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German Pages 245 [248] Year 2005
Untersuchungen zur deutschen Lit erat Urgeschichte Band 125
Harry Fröhlich
Apologien der Lust Zum Diskurs der Sinnlichkeit in der Lyrik Hoffmannswaldaus und seiner Zeitgenossen mit Blick auf die antike Tradition
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Für O/Iie, Stan, Charlie und Ulrike, die alle halfen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-32125-3
ISSN 0083-4564
€> Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Dr. Gabriele Herbst, Mössingen Druck: Laupp & Göbel, Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren
Inhalt
I.
Einleitung
ι
ι.
4
Der Forschungsstand
2. Die Methode 3.
II.
8
Gang der Untersuchung
13
Die antike Tradition erotischer Lyrik
16
1.
16
Zur Einführung
2. Aphrodite und Eros - Venus und Amor: Antike Liebeskonzeptionen
19
3. Die griechische Philosophie
24
4. Die archaische Poesie
34
5. Die klassische Tragödie
41
6. Die hellenistische Literatur
44
7. Römische Liebesdichtung I: Catull und Horaz
49
8. Römische Liebesdichtung II: Die Elegiker Properz, Tibull und Ovid
54
9. Die Satire des Petronius und priapeische Dichtungen
61
10.
Die Anthologia
11.
Die christliche Spätantike
Graeca und die Anakreonteen
63 71
12.
Zusammenfassung und Ergebnisse
77
III. Barocker Eros 1: Vergnügung in unvergnügter Zeit Opitz - Fleming - Zesen - Stieler 1.
86
Martin Opitz: »damit die böse Zeit nun würde hingebracht«
87
2. Paul Fleming: »was nicht last sagen sich«
99
3. Philipp von Zesen: »was uns dampf antuht«
116
4.
130
Kaspar Stieler: »in Fühlen nur alleine...«
5. Ergebnisse
146
V
IV. Barocker Eros 2: Von der Schönheit der >Frau Welt< und der >Dame Poesie< Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau 1. Zur Einführung 2. Die Vermischten Gedichte: »es wird kein Mensch sich recht entmenschen können« 3. Die Wollust - Die Tugend: »der Menschen höchstes Guth« 4. Die erotischen Gedichte: »was spielen wir doch nicht in des gemüthes schrancken?«.. 5. Abschließende Überlegungen
203 220
Literaturverzeichnis
225
VI
149 149 155 181
I.
Einleitung
Die deutschsprachige L y r i k des 17. Jahrhunderts ist ein Import aus anderen Ländern und anderen Zeiten. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie keine eigenen T ö n e hervorzubringen vermocht hätte. O h n e sich unmittelbar subjektiven Motivationen und Intentionen z u verdanken, ist sie in erster Linie Demonstration einer neuen Dichtungssprache und des sie hervorbringenden Talents. Die Beherrschung der tradierten Gattungen, Motive und T o p o i sowie deren kunstvolle und variationsreiche Kombination sind die Forderungen an den Poeten, der sein Talent den interessierten höfischen Kreisen anzubieten gedenkt. Seine Poesie stellt sich, w e n n sie erotisch wird, in den Dienst einer höfischen Umgangsform, die sich nach dem Vorbild der Romania auch in Deutschland >galant< nennt. Die Wirkung ist wechselseitig: der soziale O r t bestimmt die poetischen Spielregeln, das poetische Produkt setzt das soziale Spiel in Gang. In den seltensten Fällen stammen die A u t o r e n selbst aus dem Adel. Zumeist sind sie bürgerliche Gelehrte, die entweder in den Beamtenadel aufsteigen oder doch zumindest ihre Dichtungen den H ö f e n , in Fällen der Kasuallyrik auch dem zahlenden Bürgertum, zuschreiben. D a ß sich innerhalb der weltlichen L y r i k die Themen fast ausschließlich an der Liebe orientieren, liegt an der D o m i n a n z der vorausgehenden Tradition, die in doppelter Weise bereitsteht: Erstens durch die humanistischen Autoren des 16. Jahrhunderts, die in ihren lateinisch verfaßten Texten neben politisch-philosophischen Themen vor allem die antike Liebesdichtung neubelebten, und zweitens durch den europäischen Petrarkismus. A u s diesen zwei erotischen Diskursformen und -quellen speisen sich die zahlreichen interkontextuellen Bezüge, Mischungen, Variationen und Kontrafakturen der deutschen Liebeslyrik im 17. Jahrhundert. Die Pluralität des deutschsprachigen Liebesdiskurses verdankt sich dabei seiner Verspätung. Während die Entwicklung der vorsubjektiven Liebesdichtung im romanischen Kulturraum, in Holland und England zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits als abgeschlossen gelten kann, steht sie in Deutschland zu dieser Zeit erst am Anfang, so daß sie rückschauend und lernend, übersetzend und nachahmend auf eine jahrhundertealte Vielfalt zurückgreifen kann.
Dies konnte natürlich auch lähmend wirken. War nicht alles schon durchgespielt worden, alles tausendfach gesagt? Aber zunächst galt es eben, das europäische Dichtungsniveau in der deutschen Sprache zu erreichen und womöglich zu überbieten. Es ging nicht in erster Linie um Innovation, sondern um >Anschluß< an das andernorts Erreichte. Doch etwas wird auch noch von jüngerer Forschung übersehen. Für Opitz' Werk trifft diese Charakterisierung in großen Teilen sicher zu - der Quellenapparat der kritischen Ausgabe belegt dies Seite für Seite - , aber die ihm zeitlich (und auch poetologisch) folgenden Autoren verfassen Gedichte, die mit den seinen weder in Sprache, Form noch Aussage einfach identisch sind. Die Opitz'sche Poetik generierte nicht nur vorhersagbare Texte - viele Gedichte von Fleming, Zesen, Hoffmannswaldau und anderen tragen durchaus individuelle Züge. In seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) verteidigt Opitz die »Poeten die von Liebessachen schreiben« mit einer zunächst erstaunlichen Argumentation: »weil die liebe gleichsam der Wetzstein ist an dem sie jhren subtilen Verstand scherffen / vnd niemals mehr sinnreiche gedankken und einfälle haben / als wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen schöne / jugend / freundligkeit / haß vnnd gunst reden.«1 Die Liebesdichtung bezieht ihren Wert nicht durch ihr Thema selbst - der »wetzstein« ist an sich uninteressant - , sondern indem sie die Rationalität - das Weltentschlüsselungsvermögen - zu entfalten hilft. Sie ist eine Schule der Verstandesschärfung. Diese vermeintlich genuin frühneuzeitliche Festschreibung ist jedoch altes Gedankengut. Im zwölften Buch der Anthologia Graeca endet das 18., von Alpheios von Mytilene stammende Epigramm mit dem Distichon: Geht drum dem süßen Verlangen nicht scheu aus dem Wege - so rat ich allen — geht lieber ihm nach: Eros ist Schärfstein dem Geist. 2
Opitz, der die weitere Bedeutung von >Psyche< (»Geist«) und den Lebensbezug des griechischen Textes auf den »Verstand« und die Poesie beschränkt, unterwirft das Liebesthema seinem rationalen Dichtungsverständnis und erteilt damit eine Lizenz, die von den Poeten des 17. Jahrhunderts allgemein aufgegriffen wird, in einigen Fällen, wie bei Zesen und Stieler, sogar mit wörtlichem Bezug. Es wird jedoch trotz zahlreicher Zitationen der Opitz'schen Formel meistens übersehen, daß sie in einem apologetischen Zusammenhang steht, der die Liebesdichtung von Beginn an begleitet. Die betreffende 1 2
Martin Opitz: Gesammelte Werke II/i. S. 353. Anthologia Graeca X I I , 1 8 , Bd. IV, S. 21.
2
Stelle findet sich im III. Kapitel der Poeterey, das mit »Von etlichen Sachen die den Poeten vorgeworffen werden; vnd derselben entschuldigung« überschrieben ist. Die Liebesdichtung, das zeigen Ausparungen in anderen Poetiken, empfand man zwar als moralisches Problem, das aber durch den Nutzen einer Sprachverfeinerung und des ästhetischen Reizes in den Hintergrund gedrängt werden konnte. Das Liebesthema selbst ging in die Kontexte von Tugend und Keuschheit ein und wurde so den autoritativen Diskursen angefügt. Dies war indessen nur apolegetische Rhetorik, denn die Tradition hatte auch Provokanteres hervorgebracht, auf das sich die Poeten in ihrer imitatio beziehen konnten. Die Materie war naturgemäß explosiv. In England wird schon in der nächsten Generation Thomas Wilmot, Earl of Rochester, mit seinem obszönen Werk3 die Zeitgenossen zutiefst irritieren. Auch die traditionsbezogene Lyrik etwa Robert Herricks war weit ins Erotische vorgedrungen, und in Frankreich galt dies schon länger für Ronsard und seine Schule, für Marot, Voiture und andere. Marino hatte für die italienische Literatur mit seinem Adone einen hocherotischen Sprachkosmos geschaffen, und die Niederlande hatte ebenfalls zahlreiche Erotiker hervorgebracht, darunter den allgemein als Gelehrten geschätzten Heinsius. Schließlich gab es noch die neulateinischen Texte, die die antike Freizügigkeit womöglich noch übertrafen, ablesbar beispielsweise an den Elegien des Simon Lemnius. Opitz wußte also, auf was er sich einließ, wenn er die Liebesdichtung verteidigte. Seine defensive Taktik ist, jene nach Catulls und Martials Vorbild vom Leben der Autoren zu lösen und als »einbildungen« in die reine Fiktion zu heben, sie mit einem Paravent moralischen Vokabulars zu umstellen (»ehrliche / auffrichtige / keusche gemüter«, »keusche Musen«, »züchtig reden«, »ehrbares frawenzimmer«), sie als Verstandesübung zu deklarieren und schließlich die zulässige Themenbreite festzulegen: »wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen schöne / jugend / freundligkeit / haß vnnd gunst reden.« Dies ist allerdings kein ungefährlicher Katalog, der nicht im petrarkistischen, also liebesverzichtenden Schema aufgeht, sondern in den unverfänglichen Wörtern »freundligkeit« und »gunst« vielmehr alle erotischen Gewährungen einschließt. Opitz' äußerst verknappter Themenkatalog ist auch ein deutlicher Hinweis darauf, daß er die heraufkommende Liebesdichtung keineswegs nur als eine Spielart des Wilmots libertinäre Verse verwenden Topoi und Personal der bukolischen Tradition, um sie dann jedoch kalkuliert ins Obszöne zu wenden; vgl. z . B . »A Song« (»Faire Cloris in a Pigsty lay (...) Now peirced in her Vergins zone / Shee feeles the foe withm itt«). The Works of John Wilmot / Earl of Rochester, S.39f.
3
P e t r a r k i s m u s b e g r i f f e n hat. D i e >carmina amatoria< des 1 7 . J a h r h u n d e r t s lassen sich o f f e n b a r nicht s c h e i d e n in P e t r a r k i s m u s u n d A n t i p e t r a r k i s m u s . V i e l m e h r s c h r e i t e n die P o e t e n d e n g e s a m t e n H o r i z o n t der a b e n d l ä n d i s c h e n L i e b e s l y r i k ab, n i m m t m a n die v o l k s s p r a c h l i c h e
mittelalterliche
L i t e r a t u r mit i h r e n F o r m e n des M i n n e s a n g s aus, die w e i t g e h e n d in V e r gessenheit geraten w a r .
1.
Der Forschungsstand
A n s t o ß z u d e r v o r l i e g e n d e n S t u d i e w a r der angesichts der h o h e n Q u a n t i tät u n d Q u a l i t ä t d e r b a r o c k e n L i e b e s l y r i k sehr z u r ü c k h a l t e n d e
For-
s c h u n g s s t a n d . 4 I m G e g e n s a t z z u r M e d i ä v i s t i k , die die T r a k t a t l i t e r a t u r u n d die p o e t i s c h e n D i s k u r s f o r m e n der E r o t i k u m f a s s e n d a u s g e w e r t e t hat, 5 hat Gerhart Hoffmeister: Barocker Petrarkismus: Wandlungen und Möglichkeiten der Liebessprache in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. In: G . H . (Hg.): Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Uberlieferung und Umgestaltung. Bern, München 1973. S. 3 7 53. - Robert M. Browning: Deutsche Lyrik des Barock 1 6 1 8 - 1 7 2 3 . Autorisierte deutsche Ausgabe besorgt von Gerhart Teuscher. Stuttgart 1980. Kapitel »Manieristen und Erotiker.« S. 1 2 2 - 1 7 3 . ~~ Wilhelm Kühlmann: Ausgeklammerte Askese. Zur Tradition heiterer erotischer Dichtung in Paul Flemings Kußgedicht. In: Volker Meid (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Stuttgart 1982. S. 176-186. - Hans Wagener: Love: From Petrarchism to Eroticism. In: Gerhart Hoffmeister (Hg.): German Baroque Literature. The European Perspective. N e w Y o r k 1983. S. 1 9 7 - 2 1 0 . - Ferner: Suchbilder der Liebe: Liebesgedichte vom Barock bis zur Frühmoderne kommentiert von Veena Kade-Luthra und Christine Zeile. Münster 1983. Bes. S. 8-49. Wolfgang Neuber: Die Sinnlichkeit des Ungelebten. Zu einigen Aspekten deutscher erotischer Lyrik im Barock. In: Erotik. Versuch einer Annäherung. Katalogredaktion: Otto Brusatti u. Bernhard Denscher. Historisches Museum der Stadt Wien. Wiener Stadt- und Landesbibliothek. 1990. S. 1 1 4 - 1 1 8 . - Joseph Kiermeier-Debre/ Fritz Franz Vogel: Die Herzwurzel der Poesie oder die barocke Palinodie auf den Körper als Leiche. In: Die Entdeckung der Wollust. Erotische Dichtung des Barock. Mit einem Nachwort hg. von Joseph Kiermeier-Debre und Fritz Franz Vogel. München 1995. S. 200—213. — Hansjürgen Blinn: Begehren und Erfüllung. Zum Liebesdiskurs des 17. Jahrhunderts. In: Erotische Lyrik der galanten Zeit. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Hansjürgen Blinn. Frankfurt 1999. S. 99—121. Vgl. aus den letzten Jahren beispielsweise: Philippe Aries, Andre Bejin, Michel Foucault u.a.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Aus dem Franz. übers, von Michael Bischoff. Frankf. a. M. 1984 (Franz. Originalausgabe: Sexualites occidentales, Paris 1982). - Rüdiger Schnell: causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern u. München 1985. - J e f f r e y Ashcroft u. a. (Hg.): Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985. Tübingen 1987. - Maria E. Müller: Ehe4
die literaturwissenschaftliche Erforschung des 17. Jahrhunderts, insbesondere des deutschen Barock, zu diesem Thema nur sehr wenige, in den siebziger Jahren entstandene Arbeiten und neuerdings einige Aufsätze zu Hoffmannswaldau hervorgebracht. Auch von der intensiven komparatistischen Erforschung des Petrarkismus6 konnte in diesem Bereich bisher kaum profitiert werden, sicher auch deshalb, weil man sich in diesem Zusammenhang dem Thema zumeist nur rezeptionsgeschichtlich, selten aber problemgeschichtlich genähert hat. Ein über die poetischen Verfahren der imitatio oder aemulatio hinausgehendes Interesse wurde den Texten nur ausnahmsweise entgegengebracht. Dem erotischen Sujet in der deutschen Literatur widmete sich bislang nur eine einzige selbständige Studie: Heinz Schlaffers vielbeachtetes, nunmehr dreißig Jahre altes Buch7 prägte der erotischen Poesie, von den antiken Anfängen bis zum bürgerlichen Zeitalter, den ovidischen Stempel der »musa iocosa« auf, was zu einer folgenreichen Entwertung führte. Schlaffer identifizierte eine in der Antike entstandene >Gattung< des erotischen Scherzens, die stets die gleichen Texte generierte und die - aufgrund ihrer prinzipiellen Entwicklungslosigkeit - sich in nachantiker Zeit als invariabel gegenüber einem sich ständig ändernden Weltverhältnis erwies, bis sie im bürgerlichen Zeitalter folgerichtig und verdientermaßen ausstarb. Das brillante Buch, das jedoch unter seinem Zitatensteinbruch und der fehlenden Einzeltextanalyse leidet, bereitete dem Thema - abgesehen von vereinzeltem Widerspruch8 - vorerst ein Ende. Die »musa iocosa« war gewogen und für zu leicht befunden worden. Zwei Einwände gegen Schlaffers Thesen sind vorzubringen. Die von Schlaffer erkannten Textmerkmale konstituieren keine »erotische Gat-
6
7
8
glück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. u. 16.Jahrhunderts. Weinheim u. Basel 1988. - Klaus Schreiner, Norbert Schnitzler (Hgg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1992. Tilman Walter: Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit m Deutschland. Berlin, N e w Y o r k 1998. Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Arbeiten von Gerhart Hoffmeister, Klaus W. Hempfer und Gerhart Regn. Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1 9 7 1 . Vgl. Wolfdietrich Rasch: Lust und Tugend. Zur erotischen Lyrik Hofmannswaldaus. In: W. R. u.a. (Hgg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. S. 447-471. Hier S. 447. - Thomas Borgstedt: Kuß, Schoß und Altar. Zur Dialogizität und Geschichtlichkeit erotischer Dichtung (Giovanni Pontano, Joannes Secundus, Giambattista Marino und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau.) In: G R M N F 44 (1994). 288-323. Hier S. 288-290. 5
tung«, sondern sind Konzepte bzw. Motive und Topoi, geprägte Ausdrucksformen eines umfassenden und differenzierten Diskurses über die Liebe. Damit läßt sich Schlaffers Problem auflösen, daß diese Elemente auch in Epik und Dramatik sowie in der Traktatliteratur erscheinen können, während er behaupten muß, die erotische >Gattung< sitze »dem Schema lyrisch-episch-dramatisch (...) rittlings auf«.9 Diese Gattungskonzeption verengt den Blick auf das konkrete literarische Gebilde, das demnach vor allem das Gemeinsame vorweisen muß. Wenn man Schlaffers Gattungsgesetze als Motivkomplex auffaßt, öffnet sich hingegen ein intertextuelles Spiel, wobei neben der Übernahme und dem Identischen nun vor allem die Abweichung und das - erläuterungsbedürftige - Nichtidentische in den Blick geraten können. Einer behaupteten Entwicklungslosigkeit des erotischen Themas ist jedenfalls zu widersprechen.10 Der Nachweis von Motiven führt nicht zu einer Identifikation einer Gattung, die zudem als scherzhaft festgelegt wäre und daher kaum noch ein weitergehendes Deutungsinteresse hervorriefe, sondern fordert den Interpreten zur differenzierenden Analyse heraus. Denn scherzhaft - dies der zweite Einwand gegen Schlaffer - ist die erotische Dichtung weder durchgängig noch notwendig. So rührt etwa der Eindruck, die griechische Erotik sei scherzhafter als die römische, lediglich daher, daß das von der hellenistischen (also recht späten) Dichtung bevorzugte Epigramm wegen seiner Kürze sehr pointiert und >witzig< behandelt wird, die römische Elegie jedoch Raum für Differenzierungen und Entfaltungen öffnet, wenn man so will: welthaltiger wird. Keineswegs jedoch ist es zutreffend, die gesamte erotische Dichtung der griechischen und römischen Antike als scherzhafte >Gattung< zu charakterisieren; nicht einmal die Epigramme der Anthologia Graeca, dem Scherz noch am nächsten stehend, halten dieser These in jedem Fall stand. Schlaffer ist hier große Einseitigkeit hinsichtlich seiner Textgrundlage und eine polemische Uberspielung von Deutungsschwierigkeiten (etwa bei Properz) vorzuwerfen. Stärker müßte an den Texten herausgearbeitet werden, wie gültige Normen und Philosopheme diskutiert, bestätigt, verworfen, differenziert werden. Schlaffer setzt >erotischscherzhaft< und die Stilhaltung des genus medium weitgehend gleich. Der Identifizierung von erotisch mit scherz9 10
Schlaffer: Musa iocosa, S. 10. Auch Thomas Borgstedt (Kuß, Schoß und Altar, S. 290) bemängelt an Schlaffers Darstellung, daß sie »darauf verzichtet, die dem Erotischen inhalierende Distanz zu den autoritativen Diskursen der Zeit als historisch variable zu denken.«
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haft hat schon Wolfdietrich Rasch 11 widersprochen, aber auch die ausschließliche Ansiedlung des literarischen Eros im genus medium ist problematisch. Erotische Texte sind auch im genus grande (ζ. B: Sapphos Hymne an Aphrodite, Chorlieder in der klassischen Tragödie) und im genus humile (ζ. B. in der attischen Komödie, carmina Priapeia) bekannt. So hat Pyritz den Petrarkismus »das zweite erotische System nach dem Minnesang«12 genannt, während Schlaffer den Petrarkismus - analog zur scherzhaften erotischen Poesie - als eine eigene, zutiefst unerotische Gattung betrachten muß, der allein das genus grande entspreche. Dies ist schon für Petrarca, der im Vergleich zu Dante die bedichtete Dame säkularisiert, und erst recht für seine Nachfolger nicht mehr uneingeschränkt gültig und verliert sich, vor allem in der romanischen Literatur, spätestens im 16. Jahrhundert. Im folgenden Jahrhundert kann es auch in deutschsprachigen Barocktexten zu einer Stilmischung von ursprünglich petrarkistischen und antik-erotischen Elementen kommen. Vermittlungen sind hier im Bereich der weltlichen neulateinischen Lyrik anzunehmen. Daß Schlaffers Gattungskonzeption bei der Beschreibung solcher Texte versagen muß, beweist sein Ausschluß von Sonetten als »verhindert-erotische« Gedichte. Ein Sonett wie Opitz' Wann ich mit frieden kan in deinen Armen liegen ist deshalb von Schlaffer nicht adäquat beschreibbar. Zudem läßt sich gerade an diesem Gedicht zeigen, daß Opitz keineswegs die Vorlage, ein Sonett Ronsards, nur übersetzend imitiert und als kontextloses, zeitenthobenes exemplum versteht, sondern an entscheidenden Stellen verändert und der zeitgeschichtlichen Situation anpaßt. Hier hilft die Gattungsidentifikation nicht weiter, der literarische Text als für sich bestehendes Gebilde verlangt die ungeteilte Aufmerksamkeit des Interpreten. Die vorliegende Studie hofft, durch eine Fülle von Einzelergebnissen zu bekannten, aber auch weniger bekannten Texten deren poetische Innovationen, erst recht aber deren Teilhabe am Diskurs der Sinnlichkeit demonstrieren zu können.13
11 12
13
Vgl. Rasch, Lust und Tugend. Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. 1932, vollst. Göttingen 1963. S. 301. Anregend wirkte hier vor allem Ferdinand van Ingens Aufsatz »Zum Selbstverständnis des Dichters im 17. und frühen 18. Jahrhundert« (1991), in dem er sich gegen eine ausschließliche Annahme der »Variations-These« und des »rhetorischen Grundzugs« der Barockpoesie ausspricht, die sich vor allem auf eine Auswertung der Poetiken, kaum aber von Vorreden und Werken selbst herleite.
7
2.
Die Methode
Eines der großen Rätsel der Barockepoche bleibt die Gleichzeitigkeit von Weltverneinung und Weltbejahung - Gegensätze, die durch die ästhetischen Überformungen hindurch spürbar bleiben. Nirgends tritt dies vielleicht deutlicher hervor als in der Lyrik. Neben Kirchenliedern, Leichabdankungen und düsteren Kirchhofsgedanken finden sich - oftmals beim selben Autor, im gleichen Band - die glühendsten Erotika, die die deutschsprachige Literatur besitzt. Diese Texte bilden eine unüberhörbare Gegenstimme zur notorischen Weltflucht der Epoche. Offenbar jedoch fällt es der Literaturwissenschaft leicht, den Jenseitsgestus der Literatur als typischen Epochenausdruck ernstzunehmen, und schwer, auch den Erotismus als solchen zu verstehen. Memento 15
und constantia
mori,
vanitas14
gelten fraglos als wesentliche, das ethische Denken und
die literarische Praxis bestimmende Grundformeln der Zeit, während die erotischen Motive und Topoi lediglich als Stilphänomen des Manierismus in Betracht gezogen, 16 jedoch kaum den autoritativen Grundformeln als gleichwertige Kraft entgegengestellt werden. Mit der Ausnahme von Hoffmannswaldau, dessen genuine Bedeutung als Spracherotiker in den letzten Jahren zunehmend erkannt wird, ist die deutsche erotische Dichtung des 17. Jahrhunderts im Blickfeld eines verspäteten Petrarkismus gesichtet worden. Die erotische Lyrik ist zwar zu großen Anteilen in kritischer Auseinandersetzung mit dem Petrarkismus entstanden, begnügte sich jedoch keineswegs mit einer solcherart literaturimmanenten >Systemschädigung< (die allerdings auch noch nicht weitreichend bedacht wurde). Der Petrarkismus ist bei weitem nicht der alleinige Traditionsbezug erotischer Dichtung, 17 schon deshalb nicht, weil er in seiner klassiI+
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17
Ferdinand van Ingen: Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966. Vgl. z . B . Werner Welzig: Constantia und barocke Beständigkeit. In: D V j S 35 (1961). S. 416-432. Vgl. Joachim Schöberl: »hljen-milch und rosen-purpur«. Die Metaphonk in der galanten Lyrik des Spätbarock. Untersuchung zur Neukirchschen Sammlung. Frankfurt a. M. 1972. - Peter Schwind: Schwulst-Stil. Historische Grundlagen von Produktion und Rezeption mameristischer Sprachformen in Deutschland 1624-1738. Klaus W. Hempfer: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der europäischen Lyrik des 16. und 17.Jahrhunderts (Ariost, Ronsard, Shakespeare, Opitz). In: G R M . N F . Bd. 38 (1988). S. 251-264. S.261: »die Liebeslyrik des deutschen Barock konstituiert sich in einem imitatio-Bezug auf einen erotischen Diskurs, der seine Pluralität längst zum Thema gemacht hat. N u r wenn man darauf verzichtet, die romanische Liebslyrik seit Petrarca in toto (...) dem Petrarkismus zuzuschlagen (...), dürfte die nationalsprachliche und epochale
8
sehen Ausformung die erotische Erfüllung verwehrt, denn er bricht die quinquae lineae amoris dort ab - nämlich spätestens nach der zweiten >Linie< - , wo das eigentliche Feld der Erotik erst beginnt. Für das literaturgeschichtliche Phänomen, das man sich >Antipetrarkismus< zu nennen angewöhnt hat, gilt es, andere Traditionsbezüge und deren immanente Liebeskonzeptionen aufzuspüren. Aus diesem Grunde wird hier der Petrarkismus nicht für sich untersucht, sondern nur im Hintergrund mitbedacht. Er ist als europäisches Phänomen ein etabliertes Forschungsfeld, das weiter zu bestellen sich diese Studie, die sich um die genuin erotische Tradition bemüht, nicht zur Aufgabe macht. Die Lyrik der Antike prägt Haltungen und Motive aus, die Petrarca und seine Nachfolger aufnehmen und in ihren von Troubadorsliedern und dem dolce Stil nuovo beeinflußten Liebesdiskurs integrieren werden. Als christlicher Humanist reicht Petrarca das antike erotische Erbe in der spezifischen Auswahl und Sicht der Liebesklage zuerst folgenreich in einer Volkssprache weiter. Verstärkt wurde die Tendenz zur eindimensionalen Betrachtungsweise durch die Ergebnisse der neueren Barockforschung, die die Rhetorik als »Grundhaltung«18 der Epoche erkannte, zunächst auch mit vollem Recht. Die rhetorische Bildung vor allem der Lateinschule führte die Autoren des 17. Jahrhunderts zur Nachahmung bewunderter exempla und zur Befähigung, jeden beliebigen Gegenstand formal bewältigen zu können. Erotische Poesie war so lediglich als imitatio einer von der antiken Liebeselegie über den europäischen Petrarkismus der Renaissance verlaufenden literarischen Tradition zu verstehen, als Geschmeidigkeitsübung für die noch junge und unbeholfene deutsche Literatursprache, die auf europäisches Niveau zu bringen erklärtes Ziel der Opitz-Generation war. Bildungsreisen ins europäische Ausland ermöglichten den polyglotten Autoren die Teilhabe an einem umfassenden literarischen Diskurs, wie es ihn seitdem in diesem Ausmaß nicht wieder gegeben hat. So erscheinen die leichtgewichtigen und - auf den ersten Blick - zum Verwechseln ähnlichen Gebilde der erotischen Lyrik immerhin interessant unter dem Aspekt der Einflußforschung, die auch erwartungsgemäß eine reiche Ernte vorweisen kann.19 Nur am Ende des Zeitalters, bei Johann Christian
18 19
Spezifität mchtiOmamscher Liebesdichtung in Relation zum romanisch — und antik - Vorgegebenen adäquat zu bestimmen sein.« So schon Ferdinand van Ingen: Vanitas und memento mori, S. 47. Vgl. vor allem die romamstischen Arbeiten zur erotischen Literatur von Klaus W. Hempfer, der dieses Feld neu reflektiert.
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Günther, wird eine Spannung zwischen Rhetorik und Authentizität vermerkt. 20 Goethe ist endlich in greifbarer Nähe. Barockliteratur ist jedoch mit dem Rücken zur Goethezeit zu befragen. Es ist eine Literatur vorsubjektivistischer Provenienz, und wann immer die Lyrik im speziellen als Dichtung subjektiver Aussage definiert wird 2 1 - barocke Gedichte werden von diesem Begriff nie gänzlich erfaßt werden können. Nicht das selbstaussagende Ich, Ergebnis des späteren bürgerlichen Pietismus, steht im Zentrum barocker Lyrik, sondern ein der Rhetorik und einem normativen Dichtungsbegriff verpflichtetes Denken. Es ist Gelehrtendichtung, die den neulateinisch schreibenden Humanisten des 16. Jahrhunderts weitgehend in der Anerkennung nachzuahmender Gattungsmuster folgt. Diese traditionelle Orientierung verbindet sich mit dem religiös-ethischen Grundzug des Zeitalters und der Situation der bürgerlichen Gelehrtendichter, die zur Anerkennung ihres Standes die Akzeptanz der höfischen Kultur benötigten. Erwartungsgemäß herrscht geistliche und panegyrische Literatur vor. Sollte sich aus diesen Kontexten und Situierungen die Barocklyrik tatsächlich mehr oder weniger bruchlos herleiten lassen, dann könnte sich ihre Erforschung fortan damit begnügen, sie in den Rahmen poetischer und rhetorischer Ordnungsbegriffe zu stellen. Tatsächlich scheint es nach den großen, emphatisch begrüßten Studien 22 seit Mitte der siebziger Jahre zu einem Abklingen des Interesses gekommen zu sein, zumal sich die sperrigen, jedoch von einem rationalen Dichtungsverständnis getragenen Texte dem postmodernen Forschungsinteresse der nachfolgenden Jahre nicht recht fügen wollten. Conrad Wiedemann und andere fragten deshalb grundsätzlich, wie denn eine Barockforschung nach Wilfried Barners 2
° Vgl. die Diskussion bei Ursula Regener: Stumme Lieder? Zur motiv- und gattungsgeschichtlichen Situierung von Johann Christian Günthers Verliebten Gedichten. Berlin, N e w Y o r k 1989. S. 7-26. 21 Vgl. beispielsweise Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 6., verbesserte und erweiterte Auflage. Stuttgart 1979. S. 482, Stichwort Lyrik: »die subjektivste der drei Naturformen (...) der Dichtung; unmittelbare Gestaltung innerseelischer Vorgänge im Dichter, die durch gemüthafte Weltbegegnung (vgl. Erlebnis) entstehen«. 22 Neben den Bereits genannten Studien Schlaffers und van Ingens wären vor allem noch zu erwähnen: Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. - Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964. - Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966. - Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. - Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977.
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Rhetorikbuch überhaupt fortzuführen sei.23 Die Antwort ist zugleich die verpflichtende Grundlegung dieser Studie: Im Rahmen der Systeme von Rhetorik, Poetik und Ethik ist der Einzeltext zu befragen, wie sich im normativen Rahmen dessen Diskussion und Veränderung vorsichtig vollzieht. Diese Diskussion und Veränderung nicht zu berücksichtigen, zwingt beispielsweise zu einer so späten Annahme frühaufklärerischen Denkens in Deutschland, daß man um 1700 mit einer Art sprunghaften Paradigmenwechsels rechnen muß, für den zwei Namen bereitstehen: Christian Weise und Christian Thomasius. Daß sich deren Konzeptionen des Galanten und der Affekte als Einflußkanäle frühaufklärerischen Denkens erwiesen haben, wird hier nicht bestritten, wohl aber, daß sich nicht schon früher Dichtungen finden lassen, die die Normen des Zeitalters kritisch reflektieren. Eine Untersuchung erotischer Texte bietet sich insofern an, als in ihnen einerseits eine jahrhundertealte Tradition stets mitzubedenken ist, die die Form der Themenbewältigung (oder Nichtbewältigung) bereitstellt und präformiert, als aber auch andererseits dem Thema selbst eine stets prekäre, Beengungen aufbrechende Dynamik innewohnt. Wenn Eros in das enge Gehäuse eines Sonetts gesperrt wird, kann sehr schnell ein >Lusthaus< daraus werden, das sich kaum noch auf dem Grund und Boden der literarischen Gattungserwartung und der ethischen N o r m 23
Conrad Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners »Barockrhetorik«. In: Internationaler A r beitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 2 7 . - 3 1 . August 1973. Vorträge und Berichte. Wolfenbüttel 1973. S. 21—51. S. 21: »Suchen wir nach einem gemeinsamen N e n ner für die Arbeitsleitung, so ist eine gewisse Abwendung vom poetischen Text und die Hinwendung zu Theorie und zur background-Forschung nicht zu verkennen.« S. 23: Die »neuen Rhetorikforschungen (...) helfen uns am weitesten, wenn wir uns Form, Entstehen und Mentalität des Barockgedichts als S c h u l gedicht vergegenwärtigen, kaum jedoch bei der Einschätzung der literarischen Individuationsmöglichkeiten, also bei der Frage, wie sich zeitgenössisches Genie innerhalb dieses formalen Bezugsrahmens darstellt.« - Vgl. auch: Stephen Eider: Die Todesfrage in Weckherlins weltlichen Gedichten: Ein Beitrag zum Manierismus. In: Gerhart Hoffmeister (Hg.): Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Uberlieferung und Umgestaltung. Bern u. München 1973. S.55-65. S. 55: »Überhaupt ist die größte Lücke in der gesamten Barockforschung der auffallende Mangel an L y rikinterpretationen, die sich aus dem Gedicht als selbständigen Organismus ergeben.« - Ferdinand van Ingen: Zum Selbstverständnis des Dichters im 17. und frühen 18. Jahrhundert. 1991. S. 206-224. S. 207: »Das Problem ist wohl deshalb aktuell, weil großräumige Studien literarische Ordnungssysteme und Sprechhaltungen erarbeitet haben, die (...) für den Barockdichter als selbstverständliches Zuordnungsgefüge funktionierten. Die Kehrseite ist jedoch, daß das U n typische und individuell Charakteristische (...) nicht mehr in den Blick kommt.«
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befindet. Überdies steht in dieser Zeit ein anderer Diskurs als der erotische für Spiegelungen, in denen sich Subjektivität andeutet (und als Erbe der Renaissance bewahrt) und allmählich entfaltet, kaum zur Verfügung. Einzig Texte religiöser Innerlichkeit 24 vermögen zu konkurrieren und sind im weiteren Verlauf der Geschichte bürgerlicher Subjektivität, die zu nicht geringem Maß in den Bahnen des Pietismus verläuft, sogar erfolgreicher. Für die Geschichte frühneuzeitlicher Sinnlichkeit im poetischen Diskurs bleiben jedoch die erotischen Gedichte vorrangiges Untersuchungsmaterial. Die hier angewandte Methode folgt der Uberzeugung, daß es auch im Fall der Barockliteratur nicht angehe, die Erzeugnisse der Poesie unter die allgemeinen Signaturen der Epoche umstandslos zu subsumieren. Der Historiker zieht zur Rekonstruktion einer Epoche zumeist Quellen heran, die außerhalb sprachlicher Polyvalenz stehen. Der Literarhistoriker hat es mit entschieden anderem Material zu tun, denn insbesondere das überstrukturierte Gedicht 25 mit seiner Bedeutungsverdichtung und -Verschiebung ist gegenüber dem Gebrauchstext nicht auf eine eindeutige Aussage reduzierbar. Es handelt sich vielmehr um Spielräume mit Lizenz zur poetisch camouflierten Normübertretung. Im Fall der Barockkunst, der man ein grundlegend abbildendes Verhältnis zur höfischen Kultur und Politik zuspricht, ist deshalb um so mehr zur Vorsicht aufzurufen, als die Affirmation von politisch-sozialer Realität und autoritativen Diskursen von der Lyrik des 17. Jahrhunderts nicht nur mit guten Gründen erwartet, sondern auch vorschnell präsupponiert werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch eine Diskussion über den um die Wende zum 18.Jahrhundert aufkommenden Begriff des »Galanten« zu führen, der nicht nur ein Stilphänomen, sondern auch eine Stellungnahme zur A f f e k teproblematik benennt, bei der es um eine Neuverortung des Erotischen geht, sich hierbei an französischen Gesellschaftstheorien und -praxen, aber auch an literarische Traditionen anlehnend. Zusammenhänge, die 24
25
Zu erinnern wäre hier an die frühpietistischen geistlichen Gedichte der Catharina Regina von Greiffenberg, in denen man sogar >lyrische< von nicht-lyrischen Texten unterschieden hat (vgl. dazu Peter M. Daly: Catharina Regina von Greiffenberg. In: Harald Steinhagen und Benno von Wiese (Hgg.): Deutsche Dichter des 17.Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984. S. 615-639. Bes. S. 625). Zum Begriff der >Uberstrukturierung< vgl.: Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Ubersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 2. Aufl. München 1981 ( U T B 103). - Jürgen Link: Das lyrische Gedicht als Paradigma des überstrukturierten Textes. In: Funk-Kolleg Literatur. Bd. 1. In Verbindung mit Jörn Stückrath hg. von Helmut Brackert und Eberhard Lämmert. Frankfurt 1982. S. 234— 256.
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den galanten Diskurs in den epochalen Kontext zwischen Barock und Frühaufklärung einzubetten erlauben, sind bislang wenig thematisiert worden. Hier ist vor allem Hoffmannswaldau zu betrachten, dessen verspätete Rezeption ihn um 1690 zum Vorbild der Galanten macht, obwohl er seine Texte bereits fünfzig Jahre zuvor verfaßt hat. Ansätze des »Galanten« sind schon im Früh- und Hochbarock aufzuspüren und in den Kontext eines Sinnlichkeitsdiskurses zu stellen.
3.
G a n g der U n t e r s u c h u n g
Der ausführliche Blick auf den Horizont der antiken erotischen Dichtung versteht sich als Revision und Korrektur der Schlaff ersehen Interpretation, denn allein von diesem Material aus ist ein grundlegendes Verständnis der Liebesdiskussion im europäischen Kulturraum bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts zu gewinnen. Zunächst ist das Eros/Amor- bzw. Aphrodite/Venusverständnis
der griechischen und römischen Antike
erneut und differenzierender zu betrachten, ein Verständnis, das in vielfacher Vermittlung bis in die Literatur des 17. Jahrhunderts und darüber hinaus nachgewirkt hat. Neben die poetischen Texte treten philosophische Diskurse, in denen die Rationalität gegen den erotischen Affekt ins Feld geführt wird. In den autoritativen Diskursen der Antike dominiert die Ansicht der Liebe als einer Krankheit oder eines Wahns. Piatons leidenschaftliche Verteidigung des Eros in Texten wie Symposion und Phaidros widerspricht dem nicht, sondern begründet eine spirituelle Erotik, die sich später leicht christlichem Gedankengut anschließt und spätestens dann die geschlechtliche Liebe aus dem Blick verliert und durch Caritas und agape ersetzt. Beachtet werden indessen auch
hedone-freundliche
Diskurse, etwa Epikurs. Die poetischen
Texte der Antike sind hingegen polyvalent, in ihren
Grundzügen ambivalent. Einerseits unterstehen sie der Autorität philosophischer und medizinischer Traktate, andererseits gelingen ihnen Differenzierungen und Entfaltungen von Kontexten, in denen das erfüllte erotische Leben als geglückter Lebensentwurf gestaltbar wird. Gattungen wie die bukolische Poesie mit den verliebten Schäfern oder der römischen Elegie mit dem servitium amoris akzentuieren einen Eigenwert des Sinnlichen, dessen destabilisierende Problematik nicht verschleiert, aber doch auch nicht verabsolutiert wird. Die Sinnlichkeit erweist sich als eine wichtige Leitlinie, in der sich Subjektivität entfaltet und artikuliert. So ist es kein Zufall, daß sich erotische Dichtung polemisch gegen objektive Grö1
5
ßen wie das Staatswohl - oder literarisch: das Epos - wendet. Was lediglich als >Affekt< benennbar zu sein scheint, gibt sich als entwicklungsfähiges Potential des >Gefühls< zu erkennen. Obwohl der Begriff erst im bürgerlichen Zeitalter in den europäischen Kultursprachen entsteht, ist das Phänomen bereits in Catulls carmina anwesend. Es ist vor allem der liebeskranke Mensch - und mithin ein Paradigma des kranken Menschen überhaupt - , der auf seine Subjektivität verwiesen wird. Hier ist verdeckten anthropologischen Zusammenhängen zwischen Liebe, Krankheit, Melancholie und Introspektion in erotischen Texten nachzugehen. Die Darstellung antiker erotischer Diskurse darf hier deshalb einen großen Raum fordern, weil sich in ihnen eine ethische und literarische Konzeption artikuliert, die für die frühe Neuzeit Europas und ihr Sinnlichkeitsverständnis entscheidend wird. Aber auch das Mittelalter bis hin zu Petrarca partizipiert an dieser Tradition. Eine umfassende Musterung erotischer Texte und die Identifikationen von Gattungen, Motiven und Topoi ist deshalb nicht nur für ein angemessenes Verständnis der antiken Erotik wichtig, sondern auch für eine Verortung der sie rezipierenden frühen Neuzeit zwischen Tradition und Innovation. Dies ist um so notwendiger, als ein verbindlicher Mustertext - wie etwa beim Epos oder beim Petrarkismus - nicht existiert. Hier gilt es statt dessen, die Pluralität der Tradition vor Augen zu führen. Wenn in Renaissance und Barock die antike Liebesdichtung aktualisiert wird, heißt das auch, daß Elemente der antiken Eros-Konzeption den Liebesdiskurs der frühen Neuzeit in einem hohen Maße mitbestimmen. Es tritt eine Anthropologie zutage, die erreichte Positionen der Renaissance auch im 17. Jahrhundert unter der Signatur des Pessimismus nicht aufzugeben gewillt ist. Der poetische Diskurs mit seinen Parodien und Kontrafakturen des autoritativen Sprechens über Sexualität und Erotik wird sich, insbesondere in den Texten mit apologetischem Charakter, als innovative Kontra-Diktion erweisen. Erst von der Basis der antiken und europäisch-frühneuzeitlichen Tradition her können an den barocken Texten Problemstände und Innovationen erkannt und angemessen beurteilt werden. Der zweite Hauptteil der Studie versucht dabei vor allem die Liebeskonzeptionen der einzelnen Autoren zu differenzieren. Es führt zu Pauschalisierungen und Einebnungen, wenn beispielsweise Paul Flemings sich bereits privatisierende Liebeslyrik mit der aufs Galante zielenden Poesie Philipp von Zesens zusammengezogen wird. Statt dessen soll nach lokalen Spezifika und literargeschichtlichen Entwicklungen, nach individuellen Auffassungen von Poetik, Poesie und Poetentum gefragt werden, freilich beschränkt auf 14
das erotische Thema, das den weltzugewandten Diskurs der Epoche entscheidend bestimmt. Was hier zur Sprache kommt, ist nicht weniger als die Gewinnung säkularen Terrains im poetischen Spiel. Vertieft wird dieses Thema im anschließenden Kapitel über die Lyrik Christian Hoffmann von Hoffmannswaldaus, in dem anhand einer Analyse ausgewählter Gedichte deren Argumentationsstruktur im Hinblick auf gesellschaftliche, politische, religiös-kirchliche und poetische Stellungnahmen erarbeitet wird. Neben dem Nachweis neuer Quellen zeigt sich die Studie insbesondere daran interessiert, in Hoffmannswaldaus poetischem Spiel die tiefreichende Diskurskritik nachzuvollziehen, die sich an der Verspannung zwischen Sinnlichkeit und Weltabsage abarbeitet. A m Ende des Untersuchungsganges sollte erkennbar werden, daß sich im erotischen Diskurs poetischer Texte die modernen, wegweisenden Ansätze des frühneuzeitlichen Denkens mitteilen. Das sogenannte Barockzeitalter, als pessimistisch und weitabgewandt charakterisiert, wird sich - auch in Deutschland - als ein wichtiges Bindeglied zwischen Renaissance und Frühaufklärung erweisen. Nicht nur poetische Form- und Sprachexperimente schlagen sich in den erotischen Gedichten dieser Zeit nieder, sondern auch, oder vor allem: ein kontinuierlicher Widerspruch gegen eine sinnlichkeitsfeindliche Anthropologie. An keiner anderen Stelle wurde dieser Diskurs im 17. Jahrhundert so polemisch, einfallsreich und kontradiktorisch geführt wie in der Poesie. Auch hier, im Zeitalter des Barock, w o man es so wenig erwarten mag, erweist sich die Poesie als ein innovatives Vor-Spiel und das erotische Thema als eine Erinnerung an die innerweltliche Glücksmöglichkeit.
J
5
II.
Die antike Tradition erotischer Lyrik
i.
Zur Einführung
Als der mythenkundige Parthenios im letzten Jahrhundert vor der Zeitenwende seine Erotika Patbemata1 verfaßte, ging es ihm darum, den Dichtern ein Kompendium von Geschichten der abgelegeneren Art zur Verfügung zu stellen. Offenbar war man der alten homerischen und hesiodischen Fabeln, die in zahllosen Epigrammen mit Routine variiert wurden, müde geworden und rief nach neuen Stoffen. Interessant an Parthenios' Geschichten ist nicht nur ihr Neuigkeitswert, sondern vor allem die ihnen zugrundeliegende Tendenz. Denn war es in der hellenistischalexandrinischen Literatur zur Mode geworden, die Liebeslust scherzhaft darzustellen, so erinnerte Parthenios an eine ältere, archaische Sicht: Liebe bedeutet Leiden. Seine Geschichten handeln von Streit, Eifersucht, Inzest, Mord, Selbstmord, Hochverrat und Götterrache im Gefolge des >Liebeswahnsinnsgoldnen Kypris< sein? Doch die Romantisierung Aphrodites liegt noch fern. Zu den Kräften des Mythos gehörend, ist sie Teil der hostilen Ubermacht der Wirklichkeit und nicht etwa selbst Teil der humanen Welt. Hesiod weiß wenig von ihrer Zuwendung zu den Menschen, viel dagegen von ihrer Vereinigungsmacht in der Götterwelt zu berichten, und bei Homer sind ihre Motive, sich mit den Menschen einzulassen, nie gütiger, sondern stets egoistischer Art. Die Aufgabe des Mythos ist nach Hans Blumenberg nicht die - ohnehin uneinlösbare - Aufhebung, sondern die Depotenzierung des Schreckens dieser Ubermacht, und der Ursprung der lieblichen 1
2
Die lange Zeit vergessene Sammlung ist jetzt wieder zugänglich: Kai Brodersen (Hg.): Liebesleiden in der Antike. Die »Erotika Pathemata« des Parthenios. Darmstadt 2000. Vgl. ebd., S. 98. - In N r . 5 beispielsweise, »Leukippos«, verführt der »Zorn der Aphrodite« zum Inzest, den Leukippos selbst als »Krankheit« erfährt (S. 4if.; vgl. auch N r . 13, »Harpalyke«, S.66f.). Liebe kann sogar, wie in N r . 9, »Polykrite«, zum Hochverrat an der Polls führen (vgl. S. 54-56) und zu Gewalttaten jeder Art. 16
Aphrodite aus dem blutenden, abgeschnittenen Glied des Uranos sei »wie eine Metapher auf die Leistung des Mythos«.3 Auch noch die zur anthropomorphen Annehmlichkeit, ja Idealität gewandelten Götter vertreten die Gewalt sich teilend - das Numinose, das in seiner Gesamtheit den Horizont des Anderen, der lebensweltlichen Fremdheit bildet. Aphrodite und die Olympier haben zwar die Monstren früherer Zeiten abgelöst und lassen es nicht von vornherein abwegig erscheinen, sie mit Menschenmaß zu taxieren, aber die frühere Feindschaft zu den Menschen ist allenfalls einer Herablassung gewichen. Frivolität, Ränke und Rücksichtslosigkeit der Olympier spiegeln noch spät, zu Beginn der schriftlichen Uberlieferung der Mythen, daß der »Absolutismus der Wirklichkeit«4 nicht überwunden, sondern bloß gemildert ist. Unmythologisch gesprochen, stand die Existenz des archaischen Griechentums unter dem Zeichen der amechania, der Hilflosigkeit. Welches Segment des Numinosen, des Übermächtigen vertreten also Eros und Aphrodite, die nach Hesiods Genealogie zu den ältesten Göttern gehören, geboren lange vor den Olympiern, geboren in der umdüsterten Vorvergangenheit? Es ist der Sexualtrieb, der der Antike nicht weniger (wenn auch anders) problematisch ist als dem christlichen Zeitalter. Schon die große Anzahl antiker erotischer Dichtungen und Traktate zeugt von der Ruhelosigkeit, die um dieses Thema entsteht - und bekanntlich ist es nicht das Unproblematische, das zur Darstellung drängt. Aphrodite, die in ihrer Lieblichkeit die angenehmen Aspekte der Geschlechtslust verkörpert, hat auch radikal andere Züge: sie verdunkelt die Vernunft, indem sie die Affekte reizt. Auch sie, die Goldene und Anmutige, betreibt das Werk der Destabilisierung des menschlichen Daseins, im Extremfall bis zum furchtbaren Exzeß des griechisch-trojanischen Kriegs um Helena, der auf den erotischen Mythos der Paris-Wahl zurückbeziehbar ist. Und im bloßen >Normalfall< läßt sie den Menschen erkranken. Wenn behauptet wurde, daß die Götter nicht teilhaben an der humanen Welt, so bedarf dies einer Korrektur, denn in phänomenologischer Sicht bekundet sich im Mythos ein virulentes Interesse des Menschen an seiner conditio. Mit der mythischen Figur Aphrodite wurden Bereiche der humanen Natur beschreibbar, die nicht umstandslos unter die Rationali3
4
Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 3., erneut durchgesehene Auflage. Frankfurt a. M. 1984. S. 45. Blumenberg führt dies später (S. 130) weiter aus: »Aus dem blutigen Samenschaum des kastrierten Gottes entspringt die liebliche Aphrodite als Besiegelung des Erlöschens der monströsen Zeugungskraft zu Giganten, Kyklopen, Hekatonchiren und anderem Auswuchs.« Ebd., S. 9. !7
tat subsumierbar waren. Die Gunst der Überlieferung hat ein durch seine relative Frühe um so wertvolleres Fragment erhalten, ein Bruchstück eines Gedichtes von Sappho. Es zählt die körperlichen Anzeichen einer >Liebeskrankheit< auf, die als amor hereos bis ins Mittelalter und darüber hinaus bekannt bleiben wird: (...) Das läßt mein Herz im Innern mutlos zusammenkauern. Blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme stirbt, eh sie laut ward, ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal läuft mir Fieber unter der Haut entlang, und meine Augen weigern die Sicht, es überrauscht meine Ohren, mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben alle Glieder, fahler als trockne Gräser bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein Aussehn .
Hier artikuliert sich erotische amechania, und Beistand gegen die numinose Ubermacht kann nur die kultische Beeinflussung ihrer mythischen Repräsentanz gewähren. Auch dafür findet sich bei Sappho ein Text, der große Hymnos an Aphrodite, ein Bittgesang: Bunten Thrones ewige Aphrodite, Kind des Zeus, das Fallen stellt, ich beschwör dich, nicht mit Herzweh, nicht mit Verzweiflung brich mir, Herrin, die Seele. 6
Parthenios deckt diese verstörende Sinnschicht des Mythos, die unter arabischem Einfluß überspielt worden war, wieder auf. Seine Sammlung zeigt aber auch noch etwas anderes: Für den Mythos ist es nicht entscheidend, daß er geglaubt wird - bei den Griechen stieß er stets nur auf relativen Glauben -, sondern daß er weitererzählt wird. Wenn nach Blumenberg der Mythos keine Fragen zu beantworten braucht, sondern »erfindet, bevor die Frage akut wird und damit sie nicht akut wird«, 7 dann bedeutet das auch, daß in Zeiten, die sich als unmythisch oder nachmythisch verstehen, diese Fragen auftauchen werden. Jedoch bleiben - dies Anzeichen des Ungenügens an den Antworten - in Kunst und Literatur die Mythen lebendig, und das nicht nur in Epochen ausgesprochener 5
7
Sappho: Buch I, N r . X I I . In: Sappho: Strophen und Verse, S. ι γ ϊ . - Griechischer Text in: Sappho: Griechisch und deutsch. Hg. von Max Treu. 6. Aufl. München 1979· Sappho: Buch I, N r . I. Strophen und Verse, S. 9. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 219. 18
Remythisierungen. Der folgende Überblick über die erotische Literatur der griechisch-römischen Antike, sowohl der Dichtung als auch einiger wichtiger philosophischer Texte, soll kenntlich machen, was in der Dichtung der Neuzeit tatsächlich >wiedergeborenlieben, begehrenZerfällung< seiner psychischen Einheit. Das Subjekt beginnt, sich selbst zu erforschen. In einem vorpsychologischen Zeitalter konnte dies jedoch nur in veräußerlichernder Sicht, d. h. mythisch geschehen. Daneben finden sich bei Sappho Motive, die in den nächsten Jahrhunderten zahllose Liebesdichter nachschreiben werden, wie ζ. B. das Bild vom >entflammten Herzen< für das erotische Verlangen: (...) aber mir, die verlangt nach dir, ließest kalt werden dieses mein Herz, das vor Sehnsucht (potboi)
brennt.'''
Und wenn es heißt: Eros löst meine Glieder {lysimeles) und stört mich auf, bittersüßes gliederlösenden Eros< kündigt sich hier, vorbereitet von Homer, Hesiod und Archilochos,' 8 ein wichtiges Thema der erotischen Literatur an: nämlich die Leistung des Eros, von der Disziplinierung des Körpers zu befreien, die Eudämonie des Somas, die Rechtfertigung der Sinnlichkeit zu betreiben. Sappho führt diesen Gedanken in einem anderen ihrer Lieder" weiter, in dem sie die Frage nach dem Schönsten, dem antiken Zentralwert, nicht mit dem autoritativ-männlichen - dem homerischen - Angebot, dem Anblick der waffenstarrenden, eben nicht >gelösten< Krieger, sondern mit dem individuellen »Begehren« beantwortet. Der Objektivität (des Epos) wird hier polemisch und antithetisch ein Bekenntnis zur (lyrischen) Subjektivität entgegengesetzt, woran später die
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telalter. In: Theo Stemmler (Hg.): Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters (Universität Mannheim). Tübingen 1990. S. 3 1 - 7 3 . Sappho: Buch II, Lied X X I I I , X V I I . Strophen und Verse, S. 25 u. 26. Sappho: Buch II, Lied X X I V . Ebd., S. 25. Sappho: Lied L X V (ungesichertes Buch). Ebd., S. 58. Zu Homer und Hesiod vgl. hier oben. - Auch Archilochos (fr 1 1 8 ) spricht bereits aus, daß »die Begierde {pothos), mein Freund, hat gliederlösend (lysimeles) mich besiegt.« Frühgriechische Lyriker II, S. 68f. - Eros und Pothos sind im allgemeinen austauschbar, doch drückt zuweilen Pothos noch stärker das Verlangen, die Begierde aus. Vgl. Albin Lesky: V o m Eros der Hellenen, S. 4 i f . Sappho: Buch I, Lied V . Strophen und Verse, S. 13.
38
römischen Elegiker anschließen werden. In einem weiteren Gedicht wird die Sehnsucht schließlich auf einem Bett gestillt. 100 Andererseits ist es das O x y m o r o n der »bittersüßen« (glykypikron) Liebe, das sich nicht etwa erst von Properz oder gar Petrarca herleitet, sondern von der frühgriechischen L y r i k , von Sappho. 1 0 1 Diese jenseits alles Scherzens liegende Anerkenntnis, daß die Liebe, »Gemüt«, »Denken« und »Glieder« erfassend, ein seelisch-geistig-körperliches Phänomen ist, das als heimsuchender Gott den Menschen nicht nur >gliederlösend< und >sehnsuchtsstillend< beglückt, sondern ihn auch zu überwältigen und zu vernichten vermag, ist der frühesten Dichtung bereits eingeschrieben - auch Sapphos Zeitgenosse auf Lesbos, Alkaios (um 600) weiß davon 1 0 2 - und wird von da an nicht wieder vergessen werden. Bei Petrarca und noch im epigonalsten petrarkistischen Sonett ist ein Echo dieser seelischen Ambivalenz vernehmbar, eine Erinnerung an die Verspannung zwischen Eudämonie und Depression, die in der Antike zuerst formuliert worden ist. Zweifellos eignet Sappho, wie Wolfgang Schadewaldt herausgestellt hat, keinesfalls klassische Glätte, sondern »ein Z u g des Daimonischen«, 1 0 3 der Anerkenntnis von Unbewältigtem, der Fähigkeit, dieses Unbewältigte zu artikulieren. Ebenfalls bei Sappho beginnt die Uberlieferung der Gattung von Hochzeitsgedichten, die im jüdischen Kulturraum einige Jahrhunderte später im biblischen Hohen Lied 1 0 4 ihr - auch und gerade f ü r die Literatur des 17. Jahrhunderts - wichtigstes Paradigma erhalten. A u s diesen Vorbildern übernimmt die erotische Poesie nicht nur wichtige Motive, sondern findet in dieser Gattung eine Möglichkeit, sozial sanktioniert über Erotik und Sexualität zu handeln. Der Chorlyriker Ibykos (gest. 522) akzentuiert die die gesamte Antike durchziehende Auffassung von der Ambivalenz der Liebe. Motive des Liebesschmerzes und der grausamen Liebesgötter, wie sie sich hier und 100 101
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Sappho: Buch V, Lied XL. Ebd., S. 40. In einem hellenistischen Epigramm greift Poseidippos (um 275 v. Chr.) dieses Motiv auf: »Er, der so bitter und süß (glykypikros), Eros soll Führer mir sein.« Anthologia Graeca V,i34, Bd. 1, S. 326t. In Fragment 8 nennt Alkaios Eros »diesen unheimlichsten Gott {deinotaton theon).« Frühgriechische Lyriker III, S. 66f. — Vgl. dazu auch Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie, S. 228. Wolfgang Schadewaldt: Die frühgriechische Lyrik, S. 186. Im Hohen Lied begegnen die Zergliederung des erotischen Körpers, der Schönheitskatalog, erotische Metaphern und Preziosen, aber auch Liebeskonzepte wie die Liebe als krankmachend (Lied 4) oder als heftiger Affekt (Lied 5, Kap. 8): »Ihre Brände sind Feuerbrände, / sind Flammen Jahwes. / (Selbst) gewaltige Wasser vermöchten nicht, die Liebe zu löschen; auch Ströme schwemmen sie nicht fort.« Die Bibel, S. 73 5. 39
andernorts zeigen, gelangen später in die Elegie der römischen Erotiker und von dort schließlich zu Petrarca. N o c h ist es allerdings der, ansatzweise allegorisierte, Geschlechtstrieb selbst und nicht eine idealisierte Frau, was die Qualen verursacht. Nichts von der an den Frühlingserscheinungen beobachteten Milde und der jahreszeitlichen Ruhe danach, die der A n f a n g von Fragment N r . 6 schildert, entspricht dem erotischen Begehren des Menschen, von dem es heißt: (...) In mir aber Ruhet die Liebe (eros) zu keiner Stunde, Flammend von Blitzen, dem Nordsturm gleich, Sondern dem thrakischen Nordwind gleich. Der sich entzündet am jähen Blitz, Stürmt sie, von Kypris gesandt, in versengendem Finsterem Rasen, um wehrlos Mich zu betäuben. Sie herrscht allmächtig Tief in der Seele mir . .. I0 * Das erotische Thema subjektiviert die L y r i k , stellt das Individuum und seine Empfindungen in den Vordergrund - und das, obwohl es sich um Chorlyrik mit allgemeinmenschlichem Anspruch handelt. Das Allgemeine ist der A f f e k t , doch die Aussageweise tendiert zur Subjektivität, da offenbar die allgemeinen Kontexte, wie der der Ethik, das Beobachtete nicht vollständig einzubinden vermögen. Es bleibt ein Rest, mit dem sich das Individuum allein konfrontiert sieht: das Rätsel seines Begehrens, dem eine Differenz zur beobachteten Triebstruktur der Natur innewohnt. K a u m anders verhält es sich mit Anakreon (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der nur bedingt als Pate für die scherzende anakreontische Dichtung gelten darf, die sich erst im Verlauf von weiteren 800 Jahren in den anonymen sogenannten Anakreonteen
niederschlagen wird. 1 0 6 Anakreons eigener,
authentischer Dichtung ist die Existenzverunsicherung durch Eros bis zum Todeswunsch nicht unbekannt, wenngleich bereits topisch gestaltet: »vom Leukas-Riff (...) hinab« - von dem sich angeblich auch Sappho zu IOi
106
Ibykos: Fragment 6. Frühgriechische Lyriker IV, S. 42!. - Lesky stellt für die archaische Lyrik fest: »Bei Ibykos verspüren wir es besonders, wie diese Menschen den Eros als die gefährliche, ihr Inneres mit Ubermacht bedrängende oder gar zerstörende Gewalt empfinden. Von beglückender, beseligender Liebe haben wir kaum ein Wort vernommen«. Albm Lesky: Vom Eros der Hellenen, S. 51. Man vergleiche nur das echte Lied nur Nr. 44, in dem das Alter beklagt und die Angst vor »des Hades Schlund« (Frühgriechische Lyriker III, S. 11 of.) artikuliert wird, oder Nr. 5 (ebd., S. io2f.), wo der bereits Ergraute vom Mädchen unbeachtet bleibt, mit der Sorglosigkeit der Anakreonteen. In Nr. 25, 26, 28, 29 (Mörike: Sämtliche Werke 2, S. 887-889) weicht die Verzweiflung des Alten der zuversichtlichen Geschwätzigkeit. 40
Tode gestürzt haben soll - will er sich »in das grau schäumende Meer, taumelnd von trunkner Liebe« stürzen. 107 Als »rasender Wahn und Kriegslärm« 108 bleibt - ähnlich wie bei Ibykos - für Anakreon das Liebesbegehren hauptsächlich irrational und schmerzlich, dennoch setzt bei ihm ein spielerischer Umgang mit Eros ein, hier Jünglingsgestalt - noch nicht kindlicher Knabe - mit goldenen Flügeln, mit dem der Sänger einmal einen »Faustkampf« 109 beginnen möchte. Der sinnliche Anteil der Allegorie schiebt sich in den Vordergrund, der begriffliche Teil tritt fast ganz zurück: ein Vorgang, der symptomatisch ist für die mit dem mythischen Bestand scherzende Literatur. 110 Auch die sexuelle Metaphorik kann sich auf Anakreon als einen ihrer ersten Gewährsmänner berufen: In Lied Nr. 88 wird einem ungefügigen »Thrakischen Füllen« eine Reitschule angekündigt. 111 Diese Spielart erotischer Metaphorisierung wird erst im hellenistischen Epigramm aufgegriffen.
5.
D i e klassische Tragödie
Während der Zeit der Klassik, in der attischen Tragödie, 112 treten die personifizierten Liebesgötter hinter den exemplarisch handelnden Menschen zurück, ohne deshalb die Bühne völlig freizugeben. Albin Lesky hat dies »jene für die griechische Dichtung so bedeutsame doppelte Moti107 108
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Anakreon: Fragment 17. Frühgriechische Lyriker III, S. 104t. Anakreon: Fragment 34. Mörike: Sämtliche Werke 2, S. 854. Lesky (Vom Eros der Hellenen, S. 47t.) übersetzt mit »Wahnsinn und Wirrnis«. Ausdrücklich wird hier Hermann Fränkel (Dichtung und Philosophie, S. 339) nicht zugestimmt, der behauptet, für Anakreon könne die Liebe »eine weiche Trunkenheit« sein. Anakreon, N r . 27. Frühgriechische Lyriker III, S. io6f. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist N r . 49 der »Anakreonteia«, in der die Eros-Allegorie völlig aufgelöst wird, weil ihr Bildanteil alles, der Begriff aber beinahe nichts ist: »Unlängst - ich band gerade / Mir einen Kranz - da fand ich / Den Eros in den Rosen. / Ich nahm ihn bei den Flügeln, / Warf ihn in meinen Wem und / So trank ich ihn hinunter. / N u n kitzelt er mich peinlich / Ums Herz mit seinen Flügeln.« Mörike: Sämtliche Werke 2, S. 902. Anakreon: Fragment 88. Frühgriechische Lyriker III, S. i2of. — Vgl. auch A n thologia Graeca V 2 0 3 , Bd. 1, S. 364. - N o c h 1728 finden sich in einer Sammlung galanter Gedichte zwei Texte, die mit dieser erotischen Metaphorik arbeiten: »Sie macht Ihn zum Rittmeister« und »Auff Ihr Reiten«. Dehciae Poeticae, S. 65!. u. S. 1 1 2 . Die derb-sexuellen Stoffe der attischen (und römischen) Komödie sind für die Geschichte der erotischen Lyrik fast ohne Bedeutung, so daß diese Gattung hier weitgehend unberücksichtigt bleiben kann. Allerdings greift Aristophanes in seiner »Lysistrate« die Polarität von Krieg und Sexualität auf, die der erotischen Dichtung schon im mythischen Modell der Aphrodite-Ares-Beziehung
41
vation menschlichen Geschehens« genannt. 1 1 3 I m neuen Kontext der Tragödie verstärkt sich die Deutung v o n E r o s und A p h r o d i t e als allgewaltige Kräfte, die Menschen und Götter in V e r w i r r u n g setzen und in unauflösbare Verstrickungen führen, so daß mit dem erotischen nun auch politische Themen transportiert werden. W a r dies v o n der archaischen L y r i k schon bedacht w o r d e n , 1 1 4 so w i r d jetzt stärker die Schattenseite dieser Mächtigen akzentuiert. Wie jede große Gottheit, sind auch E r o s und Aphrodite groß durch Ambivalenz, durch Segen und durch Schrecken; als ein Beispiel sei hier ein Chorlied aus der Antigone
des
Sophokles
(497/496-406) angeführt: Du, Eros, siegst immer im Kampf: Ο Eros, du stürzt dich auf Beute, du, der auf den zarten Wangen des Mädchens verborgen nächtigt! Du stürmst dahin über das Meer; Landsmanns Gehöft triffst du: Kein unsterblicher Gott kann dir entrinnen, dir keiner der Eintagsmenschen; doch die Ergriffnen rasen. Du bist's, der auch rechtlichen Sinn Zur Missetat lockt und zum Unrecht. Du hast auch entfacht den Streit hier Der Männer verwandten Blutes. Doch siegt mit Macht Sehnsucht (Himeros) und zieht Hin zu dem Blick holder Jungfrau, über Gewalt menschlicher Vorschrift Hinaus: unbezwingbar treibt ihr Spiel Aphrodites Gottheit. 11 ' Als H ö h e p u n k t der dramatischen Gestaltung der Mächte v o n E r o s und Aphrodite kann die Tragödie Hippolytos
113 114
rIi
des Euripides (485/484-406)
zugrunde liegt und sich zu Paradoxa wie der geharnischten Venus und der militia amoris, aber auch zur Vorstellung von Aphrodite als einer Friedensgöttin ausgestalten kann. Bei Aristophanes feiern die Frauen am Ende ihren Sieg mit einem Preislied: »Rufet die Götter auch, die uns die Zeugen sind, / Ewig gedenkende, unseres / Herzen erfreuenden Bundes des Friedens, den / Hier Aphrodite gestiftet hat.« Aristophanes: Lysistrate, V. 1287-1290. Komödien, S. 412. Albin Lesky: Vom Eros der Hellenen, S. 71. Vgl. z.B. Theognis, El. Β', V. 13Sjff.: »Listenspinnende Göttin von Kypros, Herrin Kytheras, / warum verlieh dir Zeus eine so riesige Kraft? / Du überwindest die Klugheit der Menschen, und niemand bewährt sich / derart stark und geschickt, daß er zu fliehen vermag.« Theognis: Poemes elegiaques, ed. Carriere, S. 135; Griechische Lyrik, ed. Ebener, S. 149. Sophokles: Antigone, V. 781-800. Tragödien und Fragmente, S. 286-289.
42
gelten, ein S t o f f , der in erosskeptischer Literatur w i e d e r h o l t b e g e g n e t . " 6 N i c h t n u r erscheint hier das f ü r die antike L i t e r a t u r w i c h t i g e M o t i v der L i e b e als einer K r a n k h e i t (nosos),1'7 werden
als
s o n d e r n A p h r o d i t e u n d der ihr z u -
geordnete
Eros
»Beherrscher
andron)IlS
v o r d e m H i n t e r g r u n d einer alternativen apollinischen H a l -
der
Menschen«
t u n g 1 1 9 kritisiert. A u c h in seinen T r a g ö d i e n Helena, Iphigenie
in Aulis
u n d Medeia
Paris-Wahl, um Aphrodites
Die
(tyrannon Troerinnen,
v e r w e n d e t E u r i p i d e s den M y t h o s
schreckliche M a c h t
zu
der
demonstrieren. 1 2 0
A u s g e r e c h n e t dieses M o t i v , das i m M y t h o s als A u s l ö s e r des T r o j a n i s c h e n Krieges dient, w i r d i m H e l l e n i s m u s z u einem der beliebtesten M o t i v e erotischen Scherzens ü b e r h a u p t . 1 2 1 M e n s c h e n u n d selbst G ö t t e r als Spielbälle der Liebe: die erotische L i t e r a t u r w i r d sich dieser K o n z e p t i o n imm e r w i e d e r erinnern u n d lediglich entscheiden, o b sie sie ernst 1 2 2 o d e r heiter a u f f a s s e n soll. 116
117
118 119 120
121
122
Vgl. die Tragödie »Hippolyt« des Stoikers Seneca, in der es heißt: »Wenn er (Amor) schnellt sein sich'res Geschoß vom Bogen, / so ergeußt der Schmerz sich durch alle Glieder, / Heiße Gluth schleicht sengend durch alle Adern. / Nimmer ruht der schalkhafte Knab'; im ganzen / Erdenrund gebietet der kleine Schütze. (...) Alles gehorcht / Dem Trieb der Natur; / Nichts widersteht.« Lucius Annaeus Seneca: Tragödien 1, S. 207-209. - Vgl. auch den 4. Brief in Ovids »Heroides«: »Phaedra an Hippolytus«. Euripides: Hippolytos, V. 269, 394, 477. Sämtliche Tragödien 1, S. 204f., 2iof., 2i6f. u. ö. - Vgl. Albin Lesky: Vom Eros der Hellenen, S. 62: »Erst Euripides hat Menschen im Sturm erotischer Leidenschaft auf die Bühne gebracht«. Krankheit ist hier durchaus im Verständnis der antiken, hippokratischen Medizin zu verstehen. Durch Galen und Avicenna gelangt diese Auffassung in die mittelalterliche Traktatliteratur; vgl. dazu auch Michel Foucault: Die Sorge um sich, v. a. S. 13 iff. Euripides: Hippolytos, Erstes Standlied, V. 538. Sämtliche Tragödien 1, S. 220t. Gegenspielerin Aphrodites ist Artemis, Apollons Schwester. Vgl. z.B. das erste Standlied in »Iphigenie in Aulls«, V. 573-589. Sämtliche Tragödien 5, S. I76f. - Schon Alkaios hatte in Fr. 74Α diesen Zusammenhang gesehen: »Kypris / Lockte so durch Liebe die Tochter fort des / Zeus und der Leda.« Die Folge: »Viele Brüder birgt nun die schwarze Erde, / Alle kampfbesiegt auf dem Feld vor Troja, / N u r wegen jener.« Frühgriechische Lyriker III, S. 86f. - Ibykos (Fr. 3) spricht vom »tränenerfüllten (...) Kampf« wegen der »goldlockigen Kypris«. Frühgriechische Lyriker IV, S. 3Sf. Hatte Sappho diesem Stoff noch die Tragik gelassen (vgl. Buch I, Lied V. Strophen und Verse, S. 13), so bereitet die spätere hellenistische, vor allem epigrammatische Dichtung die scherzhaft-frivole Gestaltung vor, die dann Lukian endgültig vollzieht. Dabei wird natürlich vor allem der Vorgeschichte, der ParisWahl, die Aufmerksamkeit geschenkt. In der Spätantike allegorisiert Athenaios von Naukratis die Paris-Wahl zu einer Entscheidung zwischen bedone und arete. Im Mittelalter baute dies Fugentius zu einer Lehre von den drei menschlichen Lebensweisen aus. Die drei Göttinnen erscheinen jetzt allegorisiert zur vita contemplativa, vita activa und vita voluptaria. Vgl. dazu Berthold Hinz: Venus im Norden. In: Venus. Bilder einer 43
Im 3. Jahrhundert γ. Chr. erstellt dann Hermesianax den ersten Dichter· und Philosophenkatalog der Erotik, der von Orpheus bis Euripides und von Hesiod bis Aristipp reicht, die sich alle »nicht dem schrecklichen Wüten des Eros entziehen« konnten.123 Es scheint also, als sei jetzt, am Ende der klassischen Periode, das Thema vorerst summier- und abschließbar.
6.
Die hellenistische Literatur
Mit dem bedeutendsten Vertreter des alexandrinischen Hellenismus, Theokrit (ca. 310-250 v. Chr.), und seinen Eidyllia tritt eine neue, moderne Gattung 124 in die Literatur, die für die erotische Dichtung von unabsehbarer Wirkung sein wird, denn mit der Einführung eines spezifischen Lustraumes, des später so genannten locus amoenus,125 und eines erweiterten Personals beschreitet die Bukolik auch in erotischer Hinsicht neue Wege. Die poetischen Schäfer Daphnis, Korydon und Thyrsis sowie die Nymphe Galateia (um nur die nachhaltig wirkenden Namen zu nennen) sind die Protagonisten in einer halb realistischen, halb artifiziellen Natur.
123 124
Göttin. Hg. von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Katalog zur Ausstellung der Alten Pinakothek. München 2001. S. 32-49. Hier S. 39. Griechische Lyrik, ed. Ebener, S. 420—422. Bukolische Elemente sind zuvor in der »Ilias« (18,525^) zu finden, und ein verschollenes Lied des Stesichorus (um 600 v. Chr.) soll eine Totenklage auf den Schäfer Daphnis zum Inhalt gehabt haben. Zur Zeit Theokrits kannte man eine Gemeinschaft junger Männer um Philetas von Kos, die in schäferlichem Kostüm und mit poetischen Decknamen dichteten; er wird in Hermesianax' Katalog mitsamt eines Mädchens Bittis erwähnt (Kritik an der Orientierung an solchermaßen dunklen Quellen übt Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts dargestellt in einzelnen Untersuchungen. Stuttgart, Bad Cannstadt 1998. S. 21). - Zu Namen und Gattung der antiken Idylle vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Die Idylle. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Stuttgart 1977 (Slg. Metzler 63).
^ S.7-15. Die klassische Definition bei Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 4. Aufl. Bern, München 1963. S. 202: »Er ist (...) ein schöner, beschatteter Naturausschnitt. Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu. Bei Theokrit und Vergil sind solche Schilderungen nur inszenierende Staffage für pastorale Dichtung.« - Vgl. Theokrit: VII. (Erntefest), V. 1 3 4 - 1 3 9 : »Viele Pappeln und Ulmen rauschten oben über unserem Kopf; und das nahe heilige Wasser flöß plätschernd aus der Nymphen-Grotte herab. (...) es sangen Lerchen und Finken, es gurrte die Taube.« Gedichte, S. 66i. Vgl. auch X X I I . (Die Dioskuren), V. 36-42; S. 1 5 6 f . ; Vergil, 1. Ekloge.
I2i
44
Als Hirte oder Hirtin hat man viel Muße und ist verliebt, so daß von Beginn an Bukolik und Erotik verbunden sind. 12 '' Wenn Eros und Aphrodite noch als Agierende auftreten, dann indirekt im Gesang, der als Wettstreit unter Hirten eine große Rolle als Affektsublimierung spielt. Das Wirken der Liebesgötter erscheint aber auch hier - das dürfte bei der Gattung Idylle 1 2 7 überraschen - ebenso zerstörerisch wie in der vorangegangenen Literatur: Kypris (...) sprach: »Du, Daphnis, prahltest doch, den Eros niederzuringen. Ja, bist du nicht selbst vom schlimmen Eros niedergerungen?« Idylle> ausgeschlossen sind (vgl. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 3). Theokrit: Eid. I. (Thyrsis oder Lied), V. 95-102. Gedichte, S. 14t'. Ebd., V. 93. Vgl. Theokrit: Eid. XI. (Der Kyklop), V. if. Gedichte, S. 86f. Die vielleicht ausführlichste literarische Nosographie der Antike gibt Theokrit in »Eidyllion« II. (Die Zauberin), V. 85-110. Ebd., S. 24-27: »Aber eine sengende Krankheit (nosos) schüttelte mich, und ich lag im Bett zehn Tage und zehn Nächte. / (...) Und meine Haut wurde oft ähnlich wie Gelbholz, vom Kopf fielen sämtliche Haare aus, und allein Knochen waren noch da und Haut. (...) Sobald ich ihn bemerkte (...) wurde ich ganz von Kälte erfaßt, mehr als Schnee; von der Stirne ergoß sich mein Schweiß, gleich feuchten Tautropfen, und kein Wort konnte ich sprechen — nicht mal soviel, wie im Schlaf Kinder wimmern, wenn sie nach ihrer lieben Mutter rufen - , sondern ich erstarrte wie eine Puppe überall an meinem schönen Leib.« - Vgl. damit die körperlichen Symptome der Liebeskrankheit bei Sappho (s. hier oben). Theokrit: Eid. III. (Das Ständchen), V. 1 5 - 1 7 . Ebd., S. 32!'. 45
die gattungsbedingte Statik überhaupt Handlung zuläßt - der meisten eidyllia könnte ohne Götterwelt, einzig aus dem - nicht mehr notwendig allegorisierten - Liebestrieb der Protagonisten heraus ablaufen. Theokrits schlichtes Personal von Hirten und Gestalten der niederen Mythologie ist, ohne allzu burlesk zu werden, mit wenig Rücksichtnahmen darstellbar für die erotische Dichtung naturgemäß ein Vorteil. Das Interesse entzündet sich bei Theokrit an menschlichen Verhaltensweisen, wie die an Galateia beobachtete: »so flieht sie den Verliebten, und den Nicht-Verliebten verfolgt sie«.133 Die Begebenheiten werden in einer Perspektive dargestellt, die Renate Böschenstein als »ironischen Realismus«134 bezeichnet hat und die von den sentimentalischen Nachfolgern nicht übernommen wird. 13 ' Neben derben Anspielungen auf homosexuellen Verkehr unter den Hirten finden sich freizügige Beschreibungen des heterosexuellen Koitus und das >Stillen der Sehnsüchte Schnell wärmte sich Haut an Haut, die Gesichter waren erhitzter als zuvor, und süß war unser Geflüster. Und, um dir nicht lang und breit in den Ohren zu liegen, liebe Selene, vollzogen wurde das Wichtigste, und ans Ziel unserer Sehnsucht (pöthon) kamen wir beide. 1 3 6
Der Weg führt nicht zufällig zurück zu Sappho.137 Es scheint, als sei nach ihrem Vorbild jetzt bei Theokrit die erotische Literatur endgültig beim Menschen und seiner Sexualität angelangt. Die bukolische Landschaft und das poetische Personal Theokrits stehen - trotz der innovativen Realitätsnähe - nicht in einem unmittelbaren Abbildungsverhältnis zur Lebenswirklichkeit, sondern kontrastieren auf 133
134
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Theokrit: Eid. VI. (Wettsänger), V. i6f. Ebd., S. 54I:. - Vermutlich handelt es sich um eine Reminiszenz an ein Epigramm des Kallimachos: »Ebenso handelt mein Eros: Fliehendes weiß er zu jagen, / aber an dem, was sich leicht darbietet, fliegt er vorbei.« (Griechische Lyrik, ed. Ebener, S. 340). Auch dies ein Indiz dafür, daß Theokrit die mythische Aussage in den menschlichen Bereich projiziert. Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 10. Einen Schritt weiter gehen Bernd E f f e und Gerhard Binder, wenn sie von einem »ironisch-kritischen Realismus« sprechen. In: Bernd Effe, Gerhard Binder: Die antike Bukolik. Eine Einführung. München und Zürich 1989. S. 29. Vgl. Christiane Caemmerer: Siegender Cupido, S. 25. Theokrit: Eid. II. (Die Zauberin), V. 1 3 9 - 1 4 3 . Gedichte, S. i S f . Das Stillen der Sehnsucht bei Theokrit ist vermutlich eine Übernahme aus Sappho. In N r . X L des 5. Buchs heißt es: »und auf Betten, die weich bereit, / zarte ... / hast gestillt deine Sehnsucht ...«. Strophen und Verse, S.40. Es wäre einer genauen Untersuchung wert, ob Theokrit hier (und andernorts) - eingedenk seiner grundsätzlich satirischen Haltung und der Philologie der Alexandriner - Sappho im niederen Medium der Hirtendichtung parodiert. Zitationen sind bei den Alexandrinern zumeist Destruktionen.
46
spannungsvolle und differenzierte Weise natürliches (ländliches) mit zivilisiertem (städtischem) Leben, naive Handlung mit distanzierter Perspektive, 1 ' 8 den niederen Stoff des Mimos mit dem epischen Versmaß des Hexameters. Vergil verstärkt in seinen Eclogia (42-39 v. Chr.) diese Tendenz und Spannung, indem er einerseits das mythopoetische >Arcadia< in die Literatur einführt und die Vorstellung des Goldenen Zeitalters 139 ausgestaltet, andererseits jedoch auch konkrete römische Geschichte wie Bürgerkrieg und Landnahme einbezieht. Vergil übernimmt nicht nur Theokrits Personal und fügt weitere Figuren wie den Schäfer Damon oder die Schäferinnen Amaryllis, Phyllis, Neara und Delia hinzu (die allesamt in der frühneuzeitlichen Literatur wiederbegegnen), sondern adaptiert auch die Eros-Konzeption der griechischen Tradition, der übermächtigen140 und bittersüßen141 Liebe als Werk der grausamen Liebesgötter. 142 Wie schon bei Theokrit, so kann auch bei dem römischen Autor die Liebe als eine die Idyllik destabilisierende Macht erscheinen, als ein die Harmonie durchbrechender Affekt: »me tarnen urit amor; quis enim modus adsit amori?« (doch ich entbrenne in Liebe: wie gäb es auch Maß in der Liebe?). 143 Aber dies bleibt ambivalent, denn auch ein Einspruch ge-
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Effe, Binder: Antike Bukolik, S. 19: »Der die Annehmlichkeiten zivilisiertgroßstädtischen Lebens in Syrakus bzw. Alexandreia genießende und mit allen Elementen zeitgenössischer Kultur und einem Höchstmaß literarischer Bildung ausgestattete Dichter blickt aus souveräner Distanz auf die Primitivität und Rohheit einfacher Schichten herab und entlarvt in geheimem Einverständnis mit seinem gleichgestellten und gleichgesinnten Publikum die für den engen Horizont der kleinen Leute typischen Verhaltensweisen.« — Diese Wertung, so richtig sie in ihren Grundbestimmungen sein mag, erscheint jedoch zu einseitig, denn der Leser Theokrits wird auch sympathisierende Anteilnahme des Autors mit seinem Personal feststellen. Vergil: Bucolica. Ecloga IV, 8-10: »tu modo nascenti puero, quo ferrea primum / desinet ac toto surget gens aurea mundo, / casta fave Lucina: tuus iam regnat Apollo.« Gedichte 1, S. 29. (Dieses Knaben Geburt beschirme, reine Lucina! / Er macht ein Ende der eisernen Zeit; eine goldene Menschheit / wird die Erde dann füllen: schon jetzt regiert dein Apollo.) Hirtengedichte, S. 16. Vergil: Bucohca. Ecloga X , 69: »omnia vincit Amor«. Gedichte, S. 85. Vergib Bucolica. Ecloga III, 109 f: »quisquis amores / aut metuet dulcis aut experietur amaros.« Gedichte, S. 26 (jeder, der süße / Liebe zagend ersehnt oder schon ihre Bitterkeit kostet). Hirtengedichte, S. 15. Vergil: Bucolica. Ecloga VIII,43-45: »nunc scio, quid sit Amor, duris in cotibus illum / aut Tmaros aut Rhodope aut extremi Garamantes / nec generis nostri puerum nec sanguinis edunt.« Gedichte, S. 6 jf. (Gut kenne Amor ich jetzt: es gebaren aus hartem Granit ihn / Tmaros und Rhodope wohl und, am Ende der Welt, Garamanten: / Nicht von unserer Art, nicht von Fleisch und Blut ist der Knabe.) Hirtengedichte, S. 30. - V I I I , 4 8 : »crudelis tu quoque, mater.« Gedichte, S. 66 (doch du auch, Mutter, warst grausam). Ebd. Vergib Bucolica. Ecloga 11,68. Gedichte, S. 15; Hirtengedichte, S. 9.
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gen die autoritativen Mäßigungspostulate der Stoa und der Peripatetiker klingt als Subtext mit. Theokrits ironische Perspektive, die die Schlichtheit der Schäfer aufs Korn nahm, adaptiert Vergil hingegen nicht. Er schreibt die Vorlage nach seinem eigenen Gattungsverständnis um, indem er das Hirtenidyll zur Gegenwelt der politischen Wirklichkeit idealisiert. Dies ist die entscheidende Weichenstellung für das künftige Gattungsverständnis: nicht satirische, sondern sentimentalische Perspektivik wird dominieren. Die prekäre Verspannung zwischen Realismusverpflichtung und utopischer poiesis wird der bukolischen Liebesdichtung bis in die Neuzeit hinein jedenfalls anzumerken sein. Die bukolische Dichtung realisiert sich in der Folgezeit vor allem im Roman und im Drama, doch leiht sich auch die Lyrik die Topoi der arkadischen Landschaft und vor allem das verliebte Schäferpersonal aus. Für den bukolischen Roman wird das Muster in spätantiker Zeit mit Daphnis und Chloe des Longos (vermutl. 2. Jh. n. Chr.) aufgestellt, der das AbenteuerSchema des griechischen Liebesromans mit der Bukolik von Theokrit und Vergil verbindet. Longos verleiht seiner Geschichte, die als für die neuzeitliche Pastoraldichtung wirkungsmächtigster griechischer Text bezeichnet wurde, 144 eine starke erotische Spannung: Eros erscheint hier zwar schon als das nackte, rotblonde »Bübchen« (pais),Ι+ί und es wird bereits retrospektiv und ironisch von der »ganzen erotischen Mythologie« (pasan erotiken mythologianf·6 gesprochen, doch das Spiel von Unschuld und erwachender Sexualität der Liebenden oder die Darstellung von Daphnis' Erfahrungen in der »Liebesschule« (erotikes paidagogias) der Lykainion 147 haben dem Roman den Ruf des Lüsternen eingetragen, so daß sich noch Goethe zu einer Apologie veranlaßt sah.148 Immerhin endet der Roman mit dem bis zum Schluß hinausgezögerten Koitus von Daphnis und Chloe, der nach Aussage des Textes mehr ist als »nur Hirtenspiel«.149 Die Liebeserfüllung ist im Rahmen der Bukolik, das haben die Beispiele gezeigt, trotz ausgemalten Liebesleids immer möglich, so daß hier der früh144 I+i
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Vgl. Effe, Binder: Antike Bukolik, S. 48. Longos: Daphnis und Chloe, 11,4· 1. Longus: Pastorales (Daphnis et Chloe), S. 30; dt. Longos: Daphnis und Chloe, S. 27. Ebd. IV,17.3. Pastorales, S. 92, Daphnis und Chloe, S. 78. Ebd. 1 1 1 , 1 9 . 1 . Pastorales, S. 68, Daphnis und Chloe, S. 56. Vgl. Goethe zu Eckermann am 20. 3. 1 8 3 1 . Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 498-500. Longos: Daphnis und Chloe, IV,40.3. Vgl. Pastorales, S. 107, Daphnis und Chloe, S. 90: »Daphnis und Chloe legten sich nackt zueinander, umarmten und küßten sich und schliefen in dieser Nacht nicht mehr als die Eulen; Daphnis tat, was Lykainion ihn gelehrt hatte, und erst jetzt lernte Chloe, daß alles, was sie einst am Waldrande getrieben hatten, nur Hirtenspiel gewesen war.« 48
neuzeitlichen erotischen Dichtung eine der Traditionen zur Verfügung steht, die dezidiert gegen die übermächtige des petrarkistischen Liebesverzichts ausgespielt werden kann. Zur Vorstellung arkadischen Glücks gehört der naive Liebesgenuß - wenn nicht die Bukolik in die Tugenddiskussion des geistlichen Schäferspiels umgebogen wird. 150
7.
Römische Liebesdichtung I: Catull und H o r a z
Vergil hatte an die bukolische Gattung Theokrits angeschlossen, jedoch wurde bereits einige Jahre vor ihm erstmals ein römischer Autor als Fortführer und Erneuerer der Liebesdichtung wichtig: Catull (84-54 v. Chr.). Seine Carmina zeigen sich von der griechischen Literatur, insbesondere von Sappho, 1 ' 1 insofern stark beeinflußt, als sie nicht nur zum großen Teil die hellenistischen Gattungen Epigramm und Elegie, sondern auch die leidenschaftliche Konzeption von Liebe als »flamma«, »vesania« und »morbus« sowie der grausamen Liebesgötter1'2 aufweisen. Mit seinen satirischen Invektiven vermag Catull jedoch selbständige Akzente mit konkreten Gegenwartsbezügen zu setzen. Im Niedergang der römischen Republik und ihres allseits politisierten Lebens reflektiert nun die Liebesdichtung die Möglichkeiten des privaten und individuellen Lebens. Das Subjekt mit seinen eigenen Erfahrungen öffnet einen poetischen Innenraum, und die gesellschaftliche Referenz dieser Literatur ist die 150
Die aus der Antike schöpfenden weltlichen und geistlichen Schäferspiele der Renaissance und des Barock erhalten ihre großen Paradigmen zunächst in Italien mit Tassos »Aminta« (1573) und Guarinis »Pastor fido« (1590), etwas später auch in Frankreich mit d'Urfes »Astree« (1607—1627). — Zur christlichen Uberformung der Gattung vgl. Effe, Binder: Antike Bukolik, S. 144: »Um 400 (...) finden sich Ansätze einer christlichen Hirtendichtung, die offensichtlich einem Leserbedürfnis entgegenkam und zugleich die ihren Inhalten nach bedenkliche, weil der erotischen nahestehende Poesie einer neuen Funktion zuzuführen und christlich zu legitimieren gedachte.«
151
Nicht nur der N a m e der Geliebten - Lesbia - ist eine Hommage an Sappho (die in 35,16 namentlich erwähnt wird), sondern auch die Übernahme ihres Liebesleid-Gedichts (s. o.) in carm. 51. Der Schluß jedoch, bei Sappho nur fragmentarisch überliefert (»Aber alles trägt sich noch da ...«. Strophen und Verse, S. 18) erhält bei Catull abweichend eine pessimistische Wendung: »Otium, Catulle, tibi molestullmst: / otio exultas nimiumque gestis. / otium et reges prius et beatas / perdidit urbes.« (Muße, Catull, macht dir Mühsal, Muße läßt dich übermütig werden, zu viel begehren; Muße hat einst schon Könige und blühende Städte zugrunde gerichtet.) Catull: Sämtliche Gedichte, S. j8f.
152
C. Valerius Catullus: Sämtliche Gedichte. Vgl. carm. 61,178; S. 76 (carm. 68,92!.; S.98: »flamma«); carm. 100,7; S. 158: »vesana«; carm. 76,25; S. 144: »deponere morbum«; zur Grausamkeit der Liebesgötter vgl. carm. 64,94-98; S.98, und carm. 68b,jif.; S. 130.
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G r o ß s t a d t R o m . M i t C a t u l l s » L e s b i a « b e g i n n t die R e i h e b e r ü h m t e r r ö m i s c h e r puellae,
d e r sinnlicher L i e b e a u f g e s c h l o s s e n e n M ä d c h e n , E h e f r a u e n
o d e r H e t ä r e n 1 ' 3 - u n d es b e g i n n t das officium1^
o d e r servitium
amoris,
in
d e m sich L i e b e z u Z w a n g u n d K r a n k h e i t v e r w a n d e l n k a n n . D i e T r e u l o sigkeit L e s b i a s läßt d e n S p r e c h e r klagen: nom iam illud quaero, contra me ut diligat ilia aut, quod non potis est, esse pudica velit: ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum. (Nicht mehr bitte ich darum, dal? sie mir Gegenliebe schenke, auch nicht mehr um das Unmögliche, daß sie sich schamhaft verhalte; ich wünsche nur selbst, gesund zu sein und diese gräßliche Krankheit abzulegen.) 1 " S t ä r k e r n o c h als bei d e n B u k o l i k e r n w i r d das L i e b e s l e i d nicht m e h r allein u n d u n m i t t e l b a r als v o n d e n G ö t t e r n h e r r ü h r e n d e r k a n n t , s o n d e r n ist n u n k o n k r e t an das V e r h a l t e n einer (realen 1 ® 6 ) F r a u g e b u n d e n , die w i e hier L e s b i a n e b e n e i n a n d e r h a r t h e r z i g u n d treulos sein k a n n . B e i C a t u l l steht, t r o t z Intertextualität u n d a p o l o g e t i s c h e r E l e m e n t e seiner V e r s e , die L i e b e s l y r i k v e r m u t l i c h so n a h z u r g e s e l l s c h a f t l i c h e n Realität, w i e es sehr l a n g e nicht m e h r sein w i r d . Einige v o n Catulls erotischen M o t i v e n w e r d e n v o n den neulateinisch d i c h t e n d e n H u m a n i s t e n u n d i h n e n f o l g e n d v o n d e n A u t o r e n des 1 7 . J a h r h u n d e r t s u n d 1 8 . J a h r h u n d e r t s begeistert a u f g e g r i f f e n : D a r u n t e r sind v o r a l l e m z u r e c h n e n das M o t i v des mit e i n e m S p e r l i n g k o s e n d e n
Mäd-
c h e n s 1 * 7 u n d das K u ß - M o t i v . 1 * 8 A l s w i c h t i g e r , d o c h z u g l e i c h a u c h w e n i 1
154
155 156
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158
In Sermonum 1,2,73—134 preist Horaz die schnelle, ehrliche und gefahrlose Befriedigung durch Dirnendienste gegenüber problematischen Verhältnissen mit verheirateten Frauen. Catull: carm. 75: »Huc est mens deducta tua, mea Lesbia, culpa / atque ita se officio perdidit ipsa suo« (So weit ist es mit meinem Herzen durch dein Verschulden gekommen, meine Lesbia, und so sehr hat es in deinem Dienst sein eigenstes Wesen verloren). Sämtliche Gedichte, S. 142L Catull: carm. 76,23-25. Sämtliche Gedichte, S. 144t. Vgl. dazu Niklas Holzberg: »Gib mir tausend Küsse, dann noch hundert...« Catull und das Verhältnis der Geschlechter im alten Rom. In: Anton G . Leitner (Hg.): Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik. 8. Jg., Nr. 8 (2000/2001). S. 1 2 5 - 1 2 8 . Catull: carm. 2,1-4: »Passer, deliciae meae puellae, /quicum ludere, quem in sinu tenere, / quoi primum digitum dare adpetenti / et acris solet incitare morsus« (Sperling, meines Mädchens Wonne, mir dir spielt sie gern, hält dich am Busen, bietet dir die Fingerspitze zum Angriff und reizt dich zu heftigen Bissen!). Sämtliche Gedichte, S 6f. - Vgl. damit noch die Szene bei Lotte in Goethes »Werther«. Catull: carm. 5,7!.: »da mi basia mille, deinde centum, / dein mille altera, dein secunda centum, / deinde usque altera mille, deinde centum.« (Gib mir tausend Küsse, dazu noch hundert, nochmals tausend und noch ein zweites Hundert, dann noch weitere tausend und noch hundert!) Sämtliche Gedichte, S. iof. Vgl.
5°
ger f o l g e n r e i c h z u w e r t e n ist C a t u l l s G e f ü h l s a n a l y s e , in d e r er ζ . B . eine in erotischer D i c h t u n g oftmals vergessene oder b e w u ß t unterschlagene U n t e r s c h e i d u n g in d e n B l i c k b e k o m m t , die v o n amare
u n d bene
velle.IW
C a t u l l b e d e n k t w o h l a u c h z u m ersten M a l die N o t w e n d i g k e i t einer A p o l o g i e e r o t i s c h e r D i c h t u n g u n d p r o b l e m a t i s i e r t das unterstellte
Abbil-
d u n g s v e r h ä l t n i s v o n e r o t i s c h e r F i k t i o n u n d b i o g r a p h i s c h e r Realität: nam castum esse decet pium poetam ipsum, versiculos nihil necessest (Anständig zu sein ziemt dem rechtschaffenen Dichter — für seine Person; für seine Verslein ist das keineswegs nötig.) 1 6 0 D i e s e s P r o b l e m u n d seine L ö s u n g d u r c h die strikte T r e n n u n g v o n L e b e n u n d D i c h t u n g - v o n Ovid 1 *" 1 u n d M a r t i a l 1 6 2 ü b e r n o m m e n - w e r d e n f o r t a n die erotische D i c h t u n g begleiten u n d u m so d r i n g l i c h e r v e r h a n d e l t w e r d e n , je m e h r sich das g e s e l l s c h a f t l i c h e L e b e n christianisiert. F r e i l i c h w i r d hier a u c h die W e i c h e n s t e l l u n g v o r g e n o m m e n , d u r c h die erotische D i c h tungen zu bloßen Simulakren werden können. H o r a z gilt v o r allem als D i c h t e r des memento
mori u n d carpe
diem,l6}
die er v o n d e m g r i e c h i s c h e n L y r i k e r M i m n e r m o s ü b e r n o m m e n hat. I n d e r
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163
auch carm. 7, ebd., S. 12t. - Dieses Gedicht hat im Humanismus eine eigene erotische Untergattung begründet, das Kußgedicht (vgl. Johannes Secundus' oder Flemings »Basia«). - Vgl. dazu neuerdings die antiromantisch Lesbia als Fellatrix deutende Analyse von Niklas Holzberg: »Gib mir tausend Küsse...« Catull: carm. 72,/{.: »quod amantem iniuria talis / cogit amare magis, sed bene velle minus.« (Weil einen Liebenden eine solche Kränkung zwingt, heißer zu begehren, aber weniger herzlich zu lieben, (angenäherte, aber sinngerechte Ubersetzung)) Sämtliche Gedichte, S. 14οι. Catull: carm. 16,yf. Sämtliche Gedichte, S. 24t. Vgl. Ovid: Amores III, 12, w o der Elegiker scherzhaft klagt, seine Geliebte nun mit all seinen Lesern teilen zu müssen (Amores / Liebesgedichte, S. 164-167). In den »Tristia« freilich ändert sich der Ton zur wirklichen Klage, nachdem der verbannte Ovid an semer eigenen Person erfahren mußte, daß eine Trennung von Literatur und Leben beim Publikum und bei den Mächtigen nicht ohne weiteres vorauszusetzen ist: Tristium II,353-356: »crede mihi, distant mores a carmine nostri - / vita verecunda est, Musa iocosa mea - / magnaque pars mendax operum est et ficta meorum: / plus sibi permisit compositore suo.« (Glaub mir: mein Wandel ist sehr von meinem Gedicht unterschieden; / Schamhaft ist das Leben, scherzhaft mein Lied - / Lug und Erdichtungen sind ein beträchtlicher Teil meiner Werke: / Schlimmeres haben sie sich als ihr Verfasser erlaubt.) Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto, S. 88-91 (V. 354 in eigener Übersetzung). Der Rückgriff auf Catulls Argumentation ist offensichtlich. Martial: ep. lib I, IV,8: »Lasciva est nobis pagina, vita proba.« M. Valerii Martialis Epigrammaton Libri, S. 168. Quintus Horatius Flaccus: carm. I,XI,7f·: »dum loquimur, fugerit invida / aetas:
51
T a t sind die K ü r z e der J u g e n d , l 6 + die Vergänglichkeit der L i e b e , 1 6 '
die
m e l a n c h o l i s c h e A l t e r s l i e b e 1 6 6 u n d d i e A l l m a c h t des T o d e s 1 6 7 d i e w i e d e r k e h r e n d e n T h e m e n in seinen vier O d e n b ü c h e r n ( 2 3 / 1 4 v. Chr.). D i e f r ü h neuzeitliche Literatur w i r d diese melancholische
Grundhaltung -
der
M e n s c h ist d e r Z e i t u n d d e m T o d u n t e r w o r f e n - a u f g r e i f e n u n d k ö n n t e weithin mit gleichem Recht w i e petrarkistisch auch horazisch
genannt
w e r d e n . H i e r i n u n d in seiner Leistung, die archaische griechische L y r i k f o r m a l u n d inhaltlich f ü r die r ö m i s c h e D i c h t u n g g e w o n n e n zu haben,168 l i e g t v o r a l l e m H o r a z ' B e d e u t u n g - m o t i v g e s c h i c h t l i c h h a t er d i e e r o t i s c h e L y r i k w e n i g b e r e i c h e r t . S o w o h l d i e L i e b e als b r e n n e n d e B e g i e r d e , 1 6 9 d i e d i e e r b a r m u n g s l o s e n G ö t t e r V e n u s u n d C u p i d o v e r h ä n g e n , 1 7 0 als a u c h e i n z e l n e M o t i v e w i e das B i l d d e r L i e b e n d e n als eines v o m E f e u u m r a n k t e n B a u m e s , 1 7 1 S c h ö n h e i t s m e r k m a l e w i e das b l o n d e H a a r , d i e m a r m o r w e i ß e
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l6S
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carpe diem quam minimum credula postero.« ( D a w i r noch sprechen, ist schon entflohen die neidische Zeit: greif diesen Tag, nimmer traue dem nächsten!) Sämtliche Gedichte, S. 3of. H o r a z : carm. II,XI,5t.: »fugit retro / levis luventas et decor« (Es flieht hinter uns die glatte J u g e n d und ihre Anmut). Sämtliche Gedichte, S. ioof. Vgl. Horaz: carm. I , X X V . Sämtliche Gedichte, S. 56f. H o r a z : carm. I V , X I , 3 1 f.: »age iam, meorum / finis amorum« (So k o m m denn, meine letzte Geliebte). Sämtliche Gedichte, S. 236. A u c h dies vorgeprägt bei Mimnermos und Ibykos. H o r a z : carm. I I , X I V , 1 - 4 : »Eheu fugaces, Postume, Postume, / labuntur anni nec pietas moram / rugis et instanti senectae / adferet indomitaeque morti« (Wehe - in eilender Flucht, Postumus, Postumus, entgleiten die Jahre, Rechtschaffenheit kann nicht Halt den Runzeln und dem drohenden Alter gebieten noch dem unbezwinglichen Tode). Sämtliche Gedichte, S. io6f. Folgenreich w a r besonders die Übernahme des >äölischen< (alkäischen) Sanges und f ü r die Lieder erotischen Inhalts die sapphische Strophenform (>lesbisches> Lied). Vgl. Horaz: carm. I , X X V , 1 3 - 1 5 : »cum tibi flagrans amor et libido, / quae solet matres furiare equorum, / saevit circa iecur ulcerosum« (während dir brennend Liebe und (Begierde), wie sie pflegen rasen zu lassen die Mütter der Rosse w ü ten werden u m deine schwärende Leber). Sämtliche Gedichte, S. 56L H o r a z : carm. I I , V I I I , 1 3 - 1 6 : »ridet hoc, inquam, Venus ipsa, rident / simplices N y m p h a e ferus et C u p i d o / semper ardentis acuens sagittas / cote cruenta.« (Es lacht darob, sage ich, Venus selbst, es lachen die arglosen N y m p h e n und der wilde C u p i d o , der ständig schärft die glühenden Pfeile auf blutigem Wetzstein.) Sämtliche Gedichte, S. 94f. - Vgl. auch Ι , Χ Ι Χ , ι : »Mater saeva Cupidinum« (Die Mutter, die grausame, der BEGIERDEN). Ebd., S.48f., und I , X X X I I I , 1 0 - 1 2 : »sie visum Veneri, cui placet inparis / formas atque animos sub iuga aenea / saevo mittere cum ioco.« (So ist der Wille der Venus, der es gefällt, ungleiche Gestalten und Geister unter ihr J o c h aus Eisen zu zwingen in grimmigem Scherze.) Ebd. S. 68f. H o r a z : epod. X V , j f . : »artius atque hedera procera adstringitur ilex / lentis adhaerens bracchiis« (dichter, als E f e u umschlingt die hohe Eiche, / mit weichen A r m e n mich umfangend). Sämtliche Gedichte, S. 29οι.; vgl. auch carm. I , X X X V I , 19L Ebd., S. 74f. - Vgl. dazu Catull: carm. 61,34^: »ut tenax edera hue 52
H a u t u n d die f u n k e l n d e n A u g e n 1 7 2 o d e r die sarkastische F r a u e n s c h e l t e 1 7 3 sind s c h o n b e k a n n t e B e s t a n d t e i l e der L i e b e s d i c h t u n g . D a s M o t i v der L i e b e o d e r T r e u e bis in d e n T o d , 1 7 4 das a u c h C a t u l l k e n n t , ist - t r o t z p u n k t u e l l e r Intensität - w e d e r bei d i e s e m n o c h bei H o r a z d u r c h g e h e n d so ernstgem e i n t , daß nicht d e n n o c h eine R e i h e v o n M ä d c h e n n a m e n a u f t a u c h t e , in d e r - a u c h darin steht H o r a z bereits in einer T r a d i t i o n - m a n c h e (griechische) B e k a n n t e b e g e g n e t . 1 7 5 W i c h t i g ist schließlich n o c h carmen
Ι Ι Ι , ι ο , das
ein f r ü h e s B e i s p i e l einer h a r t h e r z i g e n u n d g r a u s a m e n Spröden 1 7 " 5 v o r f ü h r t , w i e sie i m servitium
amoris
der r ö m i s c h e n E l e g i e u n d später i m M i n n e s a n g
und Petrarkismus z u m dominierenden Frauenmodell avancieren wird:
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I7i
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et hue / arborem implicat errans« (wie der sich festklammernde Efeu in allen Richtungen schweifend den Baum umschlingt). Sämtliche Gedichte, S. 66f. Später dann in Anthologia Graeca V,227, Bd. 1, S. 379. Horaz: carm. I,V,4f.: »cui flavam religas comam / simplex munditiis?« (Für wen bindest du das blonde Haar, einfach im Schmuck?) Sämtliche Gedichte, S. 1 8 2 1 . - carm. I , X I X , 5 - 8 : »urit me Glycerae nitor / splendentis Pario marmore purius, / urit grata protervitas / et voltus nimium lubricus adspici.« (Es entflammt mich Glykeras Glanz, sie strahlt mehr als parischer Marmor rem, es entflammt mich ihre reizende Frechheit und ihr Gesicht, allzu verführerisch anzuschauen.) Ebd., S. 4Sf.— Schon Diokorides (um 225 v. Chr.) kennt einen Schönheitskatalog und preist dort >weiße Brüstchen< (vgl. Anthologia Graeca Bd. 1, S. 289). Catulls Ariadne in carm. 64 hat einen »blonden Scheitel«, »milchweiße Brüste« (V. 63, 65) und »glutvolle Blicke« (V. 91). Catull: Sämtliche Gedichte, S. 97/99. Vgl. Horaz: carm. IV,XIII; epod. VIII, epod. XII. Als Begründer dieser »unerfreulichen Mode in der Literatur« (Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie, S. 162) gilt Archilochos (Fragm. 1 1 3 : »Zart wie früher blüht deine Haut nicht mehr; jetzt hast du schon Runzeln«), Horaz: carm. I , X I I I , 1 7 - 2 0 : »felices ter et amplius / quos inrupta tenet copula nec malis / divolsus querimoniis / suprema citius solvet amor die.« (Glückselig dreifach und mehr, die da untrennbar bindet die Fessel und nicht, in schlimmen Streiten getrennt, eher scheidet die Liebe voneinander als am letzten der Tage.) Sämtliche Gedichte, S. — Bei Catull idealtypisch und satirisch der gesellschaftlichen Praxis gegenübergestellt, vgl. Catull carm. 45,21-26: »unam Septimius misellus Acmen / mavult quam Syrias Britanniasque, Arno in Septimio fidelis Acme / facit delicias libidinisque. / quis ullos homines beatiores / vidit, quis Venerem auspicatiorem?« (Septimius, der Ärmste, will lieber die eine Acme als Syrien, Britannien und alle Provinzen. Acme, die Treue, findet allein bei Septimius all ihre Freude und Liebeswonne. Wer hat jemals glücklichere Menschen gesehen, wer eine verheißungsvollere Liebe?) Sämtliche Gedichte, S. 52-55. Zu nennen sind Pyrrha, Glycera, Lalage, Chloe, Lydia, Phyllis, Pholoe, Chloris, Barme, Phryne, Neaera. Das gegenüber der Liebe verhärtete Herz erscheint vielleicht zum ersten Mal in einem pindarischen Fragment, hier gegenüber dem späteren Gebrauch jedoch invers: »Doch wer die blitzenden Strahlen / Aus des Theoxenos Augen erblickt und er / Schäumt nicht in Sehnsucht, aus Stahl ward / Oder aus Eisen geschmiedet sein / Finsteres Herz an / Erkaltetem Feuer; und Aphrodite - es / Regen sich rasch ihre Wimpern - verachtet ihn.« Antike Lyrik, S. 168. 53
ο quamvis neque te munera nec preces nec tinctus viola pallor amantium nec vir Pieria paelice saucius curvat, supplicibus tuis parcas, nec rigida mollior aesculo nec Mauris animum mitior anguibus: non hoc semper erit liminis aut aquae caelestis patiens latus. (Ο gewiß, weder können dich Geschenke noch Bitten noch, von Farbe wie Violen, die Blässe deiner Liebhaber noch dein Gatte, von einer pierischen Dirne getroffen, beugen - den Kniefall vor dir / erhöre doch, bist du auch nicht weicher als die starrende Eiche noch milderen Sinnes als maurische Schlangen: nicht ewig wird deine Schwelle, wird die Wasser vom Himmel ertragen mein Leib.) 177 Selbstverständlich: niemals wird der petrarkistische Liebhaber wie hier mit einem Abbruch seiner Belagerung drohen.
8.
Römische Liebesdichtung II: Die Elegiker Properz, Tibull und Ovid
Die Autoren Properz, Tibull und O v i d werden häufig (formal) als die drei römischen Elegiker oder (inhaltlich) römischen Erotiker zusammengefaßt. In der Tat läßt sich ihr elegisches Werk als servitium
amoris ver-
stehen. 178 Man hat darauf hingewiesen, 179 daß es sich bei dieser Gattung um werbende Dichtung handelt, d. h., sie ist in ihrer Anlage rhetorisch: Es gilt, die puella,
die zur domina
avancieren kann, zu >erweichenSlavendienst der Liebe< wird besonders von Properz in seinen dunklen, irrationalen Aspekten vorgeführt (»caecum versat amator iter«), lSo in Tibulls erstem Buch bukolisch gemildert und von Ovid manieristisch und im ironischen Spiel mit der Fiktion 1 8 1 gebrochen. 177
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Horaz: carm. ΙΙΙ,Χ, 13-20. Sämtliche Gedichte, S. 15 8f. Die dura (Hart(herzig)e) kennt schon Vergil (vgl. Ecloga X,47· Gedichte, S. 83). - Gegenüber den späteren Werbern des Minnedienstes droht der Liebhaber bei Horaz mit der Aufkündigung der Belagerung. Das erste römische Werk von Liebeselegien wird Cornelius Gallus zugeschrieben, der 26. v. Chr. von Augustus zum Selbstmord gezwungen wurde. Das Werk ist bis auf wenige Zitate bei anderen Autoren und einen Papyrusrest verloren. W. Stroh: Die römische Liebeselegie als werbende Dichtung. Amsterdam 1971. Sextus Propertius: 111,14,32 (Der Liebende beschreitet immer einen dunklen Pfad.) Sämtliche Gedichte, S. 220. So verliert der Elegiker durch die Literatur, nämlich durch sein Lob Corinnas, diese an die Leser, so daß er nun bedauern muß, daß die Leser Literatur für die Wirklichkeit halten (vgl. Ovid: Amores III,12). 54
D e m servitium
amoris,
w i e es P r o p e r z in seinen v i e r B ü c h e r n
Elegiae
( i . Slg. 28 v . C h r . ) versteht, liegt die tradierte L i e b e s k o n z e p t i o n z u g r u n de, die v o n i h m a b e r v e r s c h ä r f t w i r d . H e i n z S c h l a f f e r hat v e r s u c h t , a u c h P r o p e r z ' W e r k g ä n z l i c h d e r musa
iocosa
z u z u o r d n e n u n d ü b e r s p i e l t die
daraus e n t s t e h e n d e n S c h w i e r i g k e i t e n mit P o l e m i k . 1 8 2 O b w o h l
Properz
s c h e r z h a f t e , h u m o r i s t i s c h e u n d i r o n i s c h e P a s s a g e n s o w i e die explizierte A b g r e n z u n g seiner »carmina l e n i a « 1 8 3 z u r h o h e n , h e l d i s c h e n aufweist,
184
Dichtung
ü b e r w i e g t das p e s s i m i s t i s c h e B e w u ß t s e i n , in d e r L i e b e e i n e m
u n k o n t r o l l i e r b a r e n A f f e k t ausgeliefert z u sein. D i e a f f e k t i v e B i n d u n g an die eine w a n k e l m ü t i g e u n d h a r t h e r z i g e puella,
in d i e s e m F a l l C y n t h i a ,
b e w i r k t b e i m f i k t i v e n I c h äußerstes L i e b e s l e i d u n d n u r gelegentlich die ersehnte E r f ü l l u n g . 1 8 ' N i c h t n u r w e r d e n - längst t o p i s c h - die L i e b e s g ö t ter ihrer G r a u s a m k e i t g e z i e h e n u n d der eigene A f f e k t als » f u r o r « , »ard o r « , » m o r b u s « u n d » m a l u m « e m p f u n d e n , 1 8 6 s o n d e r n selbst die L i e b e s e r 182
Heinz Schlaffer: Musa iocosa, S. 13: »Schließlich hat sie (die Festlegung der Elegie als Klage- und Trauerlied) sogar die Philologie am rechten Verständnis der römischen Elegie gehindert. (...) Die römischen Elegiker, allen voran Properz, bieten einige Anhaltspunkte für solches Mißverständnis (obwohl die auf der Hand liegenden Gegenbeispiele dieses ohne die Wirkung der tradierten falschen Definition nicht zugelassen hätten).« Diese »Anhaltspunkte« der antiken Autoren selbst wären allerdings differenzierter zu bewerten. Schlaffer zieht nicht in Betracht, daß die Negierung der Heldenepik nicht zwangsläufig und ausschließlich scherzhafte Dichtung zur Folge haben muß. So markiert Properz in 1,9 (s. u.) lediglich die Wahl eines anderen Themas. Die komplexe Tradition der erotischen Dichtung wird von Schlaffer reduziert, indem er das Scherzhafte als N o r m der von ihm behaupteten Gattung postuliert. - Mit der hier vorgelegten Deutung einher geht Panofsky, der eine »moralisierende Interpretation des Bildes Amors« schon bei Properz beobachtet und hinzufügt: daß es »von Anfang an entschieden pessimistisch war, denn die Liebe wurde als eine gefährliche und schmerzliche Erfahrung betrachtet, die den Geist zu einem wankelmütigen, kindischen Zustand erniedrigt. In der mythographischen Literatur hielt sich diese nachteilige Interpretation nicht nur, sondern entwickelte sich sogar und erlangte ein Gewicht, das von den Historikern der »poetischen Liebe< häufig übersehen wird.« (Studien, S. 158f.)
183
Properz 1,9,12. Sämtliche Gedichte, S. 28. Properz 11,1,40-45: »nec mea conveniunt duro praecordia versu / Caesaris in Phrygios condere nomen avos. / navita de ventis, de tauris narrat arrator, / enumerat miles vulnera, pastor ovis; / nos contra angusto versantes proelia lecto: / qua pote quisque, in ea conterat arte diem.« (so reicht auch mein Innerstes nicht aus, mit hartem Vers Caesars Ruhm auf die phrygischen Ahnen zu gründen. Der Seemann erzählt von den Winden, der Pflüger von den Stieren, der Soldat zählt die Wunden auf, der Hirte seine Schafe; wir dagegen handeln, indem wir Kämpfe auf engem Bett austragen: Jeder verbringe den Tag in der Kunst, in der er sich auskennt.) Sämtliche Gedichte, S. 64f.
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Vgl. Properz 1 1 , 1 4 - 1 5 . Sämtliche Gedichte, S. 98-105. Properz 1,13,20 u. 28; 11,1,58 (»amor morbi«); III,17,10. Sämtliche Gedichte, S.38, 66, 226. 55
füllung erscheint in einer irrationalen Heftigkeit, der das Ich haltlos ausgeliefert ist. Treulosigkeit, Abwesenheit, Krankheit und Tod der paella 1 * 7 sind neue, die einzelne Elegie übergreifende Erzählmomente, vor allem aber auch Stationen emotional-affektiver Verunsicherung, der nur unzulänglich mit einem Treue-Diskurs begegnet werden kann, 188 denn Treue wird zwar immer wieder sittlich eingeklagt, jedoch ebenso häufig affektiv dementiert. 18 ' Letztlich bleibt der erotischen Elegie eine skeptizistische Sinnspur der frühgriechischen amechanta erhalten, jener Hilflosigkeit und jenes Bewußtsein des ephemeren Daseins, die auch und gerade der Liebesaffekt in seiner Irrationalität und Heftigkeit evoziert. Properz' Elegien weisen zahlreiche, insbesondere mythologische Motive aus der Liebesdichtung der Griechen sowie Vergils, Catulls und Horaz' auf, die zusammen mit den erwähnten neuen erzählerischen Momenten von seinen Nachfolgern adaptiert und endgültig zu Topoi konzentriert werden. Schon in Tibulls Carmina (i. Slg. 26 v. Chr.) ist das servitium amoris diesmal heißen die Mädchen Delia und Nemesis 1 9 " - formelhaft geworden: »me retinent vinctum formosae vincla puellae« 1 ' 1 und mit den bekannten carpe diem- und memento mori-Motiven
umgeben. 1 ' 2 Die relative Eigen-
ständigkeit Tibulls besteht darin, in die erotische Elegie im Anschluß an Vergil bukolische und georgische Elemente zu integrieren. Tibull greift nicht nur Vergils Lehre vom Goldenen Zeitalter 193 auf, sondern neben Venus findet auch Ceres Erwähnung, die Göttin des Landbaus, und der Stadt wird wieder sentimentalisch das Land und sein locus amoenus vorge-
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Vgl. Properz I,i j; Ι , ι ι ; II, 28A, IV,7. Sämtliche Gedichte, S.40Ö'., 3 2 f f . , i 4 2 f f . , 292ft'. Vgl. Properz I, 4 ; I,8a; 1,15; Ι,ι8; II, 7 ; II,20; III, 12; III,20 u. ö. Einerseits heißt es 1,12,19!.: »mi neque amare aliam neque ab hac desistere fas est: / Cynthia prima fuit, Cynthia finis erit.« (Mil* ist weder eine andere zu lieben noch von dieser zu lassen vom Schicksal bestimmt: Cynthia war die erste, Cynthia wird die letzte sein), andererseits II,22A,36: »sie etiam nobis una puella parum est.« (So ist auch für mich nur ein einziges Mädchen zu wenig.) Sämtliche Gedichte, S. 36t. u. 124!. Für die bei Tibull ebenfalls thematisierte gleichgeschlechtliche Liebe steht der Knabe Marathus. Tibull 1,1,55 (mich halten die Ketten einer schönen Frau gefangen). Liebeselegien, S. 306-308. Beispielsweise liegt in Tibull 1,539!. die Quelle - zusammen mit Ovid, amores 111,7 ~~ für Goethes oft autobiographisch gelesenes Gedicht »Das Tagebuch« vor. Goethe verwendet die Verse als Motto: »saepe aliam tenui: sed iam cum gaudia adirem, / admonuit dominae deseruitque Venus.« (Oft hielt ich eine andere Frau im Arm, doch wenn ich mich eben dem Genuß näherte, mahnte mich Venus an die Liebste und ließ mich im Stich.) Liebeselegien, S. 330-333. Vgl. Tibull 1,3; 11,3.
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zogen: »si fas est, mos precor ille redi!« 1 9 4 Im zweiten Buch wird angesichts der tyrannischen Nemesis diese Verklärung jedoch rückgängig gemacht, und der Liebesdienst wandelt sich vollends zum Sklavendienst. Der A b schied v o m Liebesthema - »valeatque Venus valeantque puellae« 195 - am Ende seiner Carmina wird bis ins 17. Jahrhundert hinein zum Topos erotischer Gedichtsammlungen - hier sei nur Opitz genannt - und Teil der Rechtfertigungsstrategien der Autoren: die Liebeskrankheit liegt hinter ihnen, die Gedichte sind >Historie