Garantie des fairen Werts der politischen Freiheiten faire Chancengleichheit Garantie des moralischen Minimums das Differenzprinzip (5b) das Nutzenprinzip

Es lassen sich bei Rawls eine Reihe weiterer Gründe dafür finden, das Differenzprinzip und nicht das Nutzenprinzip in die Liste der Grundsätze politischer und sozialer Gerechtigkeit aufzunehmen. Keiner dieser Gründe ergibt jedoch für sich genommen ein zwingendes Argument zugunsten des Differenzprinzips, und auch alle zusammengenommen reichen meines Erachtens nicht aus, um das Nutzenprinzip als plausible Alternative auszuschließen. Das Argument der leichteren Anwendbarkeit: Rawls hebt zu Recht hervor, dass das Differenzprinzip leichter anzuwenden sei als jede Variante des Nutzenprinzips, da es lediglich Realeinkommensvergleiche und keine interpersonellen Nutzenvergleiche voraussetzt. In der Tat ist umstritten, ob es möglich

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Die Begründung des Differenzprinzips

bei Rawls

ist, intersubjektiv verifizierbare komparative Urteile über Grade der Präferenzerfüllung abzugeben, wenn die zu vergleichenden Präferenzen von sehr unterschiedlichem Inhalt sind und es sich um die Präferenzen von verschiedenen Personen mit inkommensurablen Konzeptionen des Guten handelt (s. Kap. 7). Aber auch, wenn es prinzipiell möglich sein sollte, solche Vergleiche anzustellen, leuchtet ein, dass es in der Praxis sehr schwierig wäre, die nötigen Informationen zu gewinnen, um zuverlässig zu beurteilen, welche Auswirkungen verschiedene Güterverteilungen für die Erfüllung der individuellen Präferenzen aller Gesellschaftsmitglieder haben. M a n müsste sich in hohem M a ß e auf die Bereitschaft aller Beteiligten verlassen, ihre tatsächlichen Präferenzen zu offenbaren, und da es um distributive Entscheidungen geht, gibt es für alle einen starken Anreiz, Präferenzmitteilungen dem Eigeninteresse gemäß zu manipulieren. An utilitaristischen Grundsätzen orientierte distributive Entscheidungen werden deshalb unvermeidlich stärker von Kontroversen begleitet sein als solche, die dem Differenzprinzip folgen. Letzteres ist deswegen für die öffentliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen besser geeignet. Sobald die realisierbaren Einkommensverteilungen und damit die OP-Kurve zumindest im Umriss bekannt sind, können alle Beteiligten vergleichsweise einfach erkennen, ob die Forderungen distributiver Gerechtigkeit erfüllt sind oder nicht. Die leichtere Anwendbarkeit bietet gleichwohl nur ein schwaches Argument für das Differenzprinzip. Utilitaristen bestreiten in der Regel nicht, dass das Differenzprinzip eine brauchbare Faustregel für distributive politische Entscheidungen abgibt und in vielen Anwendungsfällen zu ähnlichen Ergebnissen führt wie das Nutzenprinzip. W a s sie bestreiten, ist, dass es als Prinzip eine gerechte oberste moralische N o r m ist, und dem kann man nicht durch seine leichtere Anwendbarkeit entgegentreten. Das Argument

größerer

Stabilität:

Ein zweites Argument

von Rawls ist, dass das Differenzprinzip im Falle seiner allgemeinen Anerkennung zu einem stabileren System sozialer Kooperation führt als das Nutzenprinzip. 5 7 Während das Nutzen-

Andere Gründe für das Differenzprinzip

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prinzip auch Einkommensnachteile für die am wenigsten Begünstigten zulässt, wenn diese durch ausreichend große Gewinne für begünstigtere Gesellschaftsmitglieder aufgewogen werden, garantiert das Differenzprinzip, dass niemals Einkommensverbesserungen für eine beliebige gesellschaftliche Gruppe zulasten der am wenigsten Begünstigten gehen. Es sichert maximale Einkommen für die am wenigsten Begünstigten, so dass die mit allen Ungleichheiten verbundenen Belastungen für diese Gruppe, und damit die Belastungen an der schwächsten Stelle des sozialen Systems, so gering wie möglich sind. Einkommensverteilungen nach dem Differenzprinzip lassen den stärksten Widerstand bei der Gruppe der durch ihre Begabungen und Fähigkeiten begünstigteren Gesellschaftsmitglieder erwarten. Da sie jedoch von Ungleichverteilungen ohnehin stärker profitieren als die weniger Begünstigten, sollte es ihnen leichter fallen als diesen, die mit dem Differenzprinzip für sie verbundenen Nachteile hinzunehmen. So plausibel Rawls' Überlegungen zum Problem sozialer Stabilität indes sind, ein eigenständiges und unabhängiges Argument für diesen Grundsatz liefern sie nicht, da sie bereits voraussetzen, dass das Differenzprinzip von allen Beteiligten als ein gerechter distributiver Grundsatz anerkannt wird. Denn nur unter dieser Voraussetzung erscheint es plausibel anzunehmen, dass die begünstigteren Gesellschaftsmitglieder bereit sein werden, die ihnen zugemuteten Nachteile zugunsten der am wenigsten Begünstigten widerstandslos hinzunehmen. Vor einer Erörterung des Stabilitätsproblems ist deshalb in jedem Fall die normative Verbindlichkeit des Differenzprinzips zu überprüfen. Das Argument der Selbstachtung·. Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung zählen zur Gruppe der wichtigsten Grundgüter, und ein gewichtiges Argument für das Differenzprinzip sieht Rawls darin, dass dessen öffentliche Anerkennung durch alle Gesellschaftsmitglieder maximal zur Selbstachtung der am wenigsten Begünstigten beiträgt, ohne die Selbstachtung der Begünstigteren zu beeinträchtigen. 58 Auch dieses Argument setzt freilich, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, voraus,

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Die Begründung des Differenzprinzips bei Rawls

dass alle Beteiligten das Differenzprinzip bereits als eine gerechte Distributionsnorm anerkennen, und kann darum für die Begründung des Differenzprinzips nur eine subsidiäre Rolle spielen. Die bloße Tatsache, dass Einkommensverteilungen nach dem Differenzprinzip zum maximalen Vorteil der am wenigsten Begünstigten ausfallen, kann für diese, insofern sie sich selbst als moralische Personen verstehen, keine Steigerung ihrer Selbstachtung bedeuten. Worauf es ankommt ist, dass sie aus guten Gründen glauben können, einen moralischen Anspruch auf Maximin-Einkommen zu haben. Entsprechendes gilt für die Gruppe der begünstigteren Gesellschaftsmitglieder. Nur dann, wenn sie davon überzeugt sind, dass die am wenigsten Begünstigten einen begründeten Anspruch auf maximale Förderung haben, stellen die für sie mit dem Differenzprinzip verbundenen Nachteile keine Beeinträchtigung ihrer Selbstachtung dar. Andernfalls würden sie durch das Differenzprinzip ungerechtfertigt benachteiligt und darum in ihrer Selbstachtung gekränkt.

4. Kapitel:

Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung Joshua Cohen verfolgt in „Democratic Equality" (1989) zwei Argumentationslinien zur Begründung des Differenzprinzips. Die eine geht von der großen Bedeutung der Selbstachtung für alle Bürger aus, die andere vom Wert der institutionellen Stabilität einer wohlgeordneten Gesellschaft. In diesem Kapitel soll Cohens Analyse der sozialen Grundlagen der Selbstachtung diskutiert werden. Cohens Ausgangspunkt ist Rawls' Konzeption einer wohlgeordneten Gesellschaft. Die Parteien im Urzustand wissen, dass sie oberste Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit für eine wohlgeordnete Demokratie suchen. Sie müssen deshalb sicherstellen, dass die aus der Einführung von Ungleichheiten resultierenden sozialen Positionen und Lebenslagen für Bürger akzeptabel sind, die einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen. Eine Mindestbedingung dafür ist, dass auch die durch soziale Ungleichheiten am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder über die für die Entwicklung und Ausübung ihrer beiden moralischen Vermögen nötigen Grundgüter verfügen.1 Das Kriterium der Akzeptabilität sozialer Positionen geht nach Cohen jedoch über die Forderung einer materiellen Mindestausstattung hinaus. Auf der Grundlage einer diffizilen Analyse der sozialen Grundlagen individueller Selbstachtung versucht er zu zeigen, dass die Selbstachtung der materiell am wenigsten begünstigten Mitglieder einer Gesellschaft beeinträchtigt sein muss, solange sie nicht, wie es das Differenzprinzip fordert, in größtmöglicher Weise von bestehenden materiellen Ungleichheiten profitieren.

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Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung

1. Selbstachtung

und ihre sozialen

Grundlagen

Selbstachtung ist eine reflexive und evaluative Einstellung oder Haltung einer Person sich selbst und ihren Lebensplänen gegenüber. Sagen wir mit Rawls, eine Person habe Selbstachtung, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: (1) Die Person ist von ihrem eigenen Wert überzeugt und davon, dass ihre Ziele und Lebenspläne es wert sind, verfolgt zu werden. (2) Sie ist zuversichtlich, eigene Lebenspläne nicht nur entwerfen, sondern auch verwirklichen zu können.2 Ohne ein hinreichendes Selbstwertgefühl und ohne das nötige Selbstvertrauen müsste es sinnlos erscheinen, eigene Vorstellungen von einem gelungenen Leben zu entwickeln und ihnen nachleben zu wollen. Selbstachtung ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir Pläne aufstellen, sie mit Eifer verfolgen und uns schließlich an ihrer Erfüllung erfreuen. Sie ist ein von allen Bürgern dringend benötigtes Grundgut und für die Akzeptabilität sozialer Positionen zweifellos von großer Bedeutung. Selbstachtung ist ein immaterielles Gut, dessen Realisation in hohem Maße von der Biographie einer Person abhängt und sich einer direkten sozialen Kontrolle entzieht. Dies gilt jedoch nicht für die mehr oder weniger günstigen sozialen Lebenslagen, unter denen sich das mehr oder weniger starke Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen einer Person ausbilden. Cohen unterscheidet zwei Arten sozialer Bedingungen, die unter jeweils zwei Aspekten relevant werden: die gemeinschaftsbezogenen und die institutionellen Grundlagen der Selbstachtung.3 Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen entwickeln sich primär im persönlichen sozialen Umgang mit anderen. In der Gemeinschaft mit Familienangehörigen, Freunden und Kollegen erlebt sich der Einzelne als mehr oder weniger geschätztes Mitglied einer Gruppe von Personen, die für sein Leben Bedeutung haben und die er selbst schätzt und anerkennt. Selbstachtung setzt voraus, dass die eigenen Fähigkeiten und Leistungen von anderen anerkannt werden und dass die eigenen Lebenspläne Zustimmung und Unterstützung finden. In dem Maße, in

Selbstachtung und ihre sozialen Grundlagen

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dem eine Person Anerkennung und Unterstützung für sich und ihre Vorhaben findet, erfährt sie sich als ein geschätztes Gruppenmitglied, das gegebenenfalls auf Hilfe und Unterstützung rechnen kann. Die von wechselseitiger Anerkennung getragene soziale Gemeinschaft mit anderen ist für die Selbstachtung einer Person unter zwei Gesichtspunkten unverzichtbar.4 Die Anerkennung, die jemand von anderen erfährt, lässt ihn ein tragfähiges Selbstwertgefühl entwickeln (Anerkennungsaspekt). Und die konkrete materielle oder persönliche Unterstützung, auf die jemand im Bedarfsfall rechnen kann, ist eine wichtige Ressource, deren Vorhandensein ihm Selbstvertrauen und Zuversicht gibt, seine Pläne und Vorhaben zu verwirklichen (Ressourcenaspekt). Neben diesen primären, gemeinschaftsbezogenen Bedingungen ist die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft für die Selbstachtung ihrer Mitglieder bedeutsam, und zwar sowohl unter dem Ressourcen- als auch unter dem Anerkennungsaspekt. Die institutionellen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft bestimmen maßgeblich, welche Formen sozialer Gemeinschaften sich in ihr bilden können und welche Unterstützung sie durch staatliche Instanzen erfahren.5 Und die Institutionen der politischen Entscheidungsfindung sind Ausdruck des öffentlichen Selbstverständnisses einer Gesellschaft - sie zeigen an, inwieweit deren Mitglieder einander als politisch Gleiche anerkennen - , und sie bestimmen die möglichen Formen der politischen Interessenvertretung. Angesichts der Bedeutung der Selbstachtung für alle Bürger hat das Kriterium einer angemessenen Verteilung ihrer sozialen Grundlagen in der Diskussion über Gerechtigkeitsgrundsätze großes Gewicht. Nehmen wir nun an, dass bereits Einigkeit über die Grundsätze politischer Gerechtigkeit bestünde und dass die institutionellen Rahmenbedingungen der Selbstachtung durch eine wohlgeordnete Demokratie für alle Bürger gewährleistet sind. Unterstellen wir zudem, dass auch die Forderung fairer Chancengleichheit allgemein anerkannt und erfüllt ist. Mit Blick auf die Rawls'schen Grundsätze würde sich dann nur mehr das Problem einer für die Selbstachtung aller

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Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung

Bürger angemessenen Verteilung von Einkommen und Vermögen stellen. Wenden wir uns zunächst der Frage zu, inwiefern sich unter dem Ressourcenaspekt ein schlüssiges Argument für das Differenzprinzip ergibt.

2. Das

Ressourcen-Argument

Bereits im ersten Kapitel sind drei Aspekte genannt worden, unter denen moralische Personen an einer gerechten Einkommens· und Vermögensverteilung interessiert sind: (1) Als allgemein dienliche Mittel für die Verwirklichung von Lebensplänen haben Einkommen und Vermögen für alle Bürger einen je nach ihren konkreten Plänen und Absichten mehr oder weniger großen instrumenteilen Wert. (2) Als materielle Bedingungen für die Entwicklung der beiden moralischen Vermögen und die Ausbildung persönlicher Lebenspläne haben sie für alle Bürger einen formativen Wert. (3) Schließlich haben Einkommen und Vermögen für alle einen freiheitsbezogenen Wert, weil Bürger die meisten der ihnen zustehenden Freiheiten und Privilegien in vielen Fällen um so besser nutzen können, je größer der Anteil an materiellen Gütern ist, über die sie verfügen können. 6 Jede der drei Wertdimensionen materieller Güter und Ressourcen steht in einer direkten Beziehung zum Gut der Selbstachtung. Ohne eine Mindestausstattung mit Ressourcen, dem moralischen Minimum, kann niemand das für das Leben einer moralischen Person nötige Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen entwickeln. Wer unterhalb des physischen und moralischen Existenzminimums aufwächst und leben muss, wird weder einen wirksamen Gerechtigkeitssinn entwickeln noch seine Befähigung zu einer Konzeption des Guten in angemessener Weise ausbilden und ausüben können. Als Konsequenz seiner begrenzten Lebenschancen wird er ein geringeres Selbstwertgefühl und weniger Selbstvertrauen entwickeln als andere, die in günstigeren Verhältnissen leben. Der Mangel an verfügbaren Ressourcen lässt es aussichtslos erscheinen, Vorstellungen von ei-

Das

Ressourcen-Argument

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nem gelungenen Leben zu entwickeln, die über die Befriedigung elementarster Bedürfnisse hinausgehen. Unterhalb einer kritischen Schwelle der Verfügbarkeit materieller Güter muss es irrational erscheinen, die sozial und legal sanktionierten Eigentumsrechte begünstigterer Mitbürger anzuerkennen und im eigenen Handeln zu achten. Dies gilt zumindest dann, wenn es mit Blick auf den wirtschaftlichen Entwicklungsstand einer Gesellschaft möglich wäre, allen Gesellschaftsmitgliedern das moralische Minimum zu garantieren. Nun haben wir bereits gesehen, dass Maximin-Einkommen über eine Garantie des moralische Minimums hinausgehen (s. Kap. 3.10), und so stellt sich die Frage, ob darüber hinaus eine Maximierung der Einkommen der am wenigsten Begünstigten über das moralische Minimum hinaus notwendig ist, um allen angemessene soziale Grundlagen der Selbstachtung zu bieten. Cohen vertritt die These, dass Maximin-Einkommen, und nur sie, den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern angemessene Bedingungen der Selbstachtung gewährleisten. Während eine Maximierung der Einkommen der am wenigsten Begünstigten stets eine Verbesserung der sozialen Grundlagen ihrer Selbstachtung bedeuteten, blieben Einkommenseinbußen oberhalb der Maximin-Schwelle ohne negative Auswirkungen auf die Selbstachtung der von ihnen betroffenen Personen. Einkommensverteilungen nach dem Differenzprinzip böten deshalb sowohl für die materiell am wenigsten begünstigten als auch für die begünstigteren Gesellschaftsmitglieder angemessene soziale Grundlagen der Selbstachtung.7 Cohens Begründung des Differenzprinzips lässt sich als ein deduktives Argument mit drei Prämissen darstellen: A-l: Das Gut der Selbstachtung ist für alle Bürger von so großem Wert, dass sie hinter einem Schleier der Unwissenheit bereit wären, Einkommenseinbußen in unbestimmter Höhe für materiell begünstigtere soziale Positionen hinzunehmen, um optimale Bedingungen der Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen auch für die am wenigsten begünstigten Positionen zu gewährleisten.

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Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung

A-2: Einkommenszuwächse unterhalb der Maximin-Schwelle verbessern die sozialen Grundlagen der Selbstachtung für die Gruppe der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder. A-3 : Einkommenseinbußen für soziale Positionen oberhalb der Maximin-Schwelle sind mit Blick auf die sozialen Grundlagen der Selbstachtung ohne negative Auswirkungen für die Gruppe der begünstigteren Gesellschaftsmitglieder. Die Bedeutung dieser drei Annahmen für die Begründung des Differenzprinzips ist offensichtlich. A-l gewährleistet, dass die Parteien im Urzustand sich auch dann rationalerweise für eine Maximin-Verteilung entscheiden würden, wenn dies mit gravierenden Einkommensverlusten für alle sozialen Positionen verbunden sein sollte, die oberhalb der Maximin-Schwelle liegen. Ohne Annahme A-2 wäre es unnötig, mit Blick auf die Selbstachtung der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder Maximin-Einkommen anzustreben. Aus Annahme A-3 folgt, dass es möglich ist, materiell begünstigteren Gesellschaftsmitgliedern Einkommensnachteile zur Finanzierung von Maximin-Einkommen für die am wenigsten Begünstigten zuzumuten, ohne dass dies die sozialen Grundlagen ihrer Selbstachtung in Frage stellen würde. Sie schließt aus, dass es in Bezug auf die sozialen Grundlagen der Selbstachtung jemals zu einem Konflikt zwischen den Interessen und Ansprüchen der begünstigteren und der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern kommen kann. Bevor wir mit der kritischen Diskussion der drei Annahmen beginnen, halten wir zunächst fest, dass sie zusammengenommen ein schlüssiges Argument für die vom Differenzprinzip geforderten Einkommensverteilungen ergeben. Wenn es zutrifft, dass das Gut der Selbstachtung für Bürger als freie und gleiche moralische Personen die überragende Bedeutung hat, die ihm von Rawls und Cohen zugesprochen wird (A-l), und wenn optimale soziale Bedingungen für die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen dann und nur dann für alle Beteiligten gewährleistet sind, wenn eine Maximin-Verteilung ver-

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Ressourcen-Argument

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wirklicht ist (A-2 und A-3), dann ist dies in der Tat ein ausschlaggebender Grund für Bürger, die einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen, eine Maximin-Verteilung anzustreben. Die Parteien in Rawls' Urzustand würden sich dann bei der Wahl distributiver Grundsätze für die Verteilung materieller Güter und Ressourcen zu Recht für das Differenzprinzip entscheiden. Nun zum Inhalt der einzelnen Prämissen. Annahme A-l ist mit Blick auf die große Bedeutung des Gutes der Selbstachtung für alle Menschen plausibel. Gleichwohl wirft sie eine Reihe von Problemen auf, von denen zwei an dieser Stelle wenigstens genannt werden sollen: Erstens lässt sich nicht bestreiten, dass viele Menschen de facto bereit sind, um materieller oder anderer Vorteile willen Minderungen ihrer Selbstachtung in Kauf zu nehmen. Es ist schwer zu sagen, ob sie, wenn sie dies tun, rational handeln oder nicht. Letztlich hängt dies von ihren persönlichen Einstellungen, Präferenzen und Fähigkeiten ebenso ab wie von ihren psychischen Dispositionen und von ihren Bedürfnissen. Dies ist nicht notwendigerweise ein Einwand gegen die von Rawls und Cohen vorgenommene hohe Bewertung der sozialen Grundlagen der Selbstachtung. Auch wenn es in einer konkreten Lebenssituation rational sein mag, die eigene Selbstachtung um materieller Vorteile willen aufs Spiel zu setzen, folgt daraus nicht, dass es ebenso rational wäre, durch die Wahl entsprechender Gerechtigkeitsgrundsätze die sozialen Grundlagen der eigenen Selbstachtung dauerhaft einzuschränken. Ein zweites Problem mit Annahme A-l betrifft die Beziehungen zwischen der Selbstachtung einer Person und den für sie relevanten sozialen Bedingungen. A-l beruht auf der Vorstellung, dass sich aus dem überragenden Wert der Selbstachtung für alle Bürger unmittelbar der überragende Wert auch der sozialen Bedingungen der Selbstachtung ergibt. Es wird so etwas wie eine direkte Abhängigkeit unterstellt - je besser die Bedingungen der Selbstachtung, desto größer die Selbstachtung. Dies ist jedoch nicht generell richtig. Viele Menschen

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Die sozialen Grundlagen

der

Selbstachtung

entwickeln unter ,nicht-optimalen' Bedingungen größere Selbstachtung als andere unter optimalen' Bedingungen. Auch wenn wir der Selbstachtung für sich genommen einen überragenden Wert beimessen, müssen wir deshalb nicht notwendigerweise auch die sozialen Bedingungen der Selbstachtung entsprechend hoch bewerten. Es mag einer Person mit Blick auf ihre persönlichen Einstellungen und Fähigkeiten rational erscheinen, Einschränkungen dieser Bedingungen um anderer Vorteile willen in Kauf zu nehmen, gerade weil sie annehmen darf, dass dies nicht zu einer Minderung ihrer Selbstachtung führen wird. Auch dies ist nicht eo ipso ein Einwand gegen Rawls' und Cohens These von der überragenden Bedeutung der sozialen Grundlagen der Selbstachtung für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen. Wir müssen wiederum unterscheiden zwischen der Rationalität konkreter Lebensentscheidungen und der Rationalität der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen, die dauerhaft und tief greifend das Leben aller Gesellschaftsmitglieder prägen. Es zeigt aber, dass A-l jedenfalls keine unproblematische Voraussetzung für eine Begründung des Differenzprinzips ist. Was A-2 betrifft, ist es fraglich, ob Einkommenssteigerungen für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder bis zum Maximin-Einkommen generell mit einer Steigerung der Selbstachtung der Mitglieder dieser Gruppe verbunden sind. Gegen A-2 spricht, dass das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen einer Person, sobald wir uns oberhalb eines gewissen Minimums befinden, weniger von den Gütern und Ressourcen abhängig ist, über die sie verfügen kann, als davon, in welchem Verhältnis diese Ressourcen zu ihren Einstellungen, Fähigkeiten und Lebensplänen stehen. Eine bescheidene Person mit gut entwickelten praktischen Talenten, deren Ziele mit ihren Möglichkeiten übereinstimmen, mag bei einem geringeren Einkommen mehr Selbstachtung und Selbstvertrauen entwickeln als eine Person mit höherem Einkommen, deren Ambitionen über das für sie Erreichbare hinausgehen. Materiell privilegierte Lebenslagen fördern nicht alle Fähigkeiten gleichermaßen gut; die Bereitschaft und Fähigkeit, sich einzuschränken und verfüg-

Das

Ressourcen-Argument

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bare Ressourcen sparsam zu verwenden, entwickelt sich leichter unter beschränkteren Lebensumständen. So mögen Personen in materiell privilegierteren Positionen vielleicht eher dazu neigen, ihre Möglichkeiten zu überschätzen und dementsprechend anfälliger für Fehlschläge und Frustrationen sein. Ein höheres Einkommen muss also nicht immer bessere Bedingungen für die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen bedeuten. Gleichwohl mag es vernünftig erscheinen, mit Blick auf die tatsächliche Lage der am wenigsten begünstigten Mitglieder moderner Gesellschaften davon auszugehen, dass in der Tat jede Erhöhung ihres Realeinkommens eine Stärkung ihrer Selbstachtung nach sich zieht. Einkommensverbesserungen eröffnen ihnen in der Regel Möglichkeiten, von denen allgemein anerkannt wird, dass sie für ein gutes Leben förderlich sind, ohne Anlass zu überzogenen Erwartungen zu geben. Die Schwierigkeit dieser Überlegung zur Stützung von A-2 liegt darin, dass ihre intuitive Plausibilität vollständig darauf beruht, dass wir Personen in konkreten Lebenslagen vor Augen haben, denen es an bestimmten für die Verfolgung allgemein anerkannter Lebenspläne nötigen Gütern fehlt. Das Differenzprinzip geht aber über die Forderung der Bereitstellung bestimmter Güter und Ressourcen für Menschen in schwierigen Lebenslagen hinaus. Es gilt auch dann, wenn infolge eines hohen gesellschaftlichen Wohlstandsniveaus bereits unterhalb der Maximin-Einkommensschwelle kein dringender Bedarf an Gütern mehr besteht. Mit Blick auf Annahme A-3 schließlich muss bezweifelt werden, ob Einkommensnachteile für Gesellschaftsmitglieder oberhalb des Maximin-Einkommens niemals eine Minderung der Grundlagen ihrer Selbstachtung nach sich ziehen können. Wenn wir unter dem Ressourcenaspekt der sozialen Grundlagen der Selbstachtung in Übereinstimmung mit A-2 von einer positiven Korrelation zwischen dem Einkommen einer Person und ihrer Selbstachtung ausgehen, stellt sich ja die Frage, warum die Selbstachtung materiell begünstigter Personen durch Einkommensnachteile nicht nachteilig betroffen werden sollte,

110

Die sozialen Grundlagen der

Selbstachtung

wie A-3 behauptet. Warum sollten Einkommen und Selbstachtung genau bis zur Maximin-Schwelle positiv korreliert sein und danach nicht mehr? Die Annahmen A-2 und A-3 lassen sich, so scheint es, innerhalb des Ressourcen-Arguments ohne weiteres nicht miteinander vereinbaren.

3. Selbstachtung

und

Anerkennung

Nun beruht meine bisherige, unvollständige Rekonstruktion von Cohens Argumentation, die ich das Ressourcen-Argument genannt habe, auf einer groben Vereinfachung der tatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen der Selbstachtung von Personen und ihrem Realeinkommen. Ihr lag die Vorstellung zugrunde, dass die Selbstachtung einer Person eine Funktion ausschließlich der Höhe ihres Realeinkommens sei. Tatsächlich ist die Selbstachtung einer Person, insofern sie durch deren Einkommen bestimmt wird, jedoch nicht nur vom absoluten Anteil an Gütern abhängig, über den diese Person vermöge ihres Einkommens frei verfügen kann. Ebenso sehr ist zu beachten, welcher Anteil an Gütern einer Person im Vergleich zu ihren Mitbürgern durch öffentlich anerkannte Gerechtigkeitsgrundsätze zuerkannt wird. Unabhängig von der absoluten Höhe ihres Einkommens wird eine Person in ihrer Selbstachtung gekränkt sein, wenn aus ihrer Sicht ihr Einkommen im Vergleich zum Einkommen anderer niedriger ist, als es gerechterweise sein müsste. Abhängig vom wirtschaftlichen Entwicklungsstand einer Gesellschaft und der in ihr bestehenden Einkommensverteilung kann ein und dasselbe Einkommen deshalb für eine Person optimale oder suboptimale Bedingungen der Selbstachtung bieten, je nachdem, ob die betreffende Person Gründe dafür hat, die vorgenommene Verteilung als eine angemessene Verteilung zu betrachten oder nicht. An dieser Stelle tritt der von Cohen hervorgehobene Anerkennungsaspekt der sozialen Grundlagen der Selbstachtung auf den Plan. Eine Person, die zu Recht oder Unrecht annimmt,

Das

Anerkennungs-Argument

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dass man ihr materielle Güter und Ressourcen vorenthält, die ihr gerechterweise zustehen, wird dadurch ihren Status als gleichberechtigter Kooperationspartner in Frage gestellt sehen und entsprechend in ihrer Selbstachtung beeinträchtigt sein. Als freie und gleiche moralische Personen haben alle an einem System sozialer Kooperation Beteiligten den gleichen Anspruch darauf, in gerechter Weise von den Erträgen der Zusammenarbeit zu profitieren. Gesellschaftliche Güterverteilungen, die diese gleichen Ansprüche nicht erfüllen, zeigen, dass de facto nicht alle Bürger als gleichberechtigte Partner behandelt werden, und das unterminiert die sozialen Grundlagen der Selbstachtung derjenigen, die durch ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen benachteiligt werden. Ein schlüssiges Argument für Maximin-Einkommensverteilungen könnte sich deshalb ergeben, wenn sich zur Stützung der Annahmen A-2 und A-3 zwei Dinge zeigen ließen: erstens, dass alle Verteilungen, die kein Maximin-Einkommen garantieren, unter dem Anerkennungsaspekt von den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern abgelehnt werden können, weil sie ihnen Ressourcen vorenthalten, über die sie verfügen könnten, wenn sie von ihren Mitbürgern uneingeschränkt als freie und gleiche Personen anerkannt würden; und zweitens, dass niemand, der seine Mitbürger als gleichberechtigte Kooperationspartner anerkennt, bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen einen moralischen Anspruch auf Einkommensvorteile oberhalb der Maximin-Schwelle geltend machen kann. Dies würde die unter dem Ressourcenaspekt unplausibel erscheinende Annahme A-3 erklären.

4. Das

Anerkennungs-Argument

Die Grundlage des Anerkennungs-Arguments ist das normative Selbstverständnis demokratischer Bürger, die einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen. Der Begriff der freien und gleichen moralischen Person liegt dem demokrati-

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Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung

sehen Gleichheitsideal zugrunde. Aus ihm ergeben sich die Forderungen gleicher politischer und bürgerlicher Freiheiten, des fairen Werts der politischen Freiheiten und der fairen Chancengleichheit, von denen Cohen annimmt - und hierin folge ich ihm - , dass sie in modernen Demokratien allgemein anerkannt werden. Jeder für demokratische Bürger akzeptable Grundsatz für Einkommensverteilungen muss mit ihrem Selbstverständnis als Freie und Gleiche zu vereinbaren sein. Die Aufgabe des Anerkennungs-Arguments besteht eben darin zu zeigen, dass nur das Differenzprinzip diese Bedingung erfüllt resp. dass es diese Bedingung besser erfüllt als andere Grundsätze. Mit Blick auf die von Cohen verfolgte Strategie zur Begründung des Differenzprinzips ergeben sich für ihn aus dem normativen Selbstverständnis demokratischer Bürger zwei entscheidende Konsequenzen: Erstens muss allen Bürgern bei der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen der gleiche Anspruch auf eine für sie vorteilhafte Einkommensverteilung zugestanden werden, so dass als Vergleichsbasis für die Beurteilung von Einkommensverteilungen nur die Gleich Verteilung in Frage kommt.8 Ungleichverteilungen von Einkommen erscheinen aus dieser Perspektive grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Insbesondere müssen sie denjenigen akzeptabel erscheinen, die durch sie am wenigsten begünstigt werden.9 Die zweite Konsequenz liegt nach Cohen darin, dass Ungleichverteilungen weder durch Klassenunterschiede oder überlegene Lebenskonzeptionen noch durch größere Fähigkeiten und Begabungen gerechtfertigt werden können. Es handle sich hierbei um „moralisch zufällige" Faktoren (ethical contingencies), die keine geeignete Basis für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen böten.10 Ausgehend von der Gleichverteilung als Beurteilungsbasis für Einkommensverteilungen begründet Cohen seine These, dass Maximin-Verteilungen und nur sie allen Gesellschaftsmitgliedern angemessene soziale Grundlagen der Selbstachtung bieten, in zwei Schritten. Im ersten Schritt soll gezeigt werden, dass Maximin-Einkommen den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern eine angemessene Grundlage für die Entwicklung

Das

Anerkennungs-Argument

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von Selbstachtung und Selbstvertrauen bieten, im zweiten, dass Maximin-Verteilungen auch allen anderen Gesellschaftsmitgliedern angemessene soziale Bedingungen der Selbstachtung gewährleisten. 1. Schritt: Maximin-Einkommensverteilungen bieten den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern sowohl unter dem Ressourcen- als auch unter dem Anerkennungsaspekt angemessene Bedingungen für die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn es gibt keine alternative Verteilung, die ihnen erstens ein höheres Einkommen und damit eine bessere Ressourcenbasis der Selbstachtung böte, und die zweitens ihren Wert als Kooperationspartner durch die Zuwendung von Ressourcen in höherem Maße bestätigen würde. Sowohl unter dem Ressourcen- als auch unter dem Anerkennungsaspekt der Selbstachtung sind Maximin-Verteilungen für die am wenigsten Begünstigten optimal und a fortiori auch angemessen. 2. Schritt: Wenn Maximin-Einkommen eine angemessene Grundlage für die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder bieten, dann bieten auch alle Einkommen oberhalb der Maximin-Schwelle angemessene Bedingungen der Selbstachtung für die begünstigten Mitglieder. Da auch diese die Gleichverteilung als Vergleichsbasis anerkennen, müssen sie zugestehen, dass sie aufgrund ihrer über Maximin hinausgehenden Einkommen größere Vorteile aus der sozialen Kooperation ziehen als ihre am wenigsten begünstigten Mitbürger. Wenn jedoch bereits Maximin-Einkommen angemessene Bedingungen der Selbstachtung bieten, dann muss dies ebenso von allen über sie hinausgehenden Einkommen gelten.11 Ich glaube nicht, dass es Cohen gelungen ist, mit dem hier vorgestellten Argument eine überzeugende Begründung für das Differenzprinzip zu liefern. Die in Anspruch genommenen Prämissen erscheinen aus inhaltlichen Gründen problematisch, und es wird bereits vorausgesetzt, was erst zu zeigen wäre, dass

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Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung

nämlich Maximin-Verteilungen, und nur sie, allen Beteiligten gegenüber rechtfertigbar sind. Betrachten wir den ersten Begründungsschritt: Zwar ist es richtig, dass Maximin-Einkommen den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern eine maximale Zuteilung an materiellen Gütern und Ressourcen garantieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie und nur sie dieser Gruppe optimale oder angemessene Bedingungen der Selbstachtung garantieren. Erstens mögen in wohlhabenden Gesellschaften bereits Einkommen unterhalb der Maximin-Schwelle den am wenigsten Begünstigten ausreichend Mittel zur Verfolgung sinnvoller und anspruchsvoller Lebenspläne bieten, und zweitens ist es, wie wir ebenfalls bereits gesehen haben, nicht generell richtig, dass höhere Einkommen stets bessere Bedingungen für die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstvertrauen bieten. 12 Unter dem Ressourcenaspekt ergibt sich also keine von empirischen tfd-fcoc-Annahmen freie Begründung für MaximinVerteilungen. Auch unter dem von Cohen ebenfalls zur Geltung gebrachten Anerkennungsaspekt ergibt sich keine solche Begründung. Der Hinweis darauf, dass die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder durch die Maximierung ihres Anteils an Gütern und Ressourcen die größtmögliche Bestätigung ihres Wertes als freie und gleiche moralische Personen erfahren, 13 ist als eine solche Begründung ungeeignet. Denn dies träfe nur unter der Voraussetzung zu, dass Maximin-Verteilungen tatsächlich moralisch gerechtfertigt sind. Freie und gleiche moralische Personen könnten ungerechtfertigte Vorteile für sich kaum als Bestätigung ihres Wertes als gleichberechtigte Kooperationspartner auffassen. Dass Maximin-Verteilungen, und nur sie, moralisch gerechtfertigt sind, gilt es aber erst zu zeigen. Auch Cohens zweiter Begründungsschritt, der zeigen soll, dass Einkommen oberhalb der Maximin-Schwelle angemessene Grundlagen für die Selbstachtung der begünstigteren Gesellschaftsmitglieder bieten, führt nicht zum angestrebten Ergebnis. Die aus der Vorstellung gleichberechtigter Kooperationspartner resultierende Entscheidung für die Gleichverteilung als

Das

Anerkennungs-Argument

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Vergleichsbasis impliziert lediglich, dass die durch ungleiche Einkommensverteilungen begünstigteren Gesellschaftsmitglieder größere materielle Vorteile aus der sozialen Kooperation ziehen als die weniger Begünstigten. Dies allein schließt aber nicht aus, dass sie unter dem Anerkennungsaspekt der Selbstachtung Einkommenseinbußen, die sie zur Finanzierung von MaximinEinkommen auf sich nehmen müssten, als ein Infragestellen ihres Status als gleichberechtigte Partner betrachten können. Auch wenn wir mit Cohen unterstellen, dass sie keinen moralischen, etwa durch größere Leistungen begründeten Anspruch auf ein höheres Einkommen haben, könnten sie in MaximinVerteilungen eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung sehen. Gerade weil wir von prima facie gleichen Ansprüchen aller Beteiligten ausgehen, ist nicht ohne weiteres zu erkennen, aus welchen Gründen die am wenigsten Begünstigten einen Anspruch auf eine unbeschränkte Maximierung ihrer Einkommenszuwächse haben sollten, während die Begünstigteren nur einen qualifizierten Anspruch darauf haben, ihr Einkommen so weit zu steigern, wie dies mit maximalen Einkommenszuwächsen für die am wenigsten Begünstigten vereinbar ist. Wir können diese augenfällig asymmetrische Lösung des bestehenden Verteilungsproblems auch nicht damit begründen, dass alle Einkommenszuwächse der Begünstigteren auf Kosten derjenigen gingen, die ohnehin schon schlechter gestellt sind, und mithin ungerechtfertigt sein müssen.14 Dies ist zwar richtig, ebenso richtig ist jedoch, dass Maximin-Verteilungen nur zulasten der Begünstigteren realisiert werden können. Es müsste also nachgewiesen werden, dass es sich bei den Einkommenseinbußen aufseiten der Begünstigteren um gerechtfertigte Einbußen handelt, während Einkommensnachteile für die am wenigsten Begünstigten ungerechtfertigt wären. Und dieser Nachweis ist nicht dadurch erbracht, dass schlicht behauptet wird, den begünstigten Gesellschaftsmitgliedern entstünden keine unter dem Gesichtspunkt ihrer Selbstachtung zu berücksichtigenden Nachteile durch eine Maximin-Verteilung, da sie ohnehin durch das gewählte Verteilungsschema bevorzugt

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Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung

würden. „Die Reichen sind anders - sie haben mehr Geld!" ist wahr, aber keine ausreichende Basis, um das Differenzprinzip zu begründen. Es kann seine Gültigkeit nicht einfach daraus ziehen, dass die Begünstigteren per definitionem diejenigen sind, welche die größeren Einkommenszuwächse realisieren. So enden wir mit dem Ergebnis, dass Cohens Versuch einer Begründung des Differenzprinzips im Rekurs auf eine Analyse der sozialen Grundlagen der Selbstachtung ebenso gescheitert ist wie Rawls' entscheidungstheoretischer Begründungsansatz in A Theory of Justice.

5. Kapitel:

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen In diesem Kapitel soll ein Neuansatz zur Begründung des Differenzprinzips vorgestellt werden.1 Er beruht auf der Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Normen. Ausgangspunkt ist, wie bei Rawls, das Ideal einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft, deren Mitglieder einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen. Eine wohlgeordnete Gesellschaft wird von öffentlich anerkannten Gerechtigkeitsgrundsätzen wirksam reguliert: Alle Gesellschaftsmitglieder erkennen die für sie verbindlichen Grundsätze in Übereinstimmung mit ihren wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen an und wissen dies auch voneinander. Darüber hinaus besteht unter ihnen Einigkeit über die Begründung dieser Grundsätze, und auch dies ist allgemein bekannt. Die für eine wohlgeordnete Gesellschaft bestimmenden Gerechtigkeitsgrundsätze sind öffentlich gerechtfertigte Normen in folgendem Sinne: Jedes Gesellschaftsmitglied könnte sie jedem anderen gegenüber mit Gründen rechtfertigen, die alle Beteiligten anerkennen resp. nach gebührender Reflexion anerkennen würden. Rawls selbst hat diese zunächst recht vage Idee der Rechtfertigung konsensfähiger Gerechtigkeitsgrundsätze auf der Grundlage allgemein geteilter Überzeugungen und Interessen mithilfe seiner entscheidungstheoretischen Modellkonstruktion des Urzustandes konkretisiert.2 Wir können die für eine wohlgeordnete Gesellschaft angemessenen Gerechtigkeitsgrundsätze demnach dadurch identifizieren, dass wir uns fragen, welche Grundsätze freie und gleiche Bürger unter den fairen Bedingungen des Urzustandes rationalerweise selbst für ihre Gesellschaft wählen würden. Kapitel 3 hat jedoch gezeigt, dass sich das

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

Differenzprinzip nicht, wie Rawls es sich vorstellt, als das Ergebnis einer einstimmigen und rationalen Entscheidung aller Beteiligten im Urzustand begründen lässt. Eine Entscheidung der Parteien im Urzustand für das Differenzprinzip würde voraussetzen, dass sich alle Beteiligten hinter dem Schleier der Unwissenheit in Bezug auf die Verteilung der Einkommen und Vermögen in ihrer Gesellschaft unendlich risikofeindlich verhalten. Diese Annahme ist plausibel, solange mit der Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen Risiken verbunden sind, die für freie und gleiche moralische Personen absolut inakzeptabel sind. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Wahl eines bestimmten Grundsatzes dazu führen könnte, dass nicht allen Gesellschaftsmitgliedern die für das Leben einer moralischen Person notwendigen materiellen Güter und Ressourcen zur Verfügung stünden. Utilitaristische Grundsätze können dieses Risiko ebenso wenig vollständig ausschließen wie der Grundsatz „Jedem nach seinen Beiträgen zum Bruttosozialprodukt". Sobald es jedoch durch entsprechende Garantien ausgeschlossen ist, unter die kritische Schwelle des moralischen Minimums zu geraten, bestehen für die Parteien im Urzustand keine inakzeptablen Risiken mehr. Eine Maximin-Entscheidung zugunsten des Differenzprinzips im Urzustand verliert unter dieser Voraussetzung ihre rationale Grundlage. Sobald das moralische Minimum für alle Gesellschaftsmitglieder gewährleistet ist, ist nicht einzusehen, warum die Parteien im Urzustand, wenn sie Gerechtigkeitsgrundsätze wählen, mögliche Gewinne für begünstigtere soziale Positionen vollständig vernachlässigen sollten, um die Einkommen der am wenigsten Begünstigten zu maximieren. Im Folgenden soll die Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen zur Begründung des Differenzprinzips aufgenommen werden, jedoch nicht im Sinne der Rawls'schen Konzeption rationaler individueller Entscheidungen unter fairen Bedingungen. Die leitende Fragestellung ist nicht mehr, welche Grundsätze rationale Personen hinter einem Schleier der Unwissenheit für ihre Gesellschaft wählen, son-

Autonomie und öffentliche

Rechtfertigung

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dern: unter welchen Bedingungen Ungleichverteilungen von materiellen Gütern und Ressourcen in einer Gesellschaft öffentlich gerechtfertigt werden können, deren Mitglieder einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen.

1. Autonomie

und öffentliche

Rechtfertigung

Die Vorstellung, dass gesellschaftliche Institutionen und Normen öffentlich gerechtfertigt werden müssen, weil ihre Legitimität auf ihrer allgemeinen und begründeten Anerkennung beruht, ist für moderne Demokratien von grundlegender Bedeutung. Als Thomas Jefferson in der amerikanischen Declaration of Independence von 1776 schrieb: „... governments are instituted among men, deriving their just powers from the consent of the governed"3, gab er damit die Losung für alle demokratischen Bewegungen bis zum heutigen Tage aus. Ihr liegt die Vorstellung zugrunde, dass Bürger als autonome Subjekte einen unabweisbaren Anspruch haben, nur durch solche Institutionen und Normen in ihrem Handeln bestimmt zu werden, denen sie auf der Basis ihrer wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen zustimmen können. Seit den Umbrüchen der amerikanischen und Französischen Revolution verstehen sich die Bürger moderner demokratischer Staaten nicht länger nur als Gesetze befolgende, sondern auch als Gesetze gebende Subjekte, und dies können sie nur sein, wenn die ihre Gesellschaft regulierenden Normen ihre begründete Anerkennung finden. Es gehört zum normativen Selbstbild demokratischer Bürger, dass sie einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen, das heißt als Wesen, die grundsätzlich fähig und bereit sind, als gleichberechtigte Partner in fairer Weise miteinander zu kooperieren. Die Annahme der Fähigkeit und Bereitschaft zur fairen Kooperation unter Gleichen ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen. Sie umfasst mehr als die Fähigkeit und Bereitschaft zur Teilnahme an gemeinsamen Formen der Güterproduktion. Bereits die Anerkennung gemeinsamer Regeln des Zusammenle-

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Die öffentliche Rechtfertigung

von

Normen

bens ist eine Form sozialer Kooperation und ebenso die Beteiligung an öffentlichen Beratungen zur Festlegung oder Auslegung solcher Regeln. Auf der Ebene elementarer Interaktionen (etwa beim Warentausch) bedeutet faire Kooperation ein Handeln in Übereinstimmung mit fairen und wechselseitig anerkannten Regeln. Auf der Ebene der Beratungen über diese Regeln bedeutet sie, dass niemand ausgeschlossen wird und dass die wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen aller Beteiligten in fairer Weise berücksichtigt werden. Faire Kooperation ist Kooperation nach Regeln, die von allen Beteiligten nicht nur de facto befolgt werden, sondern die von allen aus guten Gründen anerkannt und befolgt werden können. Gute Gründe aber können in den gemeinsamen Beratungen der Bürger einer Demokratie nur solche Gründe sein, die mit ihrem Selbstverständnis als freie und gleiche Personen vereinbar sind. So kommen wir zur Idee der öffentlichen Rechtfertigung. Einer Person zuzumuten, Regeln zu folgen, die ihr nach gebührendem Überlegen willkürlich oder ungerecht erscheinen müssen, ist mit ihrer Anerkennung als freie und gleiche Person allenfalls in Ausnahmesituationen vereinbar; denn jede moralische Person hat als freie und gleiche grundsätzlich denselben Anspruch darauf, in Übereinstimmung mit ihren wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen zu leben. Es wäre irrational, von einer Person die moralische Anerkennung (und nicht nur die faktische Befolgung) von Regeln zu erwarten, die ohne Berücksichtigung ihrer Überzeugungen und Interessen festgelegt wurden und deren normative Verbindlichkeit sie nicht anerkennen kann. Regeln fairer sozialer Kooperation müssen deshalb idealtypisch Regeln sein, die erstens allen Beteiligten gegenüber rational gerechtfertigt werden können, und es müssen zweitens Regeln sein, von denen alle wissen können, dass sie allen gegenüber zu rechtfertigen sind.4 Kurz: Regeln fairer Kooperation müssen öffentlich gerechtfertigte Regeln sein. Wir können diesen Gedanken in Form eines Autonomieprinzips für die Rechtfertigung fairer Kooperationsnormen formulieren:

Autonomie und öffentliche Rechtfertigung

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Jedes Gesellschaftsmitglied hat den gleichen Anspruch, nur solche Normen befolgen zu müssen, denen es auf der Grundlage seiner wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen zustimmen kann. Bürger, die einander als freie und gleiche moralische Personen betrachten, kommen nicht umhin, dieses Autonomieprinzip und die aus ihm resultierende Forderung der öffentlichen Rechtfertigung von Normen und Institutionen anzuerkennen. Darauf komme ich später zurück. Im Feld der politischen Gerechtigkeit hat die Vorstellung des Bürgers als eines autonomen moralischen Subjekts historisch zur allgemeinen Anerkennung gleicher politischer Grundrechte und gleicher liberaler Freiheitsrechte für alle Bürger geführt. Im Folgenden soll nachvollzogen werden, inwiefern sich aus ihr auch eine inhaltlich bestimmte Konzeption sozialer Gerechtigkeit ergibt, die sich erfolgreich gegen alternative Konzeptionen verteidigen lässt. Das Ideal einer konsensgetragenen Gesellschaft und die Idee der öffentlichen Rechtfertigung institutioneller Regelungen, die wir bei Jefferson im Hinblick auf die Ausübung politischer Macht durch Regierungen finden, betreffen Fragen politischer und sozialer Gerechtigkeit gleichermaßen. Soziale Gerechtigkeit ist ein kollektives Gut, das nur mithilfe politischer Institutionen realisiert werden kann. Die mit diesen Institutionen verbundenen Regelungen und die von ihnen getroffenen Entscheidungen sind für alle Gesellschaftsmitglieder unabhängig von deren faktischen Überzeugungen und Interessen verbindlich, und sie sind auch unabhängig davon, ob die betreffenden Forderungen de facto von allen als berechtigt anerkannt werden oder nicht. Wenn Bürger im Namen der sozialen Gerechtigkeit Ansprüche gegeneinander erheben, gehen sie unweigerlich über Forderungen freiwilliger Selbstbeschränkung und Selbstbindung hinaus; die aus diesen Ansprüchen resultierenden Forderungen werden nötigenfalls zwangsweise durchgesetzt. Daraus ergibt sich ein besonderer Rechtfertigungsbedarf. Wer solche Forderungen stellt, muss zumindest aus seiner Sicht

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

gute Gründe dafür haben anzunehmen, dass ihre institutionelle Durchsetzung auch dann berechtigt ist, wenn sie de facto nicht von allen anerkannt werden. Es wird mit diesen Forderungen, so können wir sagen, allen gegenüber ein Geltungsanspruch erhoben, der in Konfliktfällen durch Argumente eingelöst werden muss, die geeignet sind, alle Beteiligten von der normativen Verbindlichkeit bestimmter Regelungen zu überzeugen. Das Problem sozialer Gerechtigkeit stellt sich uns demnach als das Problem der Identifikation von distributiven Grundsätzen für die gesellschaftliche Verteilung materieller Güter und Ressourcen, die allen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber unangesehen ihrer partikularen Überzeugungen und Interessen öffentlich gerechtfertigt werden können.

2. Der öffentliche

Standpunkt

Wir sagen, die Anwendung einer Norm sei in einer Gesellschaft öffentlich gerechtfertigt, wenn jedes Mitglied der Gesellschaft sie von einem öffentlichen Standpunkt aus rationalerweise anerkennen würde. Alles Weitere hängt dann davon ab, wie wir den Begriff des öffentlichen Standpunktes explizieren, doch zunächst müssen wir klären, was es heißt, eine Norm anzuerkennen. Die Wendung „eine Norm anerkennen" verstehe ich, wenn sie sich auf individuelle Handlungen bezieht, in folgendem Sinne: Eine Person, die eine Norm ernsthaft und aufrichtig anerkennt, ist erstens davon überzeugt, dass sie der Norm folgen sollte, auch dann, wenn dies gelegentlich mit persönlichen Nachteilen für sie verbunden ist. Zweitens ist sie bereit, der Norm zu folgen, auch wenn dies mit Nachteilen verbunden ist. Drittens schließlich handelt sie normalerweise in Übereinstimmung mit der Norm. 5 Nun beziehen sich nicht alle sozialen Normen unmittelbar auf individuelle Handlungen. Die Rawls'schen Gerechtigkeitsgrundsätze zum Beispiel betreffen die politischen Institutionen und sozialen Strukturen einer Gesellschaft und können im strikten Sinne nicht von Einzelpersonen .befolgt' werden. Für sie soll in

Der öffentliche

Standpunkt

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Abwandlung der drei angeführten Bedingungen gelten, dass sie anerkannt werden, wenn eine Person davon überzeugt ist, dass die Institutionen ihrer Gesellschaft im Sinne dieser Grundsätze gerecht sein sollten; wenn sie bereit ist, gerechte Institutionen zu unterstützen und einen Beitrag zu ihrer Einrichtung und Erhaltung zu leisten; und wenn sie schließlich normalerweise so handelt, wie es die von ihr anerkannten institutionellen Regelungen notwendig erscheinen lassen. Vom privaten Standpunkt einer Person aus gesehen ist es rational, eine Norm als für sich und andere verbindlich anzuerkennen, wenn diese in geeigneter Weise mit ihren wohlerwogenen persönlichen Überzeugungen und Interessen übereinstimmt. Dies ist dann der Fall, wenn eine Person eine Norm vor dem Hintergrund aller ihrer normativen Überzeugungen ohne logischen Widerspruch bejahen kann (oder konsistenterweise bejahen muss) und wenn die gesellschaftsweite Anerkennung der Norm ihren Interessen alles in allem förderlich ist. 6 Ob eine Norm auch anderen Personen rational gerechtfertigt erscheint oder nicht, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Genauer gesagt, ist es nur in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Erstens mag es zu den persönlichen Überzeugungen einer Person gehören, dass von ihr selbst anerkannte Normen auch die Zustimmung anderer Personen finden sollten, und zweitens hat die Anerkennung oder Nicht-Anerkennung einer Norm durch andere Konsequenzen dafür, wie vorteilhaft es alles in allem für jemanden ist, die betreffende Norm selbst anzuerkennen. Für den öffentlichen Standpunkt ist es demgegenüber wesentlich, dass eine Norm nur dann anerkannt werden kann, wenn sie allen von ihr Betroffenen rational gerechtfertigt erscheint. Nennen wir dies die Konsensbedingung des öffentlichen Standpunktes, und sagen wir, die Anwendung einer Norm N! sei vom öffentlichen Standpunkt aus genau dann gerechtfertigt, wenn Folgendes gilt: Jedes Gesellschaftsmitglied erkennt N! in Übereinstimmung mit seinen wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

unter der Voraussetzung an, dass jedes andere Gesellschaftsmitglied N! ebenfalls rationalerweise anerkennen kann, wenn alle anderen zustimmen, und dass es keine alternative Norm gibt, die alle Beteiligten gegenüber N! vorziehen würden. Eine Person nimmt den öffentlichen Standpunkt ein, wenn sie die Konsensbedingung anerkennt, das heißt wenn sie anerkennt, dass nur solche Normen kollektive Verbindlichkeit beanspruchen können, die gegenüber allen Beteiligten, insofern sie ebenfalls die Konsensbedingung akzeptieren, rational zu rechtfertigen sind. Vom öffentlichen Standpunkt aus gesehen ist die Möglichkeit eines begründeten Konsenses über für alle verbindliche Normen ein konstitutives Merkmal politischer und sozialer Gerechtigkeit und nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Stabilität gesellschaftlicher Kooperation von Bedeutung. Es geht nicht lediglich darum, die für die Stabilität einer gesellschaftlichen Ordnung nötige Zustimmung zu den die Ordnung regulierenden Grundsätzen in hinreichendem Maße sicherzustellen. Idealiter müssen alle zustimmen können, weil ihnen als autonomen Subjekten ein unabweisbarer Anspruch zuerkannt wird, nur solche Normen befolgen zu müssen, die sie selbst als gerechtfertigt anerkennen können. Die Idee der Normbegründung von einem öffentlichen Standpunkt aus und die mit ihr verbundene Vorstellung eines allgemeinen und begründeten Konsenses ist in verschiedener Hinsicht präzisierungsbedürftig. Eine erste Schwierigkeit könnte man in der zirkulären Struktur der den öffentlichen Standpunkt definierenden Konsensbedingung sehen. Vom öffentlichen Standpunkt aus, so scheint es, kann jemand erst zustimmen, nachdem alle anderen bereits zugestimmt haben, und es fragt sich, wer den Anfang macht. Man denkt unweigerlich an die Probleme eines um Harmonie bemühten Ehepaares, das nach einem Hotel zum Übernachten sucht, aber zu keiner Entscheidung kommt, weil beide Partner ihre Präferenzen von denen des anderen abhängig machen. Tatsächlich handelt es sich hierbei um ein Scheinpro-

Der öffentliche

Standpunkt

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blem, das sich auflöst, sobald wir uns die Suche nach den Grundsätzen und Normen einer wohlgeordneten Gesellschaft als einen öffentlichen Beratungsprozess vorstellen, an dem sich idealerweise alle Gesellschaftsmitglieder beteiligen. Wir haben es mit einem argumentativen Dialog zu tun, in dem verschiedene Parteien mit zum Teil divergierenden moralischen und religiösen Auffassungen versuchen, Normen zu identifizieren, denen alle Beteiligten zustimmen können, sofern sie die Notwendigkeit eines allgemeinen und begründeten Konsenses anerkennen. Jeder Beteiligte kann Normen vorschlagen und ist bereit, seinen Vorschlag zurückzuziehen oder zu modifizieren, falls dieser auf Widerspruch stoßen sollte. Der Prozess der öffentlichen Rechfertigung ist abgeschlossen, sobald ein Vorschlag nach gebührendem Überlegen und unter Berücksichtigung aller relevanten Alternativen und Gesichtspunkte von allen Beteiligten angenommen wird. Da Personen, wenn sie den öffentlichen Standpunkt einnehmen, die Konsensbedingung anerkennen, werden sie zur Beratung nur solche Grundsätze vorschlagen, die vernünftigerweise erwarten lassen, dass auch die anderen Beteiligten sie akzeptieren können. Jeder Vorschlag wird öffentlich diskutiert und erweist sich entweder als konsensfähig oder nicht. Im Verlaufe der Beratungen über nicht konsensfähige Vorschläge erfahren die Parteien voneinander, unter welchen Gesichtspunkten und nach welchen Kriterien ihre Mitbürger Gerechtigkeitsgrundsätze beurteilen. Mithilfe der so gewonnenen Informationen können neue Vorschläge formuliert werden, die den gegen frühere Vorschläge vorgebrachten Einwänden Rechnung tragen und deshalb größere Aussicht auf allgemeine Anerkennung haben. 7 Es ist natürlich nicht garantiert, dass es auf diese Weise gelingt, Normen zu finden, die allen Beteiligten von einem öffentlichen Standpunkt aus rational gerechtfertigt erscheinen. Dies gilt auch dann, wenn wir annehmen, dass die Beratungen unbegrenzt lange fortgesetzt werden können. Alles, was wir tun können, ist anzugeben, unter welcher Voraussetzung öffentliche Beratungen über Normen zu einem rational begründeten

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Die öffentliche Rechtfertigung

von

Normen

Konsens führen. Im Erfolgsfall stellt sich während der Beratungen entweder heraus, dass bestimmte normative Überzeugungen oder Interessen von allen Beteiligten geteilt werden, von denen ausgehend dann Normen identifiziert werden können, die allen aus denselben Gründen rational gerechtfertigt erscheinen. Oder es lassen sich Normen finden, die allen Beteiligten aus verschiedenen Gründen, wie sie sich aus ihren divergierenden privaten Standpunkten ergeben, gerechtfertigt erscheinen. In diesem Fall gäbe es zwar keine von allen geteilte Grundlage der Normbegründung, wohl aber allen gegenüber gerechtfertigte Normen. Da jede Norm auf der Grundlage von verschiedenen Prämissen, die untereinander nicht notwendigerweise verträglich sein müssen, begründet werden kann, können Normen vom öffentlichen Standpunkt aus gerechtfertigt sein, die nicht aus Prämissen folgen, die von allen Beteiligten geteilt werden.8 Nun ist klar, dass sich angesichts der Allgegenwart von Interessenkonflikten nicht viele Regeln finden lassen, deren allgemeine Befolgung allen Mitgliedern einer Gesellschaft vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Bedürfnisse und Interessen gleichermaßen wünschenswert erscheint. In Konfliktfällen geht jede mögliche Regelung zuungunsten mindestens einer der beteiligten Parteien aus, so dass es scheinen mag, als könnten solche Regelungen niemals mit einstimmiger Zustimmung rechnen. Man beachte jedoch, dass die Bereitschaft zur fairen Kooperation und zur Anerkennung von Normen die Bereitschaft einschließt, nötigenfalls auch unkompensierte persönliche Nachteile auf sich zu nehmen, wie sie mit allen fairen Regelungen gelegentlich verbunden sind; denn nur unter dieser Voraussetzung ist es normalerweise möglich, eine für alle akzeptable Lösung zu finden. Während es einer Person von ihrem privaten Standpunkt aus ausschließlich um die maximale Erfüllung ihrer eigenen Präferenzen gehen mag, geht es von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen darum, allgemein akzeptable Regelungen für solche Situationen zu finden, in denen es unmöglich ist, die Präferenzen aller Beteiligten gleichermaßen maximal zu

Der öffentliche Standpunkt

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erfüllen. Bürger, die einander als freie und gleiche moralische Personen betrachten, wissen dies und erkennen die mit der Idee der öffentlichen Rechtfertigung verbundene Konsensbedingung an. Unter dieser Voraussetzung wird niemand etwa eine Regelung nur deshalb ablehnen, weil sie mit Nachteilen für ihn selbst verbunden ist, sondern allenfalls, wenn es eine alternative Regelung gibt, die ihn persönlich besser stellen würde, ohne anderen, deren Ansprüche er (oder sie) als gleichberechtigt anerkennt, vergleichbare oder sogar größere Nachteile zuzumuten. So erscheint ein begründeter Konsens zumindest im Prinzip auch dann möglich, wenn in einer Gesellschaft, wie es immer der Fall ist, Interessengegensätze bestehen. Die Idee der öffentlichen Rechtfertigung muss in einer pluralistischen Gesellschaft aber nicht nur die Existenz von Interessengegensätzen berücksichtigen, sondern darüber hinaus die Möglichkeit moralisch oder religiös begründeter Meinungsverschiedenheiten in Rechnung stellen. Auch dann, wenn wir annehmen, dass alle Beteiligten uneingeschränkt zur fairen Kooperation auf allen sozialen Ebenen bereit sind, wird es häufig zu Meinungsverschiedenheiten darüber kommen, wie die allgemeinen moralischen Forderungen der Unparteilichkeit und Fairness in einem konkreten Fall zu interpretieren sind und welche Konsequenzen sich im Einzelnen aus ihnen ergeben. So mag es mehrere miteinander inkompatible Lösungen für ein soziales Problem geben, die von verschiedenen Personen vor dem Hintergrund ihrer besonderen moralischen oder religiösen Überzeugungen in gutem Glauben als faire Lösungen vorgeschlagen werden, ohne dass es möglich wäre, durch rationale Argumente einen allgemeinen Konsens herbeizuführen. In einer solchen Situation lässt sich die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung mit den Mitteln rationaler Argumentation allein nicht erfüllen, und wir müssen auf nicht-argumentative Formen kollektiver Entscheidungsfindung zurückgreifen. Die Beteiligten könnten sich etwa darauf einigen, durch Loseziehen oder Abstimmen zu entscheiden, welche der vorgeschlagenen Regelungen in Kraft treten soll. Solange die zur Entscheidungsfindung

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

herangezogenen Verfahren alle Vorschläge in unparteiischer und fairer Weise berücksichtigen und sie von allen Beteiligten aus guten Gründen anerkannt werden, ist dagegen nichts einzuwenden. Regelungen, die auf allgemein anerkannten nichtargumentativen Formen der Entscheidungsfindung beruhen, können ebenso öffentlich gerechtfertigt sein wie solche, über die durch Argumentation allein ein rationaler Konsens herbeigeführt werden kann. Angesichts dessen, dass begründete Meinungsverschiedenheiten über soziale Regelungen und Normen bestehen, haben alle Beteiligten einen guten Grund, faire Verfahren als Mittel der kollektiven Entscheidungsfindung anzuerkennen und deren Resultate als normativ verbindlich zu akzeptieren. Die Vorstellung der öffentlichen Rechtfertigung schließt demnach sowohl Formen der argumentativen als auch der nichtargumentativen Konsensfindung in Bezug auf soziale Normen und Grundsätze ein. Faire Entscheidungsverfahren und rationale Argumentation stehen als Formen der kollektiven Entscheidungsfindung allerdings nicht gleichrangig nebeneinander. Mit Blick auf die Notwendigkeit der öffentlichen Rechtfertigung von Normen besteht ein Primat der rationalen Argumentation. Ob ein bestimmtes Entscheidungsverfahren (etwa das Abstimmen nach der Mehrheitsregel) ein gerechtes und faires Verfahren ist oder nicht und in welchen konkreten Fällen seine Anwendung zulässig und angemessen erscheint, kann nicht durch Abstimmen, Loseziehen oder per Dekret einer autorisierten Person entschieden werden. Es muss durch öffentliche Beratungen und rationale Argumentation herausgefunden werden. Die öffentliche Rechtfertigung konkreter Regelungen mithilfe solcher nichtargumentativer Verfahren kann deshalb nur dann gelingen, wenn unter den Mitgliedern einer Gesellschaft bereits ein argumentativ begründeter Konsens darüber besteht oder möglich erscheint, nach welchen obersten Grundsätzen und Kriterien kollektive Regelungen (einschließlich solcher Regelungen zur Festlegung oder Auslegung von Regeln und Normen) unter den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Fairness zu beurteilen

Die argumentative Rolle des Personbegriffs

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sind. Erst wenn solche Grundsätze und Kriterien gefunden sind, ist es möglich zu untersuchen, welche nicht-argumentativen Entscheidungsverfahren den Anforderungen der Gerechtigkeit und Fairness genügen und zur demokratischen Legitimation konkreter kollektiver Entscheidungen herangezogen werden können. Wenn das Ideal einer von öffentlich gerechtfertigten Normen regulierten Gesellschaft mehr als eine Fiktion sein soll, muss es deshalb möglich sein, durch rationale Argumentation einen begründeten Konsens zumindest über die obersten Gerechtigkeitsgrundsätze herbeizuführen.

3. Die argumentative Rolle des Personbegriffs Jede Auffassung darüber, nach welchen Grundsätzen kollektiv verfügbare Güter und Ressourcen verteilt werden sollen, setzt einen Begriff der Person voraus. Erst wenn geklärt ist, mit welcher Art von Wesen wir es bei den Mitgliedern einer Gesellschaft zu tun haben, können wir sagen, wie eine gerechte Güterveteilung auszusehen hätte; je nach dem zugrunde gelegten Personbegriff ergeben sich unterschiedliche Konzeptionen sozialer Kooperation, die ihrerseits zu unterschiedlichen Auffassungen darüber führen, welche Anteile an den Kooperationsergebnissen die Beteiligten gerechtfertigterweise für sich beanspruchen können. Die an Hobbes orientierten kontraktualistischen Gerechtigkeitstheorien betrachten soziale Kooperation als ein Unternehmen zum gegenseitigen Vorteil. Sie beschreiben die Beteiligten als rationale Personen, in deren wohlverstandenem Eigeninteresse es liegt, mit anderen zu kooperieren, und die nur solche Normen und institutionellen Regelungen anerkennen, die ihnen dauerhafte persönliche Vorteile sichern. Aus dieser Sicht stellt sich das Problem sozialer Gerechtigkeit als Frage nach distributiven Grundsätzen für die Verteilung materieller Güter, denen rationale Personen mit Blick auf ihre wohlverstandenen Interessen zustimmen können. Für die normative Rechtfertigung

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

von Gerechtigkeitsgrundsätzen bedeutet dies, dass sie ihre Grundlage ausschließlich in dem instrumentellen Wert finden kann, den soziale Normen und Institutionen für diejenigen haben, deren Leben sie regulieren. Auch die von Rousseau und Kant inspirierten Gerechtigkeitskonzeptionen gehen von einer vertragstheoretischen Vorstellung der Gesellschaft als eines Systems der Kooperation zum gegenseitigen Vorteil aus. Sie legen jedoch einen komplexeren Begriff der Person zugrunde. Die Gesellschaftsmitglieder werden nicht als ausschließlich rationale, nur von ihren eigenen Interessen geleitete Personen beschrieben, sondern als rationale moralische Personen, die gerechte soziale Regelungen um ihrer selbst willen anerkennen und in ihrem Verhalten achten. Als moralische Personen beurteilen Bürger die Normen und Institutionen ihrer Gesellschaft nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Förderung ihrer eigenen Interessen. Sie betrachten die Einrichtung und Aufrechterhaltung gerechter Institutionen vielmehr als etwas, das um seiner selbst willen einen Wert hat und darüber hinaus moralisch geboten ist. Moralische Personen erkennen gerechte soziale Normen als Maßstab des eigenen Verhaltens und als intrinsischen Grund für regelkonforme Handlungen an, unabhängig davon, ob dies in jedem einzelnen Fall ihren eigenen Interessen förderlich ist oder nicht. John Rawls hat den Begriff des Bürgers als freier und gleicher moralischer Person aus seiner Konzeption der Gesellschaft als eines Systems fairer sozialer Kooperation hergeleitet (s. Kap. 2.2). Die an einem solchen System als gleichberechtigte Partner beteiligten Personen müssen über die für faire Kooperation notwendigen Einstellungen und Fähigkeiten verfügen. Sie müssen, wie es bei Rawls heißt, über die Befähigung zu einer Konzeption des Guten und über einen Gerechtigkeitssinn verfügen. Die Befähigung zu einer Konzeption des Guten ist die Voraussetzung dafür, sinnvolle Lebens- und Wertvorstellungen entwickeln zu können, an denen sich bemisst, welche Vorteile und Nachteile für eine Person sich aus der Zusammenarbeit mit

Die argumentative Rolle des Personbegriffs

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anderen ergeben. Darüber hinaus erlaubt sie es einer Person, die von ihr verfolgte Konzeption des Guten in geeigneter Weise den Möglichkeiten und Erfordernissen sozialer Kooperation anzupassen. Der Gerechtigkeitssinn, das heißt die Fähigkeit und Bereitschaft faire Regelungen zu beachten, ist die Voraussetzung dafür, in fairer Weise mit anderen kooperieren zu können, auf der Grundlage von Regeln, die von allen Beteiligten als verbindlich anerkannt werden. Gleich sind nach Rawls alle Bürger, sobald ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten und ihr Gerechtigkeitssinn in dem für faire Kooperation notwendigen Maße entwickelt sind. Frei sind sie aufgrund ihrer Befähigung zu einer Konzeption des Guten, die es ihnen erlaubt, eigenständig Lebens- und Wertvorstellungen zu entwickeln, sie zu verfolgen und sie nach kritischer Überprüfung nötigenfalls auch zu revidieren. Als Wesen mit einer Konzeption des Guten haben sie gleich ursprüngliche Ansprüche auf faire Gegenseitigkeit, die sich nicht aus den Ansprüchen und Rechten anderer Personen herleiten, und aufgrund ihrer Befähigung zu einer solchen Konzeption sind sie für die jeweils von ihnen bejahte Konzeption des Guten selbst verantwortlich.9 Anders als bei Rawls sollen im Folgenden die für die Identifikation konsensfähiger Gerechtigkeitsgrundsätze relevanten Eigenschaften moralischer Personen nicht aus dem Gedanken fairer sozialer Kooperation selbst hergeleitet werden, sondern aus der mit ihm verbundenen Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Kooperationsregeln. Wir gehen also nicht von den Einstellungen und Fähigkeiten aus, die Personen aufweisen müssen, um in fairer Weise mit anderen kooperieren zu können, sondern von den Voraussetzungen, die sie erfüllen müssen, um als Adressaten öffentlicher Rechtfertigungen einen Anspruch auf die Einhaltung des Autonomieprinzips haben, so dass ihnen nur solche Normen auferlegt werden dürfen, die sie selbst von einem öffentlichen Standpunkt aus rationalerweise anerkennen können. Mit Blick auf die inhaltliche Charakterisierung moralischer Personen ergeben sich aus dieser veränderten Fragestellung keine

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Die öffentliche Rechtfertigung

von

Normen

wesentlichen Neuerungen gegenüber dem Rawls'schen Ansatz. Es wird sich zeigen, dass Personen genau dann einen moralischen Anspruch auf Beachtung des Autonomieprinzips haben, wenn sie moralische Personen im Rawls'schen Sinne sind, das heißt wenn sie die beiden von Rawls benannten moralischen Vermögen in hinreichendem Maße entwickelt haben. Der Grund dafür, im Folgenden den Begriff der moralischen Person gleichwohl über die Idee der öffentlichen Rechtfertigung und nicht, wie bei Rawls, über den Begriff fairer sozialer Kooperation einzuführen, ist die Hoffnung, auf diese Weise eine argumentative Sackgasse vermeiden zu können, in die uns der Rawls'sche Ansatz, zumindest was die Begründung des Differenzprinzips betrifft, geführt hat. Rawls' Herleitung seiner beiden Gerechtigkeitsgrundsätze auf der Grundlage einer Maximin-Entscheidung der Parteien im Urzustand beruht auf der Prämisse, dass moralische Personen als Teilnehmer an einem System fairer sozialer Kooperation ein höchstrangiges Interesse an den für die Sicherung ihres Status als gleichberechtigte Kooperationspartner notwendigen materiellen und institutionellen Bedingungen haben. Die für die angemessene Entwicklung und Ausübung ihrer beiden grundlegenden moralischen Vermögen notwendigen Grundgüter haben für sie mit Blick auf dieses höchstrangige Interesse einen alle anderen Güter und Werte überragenden, im Grenzfall einen unendlichen Wert. Aus diesem Grund müssen die Parteien im Urzustand hinter dem Schleier der Unwissenheit um jeden Preis sicherstellen, dass sie über die notwendigen Grundgüter verfügen können, in welcher Position sie sich auch immer befinden mögen, nachdem der Schleier der Unwissenheit gefallen ist. Nun haben wir jedoch in Kapitel 3 gesehen, dass, sobald das moralische Minimum für alle sozialen Positionen gewährleistet ist, zusätzliche Einkommens- oder Vermögenszuwächse keine notwendige Bedingung mehr dafür sein können, die beiden moralischen Vermögen in angemessener Weise zu entwickeln. Auch wenn die Garantie des moralischen Minimums für moralische Personen mit Blick auf ihre höchstrangigen Interessen

Die argumentative Rolle des Personbegriffs

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von unendlichem Wert ist, haben über dieses Minimum hinausgehende Güterzuteilungen nur einen endlichen Wert. So bleibt bei Rawls die Frage unbeantwortet, warum sich die Parteien im Urzustand für das Differenzprinzip entscheiden und nicht für irgendein anderes Verteilungsprinzip, das ihnen das moralische Minimum garantiert, aber darum nicht auch notwendigerweise Maximin-Einkommen. Alle Verteilungsgrundsätze, die den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern das moralische Minimum garantieren, sind mit den höchstrangigen Interessen moralischer Personen zu vereinbaren und müssen aus der Perspektive des Urzustandes gleichermaßen akzeptabel erscheinen, solange wir uns ausschließlich an dem orientieren, was Personen benötigen, um ihre beiden grundlegenden moralischen Vermögen in dem für faire soziale Kooperation nötigen Maße zu entwickeln. Der Vorteil einer Begründung des Differenzprinzips im Rekurs auf die Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Güterverteilungen liegt nun darin, dass sie uns eine Grundlage für die Beurteilung distributiver Grundsätze verschafft, die vollkommen unabhängig davon ist, ob es sich bei den zu verteilenden Gütern um Dinge handelt, die mit Blick auf die höchstrangigen Interessen moralischer Personen von unendlichem Wert sind oder nicht. Die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung gilt ganz allgemein für alle Güter, die von den Beteiligten als hinreichend wertvoll betrachtet werden, um Interessenkonflikte über ihre Verteilung aufkommen zu lassen. Es muss nicht einmal vorausgesetzt werden, dass es sich um Güter handelt, die für die Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen wichtig oder notwendig sind. Dies schließt nicht aus, dass die institutionellen und materiellen Bedingungen für eine angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen auch unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Rechtfertigung von Güterverteilungen von ausschlaggebender Bedeutung für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen sind. Güterverteilungen, die einigen Gesellschaftsmitgliedern das für das Leben einer moralischen Person notwendige Mini-

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Die öffentliche

Rechtfertigung

von

Normen

mum vorenthalten, sind offenkundig nicht öffentlich zu rechtfertigen, jedenfalls dann nicht, wenn andere Verteilungen realisierbar wären, die allen dieses Minimum garantierten. Auch oberhalb der kritischen Schwelle des Existenzminimums jedoch - wenn es also um Güter mit nur mehr endlichem Wert geht lässt sich zeigen, dass nicht alle Güterverteilungen gleichermaßen öffentlich zu rechtfertigen sind, und im Folgenden soll die These vertreten werden, dass für materielle Güter und Ressourcen nur Maximin-Verteilungen die Bedingung der öffentlichen Rechtfertigung erfüllen.

4. Personen als Adressaten

normativer

Rechtfertigungen

Durch welche Eigenschaften und Fähigkeiten zeichnen sich Wesen mit einen Anspruch auf Achtung des Autonomieprinzips als Adressaten öffentlicher Rechtfertigungen aus? Wir müssen offenbar zumindest voraussetzen, dass die Anwendung einer bestimmten Norm für ein Wesen besser oder schlechter ist als die Anwendung irgendeiner anderen; andernfalls wäre es bedeutungslos, welche Norm zur Anwendung kommt. Darüber hinaus muss es für das Wesen selbst in erkennbarer Weise besser oder schlechter sein, je nachdem, welche Norm wir ihm gegenüber zur Anwendung kommen lassen. Es muss mit anderen Worten möglich sein, dem Wesen Präferenzen und irgendeine Form des Bewusstseins von seinem eigenen Wohl zuzusprechen. Nur unter dieser Voraussetzung erscheint es sinnvoll, sich darum zu bemühen, Normen, die ein Wesen betreffen, ihm selbst gegenüber zu rechtfertigen und nicht nur irgend jemandem gegenüber, zum Beispiel seinem Besitzer. Gegenstände, wie Fahrräder und Porzellantassen, erfüllen die erste Bedingung, aber nicht die zweite. Man kann sie besser oder schlechter behandeln und ihnen vielleicht sogar Gerechtigkeit widerfahren lassen, indem man ihre Dienste würdigt oder ihre Schönheit in einer Vitrine zur Schau stellt. Wir können die gewählte Form des Umgangs mit ihnen aber nicht ihnen selbst gegenüber recht-

Personen als Adressaten normativer Rechtfertigungen

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fertigen, eben weil es für sie selbst keine Bedeutung hat, wie wir sie behandeln. Ich möchte die beiden Anforderungen zusammengenommen deshalb als Relevanzbedingung bezeichnen. Nicht nur Personen, sondern auch viele Tiere erfüllen die Relevanzbedingung; wir können sie nicht nur objektiv besser oder schlechter behandeln, sondern es ist für sie selbst besser oder schlechter, je nachdem welche Normen wir im Umgang mit ihnen beachten. Einem Tier Schmerzen zuzufügen oder artwidrige Entbehrungen zuzumuten, bedeutet nicht nur eine objektive Verschlechterung seines Lebenszustandes, sondern wird von ihm selbst als Schmerz oder Entbehrung empfunden. Tiere haben erkennbare Präferenzen und insofern auch Interessen, die bei der Rechtfertigung von Normen berücksichtigt werden können (und berücksichtigt werden müssen). Sie sind in diesem Sinne keine bloßen Sachen, sondern moralische Wesen. Gleichwohl sind sie keine geeigneten Adressaten moralischer Rechtfertigungen und insofern auch keine Personen. Dies bringt uns zu einer zweiten Gruppe von Voraussetzungen für die Anwendung des Autonomieprinzips, die ich zusammengenommen die Bedingung deliberativer Rationalität nenne. Um ein potenzieller Adressat moralischer Rechtfertigungen zu sein, muss ein Wesen über die kognitiven und sprachlichen Kompetenzen verfügen, die nötig sind, um normative Aussagen und Begründungen zu verstehen, formulieren und zu beurteilen. Es muss vor allem verstehen, was es heißt, einer Norm zu folgen oder in anderer Weise von ihr betroffen zu sein. Adressaten moralischer Rechtfertigungen müssen den Wahrheitsgehalt empirischer Aussagen und die logische Konsistenz von theoretischen und praktischen Argumenten überprüfen können. Sie müssen auch in der Lage sein, interpersonelle Vergleiche vorzunehmen und in prinzipiell objektivierbarer Weise beurteilen können, welche Vorteile und Lasten sich aus verschiedenen normativen Regelungen für die von ihnen betroffenen Wesen ergeben. Zu allen diesen Leistungen sind Tiere, nach allem, was wir über sie wissen, nicht in der Lage; es ist deshalb unmöglich, das Autonomieprinzip auf sie anzuwenden.

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

Nun wäre es denkbar, Tiere, auch wenn sie selbst keine moralischen Rechtfertigungen verstehen oder beurteilen können, indirekt doch als Adressaten solcher Rechtfertigungen zu verstehen, indem wir den Gedanken der Treuhänderschaft aufnehmen.10 Sobald mit hinreichender Gewissheit festzustellen ist, welche Präferenzen Tiere haben, könnten wir Anwälte oder Treuhänder damit beauftragen, ihre Interessen wahrzunehmen. Wir könnten eine Norm dann als einem Tier gegenüber gerechtfertigt betrachten, wenn sein Treuhänder ihr unter Berücksichtung aller involvierten Interessen, einschließlich derjenigen des von ihm vertretenen Tieres, zustimmen würde. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, durch die Einsetzung von Treuhändern den Anwendungsbereich des Autonomieprinzips auf Wesen auszuweiten, welche die genannten Voraussetzungen deliberativer Rationalität nicht erfüllen. Die Idee der Treuhänderschaft bietet eine plausible Grundlage für die indirekte Anwendung des Autonomieprinzips, wenn es um die Vertretung moralischer Personen geht, die aufgrund mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten oder besonderer Lebensumstände zeitweilig oder dauerhaft nicht in der Lage sind, sich an öffentlichen Beratungen über moralische Normen und soziale Regelungen zu beteiligen (zum Beispiel vermisste Personen oder bewusstlose Patienten). Sie ist aber nicht geeignet, die Anwendung des Autonomieprinzips auf Tiere auszuweiten. Der Grund dafür ist nicht, dass Tiere keine Diskussionsteilnehmer an Beratungen über Normen sein können, weil sie nicht über die dafür erforderlichen kommunikativen Fähigkeiten verfügen. Dieses Problem ließe sich durch Treuhänder lösen. Er liegt vielmehr darin, dass sie angesichts ihrer beschränkten kognitiven und imaginativen Vermögen nicht in der Lage sind, eine angemessene Vorstellung davon zu entwickeln, was es für Menschen bedeutet, von einer Norm in der einen oder anderen Weise betroffen zu sein. Auch wenn sie ein Bewusstsein von ihrem eigenen Wohl haben, fehlen Tieren die Voraussetzungen für angemessene Vorstellungen vom menschlichen Wohlergehen. Die Konsequenz ist, dass Tiere die Vorteile und Lasten,

Personen als Adressaten normativer Rechtfertigungen

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welche mit der Anerkennung einer Norm für sie verbunden sind, nicht mit den Vorteilen und Lasten vergleichen können, welche dieselbe Norm für menschliche Wesen mit sich bringen würde. Damit aber fehlt ihnen jegliche Basis für ein Bewusstsein von der Angemessenheit oder Unangemessenheit von Normen, die Menschen und Tiere gleichermaßen betreffen. 11 Dies bedeutet nicht, dass nur moralische Personen einen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Präferenzen haben. Die Klasse der Träger moralischer Ansprüche fällt nicht mit der Klasse moralischer Personen zusammen, sondern ist weiter und umfasst alle moralischen Wesen, das heißt alle Wesen, welche die Relevanzbedingung erfüllen. Dies folgt einfach daraus, dass nicht alle moralischen Ansprüche eines Wesens in denjenigen Eigenschaften und Fähigkeiten begründet liegen, die für moralische Personen charakteristisch sind und die sie zu geeigneten Adressaten moralischer Rechtfertigungen werden lassen. Der moralische Anspruch eines Menschen darauf, dass ihm keine unnötigen Schmerzen zugefügt werden, mag dies illustrieren. Er ist vollkommen unabhängig davon, ob ein Mensch in der Lage ist, seinen Wunsch nach Schmerzfreiheit sprachlich zu artikulieren oder in moralisch angemessener Weise zu beurteilen. Wie es bei Bentham heißt: „ . . . the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?"12 Schmerzen sind ein intrinsisches Übel, das wir um seiner selbst willen zu vermeiden bestrebt sind; sie sind deshalb ein Übel für jedes empfindungsfähige Wesen, unabhängig von seinen sonstigen Fähigkeiten und Vermögen. Wir haben deshalb pro tanto denselben Grund, Schmerzen bei Tieren zu vermeiden, wie bei Menschen, und wenn es sich um unnötige Schmerzen handelt, haben wir auch alles in allem denselben Grund. Von einem moralischen Standpunkt aus gesehen, von dem aus es irrelevant ist, um wessen Schmerzen es sich handelt, haben Tiere deshalb den gleichen Anspruch darauf wie Menschen, dass ihnen keine unnötigen Schmerzen zugefügt werden. Dies zeigt, dass Träger von begründeten moralischen Ansprüchen auch Wesen sein können, die aufgrund mangelnder kognitiver und linguistischer Kompe-

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

tenzen nicht in der Lage sind, solche Ansprüche zu verstehen, sprachlich zu artikulieren oder moralisch zu beurteilen. Ich komme nun zur dritten Bedingung, die eine Person erfüllen muss, um einen Anspruch auf Einhaltung des Autonomieprinzips zu haben; ich nenne sie die Anerkennungsbedingung. Sie fordert von Personen die Fähigkeit und Bereitschaft, sich öffentliche gerechtfertigte Normen zu Eigen zu machen. Die Bedeutung der Anerkennungsbedingung für die öffentliche Rechtfertigung von Normen können wir uns mithilfe einer Kunstfigur vergegenwärtigen, die ich als „bloß rationalen Akteur" bezeichne. Bloß rationale Akteure erfüllen die Relevanzbedingung und die Bedingung deliberativer Rationalität; sie sind in Rawls' Worten Personen mit der Befähigung zu einer Konzeption des Guten. Gleichwohl sind sie keine geeigneten Adressaten moralischer Rechtfertigungen, weil sie Normen aus prinzipiellen Gründen nicht aufrichtig und ernsthaft anerkennen können. Sagen wir, ein bloß rationaler Akteur sei jemand, für den eine Handlung oder Handlungsregel genau dann rational begründet ist, wenn sie in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt. Um Missverständnisse, die mit dem Wort „Eigeninteresse" verbunden sein mögen, und um Verwechslungen von bloß rationalen Akteuren mit rationalen Egoisten zu vermeiden, definieren wir das wohlverstandene Eigeninteresse eines Akteurs im Sinne einer Maximierung des Grades der Erfüllung seiner individuellen Präferenzen, worin immer diese bestehen mögen. Vom rationalen Egoisten unterscheidet sich der bloß rationale Akteur dadurch, dass sein persönliches Wohlergehen nicht notwendigerweise das einzige Kriterium seiner Beurteilung sozialer Regeln und Institutionen ist. Es mag sein, dass die Präferenzen eines bloß rationalen Akteurs zum Teil altruistischer Natur sind, so dass er einen Zustand, der ihm zugunsten anderer persönliche Nachteile auferlegt, gegenüber einem Zustand vorzieht, der für ihn mit Vorteilen, aber für andere mit Nachteilen verbunden ist. Seine Berücksichtigung der Präferenzen anderer ist jedoch vollständig von seinen persönlichen Be-

Personen als Adressaten normativer Rechtfertigungen

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diirfnissen, Wünschen und Bewertungen abhängig. Darin ist er dem rationalen Egoisten ähnlich. Im paradigmatischen Grenzfall bemüht sich ein bloß rationaler Akteur stets um die maximale Erfüllung seiner individuellen Präferenzen. Einen geringeren als maximalen Grad der Präferenzerfüllung nimmt er bei einer Entscheidung nur dann in Kauf, wenn ihm dies notwendig erscheint, um langfristig die maximale Erfüllung seiner Präferenzen sicherzustellen. Dies schließt nicht aus, dass sich die Einrichtung eines Systems fairer sozialer Regeln, insofern sie im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Gesellschaftsmitglieder liegt, auch bloß rationalen Akteuren gegenüber begründen lässt. Jeder Mensch hat ein rationales Interesse daran, dass seine Mitmenschen ihm gegenüber bestimmte Verhaltensbeschränkungen einhalten; denn nur unter dieser Voraussetzung wird er seine Lebenspläne, worin immer sie bestehen mögen, verwirklichen können. Wir dürfen deshalb erwarten, dass ein bloß rationaler Akteur erstens die Einrichtung eines sanktionsbewehrten Systems sozialer Regeln befürworten und unterstützen wird und dass er sich zweitens wegen der Opportunitätskosten regelwidrigen Verhaltens normalerweise selbst regelkonform verhalten wird. In diesem Sinne können wir davon sprechen, dass er die Geltung sozialer Regeln anerkennt. 13 Entscheidend ist, dass ein bloß rationaler Akteur Regeln ausschließlich unter instrumentellen Gesichtspunkten in seinem Handeln berücksichtigt, nämlich als notwendige empirische Rahmenbedingungen für die optimale Verwirklichung seiner Lebenspläne. Er erkennt sie in dem Sinne an, in dem wir auch davon sprechen, dass jemand die Tatsachen anerkennt: Er nimmt sie zur Kenntnis, begrüßt gegebenenfalls ihr Bestehen und berücksichtigt sie in möglichst umsichtiger Weise bei der Verfolgung seiner Pläne. Er macht sie aber nicht zum Maßstab seines Handelns und wird sich nur insoweit an sie halten, wie dies seinen längerfristigen Interessen dient. Wann immer sich ihm die Möglichkeit bietet, durch punktuelle Regelverletzungen Vorteile zu erzielen, denen keine überwiegenden Nachteile gegenüberstehen, wird er dies tun.

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Man beachte, dass es einem bloß rationalen Akteur aus logischen Gründen unmöglich ist, Regeln in dem weiteren Sinne anzuerkennen, den wir mit moralischen Geboten gewöhnlich verbinden. Dazu würde gehören, dass das Gebot als ein intrinsischer Grund für regelkonformes Verhalten und damit als Maßstab des eigenen Verhaltens betrachtet wird. Und dies setzt voraus, davon überzeugt zu sein, dass man der Regel auch dann folgen soll, wenn dies gelegentlich mit unkompensierten Nachteilen hinsichtlich der Erfüllung der eigenen Präferenzen verbunden ist. Eine solche Überzeugung ist jedoch mit dem Begriff des bloß rationalen Akteurs unvereinbar. Unter bloß rationalen Akteuren kann es demnach aus begrifflichen Gründen keine moralische Rechtfertigung von Normen im gewöhnlichen Sinne14 geben, weil sie so, wie sie hier konzipiert worden sind, niemals universalisierbaren Geboten aufrichtig und ernsthaft zustimmen können. Sobald wir uns auf der Ebene moralischen Argumentierens befinden, können unsere Adressaten deshalb keine bloß rationalen Akteure sein, sondern es muss sich um moralische Personen handeln, das heißt um Wesen mit der Fähigkeit und Bereitschaft, moralische Normen zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Ich habe zu Beginn dieses Kapitels gesagt, dass das Autonomieprinzip, auf dem die Idee der öffentlichen Rechtfertigung beruht, seine Grundlage im Begriff der moralischen Person habe, so dass Bürger, die einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen, nicht umhinkommen, auch dieses Prinzip anzuerkennen. Die in diesem Abschnitt diskutierten Bedingungen moralischer Personalität erlauben uns jetzt, den Zusammenhang zwischen dem Begriff der moralischen Person und dem Autonomieprinzip genauer zu beschreiben. Wesen, welche die Relevanzbedingung, die Bedingung deliberativer Rationalität und die Anerkennungsbedingung erfüllen, sind geeignete Adressaten normativer Rechtfertigungen, und sie sind moralische Personen im Rawls'schen Sinne, das heißt Personen mit der Befähigung zu einer Konzeption des Guten und mit einem Gerechtigkeitssinn: Sie haben eine mehr oder weni-

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ger artikulierte Konzeption des Guten, sind in der Lage, rationale Überlegungen darüber anzustellen, wie sie leben wollen und wie die Institutionen ihrer Gesellschaft eingerichtet sein sollten, und sie akzeptieren faire Beschränkungen ihrer Selbstbestimmung als Momente eben dieser Selbstbestimmung. Da nun alle an einem System sozialer Kooperation beteiligten moralischen Personen in Übereinstimmung mit ihren eigenen wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen leben wollen, kann prima facie niemand unter ihnen einen größeren als gleichen Anspruch für sich reklamieren, durch die Wahl geeigneter Normen und Institutionen die eigene Lebenskonzeption zu verwirklichen. Alle haben das gleiche übergeordnete Interesse, ihrer eigenen Konzeption des Guten zu folgen, und alle sind in der Lage, rationale Überlegungen anzustellen, wie die Institutionen ihrer Gesellschaft gerechterweise eingerichtet sein sollten. Wie könnte unter dieser Voraussetzung irgendjemand den Anspruch verteidigen wollen, seine eigenen Vorstellungen vom guten und richtigen Leben auf Kosten anderer und gegen deren wohlerwogene Überzeugungen durchzusetzen? Als rationale moralische Personen mit hinreichend entwickelten moralischen Grundvermögen sind alle Gesellschaftsmitglieder geeignete Adressaten normativer Rechtfertigungen. Alle erfüllen damit die Voraussetzungen für die Anwendung des Autonomieprinzips, und wenn irgendeiner unter ihnen einen Anspruch darauf hat, in Übereinstimmung mit seinen eigenen Überzeugungen und Interessen zu leben, müssen alle den gleichen Anspruch haben. Die Anwendung des Autonomieprinzips setzt nicht voraus, dass alle Menschen über die genannten Mindestvoraussetzungen hinaus gleichermaßen befähigt sind, zum Beispiel eigenständige philosophische Reflexionen über die Grundsätze einer gerechten Gesellschaft anzustellen; denn dies ist offenkundig nicht der Fall. Es genügt, wenn alle dazu in hinreichendem Maße in der Lage sind, so dass es ungerechtfertigt wäre, ihnen im Kontext der Rechtfertigung von Normen den Status gleichberechtigter autonomer Subjekte zu entziehen. Und wenn wir mit Rawls annehmen, dass eine gerechte und wohlgeordnete Gesellschaft

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von

Normen

allen die zur angemessenen Entwicklung und Ausübung ihrer beiden Vermögen notwendigen sozialen Voraussetzungen garantiert, müssen wir davon ausgehen, dass in einer hinreichend gerechten Gesellschaft die diesbezüglichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Autonomieprinzips weithin erfüllt sind. Im Rekurs auf das Autonomieprinzip können wir jetzt sagen, in welchem Sinne sich demokratische Bürger unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung von Normen und Gerechtigkeitsgrundsätzen als Freie und Gleiche anerkennen. Als Freie betrachten sie einander, insofern sie anerkennen, dass die Selbstbestimmung eines jeden von ihnen nur durch solche Normen eingeschränkt werden darf, die seine begründete Anerkennung finden können; und als Gleiche betrachten sie einander zumindest in dem minimalen Sinne, dass sie anerkennen, dass die für sie verbindlichen Normen und Institutionen allen Beteiligten gegenüber gleichermaßen gerechtfertigt werden müssen.

5. Eine methodische

Anmerkung

Der im vorigen Abschnitt vorgestellte Begriff der moralischen Person enthält sowohl deskriptive als auch normative Elemente. So mag es scheinen, als solle mit seiner Hilfe ein Übergang von deskriptiven zu normativen Aussagen bewerkstelligt werden, der nach dem auf Hume zurückgehenden Diktum, dass aus dem Sein kein Sollen folge, ausgeschlossen ist. Richtig ist, dass wir ein Individuum dann und nur dann zutreffend als moralische Person beschreiben, wenn es die für moralische Personen charakteristischen empirischen Eigenschaften und Fähigkeiten aufweist. Die Anwendung des Prädikats „moralische Person" impliziert insofern eine Reihe von empirischen Aussagen. Richtig ist auch, dass wir mit der Beschreibung eines Wesens als moralische Person die Anerkennung bestimmter moralischer Ansprüche dieses Wesens gegen uns verbinden. So habe ich weiter oben gesagt, dass moralische Personen einen Anspruch auf diejenigen Güter haben, die für die Entwicklung

Eine methodische

Anmerkung

143

und Ausübung ihrer moralischen Grundvermögen notwendig sind, und im vorigen Abschnitt haben wir festgestellt, dass für sie das Autonomieprinzip gilt. Die Beschreibung eines Wesens als moralische Person impliziert insofern eine Reihe von normativen Aussagen. Folgt nun allein daraus, dass ein Wesen die für moralische Personen charakteristischen empirischen Merkmale aufweist, dass wir ihm gegenüber bestimmte Verhaltensnormen einzuhalten hätten? Es steht uns natürlich frei, die zum Personbegriff gehörigen empirischen Merkmale durch die gewünschten normativen Charakterisierungen zu ergänzen. Eine Person wäre dann per definitionem ein Wesen mit bestimmten empirischen Eigenschaften und Fähigkeiten auf der einen Seite und mit bestimmten Ansprüchen und Rechten auf der anderen. Wir könnten dann offen lassen, welche logischen Beziehungen zwischen den empirischen Eigenschaften einerseits und den Ansprüchen und Rechten andererseits bestehen. Doch genau dies wollen wir nicht; denn unsere Vorstellung von einer moralischen Person ist eben die, dass sie Ansprüche gegen uns hat, weil sie ein Wesen mit bestimmten Eigenschaften ist. Das Prädikat „moralische Person" entspricht in dieser Hinsicht dem Prädikat „bewunderungswürdige Person", das ebenfalls deskriptive und normativen Elemente einschließt. Eine bewunderungswürdige Person ist keine Person, die ausgezeichnete Dinge getan hat und die wir außerdem noch bewundern sollen, sondern eine Person, die wir bewundern sollen, weil sie Ausgezeichnetes geleistet hat. Wenn wir den Begründungszusammenhang zwischen den empirischen Eigenschaften moralischer Personen und ihren moralischen Ansprüchen aufrechterhalten wollen, ohne einen naturalistischen Fehlschluss zu begehen, müssen wir eine zusätzliche Prämisse einfügen. Sie muss uns erklären, warum alle Wesen mit bestimmten empirischen Eigenschaften zugleich Träger begründeter moralischer Ansprüche sind, so dass wir einer Person konsistenterweise nicht die betreffenden empirischen Eigenschaften zusprechen können, ohne zugleich die ihnen korrespondierenden moralischen Ansprüche anzuerkennen.

144

Die öffentliche Rechtfertigung

von

Normen

Im Rahmen einer Konzeption der öffentlichen Rechtfertigung von Normen ergibt sich diese Prämisse daraus, dass moralische Urteile über Personen wie alle rationalen Urteile erstens rechtfertigungsbedürftig sind und zweitens universalisierbar sein müssen. Aus der Rechtfertigungsbedürftigkeit moralischer Urteile folgt, dass ein Individuum moralische Ansprüche, Rechte und Pflichten nur insofern haben kann, als es ein Wesen von einer bestimmten Art ist, das heißt weil es diejenigen allgemeinen Merkmale aufweist, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, ihm die betreffenden Ansprüche, Rechte, Pflichten und dergleichen zuzusprechen. Welche Merkmale dies im Einzelnen sind, hängt von den Ansprüchen ab, um die es jeweils geht. Der Anspruch auf Achtung des Autonomieprinzips muss auf Eigenschaften und Fähigkeiten beruhen, die für die Beurteilung von Konzeptionen des Guten und für die Rechtfertigung von Handlungen und Normen relevant sind. Der Wunsch, keine unnötigen Schmerzen zu erleiden, setzt die Fähigkeit voraus, Schmerzen zu empfinden. Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile legt uns darauf fest, dass wir Ansprüche, die wir einem Wesen zusprechen, weil es ein Wesen einer bestimmten Art ist, auch allen anderen Wesen von derselben Art zuzusprechen. Dies nicht zu tun ließe sich nicht öffentlich rechtfertigen, da es, wenn zwei Wesen in allen für die Beurteilung ihrer moralischen Ansprüche relevanten Merkmalen übereinstimmen, keinen sachlichen Grund gibt, im einen Fall den Anspruch anzuerkennen und im anderen nicht. Wenn wir also annehmen, dass es irgendeine Person gibt, die aufgrund ihrer empirischen Eigenschaften als moralische Person bestimmte moralische Ansprüche hat, müssen wir allen anderen Personen, die dieselben empirischen Eigenschaften aufweisen, auch dieselben Ansprüche gegen uns und andere zuerkennen. Dies beweist nun nicht, dass es überhaupt einen allgemein gültigen Grund dafür gibt, Wesen mit bestimmten empirischen Eigenschaften so etwas wie moralische Ansprüche zuzusprechen. Um diese Annahme geht es jedoch nicht. Wenn wir uns auf die Suche nach Gerechtigkeitsgrundsätzen für eine wohlge-

Eine methodische Anmerkung

145

ordnete Gesellschaft machen, unterstellen wir bereits ihre Berechtigung. Mindestens unterstellen wir, dass die Mitglieder einer Gesellschaft einen moralischen Anspruch darauf haben, in gerechter Weise behandelt zu werden und unter gerechten Institutionen zu leben. Da sich nun kaum bestreiten lässt, dass Wesen mit moralischen Ansprüchen Wesen mit bestimmten empirischen Eigenschaften und Fähigkeiten sein müssen, 15 können begründete Meinungsverschiedenheiten allenfalls darüber bestehen, welche Eigenschaften und Fähigkeiten im Einzelnen als notwendige und hinreichende Bedingungen für bestimmte moralische Ansprüche anzusehen sind. Insofern ist die oben skizzierte Beschreibung moralischer Personen offen für Kritik und grundsätzlich fallibel; in jedem Fall ist sie unvollständig und ergänzungsbedürftig. Was sich jedoch nicht bestreiten lässt, ist, dass erstens jede Gerechtigkeitskonzeption einen moralischen Begriff der Person mit normativen Elementen voraussetzt und dass zweitens jeder moralische Begriff der Person einen universalisierbaren Zusammenhang zwischen den empirischen Eigenschaften von Personen und ihren moralischen Ansprüchen herstellen muss. Beides zusammen genügt, um den Einwand, die vorgestellte Personkonzeption beruhe auf einem naturalistischen Fehlschluss, zu entkräften. Es sind nicht die empirischen Merkmale moralischer Personen allein, aus denen sich deren moralische Ansprüche, Rechte und Pflichten ergeben, sondern diese Merkmale im Kontext einer Gerechtigkeitskonzeption, die bereits davon ausgeht, dass moralische Personen Träger von Ansprüchen, Rechten und Pflichten sind, so dass es nur mehr darum geht festzustellen, welche konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten vorausgesetzt werden müssen, um die Zuerkennung bestimmter Ansprüche, Rechte und Pflichten rational gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

146

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

6. Vernünftiger

Pluralismus

und öffentliche

Rechtfertigung

Das Autonomieprinzip fordert, dass Personen die ihnen auferlegten Normen in Übereinstimmung mit ihren wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen anerkennen können. Mit Blick auf die Anforderungen, die sich aus der Idee der öffentlichen Rechtfertigung ergeben, müssen wir dies jetzt dahingehend qualifizieren, dass sie Normen auf der Grundlage einer vernünftigen Konzeption des Guten anerkennen können. „Wohlerwogen" nennen wir die Überzeugungen einer Person bereits dann, wenn sie intern hinreichend konsistent sind und wenn sie nicht auf erkennbaren empirischen Irrtümern beruhen. Für die öffentliche Rechtfertigung von Normen ist dies jedoch zu wenig. Eine Person mag wohlerwogene Überzeugungen haben und gleichwohl nicht bereit sein, die wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen anderer in fairer Weise bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, wie es von einem öffentlichen Standpunkt aus bei der Festlegung sozialer Normen notwendig ist. Als Grundlage der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung allgemein verbindlicher Normen müssen die normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen deshalb nicht nur wohlerwogen sein, sondern eine Reihe weiterer Anforderungen erfüllen, die wir im Begriff einer vernünftigen Konzeption des Guten zusammenfassen.16 Entscheidend für die öffentliche Rechtfertigung von Normen ist nicht, dass die Mitglieder einer Gesellschaft sie auf der Basis ihrer faktischen Überzeugungen, wie irrational und parteiisch sie auch sein mögen, anerkennen. Worauf es ankommt, ist, dass Normen aufgrund rationaler Überlegungen von Personen anerkannt werden, die einander als Freie und Gleiche betrachten und die darum bereit sind, bei der Beurteilung von Normen einen öffentlichen Standpunkt einzunehmen. Die in öffentlichen Beratungen für oder gegen bestimmte Normen vorgebrachten Argumente müssen deshalb einer Reihe von Bedingungen genügen; und wenn wir ein Argument als Grund für oder als einen Einwand gegen eine bestimmte Norm gelten

Vernünftiger

Pluralismus

und öffentliche

Rechtfertigung

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lassen, unterstellen wir, möglicherweise kontrafaktisch, dass diese Bedingungen erfüllt sind. Dabei gehen wir davon aus, dass die Gesellschaftsmitglieder ihre Argumente stets im Rückgriff auf mehr oder weniger umfassende moralische oder religiöse Vorstellungen davon, was sie für gut und richtig halten, erläutern und begründen. Und wir wissen, dass nicht alle diese Vorstellungen allgemeine Zustimmung finden. Normen werden von den Beteiligten auf der Basis divergierender Konzeptionen des Guten beurteilt, deren spezifischer Inhalt festlegt, ob eine bestimmte Norm von ihnen anerkannt werden kann oder nicht. Um nun eine geeignete Basis für die Anerkennung oder NichtAnerkennung allgemein verbindlicher Normen zu sein, müssen umfassende moralische oder religiöse Konzeptionen des Guten selbst offenbar gewissen Anforderungen der Rationalität und Vernünftigkeit genügen. Eine erste elementare Anforderung liegt darin, dass vernünftige Konzeptionen den Bedingungen der logischen Konsistenz und der Vereinbarkeit mit allgemein anerkannten Tatsachen genügen müssen, zumindest in dem minimalen Sinne, dass die aus ihnen resultierenden Beurteilungen von Normen und Grundsätzen nicht auf erkennbaren Fehlschlüssen oder faktischen Irrtümern beruhen. Diese allgemeine Rationalitätsforderung erscheint vergleichsweise unproblematisch; sie liegt bereits dem Kriterium wohlerwogener Überzeugungen zugrunde. Alle Gesellschaftsmitglieder haben unabhängig vom konkreten Inhalt ihrer normativen Überzeugungen gute Gründe, sich um die interne Rationalität ihrer Konzeptionen des Guten zu bemühen. Im Kontext der öffentlichen Rechtfertigung von Normen unterstellen wir, dass erkennbar inkonsistente oder empirisch widerlegbare Argumente nach gebührendem Überlegen von ihren Proponenten zurückgezogen werden, weil sie nicht dem entsprechen, was sie im Lichte relevanter und zugänglicher Informationen für richtig halten und vertreten wollen. Konzeptionen dagegen, die den genannten Anforderungen hinreichend genügen, können unter Berücksichtigung allgemein anerkannter Tatsachen in konsistenter Weise öffentlich vertreten werden, und auf ih-

148

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

nen beruhende Argumente für oder gegen bestimmte Normen können weder als intern unschlüssig noch als empirisch falsch zurückgewiesen werden. Zu den Tatsachen, deren Anerkennung sich aus den allgemeinen Rationalitätsbedingungen ergibt, gehören auch die von Rawls so genannten „Bürden des Urteilens" 1 7 . Sie erklären, warum selbst unter idealen Bedingungen einer uneingeschränkt rationalen Urteilsbildung nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Mitglieder einer Gesellschaft verschiedene moralische oder religiöse Konzeptionen des Guten bejahen und deshalb zu unterschiedlichen Beurteilungen von Normen gelangen. Häufig sind die ein moralisches Problem betreffenden empirischen Befunde uneindeutig, und die offenen Grenzen des korrekten Gebrauchs empirischer und normativer Begriffe lassen in vielen Fällen einen Spielraum für divergierende Interpretationen. Einschlägige normative Gesichtspunkte können mit guten Gründen verschieden gewichtet werden, und miteinander inkompatible moralische Erwägungen erlauben nicht immer eindeutige Problemlösungen. Auch lassen sich nur selten alle jeweils relevanten moralischen und religiösen Werte gleichermaßen verwirklichen. Bestimmte Werte können häufig nur auf Kosten anderer institutionell realisiert werden, so dass Entscheidungen getroffen werden müssen, für die es in der Regel verschiedene vernünftige Alternativen gibt. Die Bürden des Urteilens sind unüberwindbare Grenzen dafür, durch rationale Argumentation eindeutige Antworten auf alle moralischen und politischen Fragen zu finden. Sie anzuerkennen bedeutet die Anerkennung einer rational nicht aufhebbaren Pluralität vernünftiger umfassender Auffassungen über das Gute und Richtige und schließt die Bereitschaft ein, die moralischen und religiösen Überzeugungen anderer Bürger, auch wenn sie von den eigenen wohlerwogenen Auffassungen abweichen, als potenziell vernünftig und rational zu betrachten. Eine weitere Anforderung an vernünftige Konzeptionen des Guten, die wir ebenfalls zu den allgemeinen Rationalitätsbedingungen rechnen können, liegt darin, dass sie gewissen

Vernünftiger Pluralismus und öffentliche Rechtfertigung

149

anthropologischen Grundtatsachen Rechnung tragen und unter Bedingungen menschlicher Bedürftigkeit angesichts knapper Ressourcen dauerhafte, friedliche und allseitig vorteilhafte soziale Kooperation ermöglichen. Vernünftige Konzeptionen müssen den Wert des menschlichen Lebens und die Bedeutung der menschlichen Selbstverwirklichung anerkennen und darum in der einen oder anderen Form das einschließen, was Herbert Hart den „Minimalgehalt" eines empirischen Naturrechts genannt hat. 18 Eine über die genannten Rationalitätsbedingungen hinausgehende Anforderung an vernünftige Konzeptionen des Guten besteht in der Forderung der Unparteilichkeit. Vernünftige Konzeptionen des Guten könnten, wenigstens im Prinzip, allgemeine Zustimmung finden, weil sie auf Werten und Grundsätzen beruhen, die einen glaubwürdigen Anspruch auf Unparteilichkeit erheben können. Die in einer pluralistischen Gesellschaft bestehenden Divergenzen zwischen moralischen oder religiösen Konzeptionen beruhen typischerweise nicht auf widerstreitenden partikularen Interessen, wie sie sich aus besonderen sozialen und ökonomischen Lebenslagen ergeben. Dies schließt nicht aus, dass sich in konkreten historischen Situationen Korrespondenzen zwischen den wirtschaftlichen Interessen gesellschaftlicher Gruppen und den von ihnen vertretenen moralischen oder religiösen Konzeptionen ergeben. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit ihres Anspruchs auf Unparteilichkeit und nicht, dass dieser Anspruch von allen Beteiligten als vollständig erfüllt angesehen wird. Letzteres wäre eine zu starke Bedingung für die Vernünftigkeit umfassender Konzeptionen, da in einer pluralistischen Gesellschaft naturgemäß begründete Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, welche Normen, Grundsätze und Werte tatsächlich der Forderung der Unparteilichkeit genügen. Es muss deshalb ausreichen, wenn wir annehmen dürfen, dass sich die zwischen vernünftigen Konzeptionen des Guten bestehenden Divergenzen nicht aus partikularen Interessengegensätzen ergeben, sondern aus den Schwierigkeiten, angesichts der Bürden des Urteilens eindeutig zu bestimmen, durch welche

150

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

materialen Werte und Grundsätze ein unparteiischer moralischer Standpunkt am besten konkretisiert wird. Mit Blick auf die öffentliche Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen ist diese schwache Forderung der Unparteilichkeit deshalb wesentlich, weil die bloße Artikulation partikularer Interessen keine Argumente für oder gegen politische Gerechtigkeitsgrundsätze und soziale Normen zu stützen vermag. Einwände gegen bestimmte Normen oder Grundsätze können sich deshalb nur im Rahmen vernünftiger Konzeptionen des Guten ergeben, die, obwohl sie in einer pluralistischen Gesellschaft de facto nicht allgemein geteilt werden, zumindest einen begründeten Anspruch erheben, unparteiisch im Namen aller zu sprechen.19 Die letzte hier zu nennende Anforderung an vernünftige Konzeptionen des Guten liegt darin, dass sie mit dem normativen Selbstverständnis demokratischer Bürger vereinbar sein müssen, die einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen. Bürger mit vernünftigen Konzeptionen des Guten erkennen das Autonomieprinzip deshalb zumindest in dem schwachen Sinne an, dass sie ihren Mitbürgern prima facie ebenso wie sich selbst das Recht zugestehen, in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen vernünftigen Konzeptionen des Guten zu leben. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen und betrachten wir seine Konsequenzen für die öffentliche Rechtfertigung von Normen. Im idealtypischen Grenzfall enthalten vernünftige umfassende Konzeptionen des Guten keine vermeidbaren empirischen Fehlannahmen oder Inkonsistenzen. Sie erheben einen nicht unbegründeten Anspruch auf Unparteilichkeit und erkennen die Bürden des Urteilens ebenso wie den Begriff des Bürgers als freier und gleicher Person uneingeschränkt an. Divergenzen zwischen den von verschiedenen Bürgern vertretenen vernünftigen moralischen oder religiösen Konzeptionen des Guten lassen sich, auch wenn sie in partikularen Traditionen und kulturellen Bindungen oder besonderen historischen Erfahrungen begründet liegen, nicht auf mangelnde Einsicht oder erkennbar

Vernünftiger

Pluralismus und öffentliche Rechtfertigung

151

ungerechtfertigte Voreingenommenheiten zurückführen. Wir betrachten sie in diesem Sinne als vernünftige oder begründete Meinungsverschiedenheiten. Eine Situation, in der Personen idealtypisch ausschließlich vernünftigen umfassenden Konzeptionen anhängen, können wir als vernünftigen Pluralismus bezeichnen.20 Das in unserem Zusammenhang wichtigste Merkmal eines vernünftigen Pluralismus besteht in der Asymmetrie zwischen der rationalen Bejahung und der rationalen Verneinung von Konzeptionen des Guten: Jeder kann unter den beschriebenen Bedingungen für sich reklamieren, seine eigene Konzeption in voller Übereinstimmung mit den Anforderungen der Rationalität und Vernünftigkeit zu vertreten, aber keiner ist in der Lage, die Konzeption irgendeines anderen als irrational oder unvernünftig zurückzuweisen. In einer solchen Situation fordert das Autonomieprinzip, dass keine politische Ordnung auf der Basis von Grundsätzen und Normen etabliert wird, die aus Sicht einer der involvierten vernünftigen Konzeptionen des Guten nicht anerkannt werden können. Die öffentliche Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen kann dann nur ausgehend von Prämissen gelingen, über die ein alle vernünftigen Konzeptionen übergreifender Konsens möglich ist.

7. Maclntyres

Konzeption

der

Normbegründung

Ein grundlegender Einwand gegen das Autonomieprinzip ergibt sich daraus, dass womöglich nicht alle in modernen pluralistischen Demokratien vertretenen Konzeptionen des Guten im Kontext der öffentlichen Rechtfertigung von Normen denselben Status haben. Einige von ihnen, so mag man einwenden, seien unmoralisch, irreligiös oder schlicht falsch und eben darum als Basis für die Beurteilung und Rechtfertigung sozialer Normen und Institutionen ungeeignet. Menschen, die solche .falschen' Konzeptionen des Guten vertreten, könnten deshalb, auch wenn sie ansonsten als freie und gleiche moralische Personen anzuerkennen seien, nicht denselben Anspruch haben, in Übereinstim-

152

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

mung mit ihren Überzeugungen und Interessen zu leben, wie solche mit den .richtigen' normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Zur Vorbereitung einer Entgegnung auf diesen Einwand soll in diesem Abschnitt zunächst Alasdair Maclntyres Konzeption der Normbegründung vorgestellt und diskutiert werden. Im nächsten Abschnitt wird dann gezeigt, warum Personen, die vernünftige Konzeptionen des Guten vertreten, den gleichen Anspruch haben, nur solchen Normen befolgen zu müssen, die sie in Übereinstimmung mit ihren normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen anerkennen können, und zwar auch dann, wenn unter ihnen begründete Meinungsverschiedenheiten über die Merkmale und Voraussetzungen eines wahrhaft guten und richtigen Lebens bestehen. Maclntyre vertritt eine aristotelisch-thomistische Auffassung der moralischen Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen. 21 Eine Erkenntnis der moralischen Regeln richtigen Handelns setzt demnach die Kenntnis des Zwecks der menschlichen Existenz voraus, das heißt eine Erkenntnis des für den Menschen als Menschen wesentlichen Lebenszieles oder Guts. Wir haben es insoweit mit einer teleologischen Konzeption zu tun. Sie gilt nicht nur für den Bereich individueller Handlungen, sondern auch für die eine wohlgeordnete Gesellschaft regulierenden Werte und Normen. Die Aufgabe der politischen Einrichtungen einer Gesellschaft besteht dieser Auffassung zufolge darin, die zur Erfüllung des menschlichen Lebenszwecks notwendigen institutionellen Voraussetzungen zu schaffen und ihren Mitgliedern die für ein gutes Leben nötigen sozialen Güter bereitzustellen. Maclntyre bestreitet nicht, dass es unter den Mitgliedern einer Gesellschaft Unsicherheiten und Meinungsverschiedenheiten darüber geben mag, wie das für den Menschen Gute in einem bestimmten Punkt inhaltlich zu bestimmen sei oder wie man es (individuell oder kollektiv) am besten erreichen könne. Wie für alle Erkenntnisse gilt auch für die Erkenntnis des Guten, dass sie sich schrittweise und durch die Korrektur von Irrtümern vollzieht. Absolute Gewissheit kann es womöglich in

Maclntyres Konzeption der

Normbegründung

153

keinem Punkt geben. Kennzeichnend für seine thomistische Position ist jedoch, dass erstens aufgrund des mit der moralischen Erkenntnis verbundenen Wahrheitsanspruchs einander entgegengesetzte Auffassungen über das für den Menschen Gute niemals den gleichen Anspruch auf Gültigkeit und öffentliche Anerkennung haben können und dass zweitens divergierende Konzeptionen des Guten in der Regel auch zu divergierenden Auffassungen darüber führen, welche Institutionen und Regelungen einen moralischen Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit haben. Eine vom öffentlichen Standpunkt aus begründete Güterverteilung wäre unter dieser Voraussetzung nur dann möglich, wenn in einer Gesellschaft ein allgemeiner Konsens darüber bestünde, durch welche Merkmale sich ein gutes Leben in Gemeinschaft mit anderen objektiv auszeichnet.22 Diese Auffassung stützt sich im Wesentlichen auf zwei Argumente: Das erste beruht auf der wohl berechtigten Annahme, dass eine von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilte umfassende Konzeption des Guten das Problem der Rechtfertigung politischer Institutionen und Regelungen tatsächlich lösen würde. Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft in ihren grundlegenden normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen übereinstimmten, wären alle sozialen Konflikte ihrem Wesen nach bloße Interessenkonflikte. Und jede hinreichend umfassende und vollständige moralische oder religiöse Konzeption des Guten macht Aussagen darüber, wie Gegensätze zwischen den rationalen Eigeninteressen verschiedener Personen aufzulösen sind. Wer eine solche Konzeption versteht und bejaht, hat in ihr eine Grundlage um festzustellen, unter welchen Bedingungen seine persönlichen Interessen um der Realisation der von allen anerkannten Werte willen hinter den Interessen anderer zurückstehen müssen. Das zweite Argument richtet sich gegen die Möglichkeit der öffentlichen Rechtfertigung von kollektiv verbindlichen Regelungen, wenn unter den Mitgliedern einer Gesellschaft keine umfassende Übereinstimmung in ihren normativen Überzeugungen besteht. Es beruht auf einem holistischen Verständnis der Rechtfertigung von Handlungen und sozialen Regeln. Je

154

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

nachdem, welche Werte, Normen und Tatsachen jemand in seinen praktischen Überlegungen und bei der Rechtfertigung kollektiver Entscheidungen berücksichtigt, ergeben sich verschiedene Konsequenzen. "Welche politischen Entscheidungen jemand begründetermaßen für moralisch gerechtfertigt hält, ist deshalb abhängig von der Gesamtheit seiner normativ relevanten Überzeugungen. Für eine Gesellschaft, deren Mitglieder auch in grundlegenden Fragen zum Teil entgegengesetzte moralische oder religiöse Auffassungen vertreten, bedeutet dies, dass in vielen Fällen auch dann keine gemeinsamen und von allen anerkannten Regelungen gefunden werden können, wenn in manchen Punkten Übereinstimmung besteht. Dies zeigt sich zum Beispiel an der in fast allen pluralistischen Demokratien nach wie vor unabgeschlossenen Debatte über die angemessene Form der rechtlichen Regulierung von Abtreibungen bei ungewollten Schwangerschaften. Obwohl die an der Diskussion Beteiligten von ähnlichen Grundsätzen und Werten ausgehen (der Wert des menschlichen Lebens, die Gleichheit und das Selbstbestimmungsrecht der Frau, die Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung), und obwohl sich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten und in Deutschland alle auf allgemein anerkannte Verfassungsnormen berufen, kommt es zu keinem Konsens. Die jeweils durch Mehrheitsentscheidungen oder Gerichte durchgesetzten Regelungen bleiben ihrem Inhalt nach umstritten. Alle Beteiligten verstehen und gewichten die von ihnen gemeinsam anerkannten Werte und Grundsätze im Lichte ihrer jeweiligen umfassenden normativen Überzeugungen, und da diese einander zum Teil entgegengesetzt sind, kommen sie zu verschiedenen und miteinander unverträglichen Ergebnissen. 23 Die beiden Argumente zusammen verleihen der Position Maclntyres einige Plausibilität, sie vermögen sie jedoch nicht schlüssig zu begründen. Ihre Schwäche besteht vor allem darin, dass sie den normativen Implikationen des für moderne Gesellschaften charakteristischen Pluralismus nicht in angemessener Weise Rechnung tragen. Aus Maclntyres Sicht stellt sich der

Macintyres

Konzeption

der Normbegründung

155

zeitgenössische Pluralismus als ein ausschließlich historischempirisches Phänomen dar. Er verweist die Vorstellung, „dass unsere fundamentalen Meinungsverschiedenheiten aus einer ausführlichen rationalen Debatte hervorgegangen oder durch sie einer kritischen Überprüfung unterzogen worden sind", in den Bereich der Mythologie. 24 Das Faktum des Pluralismus wird damit als eine bloß äußere Gegebenheit betrachtet, die wir, so wie jede andere soziale Tatsache auch, bei allen Entscheidungen angemessen berücksichtigen müssen, die aber ohne Einfluss auf den Inhalt der obersten Werte und Grundsätze bleibt, an denen wir uns in unserem Handeln orientieren. Es sind vielmehr diese Werte und Grundsätze, die als Elemente der einen und umfassenden Konzeption des Guten festlegen, was es heißt, sich dem Faktum des Pluralismus in angemessener Weise zu stellen. Moralisch relevant wird dieses Faktum nur insofern, als diejenigen, die sich an einer solchen Konzeption orientieren, in ihrem praktischen Überlegen und Handeln berücksichtigen müssen, dass es Menschen gibt, die andere Auffassungen von einem guten Leben vertreten als sie selbst. Ihnen gegenüber gilt es, die gebührende Toleranz und Achtung zu zeigen (innerhalb der von der umfassenden Konzeption vorgegebenen Grenzen) und, so nehme ich an, Überzeugungsarbeit zu leisten, um sie von ihren Irrtümern und Fehlannahmen zu befreien. Nun ist nicht klar, wie es angesichts der durch die Bürden des Urteilens beschriebenen Grenzen wissenschaftlichen Erkennens und rationalen Argumentierens möglich sein soll zu zeigen, dass es zu einer bestimmten umfassenden Konzeption des Guten keine rationale Alternative gibt. Dies würde nicht nur voraussetzen, dass man in der Lage ist, die eigenen Vorstellungen von einem guten Leben in konsistenter und rationaler Weise zu begründen. Es müsste außerdem bewiesen werden, dass alle anderen, intern womöglich ebenso rationalen Konzeptionen objektiv falsch sind. Man muss kein Skeptiker sein, um zu bezweifeln, dass dies mit Blick auf die Gesamtheit der von den Mitgliedern moderner Gesellschaften vertretenen Wertvorstellungen und Lebenskonzeptionen möglich ist.

156

Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

Wir müssen deshalb mit der Möglichkeit eines vernünftigen Pluralismus rechnen, das heißt mit der Möglichkeit einer Pluralität intern vernünftiger, aber gleichwohl divergierender moralischer und religiöser Lehren vom Guten. Sobald wir nun annehmen, dass die von den Mitgliedern pluralistischer Gesellschaften vertretenen verschiedenen Konzeptionen nicht durchweg irrational oder unvernünftig sind, sondern dass die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze zum Teil auf die Bürden des Urteilens zurückzuführen sind, wird das Faktum des Pluralismus, das für Maclntyre ein lediglich historisches Phänomen darstellt, zu einer grundlegenden und von allen Beteiligten vernünftigerweise anzuerkennenden normativ relevanten Tatsache. Keine umfassende Konzeption des Guten, wie plausibel und rational sie sich intern auch darstellen mag, vermag angesichts des Bestehens begründeter Meinungsverschiedenheiten über das gute Leben länger den Anspruch zu begründen, kollektiv verbindliche Entscheidungen und politische Institutionen könnten nur auf ihrer Grundlage in rationaler Weise gerechtfertigt werden. Die zweite grundsätzliche Schwäche der Position Maclntyres liegt darin, dass sich aus ihr, selbst wenn es möglich sein sollte, die Wahrheit irgendeiner umfassenden Konzeption des Guten zu beweisen, keine überzeugende Alternative zum liberalen Modell der pluralistischen Demokratie ergäbe. Moralischer und religiöser Pluralismus ist, so wie die Dinge liegen, eine unabänderliche Tatsache, und schon der Versuch, ihn durch den autokratischen Gebrauch der Staatsgewalt zu beseitigen oder zu unterdrücken, stellt ein unerträgliches Übel dar, das für keine vernünftige moralische oder religiöse Lehre akzeptabel sein kann. Es bliebe, wenn wir bereit sind zu fantasieren, nur die Möglichkeit einer fundamentalen Neuordnung aller politischen Gesellschaften, so dass nur mehr solche Personen, die in ihren moralischen und religiösen Vorstellungen weitgehend übereinstimmen, in einem Staat zusammenleben müssten. Auch wenn wir das Problem der Realisierbarkeit beiseite lassen, kann dies jedoch keine ernsthafte Alternative sein. Eine politische Gesell-

Macintyres Konzeption der Normbegründung

157

schaft, die klein genug ist, um die für eine aristotelisch-thomistische Gesellschaftskonzeption erforderliche moralische und religiöse Homogenität zu gewährleisten, ist unter realistischen Bedingungen nicht in der Lage, ihren Mitgliedern auch nur diejenigen fundamentalen Güter zu sichern, die nach jeder plausiblen Konzeption für ein gutes Leben unverzichtbar sind. Die ungleiche Verteilung von Rohstoffen auf der Erde, die Notwendigkeit globaler Anstrengungen zum Schutz der natürlichen Lebenswelt des Menschen und die Gefahr zwischenstaatlicher Konflikte und Kriege zwingen jeden Staat zur politischen Kooperation mit anderen Staaten. Sie stellen uns unausweichlich vor das Problem der Legitimierung politischer Institutionen und kollektiv verbindlicher Entscheidungen in einer pluralistischen Welt. Mit Blick auf die kollektive Verteilung materieller Güter und Ressourcen und die mit ihr verbundenen Rechtfertigungsprobleme ist es angesichts der weltweiten ökonomischen, politischen und sozialen Verflechtungen und Abhängigkeiten weitgehend irrelevant, ob wir es mit einem inner-gesellschaftlichen oder einem zwischen-gesellschaftlichen Pluralismus von Wertvorstellungen und Lebensformen zu tun haben. 2 5

8. Verteidigung des Autonomieprinzips Wenden wir uns nun dem Einwand gegen das Autonomieprinzip zu, der auf der Vorstellung beruht, nicht alle Konzeptionen des Guten hätten im Kontext der Rechtfertigung von Institutionen den gleichen Status, und zwar auch dann nicht, wenn es sich um vernünftige Konzeptionen handeln sollte. Ich möchte diesen Einwand wiederum mithilfe einer Kunstfigur erörtern, die ich als moralischen oder religiösen Fundamentalisten bezeichne. Darunter verstehe ich jemanden, der das Autonomieprinzip ablehnt und überzeugt ist, anderen im Namen seiner wohlerwogenen moralischen Überzeugungen Normen auferlegen zu dürfen, obwohl andere diese Normen auf der Grundlage von ihnen bejahter vernünftiger Konzeptionen

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Die öffentliche Rechtfertigung

von

Normen

des Guten nicht anerkennen können. Ein Fundamentalist erkennt die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung von Normen nicht an und wird im Konfliktfall darauf beharren, dass eine allgemein verbindliche Regelung nur auf der Basis der von ihm selbst bejahten, aber nicht allgemein geteilten normativen Überzeugungen möglich sei. Die Bedeutung einer Widerlegung der fundamentalistischen Position für eine Gerechtigkeitskonzeption, die von der Idee der öffentlichen Rechtfertigung ausgeht, ist offensichtlich. Nur wenn es möglich ist, den Fundamentalisten in einer Weise zu widerlegen, die von allen vernünftigen Konzeptionen anerkannt werden muss, können wir auch die allgemeine Anerkennung des Autonomieprinzips einfordern, und nur unter dieser Voraussetzung können wir daran festhalten, dass die Möglichkeit eines begründeten Konsenses über Gerechtigkeitsgrundsätze ein konstitutives Merkmal politischer und sozialer Gerechtigkeit ist. Wir wollen der Einfachheit halber annehmen, die inhaltlichen moralischen Überzeugungen von Fundamentalisten könnten sich auf intern rationale Konzeptionen des Guten und Richtigen stützen, die einen glaubwürdigen Anspruch auf Unparteilichkeit erheben; und nehmen wir weiter an, rationale Fundamentalisten würden die Bürden des Urteilens und ihre Konsequenzen für die moralische Urteilsbildung anerkennen. Entscheidend ist, dass eine realistische Konzeption der Wahrheit oder Gültigkeit moralischer Urteile vertreten wird. Ob jemand ein Fundamentalist ist oder nicht ist keine Frage seiner inhaltlichen normativen Überzeugungen, sondern betrifft ausschließlich seine ,metaethischen' Auffassungen über den Status moralischer Urteile und ihrer Begründungen. 26 Ein Fundamentalist ist überzeugt, dass allgemeine rationale Begründbarkeit keine notwendige Bedingung der Geltung von Normen und Werturteilen ist. Die von ihm ausdrücklich anerkannten Bürden des Urteilens betrachtet er deshalb nicht als eine objektive Beschränkung der Klasse allgemein verbindlicher Normen. Aus seiner Sicht beschreiben sie lediglich die subjektiven Grenzen endlicher Wesen, durch praktisches Argumentieren unabhängig von ihrer

Verteidigung des Autonomieprinzips

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moralischen Einsicht existierende Normen klar und deutlich zu identifizieren. Umfassende Konzeptionen des Guten unterscheiden sich typischerweise von persönlichen Präferenzen und Lebensentwürfen durch den mit ihnen verbundenen Universalitätsanspruch. 27 Eine solche Konzeption zu bejahen bedeutet, die zu ihr gehörigen Normen und Werturteile als allgemein gültig oder, wenn man einen realistischen Standpunkt vertritt, als wahr zu betrachten. Dies gilt auch dann, wenn ausdrücklich anerkannt wird, dass die betreffenden Urteile in einer pluralistischen Gesellschaft wegen der Bürden des Urteilens nicht gegenüber jedermann mit rationalen Mitteln zur Zustimmung gebracht werden können. Einen Nicht-Fundamentalisten, der das Autonomieprinzip uneingeschränkt anerkennt, führen die Bürden des Urteilens allerdings zu einer Unterscheidung von zwei Arten moralischer Forderungen: solche mit einem schwachen und solche mit einem starken Universalitätsanspruch. Ein schwacher Universalitätsanspruch wird dann erhoben, wenn jemand fordert, alle sollten in ihrem Verhalten bestimmte, nicht allgemein anerkannte Normen beachten, ohne darauf zu bestehen, diese Normen nötigenfalls mit staatlicher Zwangsgewalt durchzusetzen. Denn mit Blick auf die Bürden des Urteilens wird anerkannt, dass diese Forderung nicht gegenüber jedermann unabhängig von seinen besonderen moralischen Überzeugungen zu rechtfertigen ist. Mit Normen einen starken Universalitätsanspruch zu verbinden bedeutet demgegenüber zu behaupten, dass alle diesen Normen folgen müssen, weil sie allen Beteiligten gegenüber trotz der ansonsten zwischen ihnen bestehenden Differenzen gerechtfertigt werden können. 28 Jemand, der das Autonomieprinzip anerkennt, wird demnach nur die zwangsweise Durchsetzung von Normen mit starkem Universalitätsanspruch für moralisch zulässig halten. Er erkennt damit das Faktum des Pluralismus nicht lediglich als eine empirische Beschränkung seiner faktischen Handlungsmöglichkeiten an, sondern darüber hinaus als eine normativ relevante Tatsache, die über den Bereich des faktisch Mögli-

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

chen hinaus den Bereich des moralisch Zulässigen beschränkt. Für einen Fundamentalisten dagegen, der das Autonomieprinzip nicht anerkennt, ergeben sich aus den subjektiven Überzeugungen seiner Mitbürger selbst dann keine prinzipiellen normativen Beschränkungen, wenn sie auf rationalen moralischen Urteilen beruhen. Die Grundannahme des Fundamentalisten lautet: ,Wahre Normen' dürfen auch gegen rationalen, moralisch oder religiös begründeten Widerstand durchgesetzt werden, und dies bezieht er im Grenzfall auf alle Normen, die er in Übereinstimmung mit seinen eigenen normativen Überzeugungen für wahr hält. Ein erster und offenkundig richtiger Einwand gegen fundamentalistische Positionen liegt darin, dass in pluralistischen Gesellschaften die öffentliche Ablehnung des Autonomieprinzips durch bestimmende gesellschaftliche Gruppen mit anhaltend friedlicher sozialer Kooperation in der Regel unvereinbar ist. Es ist praktisch unmöglich, das Faktum des Pluralismus durch Staatsgewalt dauerhaft zu unterdrücken, und angesichts der Kosten und moralischen Übel, die mit dem sektiererischen Gebrauch der Staatsgewalt für alle Beteiligten verbunden sind, ist schwierig zu sehen, im Namen welcher Grundsätze und Werte rationale Einwände gegen die Anerkennung des Autonomieprinzips vorgebracht werden könnten. Hinzu kommen die Vorteile friedlicher sozialer Kooperation für alle Beteiligten: Die öffentliche Anerkennung des Autonomieprinzips fördert das Vertrauen der Gesellschaftsmitglieder untereinander und erhöht ihre Kooperationsbereitschaft. Die Opportunitätskosten der zwangsweisen Durchsetzung von Gesetzen und Verträgen sinken, und die stets bestehende Entfremdung der Bürger von ihren politischen Institutionen verringert sich. Alles in allem ist kaum zu bestreiten, dass die mit der Anerkennung des Autonomieprinzips verbundenen Vorteile friedlicher Kooperation von einem unparteiischen Standpunkt aus betrachtet in der Regel alle anderen moralischen oder religiösen Werte überwiegen: Autokratien können allenfalls aus der eingeschränkten Perspektive derjenigen wünschenswert erscheinen, für die das

Verteidigung des Autonomieprinzips

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den unterdrückten Minderheiten zugefügte Leid kein zu berücksichtigendes Übel darstellt. Diese Erwägungen allein rechtfertigen es schon, fundamentalistische Positionen zurückzuweisen und die Anerkennung des Autonomieprinzips zum Kriterium der Vernünftigkeit umfassender moralischer und religiöser Konzeptionen des Guten zu machen. Aus der Sicht einer vom kantischen Autonomiegedanken ausgehenden Gerechtigkeitskonzeption bieten sie jedoch keine hinreichende Begründung dieses Prinzips. Wenn wir vom Selbstverständnis demokratischer Bürger ausgehen, wird durch das Autonomieprinzip ein Anspruch freier und gleicher moralischer Personen zum Ausdruck gebracht, in Übereinstimmung mit ihren wohlerwogenen normativen Überzeugungen zu leben, der unabhängig davon ist, ob Verletzungen der persönlichen Autonomie in konkreten Fällen zu einer Störung des sozialen Friedens führen oder nicht. Unter welchen Bedingungen der Wert friedlicher Kooperation in Konfliktfällen überwiegt, beurteilt jeder, solange das Autonomieprinzip nicht in diesem Sinne anerkannt wird, ausschließlich auf der Grundlage der von ihm selbst vertretenen umfassenden moralischen oder religiösen Konzeption des Guten. Eine Entscheidung für friedliche Kooperation bedeutet deshalb noch nicht, dass Ansprüche, die Andersgläubige im Namen ihrer eigenen Konzeption des Guten geltend machen, als begründete Ansprüche aus eigenem Recht anerkannt werden, wie es sich aus dem Begriff der moralischen Person als Forderung ergibt. Sie bedeutet zunächst nur, dass es für die Beteiligten unter den gegebenen Bedingungen und nach Maßgabe ihrer jeweiligen Konzeption des Guten am vernünftigsten erscheint, so miteinander umzugehen, als ob alle erhobenen Ansprüche unabhängig von den ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen des Guten gleichberechtigt seien. Zudem ist nicht zu bestreiten, dass sich intern rationale moralische und religiöse Positionen denken lassen, für welche die Vorteile friedlicher Kooperation im Konfliktfall nicht ausschlaggebend sein können, weil aus ihrer Sicht bedeutendere

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

Werte auf dem Spiel stehen. Die von Rawls in diesem Zusammenhang diskutierte Losung „extra ecclesiam nulla salus" gibt ein Beispiel dafür. 29 Was können wir jemandem entgegnen, der auf der Basis konsistenter religiöser Überzeugungen seine persönliche Heilsgewissheit gegen die Gewissensfreiheit stellt? Sind wir gezwungen zu vertreten, „extra ecclesiam nulla salus" sei schlicht falsch und entsprechende Einwände gegen die Gewissensfreiheit darum ungerechtfertigt? Dies liefe darauf hinaus, das Ziel der öffentlichen Rechtfertigung von gesellschaftlichen Normen und Institutionen an der entscheidenden Stelle aufzugeben. Wenn wir den Glauben an Gott und an ein Jenseits als nicht rational widerlegbare und insoweit vernünftige und normativ relevante Überzeugung zulassen, wie könnten wir dann ausschließen, dass die Überzeugungen eines religiösen Fundamentalisten wahr sind? Eine prinzipielle Kritik am Fundamentalismus lautet, die fundamentalistische Position sei nicht universalisierbar, da sie bei inhaltlich divergierenden Überzeugungen verschiedener Personen zu widersprüchlichen Konsequenzen führe. Die Forderung der Universalisierbarkeit ist eine Rationalitätsbedingung für Moralurteile. Jemand, der einem solchen Urteil ernsthaft und aufrichtig zustimmt, muss rationalerweise demselben Urteil in allen identischen Fällen, die sich lediglich hinsichtlich der Rollenverteilung für die Beteiligten unterscheiden, ebenfalls zustimmen können. Ein Fundamentalist muss jedoch zugeben, dass er nach einem Rollenwechsel, der ihn zum Normunterworfenen macht, einer Regel, die er nach dem Rollentausch auf der Grundlage wohlerwogener moralischer Überzeugungen für falsch hält, nicht zustimmen könnte. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass die vom Fundamentalisten erhobene Forderung der Normdurchsetzung gegen begründeten Widerstand nicht universalisierbar wäre. Worauf es bei der Universalisierbarkeit von Normen und Werturteilen ankommt, ist nicht, dass die moralischen Überzeugungen des Fundamentalisten mit dem übereinstimmen, was er de facto für richtig halten und tun würde, wenn er sich in der Lage seines Gegenübers befände. Entschei-

Verteidigung des Autonomieprinzips

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dend ist vielmehr, dass seine jetzigen Überzeugungen mit dem übereinstimmen, wovon er glaubt, dass er es auch nach einem Rollenwechsel tun sollte, was immer seine faktischen moralischen Überzeugungen dann sein mögen. Der konsequente Fundamentalist wird deshalb zur Universalisierung seiner Überzeugungen bereit sein und vertreten, dass die von ihm favorisierten Normen, eben weil sie ,wahre Normen' sind, auch gegen ihn selbst durchgesetzt werden müssen, wenn er sie unter veränderten Umständen aufgrund rationaler Überlegungen für falsch hielte. Joshua Cohen hat gegen den Fundamentalisten eingewendet, seine Position laufe darauf hinaus, von anderen irrationalerweise zu fordern, sich Normen allein aus dem Grunde zu unterwerfen, weil er selbst glaube, es handle sich um wahre Normen: „... what they are prepared to do is impose on those who are outside the faith in a way that - so far as those others can tell - is indistinguishable from the concededly irrational practice of imposing in the name of their beliefs." 30 Hieran möchte ich anschließen, auch wenn Cohens Einwand in der vorgestellten Form zunächst sein Ziel zu verfehlen scheint. Zwar sei es richtig, so mag man einwenden, dass für die kausale Erklärung der Forderungen eines Fundamentalisten das faktische Vorliegen der Überzeugung, bestimmte Normen seien wahr, mutmaßlich eine zentrale Rolle spielt, dies gelte aber nicht für die von ihm selbst gegebene Begründung der geforderten Normunterwerfung. Nach seinem Selbstverständnis komme es allein auf den Inhalt resp. die Wahrheit der betreffenden Überzeugung an: Das für den Fundamentalisten entscheidende Argument zur Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen ist nicht „Ich glaube, dass N! eine wahre Norm ist", sondern „N! ist eine wahre Norm". 3 1 Tatsächlich besteht in diesem Punkt kein wirklicher Dissens zu dem, was Cohen sagt. Cohen sieht die semantische Relevanz der getroffenen Unterscheidung sehr wohl und räumt ausdrücklich ein, dass zum Beispiel die Bedeutung von „It is true that welfare is the sole ultimate good" nicht identisch sei mit der

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

Bedeutung von „We believe that welfare is the sole ultimate good". 32 Entscheidend für sein Argument ist, dass die bloße Berufung auf die Wahrheit eines moralischen Urteils, über das begründete Meinungsverschiedenheiten bestehen, zu dessen rationaler Begründung nichts beitragen kann. Aus der Perspektive derjenigen, die nicht zustimmen, lässt sie sich nicht vom Insistieren auf der schlichten Tatsache des eigenen Überzeugtseins unterscheiden. Es wird also nicht die semantische Identität der beiden Arten von Aussagen vorausgesetzt, sondern lediglich festgestellt, dass sie für die Begründung des in ihnen zum Ausdruck kommenden Wahrheitsanspruches gleichermaßen ungeeignet und insofern ununterscheidbar sind. Dies verstehe ich so: Sobald wir annehmen, dass über die Wahrheit oder Gültigkeit einer Norm N! begründete Meinungsverschiedenheiten bestehen, stellt sich die Frage, was einen Fundamentalisten rationalerweise berechtigt zu glauben, N! sei eine,wahre Norm' und N! nötigenfalls auch zwangsweise durchzusetzen. Er kann sich nicht auf die bloße Tatsache seines subjektiven Überzeugtseins berufen. Und ebenso wenig kann er sich auf Gründe berufen, die alle Beteiligten rationalerweise anzuerkennen hätten. Dies folgt daraus, dass wir ex hypothesi vom Bestehen begründeter Meinungsverschiedenheiten über die Gültigkeit von N! ausgehen. So muss aus der Sicht aller Beteiligten - einschließlich des Fundamentalisten - die Durchsetzung von N! rational ungerechtfertigt erscheinen, weil die Überzeugung, N! sei eine,wahre Norm' angesichts begründeter Meinungsverschiedenheiten über N! selbst rational unbegründet ist. Und dies gilt auch für den Fall, dass N! tatsächlich eine ,wahre Norm' sein sollte, was immer man darunter verstehen mag. Wir können uns die innere Widersprüchlichkeit einer zugleich rationalen und fundamentalistischen Konzeption der Gültigkeit oder Verbindlichkeit moralischer Urteile mithilfe einer nahe liegenden Unterscheidung zwischen zwei Verwendungsweisen des Prädikats „rational begründet" verdeutlichen. In einem schwachen Sinne können wir eine Überzeugung Ρ schon dann rational begründet nennen, wenn sich gute Gründe für Ρ anführen lassen,

Verteidigung des Autonomieprinzips

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und wenn wir Ρ in konsistenter Weise und in Übereinstimmung mit allgemein anerkannten Tatsachen für wahr halten können. Dazu muss es nicht möglich sein zu zeigen, dass die gegenteilige Überzeugung Nicht-P definitiv falsch ist: Dass sich gute Gründe für Ρ anführen lassen, schließt nicht aus, dass es ebensolche Gründe für Nicht-P gibt, und gute Gründe für Ρ sind nicht eo ipso ausschlaggebende Gründe gegen Nicht-P. Sagen wir deshalb, Ρ sei in einem starken Sinne erst dann rational begründet, wenn es nicht nur gute Gründe für P, sondern auch ausschlaggebende Gründe gegen Nicht-P gibt. Im schwachen Sinne können mehrere konträre Überzeugungen zugleich rational begründet sein, im starken Sinne nicht. In Bezug auf eine bestimmte moralische oder religiöse Überzeugung begründete Meinungsverschiedenheiten anzuerkennen, bedeutet dann nichts anderes als anzuerkennen, dass diese Überzeugung zum gegebenen Zeitpunkt nicht im starken Sinne gegenüber anderen moralischen Überzeugungen rational zu begründen ist. Fragen wir uns nun, ob ein Fundamentalist mit Blick auf die von ihm bejahten kontroversen Werte und Normen für sich in Anspruch nehmen kann, nicht nur zu glauben, sondern zu wissen, dass es sich bei ihnen um wahre Werte und Normen handelt. Ich denke: Er kann dies nicht. Wenn wir vom üblichen Verständnis ausgehen, dem zufolge Wissen in wohlbegründeten wahren Überzeugungen besteht, setzt moralisches Wissen im starken Sinne begründete moralische Überzeugungen voraus. Wäre es anders, könnten die im schwachen Sinne rational begründeten Überzeugungen Ρ und Nicht-P gleichermaßen Wissen sein, obwohl es keinen zwingenden Grund gibt, Ρ gegenüber Nicht-P für wahr zu halten. Wer jedoch weiß, dass Ρ wahr ist, muss einen ausschlaggebenden Grund haben, NichtP für falsch zu halten, und dieser Grund kann nicht die Wahrheit von Ρ selbst sein: Er muss also über eine starke rationale Begründung für Ρ verfügen. Die Konsequenz ist, dass in einer Situation, in der über moralische oder religiöse Normen und Werte begründete Meinungsverschiedenheiten bestehen, keine der involvierten Parteien für ihre im schwachen, aber nicht im

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Die öffentliche Rechtfertigung von Normen

starken Sinne rational begründeten Überzeugungen den Status moralischen Wissens reklamieren kann. 33 Dem Fundamentalisten bleibt deshalb nur die Wahl entweder zuzugeben, dass seine Überzeugung, N! sei eine wahre Norm, kein moralisches Wissen ist, in welchem Fall unklar wäre, aus welchem Grund N! gegenüber allen Beteiligten als verbindlich durchgesetzt werden dürfte; oder er muss vertreten, dass rationale Gründe für die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes moralischer Überzeugungen (das heißt für moralisches Wissen) gänzlich irrelevant sind und dass es angesichts der Bürden des Urteilens eine Frage des Zufalls sei, ob sich ,wahre moralische Erkenntnisse' rational begründen lassen oder nicht. Dies aber liefe darauf hinaus, dass ein Fundamentalist nicht nur das Autonomieprinzip leugnet, sondern allgemeiner die Möglichkeit rational begründeter moralischer Überzeugungen überhaupt. Damit aber zerschnitte er das für jede rationale moralische oder religiöse Lehre lebenswichtige Band zwischen moralischer Verbindlichkeit und rationaler Lebensorientierung. Dies zeigt sich u.a. darin, dass er nicht nur anderen, sondern nötigenfalls auch sich selbst zumutet, Normen zu befolgen, die sie (oder er) in voller Übereinstimmung mit den Geboten der Rationalität und Vernünftigkeit für falsch halten. Eben dies lässt seine Position unabhängig von ihren inhaltlich-moralischen Implikationen und unabhängig von ihren sozialen und politischen Konsequenzen rational inakzeptabel erscheinen. Aus diesem Grund können wir die fundamentalistische Position unangesehen ihrer unterstellten internen Konsistenz als zutiefst irrational zurückweisen, ohne bereits die Anerkennung des Autonomieprinzips vorauszusetzen. Wenn es um die öffentliche Rechtfertigung von gesellschaftlichen Normen und Institutionen geht, lautet die Zurückweisung des Grundsatzes „extra ecclesiam nulla salus" folglich nicht, dass er seinem Inhalte nach falsch sei, sondern dass er angesichts begründeter Meinungsverschiedenheiten über religiöse Fragen selbst im Falle seiner Wahrheit keine rationale Rechtfertigung für die Ausübung staatlicher Zwangsgewalt bieten kann. 34

Zusammenfassung

9.

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Zusammenfassung

Ausgehend von Rawls' Konzeption einer wohlgeordneten demokratischen Gesellschaft, deren Mitglieder einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen, wurde zunächst die Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Normen vorgestellt und erläutert. Die eine wohlgeordnete Gesellschaft regulierenden Normen müssen Normen sein, die alle Gesellschaftsmitglieder von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen rationalerweise anerkennen können. Die Mitglieder einer Gesellschaft nehmen einen öffentlichen Standpunkt ein, so haben wir gesagt, wenn sie anerkennen, dass nur solche Normen allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können, die von allen Beteiligten unter der Voraussetzung, dass alle anderen zustimmen, rationalerweise anerkannt werden können. Normen, die diese Konsensbedingung erfüllen, sind öffentlich gerechtfertigte Normen. Der Idee der öffentlichen Rechtfertigung liegt eine Konzeption individueller Selbstbestimmung zugrunde, die wir mithilfe eines Autonomieprinzips charakterisiert haben. Alle Gesellschaftsmitglieder haben demzufolge als freie und gleiche moralische Personen den gleichen Anspruch darauf, in Übereinstimmung mit ihren wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen zu leben. Wir sind dann der Frage nachgegangen, über welche Eigenschaften und Fähigkeiten Personen verfügen müssen, um als gleichberechtigte Adressaten öffentlicher Rechtfertigungen in Übereinstimmung mit dem Autonomieprinzip behandelt zu werden. Sie müssen moralische Personen im Rawls'schen Sinne sein, das heißt, sie müssen die beiden Grundvermögen (ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten und ihren Gerechtigkeitssinn) in dem für faire soziale Kooperation nötigen Maße entwickelt haben. Schließlich haben wir das mit dem Begriff der moralischen Person verbundene Autonomieprinzip gegen den Einwand verteidigt, nicht alle in pluralistischen Gesellschaften vertretenen Konzeptionen des Guten müssten bei der Rechtfertigung allge-

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Die öffentliche Rechtfertigung

von

Normen

mein verbindlicher Grundsätze und Normen gleichermaßen berücksichtigt werden. Unter der Voraussetzung, dass wir es ausschließlich mit vernünftigen Konzeptionen des Guten im Sinne der oben in Abschnitt 6 angeführten Bedingungen zu tun haben, haben alle den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer normativen Überzeugungen und Wertvorstellungen bei der Festlegung von Normen, auch wenn über deren Wahrheit oder Richtigkeit begründete Meinungsverschiedenheiten bestehen. Für die öffentliche Rechtfertigung von Gerechtigkeitsgrundsätzen bedeutet dies, dass sie von Prämissen ausgehen muss, die von allen vernünftigen Konzeptionen des Guten gestützt werden und gegen die sich auf der Grundlage keiner dieser Konzeptionen begründete Einwände formulieren lassen. In den folgenden vier Kapiteln soll nun untersucht werden, welche Konsequenzen sich im Hinblick auf die gesellschaftliche Verteilung materieller Güter und Ressourcen aus der Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Normen ergeben.

6.

Kapitel:

Bedarfsbezogene moralische Ansprüche 1. Gütergleichheit

als Basis

Eine für die öffentliche Rechtfertigung distributiver Grundsätze wesentliche Prämisse ist die Annahme, dass unter freien und gleichen moralischen Personen Ungleichverteilungen von Gütern, anders als Gleichverteilungen, grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig sind. Prima facie haben alle Gesellschaftsmitglieder den gleichen Anspruch auf für sie vorteilhafte Güterzuteilungen; solange keine besonderen Gründe, anders zu verfahren, vorliegen, müssen deshalb alle kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen gleich verteilt werden. Die Gleichverteilung ist gewissermaßen die Default-Option öffentlich gerechtfertigter Güterverteilungen, die dann zu realisieren ist, wenn keine allgemein anzuerkennenden Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen namhaft gemacht werden können. Wir können uns die Sonderstellung der Gleichverteilung unter allen realisierbaren Güterverteilungen anhand reiner Verteilungsprobleme veranschaulichen, bei denen es darum geht, eine gegebene Menge von Gütern an eine Gruppe von Personen aufzuteilen, von denen keine an der Produktion oder Bereitstellung der zu verteilenden Güter beteiligt war. Das klassische Beispiel ist die Mutter, die einen Kuchen für ihre Kinder und deren Freunde aufteilt und jedem ein gleich großes Stück zukommen lässt: Es lassen sich viele Beispiele denken, in denen ein Kuchen ungleich aufgeteilt werden muss, wenn es nicht zu Ungerechtigkeiten kommen soll. Wir nehmen aber an, dass alle Kinder, was den Kuchen betrifft, ähnliche Bedürfnisse und Präferenzen haben, und keines von ihnen war an der Herstel-

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Bedarfsbezogene

moralische

Ansprüche

lung des Kuchens beteiligt oder hat sich auf andere Weise im Vorhinein besondere Ansprüche erworben. Welche Gründe könnte es für die Mutter unter diesen Voraussetzungen geben, einem Kind ein größeres oder kleineres Kuchenstück zukommen zu lassen, wenn wir eventuelle Vorlieben und Abneigungen der Mutter als fragwürdige Verteilungsgesichtspunkte außer Acht lassen? Ein wichtiger Grund dafür, der Gütergleichheit unter den moralisch zulässigen Güterverteilungen eine Sonderstellung einzuräumen, ist die Forderung der Universalisierbarkeit für moralische Urteile. Eine gerechte Güterverteilung zeichnet sich dadurch aus, dass jeder genau den Anteil erhält, der ihm unter Berücksichtigung aller moralisch relevanten Gesichtspunkte zusteht. Da nun wegen der Universalisierbarkeit gleiche Fälle gleich behandelt und mithin auf alle dieselben Kriterien angewendet werden müssen, können zwei Personen gerechterweise nur dann unterschiedliche Güteranteile zugesprochen werden, wenn sie sich in irgendeiner relevanten Hinsicht unterscheiden, zum Beispiel durch besondere Präferenzen und Bedürfnisse oder durch ihre unterschiedlichen Beiträge zur Produktion der zu verteilenden Güter. In Abwesenheit besonderer Gründe dafür, Güter ungleich zu verteilen, zwingt uns die Anforderung der Universalisierbarkeit wie es scheint zusammen mit der Idee der öffentlichen Rechtfertigung eine Gleichverteilung anzustreben.1

2. Rechtfertigungsgründe

für

Ungleichverteilungen

Nun stellt die gerechte Verteilung kollektiv verfügbarer Güter kein reines Verteilungsproblem dar. Zum einen gibt es in jeder Gesellschaft Mitglieder, die aufgrund einer besonderen Bedürftigkeit (zum Beispiel durch Krankheiten oder Behinderungen) in der einen oder anderen Form auf die zeitweilige oder dauerhafte materielle Unterstützung durch andere angewiesen sind. Zum anderen geht es darum, gesellschaftlich produzierte Güter und nutzbar gemachte Ressourcen zu verteilen, so dass wir mit

Rechtfertigungsgründe

für Ungleichverteilungen

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leistungsbezogenen Ansprüchen auf größere als gleiche Güterzuteilungen rechnen müssen. Es ist intuitiv plausibel und entspricht dem moralischen Common Sense, denjenigen größere Anteile zuzuerkennen, die bei der gemeinsamen Güterproduktion größere Mühen auf sich genommen oder im Ergebnis größere Leistungen erbracht haben. Anders als bei einem reinen Verteilungsproblem ist die strikte Gleichverteilung der in einer Gesellschaft verfügbaren Güter mit Blick auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Leistungen der Gesellschaftsmitglieder keine mehr oder weniger triviale Implikation ihrer formellen Gleichberechtigung als moralische Personen. Um zu beurteilen, welche Güterverteilungen sich in einer Gesellschaft öffentlich rechtfertigen lassen, müssen wir überprüfen, welche Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen von einem öffentlichen Standpunkt aus zu berücksichtigen sind. Soweit ich sehen kann, lassen sich drei Arten von potenziellen Rechtfertigungsgründen angeben: (1) bedarfsbezogene moralische Ansprüche, (2) leistungsbezogene moralische Ansprüche und (3) prudenzielle Gründe. Bedarfsbezogene Gründe für Ungleichverteilungen ergeben sich daraus, dass nicht alle Gesellschaftsmitglieder dieselben Bedürfnisse und Präferenzen haben und dass sie verschiedene Güter unterschiedlich dringend benötigen, um ihre persönlichen Lebensvorstellungen und Dinge, die allgemein als erstrebenswert angesehen werden, zu realisieren. So erscheint es prinzipiell denkbar, kollektiv verfügbare Güter und Ressourcen ungleich zu verteilen, um auf diese Weise allen Gesellschaftsmitgliedern zu ermöglichen, ihre Bedürfnisse in gleichem Maße zu befriedigen. Ein vertrautes Beispiel für bedarfsbezogene Rechtfertigungen von Ungleichverteilungen von Gütern sind die allgemein anerkannten Ansprüche Kranker und Behinderter, die häufig mehr Ressourcen und wertvollere Güter (zum Beispiel teure Medikamente und aufwendige medizinische Apparate) als durchschnittlich Gesunde benötigen, um eine vergleichbare Stufe persönlichen Wohlergehens zu erreichen. Von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen erscheinen bedarfsbezogene Ansprüche begründet,

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

wenn die Tatsache, dass eine Person bestimmte Güter benötigt, von allen Beteiligten als Grund anerkannt wird, ihr diese Güter nötigenfalls auch ohne Gegenleistung zukommen zu lassen. Bedarfsbezogene Ansprüche können differenzielle Güterzuteilungen rechtfertigen, wenn sich zeigt, dass Personen aufgrund ihrer verschiedenen Bedürfnisse oder Präferenzen dieselben Güter unterschiedlich dringend benötigen. Leistungsbezogene moralische Ansprüche müssen im Rahmen einer Theorie sozialer Gerechtigkeit diskutiert werden, weil Personen, die sich an einem System sozialer Kooperation zur Güterproduktion beteiligen, aufgrund ihrer produktiven Beiträge faire Anteile an den Erträgen der gemeinsamen Anstrengungen fordern können. Es entspricht einer weit verbreiteten Auffassung, dass größeren persönlichen Leistungen moralische Ansprüche auf größere Gegenleistungen oder Entlohnungen korrespondieren. Der Anteil an den gemeinsam produzierten Gütern, den eine Person gerechterweise für sich reklamieren kann, sollte sich dieser Auffassung zufolge daran bemessen, welches Verdienst sich jemand durch Art und Umfang seiner Beiträge zum System sozialer Kooperation erworben hat. Anders als bedarfsbezogene Ansprüche beruhen leistungsbezogene Ansprüche auf Vor- oder Gegenleistungen. Ungleichverteilungen können sie dann rechtfertigen, wenn sich die Beiträge der Beteiligten zur gesellschaftlichen Güterproduktion nach allgemein anerkannten Wertmaßstäben hinreichend deutlich unterscheiden und wenn es möglich ist, einer Person die von ihr geleisteten Beiträge als ein persönliches Verdienst zuzurechnen. Begründete bedarfs- und leistungsbezogene Ansprüche auf einen größeren als gleichen Anteil an Gütern sind genuin moralische Rechtfertigungsgründe: Sie rechtfertigen Ungleichverteilungen unabhängig davon, ob diese mit irgendwelchen Vorteilen für andere verbunden sind oder nicht. So sind wir moralisch verpflichtet, die begründeten bedarfsbezogenen Ansprüche Behinderter zu erfüllen, auch wenn dies nur unter erheblichen Kosten für alle Nicht-Behinderten möglich sein mag. Und wenn es zuträfe, dass größere produktive Leistungen

Ausblick auf den weiteren Argumentationsgang

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größere Entlohnungen rechtfertigten, dann müssten diese gewährt werden, auch wenn sich dadurch die Einkommen der weniger Produktiven spürbar verringerten. In dieser Hinsicht unterscheiden sich bedarfs- und leistungsbezogene Ansprüche von prudenziellen Gründen für Ungleichverteilungen. Aus prudenziellen Gründen sind Ungleichverteilungen von Gütern öffentlich gerechtfertigt, wenn alle Beteiligten ihnen im Lichte ihrer rationalen persönlichen Präferenzen und Interessen zustimmen können; so hat eine Person zum Beispiel dann einen prudenziellen Grund eine ungleiche Einkommensverteilung zu akzeptieren, wenn dies mit persönlichen Vorteilen für sie selbst oder ihr nahe stehende Personen verbunden ist. Eine wichtige Möglichkeit der prudenziellen Rechtfertigung von ungleichen Güter- oder Einkommensverteilungen, die für die Begründung des Differenzprinzips eine entscheidende Rolle spielt, ergibt sich daraus, dass die Erwartung, durch größere Produktivität ein größeres Einkommen zu erzielen, vielen einen Anreiz bietet, die eigene Produktivität zu steigern. Die Menge der insgesamt verfügbaren Güter wird deshalb bei leistungsbezogen differenzierten Einkommen größer sein als bei für alle gleichen Einkommen. Wenn das durch diese Produktivitätssteigerung erzielte Mehrprodukt ausreichend groß ist und die zum Aufbau der Anreizstruktur nötigen Mittel übersteigt, können prinzipiell alle von Ungleichheiten profitieren. Ein Teil des Mehrprodukts kann an die weniger produktiven Gesellschaftsmitglieder übergeben werden, so dass auch sie einen Anteil erhalten, der größer ist als derjenige, den sie bei einer avisierten Gleichverteilung erhielten.2

3. Ausblick auf den weiteren Argumentationsgang In diesem und im nächsten Kapitel soll zunächst das Problem bedarfsorientierter Güterzuteilungen diskutiert werden. Zu klären ist insbesondere, unter welchen Bedingungen differenzielle bedarfsbezogene Ansprüche Einzelner vom öffentlichen Standpunkt aus gerechtfertigt erscheinen und welche Bedeutung sol-

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

chen Ansprüchen bei der Identifikation oberster Grundsätze sozialer Gerechtigkeit zukommt. Zunächst sollen in diesem Kapitel die allgemeinen Merkmale begründeter bedarfsbezogener Ansprüche anhand des Sonderfalls der sozialen Unterstützung von Personen in Notlagen erörtert werden. Anschließend wird diese Analyse in Kapitel 7 verallgemeinert und dazu genutzt, in Auseinandersetzung mit alternativen Konzeptionen ein allgemeines Kriterium dafür zu formulieren, wann die Mitglieder einer Gesellschaft unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen bedarfsbezogenen Ansprüche als materialiter gleichgestellt zu betrachten sind. Es folgt in Kapitel 8 eine kritische Erörterung leistungsbezogener moralischer Ansprüche auf größere als gleiche Güteranteile. Sie zeigt, aus welchen Gründen, entgegen dem ersten Anschein, die unterschiedliche Produktivität verschiedener Personen in pluralistischen und arbeitsteiligen Gesellschaften kein allgemein gültiges moralisches Kriterium für die Verteilung der gemeinsam produzierten Güter bieten kann. In Kapitel 9 wird schließlich die Begründung des Differenzprinzips gegeben. Mithilfe prudenzieller Gründe lassen sich Ungleichverteilungen von Gütern nur dann öffentlich rechtfertigen, wenn sie mit Vorteilen für alle Beteiligten verbunden sind, und die Begründung des Differenzprinzips besteht darin zu zeigen, warum nur Maximin-Einkommensverteilungen die Bedingung allseitiger Vorteile erfüllen.

4. Hilfe in

Notlagen

Die allgemeinen Merkmale begründeter bedarfsbezogener Ansprüche können wir uns am Sonderfall der Ansprüche auf Hilfe in Notlagen vergegenwärtigen. Es wird weithin anerkannt, dass Personen, die sich in bestimmten Arten von Notlagen befinden, einen moralischen Anspruch auf materielle und persönliche Unterstützung haben. Dies gilt für die Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und Kriegen ebenso wie für Arbeitslose, Kranke und Behinderte. In allen diesen Fällen entstehen

Hilfe in Notlagen

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begründete bedarfsorientierte Ansprüche, unabhängig davon, ob die von der Notlage Betroffenen jetzt oder später zu Gegenleistungen in der Lage sind oder nicht. Welche konkreten Ansprüche jemand in einer bestimmten Situation geltend machen kann, hängt von seinen persönlichen Lebensumständen und der Art der bestehenden Notlage ab. Angeborene körperliche oder geistige Behinderungen lassen andere Forderungen berechtigt erscheinen als vorübergehende Erkrankungen, und dauerhaft Arbeitslose sind auf eine umfassendere soziale Unterstützung angewiesen als Personen, die nur vorübergehend ohne Anstellung sind. 3 Für die Beurteilung bedarfsbezogener Ansprüche, wie sie aus Notlagen entstehen, ist nicht nur die Art der jeweils vorliegenden Hilfsbedürftigkeit von Bedeutung. Wichtig ist auch, aus welchen Gründen eine Person in Not geraten ist - ob mit oder ohne eigenes Verschulden - , und ebenso muss berücksichtigt werden, welche Aussichten für sie bestehen, sich ohne fremde Unterstützung selbst zu helfen. Im Folgenden sollen Fragen wie diese, die um das Problem der persönlichen Verantwortung für Notlagen kreisen, jedoch weitgehend ausgeklammert werden. Zum einen würden sie uns zu weit vom Weg abführen: Es geht uns zunächst lediglich um eine Klärung der wichtigsten Voraussetzungen zur Begründung des Differenzprinzips. Zum anderen geraten viele Menschen ohne eigenes Verschulden in Not, und selbst diejenigen, die für ihre Schwierigkeiten mit- oder alleinverantwortlich sind, haben dessen ungeachtet häufig einen begründeten Anspruch auf unsere Hilfe. Auch wenn wir also vom Common Sense geleitet annehmen, dass die Eigenverantwortung der von einer Notlage Betroffenen in vielen Fällen zu einer Minderung ihrer Ansprüche gegen andere führt, ist es sinnvoll, in einem ersten Schritt zu klären, welche Ansprüche bestehen, wenn keine Anspruchsminderungen durch Eigenverschulden zu berücksichtigen sind. Zunächst einmal benötigen wir eine genauere Explikation dessen, was wir unter einer Notlage verstehen. Da wir nach den Gründen für bedarfsbezogene Ansprüche fragen, muss die ge-

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

suchte Explikation vom öffentlichen Standpunkt aus gesehen gerechtfertigt erscheinen, das heißt sie darf nur solche Situationen als Notlage qualifizieren, deren allgemeine Merkmale es allen Beteiligten gegenüber gerechtfertigt erscheinen lassen, Ansprüche auf soziale Unterstützung geltend zu machen. Schwierige Lebenssituationen, die diese Bedingung erfüllen, bezeichne ich als öffentlich anerkannte resp. öffentlich anzuerkennende Notlagen, je nachdem, ob bereits ein allgemeiner Konsens besteht oder ob er durch rationale Argumentation herbeigeführt werden kann. Notlagen entstehen durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren. Allgemein lassen sie sich allenfalls dadurch beschreiben, dass sie die Lebens- oder Handlungsfähigkeit eines Menschen in mehr oder weniger gravierender Weise einschränken und den Betroffenen daran hindern, Dinge zu realisieren, von denen allgemein anerkannt wird, dass sie wichtig und für das Leben eines Menschen von Bedeutung sind. Angesichts der Verschiedenartigkeit von Lebenssituationen, die öffentlich anerkannte Notlagen darstellen, erscheint es wenig sinnvoll, diesen Begriff mithilfe einer Reihe von äußeren Merkmalen definieren zu wollen. Es gibt keine Klasse von Merkmalen, durch die sich Notlagen insgesamt auszeichnen würden, auf die wir zum Zwecke einer Definition zurückgreifen könnten. Ein frühgeborener Säugling mit Herzrhythmusstörungen ist ebenso in Not wie ein Asylbewerber oder eine Frau, die keine Anstellung findet und nicht weiß, wie sie ihre Familie ernähren soll. Sagen wir in einer ersten Annäherung, eine öffentlich anerkannte Notlage liege vor, wenn eine Person aufgrund besonderer Umstände ohne fremde Hilfe Dinge nicht realisieren kann, die erstens für sie selbst vor dem Hintergrund ihrer Bedürfnisse und Präferenzen wichtig sind, und deren Wert für die betroffene Person zweitens von keinem Beteiligten unangesehen seiner persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen vernünftigerweise bestritten wird. Alle vertrauten Beispiele für Notlagen erfüllen diese beiden Bedingungen. Stets geht es darum, dass durch eine Notlage die Realisation eines Wertes behindert oder unmöglich gemacht wird, dem nicht nur aus der Perspektive der Betroffe-

Notlagen und begründete moralische

Ansprüche

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nen große Bedeutung zukommt, sondern ebenso aus der Sicht aller derjenigen, die in einer konkreten Situation zur Hilfe aufgerufen sind.

5. Notlagen und begründete moralische

Ansprüche

Nun können Notlagen offenbar auch dann bestehen, wenn es keine Aussicht auf Hilfe gibt, weil niemand, allein oder mit anderen, in der Lage wäre, die nötige Unterstützung zu leisten. In einer solchen Situation erkennen die Beteiligten zwar an, dass es für sie einen Grund gibt, der in Not befindlichen Person zu helfen. Dieser Grund führt aber nicht zu entsprechenden moralischen Ansprüchen der in Not befindlichen Person gegen sie. Wer eine begründete moralische Forderung nicht erfüllt, obwohl er nach Lage der Dinge dazu fähig wäre, verhält sich moralisch falsch. Wer nicht hilft, weil er aufgrund der empirischen Umstände dazu nicht in der Lage ist, dagegen nicht. Begründete moralische Ansprüche entstehen deshalb nur unter der Bedingung, dass es den zur Hilfe aufgeforderten Personen unter den gegebenen Umständen de facto möglich ist, die nötige Unterstützung zu leisten. Dies ist jedoch nicht die einzige Bedingung, die erfüllt sein muss, damit Notlagen zu begründeten Ansprüchen führen. Hinzu kommen mindestens zwei weitere Bedingungen, die sich aus der Idee der öffentlichen Rechtfertigung ergeben. So muss es den zur Hilfe aufgeforderten Personen faktisch möglich sein, der in Not befindlichen Person zu helfen, ohne dass sie selbst oder andere in dieselbe oder eine vergleichbare Notlage geraten wie die betroffene Person. So hat zum Beispiel kein Mensch, sofern keine besonderen Umstände vorliegen, einen moralischen Anspruch darauf, dass andere ihr Leben opfern, um das seine zu retten. Von den beiden Schiffbrüchigen, die sich im Meer an eine für beide zusammen zu kleine Planke klammern, kann keiner moralisch fordern, dass der andere die Planke freigebe, um ihm eine Überlebenschance zu bieten.

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

Eine weitere Bedingung ergibt sich daraus, dass moralisch gerechtfertigte Ansprüche ihrem Wesen nach universalisierbare Ansprüche sind. Sie begründen allgemein gültige Forderungen in dem Sinne, dass die Anerkennung einer Forderung in einem konkreten Fall impliziert, dass dieselbe Forderung in allen Fällen, die sich durch dieselben allgemeinen Merkmale auszeichnen, ebenfalls anerkannt werden muss. Dies bedeutet, dass sich die Art und das Ausmaß der Unterstützung, die jemand in einer Notlage begründetermaßen für sich beanspruchen kann, daran bemisst, ob es mit Blick auf die insgesamt zur Verfügung stehenden Ressourcen möglich ist, in allen vergleichbaren Fällen dieselbe Unterstützung zu gewähren. Aus der Perspektive jedes Einzelnen mag es so scheinen, als seien die kollektiv verfügbaren Mittel zu seiner Unterstützung praktisch unbegrenzt. Vom öffentlichen Standpunkt jedoch stellen sie ein überaus knappes Gut dar, für das jeder nur so viel für sich beanspruchen kann, wie ihm zur Verfügung stünde, wenn die aus Notlagen resultierenden bedarfsbezogenen Ansprüche aller anderen Gesellschaftsmitglieder mit gleichem Gewicht berücksichtigt würden. Die mit der Hilfeleistung verbundenen Lasten dürfen deshalb nicht so groß sein, dass es kollektiv unmöglich wäre, allen anderen, die sich in vergleichbaren oder schlimmeren Notlagen befinden, ebenfalls zu helfen. Da nun die kollektiv verfügbaren Ressourcen stets begrenzt sind, müssen wir davon ausgehen, dass sich Personen in Notlagen befinden können, ohne einen moralischen Anspruch auf Unterstützung durch andere zu haben. Hinzu kommt, dass aus der Perspektive jedes Einzelnen aufgrund der Allgemeingültigkeit begründeter Ansprüche ein tradeoff besteht zwischen dem Wunsch nach größtmöglicher Unterstützung durch andere einerseits und dem Wunsch, nicht übermäßig durch andere in Anspruch genommen zu werden, andererseits. Mit einiger Umsicht wird niemand, der sich in einer schwierigen Situation befindet, Ansprüche gegen andere geltend machen, die in anderen Situationen Forderungen gegen ihn selbst begründen können, die er als überzogen betrachten würde.

Die subjektive Wahrnehmung

von Notlagen

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6. Die subjektive Wahrnehmung von Notlagen Notlagen haben eine objektive und eine subjektive Seite. Die objektive Seite betrifft die äußeren empirischen Merkmale der persönlichen und sozialen Lebensumstände einer Person: ihr Alter und Geschlecht, ihren Gesundheitszustand, ihre soziale Stellung, die ihr verfügbaren Güter und Ressourcen und Ähnliches mehr. Die subjektive Seite betrifft die Wahrnehmung und Beurteilung einer Situation als mehr oder weniger einschränkend, bedrückend oder gefährlich durch die betroffene Person selbst. Nun ist es erfahrungsgemäß so, dass verschiedene Menschen ähnliche und auch gleiche Lebenssituationen sehr unterschiedlich wahrnehmen und beurteilen. Es stellt sich deshalb die Frage, welche Bedeutung der subjektiven Einschätzung einer Situation als Notlage für die Beurteilung bedarfsbezogener Ansprüche vom öffentlichen Standpunkt aus zukommt. Wie schwierige Lebenssituationen von den Betroffenen subjektiv wahrgenommen und empfunden werden, hängt vor allem von ihren persönlichen Bedürfnissen, Präferenzen und Überzeugungen ab. Ob sich jemand in einer Notlage im moralisch relevanten - das heißt im Ansprüche begründenden - Sinne befindet oder nicht, ist dagegen keine Frage persönlicher Überzeugungen und Präferenzen. Öffentlich anzuerkennende Notlagen sind nur solche Situationen, in denen eine Person objektiv daran gehindert ist, Dinge zu realisieren, von denen allgemein angenommen wird, dass sie für das Leben eines Menschen von großer Bedeutung sind. Wer die den öffentlichen Standpunkt definierende Konsensbedingung anerkennt, wird deshalb Ansprüche auf materielle oder persönliche Unterstützung guten Glaubens nur dann geltend machen, wenn er nach bestem Wissen seine Situation selbst als eine öffentlich anzuerkennende Notlage beurteilt und davon überzeugt ist, dass andere nach gebührendem Überlegen zu demselben Ergebnis kommen würden. Die subjektive Wahrnehmung einer Situation als Notlage durch den Betroffenen ist jedoch keine notwendige Bedingung für bedarfsbezogene Ansprüche. Nicht immer ist die von einer

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

Notlage betroffene Person selbst in der Lage zu erkennen, in welcher Situation sie sich befindet - denken wir an Kinder, geistig Verwirrte oder schlicht an jedermann, der, aus welchen Gründen auch immer, seine Lebenssituation nicht hinreichend überschaut - , und wir haben in Kapitel 5.4 gesehen, dass vom öffentlichen Standpunkt aus berechtigte moralische Ansprüche auch dann bestehen können, wenn die Träger dieser Ansprüche dies selber nicht wissen. Ein Problem ergibt sich daraus, dass Personen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen, Einstellungen und Überzeugungen gelegentlich Situationen subjektiv als Notlagen wahrnehmen und Ansprüche auf Unterstützung geltend machen, die von den anderen Beteiligten nicht in derselben Weise beurteilt werden. Wer einen aufwendigen Lebenswandel gewohnt ist, mag es als unzumutbare Einschränkung empfinden, wenn er nach Verlust seines Vermögens auf Champagner und Kaviar verzichten oder zu Fuß gehen muss. Und ängstliche Menschen fühlen sich häufig in Situationen bedroht und in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt, die von ihren Mitmenschen als harmlos eingeschätzt werden. Die subjektive Wahrnehmung einer Situation als Notlage ist keine hinreichende Bedingung dafür, dass tatsächlich eine Notlage vorliegt. 4 Wie kann angesichts der unterschiedlichen Wahrnehmung und der divergierenden Beurteilung von Lebenssituationen durch verschiedene Personen ein allgemeiner begründeter Konsens darüber zustande kommen, welche Situationen als Notlagen im relevanten, das heißt Ansprüche begründenden Sinne zu betrachten sind? Die öffentliche Rechtfertigung bedarfsbezogener Ansprüche, wie sie sich aus Notlagen ergeben, setzt genauer betrachtet einen begründeten Konsens auf zwei Ebenen voraus. Die Beteiligten müssen erstens darin übereinstimmen, dass eine Person mit Blick auf ihre konkreten Lebensumstände tatsächlich in ihren Lebens- und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt ist. Dies betrifft die empirisch-objektive Seite des Begriffs der Notlage und lässt sich in der Regel mit mehr oder weniger

Sechs Bedingungen

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großem Aufwand in konsensfähiger Weise intersubjektiv überprüfen. Zweitens müssen alle Beteiligten darin übereinstimmen, dass die empirisch festgestellten Einschränkungen die betroffenen Personen daran hindern, Dinge zu realisieren, die nicht nur aus ihrer persönlichen Perspektive Bedeutung haben, sondern deren Wert von allen Beteiligten anerkannt wird und allen einen Grund bietet, die notwendige Unterstützung zu gewähren. Dies betrifft die normativ evaluative Seite des Begriffs der Notlage und führt zum Problem der Begründung von öffentlich anzuerkennenden Werten. Darauf komme ich im vorletzten Abschnitt dieses Kapitels zurück. Zunächst sollen die am Leitfaden unserer intuitiven Vorstellungen eingeführten Bedingungen für begründete moralische Ansprüche auf Hilfe in Notlagen etwas präziser gefasst und noch einmal im Zusammenhang betrachtet werden. 7. Sechs

Bedingungen

Ich schlage vor, unsere intuitiven Vorstellungen über öffentlich anzuerkennende moralische Ansprüche auf Hilfe in Notlagen durch sechs Bedingungen genauer zu fassen. Sagen wir, eine Person Ρ sei in einer Situation S daran gehindert, einen Zustand Ζ zu realisieren. Folgende sechs Bedingungen müssen dann erfüllt sein, damit wir sagen können, Ρ habe einen begründeten moralischen Anspruch auf die Unterstützung einer zweiten Person Q bei der Realisation von Z: 5 B-l: B-2: B-3: B-4:

Ρ kann Ζ nicht ohne fremde Hilfe realisieren. Ρ kann Ζ mit Q's Hilfe realisieren. Ζ ist für Ρ rational erstrebenswert. Es ist für Q vom öffentlichen Standpunkt aus rational erstrebenswert, dass Ρ Ζ realisieren kann. B-5: Die für Q mit der Unterstützung von Ρ verbundenen Opfer sind geringer als der Wert von Ζ für Ρ und Q. B-6: Q kann allen anderen, die von ihm Hilfe benötigen, um Ζ zu realisieren, ebenfalls helfen.

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

B-l und B-2 sind notwendige Bedingungen für das Bestehen begründeter bedarfsbezogener Ansprüche in dem elementaren Sinne, dass nur, wenn diese Bedingungen erfüllt sind, Ρ tatsächlich Hilfe benötigt, um Ζ zu realisieren, und Q tatsächlich in der Lage ist, die benötigte Unterstützung zu gewähren. Interessanter sind die Bedingungen B-3 und B-4. Eine notwendige Bedingung dafür, dass wir sagen können, eine Person Ρ befinde sich in einer Notlage, ist, dass Ρ in der betreffenden Situation aufgrund der gegebenen Umstände daran gehindert ist, einen Zustand Ζ zu realisieren, der vor dem Hintergrund von P's Bedürfnissen und Präferenzen rational erstrebenswert erscheint (B-3). Wer aus religiösen Gründen fastet und freiwillig die damit womöglich verbundenen gesundheitlichen Gefahren in Kauf nimmt, befindet sich nicht in einer Notlage, anders als derjenige, der unfreiwillig Hunger leidet, weil er keine Möglichkeit hat, sich Nahrungsmittel zu verschaffen. Die Beschreibung einer Situation als Notlage im moralisch relevanten Sinne ist insofern von subjektiven Komponenten abhängig. Ihren äußeren Merkmalen nach identische Situationen können für verschiedene Personen, je nach ihren konkreten Bedürfnissen und Präferenzen, Notlagen darstellen oder nicht. So wenig sinnvoll es wäre, einem freiwillig fastenden Yogi Lebensmittelspenden aufzuzwingen, so gedankenlos wäre es, Hilfsbedürftigen Nahrungsmittel zu verweigern, weil Hungerkünstler ohne sie auskommen wollen. Dass der Begriff der Notlage eine subjektive Komponente einschließt, bedeutet indes nicht, dass es eine Frage der subjektiven Wahrnehmung einer Situation als Notlage durch die betroffene Person ist, ob tatsächlich eine Notlage vorliegt oder nicht. Jemand mag glauben, er befände sich in einer Notlage, obwohl dies nicht zutrifft; und jemand mag nicht in der Lage sein zu erkennen, dass er sich in Not befindet. Die Qualifikation „rational" in B-3 soll ausschließen, dass wir einem anderen helfen müssen, Dinge zu tun, die ihm aus seiner Sicht schaden würden oder die er nach gebührender Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen nicht für erstre-

Sechs Bedingungen

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benswert hielte. Sie ist darüber hinaus vereinbar damit, dass auch dann bedarfsbezogene Ansprüche bestehen, wenn die hilfsbedürftige Person dies selber nicht weiß. B-3 ist insofern mit einem schwachen Paternalismus vereinbar. Darauf komme ich im nächsten Abschnitt zurück. Die Bedingung stellt auch sicher, dass der Wert, um dessen Realisierung es bei der Hilfe geht (Gesundheit, Ernährung, Behausung), von allen Beteiligten in dem schwachen Sinne anerkannt ist, dass sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen normativen Überzeugungen glauben, man könne den Wert rationalerweise bejahen, und zwar auch dann, wenn sie selber de facto diesen Wert nicht für sich realisieren wollen. B-4 fordert, dass die Realisation von Ζ durch Ρ auch für Q bei einer unparteiischen Berücksichtigung aller Interessen, wie sie vom öffentlichen Standpunkt aus notwendig ist, einen positiven Wert haben muss (zunächst einmal unabhängig davon betrachtet, welche Opfer für Q damit verbunden sind, Ρ bei der Realisation von Ζ zu helfen). So ist niemand verpflichtet, anderen zu helfen, Dinge zu realisieren, die er selbst auch bei unparteiischer Betrachtung entweder (1) begründetermaßen für unmoralisch hält oder (2) begründetermaßen ablehnt, obwohl er sie nicht für unmoralisch hält, oder (3) nach gebührendem Überlegen zwar nicht ausdrücklich ablehnt, aber für wertlos hält. B-4 impliziert dagegen nicht, dass Q glaubt, Ζ sei auch für ihn selbst oder, allgemeiner, für alle Menschen rational erstrebenswert. Die Tatsache, dass es Hungerkünstler gibt, schließt nicht aus, dass Menschen, die nicht verhungern wollen, in Not geraten, wenn sie sich aus eigener Kraft keine Nahrungsmittel verschaffen können. Der für das Bestehen begründeter bedarfsbezogener Ansprüche notwendige Konsens muss kein Konsens darüber sein, dass bestimmte Güter für alle Menschen gleichermaßen erstrebenswert sind. Die Bedingungen B-5 und B-6 sollen hier nur kurz erwähnt werden. Sie ergeben sich aus dem Gedanken der Universalisierbarkeit moralischer Ansprüche. B-5 schließt aus, dass Q verpflichtet ist, Ρ zu helfen, wenn der Wert ihrer Hilfeleistung

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

für Ρ geringer ist als die mit ihr verbundenen Opfer für Q. So ist zum Beispiel niemand verpflichtet, sein Leben zu opfern, um das Eigentum oder das Leben eines anderen zu retten. B-6 schließlich stellt fest, dass niemand einen unqualifizierten moralischen Anspruch auf Hilfeleistungen hat, wenn es andere Personen gibt, die gleichermaßen hilfsbedürftig sind, und nicht allen Personen geholfen werden kann. In diesem Fall ist Q verpflichtet, die ihm faktisch mögliche Hilfe zu leisten, das heißt so vielen hilfsbedürftigen Personen zu helfen wie möglich. Wem Q helfen sollte und wem nicht ist unter dieser Voraussetzung ohne zusätzliche Informationen nicht auszumachen. 6 Eine öffentlich anzuerkennende Notlage liegt demnach genau dann vor, wenn eine Person nicht aus eigener Kraft in der Lage ist, einen für sie rationalerweise erstrebenswerten Zustand Ζ zu realisieren und wenn die zur Hilfe aufgeforderten Personen die Realisation von Ζ durch Ρ von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen für rationalerweise erstrebenswert halten. Wenn dies der Fall ist (und nur dann) stellt die Realisation von Ζ durch Ρ einen öffentlich anerkannten oder kurz: einen öffentlichen Wert dar. Für die Beurteilung bedarfsbezogener moralischer Ansprüche gilt deshalb, dass solche Ansprüche genau dann gerechtfertigt und öffentlich anzuerkennen sind, wenn sie sich auf einen (oder mehrere) öffentlich anerkannte(n) Wert(e) stützen können, das heißt auf Werte, von denen alle Gesellschaftsmitglieder, sofern sie sich den öffentlichen Standpunkt zu Eigen machen, glauben, dass jederman (notfalls mit Unterstützung anderer) in der Lage sein sollte, sie zu realisieren.

8. Paternalistische

Hilfe

Als Paternalismus bezeichne ich die Auffassung, dass es unter geeigneten Umständen moralisch gerechtfertigt sein könne, sich im Verhalten anderen gegenüber nicht an ihren geäußerten Wünschen und Präferenzen zu orientieren, sondern an dem, was aus der Perspektive des Wohlmeinenden wahrhaft gut und

Paternalistische Hilfe

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wünschenswert für sie wäre. Ein schwacher Paternalismus liegt vor, wenn man den Begriff des für eine Person wahrhaft Guten so definiert, dass es mit demjenigen zusammenfällt, was die betreffende Person für sich de facto wünschen würde, wenn sie ihr eigenes Wohl frei von äußeren und inneren Zwängen unter Berücksichtigung aller dafür relevanten Tatsachen rational erwägen würde. Der schwache Paternalismus hält Handlungen im Namen des für eine Person wahrhaft Guten, wie es sich ihr selbst nach wohlerwogenem Überlegen darstellen würde, für moralisch gerechtfertigt, auch wenn sie den von ihr faktisch geäußerten Wünschen widersprechen. Jemand, der im schwachen Sinne paternalistisch handelt, rechtfertigt sein Handeln auf der Grundlage einer Prognose darüber, was die betreffende Person selbst unter für rationale Urteilsbildung günstigeren Bedingungen für sich wünschen und anstreben würde. 7 Der schwache Paternalismus bringt eine Reihe moralischer Probleme mit sich. Vor allem bedeutet er einen gravierenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht einer Person, das nach allgemeinem Verständnis auch ein Recht einschließt, irrationalen Überzeugungen und Wünschen nach zu leben. Außerdem sind Prognosen darüber, was eine Person wünschen würde, wenn sie besser informiert wäre und klarer nachdenken könnte, schwierig anzustellen und nicht immer zuverlässig. In vielen Fällen werden sie sich als falsch erweisen. Die Gefahr wohlmeinender, aber tatsächlich ungerechtfertigter Übergriffe ist groß. Gleichwohl lässt sich in vielen Fällen mit hinreichend großer Sicherheit feststellen, welche Wünsche eine Person hätte, wenn sie besser informiert und frei von Zwängen über ihr eigenes Wohl vernünftig nachdenken könnte. Heroinabhängige haben Wünsche, deren Erfüllung nach menschlichem Ermessen für ihr Leben ruinös und darum auch von ihrem eigenen Standpunkt aus nicht erstrebenswert ist, was immer sie selbst unter dem Einfluss einer starken Droge dazu sagen mögen. Persönliche Autonomie einschließlich eines Anspruchs darauf, ungehindert auch falschen Überzeugungen und irrationalen Wünschen nachzuleben, ist ein bedeutender moralischer Wert; sie ist aber nicht

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

der einzige Wert, den es zu berücksichtigen gilt, wenn wir uns fragen, wie wir uns unseren Mitmenschen gegenüber verhalten sollen. Und es fällt schwer zu glauben, dass der Wert der Autonomie mit Blick auf irrationale Überzeugungen und Wünsche so groß ist, dass er, was immer die Konsequenzen für das zukünftige Wohl einer Person sein mögen, jeden Eingriff in deren Handlungsfreiheit ausschließt. Im beschriebenen (schwachen) Sinne paternalistische Handlungen sind moralisch problematisch; sie erscheinen aber nicht grundsätzlich unzulässig. Vom schwachen unterscheidet sich der starke Paternalismus dadurch, dass er dem Begriff des für eine Person wahrhaft Guten eine andere Definition gibt. Ihm geht es nicht darum, einer Person zu helfen, Dinge zu realisieren, die sie selbst für sich wünschen und erstreben würde, wenn sie ihr eigenes Wohl in rationaler Weise bedenken würde. Vielmehr sollen Dinge realisiert werden, die zwar nach den Überzeugungen der paternalistische Hilfe anbietenden Person gut für die betroffene Person sind, die aber möglicherweise der letzteren weder vor dem Hintergrund ihrer faktischen noch ihrer wohlerwogenen Überzeugungen und Präferenzen erstrebenswert erscheinen. Im starken Sinne paternalistische Handlungen sind moralisch nicht rational zu rechtfertigen. Bei begründeten Meinungsverschiedenheiten unter den Beteiligten darüber, was wahrhaft gut für die betroffene Person ist - und begründete Meinungsverschiedenheiten müssen wir annehmen, um der starken Version des Paternalismus gegenüber der schwachen eine Pointe abzugewinnen 8 - , hat die paternalisierende Person keine rationale Rechtfertigung dafür, der paternalisierten Person den Anspruch auf autonomes Handeln in Übereinstimmung mit ihren eigenen wohlerwogenen Präferenzen und Überzeugungen abzusprechen. Sie glaubt zwar, dass die andere Person sich darüber im Irrtum befindet, was wahrhaft gut für sie ist, aber sie kann ihre Überzeugung angesichts des Bestehens begründeter Meinungsverschiedenheiten nicht in dem starken Sinne rational begründen, der notwendig wäre, um sie als alternativlos richtig darzustellen. 9

Die Möglichkeit eines begründeten

Konsenses

9. Die Möglichkeit eines begründeten

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Konsenses

Wie wir gesehen haben, setzen Ansprüche auf Hilfe in Notlagen einen Konsens über Werte voraus - ich habe sie „öffentliche Werte" genannt - , an deren Realisation eine Person durch die bestehende Notlage gehindert ist. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und in welchem Umfang die Annahme eines solchen Konsenses vernünftig erscheint. Nun kann es in einer pluralistischen Gesellschaft keine Garantie dafür geben, dass es unter ihren Mitgliedern, die divergierende Konzeptionen des Guten vertreten, in jedem Fall zu einem Konsens darüber kommt, ob ein bestimmter Wert ein öffentlich anzuerkennender Wert ist oder nicht. Und die Anerkennung bestimmter Werte als öffentliche Werte und der aus ihnen resultierenden Ansprüche kann nicht in einer allgemein geteilten umfassenden Konzeption des für den Menschen Guten liegen; denn eine solche Konzeption gibt es nicht. Unter drei Voraussetzungen erscheint ein begründeter Konsens über öffentliche Werte gleichwohl möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich. Die erste Voraussetzung liegt in der Anerkennung der Möglichkeit begründeter Meinungsverschiedenheiten über das Gute, die zweite im Selbstverständnis demokratischer Bürger, die einander als freie und gleiche Personen anerkennen, und die dritte in unserer Fähigkeit festzustellen, auf welche Dinge Menschen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Konzeptionen des Guten in konkreten Lebenslagen angewiesen sind, um das selbstbestimmte Leben einer moralischen Person mit gewissen Grundrechten und Freiheiten in Gemeinschaft mit anderen zu leben. Die Anerkennung des Pluralismus schließt es aus, die moralischen Ansprüche anderer ausschließlich auf der Grundlage der eigenen moralischen oder religiösen Konzeption des Guten zu beurteilen. Dies zu tun, liefe darauf hinaus, nur die eigene Konzeption als eine geeignete Basis für das Zusammenleben in einer wohlgeordneten Gesellschaft zu betrachten, und diese Auffassung ließe sich angesichts des Bestehens begründeter Meinungsverschiedenheiten über das für den Menschen Gute nicht

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Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

öffentlich rechtfertigen. Vom öffentlichen Standpunkt aus haben alle Konzeptionen des Guten den gleichen normativen Status, sobald sie elementaren Rationalitätsanforderungen genügen und mit den Bedingungen des öffentlichen Standpunktes vereinbar sind. Niemand kann einem anderen etwa nur deshalb seine Hilfe verweigern, weil seine Unterstützung für Dinge benötigt wird, denen er persönlich keinen oder jedenfalls keinen großen Wert beimisst. Auch der Hungerkünstler muss sich gegebenenfalls mit eigenen Beiträgen an Hilfsprogrammen für Hungernde beteiligen. Auf der anderen Seite kann niemand vom öffentlichen Standpunkt aus verpflichtet sein, anderen dabei zu helfen, Dinge zu tun, die mit seinen wohlerwogenen moralischen oder religiösen Überzeugungen auch dann noch unvereinbar sind, wenn er die Interessen aller betroffenen Personen unparteiisch erwogen hat und anerkennt, dass alle grundsätzlich den gleichen Anspruch haben, in Übereinstimmung mit ihren eigenen wohlerwogenen Überzeugungen zu leben. So kann meines Erachtens niemand, der Abtreibungen aus religiösen Gründen ablehnt, verpflichtet sein, einer Frau, die durch eine ungewollte Schwangerschaft in eine Notlage geraten ist, dadurch zu helfen, dass er (oder sie) sich durch Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung an der Finanzierung von Abtreibungen beteiligt. Entsprechende Regelungen im deutschen Abtreibungsrecht sind nach der vorgestellten Konzeption nicht öffentlich zu rechtfertigen. Eine öffentliche anzuerkennende Notlage liegt ja nur dann vor, wenn es um die Realisation von Werten geht, deren Bedeutung für das Leben der betroffenen Person von niemandem vernünftigerweise bestritten werden kann, und die Beendung einer ungewollten Schwangerschaft durch eine Abtreibung ist kein solcher Wert. Ein qualifiziertes Recht auf Abtreibung lässt sich dagegen als Ergebnis eines fairen demokratischen Entscheidungsprozesses öffentlich rechtfertigen. Da über die moralische Zulässigkeit von Abtreibungen begründete Meinungsverschiedenheiten bestehen, kann dieses Problem nicht ausschließlich durch rationale Argumentation gelöst werden. Seine Lösung setzt nicht-argumentative Formen

Die Möglichkeit eines begründeten Konsenses

189

kollektiver Entscheidungsfindung voraus (s. Kap. 5.2) und muss in einer Demokratie auf Abstimmungen nach der Mehrheitsregel beruhen. Einer mehrheitlich gewünschten Liberalisierung' der rechtlichen Regulierung von Abtreibungen, die in demokratisch legitimierten Gesetzen ihren Ausdruck gefunden hat, kann sich niemand in öffentlich gerechtfertigter Weise widersetzen. Denn dies würde voraussetzen, dass über Abtreibungen nur auf der Basis einer bestimmten moralischen oder religiösen Konzeption entschieden werden dürfte, über die begründete Meinungsverschiedenheiten bestehen, und diese Auffassung lässt sich nicht rational verteidigen (s. Kap. 5.8). So wie es die Anerkennung des Pluralismus ausschließt, die Ansprüche anderer ausschließlich im Lichte der eigenen Lebens· und Wertvorstellungen zu beurteilen, so schließt die Anerkennung eines anderen als moralische Person es aus, bedarfsbezogene Ansprüche von seiner Seite pauschal zurückzuweisen. Öffentlich anerkannte Notlagen betreffen typischerweise Dinge, die für die betroffenen Menschen einen so großen Wert haben, dass es unmöglich ist, sie ihnen willkürlich zu verweigern, ohne zugleich ihren Status als freie und gleiche moralische Personen in Frage zu stellen. So ist es eine elementare Voraussetzung für die Lebens- und Handlungsfähigkeit jedes Menschen, dass die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Behausung und Schutz der körperlichen, seelischen und geistigen Unversehrtheit befriedigt werden können. Hinzu kommt die Notwendigkeit eines minimalen sozialen Austausches mit anderen, der über die Zeit der Kindheit in der Familie hinausreicht. Es gibt keine ernsthaften Meinungsverschiedenheiten darüber, dass Situationen, in denen Einzelnen oder Gruppen die für ihre Existenz unverzichtbaren Güter nicht zur Verfügung stehen, Notlagen im moralisch relevanten, das heißt Ansprüche begründenden Sinne darstellen. Anhand von Geschichten, die solche Notlagen beschreiben, wird bereits Kindern veranschaulicht, in welchen Situationen persönliche Interessen hinter die moralischen Ansprüche anderer zurücktreten müssen; man denke an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

190

Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

Der Begriff der moralischen Person gibt uns eine Reihe weiterer Anhaltspunkte dafür, welche Güter in welchem Umfange zur Gewährleistung eines moralischen Minimums im Einzelfall zu fordern sind. Jede Person muss in der Lage sein, ihre menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen; sie braucht einen gewissen Handlungsspielraum; sie muss materiell zumindest so gestellt sein, dass die Achtung gesellschaftlicher Regeln, etwa von Eigentumsrechten, aus ihrer Sicht nicht notwendigerweise irrational erscheint. Personen, die einander als Freie und Gleiche anerkennen, erwarten voneinander die Achtung und die Einhaltung gemeinsamer Regeln. Diese Erwartung aber wäre ungerechtfertigt, wenn die Regeln einer Gesellschaft es zum Beispiel zuließen, dass einige ihrer Mitglieder aus Armut verhungern, obwohl es möglich wäre, ihnen die lebensnotwendigen Nahrungsmittel zukommen zu lassen. Niemand kann rationalerweise ein System wechselseitig verpflichtender Regeln anerkennen, wenn es zulässt, dass ihm ohne Notwendigkeit und ohne seine Zustimmung die für das Überleben notwendigen Güter vorenthalten werden. Eine wohlgeordnete Gesellschaft setzt daher voraus, dass ihre Mitglieder bedarfsbezogene Ansprüche gegeneinander mindestens in dem Maße anerkennen, in dem sie sich auf die zum Leben einer moralischen Person notwendigen Güter beziehen. Über diese Güter verfügen zu können, muss von allen an einem fairen System sozialer Kooperation Beteiligten als öffentlicher Wert im oben definierten Sinne anerkannt werden, und zwar auch dann, wenn im Einzelnen strittig sein mag, um welche Güter es sich dabei konkret handelt. Auch oberhalb des Minimums an sozialer Unterstützung zur Sicherung der elementaren menschlichen Lebensvoraussetzungen für jede Person gibt es eine Reihe von Gründen, die einen rationalen Konsens darüber, welche bedarfsbezogenen moralischen Ansprüche in schwierigen Lebenssituationen bestehen, in vielen Bereichen möglich erscheinen lassen. So ergeben sich zum Beispiel aus den in einer Gesellschaft vorherrschenden Sitten und Gepflogenheiten Kriterien dafür, über welche Güter

Die Möglichkeit eines begründeten Konsenses

191

und Handlungsmöglichkeiten eine Person verfügen muss, um als,achtenswerter' Mitbürger anerkannt zu werden. Ein schwarzer Anzug für eine Trauerfeier gehört unter diesem Gesichtspunkt ebenso zum moralischen Minimum wie Geld für einen Ehering oder ein Fahrrad für das schulpflichtige Kind. 10 Während das physische Existenzminimum im Wesentlichen durch biologische und medizinische Faktoren bestimmt wird, sind bei der Festlegung des moralischen Minimums kulturelle und soziale Faktoren zu berücksichtigen. Die Festlegung einer kritischen Schwelle wird hier naturgemäß durch Meinungsverschiedenheiten erschwert. Über die Anerkennung bedarfsbezogener Ansprüche durch gesellschaftliche Institutionen - zum Beispiel die Sozialgerichte eines Landes - kann deshalb nicht allein durch rationale Argumentation entschieden werden. Die Gewährung oder Verweigerung sozialer Unterstützung für Menschen in schwierigen Umständen bedarf der demokratischen Legitimation durch Mehrheitsentscheidungen darüber, welche Lebenslagen als Notlagen im moralisch-rechtlichen Sinne öffentlich anzuerkennen sind. Klar ist aber, dass das moralische Minimum, wie auch immer es im Einzelnen bestimmt werden mag, von allen Beteiligten als öffentlicher Wert in dem Sinne anzuerkennen ist, dass die für seine Gewährleistung benötigten Güter, soweit möglich, allen Gesellschaftsmitgliedern kollektiv zur Verfügung gestellt werden müssen. 11 Dabei wird nicht vorausgesetzt, dass sich bedarfsbezogene Ansprüche stets auf Güter richten, die für das Leben jedes Menschen aus seiner Sicht notwendig sind. Auch wenn es keine Güter gibt, die allen Menschen gleichermaßen für ein gutes Leben notwendig erscheinen, lassen sich doch für jeden einzelnen Menschen Güter benennen, ohne die es ihm unmöglich wäre, seine Vorstellungen von einem autonomen und guten Leben auch nur ansatzweise zu realisieren. Für die öffentliche Rechtfertigung eines konkreten bedarfsbezogenen Anspruchs ist nicht mehr erforderlich als dies, dass niemand vernünftigerweise bestreiten kann, dass die von einer Notlage betroffene Person auf die Unterstützung anderer angewiesen ist, um ein

192

Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

Leben zu führen, das man unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse, Präferenzen und Lebensvorstellungen als das Leben einer moralischen Person bezeichnen kann.

10. Beurteilungskriterien

für bedarfsbezogene

Ansprüche

Eine umfassende Theorie sozialer Gerechtigkeit muss auch Kriterien bereitstellen, die es erlauben, differenzielle, in den persönlichen Lebensumständen Einzelner begründete Ansprüche auf Unterstützung hinsichtlich ihrer relativen Dringlichkeit zu beurteilen. 12 Hier geht es zunächst einmal nur darum, eine Reihe mehr oder weniger offenkundiger Kriterien für die Beurteilung von Notlagen von einem öffentlichen Standpunkt aus zusammenzustellen. Dieses Thema wird jedoch im nächsten Kapitel über interpersonelle Vergleiche noch einmal in einer weiteren Perspektive aufgenommen. Generell gilt für bedarfsbezogene Ansprüche, wie für alle Forderungen sozialer Gerechtigkeit, dass wir ihr Gewicht vom öffentlichen Standpunkt aus auf der Grundlage von interpersonellen Vergleichen beurteilen. Es bestimmt sich zum einen danach, wie dringend jemand im Vergleich zu anderen, die ähnliche Ansprüche vorbringen, Hilfe und Unterstützung benötigt, und es ist zum anderen davon abhängig, in welcher Lage sich diejenigen befinden, die zur Hilfe aufgefordert sind. Genauer betrachtet benötigen wir zwei Arten von Kriterien: erstens solche zur Klassifikation und Gewichtung verschiedener Arten bedarfsorientierter Ansprüche, wie sie etwa durch Krankheiten, Behinderungen oder soziale Notlagen entstehen. Zweitens benötigen wir Kriterien für interpersonelle Vergleiche, die angeben, wie in Konfliktfällen die Ansprüche verschiedener Personen zu gewichten sind. Die Kriterien der ersten Gruppe allein können dieses Problem nicht lösen, weil sie zu keiner fixierbaren Rangordnung der verschiedenen Typen bedarfsorientierter Ansprüche führen. Je nach den konkreten Gegebenheiten eines Falles ist stets denkbar, dass Ansprüche eines grund-

Beurteilungskriterien für bedarfsbezogene Ansprüche

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sätzlich übergeordneten Typs durch Ansprüche niedrigeren Ranges anderer Personen überwogen werden. M i t Blick auf die öffentliche Rechtfertigung moralischer Normen müssen die gesuchten Kriterien und Grundsätze allen Bürgern gegenüber begründet werden können und es ermöglichen, in prinzipiell konsensfähiger Weise soziale Konflikte zu lösen wie etwa den, ob angesichts knapper Ressourcen die schulische Betreuung dauerhaft Behinderter oder ausländischer Kinder vorgezogen werden soll. Was die inhaltliche Klassifikation und Gewichtung bedarfsbezogener Ansprüche betrifft, so ergeben sich die gesuchten Kriterien aus der konkreten Form der vorliegenden Einschränkung der Lebens- und Handlungsfähigkeit einer Person. Je grundlegender und stärker die bestehende Einschränkung ist, desto dringlicher ist der Anspruch auf soziale Unterstützung. So betrachten wir in der Regel die Ansprüche von Unfallopfern und Schwerkranken auf Wiederherstellung ihrer elementaren körperlichen Lebens- und Handlungsfähigkeit als dringlicher als ihre Ansprüche darauf, nach ihrer Gesundung wieder in den Vollbesitz ihrer früheren geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte zu gelangen. Und jedes Kind hat einen stärkeren Anspruch auf die zur Ausbildung seiner elementaren kognitiven und emotionalen Fähigkeiten nötige soziale Unterstützung als darauf, komplexere Spezialkenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Unseren wohlerwogenen Beurteilungen der Dringlichkeit bedarfsbezogener moralischer Ansprüche liegt eine mehr oder weniger konsistente hierarchische Konzeption menschlicher Bedürfnisse zugrunde, auf die wir uns beziehen, wenn es darum geht, konfligierende Ansprüche gegeneinander abzuwägen. Als Faustregel nehmen wir dabei an, dass ein Anspruch dann dringlicher ist als ein anderer, wenn die Befriedigung des ihm zugrunde liegenden Bedürfnisses eine Voraussetzung dafür ist, das dem weniger gewichtigen Anspruch zugrunde liegende Bedürfnis zu befriedigen. So hat die Gewährleistung der elementaren menschlichen Lebens- und Handlungsfähigkeiten Vorrang vor der Ausbildung komplexerer Anlagen, weil diese ohne jene nicht möglich wäre.

194

Bedarfsbezogene moralische Ansprüche

Die hierarchische Klassifikation bedarfsbezogener Ansprüche nach den ihnen zugrunde liegenden Bedürfnissen reicht für die Gewichtung konfligierender Ansprüche jedoch alleine nicht aus. Nicht jeder Anspruch, der sich auf ein seiner Art nach höherrangiges Bedürfnis stützen kann, hat darum schon Vorrang vor Ansprüchen, die auf hierarchisch untergeordneten Bedürfnissen beruhen. Anderenfalls müsste etwa der Anspruch von Unfallopfern auf eine Verbesserung ihrer medizinischen Versorgung grundsätzlich größeres Gewicht haben als die Ansprüche von Schülern und Studenten, komplexe kognitive Fähigkeiten zu erwerben. Dies ist aber nicht generell der Fall. Entscheidend für das Gewicht eines Anspruchs ist vom öffentlichen Standpunkt nicht nur die hierarchische Stellung des ihm zugrunde liegenden Bedürfnisses, sondern auch die Frage, in welchem Ausmaß jeweils die zur Verfügung gestellten Ressourcen dazu beitragen würden, die Situation einer Person tatsächlich zu verbessern. Wenn die medizinische Versorgung von Unfallopfern durch den Einsatz zusätzlicher Ressourcen nur noch minimal verbessert werden kann, während dieselben Mittel zu einer erheblichen Verbesserung der Ausbildungssituation von Schülern und Studenten beitragen könnten, dürfen wir annehmen, dass die Ansprüche der letzteren Gruppe größeres Gewicht haben. Wir benötigen deshalb nicht nur Kriterien zur hierarchischen Klassifikation von Ansprüchen nach der Art der ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisse, sondern auch solche für Vergleiche zwischen verschiedenen Graden der Bewältigung unterschiedlicher Notlagen.

7. Kapitel:

Interpersonelle Vergleiche Jede Gerechtigkeitskonzeption setzt einen Vergleichsmaßstab voraus, anhand dessen beurteilt wird, wie die Mitglieder einer Gesellschaft bei einer gegebenen Verteilung materieller Güter und Ressourcen unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit relativ zueinander gestellt sind. Wir benötigen Kriterien und Richtlinien, die es uns erlauben, in intersubjektiv überprüfbarer Weise festzustellen, ob der Anteil einer Person im Vergleich zu den Anteilen aller anderen dem entspricht, was diese Person gerechterweise für sich beanspruchen kann. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, welche Rolle interpersonelle Vergleiche und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien bei der Rechtfertigung spezifischer Güterverteilungen spielen. Da wir von prima facie gleichen Ansprüchen aller Beteiligten auf materielle Güter und Ressourcen ausgehen, sind Ungleichverteilungen rechtfertigungsbedürftig. Im vorigen Kapitel haben wir drei Arten von möglichen Rechtfertigungsgründen unterschieden: bedarfsbezogene, leistungsbezogene und prudenzielle. Für jede der drei genannten Arten stellt sich die Frage nach den Kriterien für interpersonelle Vergleiche zur Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen anders. Ich beginne mit den prudenziellen Gründen, da sie in dieser Hinsicht die geringsten Probleme aufwerfen. Ungleichverteilungen, die allen Beteiligten gegenüber aus prudenziellen Gründen gerechtfertigt sind, erfüllen, was ich die Bedingung allseitiger oder reziproker Vorteile nennen möchte. Sie besagt, dass eine Güterverteilung vom öffentlichen Standpunkt aus gesehen gegenüber der Gleich Verteilung vorzuziehen ist, wenn sie für jede der beteiligten Parteien vorteilhaft ist.

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Interpersonelle Vergleiche

Eine Besonderheit der Rechtfertigung von Ungleichheiten durch prudenzielle Gründe liegt nun darin, dass wir, wenn wir von einer Gleichverteilung aller Güter ausgehen, über die Bedingung reziproker Vorteile hinaus keine zusätzlichen interpersonellen Vergleichskriterien benötigen, um zu beurteilen, ob eine ungleiche Güterverteilung öffentlich gerechtfertigt ist oder nicht. Wenn Ungleichheiten sich zum Vorteil aller Beteiligten auswirken, liegt es schließlich im wohlverstandenen Eigeninteresse jedes Einzelnen ihnen zuzustimmen. Was im Eigeninteresse jedes Einzelnen liegt, ergibt sich dabei vollständig aus den jeweiligen persönlichen Präferenzen, Fähigkeiten und Lebensumständen der involvierten Personen. Ungleichheiten, welche die Bedingung reziproker Vorteile erfüllen, können deshalb öffentlich gerechtfertigt werden, ohne dass es nötig wäre, Vergleiche zwischen den Präferenzen und Bedürfnissen verschiedener Personen anzustellen und ohne zu beurteilen, welches Gewicht sie ihrem Inhalt oder ihrer Dringlichkeit nach für sich beanspruchen können. 1 Anders als prudentielle Gründe setzen bedarfs- und leistungsbezogene Gründe für Ungleichverteilungen interpersonelle Vergleiche voraus. Wenn wir Güter unter bedarfs bezogenen Gesichtspunkten gerecht verteilen wollen, müssen wir in der Lage sein, die Dringlichkeit des Bedarfs an Gütern bei verschiedenen Personen zu beurteilen (s. Kap. 6.10). Und die Verteilung von Gütern unter Leistungsgesichtspunkten - wer mehr leistet, erhält mehr Güter - , lässt sich nur dann öffentlich rechtfertigen, wenn es möglich ist, den Wert der individuell geleisteten Beiträge auf intersubjektiv gültige Weise zu vergleichen. Darauf gehe ich im nächsten Kapitel ein.

1. Bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche Bedarfsbezogene moralische Ansprüche auf etwas sind Gründe dafür, jemandem bestimmte Güter nötigenfalls auch ohne Gegenleistung zukommen zu lassen, weil er sie benötigt, um etwas

Bedarfsbezogene

interpersonelle

Vergleiche

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zu realisieren, das erstens vor dem Hintergrund seiner persönlichen Bedürfnisse und Lebensziele rationalerweise erstrebenswert erscheint und dessen Wert zweitens allgemein anerkannt wird. Als potenzielle Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen müssen sie in Betracht gezogen werden, weil verschiedene Personen häufig dieselben Dinge unterschiedlich dringend benötigen, um ihre Ziele zu erreichen oder Dinge zu realisieren, die allgemein als erstrebenswert gelten. Eine unter Bedarfsgesichtspunkten gerechte Güterverteilung ist eine Verteilung, bei der die auf die Beteiligten entfallenden Anteile genau dem Gewicht ihrer jeweiligen bedarfsbezogenen Ansprüche im Verhältnis zum Gewicht der Ansprüche aller anderen entsprechen. Dies wurde im vorigen Kapitel anhand einiger elementarer Kriterien zur Beurteilung der aus Notlagen resultierenden moralischen Ansprüche bereits illustriert. Ob eine gegebene Verteilung von Gütern unter bedarfsbezogenen Gesichtspunkten gerecht ist oder nicht, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Die Präferenzen und Bedürfnisse der Beteiligten und ihre persönlichen Fähigkeiten und Lebensumstände spielen ebenso eine Rolle wie die Größe der Güteranteile, die auf jeden Einzelnen entfallen. Von der Größe individueller Anteile zu sprechen bedarf der Präzisierung, da es nur in einfachen Fällen eine Frage der schlichten physischen Größe von Anteilen ist, ob gerecht geteilt wurde oder nicht. Schon Kinder wissen, dass ein kleiner Edelstein wertvoller ist als ein großer Haufen Sand. Sobald mehr als ein Gut zu verteilen ist, haben wir es mit Güterbündeln zu tun, deren Wert für den Einzelnen eine Funktion ihrer qualitativen und mengenmäßigen Zusammensetzung ist. Formal können wir Güterbündel als Vektoren beschreiben (x l5 x 2 , ... xn), wobei jede Komponente des Vektors ein Gut repräsentiert; ihr Wert gibt an, wie viele Einheiten eines Gutes das betreffende Güterbündel enthält. Die Suche nach einer Basis für bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche ist dann nichts anderes als die Suche nach allgemein gültigen Kriterien für die Bewertung solcher Güterbündel oder Vektoren.

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Interpersonelle Vergleiche

Dabei müssen wir berücksichtigen, dass der Wert eines Güterbündels für eine Person sowohl durch ihre besonderen Bedürfnisse und Präferenzen als auch dadurch bestimmt wird, inwieweit sie aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten und Lebensumstände in der Lage ist, ihr zur Verfügung stehende Güter und Ressourcen zu nutzen, um für sie erstrebenswerte Dinge zu realisieren. Qualitativ identische Güterbündel können für verschiedene Personen, abhängig von ihren Präferenzen, Fähigkeiten und Lebensumständen, von sehr unterschiedlichem Wert sein. Wir können deshalb nicht schon darum zwei Personen unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit als materialiter gleichgestellt betrachten, wenn ihnen qualitativ identische Güterbündel zur Verfügung stehen. Formal gesehen müssen bedarfsbezogene Bewertungskriterien eine rationale Grundlage mindestens für ordinale interpersonelle Vergleiche bieten. Es muss möglich sein, mit ihrer Hilfe auf intersubjektiv überprüfbare Weise festzustellen, ob eine Person bei einer gegebenen Güterverteilung besser oder schlechter als eine andere oder gleich gut wie sie gestellt ist.2 Nur auf der Basis solcher Vergleiche können wir in einem konkreten Fall entscheiden, ob eine Person einen gerechtfertigten Anspruch auf zusätzliche Güteranteile hat oder ob man von ihr nötigenfalls erwarten kann, Güter abzugeben. Ich werde den formalen Aspekten des komplexen Problems ordinaler (und kardinaler) Bewertungen von Güterbündeln unter Berücksichtigung der Präferenzen, Fähigkeiten und Lebensumstände einer Person im Folgenden nicht weiter nachgehen. 3 Für die Analyse der normativen Anforderungen an interpersonelle Vergleiche, die sich aus der Idee der öffentlichen Rechtfertigung ergeben, sind sie nur von untergeordneter Bedeutung. Für die ersten Schritte genügt es, wenn wir klären können, unter welchen Bedingungen zwei Personen mit Blick auf die ihnen zur Verfügung stehenden Güter und Ressourcen materialiter gleichgestellt sind. Es mag bezweifelt werden, ob es eine begründete Forderung sozialer Gerechtigkeit ist, alle Gesellschaftsmitglieder materiell gleichzustellen - was immer man genauer darunter verstehen mag - , es lässt sich aber vernünftiger-

Bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche

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weise nicht bestreiten, dass wir - was immer unsere Gerechtigkeitsvorstellungen sein mögen - in der Lage sein müssen zu beurteilen, wann zwei Personen materialiter gleichgestellt sind. Bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche sind keine rein empirischen Urteile über den relativen Wohlstand oder das relative Wohlergehen von Personen bei gegebenen Güterverteilungen; sie implizieren evaluative und normative Urteile. Die Frage nach der für eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit angemessenen Vergleichsbasis lässt sich deshalb nicht ohne inhaltliche normative Festlegungen beantworten.4 Werturteile und Normen kommen bei interpersonellen Vergleichen auf mindestens drei Ebenen ins Spiel: erstens auf der Ebene der angestellten Vergleiche selbst, wenn wir zum Beispiel sagen, eine Person sei durch eine gegebene Verteilung von Gütern materiell besser oder schlechter gestellt als eine andere; zweitens auf der Ebene der moralischen Forderungen, die mit Blick auf die angestellten Vergleiche begründet erscheinen, sobald wir spezifische Verteilungsnormen anerkennen. Wenn wir etwa den Grundsatz gleichen Wohlergehens für alle bejahen, impliziert die komparative Aussage, dass es einer Person bei einer gegebenen Güterverteilung schlechter geht als einer anderen, die Forderung einer Umverteilung, wenn durch sie gleiches Wohlergehen für alle realisiert werden kann. Evaluative Urteile und normative Implikationen dieser Art sind mit allen interpersonellen Vergleichen verbunden, wie sie im Zusammenhang von Gerechtigkeitsurteilen auftreten. Sie sind ganz unabhängig davon, wie die jeweils zugrunde gelegten Vergleichskriterien inhaltlich bestimmt sind und geben uns deshalb auch keine Anhaltspunkte dafür, unter welchen Gesichtspunkten solche Kriterien auszuwählen sind. Wichtiger ist die dritte Ebene, auf der Normen und Werte bei interpersonellen Vergleichen eine Rolle spielen. Wer etwa sagt, dass sich die Gerechtigkeit gesellschaftlicher Güterverteilungen daran bemesse, ob sie allen Gesellschaftsmitgliedern ein bestimmtes Maß persönlichen Wohlergehens ermögliche - welches Maß, hängt von der favorisierten Distributionsnorm ab - , der gibt damit zu

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Interpersonelle Vergleiche

erkennen, dass er das persönliche Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder für einen so großen Wert hält, dass er dessen Realisation als das ausschlaggebende Kriterium für eine gerechte Verteilung kollektiv verfügbarer Güter und Ressourcen betrachtet. Dies gilt für alle denkbaren Kriterien, die von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen als Basis für interpersonelle Vergleiche in Frage kommen: Sie müssen auf Werten beruhen, von denen wir erstens begründetermaßen annehmen können, dass ihre Realisation ceteris paribus für alle Beteiligten gut ist, und die zweitens allgemein als ausschlaggebende Werte für die kollektive Verteilung von Gütern anerkannt werden. Nennen wir das interpersonellen Vergleichen in diesem Sinne zugrunde liegende Werturteil das Basiswerturteil einer Gerechtigkeitskonzeption. Es beruht auf einer Konzeption des für den Menschen Guten, die allerdings nicht, wie häufig angenommen wird, notwendigerweise alles erfassen muss, was für Menschen objektiv oder subjektiv gut sein mag. Enthalten muss sie lediglich dasjenige, wovon man annimmt, dass seine Verteilung ein ausschlaggebender Gesichtspunkt für die institutionelle Verteilung von Gütern und Ressourcen sein soll. Wir können Gerechtigkeitskonzeptionen danach einteilen, auf welchem Basiswerturteil die ihnen zugrunde liegenden interpersonellen Vergleiche beruhen. Das Basiswerturteil des klassischen Utilitarismus, der von einem hedonistischen Nutzenbegriff ausging, war, dass die Präsenz angenehmer und Abwesenheit unangenehmer Bewusstseinszustände das entscheidende Kriterium für die Beurteilung gesellschaftlicher Güterverteilungen sei. Im modernen, nicht-hedonistischen Utilitarismus wird der Wert subjektiver Präferenzerfüllung als Vergleichskriterium zugrunde gelegt. Aristotelische Konzeptionen, wie zum Beispiel die von Martha Nussbaum, orientieren sich an einer Vorstellung davon, durch welche Merkmale sich ein gutes und gelungenes menschliches Leben objektiv auszeichnet. Darauf kommen wir später zurück, wenn wir uns verschiedenen Konzeptionen für interpersonelle Vergleiche zuwenden. Zunächst soll genauer betrachtet werden, welche Konsequenzen

Öffentlich anerkannte Werte

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sich für die Wahl eines angemessenen Vergleichskriteriums daraus ergeben, dass das Basiswerturteil einer Gerechtigkeitskonzeption der Forderung der öffentlichen Rechtfertigung genügen muss.

2. Öffentlich

anerkannte

Werte

Mit Blick darauf, was in den beiden vorangegangenen Kapiteln über die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen gesagt worden ist, stellen wir zunächst fest, dass Kriterien für interpersonelle Vergleiche auf Werten beruhen müssen, die von allen Gesellschaftsmitgliedern bejaht werden können, wenn sie den öffentlichen Standpunkt einnehmen und die Notwendigkeit eines begründeten Konsenses über distributive Grundsätze anerkennen. Die für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen entscheidende Anforderung an interpersonelle Vergleiche liegt demnach in folgender Bedingung: Die vergleichende Bewertung von Güterbündeln muss sich an Werten orientieren, für die Folgendes gilt: Jedes Gesellschaftsmitglied ist bereit oder sollte von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen bereit sein, jedes andere Gesellschaftsmitglied, das die Realisation dieser Werte anstrebt, in einem gewissen Grad dabei zu unterstützen.5 Interpersonelle Vergleiche müssen sich, in anderen Worten, auf öffentlich anerkannte oder kurz: auf öffentliche Werte stützen. Aus dem Gedanken, dass interpersonelle Vergleiche auf öffentlichen Werten beruhen müssen, ergeben sich mehrere wichtige Konsequenzen für die Wahl angemessener Vergleichskriterien und, allgemeiner, für unser Verständnis sozialer Gerechtigkeit. Ich möchte den Begriff der öffentlichen Werte deshalb ausführlicher erläutern. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was der Gedanke der öffentlichen Anerkennung des Basiswerturteils einer Gerechtigkeitskonzeption nicht impliziert. So bedeutet die öffentliche

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Interpersonelle

Vergleiche

Anerkennung eines Wertes (zum Beispiel des Wertes der physischen Gesundheit) nicht, dass es sich um den einzigen Wert handelt, dessen Realisation die Beteiligten für intrinsisch erstrebenswert halten. (Dies ist freilich auch nicht von vornherein ausgeschlossen, man denke an den hedonistischen Utilitarismus, für den das subjektive Wohlgefühl von Personen einziges und ausschlaggebendes Kriterium individuellen Wohlergehens und sozialer Wohlfahrt ist.) Die öffentliche Anerkennung eines Wertes impliziert auch nicht, dass es sich aus der Sicht der Beteiligten um einen höchstrangigen, letztlich über die Qualität eines Lebens entscheidenden Wert handelt. Man kann das ewige Seelenheil für den höchsten Wert des menschlichen Daseins halten, ohne darauf festgelegt zu sein, dass sich die Verteilung materieller Güter und Ressourcen in einer Gesellschaft an ihm orientieren sollte. In einer pluralistischen Demokratie wäre es ein Grund zur Überraschung, wenn es sich als möglich erweisen sollte, letzte oder oberste Werte des menschlichen Lebens zu identifizieren, die von allen Bürgern gleichermaßen anerkannt werden. Schließlich müssen wir auch nicht unterstellen, dass jedes Gesellschaftsmitglied vor dem Hintergrund seiner persönlichen Überzeugungen und Präferenzen stets ein rationales Interesse daran hat, einen öffentlich anerkannten Wert für sich selbst zu realisieren. Dies ist ein für die Konzeption der öffentlichen Werte entscheidender Punkt: Weder ist es grundsätzlich unfair, die Anerkennung von moralischen Ansprüchen auf Ressourcen von Bewertungskriterien abhängig zu machen, die nicht für alle Beteiligten die gleiche subjektive Bedeutung haben, noch ist es generell inkonsistent, Mitbürgern einen bedarfsbezogenen moralischen Anspruch auf Dinge zuzuerkennen, die man für sich selbst auch bei Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, Werte und Normen für nicht erstrebenswert hält. So gibt es idiosynkratische Präferenzen und Lebensentwürfe. In ihnen kommen subjektive Bewertungen zum Ausdruck, die man zwar zur Grundlage des eigenen Lebens machen kann, die aber mehr oder weniger offenkundig keine Basis für das gesell-

Öffentlich anerkannte

Werte

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schaftliche Zusammenleben moralischer Personen bieten. Kafkas Hungerkünstler, auf den ich noch einmal zurückkomme, ist ein Beispiel für idiosynkratische Präferenzen. Andere Beispiele bieten Lebensentwürfe, die einen extremen Grad an Risikofreudigkeit voraussetzen. Ich denke zum Beispiel an Bergsteiger, die die mit gefährlichen Klettersituationen verbundenen Lebensrisiken um ihrer selbst willen schätzen und bereitwillig auf Hilfe von anderen verzichten würden, falls sie einmal in Bergnot gerieten. Dass ein öffentlich anerkannter Wert, wie die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln oder der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, sich nicht mit den rationalen Interessen einer Person in einer konkreten Lebenssituation decken muss, zeigt sich aber auch, wenn eine Person von ihren gewöhnlichen, nicht idiosynkratischen Bewertungen abweicht und etwa aus politischen Gründen in einen unbegrenzten Hungerstreik tritt oder zur Verteidigung des eigenen Landes ihr Leben aufs Spiel setzt. Die angeführten Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass eine Person aufgrund ihrer besonderen Präferenzen oder aufgrund der besonderen Umstände, in denen sie sich befindet, eine Bewertung von Alternativen vornimmt, von der sie gleichwohl zugeben muss, dass sie angesichts der von den meisten Menschen normalerweise vorgenommenen Bewertungen und angesichts der für unsere Gesellschaften typischen Lebensumstände keine brauchbare Basis für öffentlich zu rechtfertigende Entscheidungen abgeben kann. Sie zeigen, dass es möglich ist, einen Wert vom öffentlichen Standpunkt aus begründetermaßen anzuerkennen, auch wenn man diesen Wert für sich selbst zeitweilig oder dauerhaft nicht realisieren möchte. Damit ein Wert öffentlich anerkannt ist, reicht es nun umgekehrt nicht aus, dass es sich um einen Wert handelt, den alle Gesellschaftsmitglieder für sich selbst zu realisieren trachten. Die Mitglieder einer Gesellschaft mögen materiellen Reichtum und persönlichen Ruhm als die einzigen Dinge im Leben betrachten, die wirklich zählen, ohne dass sie dies darauf festlegen würde, einander gegebenenfalls dabei zu helfen, reich oder

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Interpersonelle Vergleiche

berühmt zu werden. Ein Konsens über öffentliche Werte ist seiner Definition nach ein Konsens darüber, welche Werte jede Person (nötigenfalls mit Unterstützung anderer) realisieren können sollte, und es ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für sein Bestehen, dass es Werte gibt, deren Realisation alle gleichermaßen für sich selbst anstreben.

3. Hedonistische

Wohlfahrtskonzeptionen

Betrachten wir nun eine Reihe von an Wohlfahrt orientierten Konzeptionen für interpersonelle Vergleiche daraufhin, inwieweit sie den genannten Anforderungen genügen. Diesen Konzeptionen ist gemeinsam, dass sie gesellschaftliche Güterverteilungen danach beurteilen, in welchem Maße sie das Wohlergehen der Gesellschaftsmitglieder fördern. Zwei Güterbündel gelten mit Blick auf eine Person genau dann als gleichwertig, wenn sie bei ihr zum selben Grad persönlichen Wohlergehens führen; und zwei Personen Ρ und Q sind mit Blick auf die ihnen zugeteilten Güterbündel G t und G2 genau dann gleichgestellt, wenn Gj für Ρ denselben Grad persönlichen Wohlergehens realisiert wie G 2 für Q. Je nachdem, wie das Wohl einer Person jeweils inhaltlich bestimmt wird, lassen sich drei Grundtypen wohlfahrt-orientierter Gerechtigkeitskonzeptionen unterscheiden: hedonistische, präferenzen-bezogene und merkmalbezogene. Hedonistische Konzeptionen definieren den Begriff individuellen Wohlergehens im Sinne des subjektiven Wohlgefühls als Präsenz angenehmer und Abwesenheit unangenehmer Bewusstseinszustände. Die bekannteste hedonistische Wohlfahrtskonzeption ist der von Bentham und Sidgwick ausformulierte klassische Utilitarismus. Ihm zufolge ist eine moralisch optimale Verteilung von Gütern und Ressourcen genau dann erreicht, wenn die gesamtgesellschaftliche Bilanz angenehmer und unangenehmer Gefühlszustände per Saldo das größtmögliche positive Ergebnis aufweist. Gegen hedonistische Wohlfahrtskon-

Hedonistische

Wohlfahrtskonzeptionen

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zeptionen sprechen gewichtige Einwände; daher werden sie zurzeit kaum noch vertreten. So sind wünschenswerte Gefühlszustände zweifellos nicht das einzige für Menschen um seiner selbst willen erstrebenswerte Gut. Die Lebensvorstellungen der meisten Menschen schließen Ziele, Absichten und Werte ein, die über die Präsenz intrinsisch wünschenswerter (resp. die Abwesenheit nicht wünschenswerter) Bewusstseinszustände hinausgehen. Denken wir etwa an die Werte der Aufrichtigkeit und der Anerkennung durch andere. Wer Aufrichtigkeit für eine Tugend hält, wird seinen Mitmenschen auch dann ehrlich antworten, wenn dies womöglich für sie mit Enttäuschungen und Frustrationen verbunden ist; und wer die Anerkennung seiner Mitmenschen sucht, will in der Regel tatsächlich von ihnen anerkannt werden und sich nicht nur in der Illusion ihrer Wertschätzung wägen, obwohl dieser Unterschied im Falle einer dauerhaften Täuschung ohne Konsequenzen für seine persönliche Gefühlsbilanz bliebe. Positive Gefühle, wie Freude oder Zufriedenheit, sind gleichwohl unbestreitbar große Werte, die für das Leben jedes Menschen eine bedeutende Rolle spielen. Jede plausible Konzeption bedarfsbezogener interpersoneller Vergleiche muss dies in der einen oder anderen Form berücksichtigen und hedonistische Elemente aufnehmen. Unerträgliche physische Schmerzen vermögen ebenso bedarfsbezogene moralische Ansprüche an andere zu begründen (zum Beispiel auf Schmerz stillende Mittel oder Narkotika) wie krankhafte Störungen des Gefühlslebens etwa im Falle einer pathologischen Depression. Bei knappen medizinischen Ressourcen sind wir gezwungen, die relative Dringlichkeit solcher Ansprüche zu beurteilen, und dies setzt voraus, dass wir in der Lage sind zu vergleichen, wie schlecht oder gut es verschiedenen Personen im Hinblick auf ihre mentalen Zustände geht. Für die umfassende Beurteilung aller moralisch relevanten bedarfsbezogenen Ansprüche (die Ansprüche auf anderes als positive Gefühle einschließen) können Vergleiche zwischen subjektiven Gefühlszuständen aber keine ausreichende Grundlage

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Interpersonelle

Vergleiche

bieten. Die bloße Tatsache, dass eine Person sich schlechter fühlt als eine andere, kann vom öffentlichen Standpunkt aus niemals ein hinreichender Grund sein, ihr zusätzliche Güter oder Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Das subjektive Wohlgefühl ist, wenn wir von Fällen der im letzten Absatz genannten Art absehen, kein öffentlich anerkannter Wert im definierten Sinne. Würde sich die Verteilung materieller Güter in einer Gesellschaft an ihm orientieren, so hätten stets diejenigen einen größeren Anspruch auf Ressourcen, denen man nur unter besonderen Aufwendungen eine Freude machen oder Vergnügen bereiten kann. Dies mag gelegentlich der Fall sein (etwa bei kranken Menschen), sobald man jedoch an Philister und Misanthropen denkt, wird man auch dauerhafte Unzufriedenheit oder schlechte Laune nicht als Grund für moralische Ansprüche auf besondere Zuwendungen gelten lassen wollen. Ein weiterer Punkt ist, dass es manchen Menschen Freude bereitet, anderen Schaden zuzufügen oder sie leiden zu sehen. Es widerspricht jedoch den moralischen Überzeugungen der meisten Menschen, dass mit der Befriedigung sadistischer Neigungen verbundene Lustgefühle, wenn sie nur stark genug sind, die durch sie verursachten Leiden überwiegen und sadistische Handlungen rechtfertigen könnten. Schließlich ist das subjektive Wohlbefinden von Personen auch darum ein schlechter Indikator sozialer Gerechtigkeit, weil Personen, die über lange Zeiten benachteiligt werden, sich den eingeschränkten Lebensbedingungen, die sie vorfinden, anpassen und sich häufig in der einen oder anderen Weise mit ihrer unterprivilegierten Lage abfinden. So mögen sie sich unter Umständen subjektiv zufrieden und glücklicher fühlen als ihre privilegierteren Mitbürger, ohne dass sie deswegen weniger benachteiligt wären. Der Hedonismus bietet demnach weder eine angemessene Konzeption individuellen Wohlergehens noch eine akzeptable Basis für die Beurteilung gesellschaftlicher Güterverteilungen. Eine plausible Konzeption bedarfsbezogener interpersoneller Vergleiche muss hedonistische Elemente aufnehmen, sie lässt sich aber nicht auf diese reduzieren.

Wohlergehen als Präferenzerfüllung

4. Wohlergehen als

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Präferenzerfüllung

Die internen Schwierigkeiten des klassischen Ansatzes haben in der utilitaristischen Tradition zur Ausarbeitung einer auf Präferenzen bezogenen Wohlfahrtskonzeption geführt. An die Stelle des hedonistischen, inhaltlich-empirisch bestimmten Nutzenbegriffs tritt in ihnen die formale Konzeption der Präferenzerfüllung. Ihr zufolge bemisst sich der Grad individuellen Wohlergehens daran, inwieweit es einer Person gelingt, mit den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen ihre rationalen persönlichen Präferenzen, worin immer diese bestehen mögen, zu befriedigen.6 Innerhalb des utilitaristischen Lagers ist der von rationalen Präferenzen ausgehende Wohlfahrtsbegriff das zurzeit dominierende Paradigma. Prominente Vertreter sind Kenneth Arrow, John Harsanyi und Richard Hare.7 In Reaktion auf die vehemente Kritik an ihm ist jedoch vereinzelt eine Rückwendung zu hedonistisch ausgerichteten Konzeptionen zu beobachten.8 Die Stärke der an Präferenzen orientierten Ansätze liegt darin, dass sie aufgrund des rein formalen Vergleichskriteriums der Präferenzerfüllung willkürliche Einschränkungen dessen vermeiden, was Personen sinnvollerweise wünschen und erstreben können. Sie werden dadurch der subjektiven Vielfalt und Verschiedenartigkeit persönlicher Wünsche und Lebensziele besser gerecht und entgehen so einem der Haupteinwände gegen hedonistische Konzeptionen. Auch tragen sie dem Umstand Rechnung, dass nicht alle Personen mit Blick auf ihre persönlichen Fähigkeiten und Lebensumstände gleichermaßen in der Lage sind, ihnen verfügbare Güter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche zu nutzen. Zwei Personen mit gleichen Präferenzen, die über qualitativ identische Güterbündel verfügen können, sind diesen Ansätzen zufolge deshalb nicht notwendigerweise materialiter gleichgestellt. Wenn eine der beiden Personen zum Beispiel behindert oder chronisch krank ist und besondere Hilfsmittel oder teure Medikamente zum Leben benötigt, ist sie bei gleicher Güterausstattung schlechter gestellt

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Interpersonelle Vergleiche

als diese und hat prima facie einen Anspruch auf zusätzliche Güter und Ressourcen. Bei Harsanyi wird der Begriff der Präferenzstärke mithilfe des von-Neumann-Morgenstern-Verfahrens zur Konstruktion kardinaler Nutzenfunktionen formal definiert.9 Wir können die Stärke der Präferenzen einer Person für bestimmte Güterverteilungen feststellen, indem wir das Entscheidungsverhalten dieser Person gegenüber Alternativen beobachten, die mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit bestimmte Verteilungen realisieren oder nicht realisieren. Nehmen wir an, die Präferenzen einer Person A ließen sich als eine Menge M geordneter Paare von Alternativen x, y, ... ζ darstellen, zwischen denen folgende Relationen bestehen: A präferiert χ gegenüber y (xPy) oder y gegenüber χ (yPx), oder A ist zwischen beiden Alternativen indifferent (xly). Nennen wir M die Präferenzordnung von Α. M ist vollständig oder konnex, wenn für alle Alternativen χ und y die Bedingung erfüllt ist: entweder xPy oder yPx oder xly. M ist eine transitive Präferenzordnung, wenn xPy & yPz —> xPz und xly & ylz xlz gilt. Eine Person mit in diesem Sinne konnexen und transitiven Präferenzen trifft alle ihre Entscheidungen auf der Basis einer einzigen Präferenzordnung. M ist eine ordinale Ordnung, weil die Relation Ρ keine Angaben darüber macht, wie stark A's Präferenz für eine bestimmte Alternative gegenüber einer anderen ist. Wenn wir zum Beispiel wüssten, dass A sowohl Kaffee als auch Tee gegenüber Milch vorzieht, könnten wir gleichwohl nichts darüber sagen, wie A Kaffee im Verhältnis zu Tee bewertet. A's Präferenz für Kaffee mag stärker oder schwächer oder gleich stark wie ihre Präferenz für Tee sein. Nun können wir auf der Grundlage ordinaler Präferenzen zu kardinalen Aussagen über Präferenzstärken gelangen, wenn Personen nicht nur bestimmte Alternativen gegenüber anderen vorziehen, sondern auch Präferenzen für Lotterien von Alternativen haben. Eine Lotterie sei eine vollständige Disjunktion von Alternativen, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit realisiert werden, falls sich eine Person entsprechend entscheidet.

Wohlergehen als Präferenzerfüllung

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Nehmen wir zum Beispiel an, A ziehe Kaffee gegenüber Tee und Tee gegenüber Milch vor. Falls ihre Präferenzen, wie wir unterstellen, transitiv sind, zieht sie dann auch Kaffee gegenüber Milch vor. Stellen wir A jetzt vor die Wahl, entweder eine Tasse Tee zu trinken oder ein Los zu ziehen, das ihr mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 eine Tasse Kaffee und mit derselben Wahrscheinlichkeit eine Tasse Milch bietet. Ist A in diesem Fall indifferent zwischen dem Kaffee-Milch-Los und der Tasse Tee, können wir daraus den Schluss ziehen, dass die Differenz zwischen ihrer Bewertung von Kaffee und Milch genau doppelt so groß ist wie die Differenz zwischen ihrer Bewertung von Tee und Milch, andernfalls würde sie sich entweder für das Los oder für die sichere Tasse Tee entscheiden. A ist offenbar nur dann indifferent zwischen der Tasse Tee und dem Los, wenn beides aus ihrer Sicht denselben Wert hat, und der Wert des Loses ist eine Funktion des Wertes der mit ihm verbundenen Alternativen (Kaffee oder Milch), gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens. Das Kaffee-MilchLos ist umso wertvoller für A, je höher sie Kaffee und Milch bewertet und je wahrscheinlicher es ist, dass die bevorzugte Alternative (in unserem Fall Kaffee) realisiert wird. Wenn wir den Wert des Kaffees gleich x, den Wert des Tee gleich y und den Wert der Milch gleich ζ setzen, muss folgende Gleichung gelten: l / 2 x + 1/2 ζ = y, und daraus folgt, wie leicht zu sehen ist, dass χ - ζ = 2(y - z). Abhängig von den tatsächlichen Präferenzen einer Person müssen wir gegebenenfalls die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten im Los variieren, um eine entsprechende Gleichung aufzustellen. Da die Eintrittswahrscheinlichkeiten für die mit dem Los verbundenen Alternativen zusammen immer 1 ergeben müssen, können wir die kardinalen Präferenzstärken einer Person mithilfe der folgenden Gleichung bestimmen: αχ + ( 1 - α)ζ = y, so dass allgemein χ - ζ = Ι / α (y - ζ) gilt. Wenn wir nun y = 1 und ζ = 0 setzen, können wir, sobald α bekannt ist, einen numerischen Wert u,(x) für χ berechnen (= den wir als ihren von-Neumann-Morgenstern-Nutzenindex bezeichnen wollen. So

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Interpersonelle Vergleiche

ist es, sobald wir zwei Bewertungen von Präferenzstärken willkürlich vorgenommen haben, durch wiederholte Anwendung dieses Verfahrens möglich, für alle Alternativen x, y, ... ζ einen numerischen Wert u,(x) zu ermitteln, der uns den Grad der Präferenzerfüllung einer Person i für den Fall angibt, dass χ realisiert wird. Nun muss es mit Blick auf die Aufgaben einer Wohlfahrtskonzeption bei der Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen möglich sein, Stufen persönlichen Wohlergehens interpersonell zu vergleichen. Und ein bekanntes Problem für die Vergleichbarkeit der von-Neumann-Morgenstern-Indizes verschiedener Personen ergibt sich daraus, dass das Lotterieverfahren zur numerischen Bestimmung von Präferenzstärken oder Nutzenindizes, wie wir bereits gesehen haben, zwei Indexwerte als gegeben voraussetzt. Sie können nicht nach diesem Verfahren ermittelt, sondern müssen frei gewählt werden. Die Konsequenz ist, dass beliebige positive lineare Transformationen des Nutzenindexes einer Person zu äquivalenten Beschreibungen ihres Entscheidungsverhaltens bei risikobehafteten Entscheidungen führen. Die Nutzenindizes von zwei Personen können deshalb jeweils willkürlich positiv linear variiert werden, und es ist unklar, an welchen absoluten Zahlenwerten wir uns beim interpersonellen Vergleich ihrer Nutzenindizes orientieren sollen. Dies schließt, wie Harsanyi mit Recht betont, interpersonelle Vergleiche von Indexwerten nicht von vornherein aus. 10 Sobald es möglich ist, für mindestens zwei Paare von sozialen Zuständen (x^yi) und (x 2 ,y 2 ) die Indexwerte von zwei Personen gleichzusetzen, lassen sich alle ihre Indexwerte miteinander vergleichen. Interpersonelle Vergleiche von Graden der Präferenzerfüllung setzen dann nicht mehr voraus, als dass wir in der Lage sind, zwischen zwei Personen auf nicht willkürliche Weise mindestens zwei Vergleiche des folgenden Typs anzustellen: X ! ist für Pj genauso gut wie x 2 für P 2 . Sicher ist es möglich, auf der Basis unseres empirischen Wissens über uns selbst und andere empirische Aussagen dieser Art in mehr oder weniger

Wohlergehen als Präferenzerfüllung

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plausibler Weise zu begründen. Ich bezweifle jedoch, dass sie eine geeignete Grundlage für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen bieten. Ein Problem liegt in der mangelnden empirischen Überprüfbarkeit interpersoneller Vergleiche von Präferenzstärken. Die lineare Transformierbarkeit der von-Neumann-MorgensternIndizes bedeutet, dass die Wahl von genau zwei Vergleichsgrößen oder Indizes ohne empirisch-explanatorische Bedeutung ist: Wie immer wir diese Größen wählen, wir erhalten, falls wir konsistent und fehlerfrei vorgehen, dieselben Beschreibungen des Entscheidungsverhaltens einer Person und gelangen zu denselben diesbezüglichen Prognosen. Die Konsequenz ist, dass alle Beschreibungen des beobachtbaren Verhaltens von zwei Personen, die auf für jede Person intern korrekten Indizes beruhen, ebenfalls mit Blick auf die von ihnen gestützten Prognosen äquivalent sind. Es gibt deshalb keinen im Entscheidungsverhalten einer Person beobachtbaren Unterschied zwischen interpersonell in korrekter Weise aufeinander abgestimmten Nutzenindizes und solchen, die auf falschen Bewertungen beruhen, solange die Indizes für jede einzelne Person korrekt sind. Wie aber sollten sich unter diesen Bedingungen kontroverse interpersonelle Vergleiche gegen Einwände verteidigen lassen? Die Hauptprobleme für präferenzen-bezogene Wohlfahrtskonzeptionen liegen jedoch nicht in den grundsätzlichen Schwierigkeiten, eine verlässliche empirische Basis für interpersonelle Vergleiche zu finden. Ein gewichtiger und genuin moralischer Einwand gegen präferenzen-bezogene Wohlfahrtskonzeptionen ist, dass sie ebenso wie hedonistische Konzeptionen konsequenterweise auch die Befriedigung sadistischer und amoralischer Präferenzen als einen Wert betrachten müssen 11 , was den Überzeugungen der meisten Menschen widerspricht. Harsanyi klammert sadistische, amoralische und antisoziale Präferenzen zwar ausdrücklich aus, wenn es um die moralische Beurteilung von Güterverteilungen unter Berücksichtigung der Präferenzen aller involvierten Personen geht. 12 Es ist jedoch schwer zu sehen, wie sich dieser Ausschluss mit Harsanyis Grundsatz der Präferenz-

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Interpersonelle Vergleiche

autonomie vereinbaren lässt, dem zufolge moralische Urteile ausschließlich auf einer rationalen und unparteiischen Abwägung aller involvierten Präferenzen beruhen, ohne dass vorgegebene oder ,objektive' moralische Wertsetzungen des Urteilenden eine Rolle spielen dürften.13 Eine Reihe weiterer Einwände gegen präferenzen-bezogene Wohlfahrtskonzeptionen beruht auf dem, was man die Wandelbarkeit oder Anpassungsfähigkeit individueller Präferenzen nennen könnte. So bilden sich die Präferenzen von Personen unter dem Einfluss einer bereits gegebenen Güterverteilung und im Hinblick auf zu erwartende zukünftige Verteilungen. Eine Person, die über viele Güter verfügen kann und annehmen darf, dass sich dies auch in Zukunft nicht ändert, wird sich in der Regel weiter gesteckte Pläne setzen als eine andere, die von früh an lernen musste, sich zu bescheiden. So droht präferenzenorientierten Wohlfahrtskonzeptionen ein circulas vitiosus: Die Gerechtigkeit von Güterverteilungen wird abhängig von Faktoren, die selbst erst das Resultat gerechter oder ungerechter Verteilungen sind.14 Ein anderes Problem, das sich aus der Wandelbarkeit von Präferenzen ergibt, ist folgendes: Die normativen Überzeugungen und Präferenzen vieler Menschen ändern sich im Laufe ihres Lebens mehr oder weniger häufig und mehr oder weniger einschneidend, und es ist nicht klar, an welchen Präferenzen man sich orientieren soll, wenn es um das Wohlergehen einer Person geht. Soll unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit der Grad der Präferenzbefriedigung zugrunde gelegt werden, den jemand vor oder nach seinem Austritt aus der Konsumgesellschaft und seinem Eintritt in ein Kloster mit den ihm zur Verfügung stehenden Gütern zu realisieren vermag? Je nachdem, an welchen Präferenzen einer Person man sich orientiert, erscheinen aus der Perspektive präferenzen-bezogener Konzeptionen verschiedene Güterverteilungen gerechtfertigt.15 Es liegt nahe zu versuchen, das Problem wechselnder Präferenzen dadurch zu umgehen, dass man sich am Grad der Präferenzerfüllung orientiert, den eine Person im Laufe ihres

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gesamten Lebens (alle Präferenzänderungen eingeschlossen) mit den ihr zur Verfügung stehenden Gütern zu realisieren vermag. Dies würde jedoch einen konsistenten Begriff von persönlicher Präferenzerfüllung voraussetzen, der die wechselnden Präferenzen einer Person umfasst, und ich bezweifle, dass es einen solchen Begriff geben kann. Wir müssten voraussetzen, dass rationale Personen ein gegenüber ihren aktuellen Präferenzen höherrangiges Interesse daran haben, dass nicht nur ihre aktuellen wohlerwogenen Präferenzen erfüllt werden, sondern alle Präferenzen, die sie im Laufe ihres Lebens hatten oder haben werden. Die Annahme eines solchen höherrangigen Interesses ist jedoch nicht generell gerechtfertigt. Die Lebens- und Wertvorstellungen der meisten Personen schließen normative Überzeugungen und Ideale mit Universalitätsanspruch ein, die über bloß persönliche Vorlieben und Abneigungen hinausgehen. Sobald sich diese Überzeugungen und Ideale im Laufe des Lebens in grundlegender Weise ändern, können wir nicht mehr generell davon ausgehen, dass eine Person zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens ein übergeordnetes rationales Interesse daran hat, dass alle Präferenzen, die irgendwann einmal ihre Präferenzen waren oder sein werden, ceteris paribus befriedigt werden sollten, und zwar auch dann nicht, wenn es sich um Präferenzen handelt, die zum jeweiligen Zeitpunkt wohlerwogene und rationale Präferenzen waren. Wer etwa zu der Überzeugung gelangt ist, dass nur ein Leben in materieller Armut ein gutes Leben sein kann, wird es nachträglich womöglich nicht nur bedauern, früher im Überfluss geschwelgt zu haben, sondern muss konsistenterweise, wenn seine Überzeugungen Ausdruck eines moralischen oder religiösen Ideals sind, auch bestreiten, dass die Erfüllung seiner früheren Präferenzen tatsächlich etwas Gutes und Erstrebenswertes war, wie immer ihm die Sache damals nach wohlerwogenem Überlegen erschienen sein mag. Die jetzt von ihm bejahten asketischen Ideale schließen etwas anderes aus. Präferenzerfüllung per se, das heißt unabhängig vom Inhalt der jeweils involvierten Präferenzen, ist, sobald wir die Möglichkeit auch grundlegen-

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Interpersonelle Vergleiche

der Änderungen der normativen Überzeugungen einer Person bedenken, kein rationalerweise anzuerkennender Wert. In vielen Fällen erschiene es aus der Perspektive der betroffenen Personen selbst ungerechtfertigt, sich bei der gesellschaftlichen Verteilung von Gütern an allen Präferenzen, die im Laufe ihres Lebens ihre Präferenzen sein mögen, gleichermaßen zu orientieren. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen. Ebenso wenig, wie die Erfüllung aller ihrer Präferenzen für eine Person ein rationalerweise anzuerkennender Wert ist, ist Präferenzerfüllung als solche ein öffentlich anzuerkennender Wert. Zwar gilt per definitionem, dass jedermann ein rationales Interesse zumindest an der Befriedigung seiner aktuellen wohlerwogenen Präferenzen hat. Daraus folgt jedoch nicht, dass die Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft Präferenzerfüllung als solche als Wert anerkennen müssten. Selbst wenn wir Harsanyi folgen und sadistische, antisoziale und amoralische Präferenzen ausklammern, können wir in einer pluralistischen Gesellschaft nicht generell davon ausgehen, dass die Gesellschaftsmitglieder vom öffentlichen Standpunkt aus ein übergeordnetes Interesse daran hätten, dass die wohlerwogenen Präferenzen aller erfüllt werden sollten. In der Tat müssen wir annehmen, dass die Mitglieder pluralistischer Gesellschaften vor dem Hintergrund ihrer normativen Überzeugungen häufig die Erfüllung vieler wohlerwogener Präferenzen ihrer Mitbürger aus moralischen oder religiösen Gründen für falsch halten und ablehnen werden. Und niemand kann von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen verpflichtet sein, anderen dabei zu helfen, Dinge zu tun, die mit seinen eigenen wohlerwogenen moralischen oder religiösen Überzeugungen auch dann noch unvereinbar sind, wenn er die Interessen aller betroffenen Personen unparteiisch erwogen hat und anerkennt, dass alle grundsätzlich den gleichen Anspruch darauf haben, in Übereinstimmung mit ihren eigenen wohlerwogenen Überzeugungen zu leben.

Objektive Wohlfahrtskonzeptionen 5. Objektive

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Wohlfahrtskonzeptionen

Die vorgetragenen Kritikpunkte an präferenzen-bezogenen Wohlfahrtskonzeptionen zeigen, dass der formale Begriff der Präferenzerfüllung in einer pluralistischen Gesellschaft keine angemessene Basis für interpersonelle Vergleiche zur Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen sein kann. So kommen wir zur dritten Gruppe von wohlfahrt-orientierten Ansätzen. Sie definieren den Begriff der Wohlfahrt durch inhaltlich bestimmte objektive Merkmale individuellen Wohlergehens. Von den hedonistischen und präferenzen-bezogenen Wohlfahrtskonzeptionen unterscheiden sich diese Ansätze durch ihren Objektivitätsanspruch. Es wird angenommen, dass es auf die Frage, was das Wohl einer Person ausmacht, eine Antwort gibt, die unabhängig von ihren Überzeugungen, Einstellungen und Gefühlszuständen ist. Die Merkmale individuellen Wohlergehens lassen sich ihnen zufolge in ihrer Gesamtheit weder auf die Präsenz oder Abwesenheit bestimmter Bewusstseinszustände reduzieren, wie es hedonistische Konzeptionen unterstellen, noch sind sie ausschließlich durch die wohlerwogenen Überzeugungen und Präferenzen einer Person bestimmt, wie es bei präferenzen-bezogenen Konzeptionen der Fall ist. Objektive Merkmale individuellen Wohlergehens in diesem Sinne sind zum Beispiel ausreichender Wohnraum, materieller Wohlstand, Bildung, körperliche und seelische Gesundheit und die Abwesenheit von Schmerzen, eine hohe Lebenserwartung, Selbstachtung und Selbstvertrauen und allgemein die Lebensund Handlungsfähigkeit einer Person. J e nach der zugrunde gelegten inhaltlichen Konzeption dessen, worin das Wohl einer Person zu sehen ist, ergeben sich verschiedene Listen von Merkmalen. Bereits meine rhapsodische Zusammenstellung zeigt jedoch, dass die objektiven Merkmale individuellen Wohlergehens eine heterogen zusammengesetzte Menge bilden, die mentale und physische Zustände ebenso einschließt wie persönliche Fähigkeiten und Handlungsdispositionen; darüber hinaus müssen auch die äußeren materiellen und sozialen Lebensum-

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Interpersonelle Vergleiche

stände einer Person als objektive Wohlfahrtsmerkmale berücksichtigt werden. Wohlfahrtskonzeptionen dieser Art beruhen auf einer Theorie darüber, durch welche Merkmale sich ein gutes und gelungenes menschliches Leben objektiv auszeichnet.16 Sie beurteilen gesellschaftliche Güterverteilungen danach, inwieweit sie allen Gesellschaftsmitgliedern die für ein gutes Leben notwendigen materiellen und sozialen Voraussetzungen garantieren. Zwei Personen sind ihnen zufolge, so können wir in einer ersten Annäherung sagen, materialiter gleichgestellt, wenn sie dieselben Merkmale individuellen Wohlergehens in gleichem Maße realisieren.17 Martha Nussbaum hat in einer Reihe von Arbeiten aus den letzten Jahren eine in diesem Sinne objektive Theorie des für den Menschen Guten vorgestellt. Ebenso wie Maclntyre (s. Kap. 5) vertritt Nussbaum die Auffassung, dass das Problem einer gerechten Verteilung von Gütern und Ressourcen durch politische Institutionen nur auf der Grundlage einer umfassenden, alle menschlichen Werte einschließenden und für alle Gemeinschaften und Kulturen gültigen Konzeption des Guten zu lösen ist. Anders als Maclntyre glaubt sie jedoch, dass die Ansprüche ethischer Objektivität grundsätzlich mit der Koexistenz einer Vielfalt verschiedener Lebensformen und divergierender kulturell bestimmter Wertvorstellungen vereinbar sind. Nussbaum gewinnt ihren systematischen Leitgedanken aus einer Interpretation der aristotelischen Tugendlehre, wie sie in der nikomachischen Ethik entwickelt wird. Aristoteles führt dort die für ein gutes Leben unverzichtbaren Tugenden auf der Grundlage einer Beschreibung bestimmter Lebens- und Erfahrungsbereiche ein, die für jedes menschliche Leben wesentlich sind. Nussbaum identifiziert bei Aristoteles insgesamt elf solcher Erfahrungsbereiche (spheres of experience), zu denen die Bereiche des Körperlichen und der sinnlichen Begierden, des Haushalts und persönlichen Vermögens und des Lebens in Gemeinschaft mit anderen gehören.18 Ihnen werden die einzelnen Tugenden zugeordnet, und zwar als Beschreibungen des-

Objektive Wohlfahrtskonzeptionen

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sen, was es heißt, sich im jeweiligen Bereich im Sinne eines guten Lebens richtig zu verhalten. Die Kriterien tugendhaften Handelns ergeben sich nach Nussbaums Interpretation dabei aus einer für den jeweiligen Bereich grundlegenden Erfahrung (grounding experience), die alle Menschen teilen und auf die sie in angemessener oder unangemessener Weise reagieren können. 19 So ist nach Aristoteles für den Bereich des Körperlichen etwa die Angst vor dem Tod und vor körperlichen Verletzungen grundlegend, und die angemessene Haltung diesen physischen Bedrohungen gegenüber ist die Tapferkeit, die sich als Mitte zwischen der Waghalsigkeit und der Feigheit erweist. Wichtig ist, dass Aristoteles die Tugenden nicht ausschließlich im instrumentellen Sinne als Mittel zur Erlangung der für ein gutes Leben notwendigen Güter betrachtet. Die aristotelische Tugendlehre beruht auf einer teleologischen, aber nicht auf einer konsequenzialistischen Konzeption des Guten. Bei den Tugenden handelt es sich um menschliche Einstellungen und Haltungen, die selbst Elemente eines guten Lebens sind und deren Ausbildung und Ausübung auch um ihrer selbst willen für jeden Menschen erstrebenswert ist. Wer fähig und bereit ist, tugendhaft zu handeln, sofern seine Lebensumstände dies erlauben, ist nicht nur in der Lage, Dinge zu realisieren, die zu einem guten Leben gehören (Gesundheit, Freundschaft, Wohlstand). Die Tugenden sind zugleich um ihrer selbst willen erstrebenswerte Güter, da nach Aristoteles nur derjenige, der über die Fähigkeit und Bereitschaft zum tugendhaften Handeln verfügt, seine menschlichen Anlagen voll entwickelt hat und damit das für den Menschen als Menschen charakteristische Gut erreicht. Nun übernimmt Nussbaum von Aristoteles weder pauschal die Einteilung der menschlichen Erfahrungs- und Lebensbereiche noch die inhaltliche Bestimmung der ihnen in der nikomachischen Ethik zugeordneten Tugenden. Die aristotelische Tugendlehre dient ihr lediglich als ein Modell für die Ausarbeitung einer objektiven Konzeption des Guten, die vom Begriff

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Interpersonelle Vergleiche

des menschlichen Lebens und von den für ein solches Leben wesentlichen Grunderfahrungen ausgeht. Eine objektive Theorie des Guten setzt demnach zwei Dinge voraus: Erstens muss es möglich sein, eine an grundlegenden und allen Menschen gemeinsamen Erfahrungen ausgerichtete Einteilung von Lebensbereichen vorzunehmen. Von ihr ausgehend werden dann die objektiven Merkmale und Voraussetzungen eines guten Lebens in ihrem systematischen Zusammenhang beschrieben. Zweitens muss es möglich sein, für jeden dieser Bereiche in rationaler Weise zu bestimmen, was es heißt, sich mit Blick auf die für ihn typischen Probleme und Erfahrungen richtig und angemessen zu verhalten. Nussbaum benennt acht Bereiche des Handelns und Erlebens, in denen sich die Frage nach dem guten Leben in je spezifischer Weise stellt. (1) Sterblichkeit: Jeder Mensch ist sterblich und muss sich dieser Tatsache gegenüber in der einen oder anderen Weise verhalten. (2) Der Körper: Alle Menschen haben einen Körper, dessen physische Eigenarten ihre Bedürfnisse, ihre Selbstwahrnehmung und ihr Erleben der Wirklichkeit vor allen kulturellen Prägungen bestimmen. (3) Lust und Schmerz: Alle Menschen kennen den Unterschied zwischen lustvollen Erlebnissen und Schmerzen und verhalten sich diesen Empfindungen gegenüber in der einen oder anderen Weise. (4) Kognitive Fähigkeiten: Alle gesunden Menschen verfügen über die elementaren Vermögen des Urteilens, Denkens und Sprechens und können diese Anlagen in mehr oder weniger vollkommener Weise entwickeln und fortbilden. (5) Praktische Vernunft: Alle Menschen sind zu praktischen Überlegungen darüber fähig, wie sie ihr Leben führen und welche Ziele sie erreichen wollen. (6) Frühkindliche Entwicklung: Unabhängig von der Kultur, in der Menschen aufwachsen, ähneln sich die Phasen der kindlichen Entwicklung zum Erwachsenen und die mit ihnen verbundenen Erlebnisse und charakteristischen Erfahrungen. (7) Gemeinschaft: Alle Menschen sind auch über die Zeit der frühen Kindheit hinaus auf andere angewiesen, denen sie sich in Freundschaft oder Liebe verbunden fühlen.

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(8) Humor und Spiel: In jeder Kultur und menschlichen Gemeinschaft finden wir Formen des Spielens und Spaßhabens.20 Ohne näher auf die Einzelheiten von Nussbaums Liste der grundlegenden menschlichen Erfahrungs- und Lebensbereiche einzugehen, halten wir fest, dass es nach Nussbaums Auffassung möglich ist, für jeden dieser Bereiche in einer allgemein gültigen und kulturunabhängigen Weise festzustellen, durch welche objektiven Merkmale sich ein gutes Leben in ihm auszeichnet und welche materiellen und institutionellen Voraussetzungen für ein solches Leben notwendig sind. So müssen Menschen etwa ohne die Bedrohung eines vorzeitigen Todes leben können, in der Lage sein, sich angemessen zu ernähren, und sie müssen ihre kognitiven und praktischen Fähigkeiten entwickeln und ausüben können.21 Nussbaum räumt ausdrücklich ein, dass es angesichts der bestehenden Vielfalt kultureller Traditionen und historisch gewordener Lebensformen unmöglich ist, eine allgemein gültige Liste aller Merkmale eines guten Lebens aufzustellen, die für alle Kulturen und Gesellschaften normativ verbindlich wäre. Dieser Pluralismus schließe jedoch nicht aus, eine objektive Konzeption des guten Lebens im Sinne der aristotelischen Tugendlehre auszuarbeiten. Es reiche für eine solche Konzeption aus, wenn sich von zumindest einigen Dingen zeigen ließe, dass sie für ein gutes menschliches Leben schlechthin unverzichtbar seien. Dies genüge, um eine Vielzahl von Wertvorstellungen als objektiv falsch und die auf ihnen beruhenden Lebensweisen und Praktiken als objektiv schlecht zu kritisieren. Woran Nussbaum denkt, wenn sie von Lebensformen und Traditionen spricht, die auch von einer gegenüber kulturellen Besonderheiten offenen objektiven Konzeption des Guten auszuschließen sind, zeigt sich an den Beispielen, die sie anführt, um die praktisch-politische Bedeutung ihrer Theorie zu verdeutlichen. So sei weder Unterernährung noch Analphabetentum mit einem objektiv guten Leben zu vereinbaren. Dasselbe gelte für Klitorisbeschneidungen bei Frauen, die den Betroffenen die Möglichkeit zum „sexuellen Selbstausdruck" nähmen.

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Interpersonelle Vergleiche

Ebenso wenig ist es nach Nussbaum moralisch zulässig, Frauen während der Zeit der Menstruation von der Küchenarbeit und anderen Tätigkeiten auszuschließen, wie es offenbar in ländlichen Gebieten Indiens geschieht. Den betroffenen Frauen werde dadurch die Möglichkeit genommen, einen selbst gewählten Lebensplan zu verwirklichen.22 Um Raum sowohl für kulturspezifische Ausprägungen als auch für persönliche Variationen hinsichtlich der Vorstellungen von einem guten Leben zu lassen, bestimmt Nussbaum die für ein objektiv gutes Leben ihrer Konzeption zufolge wesentlichen Merkmale nicht als konkret realisierte Güter oder Handlungen, sondern vielmehr als das Vermögen (capability), bestimmte Güter zu erlangen resp. bestimmte Dinge zu tun. 23 Ein objektiv gutes Leben zeichnet sich demnach nicht dadurch aus, dass eine Person bestimmte Dinge tut und erreicht (sich zum Beispiel gesund ernährt oder mit einem Partner sexuelle Befriedigung sucht und findet), sondern dadurch, dass sie in der Lage ist, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen, je nachdem, wie es ihrer kulturell geprägten und durch persönliche Entscheidungen bestimmten Lebenskonzeption entspricht. Der Begriff der capability umfasst bei Nussbaum zwei Komponenten, eine interne und eine externe. Als internes Vermögen bezieht er sich auf Eigenschaften und Fähigkeiten, die es einer Person unter geeigneten Bedingungen erlauben, ihre persönlichen Vorstellungen von einem guten Leben zu realisieren. Die Fähigkeiten zu lesen und zu schreiben sind interne Vermögen in diesem Sinne, aber auch der Ernährungszustand einer Person, der es ihr erlaubt, körperliche Anstrengungen auf sich zu nehmen und anstrengende Arbeiten zu übernehmen. Externe Vermögen beziehen sich demgegenüber auf die äußeren materiellen und sozialen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Person in der Lage ist, ihre internen Vermögen auszuüben und Dinge zu tun, die für sie von Wert sind. So muss genügend Nahrung vorhanden sein, es müssen gewisse Freiheitsrechte gewährleistet sein u. Ä. Um ein objektiv gutes Leben führen zu können, muss eine Person sowohl über die internen als auch

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über die externen Vermögen verfügen, Dinge zu realisieren, die für sie von Wert sind und die im Rahmen dessen liegen, was in den verschiedenen Erfahrungs- und Lebensbereichen als Teil einer rational begründeten Konzeption des Guten angesehen werden kann. Die Aufgabe der politischen Institutionen einer Gesellschaft läge dann darin, für alle Gesellschaftsmitglieder nach besten Kräften diejenigen materiellen und rechtlichen Bedingungen (externen Vermögen) zu realisieren, die erfüllt sein müssen, damit alle Personen die für ein gutes Leben nötigen internen Vermögen in hinreichendem Maße entwickeln und ausüben können.24 Es stellt sich nun die Frage, inwieweit Nussbaums Entwurf für eine umfassende objektive Theorie des Guten eine geeignete Basis für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen in einer pluralistischen Gesellschaft bietet. Ich sehe im Wesentlichen zwei Schwierigkeiten. Die erste betrifft den von Nussbaum erhobenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, die zweite das Problem der öffentlichen Rechtfertigung kollektiver Entscheidungen durch teleologische Argumentationsformen. Beide ergeben sich daraus, dass einerseits behauptet wird, die für die Entwicklung und Ausübung der basic capabilities unverzichtbaren materiellen und institutionellen Voraussetzungen seien für alle Menschen objektiv notwendige Güter, dass aber andererseits begründete Meinungsverschiedenheiten über die Beurteilung derjenigen Dinge zugelassen werden, zu deren Verwirklichung die Grundvermögen von Einzelnen in Ubereinstimmung mit ihren persönlichen Wertvorstellungen genutzt werden. Nussbaum geht, wie wir gesehen haben, in ihrer Beschreibung der Merkmale und Voraussetzungen eines guten Lebens von einer Einteilung der wichtigsten menschlichen Lebens- und Erfahrungsbereiche aus. In jedem dieser Bereiche lassen sich bestimmte Probleme identifizieren, auf die alle Menschen in der einen oder anderen Weise reagieren müssen. Es sind die besonderen Eigenarten dieser Probleme, aus denen sich die inhaltlichen Kriterien dafür ergeben, wodurch sich ein gutes Leben von einem schlechten Leben objektiv unterscheidet. Mit Blick auf

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Interpersonelle

Vergleiche

viele dieser Probleme (wenn nicht alle) sind verschiedene vernünftig begründbare Antworten möglich, aber eben nicht beliebige. Und so lässt sich nach Nussbaum ein Kernbestand an allgemein gültigen Aussagen über die Erfordernisse eines guten Lebens identifizieren. Die Vorgehensweise ist plausibel. Man beginnt mit einer Beschreibung der wichtigsten Aspekte des menschlichen Lebens, bemüht sich dabei um Vollständigkeit und versucht, eine möglichst konsistente Vorstellung davon zu entwickeln, worauf es mit Blick auf das menschliche Wohl in den einzelnen Lebensbereichen ankommt. Bei diesem Vorgehen liegt das Problem für eine allgemein gültige und insofern alternativlose Theorie des Guten freilich darin, dass sie nicht erkennen lässt, warum Personen aus verschiedenen Kulturen oder mit divergierenden persönlichen Lebensvorstellungen, wenn sie ihr folgen, notwendigerweise dazu gelangen sollten, in bestimmten Punkten dieselben Dinge als rational erstrebenswert zu betrachten. Unterernährung, Analphabetentum und soziale Praktiken wie die zwangsweise Beschneidung von Frauen sind große Übel und werden von Martha Nussbaum zu Recht verurteilt. Ich glaube aber nicht, dass es zulässig ist, daraus den Schluss zu ziehen, dass es keine vernünftige Konzeption von einem guten Leben geben könne, in der ausreichende Ernährung, elementare Lese- und Schreibfähigkeiten und die Möglichkeit der sexuellen Befriedigung nicht als erstrebenswerte Güter auftreten. Dabei denke ich zum Beispiel an den Hungerkünstler in Kafkas gleichnamiger Parabel. Jedes Mal, wenn der Impresario ihn nach der im Voraus festgesetzten Frist von vierzig Tagen aus seinem Hungerkäfig holt und ihn zum Essen drängt, fragt er sich: „Warum gerade jetzt nach vierzig Tagen aufhören? Er hätte es noch lange, unbeschränkt lange ausgehalten ..., denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen."25 Der Hungerkünstler ist ein Beispiel für jemanden, in dessen Lebensentwurf eine seinen physiologischen Bedürfnissen angemessene Ernährung keine resp. eine nur missliche Rolle spielt. Sicher, wir sind geneigt, Leute wie den Hungerkünstler für seelisch

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krank zu halten und anzunehmen, dass sie nach einer geeigneten Therapie andere Wünsche hätten, die mit ihrem physischen Wohlergehen besser zu vereinbaren wären. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen mag dies auch zutreffen. Dies berechtigt uns jedoch nicht zu der Annahme, dass sich niemals ein Mensch in freier und rationaler Weise für ein Leben als Hungerkünstler entscheiden könnte; denn diese Annahme beruht offenbar bereits auf der Überzeugung, dass Wohlgenährtheit ein für alle Menschen gleichermaßen erstrebenswertes Gut ist. Warum sollte es nicht denkbar sein, dass eine Person sich rationalerweise für ein Leben als Hungerkünstler entscheidet? Nussbaum würde dem wohl zustimmen, denn sie hebt ausdrücklich hervor, dass es mit Blick auf die für ihre Theorie des Guten zentralen capabilities einer Person nicht darauf ankomme, was jemand in Übereinstimmung mit seinen normativen Überzeugungen tatsächlich tut, sondern darauf, welche realen Möglichkeiten er hat, sich so oder anders zu entscheiden. Freiwilliges Fasten ist etwas anderes als durch Mangel an Nahrungsmittel erzwungenes Hungern.26 Das Leben eines Hungerkünstlers könnte nach Nussbaum also ein objektiv gutes Leben sein, solange seine Entscheidung zu hungern eine freiwillige ist. Ein Leben ohne die Möglichkeit, das Hungern zu beenden, wäre dagegen ein objektiv schlechtes Leben. Der Wert eines Lebensentwurfes beruht hier, wie bei John Stuart Mill27, darauf, dass es sich um einen frei gewählten Entwurf handelt. Zweifellos hat jeder Mensch einen (wie immer qualifizierten) moralischen Anspruch auf die zum Leben nötigen Nahrungsmittel. Eine Gesellschaft, die einige ihrer Mitglieder willentlich verhungern lässt, ist eine schlechte Gesellschaft. Daraus folgt aber noch nicht, dass jede vernünftige Konzeption des Guten den Wert der Möglichkeit bejahen muss, sich angemessen zu ernähren. In der Regel ist der Wert eines Vermögens oder einer Fähigkeit eine Funktion des Wertes derjenigen Dinge, die einer Person durch sie ermöglicht werden. Lesen zu können ist wichtig, weil Lesen wichtig ist, und der Wert des Essenkönnens ergibt sich aus dem Wert des Essens. Aus welchem Grund sollte

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Interpersonelle

Vergleiche

also der Hungerkünstler den Wert der Möglichkeit zu essen für sich selbst anerkennen, wenn er gar nicht essen will? Auch eine Lebensform, zu der es unter gegebenen Bedingungen keine Alternative gibt, kann eine gute Lebensformen sein, und so mag es der Hungerkünstler nach wohlerwogenem Überlegen vorziehen, dass für ihn nicht einmal die Möglichkeit, Nahrung zu sich zu nehmen, bestünde. Natürlich muss er damit rechnen, dass sich seine Präferenzen und Lebensvorstellungen ändern, so dass es jedenfalls klug wäre, Nahrungsmittel nicht für alle Zeiten auszuschlagen. Dies ist jedoch für unser Problem irrelevant, weil es für alle Konzeptionen des Guten gilt und nichts über ihre interne Rationalität aussagt. Wenn das Leben eines Hungerkünstlers nicht notwendigerweise ein schlechtes Leben ist, dann ist auch ein Leben ohne die Möglichkeit, sich angemessen zu ernähren, nicht notwendigerweise ein schlechtes Leben, jedenfalls nicht aus der Sicht des Hungerkünstlers. Sobald wir begründete Meinungsverschiedenheiten über die konkrete Gestalt des für den Menschen Guten zulassen, können wir auch begründete Meinungsverschiedenheiten darüber nicht länger ausschließen, welche materiellen und institutionellen Voraussetzungen für ein gutes Leben objektiv notwendig sind.28 Eine alternativlose objektive Theorie des Guten im Sinne Nussbaums kann es unter dieser Voraussetzung nicht geben. Dies hat unmittelbare Konsequenzen für die öffentliche Rechtfertigung politischer Entscheidungen im Rekurs auf die von Nussbaum benannten grundlegenden menschlichen Vermögen. Nehmen wir das wichtige Gut der sexuellen Selbstbestimmung und seine institutionellen Voraussetzungen. Warum sollte jemand, der außereheliche Sexualität als Sünde betrachtet und für ein soziales Übel hält, bereit sein, durch seine Unterstützung entsprechender liberaler sozialer und rechtlicher Regelungen andere in die Lage zu versetzen, in sozial anerkannter Weise Dinge zu tun, die er selbst aus wohlerwogenen Gründen ablehnt? Wenn wir vom Gedanken der öffentlichen Rechtfertigung ausgehen und das Bestehen begründeter Meinungsverschiedenheiten in sexuellen Fragen anerkennen, gibt es darauf

Öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale

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eine einfache Antwort. Niemand hat vom öffentlichen Standpunkt aus gesehen das Recht, andere Menschen im Namen einer kontroversen Konzeption des Guten durch institutionelle Beschränkungen daran zu hindern, Dinge zu tun, die sie selbst nach wohlerwogenem Überlegen für gut und richtig halten. Dies gilt jedenfalls, solange sie niemanden durch ihre Lebensweise daran hindern, in Übereinstimmung mit seinen eigenen wohlerwogenen Vorstellungen zu leben. Diese Antwort beruht aber gerade nicht auf einer von allen Beteiligten geteilten Auffassung darüber, welche institutionellen Regelungen notwendige Bedingungen eines objektiv guten Lebens sind. Denn eben darüber besteht Uneinigkeit, ob es zu einem guten Leben gehört, in der Sexualität ohne staatliche Eingriffe frei entscheiden zu können oder nicht.

6. Öffentlich anerkannte

Wohlfahrtsmerkmale

In pluralistischen Gesellschaften, deren Mitglieder divergierende umfassende Konzeptionen des Guten vertreten, lässt sich kein allgemeiner Konsens über die objektiven Merkmale und Voraussetzungen eines guten Lebens in Gemeinschaft mit anderen durch rationale Argumentation herbeiführen. Objektive Konzeptionen des Guten im Sinne Nussbaums können deshalb keine geeignete Grundlage für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen bieten. Dies bedeutet nicht, dass auch die von Nussbaum im Einzelnen benannten Wohlfahrtsmerkmale keine angemessene Grundlage für interpersonelle Vergleiche des Wohlergehens verschiedener Personen böten. Niemand bezweifelt, dass zum Beispiel ausreichende Nahrungsmittel, eine angemessene medizinische Versorgung und die für ein erfüllendes Leben nötigen Freiheiten relevante Kriterien dafür sind, ob eine Gesellschaft gerecht ist oder nicht. Sie können es aber nicht deshalb sein, weil sie objektiv alternativlose Merkmale eines guten menschlichen Lebens wären - denn darüber bestehen begründete Meinungsverschiedenheiten - , sondern weil sie

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Interpersonelle Vergleiche

Ausdruck öffentlich anerkannter Werte oder kurz: weil sie öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale sind. Die von Nussbaum angeführten Wohlfahrtsmerkmale beschreiben in der Mehrzahl Dinge, die wir keinem Wesen, das wir als moralische Person anerkennen, willkürlich gegen seinen Wunsch vorenthalten können, ohne dadurch seinen Status als moralische Person in Frage zu stellen. Jede Person hat einen Anspruch auf diejenigen Güter, die notwendig sind, um ein Leben zu führen, das sich aus ihrer Sicht als das Leben einer moralischen Person beschreiben lässt (s. Kap. 6). Die vorgetragene Kritik an Nussbaums Konzeption ist insofern keine inhaltliche Kritik, sondern eine methodische. Nussbaum geht, nicht anders als Aristoteles, Rousseau und die Mehrzahl der gegenwärtigen Sozialphilosophen einschließlich Rawls von der Annahme aus, das Basiswerturteil einer Gerechtigkeitskonzeption müsse sich auf Güter und Werte beziehen, die für alle Menschen (oder jedenfalls für alle Mitglieder der Gesellschaft, um die es geht) vor dem Hintergrund einer vernünftigen Konzeption des Guten gleichermaßen erstrebenswert sind. Diese Annahme hat sich jedoch als zu stark erwiesen. Wenn in einer pluralistischen Gesellschaft begründete Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie das für den Menschen objektiv Gute inhaltlich zu bestimmen ist, können wir mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich keine Dinge finden lassen, die allen Beteiligten nach wohlerwogenem Überlegen gleichermaßen erstrebenswert erscheinen. Wie die in diesem und im vorigen Kapitel vorgestellte Konzeption der öffentlichen Werte zeigt, ist die Annahme einer inhaltlichen Konvergenz aller vernünftigen Konzeptionen des Guten in bestimmten Punkten (seien es nun die Rawls'schen Grundgüter oder Sens und Nussbaums capabilities) jedoch unnötig. Das Basiswerturteil einer Gerechtigkeitskonzeption muss sich auf öffentlich anerkannte Werte beziehen, aber nicht auf Werte, die für jeden Menschen vor dem Hintergrund seiner besonderen Konzeption des Guten dieselbe ,objektive' Bedeutung haben. Zur Begründung bedarfsbezogener Ansprüche auf

Öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale

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Güterzuteilungen und für die ihnen zugrunde liegenden interpersonellen Vergleiche genügt ein rational begründeter Konsens darüber, welche Dinge man, auch wenn sie nicht für jeden Menschen gleichermaßen erstrebenswert sind, niemandem vorenthalten kann, ohne seinen Status als moralische Person in Frage zu stellen. Ich beende diesen Abschnitt über objektive Konzeptionen individuellen Wohlergehens mit zwei Bemerkungen zum Begriff der öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmale. Erstens: Es handelt sich bei ihnen um .objektive' Wohlfahrtsmerkmale im Sinne des vorigen Abschnitts. Sie lassen sich weder auf die Präsenz bestimmter Bewusstseinszustände bei einer Person reduzieren noch sind sie ausschließlich durch deren wohlerwogene Überzeugungen und Präferenzen bestimmt. Sie sind aber nicht,objektiv' in Nussbaums Sinne, das heißt sie gehören nicht zu einer alternativlosen umfassenden Konzeption des für den Menschen Guten, und wir nehmen nicht an, dass die Ausprägung dieser Merkmale für alle Menschen mit vernünftigen Konzeptionen des Guten aus ihrer Sicht gleichermaßen erstrebenswert sein muss. Zweitens: Für öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale gilt, dass ihre Realisation oder Ausprägung durch die Mitglieder einer Gesellschaft von allen Beteiligten, wenn sie den öffentlichen Standpunkt einnehmen, als ein öffentlicher Wert anerkannt wird, das heißt, alle gestehen zu oder müssten nach gebührendem Überlegen zugestehen, dass jedes Gesellschaftsmitglied von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen in der Lage sein sollte, sie (nötigenfalls mit sozialer Unterstützung) im angemessenen Umfange zu realisieren. Man beachte, dass die Menge aller öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmale keine Schnittmenge der von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern im Rahmen ihrer umfassenden Konzeption des Guten anerkannten Wohlfahrtsmerkmale sein muss. Dies ergibt sich aus dem, was wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels über öffentliche Werte gesagt haben. Jedes Gesellschaftsmitglied ist bereit oder sollte von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen

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Interpersonelle Vergleiche

bereit sein, jedes andere Gesellschaftsmitglied bei ihrer Realisation zu unterstützen, auch wenn es die Realisation dieser Werte zeitweilig oder dauerhaft für sich selbst nicht anstrebt.

7. Wohlfahrt

und

Wohlfahrtschancen

Bevor ich nun näher auf die Konzeption öffentlich anerkannter Wohlfahrtsmerkmale eingehe, möchte ich ein Problem diskutieren, das alle am faktischen Wohlergehen von Personen orientierten Gerechtigkeitskonzeptionen gleichermaßen betrifft. Es besteht darin, dass die Wahl des faktischen Wohlergehens einer Person als relevanter Vergleichsgröße für die Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen den individuellen Transformationsprozess unberücksichtigt lässt, durch den eine Person die ihr verfügbaren Güter und Ressourcen in Merkmale individuellen Wohlergehens umsetzt. So kommt es, wenn wir von gleichen Ansprüchen aller Beteiligten ausgehen, bestimmte Wohlfahrtsmerkmale zu realisieren, zu einer kontraintuitiven Bevorzugung besonders ineffizienter Ressourcennutzer. Der gedankenlos-leichtsinnige Sozialhilfeempfänger, der seine Fähigkeiten vernachlässigt und objektiv bestehende Möglichkeiten nicht nutzt, um seine Situation zu verbessern, hätte unter Umständen denselben und womöglich einen größeren moralischen Anspruch auf zusätzliche kollektive Ressourcen als die allein erziehende Mutter, die alles tut, was in ihrer Kraft steht, und gleichwohl Schwierigkeiten hat, sich und ihre Kinder ohne soziale Unterstützung durchzubringen. Es lassen sich zwei Arten von Gründen dafür unterscheiden, warum eine Person ein Wohlfahrtsmerkmal nicht ausprägt: Erstens solche, die auf faktisch vorgegebenen Beschränkungen der Möglichkeiten einer Person beruhen, ihr verfügbare Ressourcen in ,objektives' Wohlergehen umzusetzen, wobei mit „vorgegeben" gemeint sein soll, dass es sich um Beschränkungen handelt, die sich der Kontrolle durch das Handeln der von ihnen betroffenen Personen entziehen. Hier haben wir es einer-

Wohlfahrt und Wohlfahrtschancen

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seits mit widrigen Lebensumständen zu tun - zum Beispiel im Falle einer ungewollten Schwangerschaft - , andererseits mit Einschränkungen der physischen, psychischen oder kognitiven Fähigkeiten einer Person, die sie daran hindern, vorhandene Ressourcen wirksam zu ihrem eigenen Wohle zu nutzen (körperliche Behinderungen, Stoffwechselstörungen, mangelnde Kenntnisse über die hygienische Zubereitung von Nahrungsmitteln u. Ä.). Zweitens können Einschränkungen des Wohlergehens einer Person aber auch auf ihren normativen Überzeugungen oder persönlichen Präferenzen beruhen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Vegetarier sich weigern, Fleisch zu essen, obwohl dies womöglich für die Erhaltung ihrer Gesundheit notwendig wäre, oder wenn Zeugen Jehovas Bluttransfusionen ablehnen. Wir nehmen intuitiv an, dass Personen, deren Wohlergehen aus Gründen des ersten Typs eingeschränkt ist, einen moralisch begründeten Anspruch auf zusätzliche Ressourcen und kollektive Unterstützung in der einen oder anderen Form haben; Personen, deren Wohlergehen aus Gründen des zweiten Typs eingeschränkt ist, dagegen nicht. Ich glaube, dass diese Intuition richtig ist. Öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale stützen sich auf öffentlich anerkannte Werte, und dies bedeutet, dass alle Bürger prima facie denselben Anspruch haben, sie zu realisieren, und zwar auch dann, wenn sie aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage sind. Dies gilt für Personen, die ihr eigenes Wohlergehen aufgrund faktisch vorgegebener Beschränkungen bei einer gegebenen Güterverteilung nicht gewährleisten können. Sie haben einen auf öffentliche Werte gestützten Anspruch auf Extraressourcen und andere Formen der sozialen Unterstützung. Personen, die mit Blick auf ihre Fähigkeiten und Lebensumstände in der Lage wären, ihr eigenes Wohlergehen zu sichern, dies aber nicht tun, weil es ihren Überzeugungen und Präferenzen widerspräche, haben dagegen keinen solchen Anspruch. Sie könnten die relevanten Wohlfahrtsmerkmale aus eigener Kraft realisieren, tun es aber nicht, weil sie, so nehmen wir an, alles in allem eine

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Interpersonelle Vergleiche

andere Handlungsalternative vorziehen und für besser halten. Niemand kann jedoch vernünftigerweise von seinen Mitbürgern erwarten, dass sie ihn für einen Zustand, der ihm Wohlfahrtsbeschränkungen auferlegt, kompensieren, wenn es zutrifft, dass er selbst diesen Zustand alles in allem höher bewertet als alle realisierbaren Alternativen, in denen diese Beschränkungen nicht bestünden. Dies trifft jedenfalls zu, solange wir unterstellen dürfen, dass sich eine Person mit ihren normativen Einstellungen und Präferenzen zumindest insoweit identifiziert, dass sie diese begründetermaßen nicht für neurotisch, krankhaft oder zwanghaft fixiert halten muss. Irrelevant ist dagegen, ob die betreffenden Überzeugungen und Präferenzen in der Vergangenheit freiwillig und aufgrund rationaler Erwägungen gewählt oder ob sie etwa durch Erziehung und Sozialisation unreflektiert von anderen übernommen wurden. Entscheidend ist, dass die Person an ihnen festhält, obwohl erkennbar keine kognitiven Störungen oder psychischen Zwangsmechanismen vorliegen. Solange dies der Fall ist, betrachten wir die von einer Person bei einer gegebenen Ressourcenausstattung getroffene Entscheidung, bestimmte öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale nicht zu realisieren, als Ausdruck dessen, was diese Person alles in allem für gut und richtig hält, und es entstehen keine moralisch begründbaren bedarfsbezogenen Ansprüche auf Extrazuteilungen an Gütern und Ressourcen. Wir können die Probleme, die sich daraus ergeben, dass Personen die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht in der nötigen Weise zur Förderung ihres eigenen Wohls nutzen, dadurch vermeiden, dass wir uns bei der Beurteilung von Güterverteilungen nicht am tatsächlich realisierten Wohlergehen einer Person orientieren, sondern an ihren realen Möglichkeiten, bei einer gegebenen Güterausstattung ihr eigenes Wohl zu sichern und zu fördern. Es geht dann nicht mehr um Vergleiche zwischen Stufen faktischen Wohlergehens, sondern um Vergleiche von Woblfahrtschancen. Sie umfassen diejenigen Handlungsmöglichkeiten, über die eine Person unter Berück-

Wohlfahrt und Wohlfahrtschancen

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sichtigung ihrer physischen und psychischen Fähigkeiten einerseits und der ihr zur Verfügung stehenden externen Ressourcen andererseits verfügt, um im Rahmen öffentlich anerkannter Normen und Werte ihr eigenes Wohlergehen zu fördern. In einem gewissen Sinne müssen offenbar alle plausiblen Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit chancen-orientiert sein. Was durch kollektive Institutionen und Entscheidungen tatsächlich verteilt wird, sind keine wie immer qualifizierten Einheiten faktischen individuellen Wohlergehens, sondern materielle und soziale Güter, die es dem Einzelnen ermöglichen sollen, seine Konzeption des Guten selbst zu verwirklichen. Der Einzelne ist insofern niemals bloßer Wohlfahrtsempfänger, sondern immer eigenverantwortlicher Produzent seines eigenen Wohls. Die praktischen Grenzen staatlich-institutionellen Handelns lassen dies ebenso notwendig erscheinen wie der Wunsch einer effizienten Nutzung kollektiv verfügbarer Ressourcen. Hinzu kommt, dass es in einer Gesellschaft, welche die elementaren bürgerlichen Grundfreiheiten einschließlich des Rechts auf individuelle Selbstbestimmung achtet, ohnehin als problematisch, wenn nicht unzulässig betrachtet werden muss, die individuelle Nutzung von Gütern und Ressourcen innerhalb der Privatsphäre des Einzelnen zu kontrollieren und zu dirigieren. Nun haben wir bereits gesehen, dass weder die Erfüllung individueller Präferenzen noch die Realisation einer bestimmten Konzeption des Guten mit den für sie charakteristischen objektiven' Wohlfahrtsmerkmalen in einer pluralistischen Gesellschaft per se ein öffentlich anerkannter Wert ist. Zum Zwecke einer gerechten Verteilung kollektiv verfügbarer Ressourcen können wir uns deshalb auch nicht pauschal an den Handlungsmöglichkeiten oder Wohlfahrtschancen von Personen orientieren. Eine für die öffentliche Rechtfertigung von ungleichen Güterverteilungen geeignete Vergleichsbasis können vielmehr nur diejenigen Handlungsmöglichkeiten einer Person bilden, die sich auf die Realisation öffentlich anerkannter Wohlfahrtsmerkmale beziehen. Nennen wir sie die Wohlfahrtsoptionen einer Person.

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Interpersonelle

Vergleiche

Das Basiswerturteil einer für pluralistische Gesellschaften angemessenen Gerechtigkeitskonzeption muss demnach lauten: Die Gewährleistung gleicher Wohlfahrtsoptionen, das heißt gleicher Chancen im Hinblick auf die Realisation öffentlicher anerkannter Wohlfahrtsmerkmale, ist ein Gut, dessen Verwirklichung eine Gesellschaft für alle ihre Mitglieder durch eine geeignete Verteilung aller kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen anstreben muss. 8. Gütergleichheit

und minimale

Wohlfahrtsoptionen

Der Gedanke, dass sich bedarfsbezogene interpersonelle Vergleiche zur Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen ausschließlich an öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmalen orientieren dürfen, hat eine wichtige Konsequenz. Sie betrifft das, was ich das moralische Minimum genannt habe und was wir jetzt als die Garantie minimaler Wohlfahrtsoptionen für alle Gesellschaftsmitglieder bezeichnen können. Das moralische Minimum umfasst diejenigen Güter und Ressourcen, über die eine Person verfügen muss, um unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Fähigkeiten und konkreten Lebensumstände in der Lage zu sein, alle öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmale in hinreichendem Maße zu realisieren. Die Qualifikation „in hinreichendem Maße" ist hier entscheidend. Merkmale persönlichen Wohlergehens können von einer Person mehr oder weniger stark realisiert werden, so dass sich stets die Frage stellt, bis zu welchem Grade die Realisation solcher Merkmale als ein öffentlicher Wert anzusehen ist. Gesundheit zum Beispiel ist ein anerkanntes Wohlfahrtsmerkmal, aber nicht jede in einem Einzelfall denkbare Verbesserung des Gesundheitszustandes einer Person ist ein öffentlicher Wert: Nicht jeder Schnupfen begründet moralische Ansprüche auf soziale Unterstützung. Dies gilt generell für alle öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmale: Ihre Realisation durch alle Beteiligten gilt stets nur bis zu einem bestimmten Grade als ein öffentlicher

Sens „functionings" und „capabilities"

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Wert. Alles, was darüber hinaus geht, ist Sache des Einzelnen und von seinen persönlichen Präferenzen und Lebensvorstellungen abhängig. Zwei Personen sind deshalb unter dem Gesichtspunkt ihrer bedarfsbezogenen moralischen Ansprüche auf Güter bereits dann als materialiter gleichgestellt zu betrachten, wenn sie bei einer gegebenen Güterverteilung gleichermaßen in der Lage sind, die jeweils relevanten Wohlfahrtsmerkmale so weit für sich zu realisieren, wie dies als ein öffentlicher Wert von allen Gesellschaftsmitgliedern anerkannt wird resp. anzuerkennen ist. Alle haben einen bedarfsbezogenen Anspruch auf das moralische Minimum, und niemand kann einen solchen Anspruch auf mehr als das Minimum haben. Das ergibt sich einfach daraus, dass das Minimum als der Inbegriff derjenigen Güter und Ressourcen definiert ist, die eine Person benötigt, um in der Lage zu sein, alle öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmale in hinreichendem Maße auszuprägen, und nur öffentlich anerkannte Werte können Ansprüche auf Güterzuteilungen rechtfertigen. 9. Sens „functionings"

und

„capabilities"

Was in den vorangegangenen Abschnitten über Wohlfahrtsmerkmale, Wohlfahrtschancen und Wohlfahrtsoptionen gesagt worden ist, lässt sieh gut "mit Amartya Sens Theorie der „functionings" und „capabilities" vereinbaren, auch wenn Sen nicht zwischen Wohlfahrtschancen und Wohlfahrtsoptionen unterscheidet. Sen bezeichnet die für das Wohlergehen einer Person relevanten Merkmale als „functionings" oder „well-being achievements". Sie entsprechen den von mir so bezeichneten Wohlfahrtsmerkmalen . Living may be seen as consisting of interrelated functionings, consisting of beings and doings. A person's achievement in this respect can be seen as a vector of his or her functionings. ... The claim is that functionings are constitutive of a person's being, and an evaluation of well-being has to take the form of an assessment of these constituent elements. 29

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Interpersonelle

Vergleiche

Der Begriff der capability wird von Sen mithilfe der Menge von functionings definiert, die eine Person mit Blick auf ihre persönlichen Fähigkeiten und sozialen Lebensumstände zu realisieren vermag. Closely related to the notion of functionings is that of the capability to function. It represents the various combinations of functionings (beings and doings) that the person can achieve. Capability is, thus, a set of vectors of functionings, reflecting the person's freedom to lead one type of life or another.30

Die capabilities einer Person sind das, was ich ihre Wohlfahrtschancen genannt habe; sie geben an, welche Wohlfahrtsmerkmale eine Person in welchem Unfang in einer gegebenen Situation mit den ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen tatsächlich verwirklichen kann. Sie entsprechen insofern den internen und externen Vermögen einer Person im Sinne Nussbaums. Ebenso wie Nussbaum vertritt auch Sen die Auffassung, dass wir uns bei der Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen nicht unmittelbar an den von einer Person realisierten Merkmalen individuellen Wohlergehens (den functionings) orientieren sollten, sondern an ihren capabilities; denn nur dies gebe dem Einzelnen die für ein gutes Leben unverzichtbare Freiheit zu wählen und die Möglichkeit, seine eigene Konzeption des Guten zu verwirklichen.31 Es leuchtet ein, sich bei der moralischen Beurteilung von Güterverteilungen auf die capabilities einer Person und nicht auf ihre functionings zu konzentrieren. Dafür spricht zum einen die von Nussbaum und Sen zu Recht hervorgehobene Bedeutung, welche die Freiheit zu wählen für moralische Personen hat, und zum anderen die Notwendigkeit eines eigenverantwortlichen Umganges mit verfügbaren Ressourcen. Ich glaube aber nicht, dass es möglich ist, mit dem capability-Begriíí allein ein vom öffentlichen Standpunkt aus akzeptables Kriterium der materiellen Gleichstellung von Personen zu definieren. Deshalb habe ich über den Begriff der Wohlfahrtschancen hinaus den Begriff der Wohlfahrtsoptionen eingeführt.

Abschließende

Bemerkungen

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Nach meiner Auffassung würdigt Sen in seiner Konzeption der capabilities nicht hinreichend, dass von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen nicht alle Einschränkungen der Wohlfahrtschancen einer Person Ansprüche auf soziale Kompensationen und Extrazuteilungen an Ressourcen begründen. Und er unterscheidet auch nicht zwischen solchen Wohlfahrtschancen, die sich auf die Verwirklichung öffentlich anerkannter Wohlfahrtsmerkmale beziehen, und solchen, für die dies nicht gilt. Da jedoch nur die letzteren zu begründeten bedarfsbezogenen Ansprüchen auf größere als gleiche Güterzuteilungen führen, sind mit Blick auf die Forderungen sozialer Gerechtigkeit zwei Personen bereits dann als materialiter gleichgestellt zu betrachten, wenn sie über die gleichen Wohlfahrtsopi/owe« verfügen, in welchem Verhältnis auch immer ihre Wohlfahrtsc^awcß« zueinander stehen mögen. 10. Abschließende

Bemerkungen

Die Behauptung, dass niemand einen bedarfsbezogenen moralischen Anspruch auf mehr als das moralische Minimum haben könne, mag vielen als ein zu restriktiver Grundsatz sozialer Gerechtigkeit erscheinen. Sie läuft darauf hinaus, dass eine gerechte gesellschaftliche Güterverteilung Personen nicht generell für alle unfreiwilligen Einschränkungen ihrer Lebens- und Wohlfahrtschancen kompensiert, sondern nur für solche, die sie daran hindern, öffentlich anerkannte Wohlfahrtsmerkmale in hinreichendem Maße zu realisieren. Vollständige Chancengleichheit wird also nicht einmal angestrebt, mit der Konsequenz, dass zum Beispiel ein Behinderter, der gerade eben in der Lage ist, alle öffentlich anerkannten Wohlfahrtsmerkmale aus eigener Kraft zu realisieren, keinen moralischen Anspruch auf größere Güterzuteilungen hätte als ein Nicht-Behinderter mit unzähligen zusätzlichen Handlungsmöglichkeiten und Lebenschancen. Dies aber scheint der Vorstellung ursprünglich gleicher Ansprüche aller zu widersprechen. Ich schließe mit zwei Kommentaren zu diesem Einwand.

236

Interpersonelle Vergleiche

Erstens·. Wie restriktiv der Grundsatz minimaler Wohlfahrtsoptionen tatsächlich ist, hängt davon ab, welche Werte von den Mitgliedern einer Gesellschaft, wenn sie zur fairen Kooperation bereit sind und die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung anerkennen, tatsächlich als öffentliche Werte anerkannt werden. Dies ist keine Frage eines bloß faktischen Konsenses, sondern hängt davon ab, von welchen Dingen Bürger, die einander als freie und gleiche moralische Personen anerkennen, nachdem sie die Überzeugungen und Interessen aller Beteiligten in unparteiischer Weise erwogen haben, glauben, dass jede Person in der Lage sein sollte, sie nötigenfalls mit sozialer Unterstützung zu realisieren. Bestehen begründete Meinungsverschiedenheiten über die für kollektive Güterverteilungen als relevant erachteten Merkmale persönlichen Wohlergehens, müssen faire Entscheidungsverfahren herangezogen werden, um Art und Höhe des allen zu gewährenden moralischen Minimums zu bestimmen. Klar ist, dass das moralische Minimum oberhalb des physischen Existenzminimums liegen muss, da das Leben einer moralischen Person Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven voraussetzt, die über das bloße Überleben hinausgehen. Die von mir vorgeschlagene Explikation öffentlich anerkannter Werte und Wohlfahrtsmerkmale legt uns darüber hinaus nicht darauf fest, wie es ein an objektiven menschlichen Grundbedürfnissen orientierter Ansatz tun würde, 32 bedarfsbezogene moralische Ansprüche nur im Rahmen dessen öffentlich anzuerkennen, was nötig ist, um in irgendeinem Sinne anthropologisch vorgegebene Bedürfnisse zu befriedigen. Sobald die für den Begriff des öffentlichen Wertes entscheidende Bedingung erfüllt ist, dass alle Beteiligten vom öffentlichen Standpunkt aus rationalerweise anerkennen, dass jedermann einen bestimmten Wert realisieren können sollte, besteht ein begründeter bedarfsbezogener Anspruch, ganz unabhängig davon, worum es dabei inhaltlich gehen mag (s. Kap. 6, Anm. 1 1 ) . Wie restriktiv der Grundsatz minimaler Wohlfahrtsoptionen tatsächlich ist, lässt sich demnach allein auf der Grundlage

Abschließende

Bemerkungen

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allgemeiner philosophischer Überlegungen nicht sagen, sondern erst dann, wenn wir wissen, welche konkreten Werte und Wohlfahrtsmerkmale in einer Gesellschaft mit Blick auf die Bedürfnisse und normativen Überzeugungen ihrer Mitglieder als öffentliche Werte anerkannt werden. Zweitens möchte ich hervorheben, dass der Grundsatz minimaler Wohlfahrtsoptionen, als wie restriktiv er sich auch de facto erweisen mag, eine direkte Implikation des Gedankens der öffentlichen Rechtfertigung ist. Wenn wir die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung für gesellschaftliche Güterverteilungen akzeptieren - und dazu sehe ich in einer demokratischen Gesellschaft keine Alternative - , dann können begründete bedarfsbezogene Ansprüche nur auf interpersonellen Vergleichen beruhen, denen öffentlich anerkannte Werte zugrunde liegen, und dies bedeutet, dass niemand bedarfsbezogene Ansprüche auf mehr als das durch öffentliche Werte definierte moralische Minimum haben kann.

8. Kapitel:

Leistungsbezogene moralische Ansprüche Wir kommen nun zur zweiten Gruppe potenzieller Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen von Gütern. Es sind die leistungsbezogenen moralischen Ansprüche. Alle an einem System sozialer Kooperation zur Güterproduktion 1 Beteiligten können einen fairen Anteil an den Erträgen der gemeinsamen Arbeit für sich beanspruchen. So stellt sich die Frage, ob unterschiedliche produktive Leistungen ungleiche gesellschaftliche Güter verteil ungen moralisch rechtfertigen. Es entspricht einer weit verbreiteten und wohletablierten Sichtweise, dass dies der Fall sei. Wer mehr zur gemeinsamen Güterproduktion beitrage als andere, so sagt man, müsse gerechterweise auch einen größeren Anteil an den produzierten Gütern erhalten als diese: Ungleiche Leistungen rechtfertigen ungleiche Entlohnungen. 2 Im Folgenden soll demgegenüber die Auffassung vertreten werden, dass in pluralistischen und arbeitsteiligen Gesellschaften besondere produktive Leistungen normalerweise keine ursprünglichen moralischen Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen begründen. Zum einen bejahen die Mitglieder dieser Gesellschaften verschiedene und zum Teil konträre Konzeptionen des Guten. Dies lässt es unmöglich erscheinen, den Wert individueller Leistungen auf eine intersubjektiv gültige Weise so zu bestimmen, wie es für die moralische Rechtfertigung leistungsbezogener Güterverteilungen von einem öffentlichen Standpunkt aus notwendig wäre. Zum anderen lassen sich die von Einzelnen erbrachten produktiven Leistungen diesen nur innerhalb enger Grenzen als persönliches Verdienst zurechnen. In der Regel entstehen deshalb keine moralischen Ansprüche auf eine Entlohnung im Verhältnis der geleisteten Beiträge zur ge-

240

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

meinsamen Güterproduktion. In modernen Gesellschaften können, so die These dieses Kapitels, leistungsbezogene Ansprüche bei der öffentlichen Rechtfertigung von Güterverteilungen keine eigenständige moralische, sondern lediglich eine aus prudenziellen Erwägungen abgeleitete Rolle spielen.

1. Leistung als moralisches

Verteilungskriterium

Klären wir zunächst, in welchem Sinne leistungsbezogene Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen ein moralisches Kriterium für die Beurteilung gesellschaftlicher Güterverteilungen sein können. Dazu möchte ich zwei Arten leistungsbezogener moralischer Ansprüche unterscheiden: abgeleitete und nicht-abgeleitete. Abgeleitete leistungsbezogene Ansprüche beruhen auf bereits bestehenden und allgemein anerkannten gesellschaftlichen Regelungen und Institutionen. Sie sind von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen gerechtfertigt, wenn die Regelungen, auf denen sie beruhen, fair und für alle Gesellschaftsmitglieder vorteilhaft sind. Nicht-abgeleitete leistungsbezogene Ansprüche setzen demgegenüber keine bereits etablierten Institutionen und Regeln voraus, und sie sind auch unabhängig davon, ob ihre allgemeine Anerkennung sich zum Vorteil aller Beteiligten auswirkt oder nicht. 3 Darin sind sie den bedarfsbezogenen moralischen Ansprüchen gleich. Öffentlich gerechtfertigte bedarfsbezogene Ansprüche müssen erfüllt werden, auch wenn dies für einige Gesellschaftsmitglieder mit unkompensierten Nachteilen verbunden sein sollte, und dasselbe gilt für nicht-abgeleitete leistungsbezogene Ansprüche. Wenn größere Leistungen im Sinne eines persönlichen Verdienstes genuin moralische Ansprüche auf größere Entlohnungen rechtfertigen, dann müssen sie ebenfalls unabhängig davon anerkannt werden, ob dies auch für andere vorteilhaft ist oder nicht. Ein Beispiel für abgeleitete leistungsbezogene Ansprüche bieten Lohnvereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeit-

Leistung

als moralisches

Verteilungskriterium

241

nehmern. Nehmen wir an, ein Fahrradfabrikant habe mit seinen Monteuren einen Akkordlohn verabredet. Für jedes fertig montierte Fahrrad wird ein im Voraus festgelegter Preis gezahlt, so dass Monteure, die mehr Fahrräder als ihre Kollegen zusammensetzen, je nach der erreichten Stückzahl eine höhere Entlohnung erwarten können als diese. Angesichts der getroffenen Lohnvereinbarung wäre es ungerecht, wenn am Ende des Monats alle Monteure den gleichen Lohn erhielten, falls nicht zufällig alle dieselbe Anzahl von Fahrrädern fertig montiert haben sollten. Jeder Monteur hat durch die von ihm erbrachte Leistung einen moralischen Anspruch auf genau die Entlohnung erworben, die der von ihm erreichten Anzahl montierter Fahrräder entspricht, und ungleiche Leistungen müssen konsequenterweise ungleich entlohnt werden. Bei den Ansprüchen der Monteure handelt es sich um abgeleitete moralische Ansprüche, denn sie beruhen ausschließlich auf der Vereinbarung einer Entlohnung nach Stückzahlen. Hätten sich die Beteiligten auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitszeit geeinigt, gäbe es hier keine unterschiedlichen Ansprüche, ganz unabhängig davon, wie viele Fahrräder die einzelnen Monteure zusammengesetzt haben mögen: Niemand hätte dann am Ende des Monats einen Anspruch auf eine größere als gleiche Entlohnung. Es ist sinnvoll, dass die an einem System sozialer Kooperation Beteiligten ihre Zusammenarbeit mithilfe von Vereinbarungen regeln, die Entlohnungen an zuvor erbrachte oder noch zu erbringende Leistungen binden. Dies gibt allen Beteiligten einen Anreiz, ihre produktiven Fähigkeiten auszubilden und sie effizient einzusetzen, um in den Besitz derjenigen Güter zu gelangen, die sie für ihre Leben benötigen. Eine Gesellschaft, in der ein Großteil der kollektiv produzierten Güter und nutzbar gemachten Ressourcen aufgrund freiwilliger Vereinbarungen nach erbrachten Leistungen verteilt werden, wird insgesamt, so dürfen wir annehmen, produktiver und wohlhabender sein als eine Gesellschaft, die allen Mitgliedern unabhängig von ihren Leistungen gleiche Güteranteile zukommen lässt. Alle Beteiligten können deshalb prinzipiell davon profitieren, dass Güter

242

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

unter Leistungsgesichtspunkten ungleich verteilt werden. Dies ist jedoch ein prudenzieller und kein moralischer Grund dafür, differenzielle leistungsbezogene Güterverteilungen vorzunehmen. Es liegt im Eigeninteresse aller Beteiligten Ungleichverteilungen anzuerkennen, wenn sie auf diese Weise ihren Güteranteil vergrößern können. 4 Es wäre unklug, die mit leistungsbezogenen Vereinbarungen verbundenen produktiven Möglichkeiten ungenutzt zu lassen, aber darum nicht auch schon moralisch unzulässig, denn die aus diesen Vereinbarungen resultierenden moralischen Ansprüche setzen bereits voraus, dass die Mitglieder einer Gesellschaft aus prudenziellen Gründen bereit sind Ungleichverteilungen zuzulassen und dass sie, wiederum aus prudenziellen Gründen, tatsächlich entsprechende leistungsbezogene Vereinbarungen treffen. 5 Nun zu den nicht-abgeleiteten leistungsbezogenen Ansprüchen. Ihre Bedeutung für die Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen illustriert folgendes Beispiel: Stellen wir uns vor, eine Gruppe von Urlaubern verbringt ihre gemeinsame Zeit auf einer Insel damit, Blüten zu sammeln, zu trocknen und in Alben einzukleben. Alle beteiligen sich, doch ihre Beiträge unterscheiden sich im Ergebnis deutlich voneinander. Einige finden viele schöne Blüten, andere nur wenige, und nicht alle sind gleichermaßen geschickt beim Anlegen der Alben und Einkleben der Blüten. Nun naht der Zeitpunkt ihrer Abreise, und es stellt sich die Frage, wie sie ihre inzwischen ansehnliche Sammlung untereinander aufteilen sollen. Wenn unsere Urlauber zu Beginn ihrer Zusammenarbeit keine diesbezüglichen Vereinbarungen getroffen haben, kann niemand abgeleitete leistungsbezogene Ansprüche auf einen größeren als gleichen Anteil geltend machen. Auch bestehen offensichtlich keine allgemein anzuerkennenden bedarfsbezogenen Ansprüche. Eingeklebte Blütenblätter gehören nicht zum moralischen Minimum des für das Leben Notwendigen. Schließlich ließe sich eine Ungleichverteilung auch nicht dadurch rechtfertigen, dass sie einen Anreiz zu allseitig vorteilhaften Produktivitätssteigerungen bietet, denn wir befinden uns bereits am

Leistung als moralisches Verteilungskriterium

243

Ende des gemeinsamen Blütensammelns. Dies alles spricht dafür, die Blütensammlung zu gleichen Anteilen auf alle an ihrem Zustandekommen Beteiligten aufzuteilen. Gegen eine Gleichverteilung spricht prima facie nur, dass nicht alle gleichermaßen erfolgreich beim Blütensammeln und Einkleben waren. Manche haben wenig zur Sammlung beigetragen, andere viel. Letztere könnten deshalb versuchen, Ansprüche auf größere als gleiche Anteile an Blüten geltend zu machen, und sich dabei auf den Grundsatz berufen: Größere Leistungen verdienten größere Belohnungen. Bei diesen Ansprüchen würde es sich um nichtabgeleitete leistungsbezogene Ansprüche handeln, da sie weder auf bereits bestehenden Regelungen oder Vereinbarungen beruhen noch darauf, dass ihre allgemeine Anerkennung zum Vorteil aller Beteiligten ist. Ihre Grundlage wäre ausschließlich in der Vorstellung eines durch erbrachte Leistungen ursprünglich begründeten Verdienstes zu finden. Gibt es, müssen wir uns deshalb fragen, so etwas wie nichtabgeleitete oder ursprüngliche moralische Ansprüche auf größere als gleiche Güteranteile, die es bei ungleichen produktiven Leistungen von einem öffentlichen Standpunkt aus moralisch unzulässig erscheinen lassen, kollektiv produzierte Güter gleich (oder ausschließlich zum Vorteil aller ungleich) zu verteilen? Für die Anwendung des Differenzprinzips ist die Frage, ob nicht-abgeleitete leistungsbezogene Ansprüche bei der Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen zu berücksichtigen sind, von entscheidender Bedeutung. Fiele die Antwort positiv aus, dürften nur mehr diejenigen Güter nach diesem Grundsatz verteilt werden, auf die, nachdem alle bedarfsbezogenen Ansprüche erfüllt wurden, kein Gesellschaftsmitglied einen ursprünglichen leistungsbezogenen Anspruch erheben könnte. Wenn wir nun davon ausgehen, dass alle kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen in der einen oder anderen Form durch individuelle Leistungen produziert oder nutzbar gemacht werden, gäbe es nichts, das nach dem Differenzprinzip verteilt werden dürfte. Zur Begründung des Differenzprinzips als einer obersten moralischen Norm für die Verteilung kollek-

244

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

tiv produzierter Güter gehört deshalb der Nachweis, dass nichtabgeleitete leistungsbezogene Ansprüche bei gesellschaftlichen Güterverteilungen nicht berücksichtigt werden müssen. Die Anerkennung abgeleiteter leistungsbezogener Ansprüche ist dagegen mit dem Differenzprinzip vereinbar. Maximin-Einkommensverteilungen setzen eine optimal effiziente Form der Güterproduktion voraus, ohne die es unmöglich wäre, die Realeinkommen der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder zu maximieren. Und wenn es zutrifft, dass leistungsbezogene Entlohnungssysteme der oben beschriebenen Art zu gesamtgesellschaftlichen Produktivitätssteigerungen führen, dann ist die Anerkennung der aus ihnen abgeleiteten leistungsbezogenen Ansprüche in der Tat ein Mittel zur Verwirklichung von Maximin-Verteilungen.

2. Subjektive Anstrengungen und Entbehrungen Bevor wir uns nun dem Problem der Rechtfertigung ungleicher Güterverteilungen durch nicht-abgeleitete oder ursprüngliche leistungsbezogene Ansprüche zuwenden können, müssen wir den Begriff der Leistung genauer fassen. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Leistungen unterscheiden, subjektive und objektive. Der Begriff der subjektiven Leistung bezieht sich auf die persönlichen Anstrengungen und Nachteile, die für jemanden mit seiner Beteiligung an der gesellschaftlichen Güterproduktion verbunden sind. Naturgemäß unterscheiden sich die subjektiven Leistungen verschiedener Gesellschaftsmitglieder stark voneinander. Zum einen sind manche Arbeiten anstrengender oder unerfreulicher als andere, zum anderen gilt es, Unterschiede in den produktiven Fähigkeiten verschiedener Personen zu berücksichtigen: Mancher muss sich sehr anstrengen, um Dinge zu vollbringen, die anderen vergleichsweise leicht fallen. Es wäre deshalb denkbar, gemeinsam produzierte Güter so zu verteilen, dass größeren subjektiven Anstrengungen oder Entbehrungen, seien sie nun durch die Art der ausgeführ-

Subjektive Anstrengungen und Entbehrungen

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ten Tätigkeit oder durch persönliche Faktoren bedingt, stets größere Güteranteile entsprechen. Der Begriff der objektiven Leistung bezieht sich demgegenüber auf das, was eine Person unter gegebenen Bedingungen durch ihr Tätigsein tatsächlich zustande bringt. Objektive Leistungen sind faktisch erbrachte Beiträge zur gesellschaftlichen Güterproduktion. Eine Person nach Maßgabe ihrer objektiven Leistungen zu entlohnen bedeutet, ihr denjenigen Güteranteil zukommen zu lassen, der dem Wert ihres Beitrags zur gemeinsamen Güterproduktion im Verhältnis zum Wert der Beiträge aller anderen Beteiligten entspricht. Je nachdem, ob wir uns an den subjektiven oder objektiven Leistungen der an der gesellschaftlichen Güterproduktion Beteiligten orientieren, ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Beurteilung ihrer leistungsbezogenen Ansprüche. Eine Person vermag mit viel Mühe nur wenig zur gemeinsamen Produktion beizutragen, während andere ohne nennenswerte Anstrengung große Beiträge leisten. Wir müssen uns deshalb entscheiden, ob wir uns bei der Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen an subjektiven oder an objektiven Leistungen orientieren wollen. Die Auffassung, dass persönliche Anstrengungen und Entbehrungen belohnt werden sollten, liegt vielen unserer alltäglichen Gerechtigkeitsvorstellungen zugrunde. Wir betrachten die Fähigkeit und Bereitschaft, Anstrengungen auf sich zu nehmen, als eine Tugend, die es zu fördern und zu belohnen gilt. Und manche empfinden es als ungerecht, dass andere, wie es scheint, mühelos viel Geld verdienen, während sie selbst mit großen Anstrengungen ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Als Vergleichsbasis für die Beurteilung gesellschaftlicher Güterverteilungen ist der subjektive Leistungsbegriff gleichwohl ungeeignet. Zunächst einmal ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, den für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen nötigen Konsens darüber zustande zu bringen, nach welchen Kriterien die mit produktiven Tätigkeiten verbundenen subjektiven Anstrengungen und Entbehrungen von

246

Leistungsbezogene moralische

Ansprüche

einem unparteiischen Standpunkt aus zu bewerten sind. Wie jemand die mit einer Tätigkeit verbundenen Nachteile beurteilt, ist weitgehend von seinen persönlichen Fähigkeiten, Präferenzen und Lebensvorstellungen abhängig. Für den einen sind körperliche Anstrengungen ein zu vermeidendes Übel, ein anderer sucht sie als eine Form sinnlicher Selbstbestätigung; einige fühlen sich durch verantwortungsvolle Positionen belastet, während sie anderen eine willkommene Möglichkeit bieten, Dinge so zu gestalten, wie es ihnen richtig erscheint. Mit einem Konsens über die Bewertung der subjektiven Leistungen aller am System sozialer Kooperation Beteiligten in ihrem Verhältnis zueinander ist deshalb allenfalls in Grenzfällen zu rechnen. Jemand, dessen produktive Anstrengungen das M a ß des dem Menschen Zuträglichen überschreiten, leistet subjektiv zweifellos mehr als andere, die sich weniger belasten, und manche Anstrengungen oder Nachteile sind so gering, dass sie als subjektive Leistungen vernachlässigbar erscheinen. Eine Rechtfertigung ungleicher gesellschaftlicher Güterverteilungen durch subjektive Leistungsunterschiede würde jedoch voraussetzen, dass es möglich ist, alle für die gesellschaftliche Güterproduktion nötigen subjektiven Anstrengungen und Entbehrungen in eine intersubjektiv gültige Rangordnung zu bringen, und dazu bieten konsensfähige Beurteilungen in einigen unkontroversen Grenzbereichen keine ausreichende Grundlage. Zwei andere, nicht minder gravierende Probleme für die Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen auf der Grundlage des subjektiven Leistungsbegriffs sind folgende: Zum einen ist es praktisch unmöglich, für eine ganze Gesellschaft empirisch zu ermitteln, mit welchen subjektiven Anstrengungen, Entbehrungen und persönlichen Nachteilen sich ihre Mitglieder an der gesellschaftlichen Güterproduktion beteiligen, so dass es an den für die gesellschaftsweite Anwendung subjektiver Leistungskriterien notwendigen Informationen fehlt. Zum anderen würde die Entlohnung subjektiver statt objektiver Leistungen die materiellen Anreize zur Produktivität für alle diejenigen erheblich verringern, die bestimmte Beiträge mit ver-

Interpersonelle Leistungsvergleiche

247

gleichsweise geringen Anstrengungen und Kosten erbringen können. Jedem müsste es rational erscheinen, sich in Bereichen zu betätigen, die ihm besondere Anstrengungen abverlangen, ganz unabhängig davon, ob er vernünftigerweise damit rechnen kann, dass seine Bemühungen erfolgreich sein werden und tatsächlich zu produktiven Beiträgen führen oder nicht. Ein weiterer Grund dafür, sich im Folgenden auf den objektiven Leistungsbegriff zu konzentrieren, liegt schließlich darin, dass nur er geeignet erscheint, das dem Differenzprinzip zugrunde liegende egalitäre Ideal sozialer Gerechtigkeit, das von einem ursprünglichen Anspruch aller auf materielle Gleichstellung ausgeht, prinzipiell in Frage zu stellen. Extrazuteilungen an Gütern für überdurchschnittliche subjektive Anstrengungen und Entbehrungen haben den Charakter von Kompensationen. Sie dienen dazu, mit produktiven Tätigkeiten verbundene persönliche Einbußen auszugleichen und sollen offenbar sicherstellen, dass die Vor- und Nachteile sozialer Kooperation für alle gleich sind. Personen nach Maßgabe ihrer subjektiven Leistungen zu entlohnen, ist deshalb selbst eine egalitäre Forderung, die ihrem Inhalt nach auf die materielle Gleichstellung aller Beteiligten zielt.6

3. Interpersonelle

Leistungsvergleiche

Wenden wir uns nun dem Problem der Verteilung gesellschaftlich produzierter Güter nach Maßgabe objektiver produktiver Beiträge zu. Diese Beiträge können verschiedene Formen annehmen. Sie schließen die unmittelbare physische Beteiligung an der Herstellung eines Gutes ebenso ein wie die Bereitstellung von Ressourcen (Grundstücken, Gebäuden, Geld) und die Gewinnung oder Weitergabe von Informationen. Offenkundig sind nicht alle individuell geleisteten Beiträge zur gesellschaftlichen Güterproduktion von gleichem Wert. Sie unterscheiden sich nach Qualität und Quantität der produzierten Güter und auch durch ihre Bedeutung für den Produktionsprozess. Manche

248

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

Beiträge sind für die Herstellung eines Gutes unverzichtbar, andere nur hilfreich, und wieder andere dienen lediglich dazu, den Beteiligten die Arbeit zu erleichtern oder angenehmer zu gestalten. Leistungsbezogene Ansprüche sollen Ungleichverteilungen rechtfertigen, und dies setzt voraus, dass es möglich ist, die ihnen zugrunde liegenden produktiven Beiträge mithilfe eines einheitlichen Maßstabes zu vergleichen und auf intersubjektiv gültige Weise festzustellen, ob jemand mehr oder weniger als ein anderer geleistet hat. Eine durch leistungsbezogene Ansprüche gerechtfertigte gesamtgesellschaftliche Güterverteilung setzt voraus, dass es möglich ist, die von allen Mitgliedern einer Gesellschaft individuell geleisteten Beiträge in eine ordinale Rangordnung der folgenden Form zu bringen: Für jedes Paar individueller Beiträge (B¡, Bj) gilt: (1) Entweder B¡ > B¡ oder Β, > B¡ oder B¡ = B¡.

(2) (B¡ > Bj) & (B, > Bk) -> (Bj > Bk). (3) (B, = Bj) & (Bj = Bk) -» (B, = Bk). Was wir benötigen, ist also eine vollständige und transitive Ordnung aller individuellen produktiven Beiträge in Bezug auf ihre Größe oder ihren Wert für die gesamtgesellschaftliche Güterproduktion. Auf der Grundlage einer solchen Rangordnung können wir eine unter Leistungsgesichtspunkten gerechte Güterverteilung als eine Verteilung von Realeinkommen (Ε 1} E 2 , ... E n ) beschreiben, die folgende Bedingungen erfüllt: (4) E¡ = Ej = B¡ = Bj. (5) Ej > Ej = Bj > Bj. Mit anderen Worten: Das Realeinkommen einer Person ist dann und nur dann gleich dem Realeinkommen einer anderen Person, wenn ihr produktiver Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Güterproduktion gleich dem Beitrag dieser anderen Person ist, und es ist nur dann größer, wenn auch ihr Beitrag größer ist. Nun ist klar, dass unbestimmt viele Einkommensverteilungen die Bedingung einer ordinalen Beitrag-Einkommen-Äquivalenz

Der Wert produktiver Beiträge

249

erfüllen. Solange wir uns auf ordinale Leistungsvergleiche beschränken, kann eine Person niemals einen moralischen Anspruch auf ein bestimmtes absolutes Einkommen haben, sondern stets nur darauf, ein Einkommen zu beziehen, das größer oder kleiner oder gleich dem eines beliebigen anderen Gesellschaftsmitgliedes ist. Um eine spezifische Einkommensverteilung zu rechtfertigen, sind kardinale Vergleiche notwendig, die es mindestens erlauben, numerische Verhältnisbestimmungen zwischen den produktiven Leistungen verschiedener Personen vorzunehmen. Wir müssen in der Lage sein, Aussagen zu treffen wie zum Beispiel: Wer doppelt so viel leistet wie ein anderer, hat einen Anspruch auf ein doppelt so hohes Einkommen. Da, nachdem alle Beteiligten ihre produktiven Beiträge geleistet haben, festgelegt ist, wie hoch das zu verteilende Realeinkommen insgesamt ist, ergäbe sich dann aus dem numerischen Verhältnis der individuellen Leistungen zueinander, auf welches absolute Realeinkommen jeder der Beteiligten einen leistungsbezogenen moralischen Anspruch erheben könnte.

4. Der Wert produktiver

Beiträge

Ein Hauptgrund dafür, warum in pluralistischen Gesellschaften ursprüngliche leistungsbezogene Ansprüche keine Basis für die öffentliche Rechtfertigung von Güterverteilungen bieten können, beruht darauf, dass wir auch unter idealen Bedingungen einer rationalen und unparteiischen Urteilsbildung bei allen Beteiligten keinen Konsens über die inhaltliche Bewertung der von den einzelnen Mitgliedern geleisteten Beiträge zur Güterproduktion erwarten können. Die Mitglieder pluralistischer Gesellschaften vertreten verschiedene und zum Teil einander entgegengesetzte Konzeptionen des Guten. Sie bewerten deshalb die gesamtgesellschaftlich zu verteilenden Güter und mithin auch die ihnen zugrunde liegenden Leistungen unterschiedlich. Wer könnte vom öffentlichen Standpunkt aus, für den alle vernünftigen Konzeptionen des Guten den gleichen Status und

250

Leistungsbezogene

moralische

Ansprüche

den gleichen Anspruch auf faire Berücksichtigung haben, sagen, ob es eine größere Leistung ist, ein ästhetisches Happening zu veranstalten oder das Vertriebssystem eines Lebensmittelkonzerns neu zu organisieren? Auch wenn es möglich wäre, auf der Basis einzelner umfassender Konzeptionen des für den Menschen Guten eine konsistente und vollständige Rangordnung aller menschlichen Betätigungsformen aufzustellen - so wie es Aristoteles sich vorstellte - , müssen wir angesichts der Koexistenz einer Vielzahl solcher Konzeptionen in pluralistischen Gesellschaften mit verschiedenen, intern gleichermaßen rationalen und wohlbegründeten Rangordnungen rechnen. Eine elementare Voraussetzung für die moralische Rechtfertigung leistungsbezogener Güterverteilungen ist deshalb nicht erfüllt; denn es ist von einem öffentlichen Standpunkt aus nicht zu entscheiden, an welchen Bewertungsmaßstäben und an welcher Rangordnung produktiver Beiträge wir uns orientieren sollten. Nun gibt es eine soziale Institution, die trotz des Fehlens allgemein anerkannter inhaltlicher Kriterien der Leistungsbewertung einen für alle Beteiligten gleichermaßen akzeptablen Bewertungsmaßstab zu bieten scheint. Ich meine die aus dem Warentausch resultierende Institution des Marktes und die Bewertung von Gütern und Leistungen nach Marktpreisen. Zumindest für eine große Gruppe von Gütern (Ökonomen bezeichnen sie als private oder teilbare Güter) scheinen Marktpreise genau das zu bieten, was wir suchen, nämlich einen Bewertungsmaßstab für die produktiven Leistungen Einzelner, der keinen Konsens über die Bewertung von Gütern und Leistungen bei den Beteiligten voraussetzt. Im idealtypischen Grenzfall eines vollkommenen Wettbewerbs erhält jede der am Marktgeschehen beteiligten Personen für ihre produktiven Beiträge als Gegenleistung das, was ihre Beiträge den anderen Beteiligten wert sind, und niemand erhält weniger, als er selbst in Form von Opportunitätskosten 7 aufgeben muss, um diese Beiträge zu erbringen. Und dabei muss nicht vorausgesetzt werden, dass zwei Tauschpartner in der subjektiven Bewertung auch nur eines einzigen Gutes übereinstimmen.

Der Wert produktiver Beiträge

251

Wenn nun bei vollkommenem Wettbewerb jeder Marktteilnehmer ein Einkommen erzielt, das genau seinem Beitrag zur gesellschaftlichen Güterproduktion entspricht, scheint es so, als hätten wir im Markt nicht nur ein effizientes System zur Allokation von Ressourcen für die Güterproduktion, sondern darüber hinaus auch eine Institution vollkommener sozialer Gerechtigkeit. Jeder, so mögen wir annehmen, erhält unter der Voraussetzung vollkommenen Wettbewerbs vermittels des anonymen Prozesses der Preisbildung auf den Faktormärkten, wo die Beteiligten ihre produktiven Beiträge anbieten, genau das Einkommen, das den von ihm durch seine Beiträge erworbenen leistungsbezogenen Ansprüchen entspricht. Die folgenden drei Argumente sollen hingegen zeigen, warum Marktpreise keine geeignete Grundlage für die moralische Rechtfertigung ungleicher Güterverteilungen sein können: 8 Das Argument mangelnder Praktikabilität. Alle wirklichen Märkte weichen mehr oder weniger stark vom Ideal vollkommenen Wettbewerbs ab. Die auf ihnen erzielten Einkommen entsprechen deshalb nicht notwendigerweise dem Grundsatz der Grenzproduktivität, dem zufolge die Entlohnung einer Person nach Marktpreisen dem Wert der von ihr geleisteten Beiträge für die anderen Beteiligten entspricht. Da es jedoch praktisch unmöglich ist, empirisch zu ermitteln, welche Preise für produktive Leistungen sich unter den idealtypischen Bedingungen vollkommenen Wettbewerbs ergeben würden, bieten sie uns kein anwendbares Kriterium für gerechte Güterverteilungen. Die Zufälligkeit des Marktwerts produktiver Beiträge. Der Marktwert individueller Beiträge zur Güterproduktion bemisst sich zum einen an der Nachfrage nach denjenigen Leistungen, zu denen eine Person in der Lage ist, und zum anderen daran, wie viele Personen dieselbe Art von Beitrag anbieten. Es ist jedoch zumindest fraglich, ob es gerecht wäre, jemandem nur darum ein geringeres Einkommen zuzusprechen als einem anderen, weil nach seinen Leistungen eine geringere Nachfrage besteht oder weil viele Personen Beiträge derselben Art anbieten. Eine Güteroder Einkommensverteilung nach Marktpreisen bevorzugt Per-

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Leistungsbezogene

moralische

Ansprüche

sonen mit produktiven Ressourcen, über die nur wenige verfügen und die von vielen nachgefragt werden, und dies muss von einem moralischen Standpunkt aus gesehen willkürlich erscheinen. Das Argument der Zirkularität. Der Wert individueller Beiträge zur Güterproduktion bemisst sich in einer Marktwirtschaft an den Preisen der produzierten Güter, die ihrerseits eine Funktion des Angebots und der Nachfrage nach diesen Gütern sind. Angebot und Nachfrage wiederum richten sich nicht nur nach den persönlichen Bedürfnissen und Präferenzen der Marktteilnehmer, sondern werden vor allem auch durch das ihnen verfügbare Einkommen bestimmt. Der Prozess der Preisbildung auf Märkten bietet deshalb keine unabhängige Basis zur Beurteilung der Gerechtigkeit von Einkommens- und Güterverteilungen. Wir befinden uns in einem circulus vitiosus: Denn der für die Beurteilung von Einkommensverteilungen maßgebliche Wert individueller Beiträge zu Güterproduktion ist selbst von der zu beurteilenden Verteilung abhängig. Ich verzichte darauf, die drei skizzierten Argumente ausführlicher zu diskutieren, da sie den meisten vertraut sein dürften, möchte aber darauf hinweisen, dass das zuletzt angeführte Argument der Zirkularität für sich genommen ausreicht, um die These zu begründen, dass nach Marktpreisen vorgenommene Leistungsbewertungen keine geeignete Grundlage für die öffentliche Rechtfertigung ungleicher Güterverteilungen sein können, und zwar auch dann nicht, wenn wir annähmen, dass diese Preise sich unter den idealtypischen Bedingungen eines vollkommenen Wettbewerbs bildeten.9

5. Die Identifikation

individueller

Beiträge

Ein zweites grundlegendes Problem für die moralische Rechtfertigung ungleicher Güterverteilungen im Rekurs auf nichtabgeleitete leistungsbezogene Ansprüche ergibt sich aus den bei der Identifikation individueller produktiver Leistungen auftretenden Schwierigkeiten. Auch wenn wir einen Konsens darüber

Die Identifikation individueller

Beiträge

253

unterstellen, welche Formen der Betätigung im Rahmen einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit als für Einkommensverteilungen relevante produktive Leistungen zu betrachten sind 10 , ist es bei gemeinschaftlichen Formen der Güterproduktion in der Regel unmöglich, individuelle Beiträge eindeutig zu identifizieren. Betrachten wir folgendes Beispiel: 11 Zwei Männer, Hans und Franz, tragen gemeinsam Kisten in einen Lagerraum. Für jede Kiste erhalten sie 1 Euro. Ohne die Unterstützung von Franz würde Hans 6 Kisten in einer Stunde transportieren und dadurch 6 Euro verdienen, Franz würde alleine in derselben Zeit 8 Kisten in den Lagerraum tragen und 8 Euro erhalten. Zusammen ergeben ihre Einzelleistungen also 14 Kisten pro Stunde. Nun beschließen sie, die Kisten zu zweit zu tragen, und es gelingt ihnen, ihre gemeinsame Leistung auf 2 1 Kisten pro Stunde zu steigern. Wie müssen die 2 1 Euro, die sie zusammen für ihre Leistungen erhalten, unter ihnen aufgeteilt werden, wenn jeder genau den Betrag erhalten soll, der seiner individuellen Arbeitsleistung entspricht? Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Aufteilung, die, je nachdem wie die individuellen Arbeitsleistungen von Hans und Franz identifiziert und bewertet werden, gleichermaßen mit der Vorstellung zu vereinbaren sind, dass beide in Übereinstimmung mit ihren persönlichen Leistungen entlohnt werden sollten: (1) Die von Hans und Franz zusammen erarbeiteten 2 1 Euro werden halbiert und jeder bekommt 10,50 Euro. Für diese Lösung spricht, dass beide gleichermaßen fair kooperiert und dieselbe Tätigkeit verrichtet haben, so dass prima facie auch ihre produktiven Beiträge gleich sind. (2) Jeder erhält zunächst den Betrag, den er ohne die Hilfe des anderen verdient hätte, den Rest halbieren sie. Hans erhält also insgesamt 9,50 Euro und Franz 11,50 Euro. Diese Aufteilung erscheint gerechtfertigt, wenn nur die Differenz zwischen den ohne Kooperation erzielten 14 Euro und den gemeinsam verdienten 21 Euro als gleich zu verteilendes Kooperationsergebnis betrachtet wird. Wir unterstellen dann, dass Franzens Beitrag

254

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

zum gemeinsamen Kistentragen um genau so viele Einheiten größer ist als derjenige von Hans, wie sich ihre Einzelleistungen unterscheiden. (3) Hans und Franz teilen die gemeinsam verdienten 21 Euro im Verhältnis zu den von ihnen einzeln erbrachten Leistungen auf. Dann erhielte Hans 9 Euro und Franz 12 Euro (9/12 = 6/8). Dieses Verteilungsmodell beruht auf der Überlegung, dass die unterschiedlichen Einzelleistungen der beiden ein Indiz ihrer unterschiedlichen Leistungsfähigkeit sind, das uns zu der Annahme berechtigt, ihre kooperativen Arbeitsleistungen stünden im gleichen Verhältnis zueinander wie ihre Einzelleistungen. 12 Jede der drei genannten Alternativen beruht auf einer anderen Form der Identifikation individueller Leistungen und führt dementsprechend zu einer anderen quantitativen Bestimmung des Verhältnisses der von Hans und Franz erbrachten Leistungen. Nach der ersten Alternative stehen diese im Verhältnis 10,5 : 10,5, nach der zweiten im Verhältnis 9,5 : 11,5 und nach der dritten im Verhältnis 9 : 12 zueinander. Die Vorstellung einer Entlohnung nach individuell erbrachten Leistungen gibt uns demnach bei gemeinschaftlichen Formen der Güterproduktion kein eindeutiges Verteilungskriterium an die Hand, denn jede der drei genannten Alternativen ist mit ihr zu vereinbaren. Die Rechtfertigung ungleicher gesellschaftlicher Einkommens- und Güterverteilungen im Rekurs auf ursprüngliche leistungsbezogene Ansprüche setzt nun mindestens voraus, dass die Gründe dafür, entweder Alternative (2) oder (3), aber jedenfalls nicht (1) als Verteilungsmodell zu wählen, überzeugen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Mit Blick auf die Verteilung aller in einer Gesellschaft kollektiv produzierten Güter böte Alternative (2) nur dann ein arbeitsfähiges Verteilungsmodell, wenn es sichere Erkenntnisse darüber gäbe, wie produktiv die Mitglieder einer Gesellschaft in einem fiktiven .Naturzustand' ohne jede soziale Kooperation wären. Wie aber sollte es möglich sein dies herauszufinden? Hinzu kommt, dass die inzwischen erreichte Größenordnung der durch marktwirtschaftliche Ko-

Das Problem der moralischen Zurechnung

255

operation erzielten Produktivitätsgewinne nahe legt, den Wert dessen, was Menschen allein auf sich gestellt produzieren könnten, bei der Berechnung ihrer kooperativen Leistungen vollständig zu vernachlässigen und gleich null zu setzen.13 In diesem Fall würde die Alternativen (2) und (1) zusammenfallen. Was Alternative (3) betrifft, müssten wir zur Rechtfertigung entsprechender Güterverteilungen voraussetzen können, dass die Leistungen von Personen, wenn sie allein auf sich gestellt produzieren, in demselben Verhältnis zueinander stehen wie ihre kooperativen Leistungen, und dies ist gewiss nicht allgemein zutreffend. Wer gut für sich allein arbeiten kann, muss darum nicht auch notwendigerweise ein guter Kooperationspartner sein. Kooperation setzt andere Fähigkeiten voraus als Einzelarbeit, insbesondere soziale Kompetenzen. Wir können deshalb nicht ausschließen, dass Hans' Beitrag zum gemeinsamen Kistentragen größer ist als Franzens, obwohl er alleine weniger Kisten transportieren würde als dieser. Da wir nun weder wissen, wie leistungsfähig Personen in einem Zustand ohne jede Kooperation wären noch wie sich ihre produktiven Leistungen relativ zueinander durch Kooperation verändern, fehlen uns die nötigen Informationen, um Alternative (3) zu einem arbeitsfähigen Verteilungsmodell werden zu lassen. So enden wir wiederum bei Alternative (1) als Default-Option zur Verteilung kooperativ produzierter Güter. Eine Begründung nicht-abgeleiteter moralischer Ansprüche auf größere als gleiche Entlohnungen durch unterschiedliche individuelle Leistungen scheitert demnach wohl schon daran, dass es sich als unmöglich erweist, die Beiträge Einzelner zur gesellschaftlichen Güterproduktion eindeutig zu identifizieren und quantitativ zu bestimmen. 14

6. Das Problem der moralischen

Zurechnung

Wenden wir uns nun einem dritten grundlegenden Problem für die leistungsbezogene moralische Rechtfertigung ungleicher

256

Leistungsbezogene moralische

Ansprüche

Güterverteilungen zu. Damit es moralisch gerechtfertigt sein kann, gesellschaftlich produzierte Güter so zu verteilen, wie es den zu ihrer Produktion erbrachten individuellen Leistungen entspricht, ist mehr erforderlich als ein begründeter Konsens darüber, wie diese Leistungen relativ zueinander zu bewerten sind. Auch wenn ein solcher Konsens bestünde, bliebe ein unlösbares Problem (ich nenne es das Problem der moralischen Zurechnung produktiver Leistungen): Es muss möglich sein, den am gesellschaftlichen Produktionsprozess beteiligten Personen ihre Leistungen als ein persönliches Verdienst zuzurechnen, wenn diese Leistungen so etwas wie nicht-abgeleitete moralische Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen rechtfertigen sollen. In den folgenden Abschnitten sollen die mit der moralischen Zurechnung von Leistungen verbundenen Schwierigkeiten im Einzelnen dargelegt werden. Dabei wird sich zeigen, dass es in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften nicht generell möglich ist, den an der Güterproduktion Beteiligten ihre produktiven Leistungen als ein persönliches Verdienst moralisch zuzurechnen. Im Allgemeinen führen überdurchschnittliche Leistungen deshalb nicht zu genuin moralischen Ansprüchen auf größere als gleiche Entlohnungen. Ich nehme hier einen für die Rawls'sche Gerechtigkeitskonzeption zentralen Punkt auf. Rawls hat in A Theory of Justice seine egalitäre Auffassung der Gerechtigkeit als Fairness unter anderem damit begründet, dass niemand seine durch natürliche Vorgaben und soziale Umstände bedingten produktiven Vermögen, einschließlich der Fähigkeit und Bereitschaft, Anstrengungen auf sich zu nehmen, in einem moralischen Sinne verdiene. Es sei von einem moralischen Standpunkt aus gesehen zufällig, wie produktiv jemand sei. It seems to be one of the fix points of our considered judgments that no one deserves his place in the distribution of native endowments, any more than one deserves one's initial starting place in society. The assertion that a man deserves the superior character that enables him to make the effort to cultivate his abilities is equally problematic; for his character depends in large part upon fortunate family and social

Die Nicht-Zurechenbarkeit

produktiver Leistungen

257

circumstances for which he can claim no credit. The notion of desert seems not to apply to these cases.15

Wenige Aspekte der Rawls'schen Theorie haben zu einer ähnlichen Entrüstung unter ihren Kritikern geführt wie die Behauptung der moralischen Zufälligkeit individueller produktiver Leistungen. 16 Der Grund dafür ist leicht zu sehen. Es gehört zu den Erfahrungen jedes Erwachsenen, dass die Fähigkeit und Bereitschaft einer Person zu produktiven Leistungen ebenso wie die von ihr tatsächlich erbrachten Leistungen in hohem Maße von Faktoren abhängig sind, die sie durch ihre bewussten Entscheidungen selbst kontrollieren kann. Dies gilt nicht nur für die Frage, in welcher Form und mit welchen Anstrengungen sich jemand an der gesellschaftlichen Güterproduktion beteiligt, sondern auch für die Nutzung von Bildungschancen, den Verzicht auf Drogenkonsum und Ähnliches mehr. Auch wenn niemand die empirischen Bedingungen, unter denen sich seine produktiven Vermögen ausbilden und entwickeln, vollständig selbst zu verantworten hat, ist kaum zu leugnen, dass ein großer Teil der bestehenden Unterschiede in der Produktivität von Personen auf moralisch zurechenbaren individuellen Entscheidungen beruht. Faire soziale Kooperation setzt die Fähigkeit und Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln voraus, und dies scheint nicht ohne weiteres mit der Vorstellung vereinbar zu sein, dass Leistungsunterschiede pauschal außer Acht zu lassen sind, wenn es darum geht, Güter zu verteilen, die aufgrund selbstbestimmter Entscheidungen aller Beteiligten produziert wurden. 17

7. Drei Argumente für die Nicht-Zurechenbarkeit produktiver Leistungen In diesem und dem nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, dass es unter realistischen Bedingungen normalerweise unmöglich ist, Personen die von ihnen geleisteten Beiträge zur gesellschaftlichen Güterproduktion als ein persönliches Verdienst zuzu-

258

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

rechnen, und zwar deshalb, weil sie keinen hinreichenden Einfluss auf die ihre faktische Produktivität bestimmenden Faktoren haben. Dabei stütze ich mich auf drei Argumente: (1) das Argument der Nicht-Zurechenbarkeit des Werts produktiver Leistungen, (2) das Argument der natürlichen Lotterie und (3) das Argument des fairen Wettbewerbs. Die Nicht-Zurechenbarkeit des Werts produktiver Leistungen. Wir haben bereits festgestellt, dass in pluralistischen Gesellschaften kein Konsens über eine objektive Bewertung produktiver Beiträge besteht. Je nach den von ihnen bejahten Wertvorstellungen und Lebenskonzeptionen bewerten Bürger die kollektiv verfügbaren Güter und die ihnen zugrunde liegenden individuellen Leistungen unterschiedlich. Als allgemein akzeptabler Wertmaßstab kämen deshalb allenfalls Marktpreise in Betracht, die uns angeben, in welchem Verhältnis das gesamtgesellschaftliche Angebot bestimmter Güter oder Leistungen zu ihrer Nachfrage steht. Die oben vorgebrachten Argumente haben jedoch gezeigt, dass Marktpreise keine angemessene Basis für die moralische Bewertung individueller Leistungen bieten können. Das Argument der Nicht-Zurechenbarkeit des Werts produktiver Beiträge ist gewissermaßen ein Korollar zu diesen Argumenten. Es lautet folgendermaßen: Insofern der Wert individueller Leistungen für die Mitglieder einer Gesellschaft von Faktoren (wie zum Beispiel dem Angebot und der Nachfrage von Leistungen) abhängig ist, die sich ihrer individuellen Kontrolle entziehen, kann niemand einen durch Leistungen begründeten moralischen Anspruch darauf haben, in Übereinstimmung mit eben diesem Wert entlohnt zu werden; auch wenn es eine als Verdienst zu betrachtende persönliche Leistung wäre, bestimmte Beiträge zu erbringen, könnte der durch Angebot und Nachfrage und nicht durch die Handlungen Einzelner bestimmte Wert dieser Beiträge nicht auf diese besondere Leistung zurückgeführt werden. Die beiden folgenden Argumente beruhen darauf, dass zum einen nicht alle Gesellschaftsmitglieder mit Blick auf ihre unterschiedlichen Anlagen und Begabungen über die gleichen pro-

Die Nicht-Zurechenbarkeit produktiver Leistungen

259

duktiven Fähigkeiten verfügen und dass sie zum anderen in der Regel auch nicht dieselben Möglichkeiten haben, sich in einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Weise an der gesellschaftlichen Güterproduktion zu beteiligen. Sie besagen, dass kein Gesellschaftsmitglied einen leistungsbezogenen Anspruch auf größere als gleiche Güterzuteilungen haben kann, solange nicht alle (1) die gleichen persönlichen Fähigkeiten zur Güterproduktion und (2) die gleichen Möglichkeiten zum Einsatz ihrer Fähigkeiten im gesellschaftlichen Produktionsprozess haben. Da beide Bedingungen normalerweise nicht erfüllt sind, entstehen keine differenziellen leistungsbezogenen Ansprüche, die Ungleichverteilungen von einem öffentlichen Standpunkt aus moralisch rechtfertigen könnten. Niemand kann vernünftigerweise einen ursprünglichen moralischen Anspruch auf größere als gleiche Güteranteile erheben, nur weil er, ohne dass dies sein eigenes Verdienst wäre, in der Lage ist, Dinge zu tun, welche die produktiven Möglichkeiten anderer übersteigen. Beide Argumente sind vollkommen unabhängig sowohl vom Problem der Leistungsbewertung als auch vom Problem der Identifikation individueller Beiträge. Sie würden die Möglichkeit einer genuin moralisch begründeten Güterverteilung nach Maßgabe individueller Leistungen auch dann in Frage stellen, wenn es allgemein anerkannte Kriterien für deren eindeutige Identifikation und Bewertung gäbe. Ich werde die beiden Argumente in zwei Schritten vorstellen. Im ersten Schritt wird gezeigt, warum überdurchschnittliche produktive Leistungen keine ursprünglichen moralischen Ansprüche auf größere als gleiche Entlohnungen rechtfertigen, wenn wir kontrafaktisch davon ausgehen, dass eigenverantwortliche Entscheidungen für die produktiven Leistungen einer Person keine Rolle spielen. Im zweiten Schritt wird das Ergebnis des ersten Schritts verallgemeinert, indem gezeigt wird, dass differenzielle leistungsbezogene Ansprüche auch dann nicht entstehen, wenn die an einem System sozialer Kooperation Beteiligten, wie es tatsächlich der Fall ist, durch eigene Entscheidungen Einfluss darauf nehmen können, wie produktiv sie sind.

260

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

Das Argument der natürlichen Lotterie. Die produktiven Fähigkeiten einer Person werden zum einen durch ihre natürlichen Anlagen und Begabungen bestimmt und zum anderen dadurch, in welchem Maße diese im Lauf des Lebens durch die Familie und das soziale Umfeld einer Person gefördert und entwickelt wurden. Sie sind, wie Rawls sagt, dass Ergebnis einer „natürlichen Lotterie" 18 und können dem Einzelnen deshalb nicht als eine persönliche Leistung oder als ein persönliches Verdienst zugerechnet werden. Produktivitätsunterschiede, die auf unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten zurückgehen, können aus diesem Grunde keine leistungsbezogenen moralischen Ansprüche begründen, denn es ist keine Leistung des Einzelnen, zu größeren produktiven Beiträgen als andere befähigt zu sein. Das Argument der Fairness. Neben ihren Anlagen und Begabungen ist für die faktische Produktivität einer Person bestimmend, welche Möglichkeiten sie hat, sich am gesellschaftlichen Produktionsprozess in einer Weise zu beteiligen, die diesen Begabungen und Fähigkeiten entspricht. In arbeitsteiligen und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften ist es praktisch unmöglich sicherzustellen, dass alle ihre Fähigkeiten und Begabungen in gleichermaßen optimaler Weise einsetzen können. Solange nun nicht alle Beteiligten die gleichen Chancen haben, sich mit produktiven Beiträgen am System sozialer Kooperation zu beteiligen - zum Beispiel aufgrund unfreiwilliger Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit - , wäre es unfair, Güter nach Maßgabe faktisch geleisteter Beiträge zu verteilen, denn nicht alle hatten dieselben Chancen zur Beteiligung. Produktivitätsunterschiede, die auf unterschiedliche Möglichkeiten der Beteiligung an der gesellschaftlichen Güterproduktion zurückgehen, können deshalb ebenso wenig wie solche, die aus unterschiedlichen Anlagen und Begabungen resultieren, differenzielle leistungsbezogene Ansprüche begründen.

Die Bedeutung eigenverantwortlicher Entscheidungen

8. Die Bedeutung

eigenverantwortlicher

261

Entscheidungen

Allein daraus, dass eine Person keine vollständige Kontrolle über die ihre Produktivität bestimmenden Faktoren hat, folgt noch nicht, dass es grundsätzlich unzulässig wäre, ihr die von ihr faktisch geleisteten Beiträge zur gesellschaftlichen Güterproduktion moralisch zuzurechnen. Zwar kann niemand allein darum einen größeren Anteil an Gütern für sich reklamieren, weil er über größere Fähigkeiten oder bessere Möglichkeiten zur Güterproduktion verfügt als andere. Dies schließt jedoch nicht aus, dass er mehr fordern kann, wenn er seine Fähigkeiten aufgrund eigener Entscheidungen besser entwickelt und einsetzt als andere, obwohl auch für sie diese Möglichkeit bestünde. Es fällt nicht schwer anzugeben, unter welchen hypothetischen Bedingungen wir einer Person die von ihr geleisteten Beiträge zur gesellschaftlichen Güterproduktion moralisch zurechnen können. Dies wäre zum Beispiel dann möglich, wenn die produktiven Fähigkeiten aller Beteiligten qualitativ identisch wären, wenn alle die gleichen objektiven Möglichkeiten hätten, diese Fähigkeiten ihren Vorstellungen gemäß einzusetzen und wenn glückliche oder unglückliche Zufälle keine Bedeutung für ihren Erfolg bei der Güterproduktion hätten. Eine Gesellschaft, in der diese Bedingungen erfüllt sind, wäre ein meritokratisches Ideal; denn die Größe der produktiven Beiträge der Gesellschaftsmitglieder hinge in ihr vollständig von ihren jeweiligen persönlichen Entscheidungen ab, und dies ließe es gerechtfertigt erscheinen, jedem genau denjenigen Anteil an den gemeinsam produzierten Güter zukommen zu lassen, der seinem produktiven Beitrag entspricht. Dies zeigt, dass die moralische Zurechnung produktiver Leistungen als ein Verdienst nicht voraussetzt, dass eine Person durch eigene Entscheidungen alle Faktoren beeinflussen oder kontrollieren kann, die für ihre faktischen Leistungen bestimmend sind. Worauf es ankommt ist, dass diejenigen Faktoren einer individuellen Kontrolle unterliegen, welche die distributiv relevanten Unterschiede zwischen den Beiträgen der Beteiligten bestimmen.19

262

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

Betrachten wir nun, welche Möglichkeiten sich für die Begründung differenzieller leistungsbezogener Ansprüche aus der unbestreitbaren Tatsache ergeben, dass die meisten Menschen durch eigenverantwortliche Entscheidungen einen mehr oder weniger großen Einfluss darauf haben, in welcher Weise sie ihre produktiven Fähigkeiten ausbilden und entwickeln und wie sie sich am gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozess beteiligen. Auch wenn niemand durch eigene Entscheidungen alle Bedingungen beeinflussen kann, die seine produktiven Möglichkeiten bestimmen, mag der tatsächlich bestehende Einfluss von Personen auf ihre eigene Produktivität ausreichen, um bei größeren Leistungen größere Entlohnungen gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Wir können uns die Bedeutung eigenverantwortlicher Entscheidungen für die Begründung leistungsbezogener moralischer Ansprüche mithilfe eines einfachen Diagramms veranschaulichen. Dazu nehmen wir um des Arguments willen an, es sei möglich, die Größe individueller Beiträge zur Güterproduktion auf intersubjektiv gültige Weise durch Zahlenwerte zu bestimmen. Die Säulen in Abb. 2 repräsentieren, innerhalb welcher Grenzen die Personen Ο, Ρ und Q ihre faktische Produktivität durch eigenverantwortliche Entscheidungen beeinflussen können. Sie geben für jede Person gewissermaßen ein Spektrum produktiver Möglichkeiten vor, von dem wir annehmen wollen, dass es sich der Kontrolle durch die Betroffenen vollständig entzieht. O ist mit Blick auf ihre natürlichen Begabungen, sozialen Handlungsmöglichkeiten etc. in der Lage, Beiträge in der Größenordnung von sieben Einheiten zur gesellschaftlichen Güterproduktion beizutragen, Ρ vermag vier, Q neun Einheiten beizusteuern. Nehmen wir an, die in einem bestimmten Zeitraum von Ο, Ρ und Q tatsächlich geleisteten produktiven Beiträge entsprächen drei, zwei und vier Einheiten eines gemeinsam produzierten Gutes. In diesem Falle spräche nichts dagegen, die drei nach Maßgabe der von ihnen geleisteten Beiträge im Verhältnis 3 : 2 : 4 zu entlohnen. Jeder von ihnen wäre in der Lage gewesen, Beiträge im Wert von vier Einheiten zu leisten, und es ist ausschließlich

Die Bedeutung eigenverantwortlicher Entscheidungen

263

9

Abb. 2

Ο

Ρ

Q

den eigenverantwortlichen Entscheidungen von O und Ρ zuzurechnen, dass sie weniger produktiv als Q waren. 20 Sagen wir nun, die von Ο, Ρ und Q geleisteten Beiträge entsprächen fünf, drei und acht Einheiten des gemeinsam produzierten Gutes. Auch in diesem Fall können wir den drei Kooperationspartnern die von ihnen jeweils erbrachten Leistungen moralisch zurechnen; denn jeder von ihnen hätte andere Entscheidungen treffen können und wäre dann produktiver oder weniger produktiv gewesen. Gleichwohl bleibt das Problem, dass Ρ aufgrund der durch externe Faktoren vorgegebenen Begrenzungen seiner produktiven Möglichkeiten nicht in der Lage gewesen wäre, ebenso wie O und Q Beiträge im Umfang von fünf oder acht Einheiten zu leisten. Auch können O und Q es sich nicht als persönliches Verdienst zurechnen, dass sie in der Lage sind, mehr als vier Einheiten zur gemeinsamen Güterproduktion beizutragen. Die zwischen den drei Kooperationspartnern bestehenden Produktivitätsunterschiede im Verhältnis 5 : 3 : 8 lassen sich also nur zum Teil auf eigenverantwortliche Entscheidungen zurückführen. Leistungsbezogene Ansprüche auf eine dem Verhältnis ihrer Beiträge entsprechende Entlohnung können sie nur innerhalb des für alle erreichbaren Leistungsniveaus von vier Einheiten begründen. Wer beansprucht, aufgrund persönlicher Leistungen eine größere Entlohnung als andere zu verdienen, muss zeigen kön-

264

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

nen, dass diese zu einer vergleichbaren Leistung in der Lage gewesen wären, sie aber aufgrund ihrer eigenverantwortlichen Entscheidung nicht erbracht haben. Und dieser Nachweis lässt sich nur erbringen, wenn die eigenen Leistungen sich vollständig im Rahmen dessen bewegen, was alle Gesellschaftsmitglieder einschließlich der durch ihre Begabungen und Chancen am wenigsten Begünstigten bei entsprechenden Entscheidungen ebenfalls hätten leisten können. 21 Die gemeinsam produzierten Güter wären im zweiten Fall unter leistungsbezogenen Gesichtspunkten deshalb nicht im Verhältnis 5 : 3 : 8 aufzuteilen, sondern allenfalls im Verhältnis 4 : 3 : 4. 22 Güterverteilungen auf der Basis moralisch zurechenbarer individueller Leistungen können demnach nur so lange gerechtfertigt erscheinen, wie alle faktisch erbrachten Beiträge nicht über das hinausgehen, was auch die durch ihre Begabungen und produktiven Möglichkeiten am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder zu leisten imstande gewesen wären. Diese Voraussetzung ist in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften nun weder faktisch erfüllt noch ist es erstrebenswert, dass sie erfüllt wäre. Alle Beteiligten einschließlich der am wenigsten Begünstigten wären sonst der Vorteile beraubt, die sich aus dem Vorkommen und der Nutzung besonderer Begabungen und Talente ergeben. Wenn wir darüber hinaus bedenken, wie groß in modernen Gesellschaften die nicht auf eigenverantwortliche Entscheidungen zurückführbaren Unterschiede zwischen den produktiven Möglichkeiten verschiedener Personen tatsächlich sind, ist klar, dass begründete leistungsbezogene Ansprüche auf größere als gleiche Entlohnungen praktisch vernachlässigt werden können. 23

9. Praktische

Konsequenzen

Ungleiche produktive Leistungen können, so das Ergebnis dieses Kapitels, keine ursprünglichen moralischen Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen begründen. Erstens hat sich gezeigt, dass es in pluralistischen Gesellschaften unmöglich

Praktische Konsequenzen

265

ist, den Wert produktiver Beiträge auf eine moralisch angemessene und allgemein anzuerkennende Weise so zu bestimmen, wie es nötig wäre, um ungleiche Güterverteilungen auf der Grundlage von interpersonellen Leistungsvergleichen moralisch zu rechtfertigen. Zweitens ließen sich keine nicht-willkürlichen Kriterien für die eindeutige Identifikation und quantitative Bestimmung individueller produktiver Leistungen finden, so dass der Begriff der individuellen Leistung selbst unbestimmt bleibt und widersprüchliche Interpretationen zulässt. Drittens schließlich ist es angesichts der Unterschiede zwischen den produktiven Fähigkeiten und Möglichkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft nur innerhalb sehr enger Grenzen möglich, ihnen ihre unterschiedlichen Beiträge zur kollektiven Güterproduktion im Sinne eines persönlichen Verdienstes moralisch zuzurechnen und sie als Maßstab für die Verteilung der gemeinsam produzierten Güter heranzuziehen. Die von mir vorgetragenen Kritikpunkte an der Vorstellung, größere Leistungen begründeten ursprüngliche moralische Ansprüche auf größere Entlohnungen, haben weniger drastische praktische Konsequenzen, als es scheinen mag. Insbesondere schließen sie nicht die Möglichkeit leistungsbezogener Entlohnungssysteme auf der Grundlage freiwilliger Vereinbarungen aus. Wir haben bereits festgestellt, dass die Aussicht, größere als gleiche Einkommen zu erzielen, einen Anreiz zu Produktivitätssteigerungen bietet, von denen alle Gesellschaftsmitglieder profitieren können. Insofern dies der Fall ist, lassen sich ungleiche Einkommens- und Güterverteilungen durch die mit ihnen verbundenen Vorteile allen Beteiligten gegenüber mit prudenziellen Gründen rechtfertigen. Anders als ursprüngliche leistungsbezogene moralische Ansprüche setzen die aus freiwilligen Vereinbarungen resultierenden abgeleiteten Ansprüche auf größere als gleiche Entlohnungen weder einen allgemeinen Konsens über Kriterien der Leistungsbewertung voraus noch ist es für ihre Anerkennung notwendig, Einzelnen ihre Leistungen als ein persönliches Verdienst zuzurechnen. Zur öffentlichen Rechtfertigung abgeleiteter Ansprüche genügt es, wenn die in-

266

Leistungsbezogene moralische Ansprüche

stitutionellen Regelungen, auf denen sie beruhen, fair und für alle Beteiligten im Lichte ihrer eigenen Wertsetzungen und Präferenzen vorteilhaft sind. Leistungsbezogene Kriterien sind auch für die Beantwortung der Frage von Bedeutung, ob eine Person sich in fairer Weise an einem System sozialer Kooperation beteiligt. Unsere Diskussion bedarfsbezogener moralischer Ansprüche in den vorangegangenen Kapiteln hat gezeigt, dass eine Person nur dann einen moralischen Anspruch auf soziale Unterstützung hat, wenn sie aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, sich mit dem für das Leben einer moralischen Person notwendigen Minimum an Gütern zu versorgen. Der Anspruch einer Person auf materielle Gleichstellung ist insofern von ihrer Bereitschaft zu eigenen produktiven Leistungen abhängig. Daran ändert auch unsere Kritik an leistungsbezogenen Güterverteilungen nichts. Nur wer bereit ist, Arbeitsverträge einzugehen und sie in fairer Weise einzuhalten, kann begründete bedarfs- und leistungsbezogene Ansprüche gegenüber seinen Mitbürgern erheben. Ob und wie viel eine Person tatsächlich arbeitet, ist für die Beurteilung ihrer moralischen Ansprüche auf Güterzuteilungen jedoch nur dann relevant, wenn es tatsächlich eine Sache ihrer persönlichen Entscheidung ist, mehr oder weniger zu arbeiten.

9.

Kapitel:

Herleitung des Differenzprinzips 1.

Voraussetzungen

In einer Gesellschaft, deren Mitglieder einander als freie und gleiche Personen anerkennen, können alle Bürger prima facie gleiche Anteile an allen kollektiv verfügbaren Gütern und Ressourcen für sich beanspruchen. Einkommensungleichheiten erscheinen unter dieser Voraussetzung nur dann gerechtfertigt, wenn sich Gründe für sie anführen lassen, die alle Beteiligten von einem öffentlichen Standpunkt aus gesehen anerkennen können resp. anerkennen müssen. In Kapitel 6 wurde ausgeführt, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft einen Anspruch auf das moralische Minimum an materiellen Gütern und Ressourcen haben. Personen, die aufgrund von Krankheiten, Behinderungen oder anderen öffentlich anerkannten Notlagen aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, sich mit den für das Leben einer moralischen Person notwendigen Gütern zu versorgen, haben einen Anspruch auf soziale Unterstützung. Sie können abhängig vom Grad ihrer Bedürftigkeit nötigenfalls mehr Güter und Ressourcen für sich reklamieren als ihre Mitbürger. Begründete bedarfsbezogene Ansprüche sind in diesem Sinne öffentlich anzuerkennende Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen. In Kapitel 7 wurde die Konzeption des moralischen Minimums - die Güter, auf die eine Person begründete bedarfsbezogene Ansprüche hat - benutzt, um zu definieren, wann zwei Personen unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit materialiter gleichgestellt sind. Dies ist dann der Fall, wenn ihnen (1) das moralische Minimum zur Verfügung steht und (2) darüber hinaus beide gleiche Anteile am gesamt-

268

Herleitung des

Differenzprinzips

gesellschaftlichen Realeinkommen erhalten. Kapitel 8 hat ergeben, dass wir bei der Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen keine ursprünglichen leistungsbezogenen moralischen Ansprüche berücksichtigen müssen. Nach der in Kapitel 6.2) vorgestellten Typologie möglicher Rechtfertigungsgründe für Ungleichverteilungen brauchen deshalb, sobald das moralische Minimum allgemein garantiert ist, keine weiteren moralischen Gründe für ungleiche Einkommens- und Güterverteilungen mehr berücksichtigt zu werden. Diejenigen Güter, die nach Erfüllung aller begründeten bedarfsbezogenen Ansprüche übrig bleiben, können dann nur mehr aus prudenziellen Gründen, das heißt zum Vorteil aller Beteiligten, ungleich verteilt werden. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, warum sich unter dieser Voraussetzung nur Maximin-Verteilungen öffentlich rechtfertigen lassen. Von allen in einer Gesellschaft realisierbaren Einkommensverteilungen, so unser Leitgedanke, erfüllen nur Maximin-Verteilungen die Bedingung, dass alle Einkommens unterschiede sich zum Vorteil aller Gesellschaftsmitglieder einschließlich der am wenigsten Begünstigten auswirken. Nach Rawls ergibt sich das Differenzprinzip aus einer allgemeineren Gerechtigkeitsvorstellung, die von ursprünglich gleichen Ansprüchen aller Gesellschaftsmitglieder auf alle Grundgüter ausgeht und Ungleichverteilungen nur unter der Bedingung als moralisch zulässig erachtet, dass sie sich zum Vorteil aller auswirken. All social values - liberty and opportunity, income and wealth, and the bases of self respect - are to be distributed equally unless an unequal distribution of any, or all, of these values is to everyone's advantage. 1

Ungerecht ist eine Gesellschaft demnach genau dann, wenn sie Ungleichheiten zulässt, die nicht für alle vorteilhaft sind. Auch wenn die folgende Herleitung des Differenzprinzips aus dem, was ich die Bedingung reziproker Vorteile nenne, mit den Grundintentionen der Rawls'schen Begründung übereinstimmt, unterscheidet sie sich doch in zweierlei Hinsicht von ihr: Erstens

Voraussetzungen

269

kann nach meiner Auffassung Rawls' allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung kein oberster Grundsatz sozialer Gerechtigkeit sein, denn sie gibt keine akzeptable Antwort auf die Frage, wie Güter zu verteilen sind, wenn bei einer Gleichverteilung nicht alle Gesellschaftsmitglieder - zum Beispiel aufgrund dauerhafter Erkrankungen oder Behinderungen einiger - die gleichen Wohlfahrtsoptionen im Sinne von Kapitel 7 haben. In diesem Fall müssen Güter und Ressourcen nötigenfalls ungleich verteilt werden, um allen das moralische Minimum zu garantieren, obwohl sich dies normalerweise nicht zum Vorteil aller Beteiligten auswirkt. Für die Begründung des Differenzprinzips bedeutet dies, dass als Ausgangsbasis für Güterverteilungen unter prudenziellen Gesichtspunkten nicht, wie Rawls unterstellt, die Gleichverteilung aller Güter gewählt werden kann. Wir müssen vielmehr von einem Zustand der materiellen Gleichstellung aller Gesellschaftsmitglieder im Sinne gleicher Wohlfahrtsoptionen ausgehen. Nur diejenigen Güter, die nicht zur Garantie gleicher Wohlfahrtsoptionen benötigt werden, können gerechterweise gleich oder bei allseitig vorteilhaften Ungleichverteilungen - nach der Idee reziproker Vorteile ungleich verteilt werden. Rawls' allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung gilt tatsächlich nur für den Sonderfall, dass keine öffentlich anzuerkennenden bedarfsbezogenen Ansprüche auf größere als gleiche Güterzuteilungen vorliegen; oder anders gesagt, sie gilt nur für diejenigen Güter, die übrig bleiben, nachdem alle begründeten bedarfsbezogenen Ansprüche erfüllt worden sind. Für eben diese Güter soll in den folgenden Abschnitten gezeigt werden, dass sie nach dem Differenzprinzip verteilt werden müssen. Nach meinem Verständnis müsste die allgemeinste Gerechtigkeitsvorstellung, aus der sich alle konkreteren Verteilungsregeln herleiten, lauten: Alle kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen sind gleich zu verteilen, es sei denn, eine ungleiche Verteilung ließe sich allen Beteiligten gegenüber aus moralischen oder prudenziellen Gründen rechtfertigen.

270

Herleitung des

Differenzprinzips

Der zweite Punkt, in dem meine Begründung des Differenzprinzips von der Rawls'schen abweicht, ist, dass sie nicht auf einem entscheidungstheoretischen Argumentationsmodell wie dem des Urzustandes beruht, sondern unmittelbar beim Gedanken der öffentlichen Rechtfertigung von Güterverteilungen ansetzt. In Kapitel 3 haben wir gesehen, warum Rawls' Herleitung des Differenzprinzips mithilfe des Urzustandes scheitert. In diesem Kapitel soll vorgeführt werden, wie das Differenzprinzip und die Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Güterverteilungen zusammenhängen. Wir fragen nicht länger, welche distributiven Grundsätze rationale moralische Personen in einem fiktiven Urzustand für sich und ihre Mitbürger wählen würden, sondern: Welche Bedingungen müssen ungleiche Einkommensverteilungen erfüllen, wenn die mit ihnen verbundenen Einkommensunterschiede allen Gesellschaftsmitgliedern aus prudenziellen Gründen gerechtfertigt erscheinen sollen?

2. Die Bedingung reziproker

Vorteile2

Beginnen wir damit, die Vorstellung genauer zu fassen, dass Einkommensungleichheiten sich, nachdem alle bedarfsbezogenen Ansprüche erfüllt wurden, zum Vorteil aller Beteiligten auswirken müssen. Dazu bietet sich die vertraute Bedingung der ParetoEffizienz an. Sie lässt sich in einer schwachen und in einer starken Version formulieren. Die schwache Variante besagt für den vorliegenden Fall von Einkommensverteilungen auf der 0PKurve, dass keine Verteilung gewählt werden darf, zu der es eine realisierbare Alternative gibt, die allen ein höheres Einkommen garantieren würde. Die starke Variante schließt aus, dass Einkommensverteilungen gewählt werden, zu denen es eine Alternative gibt, die mindestens eine repräsentative Person besser und keine schlechter stellen würde. 3 Wenn wir nun Abb. 3 betrachten, sehen wir, dass keine der realisierbaren Einkommensverteilungen auf der OP-Kurve links von d* die starke oder schwache Version der Pareto-Bedingung erfüllt.

Die Bedingung reziproker Vorteile

^kk 3

Verteilungen

271

Verteilungen

Zu jeder möglichen Verteilung links von d* gibt es Alternativen ( d * und alle Verteilungen rechts von d*), die für eine oder für beide Gruppen ein höheres Einkommen realisieren würden, ohne dass die jeweils andere Gruppe etwas aufgeben müsste. Verteilungen links von d* stellen in diesem Sinne pareto-inferiore Zustände dar, deren Realisation durch die Pareto-Bedingung in beiden Varianten ausgeschlossen wird. Wenn wir annehmen, dass die Gesellschaftsmitglieder Einkommensverteilungen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer Steigerung ihres eigenen Realeinkommens betrachten, dürfen wir davon ausgehen, dass sie keiner solchen Verteilung zustimmen würden. Die Verteilungen im Kurvenabschnitt d* Ρ (einschließlich d*) dagegen erfüllen durchgängig beide Varianten der Pareto-Bedingung. Welche Verteilung innerhalb dieses Abschnitts auch immer gewählt wird, es gibt keine realisierbare Alternative zu ihr, die nicht das Einkommen mindestens einer repräsentativen Person verringern würde. Alle Verteilungen im Abschnitt d* Ρ beschreiben Pareto-effiziente Zustände, und die Pareto-Bedingung sagt uns nichts darüber, welche von ihnen, ausgehend von einer

272

Herleitung des

Differenzprinzips

Gleichverteilung der Einkommen im Ursprung des Koordinatensystems, unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Vorteile realisiert werden sollte. An dieser Stelle setzt dasRawls'sche Differenzprinzip an und fordert, aus der Menge der Pareto-effizienten Verteilungen diejenige zu wählen, die das Einkommen der durch die Einführung von Ungleichverteilungen am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder maximiert. Wie lässt sich jedoch die Entscheidung für das Differenzprinzip im Rückgriff auf die Bedingung reziproker Vorteile rechtfertigen, wenn tatsächlich alle Verteilungen im Kurvenabschnitt d* Ρ gegenüber der ursprünglichen Gleichverteilung 0 wechselseitig vorteilhafte und darüber hinaus Pareto-effiziente Verteilungen sind? Warum folgt aus der Vorstellung, dass ungleiche Einkommensverteilungen für alle vorteilhaft sein sollen, dass sie zum maximalen Vorteil der am wenigsten Begünstigten ausfallen müssen? Der springende Punkt für die Herleitung des Differenzprinzips aus der Bedingung reziproker Vorteile liegt darin, dass es nicht pauschal darum geht, Einkommenszuwächse über die ursprüngliche Gleichverteilung hinaus zu rechtfertigen. Es sind ausschließlich die einseitigen Einkommensvorteile der Begünstigten, die aus der Perspektive gleichberechtigter Kooperationspartner rechtfertigungsbedürftig erscheinen; denn nur sie führen zu Ungleichheiten. Ihre Rechtfertigung kann nun trivialerweise nicht darin bestehen, dass die jeweils realisierte Verteilung alle Beteiligten gegenüber der ursprünglichen Gleichverteilung besser stellt. Dies gilt nämlich für alle Punkte auf der OP-Kurve, und alle Punkte von d * bis Ρ beschreiben darüber hinaus Pareto-effiziente Zustände. Sie mögen darum auf den ersten Blick auch alle gleichermaßen öffentlich gerechtfertigt erscheinen. Dass dies tatsächlich nicht so ist, zeigt sich erst, wenn wir uns auf die einseitigen Einkommenszuwächse konzentrieren, die sich für die Begünstigten bei jeder Ungleichverteilung ergeben. Rechtfertigungsbedürftig sind die Einkommensdifferenzen zwischen den beiden Gruppen, nicht ihre Einkommenssteigerungen als solche. Sobald wir die Bedingung reziproker Vorteile auf die einseitigen Einkommenszuwächse der Begünstigten anwenden und

Herleitung des Differenzprinzips

273

nicht pauschal auf ihre Einkommensverbesserungen gegenüber der ursprünglichen Gleichverteilung, folgt aus ihr, dass nur Maximin-Verteilungen öffentlich zu rechtfertigen sind. Denn die am wenigsten Begünstigten haben keinen prudenziellen Grund, einseitigen Einkommenszuwächsen für die Begünstigteren zuzustimmen, solange eine andere Verteilung realisiert werden kann, die mit zusätzlichen Einkommensverbesserungen für sie selbst verbunden ist. Eben dies gilt jedoch für alle Verteilungen, die ihnen kein Maximin-Einkommen garantieren. Maximin-Verteilungen dagegen können allen gegenüber mit prudenziellen Gründen gerechtfertigt werden. Sie bieten den durch Ungleichverteilungen stärker Begünstigten den größten möglichen Einkommenszuwachs, der mit der Bedingung reziproker Vorteile vereinbar ist; und für die am wenigsten Begünstigten gilt, dass jede andere Verteilung eine Verringerung ihres eigenen Einkommens zur Folge hätte, die sie ablehnen würden, solange wir annehmen, dass sie ausschließlich an der Steigerung ihres Realeinkommens interessiert sind.4 Ich möchte hervorheben, dass das skizzierte Argument an keiner Stelle bereits unterstellt, dass Einkommensverteilungen, aus welchen Gründen auch immer, zum maximalen Vorteil für die am wenigsten Begünstigten sein müssen. Vorausgesetzt wird nur, dass einseitige Einkommenszuwächse für die Begünstigteren auch den am wenigsten Begünstigten Vorteile bringen.

3. Herleitung

des

Differenzprinzips5

Eine schlüssige Herleitung des Differenzprinzips ergibt sich, wenn wir von zwei formalen Bedingungen ausgehen, die sich unmittelbar aus der Forderung der öffentlichen Rechtfertigung von Einkommensunterschieden herleiten. Sagen wir, eine Einkommensverteilung d¡ sei dann und nur dann öffentlich gerechtfertigt, wenn es keine Alternative d] zu ihr gibt, die erstens alle Beteiligten besserstellen würde und die zweitens den am wenigsten Begünstigten mindestens dasselbe Einkommen wie d¡ bietet, aber gleich-

274

Herleitung des

Differenzprinzips

zeitig die einseitigen Einkommenszuwächse der Begünstigten verringert. Solange wir annehmen, dass alle Beteiligten ausschließlich an der Steigerung ihrer eigenen Realeinkommen interessiert sind, bedarf die erste Bedingung keiner weiteren Begründung. Sie besagt nichts anderes, als dass Einkommensverteilungen dem schwachen Pareto-Kriterium genügen müssen. Die zweite Bedingung - nennen wir sie die Bedingung der geringsten möglichen Einkommensdifferenzen6 - folgt daraus, dass unter Bürgern, die einander als freie und gleiche Personen anerkennen, nur solche einseitigen Einkommenszuwächse öffentlich gerechtfertigt werden können, die zu einer Verbesserung der Einkommen der am wenigsten Begünstigten beitragen. Besteht die Wahl zwischen zwei Einkommensverteilungen d¡ und d¡, die den am wenigsten Begünstigten dasselbe Einkommen y1 garantieren, sich aber durch verschieden hohe Einkommen x¡ und x¡ für die Begünstigten unterscheiden, muss stets die Verteilung mit dem geringeren Einkommen für die Begünstigten gewählt werden. Da Einkommensstufe y1 für die am wenigsten Begünstigten auch durch x¡ garantiert werden kann, ist der Einkommenszuwachs Xj-X¡ kein Beitrag zur Verbesserung der Einkommen der am wenigsten Begünstigten und kann insofern nicht mit prudenziellen Gründen ihnen gegenüber gerechtfertigt werden (s. Abb. 4, S. 276). 7 Offenkundig erfüllt kein Verteilungspunkt links von d* die Pareto-Bedingung, und kein Punkt rechts von d* erfüllt die Bedingung der geringsten möglichen Einkommensdifferenzen, denn zu jedem Punkt d¡ rechts von d* lässt sich ein Punkt d¡ links von d* angeben, der den am wenigsten Begünstigten dasselbe Einkommen wie d¡ gewährt und gleichzeitig die einseitigen Einkommenszuwächse der Begünstigten um den Betrag x¡-x¡ verringert. So lässt sich nur d* als kollektiv anzustrebende Verteilung allen Beteiligten gegenüber mit prudentiellen Gründen rechtfertigen.

Herleitung

des Differenzprinzips

27S

Formale Herleitung des Differenzprinzips 1. Annahmen über die Eigenschaften der OP-Kurve, y = f(x): 1.1 fix) ist über ]o, k[ stetig und stetig differenzierbar. 1.2 f(x) ist über ¡o, x*¡ streng monoton steigend: χ : χ e [o,x*[ z> f'(x)>0 und über ]x*, k] streng monoton fallend: χ : χ e ¡x", k¡ z> f'(x) < 0. 1.3 f(0) < f(k) (Wir ziehen nur reziprok vorteilhafte Verteilungen rechts von d* in Betracht). 2. Bedingungen der öffentlichen Rechtfertigung Eine Einkommensverteilung d,(x„ y) lässt sich mit prudenziellen Gründen nur dann öffentlich rechtfertigen, wenn die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sind: 2.1 Es gibt zu d, (x¡, y,) keine realisierbare Alternative d¡' (x¡', y¡'), so dass χ/ > x¡ & y¡' > y¡ (schwache Pareto-Bedingung). 2.2 Es gibt zu djixj, y j keine realisierbare Alternative dj"(Xj", y¡"), so dass y¡" = y i & x¡" < x¡ (Forderung minimaler Einkommensdifferenzen). 3. Herleitung des Differenzprinzips 3.1 Keine Verteilung d¡ (χύ yj über dem Intervall [o, x*[ links von d* erfüllt Bed. 2.1. Wegen f'(x) > 0 für alle x, e [o, x*[ gibt es zu jeder Verteilung d, hier stets eine Alternative d¡, so dass x,' > x, & y,' > y,. 3.2 Keine Verteilung d, (x¡, yJ über dem Intervall ]xk] rechts von d* erfüllt Bed. 2.2. Wegen 1.3 gilt: f(0) < f(k) und wegen 1.2: f(k) < f(xj, so dass auch: f(0) < flk) gilt. Sodann folgt aus 1.1 & 1.2, dass f bei χ * ein Maximum hat, so dass gilt: f(x) < fix'). Insgesamt haben wir jetzt: f(0) < f(xj < f(x '), und daraus folgt nach dem Zwischenwertsatz, dass es ein xt"e ]0, x*[ gibt, so dass f(x,") = f(x,). Dann aber gibt es auch eine Verteilung d,"(x,",y,") mit x,"< & y,"= 3.3

f(x.")=f 0 im Intervall ]o, χ ' [ gibt es keine alternative Verteilung mit x¡ < χ* & y, - y* (Bed. 2.2).

276

Herleitung des Differenzprinzips

4. Maximin-

und

Leximin-Verteilungen

Es mag auf den ersten Blick als eine Schwäche der vorgestellten Herleitungen des Differenzprinzips erscheinen, dass sie von der Annahme einer nur aus zwei sozialen Gruppen bestehenden Gesellschaft ausgehen. Und in der Tat lässt sich wohl kein Beispiel für eine Gesellschaft finden, die sich in sinnvoller Weise genau in zwei Einkommensgruppen aufteilen lässt. Tatsächlich ergibt sich aus der Beschränkung auf zwei soziale Gruppen jedoch keine Einschränkung für die Allgemeingültigkeit der vorgestellten Begründung des Differenzprinzips. Wenn es zutrifft, dass bei zwei Gruppen nur Maximin-Einkommens-Verteilungen öffentlich zu rechtfertigen sind, dann muss dies auch bei mehr als zwei Gruppen gelten. Dies folgt einfach daraus, dass alle Einkommensungleichheiten in einer gerechten Gesellschaft öffentlich gerechtfertigt sein müssen. Unter der Voraussetzung, dass nur mehr prudentielle Rechtfertigungsgründe in Betracht gezogen werden, können Einkommensunterschiede nur dann öffentlich gerechtfertigt sein, wenn sie zu materiellen

Maximin- und Leximin-Verteilungen

277

Vorteilen auch für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder führen. Nun haben wir gesehen, dass nur solche einseitigen Einkommenszuwächse gegenüber den Mitgliedern dieser Gruppe mit prudentiellen Gründen gerechtfertigt werden können, die ihnen Maximin-Einkommen gewähren. Dies aber bedeutet, dass alle Einkommenszuwächse für begünstigtere Gesellschaftsmitglieder mit Maximin-Einkommen für die am wenigsten Begünstigten vereinbar sein müssen, und zwar ganz unabhängig davon, ob die Mitglieder der begünstigteren Gruppe gleich oder verschieden hohe Einkommen beziehen. Wie auch immer die Einkommen oberhalb der Maximin-Schwelle verteilt sein mögen und wie viele Einkommensgruppen wir berücksichtigen müssen, stets gilt, dass Einkommensverteilungen nur dann öffentlich zu rechtfertigen sind, wenn sie den am wenigsten Begünstigten Maximin-Einkommen garantieren. Nun folgt daraus, dass sich nur Maximin-Verteilungen öffentlich rechtfertigen lassen, noch nicht ohne weiteres, dass in einer Gesellschaft, die Maximin-Einkommen für die am wenigsten Begünstigten gewährt, damit auch schon alle in ihr bestehenden Einkommensunterschiede öffentlich gerechtfertigt wären. Grundsätzlich ist denkbar, dass der Grundsatz reziproker Vorteile nicht nur auf Einkommensungleichheiten zwischen den am wenigsten begünstigten und den begünstigteren Gesellschaftsmitgliedern angewendet wird, sondern auch auf solche zwischen den Mitgliedern der begünstigteren Gruppe. Meine Herleitung des Differenzprinzips beruhte auf der so genannten schwachen Version der Pareto-Bedingung, die Veränderungen gegenüber einem status quo nur dann zulässt, wenn sie für alle Beteiligten mit Vorteilen verbunden sind. Die starke Version der Pareto-Bedingung lässt Veränderungen dagegen bereits dann zu, wenn sie zum Vorteil mindestens einer Person sind und niemandem Nachteile bringen. Für die öffentliche Rechtfertigung von Ungleichverteilungen durch prudenzielle Gründe ist es entscheidend, ob wir, ausgehend von einer Gleichverteilung, die Bedingung reziproker Vorteile im Sinne der starken oder schwachen Pareto-Bedingung interpretieren. Wir

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Herleitung des Differenzprinzips

haben gesehen, dass die schwache Bedingung zusammen mit der Forderung der öffentlichen Rechtfertigung von Ungleichheiten das Rawls'sche Differenzprinzip impliziert, das Maximin-Verteilungen fordert. Die starke Version würde dagegen, wenn wir sie, wie oben beschrieben, auf Einkommenswraierschiede anwenden, zu einer lexikographischen Erweiterung des Differenzprinzips, der so genannten Leximin-Regel führen. 8 Die Leximin-Regel beruht auf einer Iterierung der Maximinregel für alle Einkommensgruppen in aufsteigender Folge, und die Menge aller realisierbaren Leximin-Verteilungen ist eine Teilmenge der Maximin-Verteilungen. Leximin geht über Maximin hinaus, insofern diese Regel unter der Bedingung, dass die Einkommen der am wenigsten Begünstigten bereits maximiert sind, fordert, dass die Einkommen der nächsthöheren Gruppe maximiert werden u.s.f. Da alle Leximin-Verteilungen e definitione Maximin-Verteilungen sind, bezeichne ich Maximin-Verteilungen, welche die Leximin-Regel nicht erfüllen, als reine Maximin-Verteilungen. Zu einer Einkommensverteilung, die den am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitgliedern maximale Einkommen garantiert, kann es trivialerweise keine Alternative geben, die allen Beteiligten ein höheres Einkommen gewährt. Ausgehend von einer reinen Maximin-Verteilung sind deshalb keine Einkommensveränderungen denkbar, die die schwache Pareto-Bedingung erfüllen. Es ist aber möglich, dass die Einkommen einiger Gesellschaftsmitglieder erhöht werden, ohne dass die Einkommen der am wenigsten Begünstigten sinken. Deshalb kann es zu reinen Maximin-Verteilungen Alternativen geben, welche die starke Pareto-Bedingung erfüllen, wenn wir sie auf Einkommensdifferenzen oberhalb der Maximin-Schwelle anwenden. Nur für Leximin-Verteilungen gilt, dass es zu ihnen nach beiden Varianten der Pareto-Bedingung keine zulässige Alternative gibt. Sen und andere vertreten deshalb die Auffassung, dass die Leximin-Regel gegenüber der reinen MaximinRegel als Verteilungsprinzip vorzuziehen sei.9 Ich glaube jedoch nicht, dass dies generell richtig ist.

Ein möglicher

Einwand:

Verteilungen

rechts von d*

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Erstens impliziert der Gedanke der öffentlichen Rechtfertigung von Ungleichverteilungen aus prudenziellen Gründen, dass alle Beteiligten einen prudenziellen Grund haben ihnen zuzustimmen, und dies setzt voraus, dass einseitige Einkommenszuwächse für alle vorteilhaft sind und nicht nur für einige.10 Zweitens bedeuten auch bei einem garantierten Maximin-Einkommen für die am wenigsten Begünstigten Verbesserungen oberhalb der Maximin-Schwelle notwendigerweise eine Vergrößerung der Einkommensungleichheiten zwischen der am wenigsten begünstigten und den nächstgelegenen begünstigteren Gruppen. Und dies kann für die Gruppe der am wenigsten Begünstigten mit Nachteilen verbunden sein, auf die ich im übernächsten Abschnitt näher eingehe. Die Bedingung, dass die weniger Begünstigten, solange ihre Einkommen nicht sinken, keine Nachteile durch Einkommensverbesserungen anderer haben, ist deshalb nicht generell erfüllt. Aus diesem Grund meine ich, dass die Bedingung reziproker Vorteile für die öffentliche Rechtfertigung von Ungleichheiten durch prudenzielle Gründe im Sinne einer Anwendung der schwachen und nicht der starken Pareto-Bedingung auf Einkommensdifferenzen verstanden werden sollte.

5. Ein möglicher Einwand:

Verteilungen

rechts von d*

Ich möchte noch einmal die Frage aufnehmen, warum sich Einkommensverteilungen, die auf der OP-Kurve rechts von d* liegen, nicht öffentlich rechtfertigen lassen. Es wurde gegen das Differenzprinzip vorgebracht, dass Maximin-Verteilungen dann moralisch problematisch erscheinen müssen, wenn sie aufgrund eines sehr flachen Verlaufs der OP-Kurve nach Erreichung ihres Maximums in d* den Begünstigteren große Einkommenseinbußen dx zumuten, denen nur geringfügige Zugewinne dy aufseiten der weniger Begünstigten gegenüberstehen (s. Abb. 5).11

280

Herleitung des Differenzprinzips

Wird h gegenüber d* realisiert, können die begiinstigteren Gesellschaftsmitglieder eine Erhöhung ihres Realeinkommens um dx realisieren, während die weniger Begünstigten lediglich Einkommensverluste in Höhe von dy hinnehmen müssen. Kann unter diesen Bedingungen die Forderung der weniger Begünstigten, d* zu realisieren, von einem unparteiischen öffentlichen Standpunkt aus gesehen gerechtfertigt sein? Da wir es nicht mit rationalen Egoisten zu tun haben, sondern mit moralischen Personen, können die Proponenten von d* Einkommensverbesserungen für die Begünstigteren nicht einfach deshalb ablehnen, weil sie mit Einbußen für sie selbst verbunden sind. Moralische Personen sind ihrer Definition nach grundsätzlich bereit, auch unkompensierte Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn sich dies aus moralischen Gründen als notwendig erweisen sollte (s. Kap. 5.3). Es ist auch nicht zu bestreiten, dass wir in vielen alltäglichen Situationen von unseren Mitmenschen erwarten, geringfügige Nachteile in Kauf zu nehmen, wenn sie dadurch anderen große Vorteile verschaffen können. Schon Rawls hat dieses Problem gesehen und eine pragmatische Lösung vorgelegt. Er geht, wohl nicht zu Unrecht, davon aus, dass

Ein möglicher Einwand: Verteilungen rechts von d*

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bei garantierten gleichen Grundfreiheiten und bei fairer ökonomischer Chancengleichheit die Annahme eines entsprechend flachen Verlaufs der OP-Kurve rechts von d* unrealistisch ist. Unter Bedingungen gleicher Freiheiten und fairer Chancen würden hohe differenzielle Einkommen in einer Marktwirtschaft zu einem verstärkten Wettbewerb um die begehrten Einkommenszugewinne führen. Dies hätte mit der Zeit eine Verringerung der möglichen Einkommenszuwächse zur Folge, und längerfristig würde die OP-Kurve nach Erreichung des Maximums wieder steiler abfallen. 12 Rawls' Behandlung des beschriebenen Problems ist plausibel. Jede Konzeption sozialer Gerechtigkeit ist an der einen oder anderen Stelle gezwungen, ¿zd-/?oc-Konstruktionen vorzunehmen und muss davon ausgehen, dass die soziale Wirklichkeit in gewünschter Weise mitspielt und keine unlösbaren Probleme aufwirft. Dennoch meine ich, dass eine von den normativen Grundlagen des Differenzprinzips ausgehende Antwort einer pragmatischen Lösung vorzuziehen ist.13 Nun kann niemand vom öffentlichen Standpunkt aus einfach darum einen größeren Anteil an Ressourcen reklamieren, weil die vorgeschlagene Verteilung niemandem Einbußen zumutet, die größer wären als der zusätzlich geforderte Anteil. Es kommt auf den Wert der jeweiligen Ressourcenanteile für die beteiligten Personen an. Und ein vom öffentlichen Standpunkt aus anzuerkennendes Argument für Verteilungen rechts von d* ergäbe sich erst dann, wenn sich zeigen ließe, dass zusätzliche Ressourcen für die begünstigteren Gesellschaftsmitglieder zur Realisation eines öffentlich anerkannten Wertes beitragen würden. Die Begünstigteren müssen zeigen, dass der Verlust von dx ihnen Bürden auferlegt, die in Einheiten eines öffentlich anerkannten Wertes gemessen größer sind als die áy-Gewinne für die weniger Begünstigten. Aber wie könnten sie dies zeigen? Was den formativen und den freiheitsbezogenen Wert materieller Güter und Ressourcen betrifft, so ist klar, dass sie keine Grundlage für die öffentliche Rechtfertigung von Verteilungen rechts von d* abgeben. Alle haben nach den anerkannten Grund-

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Herleitung des Differenzprinzips

sätzen politischer Gerechtigkeit einen Anspruch auf gleiche politische und bürgerliche Grundfreiheiten. Aus welchem Grund sollte dann irgendjemand einen moralischen Anspruch darauf haben, seine gleichen Rechte und Freiheiten durch Einkommenszugewinne über d* hinaus besser nutzen zu können als andere? Dasselbe gilt für den formativen Wert. Wenn alle den gleichen Anspruch auf faire Bedingungen der Entwicklung und Ausbildung von Lebensplänen und Präferenzen haben, kann niemand unter diesem Gesichtspunkt mehr Ressourcen für sich reklamieren als andere. Mit Blick auf den instrumenteilen Wert materieller Güter ist ebenfalls leicht zu sehen, dass die Begünstigteren keine öffentlich anzuerkennende Dringlichkeit für Verteilungen rechts von d* geltend machen können. Das Existenzminimum ist für alle gesichert, und der Wert von Gütern für die Beteiligten oberhalb des moralischen Minimums ergibt sich ausschließlich aus ihren konkreten Lebensplänen und Präferenzen. Von denen haben wir in Kapitel 7 jedoch gesehen, dass sie keine geeignete Grundlage für öffentlich begründete Ansprüche auf differenzielle Güterzuteilungen abgeben. Die Antwort auf den Einwand ungebührlicher Belastungen für die Begünstigteren lautet deshalb, dass diese im beschriebenen Fall keinen öffentlich anzuerkennenden Anspruch auf die Realisation von dx haben können, weil der Zugewinn von dx keine Voraussetzung für die Realisation eines öffentlich anerkannten Wertes ist. In Einheiten öffentlich anerkannter Werte gemessen ist der Verlust von dx keine moralisch relevante Belastung.

6. Nötige Qualifikationen:

Verteilungen

links von d*

Die in den vorangegangenen Abschnitten vorgetragenen Argumente für das Differenzprinzip und seine formale Herleitung aus der Bedingung reziproker Vorteile beruhen auf zwei stillschweigenden, aber nicht unproblematischen Annahmen, die eine gewisse Einschränkung unseres Argumentationsergebnisses notwendig erscheinen lassen. Zum einen haben wir implizit

Nötige Qualifikationen: Verteilungen links von d*

283

vorausgesetzt, dass die zur Verwirklichung von Maximin-Verteilungen notwendige Maximierung der gesamtgesellschaftlichen Produktivität allenfalls technisch-ökonomische, aber keine moralischen Probleme aufwirft. Z u m anderen sind wir mit Blick auf die Rechtfertigung von Einkommensungleichheiten durch prudenzielle Gründe zunächst einmal davon ausgegangen, dass alle Gesellschaftsmitglieder ausschließlich an einer Steigerung ihrer eigenen Realeinkommen interessiert sind, so dass Bewegungen auf der OP-Kurve vom Ursprung bis zu ihrem Maximum in d* für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder qualifikationslos vorteilhaft sind. Beides ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Wenn wir die mit Ungleichheiten verbundenen Nachteile für die weniger Begünstigten zunächst außer Acht lassen, können wir mit Blick auf alle realisierbaren Einkommensverteilungen links von d* feststellen, dass sie unter dem Gesichtspunkt reziproker Vorteile allen Beteiligten zumindest akzeptabel erscheinen sollten. Jede dieser Verteilungen bedeutet gegenüber der ursprünglichen Gleichverteilung für alle eine absolute Steigerung ihres Realeinkommens. Den Einkommenszuwächsen für die begünstigteren Gesellschaftsmitglieder stehen entsprechende, wenn auch geringere Einkommensvorteile für die am wenigsten Begünstigten gegenüber. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass es sich um suboptimale Einkommensverteilungen handelt, solange wir annehmen, dass alle ein höheres Einkommen einem niedrigeren vorziehen. Unter dieser Voraussetzung gibt es für niemanden einen Grund, auf einer Verteilung links von d* zu bestehen, wenn d* realisiert werden kann. Sie wurden deshalb durch die im zweiten und dritten Abschnitt dieses Kapitels aufgestellten formalen Bedingungen der öffentlichen Rechtfertigung von Einkommensverteilungen ausgeschlossen. Sollte sich freilich zeigen, dass andere als die bisher berücksichtigten Kriterien der Beurteilung von Einkommensverteilungen für die Wahl eines Verteilungspunktes links von d* sprechen, stünde dem jedenfalls nicht entgegen, dass sich einseitige Einkommenszuwächse für begünstigtere Gesellschaftsmitglieder

284

Herleitung des Differenzprinzips

zum Vorteil der am wenigsten begünstigten auswirken müssen. Diese Bedingung erfüllen alle Verteilungspunkte links von d*. Auf drei Gründe, die gegen d* und für einen Verteilungspunkt links von d* sprechen mögen, möchte ich in diesem Abschnitt kurz eingehen, weil sie für die Beurteilung der Gerechtigkeit von Einkommensverteilungen von allgemeiner Bedeutung sind. Der erste von ihnen betrifft alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen, die zwei anderen beziehen sich auf die Nachteile, die den weniger begünstigten Gesellschaftsmitgliedern durch die Einführung materieller Ungleichheiten entstehen. Sie ergeben sich daraus, dass eine Maximin-Lösung für das Problem einer gerechten Einkommensverteilung unberücksichtigt lässt, dass jede Bewegung auf der OP-Kurve vom Ursprung weg hin zu d* mit einer Vergrößerung der gesellschaftlichen Ungleichheiten verbunden ist: Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Der wichtigste vom Problem relativer Ungleichheiten unabhängige Grund gegen eine Maximin-Einkommensverteilung liegt darin, dass der mit d* verbundene Grad gesamtgesellschaftlicher Produktivität größer sein mag, als es mit Blick auf die Nutzung erschöpfbarer natürlicher Ressourcen gegenüber den Ansprüchen zukünftiger Generationen zu rechtfertigen wäre. Hier stellt sich das Problem der Gerechtigkeit zwischen den Generationen, dessen Erörterung jedoch den Rahmen dieser Studie überschreitet. Klar ist aber, dass ein Grundsatz der Gerechtigkeit zwischen den Generationen dem Differenzprinzip der Sache nach vorgeordnet sein muss; denn erst durch ihn wird festgelegt, welche Ressourcen jede Generation gerechterweise für sich zur Güterproduktion in Anspruch nehmen darf. Wir können gleichwohl an d* als dem für jede Generation anzustrebenden Verteilungspunkt festhalten, wenn wir davon ausgehen, dass sich das Differenzprinzip ausschließlich auf die Verteilung von Gütern bezieht, die mit denjenigen Ressourcen produziert werden können, welche von einem Generationen übergreifenden Gerechtigkeitsgrundsatz zur Nutzung in der jeweils aktuellen Periode zur Verfügung gestellt werden. 14

Nötige Qualifikationen: Verteilungen links von d*

285

Komparative Wettbewerbsnachteile. Ein Grund, der aus der Sicht der am wenigsten Begünstigten für Verteilungen links von d* spricht, sind die stets mit Einkommensungleichheiten verbundenen komparativen Nachteile für die durch sie weniger Begünstigten. Dabei denke ich an Nachteile im Wettbewerb um relationale Güter (Sozialprestige, Macht) und um natürlicherweise knappe Güter, deren Angebot durch Produktion nur begrenzt oder gar nicht vergrößert werden kann (Waldgrundstücke, Wohnungen in ruhigen Lagen, einmalige Kunstwerke). Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft (nach Erfüllung ihrer öffentlich anerkannten bedarfsbezogenen Ansprüche) gleiche Realeinkommen erhalten, sind sie in dieser Hinsicht (aber zunächst einmal auch nur in dieser) im sozialen Wettbewerb um relationale und natürlicherweise knappe Güter gleichgestellt. Dies ändert sich mit der Einführung von Einkommensunterschieden, da sie zu Wettbewerbsvorteilen aufseiten derjenigen führen, die über größere Einkommen verfügen als andere. So verschaffen Einkommensungleichheiten den durch sie Begünstigten in der Regel größere Einflussmöglichkeiten auf soziale und politische Entscheidungsprozesse, und sie verbessern auf Kosten der weniger Begünstigten die Chancen jener Begünstigten zum Erwerb seltener, aber von vielen begehrter Güter. Das Problem des Neides. Schließlich müssen wir berücksichtigen, dass die weniger Begünstigten ihre in materieller Hinsicht besser gestellten Mitbürger um ihre größeren Anteile an Gütern und Ressourcen beneiden werden, und zwar auch dann, wenn sie in einer vom Differenzprinzip regulierten Gesellschaft indirekt selber von den bestehenden Ungleichheiten profitieren. So mögen sie, um unangenehme Neidgefühle zu verhindern, einen Punkt links von d* gegenüber d* aus prudenziellen Gründen vorziehen, obwohl auch ihr eigener Güteranteil dadurch geringer würde. Auf das Problem des Neides möchte ich etwas ausführlicher eingehen; denn anders als Rawls15 und viele andere glaube ich nicht, dass Neidgefühle per se keine akzeptablen Gründe für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen sein könnten oder allen-

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Herleitung des Differenzprinzips

falls mit Blick auf das Problem sozialer Stabilität von sekundärer Bedeutung wären. Erstens ist es mit dem Versuch einer Herleitung des Differenzprinzips aus prudenziellen Erwägungen unvereinbar, die Existenz von Neidgefühlen bei den durch Ungleichverteilungen weniger Begünstigten pauschal auszuklammern. Wenn die am wenigsten Begünstigten ihre materiell besser gestellten Mitbürger um ihre zusätzlichen Güter beneiden, dann ist dies ein prudenzieller Grund für sie, das Ausmaß zulässiger materieller Ungleichheiten in ihrer Gesellschaft zu beschränken, und zwar auch dann, wenn sie selbst im Sinne des Differenzprinzips von diesen Ungleichheiten profitieren würden; es mag ihnen aus ihrer Sicht alles in allem ohne diese Ungleichheiten und mit einem geringeren Realeinkommen besser ergehen als mit ihnen bei einem höheren Einkommen.16 d* lässt sich deshalb nur dann als kollektiv anzustrebender Verteilungspunkt auch ihnen gegenüber rechtfertigen, wenn die mit Neidgefühlen für sie verbundenen emotionalen und sonstigen Nachteile durch Maximin-Einkommen überkompensiert werden. Zweitens scheint es mir falsch zu sein, Neid ausschließlich als ein antisoziales und für alle Gesellschaftsmitglieder nur mit Nachteilen verbundenes Gefühl zu betrachten. 17 Tatsächlich wirkt die soziale Existenz von Neidgefühlen und das öffentliche Wissen um sie als ein de facto wirksames und womöglich notwendiges Regulativ sozialer Kooperation. Neid setzt der Entstehung und der Präsentation materieller und immaterieller Privilegien gewissermaßen natürliche soziale Grenzen und trägt so zur Entstehung und zum dauerhaften Bestehen des Zusammenhalts sozialer Gruppen bei. Die Neider versuchen zu verhindern, dass andere in den Genuss von bestimmten Gütern (Reichtum, Status, Macht, Freundschaft) gelangen, und regulieren dadurch den Grad sozial akzeptierter Ungleichheiten. Sie geben denjenigen, die den Neid der anderen zu fürchten haben, einen Grund sich zu bescheiden und tragen so tendenziell zu einer Stabilisierung sozialer Gemeinschaften bei.18 Dass Neidgefühle sowohl für diejenigen, die sie empfinden, als auch für die, auf die sie sich richten, unangenehm und mit Nachteilen

Nötige Qualifikationen: Verteilungen links von d*

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verbunden sind, wie Rawls zu Recht feststellt, widerspricht dieser Einschätzung ihrer sozialen Funktion nicht und ist kein Beweis dafür, dass es ohne die Existenz von Neidgefühlen allen besser ginge.19 Es trifft auf alle negativen sozialen Sanktionen zu, dass sie in der Regel für alle Beteiligten mit unerwünschten Kosten und Beeinträchtigungen verbunden sind, ohne dass dies ihren sozialen Nutzen in Frage stellen würde. 20 Wir müssen demnach davon ausgehen, dass es für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder zumindest pro tanto prudenzielle Gründe gibt, die Entstehung materieller Ungleichheiten durch die Wahl eines Verteilungspunktes links von d* einzuschränken, d* markiert genau genommen lediglich den maximalen Grad öffentlich zu rechtfertigender Einkommensungleichheiten in einer Gesellschaft. Dennoch möchte ich daran festhalten, dass d* die in einer wohlgeordneten Gesellschaft kollektiv anzustrebende Verteilung beschreibt. Der Grund ist folgender: Da die Neigung Neid zu empfinden und das Interesse an relationalen und natürlicherweise knappen Gütern bei den Mitgliedern der am wenigsten begünstigten Gruppe mutmaßlich verschieden stark sein wird, ergibt sich aus dem Wunsch, die Entstehung von komparativen Wettbewerbsnachteilen und Neidgefühlen zu verhindern, kein hinreichend präzises und von allen Mitgliedern dieser Gruppe allgemein anerkanntes Kriterium, nach dem zu entscheiden wäre, welche Verteilung zwischen dem Ursprung der OP-Kurve und d* unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte gewählt werden sollte. Die Probleme der komparativen Nachteile und des Neides geben uns keinen Anhaltspunkt dafür, welchen Verteilungspunkt links von d* die Gruppe der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder aus prudenziellen Gründen wählen würde. Die einzigen durch grundsätzliche und allgemein anzuerkennende Erwägungen gestützten Verteilungen sind die strikte Gleichverteilung und die Maximin-Verteilung. Für die Gleichverteilung spricht, dass alle Gesellschaftsmitglieder als freie und gleiche moralische Personen nach Erfüllung ihrer öffentlich anerkannten bedarfsbezogenen Ansprüche

288

Herleitung des Differenzprinzips

den gleichen Anspruch auf alle kollektiv verfügbaren materiellen Güter und Ressourcen haben; und für Maximin-Verteilungen spricht gegenüber der Gleichverteilung, dass es für alle Beteiligten zumindest ceteris paribus besser ist, über mehr Güter zu verfügen als über weniger. Wenn nun die Mitglieder der am wenigsten begünstigten Einkommensgruppe vor die Wahl gestellt werden, entweder die strikte Gleichheit oder Maximin zu wählen, scheint mir angesichts der durch Maximin für sie realisierbaren Realeinkommenszugewinne die Vermutung begründet, dass sie sich vernünftigerweise für eine MaximinVerteilung und nicht für die materielle Gleichstellung entscheiden würden. Zweifellos ist dies kein zwingendes Argument, denn alles hängt davon ab, wie groß die durch Maximin entstehenden Ungleichheiten tatsächlich sind und welche Realeinkommenssteigerungen durch sie realisiert werden können. In jedem Fall müssen wir annehmen, dass die absoluten Einkommensvorteile einer Maximin-Verteilung die mit ihr verbundenen Nachteile für die am wenigsten Begünstigten mehr als kompensieren. Ob dies der Fall ist oder nicht, ist eine Frage empirischer Prognosen, die sich nicht mithilfe philosophischer Argumente beantworten lässt. Durch Letztere lässt sich jedoch zeigen, dass d* den maximalen Grad materieller Ungleichheiten angibt, der sich gegenüber allen Gesellschaftsmitgliedern einschließlich der am wenigsten Begünstigten mit prudenziellen Gründen öffentlich rechtfertigen lässt.

7. Der

Envy-Test

Eine Gerechtigkeitskonzeption, die ausgehend vom Begriff des Neides ein Verteilungskriterium für Güter und Ressourcen zu formulieren versucht, ist die von Dworkin vorgestellte Konzeption der „Equality of Resources".21 Dworkin nimmt Duncan Foleys Envy-Test als Kriterium für die Beurteilung der Gerechtigkeit von Güterverteilungen auf:

Der

Envy-Test

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an allocation is equitable if and only if each person in the society prefers his consumption bundle to the consumption bundle of every other person in the society. ... In a society which has reached an equitable and efficient allocation every person would see himself as the best off of all those of his o w n generation when he evaluates their lives in his o w n preference ordering. 22

Doch wie können wir eine in diesem Sinne neidfreie Güterverteilung erreichen? Eine von Dworkin diskutierte Möglichkeit ist die Verteilung von Gütern durch Auktionen und Märkte, an denen sich alle Gesellschaftsmitglieder mit gleichen Anteilen an Tauschmitteln beteiligen können. Wenn alle Güter durch frei zugängliche Auktionen oder Märkte verteilt würden, kann sich jeder mit den Gütern versorgen, die seinen Bedürfnissen und Präferenzen am besten entsprechen, und da sich alle an dieselben Budgetgrenzen halten müssen, kann niemand für sich ein Güterbündel zusammenstellen, das nicht jeder andere ebenfalls realisieren könnte, falls er es seinem eigenen gegenüber vorziehen sollte.23 Dann hätte niemand, wie es scheint, einen Grund, seine Mitmenschen um ihre Güterbündel zu beneiden. Dworkins Grundidee ist als idealtypische Konstruktion nicht unplausibel. Die Auktions- oder Marktpreise von Gütern zeigen an, wie wertvoll diese für die Beteiligten sind und welche Einbußen eine Person anderen durch den Erwerb dieser Güter auferlegt. Bei gleich hohen Budgets für alle ist sichergestellt, dass keiner der Beteiligten den anderen (in Auktions- oder Marktpreisen berechnete) Kosten auferlegen kann, die größer sind als diejenigen, die jeder von ihnen allen anderen auferlegen könnte.24 Die Problematik einer Bewertung von Gütern und Ressourcen nach Marktpreisen wurde im vorigen Kapitel diskutiert; ich möchte hier nicht noch einmal auf sie eingehen. Zur Verteidigung der im vorigen Abschnitt vertretenen Auffassung, dass die Entstehung oder Verhinderung von Neidgefühlen kein brauchbares Kriterium für die prudenzielle Beurteilung von Güterverteilungen abgibt, genügt es festzustellen, dass auch Güterverteilungen, die dem Envy-Test genügen, Neidgefühle nicht ausschließen. Zum einen beneiden wir andere, wenn wir

290

Herleitung des Differenzprinzips

sie denn beneiden, nicht nur der Güter wegen, über die sie verfügen können, sondern auch wegen ihrer größeren Fähigkeiten, Güter zu nutzen. Auch wenn alle ein Klavier besäßen, würden doch einige besser spielen als andere. Zum anderen ist der Umfang der Güterbündel, die eine Person bei einem gegebenen Budget für sich zusammenstellen kann, abhängig von den relativen Preisen der Güter, die sie zur Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse und Präferenzen benötigen. Diese Preise aber richten sich nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Von vielen nachgefragte Güter werden in großen Stückzahlen häufig günstiger produziert als Güter, nach denen nur eine geringe Nachfrage besteht. Personen mit Präferenzen, die von vielen geteilt werden, zahlen deshalb in vielen Fällen niedrigere Preise für die von ihnen gewünschten Güter als Personen mit ausgefallenen Präferenzen. Auch dies ist eine mögliche Ursache sozialen Neides. Dies ist nicht notwendigerweise eine für Dworkins Konzeption fatale Kritik. Dworkin selbst nennt beide Punkte und weist sie als Einwände gegen den EnvyTest als Kriterium der Gütergleichheit zurück. Es wird aber deutlich, dass auch der Envy-Test die Entstehung von Neidgefühlen in einer nach diesem Kriterium gerechten Gesellschaft nicht verhindern kann.

8. Abschließende

Bemerkungen

Das Differenzprinzip liegt nicht, wie gelegentlich unterstellt wird, in einer wie immer gerechtfertigten moralischen Bevorzugung der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder begründet, sondern ausschließlich in der Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Einkommensverteilungen. Es wird zu seiner Herleitung deshalb auch nicht vorausgesetzt, dass die am wenigsten Begünstigten, anders als ihre begünstigteren Mitbürger, vorab irgendeinen Anspruch auf maximale Erfüllung ihrer Präferenzen hätten. Dies ließe sich mit der Vorstellung eines unparteiischen Grundsatzes nicht vereinbaren. Vorausgesetzt wird

Abschließende Bemerkungen

291

lediglich, dass Einkommens unterschiede zu jedermanns Vorteil sein müssen, und dies sind sie, wie wir gesehen haben, nur dann, wenn sie zum maximalen Vorteil der am wenigsten Begünstigten ausfallen. Die Herleitung des Differenzprinzips aus der Bedingung reziproker Vorteile setzt voraus, dass mit Blick auf die zu verteilenden Güter keine begründeten bedarfsbezogenen Ansprüche mehr bestehen, denn diese müssen erfüllt sein, bevor die Annahme gerechtfertigt ist, dass alle Beteiligten gleiche Ansprüche auf gleich hohe Realeinkommen haben. MaximinEinkommen können deshalb auch nicht damit begründet werden, dass die am wenigsten Begünstigten zusätzliche Einkommensvorteile dringender benötigen als andere. Dies ist in gewissem Sinne wohl richtig; für die öffentliche Rechtfertigung von Einkommensverteilungen gilt jedoch, dass die Dringlichkeit des Bedarfs an Gütern sich ausschließlich an der Realisation öffentlich anerkannter Werte bemessen kann, und mit Blick auf sie gilt, dass Güter erst dann aus prudenziellen Gründen nach dem Differenzprinzip verteilt werden dürfen, wenn alle öffentlichen Werte bereits von allen Beteiligten im erforderlichen Umfange realisiert werden können. Für die Sozialpolitik ergibt sich aus dem in dieser Arbeit verfolgten Ansatz zur Begründung von Verteilungsgrundsätzen die wichtige Konsequenz einer Zweiteilung der Sphären sozialer Gerechtigkeit, die sich durch für sie charakteristische Typen der Rechtfertigung politischer Forderungen unterscheiden. Die erste Sphäre betrifft die besonderen Bedürfnisse von Gesellschaftsmitgliedern in öffentlich anerkannten Notlagen, wie sie in Kapitel 6 analysiert wurden. Die zweite Sphäre betrifft das Problem einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung und wird durch das Differenzprinzip reguliert. Da die Herleitung des Differenzprinzips aus dem Gedanken reziproker Vorteile für alle Gesellschaftsmitglieder von der Voraussetzung ausgeht, dass alle Beteiligten ursprünglich gleiche Ansprüche auf die zu verteilenden materiellen Güter und Ressourcen haben, setzt seine Anwendung, wie schon gesagt, voraus, dass

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Herleitung des Differenzprinzips

zuvor alle begründeten bedarfsbezogenen Ansprüche erfüllt wurden. Wesentlich für die Unterscheidung der beiden Sphären sozialer Gerechtigkeit ist nun, dass die in ihnen entstehenden moralischen Forderungen auf grundsätzlich verschiedene Art begründet werden. Während es in der ersten Sphäre darum geht, genuin moralische Ansprüche auf soziale Unterstützung in besonderen Notlagen zu begründen, geht es in der zweiten Sphäre darum, eine für alle Seiten vorteilhafte Einkommensverteilung zu realisieren. Ein moralisches Prinzip ist das Differenzprinzip nicht deswegen, weil Maximin-Verteilungen aus irgendeinem positiven moralischen Grund geboten wären - so wie es moralisch geboten ist, Menschen in Not zu helfen - , sondern weil in Abwesenheit differenzieller bedarfs- und leistungsbezogener moralischer Verteilungsgründe eine andere Verteilung als die zum wechselseitigen Vorteil aller öffentlich nicht zu rechtfertigen wäre. Das Differenzprinzip ist gewissermaßen ein distributiver moralischer Grundsatz zweiter Stufe. Die Rechtfertigung der vom Differenzprinzip geforderten Maximin-Verteilungen ist eine technisch mehr oder weniger subtile, der Sache nach jedoch vergleichsweise triviale Angelegenheit. Unabhängig von inhaltlich-moralischen Gesichtspunkten geht es lediglich darum zu zeigen, dass nur MaximinVerteilungen die Bedingung reziproker Vorteile erfüllen. Die Rechtfertigung besonderer bedarfsbezogener Ansprüche dagegen ist ein komplexes und vielschichtiges Unternehmen, bei dem eine Vielzahl empirischer Erkenntnisse über die für ein selbstbestimmtes Leben notwendigen Güter und Ressourcen berücksichtigt werden müssen und bei dem verschiedene öffentliche Werte miteinander in Konflikt geraten können. Zur Begründung bedarfsbezogener Ansprüche müssen (1) einer oder mehrere öffentliche Werte namhaft gemacht und im Verhältnis zueinander gewichtet werden; es muss (2) gezeigt werden, dass eine Person aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, den (oder die) betreffenden Wert(e) für sich zu realisieren; und es muss (3) sichergestellt werden, dass es kollektiv möglich ist, allen ande-

Die Bedingung

reziproker

Vorteile

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ren in vergleichbarer Weise bedürftigen Personen ebenfalls zu helfen. Außerdem muss die Frage der individuellen und kollektiven Verantwortung für die Erfüllung bedarfsbezogener Ansprüche geklärt werden. Eben aus diesen Anforderungen ergibt sich die Komplexität sozialpolitischer Diskussionen und die Vielzahl begründeter Meinungsverschiedenheiten in diesem Bereich. Hierin liegt eine noch unbewältigte Aufgabe für die Gerechtigkeitstheorie und Sozialphilosophie. Während die normativen Implikationen und praktischen Konsequenzen des Differenzprinzips vergleichsweise leicht überblickt und nachvollzogen werden können, ist bislang nur unzureichend geklärt, unter welchen Gesichtspunkten und nach welchen Grundsätzen konfligierende bedarfsbezogene Ansprüche, wie sie sich in der Praxis in unüberschaubarer Vielzahl stellen, moralisch zu beurteilen und zu gewichten sind. Die Konzeption der gerechtfertigten Ungleichheiten gibt uns hierfür einen theoretischen Rahmen, aber sie gibt uns noch keine hinreichend spezifischen Antworten für konkrete Problemfelder der Sozialpolitik.

Anmerkungen Aufsätze, Artikel und Bücher werden durchgängig durch Autorennamen und Erscheinungsjahr gekennzeichnet. Genauere Angaben zu den einzelnen Schriften finden sich im Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit. A Theory ofJustice von John Rawls wird, wenn nicht anders angegeben, nach der zweiten überarbeiteten Auflage von 1999 zitiert, Political Liberalism nach der ersten Auflage von 1993. Bei Rawls werden nach einem Schrägstrich auch die Seitenzahlen für vorhandene deutschen Ausgaben angegeben. Die deutsche Übersetzung der zweiten, überarbeiteten Auflage von A Theory of Justice (1999) ist identisch mit der Übersetzung der ersten Auflage von 1971, die 1975 bei Suhrkamp erschienen ist und bereits die wichtigsten von Rawls vorgenommenen Überarbeitungen enthält (vgl. Rawls' Vorwort zur zweiten Auflage, S. xi). Bei anderen Autoren wird im Literaturverzeichnis ggf. mit Erscheinungsort und Erscheinungsjahr auf die Existenz einer deutschen Übersetzung hingewiesen. 1. Kapitel 1 2 3

Rawls 1993: 5f./69f. Vgl. Rawls 1999a: 266f./336f. Vgl. Rawls 1993:75f., 178ff./152f., 271ff. Rawls' Verständnis der Grundgüter hat sich gegenüber der in A Theory of Justice (1971) zunächst vorgestellten Konzeption grundlegend gewandelt. Dort waren die Grundgüter als allgemein dienliche Mittel zur Verfolgung jedes möglichen rationalen Lebensplans eingeführt worden (in der zweiten Aufl. 1999: 54f., 79/83f., 112f.). Dem lag die Annahme zugrunde, dass alle Gesellschaftsmitglieder bestimmte Freiheiten, Chancen und Ressourcen gleichermaßen benötigen, um ihre Lebensvorstellungen, wie immer sie inhaltlich bestimmt sein mögen, zu verwirklichen. Diese Annahme hat sich jedoch als unhaltbar erwiesen und ist von Rawls revidiert worden. Seit „Kantian Constructivism in Moral Theory" (1980) betrachtet er die Grundgüter als notwendige soziale und materielle Bedingungen für die angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen des Gerechtigkeitssinnes und der Befähigung zu einer Konzeption des Guten (vgl. Rawls 1980: 525ff./93ff.; 1982: 161-167; 1983: 21ff./177ff.; 1988: 255-260/369-375; 1993: 75f., 178-181/152f., 271-275). Das von Rawls unterstellte rationale Interesse aller Gesellschaftsmitglieder an Grundgütern ergibt sich nicht mehr (oder besser: nicht mehr ausschließlich) aus deren Interesse an der Verwirkli-

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Anmerkungen

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chung individueller Lebenspläne, sondern aus dem normativen Selbstverständnis freier und gleicher Bürger mit den für gerechte soziale Kooperation erforderlichen Fähigkeiten und Einstellungen. Zur Revision der Rawls'schen Theorie der Grundgüter vgl. Hinsch 1992: 36-44; zu ihrer Bedeutung für die Begründung des Vorrangs der Grundfreiheiten gegenüber anderen Grundgütern vgl. in Kap. 2 die Abschn. 2-5. Vgl. Rawls 1993: 181/275 u. 1982: 165f. Vgl. Rawls 1999a: 54f., 79/83, 112f. Vgl. Rawls 1993: 228/330. Zum Status der freien Berufswahl und Freizügigkeit im Rahmen der Rawlsschen Theorie vgl. Alexy ( 1997:272-274), der einige Gründe dafür nennt, sie als Grundfreiheiten zu betrachten und verfassungsrechtlich zu schützen. Vgl. Rawls 1999a: 155f./204f.; 1988: 257/371; 1993: 181/275. Vertraute Beispiele für Maßnahmen, um den fairen Wert der politischen Freiheiten sicherzustellen, sind die Begrenzung der Höhe zulässiger oder steuerfreier Parteispenden, die Einschränkung der Aktivitäten von Lobbyisten, die (teilweise oder gänzliche) öffentliche Finanzierung von Wahlkämpfen und die Bereitstellung kostenloser Fernseh- und Rundfunksendezeiten für politische Parteien im Wahlkampf. Zum fairen Wert der politischen Freiheiten vgl. Rawls 1993: 324-331, 356-363/443-451,481489; 1999a: 197-200, 205f./255-258, 264f. Ich danke Nadia Mazouz für kritische Hinweise zum Prinzip der fairen Chancengleichheit, die ich in diesem Abschnitt und weiter unten im Abschnitt über den Vorrang der fairen Chancengleichheit aufgenommen habe. Zur fairen Chancengleichheit vgl. Rawls 1999a: 63f., 73-78, 263-267, 447f./93f., 105-110, 332-337, 555. Zur moralischen Problematik vollständiger Chancengleichheit vgl. Williams 1962. Vgl. Sen 1980: 213-216; Nussbaum 1988: 150-153. Wir nehmen dies nur „im Allgemeinen" an, weil in verschiedenen Kontexten der Wert von Freiheiten und Rechten nicht nur davon abhängig ist, über welche materiellen Güter man selbst verfügen kann, sondern auch davon, über welche Güter andere verfügen. Dies zeigt etwa die Diskussion des fairen Werts der politischen Freiheiten. So mag der politische Einfluss einer Partei bei steigendem Spendenaufkommen abnehmen, wenn nämlich die Einnahmen der anderen Parteien noch schneller wachsen. Vgl. Rawls 1999a: 229f./292f.; 1978: Abschn. V u. 1993: 269/380; Rousseau 1755; Hegel 1821: §§ 189-208 u. Marx 1844: 546-562. Dieselbe Einsicht findet sich bei vielen Autoren (vgl. etwa Marshall 1890: 7377 u. Knight 1935: 58ff.); Brian Barry nennt sie einen „commonplace of sociology" (Barry 1965: 75). Zu den Schwierigkeiten, die sich aus ihr für Gerechtigkeitskonzeptionen ergeben, die wie der Utilitarismus von gegebenen Präferenzen ausgehen, vgl. meine Kritik an Richard Hares Theorie in Hinsch 1995: 105-112. Vgl. Rawls 1999a: 66f./96f.

Anmerkungen

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15 Um die Diskussion zu vereinfachen, konzentrieren wir uns im Folgenden ausschließlich auf das Problem einer gerechten Einkommensverteilung. Die Frage, wie Vermögen und Besitzstände in einer Gesellschaft gerechterweise zu verteilen sind, bleibt ausgespart, um technisch-ökonomische Komplikationen zu vermeiden, die von unserem Hauptproblem, der moralischen Begründung des Differenzprinzips, ablenken würden. Mit Blick auf die Beurteilung der wirtschafts- und sozialpolitischen Implikationen des Differenzprinzips ist diese Vereinfachung nicht ohne Nachteile. Zwar sind Besitz und Vermögen eine Einkommensquelle, und so wird ihre Verteilung indirekt auch durch ein ausschließlich auf Einkommen bezogenes Differenzprinzip reguliert. Der Wert eines Vermögens für eine Person geht jedoch über seine Bedeutung, eine Quelle regelmäßiger Einnahmen zu sein, hinaus. Vermögen bietet eine Liquiditätsreserve, die, wann immer es nötig erscheint, zur Erfüllung persönlicher Präferenzen und Wünsche in Anspruch genommen werden kann. Es gibt Sicherheit und bildet eine Grundlage für Selbstvertrauen und Selbstachtung, so dass nicht alle für eine gerechte Vermögensverteilung relevanten Gesichtspunkte von einem ausschließlich auf Einkommen bezogenen Differenzprinzip erfasst werden. 16 Das Realeinkommen der Mitglieder der beiden Gruppen ist also die Summe aus der bei einer avisierten Gleichverteilung zu erzielenden Einkommen plus der jeweils realisierten Einkommenszuwächse. 17 Zur Bedeutung von Einkommensungleichheiten für die volkswirtschaftliche Gesamtproduktivität einer Gesellschaft vgl. die Diskussion des Zusammenhangs zwischen der Besteuerung von Einkommen und der Arbeitsproduktivität von Personen anhand der Laffer-Kurve in Samuelson/ Nordhaus 1985: 736ff. Neben den Auswirkungen, die differenzielle Realeinkommen auf die Arbeitsproduktivität von Personen haben, sind für den Verlauf der OP-Kurve auch ihre Wirkungen auf die Neigung zu sparen und die Bereitschaft zu riskanten, aber aussichtsreichen Investitionen zu berücksichtigen. Wer über ein hohes Einkommen verfügt, kann mehr Geld zurücklegen und ist eher bereit, bei Investitionen Risiken einzugehen. Beides trägt zur Produktivität einer Gesellschaft bei. Wie groß die von Einkommensungleichheiten ausgehenden Anreizwirkungen in den genannten drei Hinsichten (Arbeitseinsatz, Sparneigung und Risikobereitschaft) tatsächlich sind, ist unter Ökonomen umstritten. Samuelson/Nordhaus, die sich in diesem Punkt auf Okun 1975 stützen, schätzen sie als eher gering ein. (Vgl. ihre Diskussion des trade-offs zwischen Gleichheit und Effizienz: ebd., 749ff.) Für den Verlauf der OP-Kurve würde dies ein baldiges Abflachen und Erreichen des Maximums bedeuten. 18 Vgl. Rawls 1999a: 155f./204f.; 1988: 257/371; 1993: 181/275. 19 Der Ausdruck „Maximin" stammt ursprünglich aus der Theorie rationaler Entscheidungen unter Unsicherheit. Er bedeutet, dass bei unbekannten Wahrscheinlichkeiten für mögliche Entscheidungsergebnisse so entschieden wird, dass das schlechtestmögliche Ergebnis so gut wie irgend möglich

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17-28

ausfällt. Es wird eine Maximierung des Minimums angestrebt, daher die Bezeichnung. Zur Maximin-Regel für Entscheidungen unter Unsicherheit und ihrer Bedeutung für die Rawlssche Theorie s. in Kap. 3 die Abschn. 5 u. 6 und die dort in den Anmerkungen angegebene Literatur. In der vorliegenden Arbeit wird wie oben im Text „Maximin" häufig auch zur Bezeichnung von Güter- und Einkommensverteilungen verwendet, bei denen die am wenigsten Begünstigten maximale Anteile erhalten und die deshalb dem Differenzprinzip genügen. In diesem Sinne spreche ich zum Beispiel von Maximin-Einkommen, Maximin-Einkommensverteilungen etc. Es ist wichtig, die beiden verschiedenen Verwendungsweisen des Ausdrucks „Maximin" nicht zu verwechseln. In Kap. 3 wird sich zeigen, dass sich Maximin-Verteilungen nicht mithilfe der Maximin-Entscheidungsregel begründen lassen. Zur Laffer-Kurve vgl. Samuelson/Nordhaus 1985: 565f. Vgl. Rawls 1993: 6/70. A.a.O., 6f./70f. Vgl. Alexy 1997. Vgl. Rawls 1999a: 265Í./335. A.a.O., 73/105. A.a.O., 172f./225ff. A.a.O., 76/108f. 2. Kapitel

1

Zum Vorrang der Grundfreiheiten vgl. Rawls 1999a: 37f., 53f., 130f., 214f., 220, 474f./62f., 81f., 175f., 275f., 282, 587f.; Rawls 1993: 294299/410-415. Zur Möglichkeit der Einschränkung von Grundfreiheiten, wenn die von Rawls vorausgesetzten „reasonably favorable conditions" zur Verwirklichung eines Systems gleicher Grundfreiheiten nicht erfüllt sind, vgl. Rawls 1999a: 130f., 214f., 474f./175f„ 275f., 587f.; 1993: 297/412f. 2 Vgl. Rawls 1999a: 476Í./590. 3 A.a.O., 476f./590. Dieser Punkt ist von Amartya Sen im Zusammenhang seiner empirischen Untersuchungen über die politischen Ursachen von Hungersnöten hervorgehoben worden. Vgl. zusammenfassend Sen (1999) und die dort angegebene Literatur. Vgl. auch Dasgubta (1993), Kap. 1, 2 u. 5. 4 Vgl. Rawls 1999a: 213/264f. 5 A.a.O., 476f./590f. 6 Vgl. Hart 1973: 249-252. 7 A.a.O., 252. 8 Vgl. Rawls 1983. 9 Vgl. Rawls 1993: 15-22/81-89. 10 A.a.O., 19f./85f.

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16 17

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299

A.a.O., 32/102. A.a.O., 74f./151f. Vgl. Rawls 1980: 526/95 u. Anm. 3 zu Kap. 1. A.a.O., 526/95; vgl. Rawls 1993: 334f./455f. Man beachte, dass Rawls auch eine entsprechende Hierarchisierung innerhalb seines Systems der gleichen politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten vornimmt. Keine einzelne Grundfreiheit genießt einen absoluten Vorrang vor allen anderen Grundgütern, sondern nur das System aller politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten zusammen (Rawls 1993: 295, 356f./410f., 481f.). Der Stellenwert jeder einzelnen Grundfreiheit innerhalb dieses Systems wird durch ihre institutionell-empirische Bedeutung für die angemessene Entwicklung und Ausübung der beiden moralischen Vermögen bestimmt (a.a.O., 335f./455f.). Hieraus ergibt sich ein Kriterium sowohl für die Einrichtung eines Systems wechselseitig aufeinander abgestimmter Grundfreiheiten als auch für die Auflösung von Kollisionen zwischen Grundfreiheiten. Konflikte zwischen Grundfreiheiten müssen so gelöst werden, dass erstens jede Freiheit ihren Beitrag zur angemessenen Entwicklung und Ausübung der moralischen Vermögen leisten kann (a.a.O., 332f./452f.); jede Freiheit muss, wie es bei Rawls heißt, in ihrem „central range of application" geschützt sein (a.a.O., 297f./ 412f.). Zweitens darf niemals eine mit Blick auf die rationalen Interessen moralischer Personen wichtigere Freiheit zugunsten einer unwichtigeren eingeschränkt werden (a.a.O., 335f./455f.). A.a.O., 297/412f., vgl. Rawls 1999a: 475f./587f. Es handelt sich hierbei um eine marginale Bewertung im Sinne der Grenznutzentheorie. Es geht weder darum, den Wert ein bestimmtes Gutes ,an sich' zu bestimmen noch darum, welchen Wert eine gegebene Güterausstattung für eine bestimmte Person hat. Vielmehr wird festgestellt, welchen Wert zusätzliche Einheiten eines Gutes für eine Person abhängig davon haben, über welche Güterausstattung sie bereits verfügt. Diesen Wert bezeichnen Ökonomen häufig als „Grenznutzen" des betreffenden Gutes. Dabei wird angenommen, dass der Grenznutzen zusätzlicher Einheiten eines Gutes in der Regel sukzessive abnimmt. Vgl. Rawls 1999a: Kap. VIII. Vgl. Rawls 1993: 316ff./434ff.

3. 1 2

30-54

Kapitel

Vgl. Rawls 1999a: 4f., 397f./20f., 493f.; 1993: 35ff. u. 66f./105ff./141f. Zur Rawlsschen Konzeption eines übergreifenden Konsenses vgl. Rawls 1993: 133-172/219-265. Vgl. Rawls 1999a: 7f./24f. Vgl. Kant 1793: 297.

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Anmerkungen

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Zu den Anforderungen an vernünftige moralische, religiöse und philosophische Lehren vgl. Hinsch 1992: 22-28 u. Rawls 1993: 58ff./132ff.; 1997b: 88-94. Zur Idee eine Pluralität vernünftiger Konzeptionen s. Kap. 5.6. Vgl. Rawls 1995: 146f./210f. Vgl. Rawls 1999a: § 3. A.a.O., 15Í./35. Vgl. Rawls 1980: 525/93f.; 1993: 19, 73Í./85, 150f. Mit Blick auf die Annahme eines Gerechtigkeitssinnes ist zu beachten, dass die Parteien im Urzustand seinen konkreten Inhalt ebenso wenig kennen wie den Inhalt ihrer besonderen Konzeptionen des Guten. Dies muss so sein, weil die für eine Gesellschaft angemessenen Gerechtigkeitsgrundsätze erst durch die Entscheidung der Parteien im Urzustand festgelegt werden sollen. Die Annahme des Gerechtigkeitssinnes hat deshalb einen lediglich formalen Charakter: Die Parteien im Urzustand gehen davon aus, dass alle Beteiligten über die Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn verfügen, so dass sie unter geeigneten sozialen Bedingungen gleichermaßen in der Lage sind, die Fähigkeit und die Bereitschaft zu gerechtem Handeln zu entwickeln (Rawls 1999a: 125/168; vgl. 1993: 315f./433f.). Die Maximin-Regel erkläre ich in Anm. 19, Kap. 1. Literaturhinweise finden sich in Anm. 17. Vgl. Rawls 1995: 139/203Í. Vgl. Rawls 1999a: §§ 9 u. 20; 1993: 8, 28, 45/72, 96f., 117; 1995: 139, 141 Fn. 16/203f., 205 Fn. 16. In „Die Idee der öffentlichen Rechtfertigung und die Fiktion des Urzustandes" (Hinsch 1997b) bin ich der Frage nachgegangen, ob es zutrifft, dass die wesentlichen Prämissen des Urzustandes sich tatsächlich auf einen begründeten übergreifenden Konsens stützen können. Nach meiner Ansicht ist dies, was den Begriff der moralischen Person und den Schleier der Unwissenheit betrifft, tatsächlich der Fall, und ich möchte deshalb diesen Punkt hier nicht noch einmal aufnehmen. Vgl. Rawls 1999a: 3/19; 1974a: 142; 1974b: 639; 1985: 226/259; 1993: XV, 292/11, 407. Vgl. Rawls 1974a: 142f.; 1974b: 639-643 u. 646-650. Für eine Erörterung der Maximin-Regel im Rahmen einer allgemeinen Theorie rationaler Entscheidungen vgl. Baumol 1977:458ff.; Luce/Raiffa 1967: 278f. u. 316, u. Resnik (1987; 26-28 u. 40-44). Vgl. Rawls 1999a: 135/180. A.a.O., 134/179. Zu Entscheidungen unter Unsicherheit vgl. Luce/Raiffa 1967: 275ff. Vgl. Harsanyi 1975a. Die kritische Literatur zum Differenzprinzip ist inzwischen unüberschaubar geworden. Die meisten Autoren schließen sich jedoch in der einen oder anderen Form Harsanyis Einwänden an. Ich habe bei der Auseinandersetzung mit den Problemen einer entscheidungs-

Anmerkungen

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28 29 30 31

zu den Seiten

68-74

301

theoretischen Herleitung des Differenzprinzips sehr von den folgenden Schriften profitiert: Arrow 1973a; Binmore 1989; Coleman 1974/5; Crocker 1977; Gauthier 1986:246-254; Gordon 1973; Mueller/Tollison/ Willet 1974; Pettit 1974 u. Phelps 1973. Vgl. Harsanyi 1975a: 40. Zur Bayes'schen Theorie rationaler Entscheidungen vgl. Bayes 1763; Luce/ Raiffa 1967: 19-38 u. Stegmüller 1973: 296ff. Vgl. Harsanyi 1953:4; 1955:14 u. Fn. 16; 1975a: 45f.; 1975b: 66f.; 1982: 4-48. Vgl. Harsanyi 1982: 44. A.a.O., 45ff.; eine skizzierte axiomatische Herleitung dieses Grundsatzes findet sich auf den Seiten 48f., eine vollständige in Harsanyi 1955: 10-13. Vgl. Rawls 1999a: 132f./177f. Die von Harsanyi unterstellte Konzeption der rationalen Rechtfertigung von konkreten Entscheidungen durch subsumptive Anwendung einer universalen Entscheidungsregel ist deswegen nicht unproblematisch, weil wir eine Entscheidung in einer konkreten Situation für rational halten können, ohne sie als Entscheidung nach einer bestimmten Regel, deren Gültigkeit sich in anderen Situationen bestätigen ließe, ausweisen zu können. Erstens ist nicht ausgemacht, dass sich überhaupt eine Entscheidungsregel angeben lässt, die in allen denkbaren Situationen zu vernünftigen Ergebnissen führt. Zweitens können wir bei Diskrepanzen zwischen unseren konkreten Entscheidungen und einer im Allgemeinen bestätigten Entscheidungsregel, wie etwa der Maximierung des Erwartungsnutzens, stets auf die Besonderheiten der vorliegenden Entscheidungssituation verweisen und einen Sonderfall geltend machen. Eben dies tut Rawls, wenn er zur Rechtfertigung der Maximin-Entscheidung im Urzustand auf dessen besondere Merkmale verweist. Drittens schließlich können wir unsere Überzeugungen, in einer konkreten Situation rational gehandelt zu haben, stets als Grund dafür nehmen, eine durch die getroffene Entscheidung verletzte Regel als falsifiziert zu betrachten. Nichts hindert uns daran, Rawls' Argumente für eine Maximin-Entscheidung der Parteien im Urzustand als eine Widerlegung der Allgemeingültigkeit der Bayes'schen Entscheidungstheorie, wie sie von Harsanyi vertreten wird, zu betrachten. Des einen modus ponens ist des anderen modus tollens.

Harsanyi 1975a: 40, Hervorhebung von mir. Vgl. die in Anm. 22 angegebene Literatur. Vgl. Rawls 1999a: 133/177Í. Auch wer in Monte Carlo vom Spielfieber befallen wird, mag sich im Urzustand für die Rawlsschen Grundsätze einschließlich des Differenzprinzips entscheiden. Vgl. Dasgupta 1974. 32 Vgl. Harsanyi 1975a: 45f. u. Fn. 10. 33 Vgl. Rawls 1999a: 145-150/193-199. 34 A.a.O., 146/194.

302 35 36 37 38 39 40

41 42 43 44 45 46 47

Anmerkungen

zu den Seiten 75-82

Vgl. Bernoulli 1713. Vgl. Laplace 1812 u. 1814. Vgl. Laplace 1812: 177-188. Vgl. Salmon 1966: 65; Stegmüller 1973: 412f. Vgl. von Mises 1936: 8Of. Hier gilt dasselbe wie für die Maximin-Regel: Die rationale Anwendung einer Entscheidungsregel in der besonderen Situation des Urzustandes setzt nicht notwendigerweise voraus, dass dieselbe Regel auch in anderen, anders gelagerten Fällen angewendet werden kann (s. Anm. 27). Vgl. Rawls 1999a: 145/193. Salmon 1966: 66. Ebenso von Mises 1936: 88 und Stegmüller 1 9 7 3 : 4 1 4 . Vgl. Harsanyi 1975a: 47f. Vgl. Pettit 1974: 316. Vgl. Savage 1954: 65. „ODER" steht hier für die vollständige Disjunktion „entweder ... oder . . . " . Vgl. Keynes' Qualifikation der Laplace'schen Regel in Keynes 1921: 65f. Auch unter Berücksichtigung dieser zusätzlichen Anwendungsbedingung führt die Laplace'sche Regel jedoch in vielen Fällen zu widersprüchlichen Wahrscheinlichkeitsangaben, je nachdem, welche Beschreibung der Sachverhalte wir unserer Einteilung der bestehenden Möglichkeiten in „gleichwahrscheinliche Fälle" zugrunde legen. Dies zeigt folgendes Beispiel: Wir wissen von einem Auto, dass es mindestens eine Stunde und höchsten zwei Stunden benötigt, um von einem Punkt A zu einem 120 km entfernten Punkt Β zu gelangen, mehr wissen wir nicht. Nach Laplace müsste dann die Wahrscheinlichkeit, dass das Auto zwischen 1 und 1,5 Stunden benötigt, um die Strecke zurückzulegen, gleich hoch sein wie die Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen 1,5 und 2 Stunden benötigt. Wenn wir uns nun die verfügbaren Informationen in Stundenkilometerangaben übersetzen, sehen wir, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit des Autos zwischen 60 km/h und 120 km/h liegen muss. Nach der Laplace'schen Regel müsste demnach die Wahrscheinlichkeit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 km/h90 km/h gleich hoch sein wie die einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 90 km/h-120 km/h. Dies widerspricht jedoch dem Ergebnis unserer ersten Anwendung der Regel, die sich auf Zeitabschnitte bezog. Falls das Auto nämlich 1,5 Stunden benötigt haben sollte, müsste seine Durchschnittsgeschwindigkeit 80 km/h und nicht 90 km/h gewesen sein, so dass sich gleiche Wahrscheinlichkeiten für alle Durchschnittsgeschwindigkeiten von 60 km/h-80 km/h und von 80 km/h-120 km/h ergäben. Die Inkonsistenz der Anwendungsergebnisse der Laplace'schen Regel ergibt sich hier daraus, dass sich Fahrzeiten und Geschwindigkeiten reziprok zueinander verhalten und nicht durch eine lineare Transformation ineinander überführt werden können. Das arithmetische Mittel der Fahrzeiten entspricht deshalb nicht dem arithmetischen Mittel der Durchschnittsgeschwindigkeiten, denn für nichtlineare, reziproke Funktionen gilt in der Regel nicht:

303

Anmerkungen zu den Seiten 83-99 X, + x 2

_f(x,)+f(x2)

2

48 49 50 51 52 53

2

Das Autobeispiel und seine Analyse stammen von Salmon 1966: 66f.; ich folge der Darstellung von Stegmüller 1973: 414. Vgl. Parfit 1984: Teil II. Vgl. Rawls 1999a: 154f./202f. A.a.O., 3, 10f., 14Í./19, 27f., 33f. Vgl. Rawls 1974b: 651. Vgl. Rawls 1999a: 125f., 153f./168f., 202f. Wir können den Erwartungswert eines Vertrages für eine Person als die durch Wahrscheinlichkeiten gewichtete Summe der mit seinem Abschluss für sie verbundenen möglichen Gewinne und Verluste definieren. Nehmen wir an, an einem Vertrag seien zwei Personen, A und B, beteiligt. Beide sind bereit, den Vertrag nach besten Kräften zu erfüllen, aber beide müssen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit rechnen, den Vertrag später nicht einhalten zu können. Die Wahrscheinlichkeit der Nichteinhaltung durch A sei p a , die für Β p b . A wird den Vertrag dann mit der Wahrscheinlichkeit l - p a einhalten, Β mit der Wahrscheinlichkeit l-p b . Wenn zwischen der Einhaltung resp. Nicht-Einhaltung des Vertrages durch A und Β keine logischen oder kausalen Abhängigkeiten bestehen, ist die Wahrscheinlichkeit der Vertragserfüllung durch beide ( l-p a ) ( 1—pb). Wir können den Erwartungswert eines Vertrages für eine der beteiligten Personen mithilfe einer Matrix der folgenden Art berechnen. A erfüllt:

A erfüllt nicht: Pa

Β erfüllt:

X,

X2

d-Pb)

(1-P.)