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German Pages [376] Year 1986
VÔR
LOTHAR KUGELMANN
Antizipation Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka
Band 50
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kugelmann, Lothar: Antizipation : e. begriffsgeschichtl. Unters. / Lothar Kugelmann. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1986. (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie ; Bd. 50) ISBN 3-525-56257-8 NE: G T
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1986. - Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Diese Untersuchung wurde von der Ev.-Theol. Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München 1984 als Dissertation angenommen. Abgesehen von der jetzt ausführlicher formulierten Einleitung blieb das Manuskript u n v e r ä n d e r t . Für das Gelingen dieser Arbeit habe ich allen zu d a n k e n , die dazu beigetragen haben. Neben der Fakultät möchte ich namentlich Herrn Professor Dr. W.Pannenberg D.D. , D.D. ganz herzlich danken: hat er mich doch in ganz besonderer Weise f ü r die systematische Theologie begeistert. Darüber hinaus ermöglichte er mir d u r c h die Ü b e r t r a g u n g einer Assistentenstelle die f ü r die Anfertigung dieser Arbeit nötige finanzielle Absicher u n g . Herrn Professor Dr. T . R e n d t o r f f danke ich f ü r die Übernahme des K o r r e f e r a t s , Herrn Professor Dr. D.Henrich f ü r die Erstellung eines zusätzlichen Gutachtens. Herrn Professor Dr. G.Wenz danke ich f ü r seine Kollegialität am Institut und f ü r so manches anregende Zusammensein. Der weit über das rein Berufliche hinausgehenden Freundschaft mit Herrn Vikar K.Manzke gedenke ich an dieser Stelle mit Freuden. Der E v . - L u t h . Landeskirche in Bayern danke ich f ü r einen namhaften Druckkostenzuschuß, meinen Eltern f ü r ihre großzügige finanzielle Unt e r s t ü t z u n g und Frau Kuhn f ü r das sorgsame Lesen der K o r r e k t u r . Nicht zuletzt stehe ich in der Schuld meiner F r a u , die sehr viel Zeit und Mühe auf das Tippen des Manuskriptes verwendete und die a n s t r e n g e n den J a h r e der Promotionszeit liebevoll mitgetragen hat.
Icking, im November 1985
Lothar Kugelmann
INHALT
Vorwort
5
Abkürzungsverzeichnis
14
Einleitung
15
A) ANTIZIPATION ALS TERMINUS NEUTESTAMENTLICHER EXEGESE UND SEINE AUFNAHME IN DIE DOGMATIK 1. Die antizipative S t r u k t u r des Gottesreiches bei Johannes Weiß a) Der Befund b ) Der dogmatische Hintergrund des Weißschen Antizipationsbegriffs c) Fazit: Die exegetische Originalität von "Antizipation" bei J . Weiß 2. Die Funktion des Begriffs Antizipation im Zusammenhang der exegetischen Arbeit Rudolf Bultmanns a) Bultmann und die historisch-kritische Methode der liberalen Theologie b ) Die Zukunft der Gottesherrschaft c) Die Funktion des Begriffs Antizipation 3. Die proleptische S t r u k t u r der eschatologischen Selbstoffenb a r u n g Gottes in Jesus Christus (nach U.Wilckens)
23 23 26 28
32 32 33 37
40
a) Jesu "Geschick" als proleptisch-eschatologische Selbsto f f e n b a r u n g Gottes b) Die proleptische O f f e n b a r u n g Gottes bei Paulus und Lukas c) Vorwegnahme als Aufhebung der Zukunft d ) Die Bedeutung des Begriffs Vorwegnahme bei O.Cullmann
44 47 49
4. Überleitung: Die dogmatische und philosophische Relevanz des Begriffs Antizipation in "Offenbarung als Geschichte" . . . .
52
a) Die Aufnahme des Begriffs Antizipation in die Dogmatik d u r c h W.Pannenberg
52
40
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8
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b ) Die Strukturanalogie zwischen Glauben und Erkennen als Überleitung zur philosophischen Thematik des Begriffs Antizipation
57
B) VORGRIFF ALS BEGRIFF: DIE VORAUSGESETZTE WAHRHEIT DES PHILOSOPHISCHEN GEDANKENS DER ANTIZIPATION I. DIE ERKENNTNISTHEORETISCHE RELEVANZ VON ANTIZIPATION
60
1. Kapitel DIE ENTDECKUNG DES ZUSAMMENHANGS VON ANTIZIPATION UND ZEIT BEI HERMANN COHEN
60
1. Der Denkansatz Hermann Cohens und sein historischsystematischer Kontext
61
a) Der philosophie geschichtliche Kontext b ) Der systematische Ansatz der Philosophie Hermann Cohens c) Selbsterhaltung contra Selbsterzeugung
61 62 68
2. Zur Exposition von Cohens "Logik der reinen Erkenntnis" . . . .
71
3. Die explizite Funktion des Terminus Antizipation in Cohens Logik
77
a) b) c) d) e)
Der " U r s p r u n g " des Denkens Der U r s p r u n g als Kontinuität U r s p r u n g und Identität U r s p r u n g und die Methode der Infinitesimalrechnung Die Antizipation der Mehrheit
77 79 80 82 83
2. Kapitel DAS PROBLEM DER TEMPORALEN ANTIZIPATION IN KANTS TRANSZENDENTALER ANALYTIK
89
1. Die Antizipation der Form möglicher E r f a h r u n g
90
a) Der literarische Befund b ) Antizipation als zusammenfassendes "Resultat" der transzendentalen Analytik c) Die antizipierten Formen des Verstandes und der Anschauung
90 92 94
-
9
-
2. Die "Antizipationen der Wahrnehmung"
101
3. Kapitel "PROLEPSIS " IN DER ANTIKEN PHILOSOPHIE UND BEI KLEMENS VON ALEXANDRIEN
110
1. Der Schöpfer des Begriffs Prolepsis: Epikur
110
2. Die Prolepsislehre der Stoa a) Die Entstehung der "Vorstellung" b ) Einführende Bemerkungen über die Stellung des Begriffs Prolepsis in der Alten Stoa c ) Die Allgemeingültigkeit der Prolepsis d ) ""Εμφυτοι προλήψεις " e ) "Πρόληψις θεοϋ"
113 114 115 117 119 120
3. Prolepsis als Pistis bei Klemens von Alexandrien
121
4. Kapitel ANTIZIPATION ALS GRUNDTAT DER ZEIT: DIE COHENSCHE RADIKALISIERUNG DES KANTISCHEN ANTIZIPATIONSBEGRIFFS AUF DEM HINTERGRUND DER ANTIKEN PHILOSOPHIE
126
1. "Prolepsis" in der Antike und "Antizipation" bei Kant
126
2. Cohens eigene Interpretation des Kantischen Begriffs der Antizipation
129
3. Antizipation als Grundtat der Zeit
132
a) Erzeugung und Kategorialität der Zeit b ) Erzeugung der Zukunft durch Antizipation? 4. Antizipation und Allheit a) Allheit als unendliche Reihe b ) Die spezifische Leistung des Urteils der Allheit c ) Der Raum als Einheit der Zeit? 5. Seinskonstituierung als Erzeugung des Seins a) Erzeugen und Entdecken bei Cohen b ) Kritische Würdigung der Seinskonstituierung 6. Neukantianische Prinzipienantizipation Kantische Gegenstandsantizipation
133 136 137 138 139 140 143 143 145 147
- 10 -
a) Antizipation als S t r u k t u r p r i n z i p von Cohens Logik b ) Der Fortschritt der Prinzipienantizipation Cohens gegenüber Kant c) Ausblick: Denken und Sein
II. DER DAS MENSCHSEIN KONSTITUIERENDE VORGRIFF
147 149 151
155
5. Kapitel SELBSTBEGRÜNDUNG DES MENSCHEN ALS VORLAUFEN ZUM TODE BEI MARTIN HEIDEGGER
155
1. Der Impetus f r ü h e n Heideggerschen Denkens
155
2. Das Dasein als In-der-Welt-sein
158
a) Das "Vor" der Welt b ) Kritische Würdigung c) Philosophiegeschichtliche Reminiszenz: Heidegger und Dilthey
158 160 163
3. Vom Sein zur Zeitlichkeit des Daseins
164
4. Das "Vorlaufen zum Tode" als Vorwegnahme des ganzen Daseins
166
a) b) c) d) e)
Problemstellung Die Möglichkeit des Todes Die ausgezeichnete Möglichkeit des Todes "Vorlaufen" als "Sein zum Tode" Das Gewissen als Bezeugung des eigentlichen Seinkönnens f ) Vorlaufende Entschlossenheit
5. Kritische Würdigung des Sachverhalts der Antizipation in "Sein und Zeit" a) Vorgängige Erschlossenheit und vorläufige Entschlossenheit b ) Antizipation als Grundtat der Zeitlichkeit c) Das Antizipierte in "Sein und Zeit" d ) Der Tod als Grund des Daseins e) Die vorausgesetzte Wahrheit des "Vorlaufens" bei Heidegger f ) Ausblick: Die "Kehre" als kontinuierlicher Fortschritt im Denken Heideggers
166 168 169 171 173 174
175 176 179 181 183 186 189
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Exkurs I: "Protention" und "Erwartung" in Husserls "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" a) Der Kontext von Antizipation bei Husserl b ) Zur Analyse des "Ablaufsmodus" eines Zeitobjektes c) Der Begriff "Protention" in seinem Verhältnis zu primärer und s e k u n d ä r e r Erinnerung d ) Husserls "Protention" im Kontext der Arbeit e) Ausblick: Antizipation beim späten Husserl
191 192 193 195 196 197
Exkurs II : Glaube als "vorlaufende Entschlossenheit" bei R.Bultmann
199
1. Die Funktion von "Sein und Zeit" in der Theologie R. Bultmanns
199
a) Philosophie und Theologie b ) Grundzüge der Heideggerinterpretation Bultmanns 2. Glaube und Unglaube als Proprium der Theologie a) b) c) d)
Der Der Der Zur
Unglaube geschenkte Glaube antizipierte Glaube Bultmanninterpretation von M.Boutin
199 200 202 202 203 205 206
6. Kapitel DER VORGREIFEND AUF GOTT VERWIESENE MENSCH BEI KARL RAHNER
207
1. Karl Rahners Theologie im Kontext
208
2. Rahners "Vorgriff" und Kants "Antizipation der Form von E r f a h r u n g "
209
a) b) c) d)
Terminologische Vorbemerkung Die "Definition" des Vorgriffs Der Vorgriff als Akt Die Funktion des Vorgriffs auf die "weitere Möglichkeit"
3. Der Vorgriff auf Sein a) b) c) d) e) f)
Vorbemerkung Der Ausgangspunkt der Argumentation Die Weite des Vorgriffs Der Urteilsvollzug Der Vorgriff auf das Ansich als esse Der Vorgriff auf das "transzendentale Ideal"
210 211 211 213 216 216 217 218 219 220 223
-
12
-
4. Kritische E r - ö r t e r u n g des Vorgriffs auf Sein
226
5. Das absolutum esse als Wieder-holung der Setzung d u r c h die Subjektivität
231
a) Gott als "letzter Gegenstand" des Vorgriffs b) Das absolutum esse als subjektive Setzung
231 233
C) BEGRIFF ALS VORGRIFF: KRITISCHE HINFÜHRUNG ZU EINER ESCHATOLOGISCHEN (PROLEPTISCHEN) ONTOLOGIE 7. Kapitel ANTIZIPATION VERSUS ANAMNESIS
238
1. Der Bann der Anamnesis
238
2. Anamnesis - Antizipation - Vermutung
242
3. "Hegel und die Anamnesis": Zur Hegelinterpretation Ernst Blochs
248
a) Die "antizipationsfeindliche Anamnesis" bei Hegel b) Hegels Thesis als Vorgriff 4. Begriff als Vorgriff: Zur Hegelinterpretation Wolfhart Pannenbergs
248 249
251
8. Kapitel DIE EXTRAPOLATION DER HOFFNUNG: "ANTIZIPATION" BEI ERNST BLOCH UND JÜRGEN MOLTMANN . .
252
1. Antizipation im Kontext der Philosophie Ernst Blochs
253
a) "A ist noch nicht A" b ) Antizipation als Extrapolation c) Nichts, Alles und der Vorschein 2. Antizipation als fundamentaler Begriff der Theologie J ü r g e n Moltmanns a) b) c) d) e)
Moltmann als Systematiker Die "Theologie der Hoffnung" Die "Methoden der Eschatologie" "Der gekreuzigte Gott" Der Bann der Extrapolation
254 255 257
258 259 261 264 266 273
- 13 Ausblick: Thesen zur theologischen Relevanz des Antizipationsbegriffs
275
These 1
277
These 2
283
These 3
285
Anmerkungen
289
Verzeichnis der zitierten Schriften
365
ABKÜRZUNGS VERZEICHNIS
Α, Β
I . Kant, Kritik der reinen Vernunft, Seitenzahl der Originalausgabe von 1781 bzw. 1787, hg. v . R.Schmidt, Nachdruck Hamburg 1971.
GluV I f f
R.Bultmann, Glauben und Verstehen. Gesammelte A u f sätze, 4 Bde, Tübingen, Bd I , 19727, Bd I I , 19685, Bd I I I , 1 9 6 5 B d I V , 19753.
GW
K.Rahner, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, überarbeitet und ergänzt v . J.B.Metz, München 19643.
HW
Ders. , Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, neu bearbeitet v . J.B.Metz, Freiburg 1971.
L
H.Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, hg. v . H.Holzhey, Hildesheim-New York 19774 (1902).
OaG
Offenbarung als Geschichte, hg. v . W.Pannenberg, Güttingen 19704.
RÜG 3
Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. v . K.Galling, Tübingen 1957ff.
SVF I f f
Stoicorum veterum fragmenta, hg. v . J.V.Arnim, 4 Bde, Nachdruck Stuttgart 1964 (1903-24).
Im übrigen folgen die Abkürzungen dem Verzeichnis der RGG 3 . Sperrungen in einem Zitat werden durch Unterstreichen kenntlich gemacht. " ( s c . . . . ) " in einem Zitat bedeutet immer eine Ergänzung von mir. Grammatikalische Änderungen bzw. syntaktische Ergänzungen eines Zitats werden eingeklammert. In den Anmerkungen werden die Untertitel nicht genannt ; sie sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Werden mehrere Werke eines Autors innerhalb eines Kapitels zitiert, so wird in der Regel nach der erstmaligen Nennung des Titels nur mehr dessen erstes Substantiv angegeben.
EINLEITUNG
Die F o r d e r u n g nach gewissenhafter Klarstellung der eine Untersuchung tragenden Begriffe zum Zwecke i h r e r Überprüfbarkeit und der Vermeid u n g von Mißverständnissen kann n u r als recht und billig bezeichnet werden. Ihre Einlösung ist in besonderem Maße dort zu e r w a r t e n , wo als Themenstellung die Klärung eines Begriffs angegeben i s t , wie im Falle vorliegender Untersuchung. Wenn freilich als Kriterium f ü r die erreichte Klarheit - und das heißt doch wohl Eindeutigkeit - eines Begriffs die präzise Bestimmung seines "Theoriestatus" 1 erhoben werden sollte, d u r c h den der Begriff als solcher definiert i s t , so kann der Begriff Antizipation in diesem Sinne gerade nicht geklärt werden. Wenn nämlich das Ergebnis dieser Arbeit z u t r i f f t , dann kommt die spezifische Relevanz von Antizipation erst dort in den Blick, wo nach den Bedingungen der Möglichkeit von "Theorie" gefragt wird, sofern nämlich die Beziehung der Elemente zueinander und zu ihrem System dann als antizipative zu kennzeichnen i s t , wenn Elemente und System einander wechselseitig bedingen. Demnach eignet der Antizipation kein Status innerhalb einer Theorie, sondern im Zuge der Reflexion auf die Strukturiertheit von Theorien selbst erhält die Rede von Antizipation ihre spezifische Tragweite und ermöglicht dadurch allererst die Ortung eines Elements in einem System. Jene Abweisung einer vorgängigen kategorialen Bestimmung von Antizipation^ verbietet es freilich n i c h t , eine vorläufige Bemerkung zu einer erst s p ä t e r möglichen Definition von Antizipation"* zu machen: dieser Ausdruck erscheint v o r d e r g r ü n d i g als a b s t r a k t , da er auf ganz v e r schiedene Inhalte angewendet werden kann^. Von daher läge es nahe, sofern die f ü r einen Begriff klassischen Kriterien der Allgemeinheit und Abstraktheit erfüllt zu sein scheinen, Antizipation in E n t s p r e c h u n g zu Begriffen wie "Mensch", "Tier" u . a . m . zu klassifizieren. Damit wird jedoch das Besondere des als Antizipation ausgedrückten Sachverhalts noch gar nicht e r f a ß t : dieses "Wort" unterscheidet sich von jenen "Beg r i f f e n " d a d u r c h , daß es ein bestimmtes Verhältnis a u s d r ü c k t . "Antizipation" zu denken b e d e u t e t , zwischen dem antizipierten und dem "dah i n t e r " stehenden "wirklichen" Sachverhalt zu unterscheiden. Die Rede von "Antizipation" bzw. "Antizipieren" erhält n u r dann Sinn, wenn dieser Ausdruck transitiv verwendet wird: s t e t s wird "etwas" antizipiert, wodurch eben eine Beziehung zwischen dem Antizipierten und dem "wirklichen" Sachverhalt gegeben i s t . Die unterschiedliche Bestimmbarkeit dieses Verhältnisses - es kann als Identität, als bloße Differenz, als "Einheit am Ort der Differenz" im logischen oder auch im zeitlichen Sinne
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16
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verstanden werden - begründet die Äquivokation von Antizipation, die im Verlauf dieser Untersuchung nicht nur als abstrakte Möglichkeit sondern auch als geschichtliche Wirklichkeit zutage treten wird. Diese Ambivalenz der Verwendung des Ausdrucks Antizipation in Theologie und Philosophie ist es eigentlich, die das Bedürfnis einer gedanklichen Klärung dieses Begriffs hervorruft und dadurch die Themenstellung vorliegender Untersuchung legitimiert. An dieser Stelle ist ein Wort zur hier verfolgten Methode angebracht, da es sich nicht von selbst versteht, die Klärung eines Begriffs mittels der Darstellung seiner Geschichte zu erstreben und überdies der Terminus "begriffsgeschichtlich" Mißverständnissen ausgesetzt ist. Um mit letzterem zu beginnen: es ist E.Rothackers Feststellung zuzustimmen, "daß der Begriff 'begriffsgeschichtlich' nicht einwandfrei ist. Eine Geschichte haben die Termini und die Probleme. Nicht eigentlich der Begriff als solcher" 5 '. Dementsprechend soll im folgenden die mit dem Begriff Antizipation indizierte Problemstellung zur Darstellung gelangen, nicht aber das Auftreten dieses Begriffs in Geschichte und Gegenwart additiv registriert werden®. Dies berücksichtigend erscheint die Kennzeichnung dieser Untersuchung als "begriffsgeschichtliche" - und nicht als problemgeschichtliche - deshalb angebracht, weil sie sich eben von dem Begriff Antizipation leiten läßt und die mit ihm in der Geschichte seines Gebrauchs zum Ausdruck gebrachten Problemstellungen interpretieren will^. Es wird sich zeigen, daß jene oben skizzierten Möglichkeiten der Bestimmung des Verhältnisses von Differenz und Einheit gleichsam den "Kern" des Problems bilden, das durch den Begriff der Antizipation einer je und je differierenden Lösung zugeführt werden soll. Bei aller historischen Divergenz der Verwendung des Begriffs Antizipation, die sich auch in einer uneinheitlichen Terminologie niederschlägt , läßt sich also so etwas wie ein "roter Faden" für die Geschichte dieses Begriffs feststellen. Die vielleicht etwas einseitige Formulierung N.Hartmanns, daß Problemgehalte "nicht an den Begriffen oder Termini erkennbar (sind), denn nichts ist beweglicher in der Geschichte als Begriffsbildung und Terminologie"9, trifft in ihrer Allgemeinheit demnach nur bedingt auf die Geschichte des Antizipationsbegriffs zu. Noch einmal aber ist zu betonen, daß in der Tat "immer erst rekonstruiert werden (muß)", welche Bedeutung einem Begriff in seinem Kontext zuerkannt wirdlO - der einheitlichen Problemstellung entspricht eine ebenso uneinheitliche Problemlösung, die die Äquivozität des Begriffs Antizipation wie erwähnt bedingt H . Die in dem präzisierten Sinne begriffsgeschichtlich vorgehende Untersuchung bleibt freilich noch der methodischen Rückfrage ausgesetzt, inwiefern der Rekurs auf die Geschichte eines Begriffs eine Klärung seiner Bedeutung herbeiführen kann. Zunächst einmal ist hier zu antworten, daß der Rückgriff auf die Geschichte von der Positivität gegenwärtiger Begriffsbestimmungen und den damit verbundenen Problemstellun-
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gen befreit. Die Einsicht in die Relativität einer bestimmten gegenwärtig üblichen Verwendung ermöglicht die Anerkennung der Pluralität verschiedener Verwendungsweisen. Damit ist dem Einwand gewehrt, daß ein eher antiquierter, ja musealer Charakter begriffsgeschichtliche Untersuchungen auszeichne. In der Behauptung, "daß gegenwärtige Aktualität, die nicht haltlos mit den Tagesmoden wechselt, sich aus der Tiefe der geschichtlichen Herkunft motiviert" 1 ^, drückt sich somit auch eine Motivation dieser Arbeit aus. Die entscheidende Prämisse, die letztlich das begriffsgeschichtliche Vorgehen nicht nur legitimiert, sondern zur allein fruchtbaren Methode erklärt, blieb freilich bislang ungenannt: die "Überlegenheit der Geschichte über den B e g r i f f " ^ . Ohne hier auf Einzelheiten eingehen zu können, hängt diese These jedenfalls mit der Einsicht zusammen, daß die Geschichte in ihrer Unabgeschlossenheit und Zukunftsoffenheit am Ort des endlichen sie begreifenden Individuums immer nur vorläufig als ganze erkannt werden kann. Und es ist die besondere Bedeutung der christlichen Religion, diese Einsicht thematisiert zu haben, weil sie selbst in einem historischen Ereignis, das als endgültig wahr behauptet wird, gründet (Wenn eben dieser Sachverhalt als "Prämisse" gekennzeichnet wurde, so könnte an dieser Stelle insofern der Verdacht eines zirkulären Vorgehens auftauchen, als die folgenden Untersuchungen allererst die Haltbarkeit jener hier als Voraussetzung geltend gemachten These prüfen, indem sie die philosophische Denkarbeit und Bedeutsamkeit von Antizipation herauszustellen suchen. "Prämisse" ist demnach nicht als conditio sine qua non, sondern im Sinne von "Arbeitshypothese" zu verstehen, weil auch für die Geschichte des Begriffs Antizipation selbst gelten muß, was durch ihn ausgedrückt werden soll: eben die Möglichkeit der Thematisierung von Ganzheit (d.h. hier: die Möglichkeit, defizitäre Verwendungsformen von Antizipation im Lichte einer (vorläufig) endgültigen Prägung dieses Begriffs zu unterscheiden) am Ort der noch offenen Geschichte dieses B e g r i f f s . ) Aus der Überlegenheit der Geschichte über den Begriff folgt nun zweierlei: Zum einen wird dadurch noch einmal die Methode dieser Untersuchung legitimiert, wenn anders der bloße B e g r i f f , abgesehen von seinem historischen Kontext, abstrakt bleibt, weil nur die ihm überlegene Geschichte seiner Entwicklung selbst seine Bedeutung zutage fördern kann. Zum andern wird damit die exklusive Entgegensetzung von Theologie und Philosophie insofern aufgelöst, als "der philosophische Begriff seiner Allgemeinheit wegen nur Einweisung in eine Geschichte sein kann, die als solche jeden in der Geschichte formulierbaren Begriff übersteigt, wie es eben darum auch für die religiöse Thematik des Lebens g i l t " ! 5 . Das j s t deshalb wichtig f ü r diese Untersuchung, weil jene Strukturanalogie von philosophischem Begriff und der religiösen Thematik des Lebens durch den Aufweis der dem Glaubens- und Erkenntnisvollzug gleichermaßen
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eignenden proleptischen Struktur konkretisiert werden kann. Doch damit verlassen wir bereits die allgemeinen Erwägungen zur Methode dieser Untersuchung, um sie abschließend mit dem faktischen Vorgehen in Beziehung zu bringen. Die theologische Perspektive der Arbeit bedingt den Einsatz bei J.Weiß, wenn anders hier in einer ganz bestimmten (exegetischen) Hinsicht e r s t malig der Begriff Antizipation als theologisch belangvoller geprägt wird. Dementsprechend wendet sich Teil A einerseits dem historischen Kontext, andrerseits der bis zur Gegenwart nachweisbaren Wirkungsgeschichte der Weißschen Verwendung von Antizipation zu, wobei es sich fast e r übrigt, noch einmal den exemplarischen Charakter dieser Ausführungen hervorzuheben. Der Übergang zu Teil Β ist insofern durch den Verlauf des ersten Teils vermittelt, als die ihrerseits durchaus noch im Wirkungsbereich der Weißschen Konzeption stehende Prägung von Antizipation in der programmatischen Schrift "Offenbarung als Geschichte" doch auch darüber hinausgeht , indem sie nach der logischen und anthropologischen Dimension von Theologie im allgemeinen und so von Antizipation im besonderen fragt und sich damit für die philosophische Diskussion jenes Begriffs öffnet, ja sie herausfordert. Indem sich die Arbeit jener Forderung nicht verschließt, wird der theologische Problemhorizont anerkannt, aus dem die Hinwendung zu philosophischen Fragestellungen allererst hervorgehen kann. Außerdem ist damit das theologische Vorverständnis genannt, das die philosophische Auseinandersetzung insoweit leitet, als der Zusammenhang von Antizipation und Zeit in den Mittelpunkt des Interesses t r i t t . Darin ist die besondere Aufmerksamkeit begründet, die dem Denken H. Cohens widerfährt, sofern hier be griffs geschichtlich wohl erstmals explizit die zeitliche Dimension des Antizipationsbegriffs herausgearbeitet wird. Sofern dieser Begriff bei H.Cohen in der Logik eingeführt wird, ist es eine erkenntnistheoretische Fragestellung, mit der sich der I . Abschnitt von Teil Β beschäftigt. Näherhin zerfällt dieser Abschnitt in vier Kapitel: Nach einer Hinführung zum Verständnis von Antizipation bei Cohen (Kapitel 1) wird zunächst auf die Erkenntnistheorie Kants zurückgegriffen (Kapitel 2) in der Erwartung, daß neben der Problemstellung auch die Begrifflichkeit des Lehrers den Schüler prägt. Erst nachdem - einem Hinweis Kants folgend - der antike Hintergrund von Antizipation wenigstens in Umrissen dargestellt worden ist (Kapitel 3), kann auf der nun gewonnenen historischen und systematischen Basis das ganze Spektrum der Cohenschen Antizipationstheorie, ihre Fortentwicklung, aber auch die dadurch bedingte Engführung gegenüber Kant dargelegt werden (Kapitel 4 ) . Der Schritt von Cohen zu Heidegger (Kapitel 5) ist begriffsgeschichtlich legitimiert, wenn die behauptete Abhängigkeit des Heideggerschen "Vor-
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laufens" von Cohens Antizipationstheorie zutrifft; außerdem erschließt sich durch ihn die anthropologische Dimension des bislang im Zusammenhang erkenntnistheoretischer Bemühungen erörterten Begriffs. Nicht zuletzt ist der Übergang zu Heidegger auch durch die theologische Fragestellung bedingt, da die Aufnahme des Heidegger sc hen Vorgriffs durch die Theologen R.Bultmann (Exkurs I) und K.Rahner (Kapitel 6) zur theologischen Diskussion zurückführt und zugleich deren theologisches Denken und seine Kontextualität in eine breite philosophische Tradition stellt. (Daß der Theologie Bultmanns nur ein Exkurs, der Rahners hingegen ein ganzes Kapitel gewidmet ist, liegt an der unterschiedlichen Bedeutung, die dem Sachverhalt der Antizipation in ihrem Denken jeweils beigemessen wird.) Die bereits am Ende von Teil Β sich anbahnende Rückführung der mit dem Antizipationsbegriff gegebenen philosophischen Problemstellung auf die theologische Diskussion anhand der Aufnahme jenes Begriffs bei Bultmann und Rahner wird in Teil C explizit gemacht. Wenn hierzu der Begriff der Anamnesis eingeführt wird, so handelt es sich nur scheinbar um eine neuerliche Ausweitung des thematischen Rahmens; in Wirklichkeit soll dadurch eben der Sachverhalt zusammengefaßt und auf den Begriff gebracht werden, unter dessen Bann insbesondere die in Teil Β erörterte philosophische, in erheblicher Weise aber auch die in Teil A dargestellte theologische Tradition des Begriffs Antizipation stehen (Kapitel 7). Als begriffliche Klärung und Scheidung versteht sich auch das folgende Kapitel, sofern die durch E.Bloch und J.Moltmann Einfluß erlangende "Denkfigur" der Extrapolation prinzipiell dem Modell der Anamnesis entspricht, auch wenn dem Modus der Zukunft hier besondere Aufmerksamkeit zuerkannt wird. Der im beschriebenen Sinne kritische Teil C verfolgt demnach den Zweck, die konstatierte Mehrdeutigkeit der Verwendung des Antizipationsbegriffs auf eine Verwendung zurückzuführen, wobei nicht zu verhehlen ist, daß eben jener Sachverhalt, der im Zuge der Verhältnisbestimmung von endgültiger geschichtlicher Offenbarung Gottes und unabgeschlossener Geschichte als Antizipation gekennzeichnet worden ist, diesem Begriff vorbehalten werden soll. Die erste These versucht schließlich - darauf wurde schon kurz hingewiesen - , den systematischen Ertrag dieser Arbeit, die prinzipielle Strukturanalogie von Glauben und Erkennen, zusammenzufassen, was bezüglich der begriffsgeschichtlichen Perspektive als die gegenwärtige Aktualität von Antizipation formuliert werden könnte. Es kann freilich nicht übersehen werden, daß die Prämisse dieser These, die die theologische Fruchtbarkeit des Antizipationsbegriffs bedingt - auf sie möchten die zweite und die dritte These hinweisen - , nicht hinreichend diskutiert wurde: die Behauptung nämlich, daß von dem erkennenden Menschen mit seiner individuellen Biographie in keiner Erkenntnis abstrahiert werden kann.
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Der thetische Charakter jener Ertragsformulierung bedingt den Mangel einer fehlenden Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen der Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie. An diesem Punkt müßte insbesondere eine ausführliche Diskussion mit G.Ebelings Anschauung des Verhältnisses von "Glaube und Denken" 1 6 stattfinden, dessen Deutung des christlichen Glaubens als ein "Versetztwerden außerhalb seiner s e l b s t " 1 ? dem entspricht, was später als die transitive Struktur des Glaubens charakterisiert werden wird 1 8 . Auch Ebeling liegt daran, Glaube und Denken zu vermitteln: "Der Glaube, der das Denken scheut, ist fromm getarnter Unglaube" 1 9 . Bei näherem Zusehen wird jedoch deutlich, daß Ebeling hier unter "Denken" nicht das Kantische " E r k e n n e n " 2 0 versteht, sondern mit Pascal die "Logik des H e r z e n s " 2 1 , die ihrerseits auf der Seite des Glaubens zu stehen kommt. Während nämlich die Vernunft (die ansonsten tendenziell dem Kantischen "Verstand", der "wis22
senschaftlichen Rationalität" entsprechen soll) auf "Erforschung und . . . Aufklärung" aus i s t , auf "Rätsel, die gelöst werden . . . können" 2 -*, geht es dem Glauben (analog der "Logik des Herzens") nach Ebeling um "Besinnung und . . . Andacht", um ein Geheimnis, das nicht zu bewältigen i s t , das vielmehr seinerseits überwältigt" 2 4. Es liegt in der Konsequenz dieser Unterscheidung, die Vernunft "als die höchste Selbstbetätigung der Menschen" dem Glauben entgegenzusetzen, "der das Sündersein des Menschen anerkennt An diesem Punkt i s t , wenn wir recht sehen, eine Vermittlung zwischen Vernunft und Glaube nur mehr so möglich, daß im Idealfall die Vernunft sich auf ihr Reservoir der Erforschung des Rätsels und entsprechend der Glaube auf sein Gebiet des überwältigtwerdens vom Geheimnis zurückzieht. Grenzüberschreitungen der Vernunft bedingen nach Ebeling den "echte(n) Konflikt von Glaube und V e r n u n f t " 2 6 - das bedeutet doch, daß Glaube und Vernunft nicht positiv aufeinander bezogen werden, sondern ganz im Sinne der Kantischen "Kritik" so geschieden werden, daß nur die Aufhebung des Wissens (durch dessen Restriktion auf das Gebiet der Erfahrung) dem Glauben Platz verleiht 2 ?. Demgegenüber soll hier durch den Erweis der proleptischen Struktur von Glauben und Erkennen der jeweilige Akt als analoger begriffen werden, so daß die Möglichkeit der "Selbsttätigkeit" der Vernunft bzw. des Verstandes gerade bestritten wird. Es geht also nicht darum, den Glauben in das Wissen im Sinne "objektiver", i . e . endgültiger Erkenntnis aufzuheben, vielmehr wird das Wissen in seiner Vorläufigkeit, weil Abhängigkeit von der Zukunft seiner Bewährung, dem Glauben als prinzipiell strukturanalog zugeordnet. An diesem Punkt werden freilich die Grenzen dieser Arbeit offenkundig: der Erweis jener Strukturanalogie hängt, wie gesagt, an der nur implizit berücksichtigten Voraussetzung der Rückkoppelung jeweiliger Erkenntnis an das erkennende Individuum 2 8 , die nur im Rahmen der Entwicklung einer Erkenntnistheorie angemessen diskutiert werden könnte.
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Neben dieser Beschränkung, die durch die Themenstellung bedingt ist, werden zwei wichtige Gebiete, in denen der Begriff Antizipation relevant ist, ausgespart: der Bereich, der Sprachphilosophie^S und, damit verbunden, der der Soziologie 3 ^.
A) ANTIZIPATION ALS TERMINUS NEUTESTAMENTLICHER EXEGESE UND SEINE AUFNAHME IN DIE DOGMATIK
Der folgende e r s t e Teil der Arbeit u n t e r s u c h t die theologische Verwendungsweise von Antizipation in be griffs geschichtlicher Hinsicht. Im Lichte dieser Perspektive ist das Vorgehen sowie die Grenze folgender Ausf ü h r u n g e n zu sehen. Der Einsatz bei J.Weiß, der diesen Begriff im Kontext theologischer - genauer exegetischer - Bemühungen erstmalig profiliert, ist dadurch ebenso bedingt wie der vorläufige Abschluß dieses Teils mit der Aufnahme des Begriffs Antizipation in die genuin dogmatische Diskussion. Die diese beiden Punkte verbindende Linie ist exemplarisch zu verstehen und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.
1. Die antizipative S t r u k t u r des Gottesreiches bei Johannes Weiß Wie es auch immer um die Kontextualität der 1892 erschienenen Schrift von J.Weiß über "Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes" 1 bestellt sein mag2, kann doch nicht b e s t r i t t e n werden, daß hier in profilierter Weise d u r c h eine exegetische Argumentations die eschatologische Bedingtheit der Predigt Jesu aufgewiesen wird. Sofern nun in diesem Zusammenhang der Begriff Antizipation virulent wird, sind die Aussagen von Weiß von vorneherein f ü r unsere Themenstellung von I n t e r e s s e . Darüber hinaus eignet sich jene Schrift deshalb vorzüglich als Einsatz vorliegender Untersuchung, da von ihr aus eine kontinuierliche Entwicklung dieses Begriffs in der exegetischen Arbeit aufgewiesen werden kann, die mit seiner Transponierung in die dogmatische Diskussion der Gegenwart vorläufig e n d e t .
a) Der Befund Die exegetische Grundthese der Weißschen Schrift läßt sich mit ihren eigenen Worten dahingehend zusammenfassen: "Diese geschichtliche Unt e r s u c h u n g (sc. der Predigt J e s u ) l e h r t , dass Jesus f ü r seine Person ebenso wie f ü r sein Werk die entscheidende Wendung erst von der Zukunft e r h o f f t e . Er wird f ü r uns nicht kleiner . . . , wenn wir e r k e n n e n , dass er in seiner Demut die Vollendung nicht von seinem eigenen T h u n , sondern e r s t von dem Eingreifen seines himmlischen Vaters erwartet hat"5. Auf den Titel der Weißschen Untersuchung angewandt: Der zentrale Begriff der Verkündigung J e s u , das Reich Gottes, ist eine f u t u -
- 24 risch-eschatologische Größe. "Der Grundcharakter der Predigt Jesu ist eben doch Prophetie, Evangelium. Ihre Grundstimmung ist Hoffnung, freilich die ihres Zieles gewisse Hoffnung, aber doch immer Hoffnung"®. Damit erst ist die Spitze der Weißschen Argumentation e r r e i c h t : Es kommt ihm nicht auf die " u n f r u c h t b a r e Fragestellung" a n , "inwieweit J e s u s das Reich Gottes als noch z u k ü n f t i g oder schon gegenwärtig angesehen habe"^. "Das Wesentliche an der Verkündigung Jesu ist . . . der Gedanke, dass das Reich Gottes jetzt ganz gewiss kommt"**. Es ist eben diese "unerschütterliche(n) Gewißheit"9 J e s u , die es verständlich macht, daß Jesus einerseits vom alsbaldigen Kommen des Gottesreiches s p r e chen k a n n , a n d r e r s e i t s davon, daß es schon da i s t . Letzteres sind die "proleptischen Aussagen"10 J e s u , die freilich gegenüber ersterem die "Ausnahmen" bilden. Weiß vergleicht diese Verflechtung von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches in der Verkündigung Jesu mit dem Herannahen eines Gewitters: "Wenn die Wetterwolken aufziehen und die Blitze schon am Horizont zucken, so mag man sagen: es kommt ein Gewitter. Man kann aber auch proleptisch sagen: es ist Gewitter"!!. Das b e d e u t e t , daß dem Verweis auf die prolep tische S t r u k t u r der Gegenwartsaussagen Jesu die exegetische Funktion innewohnt, auch diese Aussagen im zugrundeliegenden Rahmen der Zukünftigkeit des Gottesreiches f ü r Jesu Botschaft f r u c h t b a r zu machen. Der Glaube Jesu "bleibt doch bei ihm immer ein kühn vorweg nehmender Glaube, nicht zu v e r gleichen mit der felsenfesten Überzeugung der alten Gemeinde, die auf unwidersprechlichen E r f a h r u n g e n b e r u h t e , dass der Herr und König des Reiches bereits da . . . ist"12. In der Verkündigung Jesu bleibt also das Reich Gottes auch d a n n , wenn seine Gegenwart ausgesagt wird, eine zukünftige Größe, weil diese Aussagen bloß "Ahnungen eines Neuen, kühne Antecipationen der Vollendung"13 sind. Diese Interpretation der Funktion des Begriffs Antizipation bei Weiß wird noch bestätigt durch folgenden Beleg, der die Bedeutung des P e t r u s b e k e n n t n i s s e s erklären soll: Da sich Jesus selbst als Prophet ansieht (Lk 13,33ff; Mk 6 , 4 ) , "ist auch das Petrusbekenntnis natürlich n u r 'proleptisch' gemeint", ebenso wie "Jesu eignes Bekenntnis vor dem Hohenpriester Diese allgemeinen Aussagen sind kurz in exegetischer Hinsicht zu konkretisieren: Welche Aussagen des Neuen Testaments werden in obiger Weise als Antizipation interpretiert? Es handelt sich um all jene Worte Jesu - nach Weiß ist es bei weitem die Minderheit gegenüber den explizit futurischen Aussagen - , die im Sinne einer Gegenwärtigkeit des Gottesreiches verstanden werden müssen. Neben den Worten, die das "wahre(n) 'Leben'" als Gegenwart erahnen lassen (Mt 8,22; Lk 15,32) 1 5 und jenen, die eine "Ablohnung im Gericht" nicht zu kennen scheinen (Mt 6,2; Lk 17,10)16, untersucht Weiß insbesondere das Verhältnis von ,,ήγγικεν ή βασιλεία" (Mk 1,5 (vgl. 2,19); Mt 4,17; 10,7; Lk 10,9.11; 21,31: ,,έγγύς έστιν ή βασιλεία" ) und ,,εφθασεν ή βασιλεία ..." (Lk 11,20 = Mt 12,28). Seine Argumentation läuft darauf
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hinaus, daß ήγγικεν und εφθασεν dasselbe aramäische Wort KBfi wiedergeben und deshalb synonym zu verwenden s i n d . Das εφθασεν d r ü c k t in proleptischer Weise denselben Sachverhalt a u s , der auch mit ήγγικεν wiedergegeben werden k a n n ^ . Das Antizipierte ist nach Weiß das Reich Gottes s e l b s t , nun freilich so, daß es dadurch n u r scheinbar schon gegenwärtig ist ; in Wirklichkeit soll die Antizipation gerade die bleibende Zukünftigkeit desselben g e w ä h r l e i s t e n ^ . Nur an einer Stelle weicht die Bedeutung des Begriffs "Vorwegnahme" von der dargestellten ab. Der Glaube des Evangelisten Johannes an C h r i s t u s , dessen Werk in der " g r o s s a r t i g e ( n ) Umdeutung und Umformung der urchristlichen Eschatologie zu einer vom Wandel der Zeiten u n abhängigen, schon in der Gegenwart voll zu erlebenden . . . Mystik" 1 ^ b e s t e h t , ist "nicht bloss E r i n n e r u n g , sondern zugleich Vorwegnahme der Vereinigung mit dem Erhöhten"20. Interessanterweise wird diese Aussage damit begründet , daß "'Johannes' nicht n u r aus der Urgemeinde stammte, sondern auch ein Glied des Paulinischen Kreises w a r " 2 l . Hier wird schemenhaft die Rekonstruktion des Urchristentums d u r c h Weiß s i c h t b a r : Jesus s e l b s t , soviel wurde uns schon deutlich, v e r t r i t t ganz die "gewisse" Hoffnung auf den unmittelbar bevorstehenden Anb r u c h des Gottesreiches. Die "Wendung tritt erst ein mit der Auferweckung und Erhöhung J e s u " 2 2 : diese auf das (fehlende Messiasbewußtsein Jesu gemünzte) Aussage kann d u r c h a u s als e r s t e Stufe der "Vergegenwärtigung" der zunächst rein auf die Zukunft bezogenen Hoffn u n g v e r s t a n d e n werden. Dies ist "ein gewaltiger F o r t s c h r i t t " , denn nian kennt bereits den Messias, den Herrn dieses künftigen Reiches 2 ^, und man meint, "Beweise seiner Kraft erhalten zu h a b e n , man besass schon den Geist" 2 ^. So entsteht eine Situation, die durch das Ineinander von festem Glauben "an die Wirklichkeit des Heils" und "ungelöster Spannung, unbefriedigter S e h n s u c h t " 2 5 gekennzeichnet i s t . Es h e r r s c h t eine "religiöse Stimmung, in der sich Glaube und Hoffnung mischen" 2 *». In diesen spannungsvollen Zustand hinein, bei dem nach Weiß "auf die Dauer . . . eine Religion . . . nicht stehen bleiben ( k a n n ) " , ertönt die Theologie des Paulus: "Schon bei ihm hat die eschatologische Spannung ein s t a r k e s Gegengewicht in seiner Christusmystik" 2 ?. Denn die Verbundenheit mit Christus durch den Geist ist räum- und zeitüberwindend - als Beispiel f ü r diese Seite der Paulinischen Theologie verweist Weiß auf "das kühn vorwegnehmende τη γαρ έλπίδι έσώθημεν (Rom 8,23)" 2 8, das analog in V. 30 d u r c h έκάλεσεν, έδικαίωσεν, έδόξασεν aufgenommen und a u s g e f ü h r t wird. In diesem Zusammenhang ist auch die Interpretation von Rom 7,5; 8,9 und Kol 30,3 zu sehen: "Für den Gläubigen . . . ist b e reits vollendet, was in dieser Welt noch in der Entwickelung begriffen ist"29. Auch wenn hier nicht expressis verbis von "Vorwegnahme" gesprochen wird, so ist doch der Sache nach dasselbe gemeint wie Rom 8,24.30.
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Johannes vollendet nun das, "was bei Pulus angebahnt ist"30; "Seine Christusliebe hat den Stand der Sehnsucht überwunden, sie ist mit dem Erhöhten . . . schon jetzt aufs Innigste verbunden . . . Nicht mehr zu warten braucht man auf das Ewige Leben . . . Das Gericht ist diesseitig und hat sich schon vollzogen . . . So wird den messianisch-eschatologischen Begriffen ihre Spitze abgebrochen durch den Glauben, der in der Fülle seines gegenwärtigen Besitzes nicht mehr warten will und nicht mehr zu hoffen b r a u c h t " 3 1 . Dies ist der Inhalt des Glaubens des Johannes, den Weiß als "Vorwegnähme" kennzeichnet. Es dürfte deutlich geworden sein, daß damit mehr als bloß "kühne Antecipationen der Vollendung" gemeint sind: Mit Vorwegnahme wird hier die Vollendung selbst, die im Akt des Glaubens sich vollziehende "Vereinigung mit Christus" beschrieben. "Vorwegnahme" in diesem Sinne ist in der Tat räum- und zeitaufhebend, ist "Kennzeichen eines Glaubens, der nicht nur eschatologisch ist, sondern bereits am Ziele s t e h t " 3 2 . b) Der dogmatische Hintergrund des Weißschen Antizipationsbe griffs Bevor auf den Fortgang der durch Weiß angeregten Diskussion über die Eschatologie der Botschaft Jesu eingegangen werden kann, ist kurz (in exemplarischer Weise) zu untersuchen, ob sich der Begriff Antizipation im Kontext der (dogmatischen) Grundlegung des von Weiß vorgefundenen, ethisch verstandenen Reich-Gottes-Begriffs namentlich bei Kant und Ritsehl nachweisen läßt. Es ist auffällig, daß bei Weiß - abgesehen von jener einen Stelle im Zusammenhang der Deutung der Eschatologie des Johannesevangeliums die Art und Weise der Zuordnung von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches, die Prävalenz eines Zeitmodus über den anderen zur Diskussion steht, ohne daß am Ort der Antizipation die Zeit selbst aufgehoben würde. Auch Kant, dessen Ethisierung der Eschatologie 3 3 die Deutung des Gottesreiches als einer Gemeinschaft bewirkte, "darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetze von ganzer Seele weihen"34, spricht sowohl von der Gegenwärtigkeit als auch von der Zukünftigkeit des Gottesreiches 35. Zwar haben "die Gründe, die es allein bewirken können, allgemein Wurzel gefaßt . . . , obschon die vollständige Entwickelung seiner Erscheinung in der Sinnenwelt noch in unabsehlicher Ferne hinausgerückt ist"36. Freilich stehen Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches hier nicht in einem spannungsvollen wechselseitigen Verhältnis, sondern der Akzent ist einseitig zugunsten der Gegenwart verschoben. Das Reich Gottes wird hier als innerweltliche Größe gesehen, dessen vollständige Entwicklung in der Zeit noch aussteht, das also nur in quantitativer nicht aber in qualitativer Hinsicht unvollkommen ist. So
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ist es eine "bloß zur größern Belebung der Hoffnung und des Muts . . . abgezweckte symbolische Vorstellung . . . , wenn dieser Geschichtserzählung (sc. daß das Reich Gottes "in dieser Geschichte . . . in seinem Eintritte vorgestellet (wird)") noch eine Weissagung . . . von der Volle n d u n g dieser großen Weltveränderung . . . beigefügt wird, und so das Ende der Welt den Beschluß der Geschichte macht"37, Jesus jedenfalls "hatte seinen J ü n g e r n das Reich Gottes auf Erden n u r von der herrlic h e n , seelenerhebenden, moralischen Seite . . . gezeigt"38. Soweit die - hier n u r kurz skizzierte - wirkungsgeschichtlich so bedeutsame Konzeption des moralischen Gottesreiches von Kant: weil bei Kant das Reich Gottes eine innerweltliche Größe d a r s t e l l t , vollzieht sich seine Verwirklichung in der Zeit: dabei reduziert sich dessen "zukünftig e r " Aspekt proportional zu seiner quantitativen diesseitigen Ausbreitung. Auf unsere Themastellung gemünzt lautet das Ergebnis dieses knappen Überblicks: Obschon der Begriff Antizipation im Denken Kants eine wie wir noch sehen werden - fundamentale Rolle spielt, wird er nicht zur Beschreibung des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches verwendet. Es wird später^9 zu f r a g e n sein, inwieweit sich nicht gute Gründe f ü r diesen auffälligen Befund a n f ü h r e n lassen. Wir begnügen uns mit diesen Andeutungen, da es uns nicht um eine Darstellung der Geschichte des Reich-Gottes-Begriffs 4 ^ zu tun i s t , sondern um die Funktion des Begriffs Antizipation innerhalb dieses Kontextes. So werden wir uns im folgenden darauf beschränken darzulegen, daß gerade dieser Sachverhalt, den Kant nicht als Antizipation kennzeichnete, im 19. J a h r h u n d e r t auch mit jenem oder einem ihm ähnlichen Terminus bezeichnet werden konnte. Kein a n d e r e r als Ritsehl faßt den "Gedanken" des Gottesreiches bei Jesus mit einem dem Terminus Antizipation engverwandten Begriff zusammen: "Der Gedanke des Gottesreiches in den Reden Jesu ( t r i t t ) vorläufig in die Projection der Z u k u n f t " 4 ! . Dies bedeutet jedoch nicht, daß f ü r Jesus selbst das Gottesreich eine zukünftige Größe ist: vielmehr verkündigt Jesus "das gegenwärtige Eintreten der Herrschaft Gottes in dem Bundesvolk , indem er sich selbst als den berechtigten Träger derselben d a r stellt oder e r r a t h e n läßt" 4 2. Die zukünftige "Projection" soll n u r auf den zeitlichen Abstand zwischen der Gegenwart des Gottesreiches mit Jesus und "seine(r) volle(n) Verwirklichung" verweisen, wobei "durch die Uebung der Gerechtigkeit in der Gemeinde der Bekenner Christi das Reich Gottes zu Stande (kommt)" 4 ·*; die Verwirklichung des Gottesreiches ist also analog zu Kant als innerweltliche zu begreifen. Diesem Bef u n d stehen Aussagen über die Überweltlichkeit des Gottesreiches n u r scheinbar entgegen: "Es ist wesentliches Merkmal des Reiches Gottes, daß es als der Endzweck in der Welt . . . ebenso über die Welt hinausg r e i f t , wie Gott überweltlich i s t " 4 4 . Damit ist nämlich bloß gemeint, daß
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das Reich Gottes "alle natürlichen und particularen Motive menschlicher Vereinigung . . . ü b e r b i e t e t " 4 5 ; jedoch liegt "jene Bestimmung nicht an sich über das Wesen der Menschen h i n a u s " 4 6 . M.a.W.: die Überweltlichkeit des Reiches Gottes "läßt es nicht zu, das Reich Gottes mit i r g e n d einer bestehenden irdischen Gemeinschaftsform zu identifizieren " 4 ? . Es ist die sittliche Gemeinschaft d e r e r , die nach dem höchsten Gut t r a c h t e n , die d u r c h Jesus ins Leben gerufen wurde und dadurch in dieser Welt zumindest wachsen und sich vermehren kann 4 **. Der Sache nach soll "Projektion" eben jenes Verhältnis der Verkündiggung Jesu vom Gottesreich zu dessen zeitlichem Wachstum a u s d r ü c k e n , das bereits bei Kant in derselben Weise thematisiert w u r d e , freilich ohne daß dieser d a f ü r einen bestimmten Begriff verwendete. Es ist im übrigen i n t e r e s s a n t , daß schon gut 20 J a h r e vor Erscheinen der Erstauflage von "Rechtfertigung und Versöhnung" Daniel Schenkel im II.Teil seiner "Christliche(n) Dogmatik" 4 ^ das Verhältnis der Tat Christi zu u n s e r e r "eigenen sittlichen Leistung" 5 " als Antizipation kennzeichnet. In der Weise nämlich ist die genugtuende Leistung Christi "auch s t e l l v e r t r e t e n d , . . . daß Christus vorläufig und durch Anticipation an u n s e r e r Stelle gelitten und gethan h a t , was in Gemeinschaft mit ihm auch uns zu leiden und zu t h u n o b l i e g t " 5 1 . Diese Verwendung des Begriffs "Antizipation" entspricht sachlich der dargestellten Verhältnisbestimmung von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches bei Kant und Ritschl 5 2. Antizipation ist identisch mit der "Vorläufigkeit" des Werkes Christi: "was der Idee nach in der Menschheit d u r c h Christi Tod und Erhöhung verwirklicht ist" - und also antizipiert ist - , dies kann der "Sünder . . . in seiner Person thatsächlich . . . verwirklichen" 5 *^. Auch bei Schenkel wird also die Möglichkeit einer innerzeitlichen Verwirklichung des in und mit Christus Begonnenen v o r a u s g e s e t z t , wobei dieses "Christusgeschehen" explizit als Antizipation bezeichnet w i r d 5 4 .
c) Fazit: Die exegetische Originalität von "Antizipation" bei J.Weiß Der Begriff Antizipation taucht als theologisch belangvoller - soweit wir sehen - erstmals bei Johannes Weiß im Zusammenhang der Reich-Gott e s - V e r k ü n d i g u n g Jesu auf. Dabei läßt sich die Kennzeichnung einer A u f h e b u n g der Eschatologie d u r c h den Johanneischen Christus als "Vorwegnahme" auf der Folie der Gegenwärtigkeit des Gottesreiches im Sinne Kants und Ritschis, bzw. des Gerichts im Sinne Schenkels v e r s t e h e n . Freilich kann hier nicht von einer theologiegeschichtlich einheitlichen oder gar geprägten dogmatischen Terminologie gesprochen werden: einesteils wird dieser Sachverhalt überhaupt nicht als Antizipation be-
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zeichnet - hierzu gehören neben Kant unter anderem auch die am Ende des 19.Jahrhunderts erschienenen, in unmittelbarer Frontstellung zu Weiß stehenden Schriften^ - , andernteils wird er nicht als "Vorwegnahme" wie bei Weiß, sondern als "Projection" bzw. als "Anticipation" (wobei bei Schenkel, wie wir sahen, das Antizipierte gerade nicht das Gottesreich, sondern das Gericht ist) charakterisiert. Die wesentliche Gemeinsamkeit dieser Modelle sei hinsichtlich der damit gegebenen Struktur von Antizipation noch einmal hervorgehoben: es geht in keinem Fall darum, die diesem Begriff eignende zeitliche Dimena sion schlichtweg zu eliminieren. Sie wird allerdings reduziert auf eine inner geschichtliche und also bloß quantitative Zukünftigkeit des Antizipierten, das nur hinsichtlich seiner Entwicklung, nicht aber in seiner Faktizität vorläufig ist. Das heißt, die Gegenwart des Gottesreiches (bzw. des Gerichts) ist als solche unstrittig: nur seine quantitative Ausbreitung steht noch aus^ß. Die andere Bedeutung des Begriffs Antizipation jedoch, die gerade die exegetische Position der Zukünftigkeit des Gottesreiches angesichts solcher Aussagen Jesu, die seine Gegenwärtigkeit namhaft machen, aufrechterhalten soll, ist allem Anschein nach von Weiß selbst geprägt worden. Eine Bestreitung dieser These müßte den Nachweis führen, daß schon vor 1892 (bzw. 1900) die eschatologische Predigt Jesu vom Reich Gottes "entdeckt" und dessen Gegenwartsbezug unter Wahrung seiner Zukünftigkeit als Antizipation gedeutet worden ist. Ex negativo kann jene These insofern abgesichert werden, als bei den exegetischen Lehrern J.Weiß' der Begriff Antizipation nicht an signifikanter Stelle auftaucht. Hier sind v . a . zu nennen: der Vater von J.Weiß, Bernhard Weiß, der von der "endlichen Verwirklichung des Heils" in Jesus spricht, näher so, daß "das religiöse Ideal Israels", das im "Gottesreich verwirklicht (wird)", in Jesus verwirklicht ist"^. Die zeitliche Struktur des Gottesreiches kann auf drei Ebenen präzisiert werden: "Ist das Gottesreich in der Person des Messias bereits da . . . und im Kreise seiner Anhänger im Kommen begriffen . . . , so ist es doch auch in seiner vollkommenen Realisirung noch zukünftig"58. Das damit gegebene "Ineinandersein von Gegenwart und Zukunft, von Ideal und Wirklichkeit"^ unterscheidet sich grundlegend von dessen proleptischer Struktur bei J.Weiß. Denn der "Vollendung des Gottesreiches" steht nichts mehr im Wege, wenn anders "mit der Erscheinung des verheißenen Messias die Bürgschaft" dafür gegeben ist^O. Das heißt, mit dem Auftreten Jesu, mit seiner Verkündigung, ist das Gottesreich unbestreitbar gegenwärtig, nicht aber antizipiert im Sinne von J.Weiß. Dementsprechend zeitigt die Untersuchung der Aussagen von B.Weiß zu jenen Stellen des NT, die J.Weiß als proleptische interpretiert61, ein negatives Ergebnis: kein einziges Mal wird von jenem Terminus Gebrauch gemacht®^.
- 30 Neben B.Weiß d ü r f e n als exegetisch relevante Vorgänger von J.Weiß v . a . jene angesehen werden, die die spätjüdische Apokalyptik als wesentliches Bindeglied zwischen der israelitischen Prophetie einerseits, dem Auftreten Jesu a n d r e r s e i t s annahmen. Zu Recht betont W.G.Kümmel, daß "ihm (sc. J.Weiß) die Kenntnis der f r ü h j ü d i s c h e n Apokalyptik die Augen f ü r seine Deutung der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu geöffnet h a t t e " ^ . Demzufolge wäre insbesondere an drei Schriften zu denken: O.Everling, Die paulinische Angelologie und Dämonologie, 1888; H.Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus, 1888; W.Baldensperger, Das Selbstbewußtsein Jesu im Lichte der messianischen Hoffnung seiner Zeit, 1888. Wenn wir recht sehen, dann taucht in keiner dieser Schriften der Terminus der Prolepse auf: dies ist wohl darauf z u r ü c k z u f ü h r e n , daß bei aller Betonung der eschatologischen F ä r b u n g der jüdischen Apokalyptik letztlich doch das Reich Gottes in Jesu Auftreten zumindest im Grundsätzlichen als verwirklicht angesehen wird, so daß die Differenz zwischen Jesu Verkündigung und der Zukunft des Gottesreiches sich als Problem nicht in der Schärfe wie bei J.Weiß stellt. Es ist in diesem Zusammenhang i n t e r e s s a n t , daß F.Schleiermacher in der dritten seiner "Reden über die Religion" - freilich eher beiläufig den Begriff Antizipation s t r u k t u r e l l analog zu J.Weiß g e b r a u c h t : "Jedes Antizipieren der andern Hälfte einer religiösen Begebenheit, wenn die eine gegeben i s t , ist eine Weissagung, und es war s e h r religiös von den alten Hebräern, die Göttlichkeit eines Propheten . . . ganz einfältig nach dem Ausgang ( a b z u m e s s e n ) " ^ . Weissagung wird also hier von Schleiermacher mittels des Begriffs Antizipation d e f i n i e r t , und zwar so, daß die Weissagung als antizipierte erfüllt oder enttäuscht werden k a n n , jedenfalls aber von der Zukunft ihres "Ausgangs" a b h ä n g t . Die Singularität dieses B e f u n d s bei Schleiermacher verbietet e s , ihn inhaltlich zu p r e s s e n ; jedenfalls wird an dieser Stelle der Terminus Antizipation in modern anmutender Weise auf die bestätigende oder enttäuschende Zuk u n f t des geweissagten Geschehens bezogen, das n u r im Modus des "Antizipierens" "gegeben", das heißt "gegenwärtig" ist®^. Der gravierende Unterschied zur Verwendung von "Antizipation" bei J . Weiß bleibt trotz der zweifellos vorhandenen Strukturanalogie u n ü b e r s e h b a r : der inhaltlichen Applikation auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu bei J.Weiß steht die auf prophetische Weissagungen des AT bei Schleiermacher gegenüber. Man könnte allerdings vermuten, daß im Kontext von Schleiermachers "Glaubenslehre", dort nämlich, wo es um die Darstellung des prophetischen Amtes Jesu g e h t , das ja bekanntlich als ein Wesensmoment das "Weissagen" in sich enthält, d u r c h J e s u Weiss a g u n g des bevorstehenden Anbruchs des Gottesreiches ein Bezug zwischen der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und jenem "Antizipieren" hergestellt werden könnte. Diese Erwartung wird jedoch in zweifacher
- 31 Hinsicht enttäuscht: erstens wird in der "Glaubenslehre" Weissagung nicht mehr als "Antizipation" definiert®® - höchstens die Kennzeichnung der prophetischen Weissagung als "hypothetisch" mag an die erste Auflage der "Reden" erinnern® 7 - , zweitens, erst dies ist der entscheidende Gesichtspunkt, ist "Christus der Gipfel der Weissagung" und deren "Ende. Denn die wesentliche Weissagung ist nun gänzlich erfüllt . . . ; und es ist nichts mehr zu denken, was dem Reiche Gottes noch Wesentliches fehlen könne"®®*. Anders als bei J.Weiß kann somit der Begriff der Antizipation, dem in der Tat das Moment des "Hypothetischen" und also "Strittigen" eignet, wie sich herausstellen wird, bei Schleiermacher gar keine Anwendung auf die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu finden, sofern diese gar nicht auf die Zukunft ihrer Bewährung angewiesen ist. Allerdings wäre es interessant zu verfolgen, ob sich die Bestimmung der prophetischen Weissagung als Antizipation im Sinne der ersten Auflage der "Reden" in der alttestamentlichen Exegese des 19. Jahrhunderts niederschlägt. Da eine derartige Untersuchung den Rahmen dieser Arbeit überschritte beschränken wir uns darauf, zwei Belege der zu J.Weiß zeitgenössischen Exegese heranzuziehen, die von Antizipation im Sinne Weiß' sprechen, und zwar interessanterweise zu einer Zeit, als zwar die erste Auflage der "Predigt Jesu vom Reiche Gottes" schon publiziert war, deren Überarbeitung aber und die damit verbundene Einführung des Antizipationsbegriffs an zentraler Stelle der Weißschen Schrift noch ausstand. Es handelt sich zum einen um die 1892 erschienene Schrift "Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum" von W.Bousset. An einer Stelle wird hier, allerdings bezogen auf den "Gottvaterglauben" im Spätjudentum, der Begriff Antizipation ganz im Sinne von Weiß verwendet: "Höchstens in einer gesteigerten Hoffnungsfreudigkeit, durch eine Anticipation der Phantasie, durch die das in der Zukunft Gehoffte gewaltsam schon in der Gegenwart ergriffen wurde . . . ließe sich ein solcher Glaube (sc. der lebendige Gottvaterglaube Jesu) auf dem Boden des Judentums denken" 7 ^. Hier findet sich dieselbe Funktion des Begriffs Antizipation, die ihm auch bei Weiß eignet: Antizipation als "im Momente auftauchend und wieder verschwindend" 71 soll gerade die für das Spätjudentum konstitutive Zukünftigkeit des in Jesus zum Ausdruck kommenden Gottvaterglaubens garantieren. Da Bousset die Verwendung dieses Begriffs nicht belegt, muß freilich offen bleiben, woher er stammt. Neben W.Bousset könnte noch auf G.Dalman hingewiesen werden, der an einer Stelle in seinem Buch über "Die Worte Jesu" expressis verbis den Terminus "proleptisch" gebraucht. Es handelt sich augenscheinlich um jene Aussage, die J.Weiß ohne Belegangabe zitiert 7 ^, derzufolge nach Dalman gilt: "Das messianische Bekenntnis des Petrus wird sicherlich proleptisch gemeint sein, da er auf keinen Fall Jesu messianisches Königtum schon verwirklicht sah" 7 **. Auch in diesem Fall muß offenbleiben, ob Dalman hier vorgefundene Terminologie übernimmt oder nicht.
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Jedenfalls - und dies scheint obige These zu legitimieren, daß J.Weiß es i s t , der erstmals den Gegenwartsbezug der Predigt J e s u vom Reiche Gottes als Antizipation kennzeichnet - wenden weder Dalman noch Bousset jenen Begriff auf die Reichspredigt Jesu a n , und er hat f ü r deren Argumentation keine t r a g e n d e Bedeutung, sondern wird n u r beiläufig, an je einer einzigen Stelle g e b r a u c h t . Es soll damit nicht b e s t r i t t e n werd e n , daß J.Weiß den Begriff Antizipation - wenn auch n u r in spärlicher Verwendung - in der exegetischen Tradition v o r f a n d , und zwar d u r c h aus in seinen beiden Momenten von Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit; allein f ü r die von ihm vorgenommene Applikation auf die Reich-GottesVerkündigung Jesu in der oben dargestellten Weise wird f ü r J.Weiß Originalität reklamiert. Im folgenden gilt e s , die Wirkungsgeschichte der beiden dargestellten Verwendungsweisen von "Antizipation" bei J.Weiß in der theologischen Diskussion u n s e r e s J a h r h u n d e r t s in exemplarischer Weise zu verfolgen.
2. Die Funktion des Begriffs Antizipation im Zusammenhang der exegetischen Arbeit Rudolf Bultmanns Wie der Titel dieses Abschnittes deutlich machen soll, wollen wir uns im folgenden darauf b e s c h r ä n k e n , die Rolle des Begriffs Antizipation innerhalb des großen exegetischen Konzepts Bultmanns h e r a u s z u a r b e i t e n . Es muß freilich auf Bultmanns Theologie im Kontext der philosophischen Diskussion über den Antizipationsbegriff zurückgegriffen werden, wobei insbesondere die Bedeutung des in "Sein und Zeit" zentralen Gedankens der "vorlaufenden Entschlossenheit" f ü r die Existenztheologie Bultmanns zu u n t e r s u c h e n sein wird 7 ^.
a) Bultmann und die historisch-kritische Methode der liberalen Theologie Bei aller Kritik an der "liberalen Theologie", bei aller Betonung der Zugehörigkeit zu jener "jüngsten theologischen Bewegung, die wesentlich d u r c h die Namen Barth und Gogarten bezeichnet i s t " ? 5 , hat Bultmann doch nie ein Hehl d a r a u s gemacht, daß eben die liberale Theologie den Nährboden f ü r seine eigene Theologie (und f ü r die Entwicklung der dialektischen Theologie als ganzer) bildet: "Hier war - das empfanden wir die Atmosphäre der Wahrhaftigkeit, in der wir allein atmen konnten"?®. Gegenüber dem "Kompromißbetrieb" der "orthodoxen Universitätstheologie aller S c h a t t i e r u n g e n " 7 7 , deren "Erneuerung" gar nicht a n z u s t r e ben i s t , will diese "jüngste theologische Bewegung" sich besinnen "auf die Konsequenzen, die sich aus der d u r c h die liberale Theologie bestimmten Situation e r g e b e n " 7 8 .
- 33 Es soll hier nicht die Diskussion d a r ü b e r a u f g e g r i f f e n w e r d e n , inwieweit Bultmann f a k t i s c h liberaler Theologe geblieben i s t , ob e r t a t s ä c h lich - a n d e r s als B a r t h - "der bei weitem t r e u e r e Schüler W.Herrmanns ist"^®; worauf es vielmehr ankommt - u n d dies legitimiert den systematischen Ort dieser A u s f ü h r u n g e n im Anschluß an die D a r s t e l l u n g von J.Weiß - , ist die Hochschätzung "des historischen I n t e r e s s e s " 8 0 d e r liberalen Theologie bei Bultmann. Allerdings ist jene " V o r h e r r s c h a f t " des historischen I n t e r e s s e s in der liberalen Theologie, d a s von Bultmann so s e h r in den Mittelpunkt gestellt wird, d a ß e r das A t t r i b u t "liberal" d u r c h " h i s t o r i s c h - k r i t i s c h " e r s e t z e n k a n n ^ l , nicht n u r i h r großes V e r d i e n s t , s o n d e r n sie bildet auch den A u s g a n g s p u n k t f ü r Bultmanns Kritik. Dabei liegt der "Fehler" nicht d a r i n , "daß man diese ( s c . h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e ) Arbeit t r i e b u n d in i h r zu mehr oder weniger radikalen E r g e b n i s s e n k a m " ^ : die e n t s c h e i d e n d e Schwäche d e r liberalen Theologie b e s t e h t vielmehr d a r i n , daß sie in d e r Konsequenz ihr eigenes "Charisma . . . v e r l e u g n e t , wenn es am Ende d e s k r i t i s c h e n Weges h e i ß t : ganz so schlimm ist es n u n doch n i c h t , u n d die Ergebnisse der h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e n Theologie sind immerhin doch noch b r a u c h b a r f ü r den Glauben"83. Wenn also im folgenden die h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e F o r s c h u n g Bultmanns im Hinblick auf den Antizipationsgedanken zu analysieren i s t , so ist von v o r n h e r e i n zu e r w a r t e n , daß hier an die h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e n E r k e n n t nisse d e r liberalen Theologie a n g e k n ü p f t wird: es kann sich ja nicht darum h a n d e l n , "die historische Kritik a b z u s e t z e n ; a b e r ihr Sinn muß e r f a ß t werden als eben d e r : sie hat radikal zur Freiheit u n d Wahrhaftigkeit zu e r z i e h e n , . . . indem sie von einem jeden f ü r wissenschaftliche E r k e n n t n i s möglichen Geschichtsbild f r e i macht u n d zum Bewußtsein b r i n g t , daß die Welt, die d e r Glaube e r f a s s e n will, mit d e r Hilfe der wissenschaftlichen E r k e n n t n i s ü b e r h a u p t nicht e r f a ß b a r wird"84. Diese programmatische Aussage Bultmanns ist geeignet, die Bipolarität seiner theologischen Arbeit zu v e r d e u t l i c h e n : Die Aufgabe der e x e g e t i schen ( h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e n ) F o r s c h u n g ist (im Kantischen Sinne) p r o p ä d e u t i s c h - k r i t i s c h e r A r t : sie hat h e r a u s z u a r b e i t e n , daß geschichtliche E r k e n n t n i s s e , mögen sie auch wissenschaftlich f u n d i e r t s e i n , zu scheiden sind von den Dingen u n d Aussagen des Glaubens. Damit wird die Aufgabe u n d das Vermögen der h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e n Wissenschaft ab ovo r e l a t i v i e r t : dies gilt es im folgenden nicht aus den Augen zu verlieren.
b ) Die Zukunft d e r G o t t e s h e r r s c h a f t Wenn vorhin darauf hingewiesen w u r d e , d a ß Bultmann an die h i s t o r i schen E r g e b n i s s e d e r liberalen Theologie a n k n ü p f t , so sind damit n o t wendig d r e i Namen v e r b u n d e n : A . S c h w e i t z e r , i n s b e s o n d e r e a b e r W. Wrede u n d J.Weiß. Freilich können hier nicht die von Bultmann v o r -
- 34 genommenen Modifikationen u n d K o r r e k t u r e n d e r mit jenen Namen v e r k n ü p f t e n exegetischen E r g e b n i s s e im allgemeinen u n t e r s u c h t w e r d e n : es genügt z u n ä c h s t , Bultmanns Aussagen ü b e r die Reich-Gottes-Verk ü n d i g u n g J e s u heranzuziehen u n d sie mit denen von J.Weiß zu v e r g l e i c h e n , u n d zwar v . a . u n t e r dem hier leitenden Gesichtspunkt d e r antizipativen S t r u k t u r des Gottesreiches. Zunächst einmal ist wesentlich: Bultmann hat von seinen e r s t e n Veröffentlichungen an bis hin zur "Theologie des Neuen Testaments" die e s c h a t o l o g i s c h - f u t u r i s c h e V e r k ü n d i g u n g des Gottesreiches bei J e s u s als s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e n exegetischen Sachverhalt v o r a u s g e s e t z t . In einem f r ü h e n Aufsatz von 1917 heißt e s : "Das eschatologische Bewußtsein gab J e s u s seine A u f g a b e . Sein Volk in letzter S t u n d e zur Buße zu r u f e n und zum Reich zu laden, zog e r d u r c h d a s Land"85. Die V e r k ü n d i g u n g J e s u steht in Bultmanns J e s u s b u c h u n t e r dem Thema: "Das Kommen der G o t t e s h e r r s c h a f t " 8 6 ; e n t s p r e c h e n d lautet der e r s t e Satz ü b e r J e s u V e r k ü n d i g u n g : "Eschatologische Botschaft ist die V e r k ü n d i g u n g J e s u , d . h . die B o t s c h a f t , daß nunmehr die E r f ü l l u n g d e r V e r h e i ß u n g vor der T ü r s t e h e , daß n u n m e h r die G o t t e s h e r r s c h a f t h e r e i n b r e c h e E n t s p r e c h e n de Aussagen finden sich mannigfach in "Glauben u n d V e r s t e h e n " - p a r s p r o toto: "Jesus blickt in die Z u k u n f t , auf die kommende G o t t e s h e r r s c h a f t , . . . auf die jetzt kommende bzw. jetzt a n b r e c h e n d e " 8 8 . Der e r s t e P a r a g r a p h der "Theologie d e s Neuen T e s t a m e n t s " schließlich b e g i n n t mit den Sätzen: "Der b e h e r r s c h e n d e Begriff der V e r k ü n d i g u n g J e s u ist d e r Begriff der G o t t e s h e r r s c h a f t . . . I h r unmittelbar b e v o r s t e h e n d e s Hereinb r e c h e n , das sich schon jetzt k u n d t u t , v e r k ü n d i g t e r . Die G o t t e s h e r r s c h a f t ist ein eschatologischer Begriff"89. So weit ist vollständige Übereinstimmung zwischen J.Weiß u n d Bultmann zu k o n s t a t i e r e n . S p a n n e n d e r wird dieser Vergleich allerdings d a n n , wenn man Bultmanns Ä u ß e r u n g e n ü b e r die Gegenwärtigkeit des Reiches a n a l y s i e r t . Wir e r i n n e r n u n s : Weiß v e r w e n d e t e den Antizipationsbegriff f ü r eben diesen S a c h v e r h a l t , um damit a n g e s i c h t s d e r Gegenwart des Reiches seine Zukünftigkeit a u f r e c h t z u e r h a l t e n , um Gegenwart u n d Z u k u n f t d e s Gottesreiches in einem f a s s e n zu k ö n n e n . Nur an einer Stelle kommt Bultmann diesem Gedanken n a h e , freilich ohne d a f ü r den Begriff Antizipation zu v e r w e n d e n : Das Reich Gottes ist n a h e , "ja in Augenblicken h ö c h s t e r S p a n n u n g s p ü r t man seine K r ä f t e schon g e g e n w ä r t i g : die Dämonen fliehen"90. Auch Weiß h a t t e im Zusammenhang von Mt 12,28 (an diese Stelle könnte man zumindest denken bei d e r A u s s a g e : "die Dämonen fliehen") darauf hingewiesen, daß solche u n d ähnliche Redeweisen "hingeworfene Fragmente" nicht aber "Ausdruck d e r b e h e r r s c h e n d e n G r u n d s t i m m u n g " s i n d . Kommen Weiß u n d Bultmann also d a r in ü b e r e i n , daß d e r a r t i g e Aussagen e h e r die Ausnahme der V e r k ü n d i g u n g J e s u b i l d e n , so ist zumindest a u f f a l l e n d , daß Bultmann o f f e n s i c h t lich die D e u t u n g dieser Sätze als "Anticepationen" im Sinne Weiß' nicht übernimmt^ 2 . D . h . , daß die eigentümliche V e r s c h r ä n k t h e i t von Gegen-
- 35 wart und Zukunft nicht mehr begrifflich präzise gefaßt werden kann: "man spürt . . . schon gegenwärtig" ist jedenfalls relativ vage formuliert, wenngleich das "Schon" als "Schon jetzt" ein unausgesprochenes "Noch nicht" ergänzen läßt. Es wäre zweifellos vermessen, würde man aufgrund dieser einen Stelle Rückschlüsse auf eine Entzeitlichung der Eschatologie bei Bultmann ziehen: eine derartige Argumentation würde einerseits auf viel zu schwachen Beinen stehen, andererseits scheint uns gerade mit jener Aussage Bultmann dem Weißschen Antizipationsbegriff als Präzisierung der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu sehr nahe zu kommen. Es ist aber zu fragen, ob sich Bultmann nicht noch weitgehender in seinen späteren Schriften in eine Richtung fortentwickelt, die das Fehlen des Antizipationsbegriffs bereits in jenem frühen Aufsatz von 191793 indiziert . Bultmann äußert sich, von gelegentlichen Hinweisen in "Glauben und Verstehen" abgesehen, zusammenhängend zum Reich-Gottes-Begriff der Verkündigung Jesu in seinem wirkungsgeschichtlich einflußreichen Buch "Jesus" und in seiner "Theologie des Neuen Testaments". Da letzteres als Extrakt von ersterem angesehen werden darf - was die Interpretation der Verkündigung Jesu betrifft - , wollen wir uns auf die Darstellung dieses Jesusbuches beschränken. Zu untersuchen ist das Problem, wie sich nach Bultmann Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches zueinander verhalten; dabei ist von vornherein festzuhalten, daß jener Aufsatz von 1917 insofern paradigmatisch ist, als auch später nie versucht wird, jenes Verhältnis mit Hilfe des Antizipationsbegriffs zu beschreiben. Die die folgende Interpretation leitende Frage läßt sich dann so formulieren: Kann nachgewiesen werden, daß Bultmann die futurische Dimension des Gottesreiches zugunsten einer "ent zeit lichten" Gegenwart nivelliert? Wenn dies der Fall ist, dann erhält das Fehlen des Antizipationsbegriffs seinen guten Sinn, sollte er doch, wie schon mehrfach hervorgehoben, gerade die Verschränkung von Zukunft und Gegenwart der Gottesherrschaft auf den Begriff bringen. Wird nämlich die antizipative Struktur der Aussagen Jesu über das Gottesreich vernachlässigt, so bleibt nur, es entweder als rein futurische oder rein gegenwärtige Größe aufzufassen. Für welche der beiden Alternativen sich Bultmann entschied, kann vielleicht am ehesten deutlich werden, wenn geklärt wird, was er unter Zukunft des Gottesreiches in der Verkündigung Jesu versteht. Der Unterschied zwischen Jesus (bzw. der Jerusalemer Urgemeinde) und Paulus (bzw. dem hellenistischen Christentum einschließlich Johannes) liegt nach Bultmann darin, "daß Paulus dasjenige, was für Jesus Zukunft ist, als Gegenwart bzw. als in der Vergangenheit angebrochene Gegenwart a n s i e h t " ^ . Auch hier wird, ganz im Sinne von J.Weiß und jenem Aufsatz von 1917, die Zukunft der Gottesherrschaft bei Jesus betont: "Jesus blickt in die Zukunft, auf die kommende Gottesherrschaft, freilich
- 36 auf die jetzt kommende bzw. jetzt anbrechende. Paulus aber blickt zurück: die Wende der Äonen ist schon erfolgt"95. wie aber ist es begreiflich zu machen, daß "der Verkündiger . . . zum Verkündigten (wurd e ) ' ^ 6 , wie kam es zum Entschluß der Urgemeinde, " J e s u s , den Propheten und Lehrer, den Gekreuzigten als den Messias an zuerkennen "9?? Die unabdingbare Voraussetzung für diesen Entschluß liegt in der Verkündigung Jesu selbst: "Jesus hat keine Lehre über seine Person vorgetragen ; wohl aber hatte er das Faktum seiner Person als bedeutsam, ja als entscheidend betont, sofern er der Träger des entscheidenden Wortes von Gott in der letzten Stunde sein wollte"98. Das heißt aber doch, daß die Zukunft der Gottesherrschaft der Entscheidung (des Glaubenden) für Jesus korrespondiert. In der Tat: "Die Zukunft der Gottesherrschaft ist dann auch nicht eigentlich ein Etwas, das einmal kommt im Ablauf der Zeit . . . Vielmehr ist die Gottesherrschaft eine Macht, die die Gegenwart völlig bestimmt, obwohl sie ganz Zukunft ist"99. Dem entspricht Jesu eigene Anschauung von der Gottesherrschaft: nicht stehen die "dramatischen Ereignisse(n) ihres Kommens" im Vordergrund, ja als "Zustand" interessiert das Gottesreich Jesus überhaupt nicht. Es "interessiert ihn . . . als das wunderbare Ereignis, das für den Menschen das große Entweder-Oder bedeutet, das den Menschen in die Entscheidung h i n e i n s t e l l t " ^ 0 . Aus dem Gesagten wird deutlich, daß die Gottesherrschaft keine ( w e l t geschichtliche Dimension haben kann: sie ist keine "objektive" Größe, die "in der Gegenwart begönne und in der Zukunft ihre Vollendung erführe"191, sondern sie betrifft ausschließlich den einzelnen Menschen. Nun freilich auch nicht so, "daß ein innerlicher, geistiger Besitz an persönlichen Qualitäten oder seelischen Zuständen ein gegenwärtiges Ergreifen der Gottesherrschaft wäre, dem nur noch die künftige Vollendung fehlte"102. Als anthropologische Größe ist die Gottesherrschaft kein "Zustand", sondern "das künftige Handeln Gottes", dieses bestimmt aber insofern die Gegenwart des Menschen "und ist eben deshalb echte Zukunft", als es "das auf den Menschen Zukommende ( i s t ) , das ihn in die Entscheidung s t e l l t " 1 0 ^ . "Echte Zukunft" meint dabei die notwendige ( i . e . wesentliche) Zukunft des Menschen, die nur als solche seine Gegenwart bestimmen k a n n 1 0 ^ . Echte Zukunft unterscheidet sich außerdem dadurch von einer " f a l s c h e ( n ) " , daß der Mensch über diese "im Grunde schon v e r f ü g t " , während jene "ihm einen Charakter geben wird, den er noch nicht h a t " l ° 5 . Die Zukunft Gottes ist so die Zukunft des einzelnen Menschen: Jesu (eschatologische) "Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft" wird vermittelt mit seiner (ethischen) vom Willen Gottes, weil Ethik und Eschatologie auf dasselbe Subjekt zielen - auf den Menschen! Jesus "redet von Gott, indem er vom Menschen redet und ihm zeigt, daß er in der letzten Stunde steht, in der Entscheidung, daß er in seinem Willen von Gott beansprucht i s t " 1 0 6 .
- 37 Die wesentlichen Konsequenzen dieser Argumentation, die dem Programm von "Welchen Sinn hat e s , von Gott zu r e d e n ? " entsprechen und wohl in einer wie auch immer näher zu bestimmenden anthropologischen Engführ u n g gipfeln, brauchen uns nicht weiter zu beschäftigen; hier genügt die Einsicht, daß der Antizipationsbegriff zur Kennzeichnung des Reiches Gottes im Weißschen Sinne von Bultmann nicht mehr verwendet werden k a n n , weil damit gerade eine geschichtliche, zumindest aber mehr als eine bloß existenziale Zukunft der Gottesherrschaft ausgedrückt werden soll. Das aber d ü r f t e aus dem bisher Dargestellten d e u t lich geworden sein, daß die Zukunft des Gottesreiches auf die Zukunft des jeweiligen menschlichen Lebens bezogen und damit restringiert i s t , so daß Jesus mit seinem Leben und Tod nichts vorwegnimmt, sondern ( n u r ) die Voraussetzung d a f ü r s c h a f f t , daß der Mensch sich f ü r seine Zukunft (das heißt f ü r Gott) entscheiden k a n n .
c) Die Funktion des Begriffs Antizipation Im folgenden soll - trotz des spärlichen Befundes - die These aufgestellt und b e g r ü n d e t werden, daß Bultmann den Begriff Antizipation in jener zweifachen bei Weiß festgestellten Bedeutung kennt und verwendet. Während die e r s t e Verwendungsweise, bei der Antizipation gerade die Differenz des Zukünftigen (Antizipierten) gegenüber der Gegenwart a u s drücken soll, eher von u n t e r g e o r d n e t e r Bedeutung i s t , werden zentrale Aussagen Paulinischer und Johanneischer Theologie in jenem zweiten Sinne i n t e r p r e t i e r t , demzufolge d u r c h die Antizipation der Zukunft das Heil gegenwärtig i s t . Näher ist der Modus der Gegenwart d u r c h a u s nicht als vorläufiger, s t r i t t i g e r oder überholbarer zu kennzeichnen, vielmehr soll das proleptische Heil gerade (im Sinne der präsentischen Eschatologie des Johannesevangeliums) das u n ü b e r b i e t b a r Gegenwärtige sein. Was zunächst die Exegese des Corpus Paulinum b e t r i f f t , so besteht der v e r b l ü f f e n d e Befund d a r i n , daß eben Rom 7,5; 8,9 und 8,30 als "antezip i e r e n d ( e ) " Redeweise 1 0 7 des Paulus bzw. als "proleptisch" 1 0 ^ nach Bultmann zu verstehen sind. Es sind also dieselben Stellen, die schon Weiß und zwar auch als auf die glaubende Existenz bezogene - in diesem Sinne interpretiert h a t t e . Die Übereinstimmung geht bis in die Wortwahl: Sprach Weiß im Zusammenhang von Rom 8,24.30 von einem "kühn vorwegnehmenden" Ausdruck des Paulus, so kennzeichnet Bultman Rom 8,30 als ein von Paulus "in k ü h n e r Vorwegnahme" 1 0 9 ausgesprochenes Wort! Es h e r r s c h t nach dieser Interpretation bei Paulus kein Zweifel d a r ü b e r , daß f ü r den Glaubenden die ζωή und die δόξα Gegenwart sind: "In der Erschlossenheit f ü r die Zukunft und in der Bestimmtheit durch sie ist die ζωή G e g e n w a r t " 1 1 0 . Es kann erst s p ä t e r 1 1 1 bewiesen werden, daß f ü r diese Formulierung Heideggers "Vorgriff" auf die Zukunft Pate s t a n d ; hier muß der Hinweis genügen, daß mit dieser Aussage offensichtlich die Gegenwart der im Glauben antizipierten ζωή herausgehoben werden s o l l 1 1 2 .
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Daß tatsächlich mit dem Antizipationsbegriff die Differenz zwischen der Gegenwart des Antizipierten und seiner Zukunft eingezogen werden k a n n , wird vollends deutlich anhand der Interpretation des Glaubens bei Johannes. Auch Weiß hatte ja von einer "Vorwegnahme der Vereinigung mit dem Erhöhten" gesprochen, die gerade d a d u r c h ausgezeichnet war, daß alle "Anschauungen vom Gericht und vom Heil aus der Zukunft in die Gegenwart, aus der Jenseitigkeit ins Diesseits gezogen (wurd e n ) " 1 1 3 . War Paulus noch "erfüllt von der Erwartung des nahen Weite n d e s " 1 1 ^ , so ist Johannes hier noch einen Schritt weitergegangen: "Anders Johannes, f ü r den die eschatologische Zeitperspektive keine Rolle spielt infolge seiner radikalen Vergegenwärtigung des eschatologischen Geschehens" 1 1 ^. In diesem Sinne i n t e r p r e t i e r t Bultmann das Bekenntnis der J ü n g e r zu Jesus (Joh 16,30): Es "besagt nichts a n d e r e s , als daß in dem Wirken Jesu als des O f f e n b a r e r s , das jetzt sein Ende erreicht h a t , alle E r k e n n t nis enthalten i s t " 1 1 ^ . Somit "nimmt" das Bekenntnis der Jünger "diese Zukunft voraus"117, das ist die Zukunft, die Jesu Verkündigung als "definitive Enthüllung" als "echtes Verständnis . . . bringen k a n n " H 8 . Sofern also die J ü n g e r (jetzt) in der Situation des Abschieds sich zu Jesus bekennen, tun sie d a s , was gerade ihre Zukunft konstituiert ; ihr e Zukunft ist mit dieser Abschiedssituation identisch. Das Bekenntnis zu Jesus als Glaube an ihn ist also antizipativ, denn "im Glauben nimmt der Glaubende die Zukunft v o r w e g " 1 1 ^ Wesentlich ist dabei, wie gesagt, daß diese antizipierte Zukunft mit i h r e r "wirklichen" Ankunft vollends identisch i s t . Diese A u s f ü h r u n g e n werden dann an Klarheit gewinnen, wenn sie auf dem Hintergrund der Heideggerschen Argumentationsfigur des "Vorlaufens zum Tode" als Vorwegnahme des ganzen Daseins gelesen werden. Da dies hier noch nicht geleistet werden k a n n , müssen wir uns vorerst mit der Einsicht b e g n ü g e n , daß bei Bultmann der Antizipationsbegriff dazu dient, die ( f ü r den Glauben) gegenwärtige Zukunft des Lebens (als ζωή) so zu thematisieren, daß dieses Leben ganz in der jeweiligen Gegenwart, im jeweiligen Jetzt des Augenblicks a u f g e h t . Daneben findet sich noch eine zweite Funktion des Antizipationsbegriffs bei Bultmann, die gerade die Differenz zwischen dem Antizipierten und seiner Zukunft hervorhebt und so der Bedeutung e n t s p r i c h t , die bei Weiß im Zusammenhang von Jesu Verkündigung der Gegenwart des Gottesreiches expliziert wird. Wenngleich sich Bultmann hier - genausowenig wie bei der dargestellten Funktion des Begriffs Antizipation - nicht auf Weiß b e r u f t , so ist es doch i n t e r e s s a n t , daß er eine Äußerung von diesem über die eschatologische Stimmung des Urchristentums als antizipativ i n t e r p r e t i e r t , und zwar in einem ganz anderen Sinn als dem bisher dargestellten. Bultmann b e r u f t sich auf den 1913 von Weiß erschienenen Aufsatz über "Das Problem der Entstehung des Christentums" 1 2 ^, wo die These aufgestellt wird, daß
- 39 "das Bewußtsein, in den letzten Zeiten zu stehen, . . . das eigentlich Charakteristische des Urchristentums ( i s t ) . 'Diese 'Stimmung' ist das Wesentliche am Urchristentum, es ist die das Ganze zusammenhaltende Grundüberzeugung'"121. Dieser Charakterisierung erteilt Bultmann seine uneingeschränkte Zustimmung, weil "man das Christentum der werdenden Kirche unter dieser Fragestellung betrachten kann: wie sich der Uebergang vom Bewußtsein des jenseitig-zukünftigen, nur in der Stimmung antizipierten Heils vollzieht zum Bewußtsein des in der Vergangenheit durch Christus gestifteten und in den kirchlichen Institutionen gegenwärtigen Heils" 122. Offensichtlich differiert das "nur" antizipierte Heil und das gegenwärtige Heil, und zwar so, daß ersterem die "volle" Gegenwart abgesprochen werden muß: das Antizipierte erweist sich so gegenüber der Zukunft des Antizipierten als defizitär, kann also keineswegs mit ihr identifiziert werden. Diese Aussage findet sich in Bultmanns "Theologie des Neuen Testaments" wieder, wo das "vor- und nebenpaulinische(n)"123 hellenistische Christentum als "eschatologische(n) Gemeinde" beschrieben wird, "für welche das Heil als vorausgenommene Zukunft schon gegenwärtig ist"124. Sofern dieses antizipierte Heil dem (analog den hellenistischen Mysterienreligionen) im Kultus gegenwärtigen Heil gegenübergestellt wirdl25, wo der Kult selbst Heilsmittel wird (die Eucharistie wird so zum φάρμακον αθανασίας) , dürfte auch hier deutlich sein, daß die Gegenwart des Heils nicht mit seiner Antizipation gleichgesetzt werden darf. Dem entspricht schließlich die Deutung von Leib und Blut Jesu, die von ihm beim letzten Mahl ausgeteilt werden: sie "sind natürlich . . . in mysteriöser Antezipation Leib und Blut des Gekreuzigten, Geopferten"126. o f fensichtlich soll durch die "mysteriöse Antezipation" zwar die Gegenwart von Leib und Blut des Gekreuzigten in Brot und Wein ausgesagt werden, die jedoch wesentlich von dem tatsächlichen Leib und Blut verschieden ist. Auch hier differiert die Gegenwart im Modus der Antizipation (Leib und Blut im Mahl) und die zukünftige Gegenwart (Leib und Blut am Kreuz). Das Ergebnis der Beschäftigung mit Bultmanns Verwendung des Antizipationsbegriffs kann in mehrfacher Hinsicht zusammengefaßt werden: 1. Der Begriff Antizipation mit seinen sinngemäßen Varianten (proleptisch, V o r g r i f f , Vorwegnahme) wird von J.Weiß übernommen. 2. Auch wenn der Befund zu spärlich ist, als daß von einem tragenden Begriff der Exegese Bultmanns gesprochen werden könnte, zeigt sich doch eine gewisse Etablierung desselben, sofern seine Funktion bei Weiß und Bultmann dieselbe ist. 3. Der Begriff Antizipation ist in jedem Fall auf Zukunft bezogen, wobei einerseits diese dadurch so "vergegenwärtigt" werden soll, daß die Differenz zu einer noch ausstehenden Zukunft eingezogen wird, andererseits im Vollzug der Vergegenwärtigung, der Antizipation, gerade die bleibende Zukünftigkeit des Antizipierten mitgedacht und bewahrt werden soll.
- 40 4. Da nach Weiß die antizipative S t r u k t u r des Gottesreiches in der Verk ü n d i g u n g Jesu gerade und ausschließlich im Zusammenhang seiner bleibenden Zukünftigkeit zu sehen i s t , ist es signifikant, daß Bultmann diesen Begriff zur Kennzeichnung der Reich-Gottes-Verkündig u n g Jesu eliminiert: damit kann die Verschränktheit von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches nicht mehr auf den Begriff gebracht werden. 5. Inwieweit neben dem Weißschen Antizipationsbegriff die Heideggersche Argumentation der "Vorwegnahme des ganzen Daseins" im "Vorlaufen zum Tod" die Argumentationsstruktur bei Bultmann beeinflußt h a t , muß hier noch offen bleiben.
3. Die proleptische S t r u k t u r der eschatologischen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus (nach U.Wilckens) Spielte bei Bultmann der Begriff Antizipation in der exegetischen Diskussion eher eine nebensächliche Rolle, wurde bei Weiß seine Tragfähigkeit nicht voll ausgeschöpft und somit seine S t r u k t u r nicht näher r e f l e k tiert , so erhält jener Begriff einen entscheidenden Stellenwert im Kontext der neutestamentlichen Fundierung des systematischen Programms: "Off e n b a r u n g als Geschichte"127. Es soll zunächst die Funktion jenes Begriffs selbst dargestellt werden, um dann seinen theologiegeschichtlichen Kontext zu o r t e n : letzteres ist geeignet, fundamentale Mißverständnisse auszuräumen.
a) Jesu "Geschick" als proleptisch-eschatologische Selbstoffenbarung Gottes Bekanntlich v e r s u c h t U.Wilckens in seinem Aufsatz über "Das Offenba128 r u n g s v e r s t ä n d n i s in der Geschichte des Urchristentums" den Nachweis zu e r b r i n g e n , daß es "in der urchristlichen Überlieferung der Sache nach das ( g i b t ) , was der heutige s t r e n g e theologische Begriff als Offenb a r u n g b e z e i c h n e t " 1 2 9 . Zwei Kriterien kennzeichnen jenen " s t r e n g e n " Begriff von O f f e n b a r u n g als Selbstoffenbarung: sie ist notwendig eine und als solche u n i v e r s a l i s . ¡) a es hier auf die exegetische Relevanz des Begriffs Antizipation ankommt, braucht die S t r u k t u r des Gedankens der Selbstoffenbarung zunächst nicht weiter verfolgt zu werden. Wesentlich ist demgegenüber, daß eine e r s t e entscheidende (exegetische) Weichenstellung bei Wilckens insofern vorgenommen wird, als Jesu Leben und Sterben "geschichtlich" ausschließlich auf dem Hintergrund der Apokalyptik zu verstehen s i n d l ^ l . Auch wenn Wilckens nicht ausdrücklich s a g t , was "geschichtlich" hier b e d e u t e t , d ü r f t e doch a u f g r u n d des Kontextes zweifelsfrei f e s t s t e h e n , daß - ganz im Sinne Bultmanns - Ereignis-
- 41 se dann "als geschichtliche Ereignisse zu verstehen (sind) und nicht als bloße beliebige Begebenheiten" - letzteres entspräche dem "historischen" Verstehen - , wenn "ich . . . ein Vorverständnis von den geschichtlichen Möglichkeiten habe(n), innerhalb derer diese Ereignisse ihre Bedeutsamkeit und damit ihren Charakter als geschichtliche Ereignisse gewinn e n " 1 · ^ . Freilich hebt dieses Vorverständnis der existenzialen Analytik auf den jeweiligen Interpreten von Geschichte ab (charakteristisch ist die Verwendung der 1. Person Singular zur Kennzeichnung des "geschichtlichen" Verstehens), während es Wilckens auf den Geschichtszusammenhang ankommt, innerhalb dessen das "Geschick" Jesu eben "geschichtlich" verstanden werden muß. Näherhin ist es die "proleptisch-eschatologische Offenbarung" der Apokalyptik, die den hermeneutischen Brückenschlag leistet: "Will man den durch Worte und Taten zur Wirkung kommenden persönlichen Anspruch Jesu geschichtlich verstehen, so wird man jedenfalls auf den Anspruch proleptisch-eschatologischer Offenbarung' in der apokalyptischen Theologie als seiner allgemeinen geschichtlichen Voraussetzung verweisen müssen"133. Wie aber ist die Struktur einer proleptisch-eschatologischen Offenbarung in der apokalyptischen Theologie näher zu bestimmen? Es sind namentlich zwei Merkmale, wodurch die Apokalyptik charakterisiert wird: mit den Propheten (und gegen die rabbinische Schultradition) teilt sie "die grundsätzliche Ausrichtung auf die eschatologische Zukunft als auf die bevorstehende, einzige, allentscheidende Selbstoffenbarung Jahw e s » 1 3 4 . Dabei setzt sie - analog zum "constituens" der "israelitische(n) Tradition heilsgeschichtlicher Entwürfe" 135 - die "Erwählung" als die "fundamentale(n) Geschichtstat Gottes" v o r a u s ^ , Sofern nun im "geschichtlichen (m) Geschick" der Erwählten "sich die Wahrheit der Erwählung . . . erweist", richtet sich "alles theologische Interesse auf das Ende dieses A i o n s " ! ^ , Damit ändert sich gegenüber der Prophetie in der Apokalyptik der "Vorstellungsrahmen" der künftigen Selbstoffenbarung Jahwes, worin nach Wilckens das zweite Charakteristikum der Apokalyptik zu erblicken ist: Das "Ziel der Geschichte der erwählten Gemeinde" wird nun mit dem "Endziel der Geschichte dieses Aions im ganzen" identifiziert , das als ein "die Erwählung und ihre Geschichte zugleich abschließendes wie bestätigendes Richterhandeln Gottes m1 38 präzisiert werden kann. Weil so die Geschichte "von ihrem Ende her"139 beschrieben wird, wird bei einer Offenbarung dieses Endes das "gesamte Geschichtsbild" geschaut ; "und was so der apokalyptische Offenbarungsempfänger sieht und hört, entspricht in der Sache wie in der Erkenntnisweise dem Sehen und Hören bei der eschatologischen Offenbarung; die apokalyptischen Visionen und Auditionen haben also streng den Charakter von vorweggenommener eschatologischer Enthüllung"140.
- 42 Darauf kommt es in unserem Kontext an, daß der proleptische Charakter der empfangenen Offenbarung zweierlei gewährleisten soll: Einerseits soll schon " v o r " dem Ende von dessen Offenbarung gesprochen werden können, ohne andererseits in einem '"bemächtigenden V o r g r i f f ( s ) ' " über die "kontingente eschatologische Zukunft Gottes" 1 ^ 1 zu verfügen. Diese wesentliche Restriktion der Tragfähigkeit des Begriffs Antizipation kann dann auch so beschrieben werden : "Gott allein führt das Ende herauf" (hierin liegt die "Grenze" der Prolepse); damit unlöslich verbunden ist aber die positive Aussage: "Gott wird es auch wirklich tun "142. Jene beiden Aspekte apokalyptischen Offenbarungsverständnisses hat Wilckens im übrigen prägnant in der auf den ersten Blick scheinbar sich selbst aufhebenden, "paradoxen" Prädizierung der Offenbarung als gleichermaßen eschatologischer wie proleptischer g e k e n n z e i c h n e t 143. Am Ort der proleptischen Offenbarung ist demnach die Zukünftigkeit des Offenbarten gewahrt, freilich so, und darin besteht der Fortschritt gegenüber Weiß 14 ^ und Bultmann, daß auf die positive Funktion dieses Beg r i f f s ausdrücklich reflektiert wird, sofern nämlich die Tatsache des Endhandelns Gottes (als unwiderrufbare) "vorweg dem apokalyptischen Visionär ' o f f e n b a r t w i r d . Wenn im folgenden eben dieser Anspruch einer proleptisch-eschatologischen Offenbarung als Hintergrund der Verkündigung und überhaupt des Geschickes Jesu fruchtbar gemacht werden soll, so gilt es insbesondere auf den bisher nur schemenhaft angedeuteten positiven Sinn ihrer proleptischen Struktur zu achten. Tatsächlich bildet gerade die positive Funktion des Begriffs Prolepse - neben dem apokalyptischen Toraverständnis - die entscheidende Möglichkeit, "geschichtlich" zu verstehen, daß "das 'Ich' Jesu . . . an die Stelle Gottes ( t r i t t ) " 1 4 6 . Es erscheint plausibel, daß jene Offenbarung, die ein Wissen lehrt, "das über die geschriebene Tora hinaus proleptisch schon jetzt eschatologische Gültigkeit hat", die Möglichkeit bedingt, "in der Weise Jesu den Anspruch besonderer Autorität gegen die allumfassende Autorität der rabbinischen Tora zu behaupten "147. Dabei ist es theologiegeschichtlich bedeutsam, daß Wilckens gerade auf den "eschatologische(n) Charakter der βασιλεία-Verkündigung J e s u " ! 4 8 als Beweis für den apokalyptischen und das heißt jetzt proleptischen Charakter der Lehre Jesu hinweist. Ganz im Sinne der apokalyptischen Eschatologie hebt die " V o r s t e l l u n g s s t r u k t u r " 1 4 9 ¿les Gottesreiches die Differenz zwischen seiner Gegenwart und Zukunft nicht auf. Es bleibt eine "vorstellungsmäßige Unausgeglichenheit zwischen der Nähe der Gottesherrschaft einerseits als gegenwärtiger Wirksamkeit und Geltung der eschatologischen Entscheidung an der Person Jesu und andererseits doch zugleich als noch ausstehender, wenn auch in nächster Nähe bevorstehender Zukunft" 1 5 0 . Hier wird vollends deutlich, daß es Wilckens gegenüber Weiß gelingt, den Antizipationsbegriff nicht nur für die Thematisierung der Zukunft, sondern auch der schon angebrochenen Gegenwart des Gottesreiches frucht-
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bar zu machen. Darin, daß "im Umkreis Jesu geschieht, was die Verkündigung von der nahenden βασιλεία sagt "151, zeigt sich "die Struktur proleptisch-eschatologischer Offenbarung in der apokalyptischen Theologie" 1 5 2 . Worin aber besteht das Noch-nicht, das in der Verkündigung Jesu noch Ausstehende? Im Sinne des apokalyptischen Offenbarungsverständnisses ist es der Erweis Gottes selbst, daß Jesu Anspruch zu Recht besteht: erst wenn das von Jesus vorweggenommene "Endhandeln" Gottes tatsächlich eintrifft, erst dann ist seine Verkündigung bestätigt und ihre proleptische Struktur an ihm selbst aufgehoben. Erst dann koinzidieren Weissagung und Erfüllung, wird die vorweggenommene Zukunft zur endgültigen Gegenwart. Auf dem Hintergrund des apokalyptischen Offenbarungsverständnisses kann allerdings durch die noch ausstehende Bestätigung die Endgültigkeit (Wahrheit) der Verkündigung Jesu nicht ernsthaft gefährdet werden: "Jesus trieb die Auseinandersetzung mit der pharisäischen Theologie in dem Vertrauen auf die Spitze, daß Gott in seinem Geschick die Wahrheit seines Anspruchs erweisen werde" 1 5 ^. Diese Aussage stellt nichts anderes als die notwendige Konsequenz des positiven Sinns der proleptischen Offenbarung dar und hat nichts mit einer Spekulation über psychische Vorgänge innerhalb des Menschen Jesus zu tun. Vom "traditionellen Vorstellungsbereich der jüdischen· Apokalyptik"15** her ist nun auch der Inhalt jener Bestätigung präjudiziert : es ist die "Vorstellung der eschatologischen Totenerweckung" 1 5 5 , die bereitlag als der hermeneutische Horizont, innerhalb dessen der Erweis der Wahrheit der Verkündigung Jesu durch Gott verstanden werden konnte. Damit ist insofern die proleptische Struktur des Auftretens Jesu aufgehoben , als durch Jesu Auferweckung "Gott . . . Jesus selbst letzt gültig bestätigt (hat)" 1 5 ®. Die Totenauferweckung wurde als endgültige Heilsteilhabe verstanden, die allerdings erst an Jesus realisiert ist, während sie zwar für die Jünger noch aussteht, aber doch in allernächster Zukunft erwartet wurde, wenn doch mit der Auferweckung Jesu "das Endgeschehen angebrochen" 1 5 7 war. So wurden in der "erste(n) christlichein) Theologie . . . einerseits Jesu Auftreten, seine Auferstehung und sein gegenwärtiges Sein bei Gott . . . sowie andererseits das Jüngerverhältnis zum irdischen Jesus und die Jüngerschaft zum auferweckten J e sus"15*® unmittelbar zusammengesehen. Und doch - mag auch "jene Distanz zwischen dem Jetzt und der eschatologischen Zukunft schwind e n " 1 ^ - ( behält auch diese eschatologische Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ihren proleptischen Charakter. Denn es bleibt bei allem Enthusiasmus über die Auferweckung Jesu bestehen, daß eben erst Einer der endgültigen Heilsgabe teilhaftig ist! (Von daher eignen der Verkündigung des irdischen Jesus und seiner "Auferweckung" dieselbe gedankliche Struktur, was dadurch bedingt ist, daß beide auf dem Hintergrund des apokalyptischen Verstehenshorizontes der proleptischen Offenbarung Gottes interpretiert werden.)
- 44 Allerdings ist f ü r das Urchristentum die proleptische S t r u k t u r der Auferweckung Jesu kein Problem: hier wurde die eigene Gegenwart der eschatologischen Zeit zugeordnet, "weil Ostern im Rücken lag und d a r um die ewige Wiedervereinigung mit dem erhöhten Jesus b e v o r s t a n d " TBÜ. Auch wurde ja in der proleptischen O f f e n b a r u n g Gottes in Jesus Christus die dem apokalyptischen Offenbarungsempfänger mögliche Offenbar u n g insofern ü b e r b o t e n , als dieser im voraus das Endhandeln Gottes bloß sehen konnte, während es sich in Jesus im voraus ereignet h a t 1 6 1 . Damit ist natürlich das Ende ungleich näher gerückt als in der Apokalyptik, wenn es nämlich in Jesus schon angebrochen i s t . War so die Vorwege r e i g n u n g des Endes in J e s u s Christus f ü r das Urchristentum eher geeignet, die "Vergangenheit des Jesusgeschickes" und die "Zukunft des Eschaton" nahe zusammenzurücken, so konnte beim Übergang vom J u d e n - zum Heidenchristentum und in Anbetracht der sich anbahnenden "Parusieverzögerung" gerade diese S t r u k t u r der Vorwegereignung des Endes das Christentum davor bewahren, "das eschatologische C h r i s t u s geschehen zur ewigen Epiphanie" umzuwandeln oder aber die Offenbar u n g Gottes in Jesus Christus zur unerfüllten Verheißung zu degradieren162. Wir können hier von den beiden Extremen absehen, da sie gerade durch die in ihnen sich vollziehende Durchbrechung des apokalyptischen Offenb a r u n g s v e r s t ä n d n i s s e s die proleptische S t r u k t u r der Offenbarung v e r nachlässigen; wesentlich ist hingegen die Ausdifferenzierung jener S t r u k t u r , die sich nach Wilckens schon vor Paulus vollzieht, um in dessen Auseinandersetzung mit den Gnostikern in Korinth ihre volle Tragweite zu erlangen und damit die Voraussetzung f ü r die Lukanische Theologie der Heilsgeschichte s c h a f f t .
b ) Die proleptische O f f e n b a r u n g Gottes bei Paulus und Lukas Wenngleich der Begriff ,,πρόληψις" („προλαμβάνω") bei Paulus zur Bezeichn u n g der in Jesus Christus vollzogenen O f f e n b a r u n g Gottes nicht a u f t a u c h t · ^ versucht Wilckens nachzuweisen, daß der Sache nach die a u f gezeigte S t r u k t u r einer proleptischen O f f e n b a r u n g Gottes in Jesus Christus in der theologischen Argumentation der Paulinischen Briefe, namentlich "seit der Auseinandersetzung des Paulus mit seiner korinthischen Gemeinde" 1 6 4 , eine bedeutsame Rolle spielt. 1
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So hat Paulus selbst "den erhöhten Jesus in einer b e s o n d e r e n , von Gott eröffneten proleptischen 'Offenbarung' g e s e h e n " 1 6 ^ , worauf die Autorität der Verkündigung des Apostels b e r u h t . Es braucht hier nicht im einzelnen dargelegt zu werden, inwieweit dieser Gedanke einer proleptischen O f f e n b a r u n g von Paulus aus der hellenistischen Tradition ü b e r nommen w u r d e 1 6 6 : wesentlich ist die zweifache Funktion dieser S t r u k t u r in der Theologie des Paulus. Es geht zum einen - analog zur Deutung in der palästinischen Urgemeinde - um die Interpretation der A u f e r s t e h u n g
- 45 Jesu als einer Vorwegnahme des Endes, wodurch das Verhältnis zwischen Christus und der Zeit bis zu seiner Parusie charakterisiert wird, zum andern um die "Verklammerung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Differenzierung zwischen dem Geschick Jesu und der sich in der christlichen Existenz bis zum Eintreten des Endes erstreckenden Teilhabe der Christen an diesem Geschick Jesu"!^ 7 . Der erste Aspekt in der proleptischen Offenbarung findet sich beispielsweise in l . K o r 15,20 ( v g l . V.23)168, w o der auferstandene Christus als "Erstling der Entschlafenen" bezeichnet wird: "Das Ereignis der Auferweckung Christi erscheint ihm (sc. Paulus) als der vorweggenommene Anfang der endzeitlichen T o t e n a u f e r w e c k u n g " * ® ^ Es ist nun freilich für Paulus bezeichnend, daß jener Aspekt konstitutiv mit dem zweiten v e r bunden ist, und zwar so, daß jener die Begründung darstellt für die eigentümliche Struktur christlicher Existenz. Gegen die gnostische Identifizierung von Vergangenheit und Zukunft am Ort des Glaubens ist nach Paulus zu sagen, daß eben nur Christus (als erster) auferstanden ist; dem Glaubenden steht diese Form der endgültigen Heilsteilhabe noch bevor. Darin besteht die bleibende "Differenz zwischen Christus und den Christen", die geeignet ist, "eine Unterscheidung der Vergangenheit des Christusgeschehens von der Gegenwart der Christen und der Zukunft ihrer Heilsteilhabe" 17 ^ zu thematisieren. Nun freilich nicht so, daß die Gegenwart des Christseins von einer "bloßen" Verheißung zehren müßte: sofern die Taufe die "Teilhabe an Christi Tod" bedeutet, ist sie "in apokalyptischem Sinne als Teilhabe an dem eschatologisch-proleptischen Christusgeschick"! 7 1 zu verstehen. Damit werden das Geschick Jesu und das Leben der Christen insofern analog gedeutet, als letztere in derselben Differenz stehen, die dem Auftreten des irdischen Jesus eignete: während sie schon an dem "einzigartigen Selbstbewußtsein Jesu" 1 · 72 partizipieren, das ihn freilich in den Tod führte, steht bei ihnen doch anders als beim Auferstandenen - die Bestätigung dieser Gewißheit noch aus. Es ist interessant, daß Wilckens in "Offenbarung als Geschichte" dieses Zentrum Paulinischer Theologie, das ja die Bewahrung des apokalyptischen Fundaments der urchristlichen Theologie bedeutete, als "eine letzte Spannung unausgeglichener Tendenzen"! 7 ^ wertet, ohne diese zuzugebende "Spannung" als das Konstitutivum der proleptischen Struktur der Existenz des Christen zu charakterisieren, die der proleptischen Spannung der Verkündigung Jesu entspricht und in seiner vorweggenommenen Auferstehung gründet. In seinem jüngst erschienenen Kommentar zum Römerbrief wendet Wilckens diesen Begriff in der Tat an, was das Recht unserer Interpretation bestätigt: Hier heißt es (im Zuge der Interpretation von Rom 8,10ff), daß der "antezipatorische(n) Charakter" der "Sprache der Hoffnung" darin gründet, daß sie "als solche an sich dem inadäquat ( i s t ) , worum sie . . . betet. So hat auch die Sprache des Betens teil an der Differenz zwi-
- 46 sehen der Gegebenheit des Heils und seiner Zukünftigkeit, in der es gegenwärtiger E r f a h r u n g noch entzogen ist "174. Nur mehr kurz braucht dargestellt zu werden, wie bei Lukas diese p r o leptische S t r u k t u r der O f f e n b a r u n g ihre Anwendung findet, da hier die paulinische Position n u r mehr ausgeweitet wird. Wilckens beurteilt die Intention der Lukanischen Theologie uneingeschränkt positiv: Lukas hat "dem Jesus geschehen . . . inhaltlich-sachlich die volle Dignität dessen zuerkannt , was die apokalyptisch-urchristliche Tradition als die eschatologische O f f e n b a r u n g Gottes verkündigt h a t t e " 1 7 ' ' . Die entscheidende theologische Leistung des Lukas besteht d a r i n , daß er die Reflexionen des Paulus über die proleptische S t r u k t u r der jeweiligen christlichen Existenz auf die Geschichte zwischen Jesus und seiner Wiederkunft so bezieht, daß er die Geschichte als ganze von i h r e r sie s t r u k t u r i e r e n d e n innergeschichtlichen aber gleichwohl endgültigen O f f e n b a r u n g Gottes als "Mitte der Zeit" her d e u t e t : "Auf den Skopos der lukanischen Theologie t r i f f t darum am ehesten die Überschrift . . . zu: O f f e n b a r u n g als Geschichte"'176. Dabei geht Lukas wie Paulus davon a u s , daß durch Jesus "das vollgültig vorweggenommen ( i s t ) , was die Tradition als eschatologische Heilszeit beschrieben h a t " 1 7 ? . Allerdings gründet dieses Heil in der historia J e s u , wobei die spezifische Heilsbedeutung von Tod und A u f e r s t e h u n g Jesu bei Lukas fehlt: Wilckens erklärt dies damit, daß Lukas als "Interp r e t " der urchristlichen apokalyptischen Tradition "nicht mehr selbst Apokalyptiker, sondern vielmehr hellenistischer Historiker war" 17 **. So ist bei Lukas die proleptische S t r u k t u r der O f f e n b a r u n g nicht mehr im Leben Jesu v e r a n k e r t ; gleichwohl gelingt es ihm, wie g e s a g t , das Ende der Geschichte als inner geschichtliches Ereignis zu denken, wodurch die Kontinuität der (zunächst israelitischen) Geschichte gewahrt und das Christusereignis als endgültiges Handeln Gottes v e r s t a n d e n werden k a n n . Die gedankliche S t r u k t u r dieser Geschichtskonzeption gründet auch bei Lukas in der apokalyptischen Vorstellung einer eschatologisch-proleptischen O f f e n b a r u n g . Der Begriff Antizipation soll demnach im Kontext der exegetischen Bemühungen Wilckens 1 ausschließlich die (spannungsvolle) V e r s c h r ä n k t heit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft so auf den Begriff b r i n g e n , daß am Ort der vorweggenommenen bzw. vorwegereigneten Zukunft sowohl ihre gegenwärtige Wirksamkeit als auch ihre noch ausstehende Bestätigung in einem thematisiert werden können. In dieser Bedeutung wird der Begriff einmal auf die Verkündigung Jesu im Verhältnis zu seiner A u f e r s t e h u n g , sodann auf das "Geschick" Christi im Verhältnis zur allgemeinen Totenauferstehung und schließlich auf die Heilsteilhabe des Christen im Verhältnis zu seiner endgültigen Heilspartizipation appliziert.
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Es ist von Bedeutung zu sehen, daß mit der im beschriebenen Sinne zu verstehenden "Prolepse" keineswegs am Ort der Vorwegnahme die Zeit eliminiert werden darf: die proleptische Vergegenwärtigung der Zukunft soll im Gegenteil gerade die Offenheit der Gegenwart für ihre ausständige Zukunft gewährleisten, freilich so, daß diese nicht mehr gänzlich unbestimmt sein kann. Wir sind uns über die Unbestimmtheit dieser Aussagen im klaren. Keineswegs ist schon eine begriffliche Analyse der zu untersuchenden Struktur geleistet. Es kam bisher auch nur auf die Problemstellung an, die der Begriff Antizipation in der exegetischen Diskussion anzeigen soll. Bevor eine Präzisierung der bisherigen Ausführungen anhand der Aufnahme dieses Begriffs in die Dogmatik vorzunehmen ist, kann veranschaulicht werden, welchen Mißverständnissen der in "Offenbarung als Geschichte" an zentraler Stelle stehende Begriff der Antizipation ausgesetzt war. Es läßt sich nämlich zeigen, daß im zeitlichen und sachlichen Kontext von "Offenbarung als Geschichte" dieser Begriff dazu dient, gerade die (erfüllte) Gegenwart der Zukunft unter Aufhebung der Zeit auszudrücken.
c) Vorwegnahme als Aufhebung der Zukunft Auch wenn nur in exemplarischer Weise der exegetische Gebrauch des Begriffs Antizipation bzw. Vorwegnahme im Kontext von "Offenbarung als Geschichte" skizziert werden kann, ergibt sich doch ein bedeutungsvoller Befund. Wir beginnen mit zwei Äußerungen H.Conzelmanns, die interessanterweise von W.Pannenberg im Rahmen der exegetischen Diskussion um die Verkündigung Jesu positiv gewertet werden : "Sosehr Conzelmann zuzugestehen ist, daß das als zukünftig Überlieferte in Jesu Auftreten vorweggnommen wird ..."1^9. Dabei wird der Begriff Vorwegnahme hier entsprechend der Verwendung bei Wilckens in "Offenbarung als Geschichte" gedeutet, d . h . als Ausdruck der Verschränkung von Gegenwart und Zukunft der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu. Gerade diese komplexe Struktur ist es jedoch, die der Begriff bei Conzelmann eingebüßt hat. So urteilt e r : "J. lehnt es ab, das künftige (!) Gericht Gottes schon heute vorwegzunehmen . . . , dh das absolute Urteil Gottes wird nicht zu einem innerweltlichen, moralischen Urteil über den Menschen depotenziert"180. p j e Bedeutung dieser Aussage liegt darin, daß sie den Sachverhalt der Vorwegnahme selbst thematisiert, ja geradezu definiert. Durch "dh" wird doch das "Vorwegnehmen des künftigen Gerichts Gottes" als "das absolute Urteil Gottes zu einem innerweltlichen, moralischen Urteil Depotenzieren" beschrieben. Diese Gefahr kann man aber n u r dann mit einer "Vorwegnahme" des Gerichts in Verbindung bringen, wenn tatsächlich am Ort derselben die Zukunft des Gerichts aufgehoben und zu einer "bloßen" innerweltlichen Gegenwärtigkeit nivel-
- 48 liert wird. Dann aber erscheint Vorsicht geboten bei dem Zugeständnis, daß Conzelmann zu Recht das als zukünftig Überlieferte in Jesu A u f t r e ten als Vorweggenommenes deutet : gerade der Terminus Vorwegnahme, der bei Wilckens und Pannenberg so differenziert in die theologische Debatte eingeführt wird, hat bei Conzelmann einen ganz anderen Stellenwert. Damit soll freilich nicht geleugnet werden, daß der Sache nach sich auch bei Conzelmann Äußerungen finden, die die bleibende Zukünftigkeit (namentlich des Heils) in der Botschaft Jesu betonen. Es hat jedoch seinen guten G r u n d , daß Conzelmann diesen Zug der Verkündigung Jesu nicht als Vorwegnahme, sondern höchstens als "Vorausdarstellung"181 kennzeichnet, um so gerade die Offenheit f ü r die Zukunft zum Ausdruck zu b r i n g e n . Wenn Wilckens meint, dieser Ausdruck "Vorausdarstellung" müsse "noch v e r s c h ä r f t werden", sofern im Leben Jesu das Heil "vollgültig vorweggenommen " istl82 ( s o scheint er zu ü b e r s e h e n , daß gerade dieser T e r minus bei Conzelmann jede Zukunftsperspektive verschließt. Es bleibt freilich die Frage - und dies ist ja u n t e r anderem das Ziel dieser Unters u c h u n g - , ob nicht der Begriff Vorwegnahme in der B e d e u t u n g , die er bei Conzelmann e r l a n g t , defizitär i s t . Diese Frage stellt sich natürlich auch angesichts der folgenden Verwendungsweisen. G.Bornkamm lehnt es in seinem Jesusbuch a b , daß der Anbruch der Gott e s h e r r s c h a f t in der Verkündigung Jesu als Vorwegnahme bezeichnet wird. Damit ist jedoch keineswegs impliziert, daß sonst die Gottesherrschaft auf ihre f u t u r i s c h e Komponente restringiert wird: vielmehr müssen "Zukunfts- und Gegenwartsaussagen . ; . in der Verkündigung Jesu engstens aufeinander bezogen" werden: "Niemals wird von dem schon gegenwärtigen Anbruch der Gottesherrschaft a n d e r s gesprochen als so, daß die Gegenwart die Zukunft als Heil und Gericht eröffnet und also nicht vorwegnimmt. Niemals wird aber auch von der Zukunft a n d e r s gesprochen als so, daß sie die Gegenwart erschließt und erhellt und also das Heute als den Tag der Entscheidung sichtbar werden läßt"183. o f fenkundig soll die "Eröffnung" von Heil bzw. Gericht, im Gegensatz zu deren Vorwegnahme, Zukunft und Gegenwart so aufeinander beziehen, daß die Zukunft "noch nicht" in der Gegenwart a u f g e h t , gleichwohl aber sie bestimmt. Eben diese Intention entspricht der dargestellten Bedeut u n g des Begriffs Antizipation in "Offenbarung als Geschichte". Das markanteste Beispiel f ü r die Äquivozität des Begriffs Vorwegnahme bietet die Studie von D.Rössler über "Gesetz und Geschichte" und deren Rezeption bei Wilckens. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Wilckens (und zwar im ausdrücklichen Anschluß an Rössler 1 8 ^) die p r o leptisch-eschatologische S t r u k t u r des apokalyptischen OffenbarungsVerständnisses herausarbeitet ; die Auditionen und Visionen des apokalyptischen Offenbarungsempfängers haben " s t r e n g den Charakter vorweggenommener eschatologischer Enthüllung" 185. Umso erstaunlicher mutet es a n , wenn Rössler, nachdem er den Inhalt dieser Offenbarungen analog
- 49 der eschatologischen O f f e n b a r u n g entwickelt h a t t e , sofern nämlich in beiden Fällen "Geschichtsplan" und "Heil" thematisiert werden und als Zusammenfassung' der Begriff "Geheimnis" dient, nachdrücklich betont: "Aber das bedeutet nun keineswegs eine Vorwegnahme des eschatologischen Geschehens, vielmehr besteht hier ein tiefgreifender Unterschied"186. Daß es sich freilich ausschließlich um eine terminologische, nicht aber um eine sachliche Divergenz handelt, geht eindeutig daraus h e r v o r , daß Wilckens eben diesen tiefgreifenden Unterschied f ü r die "vorweggenommene" O f f e n b a r u n g selbst thematisiert. Sieht Rössler jene Differenz d a r i n , daß die apokalyptische O f f e n b a r u n g "nicht in den unmittelbaren Besitz dessen ( f ü h r t ) , 'was in Himmelshöhen ist' . . . , sondern sie v e r k ü n digt den T a t b e s t a n d , dass das Seiende und Geschehende seinen Grund nicht in sich selbst, sondern im Himmel h a t " 1 8 7 ( s o formuliert Wilckens völlig analog dazu: Es geht nicht um "Berechnungen", sondern: "Gott allein f ü h r t das Ende h e r a u f , aber Gott wird es auch wirklich tun"188 gerade so kann aber der "frei und kontingent handelnde Gott"189 als solcher am Ort seiner proleptisch-eschatologischen O f f e n b a r u n g in den Blick kommen.
d) Die Bedeutung des Begriffs Vorwegnahme bei O.Cullmann Schließlich scheint uns auch bei Cullmann, der eigenen Aussagen zufolge seine Rekonstruktion der Heilsgeschichte als exegetische Arbeit gewertet wissen willl^O, e i n a n d e r e r Gebrauch des Begriffs Vorwegnahme vorzuliegen als bei Wilckens - trotz der bei einer oberflächlichen Bet r a c h t u n g ins Auge springenden (aber eben doch n u r scheinbaren) Nähe zur Konzeption von "Offenbarung als Geschichte"191. Nach Cullmann läßt sich das Proprium der christlichen Zeitauffassung in zwei Aspekten zusammenfassen : "Erstens ist das Heil gebunden an ein fortlaufendes, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassendes Zeitgeschehen, O f f e n b a r u n g und Heil erfolgen auf einer ansteigenden Zeitl i n i e " 1 ^ . Diese "lineare" Zeit wird zweitens gegliedert durch das Chris t u s g e s c h e h e n , namentlich d u r c h "Tod und A u f e r s t e h u n g Jesu Christi"; näherhin so, daß die einzelnen Punkte der Zeitlinie (genauer "Heilslinie") bezogen sind auf jenes Geschehen als "die eine geschichtliche Tatsache der Mitte "193. wesentlich ist dabei, daß ein inner geschichtliches Ereignis nicht n u r die Geschichte als ganze, sondern auch die Zeit schlechthin s t r u k t u r i e r e n soll. Cullmann hat scheinbar Recht, wenn er sich gegen den Einwand Bultmanns wendet, demzufolge nach urchristlichem Verständnis Christus nicht die Mitte, sondern "vielmehr das Ende der Geschichte und Heilsgeschichte" s e i l ^ . Dig Mitte ist nach Cullmann immerhin "im Sinne des entscheidenden Einschnitts"195 zu v e r s t e h e n , der freilich zugleich implizieren soll,
- 50 daß die Zeit nach Jesus weiterläuft, wodurch "die Spannung zwischen 'schon' und 'noch nicht'"196 entsteht. Auffällig ist nun aber, daß Cullmann die Kritik Bultmanns auf den Ausdruck "Mitte der Zeit" bezieht, während Bultmann ausdrücklich zugesteht, daß Cullmann "mit Recht Christus als die Mitte der Zeitlinie bezeichnen (kann)"197_ Cullmann scheint hier Zeit und Geschichte zu identifizieren, ohne sich über das Verhältnis beider Rechenschaft zu geben. Damit ist nun das entscheidende Problem von Cullmanns heilsgeschichtlichem Entwurf in den Blick gekommen, das Bultmann so kennzeichnet: "Die christliche Geschichtsphilosophie, die der Verf. ( s c . Cullmann) entwirft, ist nichts anderes als die jüdisch-apokalyptische Spekulation, modifiziert nur dadurch, daß sich die 'Mitte' nach rückwärts verschoben h a t " 1 9 8 . Damit wird in der Tat das Ausbleiben der Parusie als "drückendes Problem" des Urchristentums bagatellisiert sofern jene "Mitte" bei Cullmann so zum "Zentrum" der Heilsgeschichte hypostasiert wird, daß ihm gegenüber das ausstehende "Ende" nahezu belanglos wird. Da die "Entscheidungsschlacht" schon geschlagen i s t , kann der Krieg weitergehen, solange er will: sie "bedeutet . . . doch bereits den Sieg"200. Und da nach Cullmann die Zeit "ewig" weitergehen wird, wird auch, im Sinne jener folgenschweren Identifizierung von Zeit und Geschichte, die Geschichte ewig weitergehen; deren Ende ist dann auch für den um den glücklichen Ausgang der Entscheidungsschlacht Wissenden irrelevant. Somit wird in der Tat die von Bultmann in seiner Exegese des Neuen Testaments so nachdrücklich herausgestellte Priorität der Zukunft nivelliert - und zwar durch die Kennzeichnung jener "geschlagenen Entscheidungsschlacht" als V o r w e g n a h m e 2 0 1 ¡ Dieser Terminus impliziert in "Christus und die Zeit" an keiner Stelle die "Vorläufigkeit" des Vorweggenommenen, derart, daß eine Differenz zwischen dem "Schon jetzt" und dem "Noch nicht" damit ausgewiesen würde; wenn die Entscheidungsschlacht als siegreich wahrgenommen wird, so wird erkannt, daß "es in Christus Vorwegnahme des Endes gibt"202. Das bedeutet aber nichts anderes als die dem Gläubigen "zuteilgewordene Offenbarung, daß Jesus Christus der Gekreuzigte und Auferstandene die Mitte des Geschehens i s t " , was wiederum zur Folge hat, "die Herrschaft Gottes über die Zeit zu erkennen "203. Freilich soll damit nicht gesagt werden, "mit Christus sei die Zeit des Kalenders a u f g e h o b e n " 2 ^ , vielmehr muß sich "dieses ganze ( s c . vorweggenommene) Geschehen . . . zeitlich entfalten"205. In der Tat ist Cullmann zuzugestehen, daß am Ort der Vorwegnahme die Zukunftsperspektive nicht schlechterdings zugunsten der Gegenwart eingezogen wird. Nur die Priorität der Zukunft gegenüber der Gegenwart, und das heißt nichts anderes als die Relevanz der Zukunft (als Bestätigung bzw. Falsifikation) für das Antizipierte kann nicht mehr gedacht werden: das die Urgemeinde bedrängende "Noch nicht" als radikale Infragestellung des schon Geschehenen wird zugunsten seiner notwendigen (wenngleich zukünftigen) Entfaltung eingeebnet, die Zukunft ist eine bloße Akkommodation an die Gegenwart.
- 51 In diesem Sinne sind denn auch die ansonsten interessanten Äußerungen Cullmanns über die antizipative Struktur der Teilhabe am Christusgeschehen zu k r i t i s i e r e n D e n n der heilige Geist ist analog zum Christusgeschehen, das, wie wir gesehen haben, "Offenbarung der Gottesherrschaft über die Zeit als Ganzes bedeutet", "nichts anderes als Vorwegnahme des Endes in der Gegenwart"207. Sofern nun der Heilige Geist in der Kirche wirksam ist, "wird sie selbst in die göttliche Herrschaft über die Zeit einbezogen "208j eignet ihr selbst jener dem Heiligen Geist entsprechende und im Christusgeschehen gründende antizipative Charakter. "Sichtbar tritt diese Vorwegnahme im urchristlichen Gottesdienst in Erscheinung"209, namentlich im Abendmahl, das "als eine Antizipation des Reiches Gottes gedacht ist"210. Schließlich hat auch der Glaubende, vermittelt durch die Kirche, teil an der Vorwegnahme des Endes in Christus, sofern es ihm erlaubt ist, "das Geschehen der Zukunft in seiner göttlichen Vorwegnahme schon jetzt als Wirkung an sich zu erfahren "211. Dies gilt denn auch von der "individuellen Heiligung des Glaubenden", sofern "der an Christus Glaubende im Hinblick auf seine Heiligung an der Vorwegnahme der Zukunft teilhat "212. E s ist auffallend, daß im Kontext der antizipativen Struktur des Glaubens Cullmann am weitesten die konstitutive Bedeutung der Zukunft berücksichtigt: Die Teilhabe des Glaubenden an den "spezifischen Gnadengaben der Zukunft ( i s t ) immer p r o v i s o r i s c h " 2 1 3 - denn "die geheilten Kranken und die vom Tode Auferweckten . . . müssen ja alle doch wieder sterben, um erst am Ende 'end'gültig auferweckt zu w e r d e n " 2 1 4 . Freilich findet auch hier so etwas wie "Anfechtung" des Glaubens keinen Platz: die Zukunft ist nur der Ort der "vollen Auswirkung" des gegenwärtigen Heilsgeschehens, was doch wohl bedeutet, daß - entsprechend der dargestellten antizipativen Struktur des Christusgeschehens - der Zukunft keine der Gegenwart übergeordnete Relevanz zukommen kann. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Cullmann im Vergleich zu der sonst üblichen Verwendungsweise des Begriffs Vorwegnahme der von "Offenbarung als Geschichte" am nächsten kommt. In seinem Buch "Heil als Geschichte" geht er sogar so weit, von einer "bloßen" Vorwegnahme zu sprechen: " . . . gerade die Tatsache, daß es sich 'nur' um Vorwegnahme handelt, beweist, daß die neutestamentliche Offenbarung die fortlaufende, dem Ende zueilende Zeit zum Gegenstand hat"215. Hier wird also noch einmal bestätigt, daß am Ort der Vorwegnahme wie bei Wilckens so auch bei Cullmann die Zeit keineswegs aufgehoben werden darf. Sehr schön faßt Cullmann dann die beiden Aspekte, die durch den Terminus Vorwegnahme geeint werden sollen, zusammen: Sofern die Offenbarung Gottes in Christus "zusammengedrängt vorweggenommen" ist, ist die "Spannung" zwischen "schon jetzt" und "noch nicht" "schon entspannt"; sofern aber "die Vorwegnahme des Endes in Christus eben wirklich nur Vorwegnahme in ihm ist"216 ) bleibt die Spannung weiter bestehen.
- 52 Doch auch hier wird man den Unterschied zu "Offenbarung als Geschicht e " festhalten müssen, wenn anders die Spannung als bloßes "Forteilen" der Zeit post Christum aufgefaßt wird, an deren Ende das Christusgeschehen sich "in seiner Universalität und Permanenz entfaltet "217 _ Wir müssen nun noch einmal auf den Entwurf von "Offenbarung als Geschichte" zurückgreifen: Den Ausführungen Cullmanns eignete ja bereits eine systematische Dignität, die in unserer Darstellung von "Offenbarung als Geschichte" bisher noch nicht zum Tragen gekommen ist. So kann die im folgenden zu interpretierende Aufnahme des Begriffs Antizipation in die Dogmatik durch W.Pannenberg nicht nur die Struktur dieses Begriffs gegenüber seiner Verwendungsweise bei Cullmann profilieren, sondern sie ist auch geeignet, zu den bedeutungsvollen philosophischen Implikationen des in Frage stehenden Sachverhalts überzuleiten. Es erübrigt sich nahezu, am Ende dieser Darstellung der exegetischen Relevanz des Begriffs Antizipation ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß es nicht darum ging, eine These als die richtige zu erweisen und gegen die anderen zu verteidigen. Das bedeutete zum Beispiel, daß der traditionsgeschichtliche Hintergrund von Jesu Verkündigung diskutiert werden müßte - in diesem Kontext müßte gefragt werden, ob tatsächlich die Auferstehung eines Einzigen als Vorwegnahme des Endes der Geschichte gedeutet und verstanden werden konnte, ob schon vor Jesus die Auferstehung von den Toten als Phänomen greifbar ist^lÖ u . a . m . Das bedeutet auch, um noch einen anderen wesentlichen Komplex hervorzuheben, daß die temporale Struktur der Reich-Gottes-Verkündigung J e su in einer ausführlichen Exegese der entsprechenden Texte herausgearbeitet werden müßte, da ja immer noch keine Einigung über die Zukünftigkeit des Gottesreiches erzielt worden ist 219 _ Diese Fragen können und müssen hier auf sich beruhen, da es um die Tragfähigkeit der mit dem Begriff Antizipation verbundenen Argumentationsstruktur selbst geht, die als Beschreibung eines exegetischen Sachverhaltes fungiert. Im folgenden können also nicht "unmittelbar" exegetische Erkenntnisse erbracht werden, vielleicht aber kann die Untersuchung auch dazu dienen, die Operationalisierbarkeit des vorliegenden Begriffs für die exegetische Diskussion zu erhellen.
4. Überleitung: Die dogmatische und philosophische Relevanz des Begriffs Antizipation in "Offenbarung als Geschichte" a ) Die Aufnahme des Begriffs Antizipation in die Dogmatik durch W.Pannenberg In dem apologetischen Nachwort zur zweiten Auflage von "Offenbarung als Geschichte" geht Pannenberg unter anderem auch auf den Stellenwert des Begriffs Prolepse innerhalb dieses Entwurfes einer "Neufas-
- 53 sung des Offenbarungsbegriffs"220 e i n : "Es handelt sich hier . . . um den springenden Punkt der von uns ( s c . den Verfassern von "Offenbarung als Geschichte") versuchten. Neufassung des O f f e n b a r u n g s b e g r i f f s . Erst der Gedanke der Vorwegnahme des Endes erlaubt es nämlich, überhaupt von schon geschehener Offenbarung Gottes zu sprechen"221. Es ist wohl nicht übertrieben, diese Äußerung über die fundamentale Bedeutung des B e g r i f f s Prolepse auf das Ganze des theologischen und philosophischen Denkens Pannenbergs zu beziehen. Da dessen Gesamtdarstellung nicht unsere Aufgabe sein kann, beschränken wir uns zunächst auf eine Interpretation der Einführung dieses B e g r i f f s in die Dogmatik, für die insbesondere die "dogmatischen Thesen" in "Offenbarung als Geschichte" grundlegend sind. Zwei Jahre vor der Veröffentlichung von "Offenbarung als Geschichte" hat Pannenberg in einer wesentlichen Vorarbeit zu diesem Programm "die Geschichtshaftigkeit des Heilsgeschehens . . . in Auseinandersetzung mit der Existenztheologie, der heilsgeschichtlichen Theologie und mit den methodischen Grundsätzen der historisch-kritischen F o r s c h u n g " 2 2 2 entwikkelt. Demnach steht hier die Relevanz der Geschichte für die Begründung des Glaubens im Mittelpunkt 223 ) ohne daß schon der konstitutive Bezug von Gottesoffenbarung und Geschichte herausgearbeitet würde. Von daher ist es nicht unbedeutend, daß bereits im Kontext jener g e schichtsphilosophischen Thematik von "Heilsgeschehen und Geschichte" der Gedanke der Vorwegnahme eine zentrale Rolle s p i e l t 2 2 4 _ wird zunächst thetisch eingeführt, sofern gegen Bultmanns Verständnis der jüdischen Apokalyptik darauf hingewiesen wird, daß Jesus durchaus "das apokalyptische Geschichtsschema" beibehält, indem er "das v o r w e g g e nommene Ende . . . der Geschichte" i s t 2 2 5 . D heißt, am Ort der " V o r wegnahme der eschatologischen Entscheidung durch die Entscheidung gegenüber der Person Jesu" findet keineswegs eine "Eliminierung der Zukünftigkeit des E n d e s " 2 2 6 statt, das gleichwohl durch und in Jesus vorweggenommen ist. Mit dieser Äußerung wird freilich zunächst nur die exegetische Deutung des Geschickes Jesu wiederholt; die Relevanz dieses Sachverhaltes für die Dogmatik wird erst später entwickelt. a
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Folgende Einsicht bildet den Ausgangspunkt der Argumentation: Im Christentum ist ein "unaufgebbares Interesse an der Vergangenheit begründet, weil sie die Verheißung enthält, die von der Zukunft e r füllt werden wird"227. Dieses christliche Interesse an der Geschichte steht und fällt mit dem Gelingen eines universal-historischen Entwurfs: der Historismus hatte nämlich nicht nur die Konzeption einer "Einheit der Geschichte" v e r w e i g e r t , sondern eodem actu hat sich "die Besonderheit der geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber der Naturwirklichkeit bis auf die Geschichtlichkeit des Menschen verflüchtigt"228. Jede Bemühung um eine "Totalanschauung des Prozesses der Geschichte"229 muß aber in irgendeiner Weise das Ende der Geschichte kennen, da nur eine abgeschlossene Geschichte als ganze begreifbar wird. Nur
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eine "Vorwegnahme" des Endes könnte m der Geschichte diese gleichwohl einen, sofern wir "alles Vorhergehende auf das Ende hin verstehen k ö n n t e n " 2 3 0 . Dagegen scheinen sich nun aber größte theologische Bedenken zu erheben, denn schon die Zukunft kann gar nicht vorweggenommen werden, "weil sie im Dunkel der Freiheit Gottes, seiner reinen Zukünftigkeit beschlossen i s t " 2 3 1 . Dieses Dilemma, daß nämlich einerseits das Christentum auf eine universalgeschichtliche Konzeption angewiesen i s t , die wiederum durch die Möglichkeit einer Vorwegnahme des Endes bedingt ist, andererseits gerade dann nicht mehr die Freiheit Gottes aufrecht erhalten wird, dieses "scheinbar ausweglose(s) D i l e m m a " 2 3 2 löst sich durch die Erkenntnis, daß mit Jesus "das Ende der Geschichte schon da i s t " " * 3 . Hier kommt nun der exegetische Sachverhalt zum Tragen, demzufolge auf der Folie der apokalyptischen Geschichtskonzeption die Vorwegnahme des Endes und die Offenheit der Zukunft einander nicht ausschließen. Das Ende "ist vorläufig nur innerhalb der Geschichte v o r w e g g e n o m m e n "234. 2
Dies bedeutet ein zweifaches: Zunächst einmal ist damit die Geschichte "keineswegs a b g e t a n " 2 3 5 ¿1er "geschichtliche Rahmen" bleibt bestehen, gleichwohl ist ein "Verständnis der Geschichte als ganzer" möglich gew o r d e n 2 3 6 _ N u n aber nicht so, und dies ist die andere Seite jener Aussage, wobei die "Vorläufigkeit" der Vorwegnahme in den Blick kommt, als würde dadurch eine "überschau über das Drama der Weltgeschichte gleichsam aus der Proszeniumsloge ermöglicht"237. vielmehr gilt: "Weil das Eschaton . . . so geheimnisvoll, weil so überwältigend und unfaßbar, unter uns gegenwärtig geworden i s t , darum kann von hier aus niemand die Geschichte in ihrem Ablauf b e r e c h n e n " 2 3 8 . Es ist wichtig zu sehen, wie der Begriff Vorwegnahme von Anfang an bei Pannenberg so s t r u k - . turiert wird, daß zwei verschiedene Dimensionen in einem ausgesagt werden können. Es soll in der Geschichte deren Ende fixiert werden, nun aber so, daß es sich nicht dem weiteren Verlauf der Geschichte verschließt; oder - noch einmal mit Pannenbergs eigenen Worten: "daß und wie Jesus von Nazareth das Ende der doch noch nicht abgeschlossenen Geschichte (ist)"239 _ s o verbietet es sich von vorn-
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herein, den darzustellenden Begriff der Antizipation auf der kategorialen Ebene vorab zu bestimmen, um dann zu prüfen, welche Inhalte der "logischen Struktur" von Antizipation gerecht werden. Im Sinne Kants jedenfalls ist Antizipation auf einer Metaebene anzusiedeln, die die Beziehung von Form und Inhalt als solche thematisiert. Hier stellt sich dann freilich das Problem der Bestimmung eines Kriteriums für die Angemessenheit der Antizipation selbst : offensichtlich kann dieses, will man nicht hinter die beanspruchte Ebene zurückfallen, nicht in einer bestimmten Form bestehen, wenn anders gerade alle Formen durch diesen Begriff geeint werden sollen, Antizipation deshalb nicht noch einmal als Form definiert werden kann. Das so entstandene Problem kann einer Lösung erst dann zugeführt werden, wenn hinlänglich geklärt ist, wie jene Aussage Kants im einzelnen zu verstehen ist und welche Bedeutung davon abgesehen jenem Begriff in der philosophischen und theologischen Tradition seit Kant zukommt.
Β ) VORGRIFF ALS BEGRIFF:
DIE VORAUSGESETZTE WAHRHEIT DES PHILOSOPHISCHEN GEDANKENS DER ANTIZIPATION
Diese Betitelung des zweiten (philosophischen) Hauptteils vorliegender Untersuchung soll zweierlei zum Ausdruck bringen: Zum einen wird sich zeigen, daß bei aller Differenzierung, die dem mit dem Begriff Antizipation in der Philosophie verbundenen Sachverhalt eignet, die Strittigkeit, und das bedeutet nichts anderes als die Zeitlichkeit des Antizipierten, unterbelichtet wird: aus dem behaupteten Vorgriff wird nolens volens ein Begriff - die Antizipation hebt sich selbst auf. Sodann werden sich allerdings auch zwei wichtige Anknüpfungspunkte für die Vermittlung der theologischen Funktion von Antizipation und der philosophischen ergeben. Die Verwendung dieses Begriffs für die Kennzeichnung der methodischen Einheit des Denkprozesses am Ort der ihm gegenüber differenten Glieder jenes Prozesses bei Cohen verweist auf die - theologisch belangvolle - Möglichkeit, durch die Struktur der Antizipation Einheit in Differenz und umgekehrt zu denken. Ähnliches gilt für die kantische Antizipation, die nicht auf die Methode des Erkennens unter Absehung von den erkannten Inhalten restringiert wird, sondern gerade das Verhältnis von Form und Inhalt zum Thema hat. Sofern freilich in beiden Fällen die Interpretation eine merkwürdige Ambivalenz aufdecken wird, da die Einsicht in die Differenz von Antizipiertem und seiner endgültigen Wahrheit weder bei Cohen noch bei Kant verhindert, diese Wahrheit als endgültige voraus-zusetzen, erscheint die Betitelung dieses Teils auch in diesen beiden Fällen angebracht. Die Beschäftigung mit Heidegger und Rahner kann geistesgeschichtlich dadurch legitimiert werden, daß bei ersterem Cohens, bei letzterem Kants Antizipationsbegriff zur Wirkung kommt. Wichtiger ist demgegenüber noch, daß Heidegger und Rahner in freilich ganz verschiedener Weise die anthropologische Relevanz von Antizipation herauszustellen suchen und damit ihre zunächst in erkenntnistheoretischer Hinsicht zuerkannte Wirksamkeit erweitern und vertiefen. Es wird allerdings zu fragen sein, ob nicht de facto die hier beanspruchte Funktion von Antizipation als Konstituens menschlicher Existenz denselben Aporien unterliegt, die bei Kant und Cohen sich einstellten: die Erhebung des Vorgriffs zum Begriff und seine damit verbundene Aufhebung. Doch dürfen auch hier positive Anknüpfungspunkte nicht übersehen wer-
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den, insbesondere die Einsicht in die Endlichkeit und geschichtliche Verfaßtheit des Menschen, der zwar n u r vorgreifend Wahrheit beans p r u c h e n , aber immerhin im Vorgriff Wahrheit behaupten k a n n .
I. DIE ERKENNTNISTHEORETISCHE RELEVANZ VON ANTIZIPATION
1. Kapitel DIE ENTDECKUNG DES ZUSAMMENHANGS VON ANTIZIPATION UND ZEIT BEI HERMANN COHEN Trotz der fundamentalen Bedeutung des Begriffs Antizipation im Kontext der transzendentalen Analytik der "Kritik der reinen V e r n u n f t " wird dort nicht explizit die Antizipation als zeitliche gefaßt. Da in Teil A die Schlüsselposition dieses Begriffs bei Wilckens und Pannenberg als in seiner zeitlichen Verschränktheit von Vorläufigkeit und Endgültigkeit (von Gegenwart und Zukunft) gründend erblickt wurde, erscheint es s t r i n g e n t e r , mit eben dieser Thematik im Kontext der philosophischen Diskussion zu beginnen. Von daher läßt sich denn auch leichter einsehen, daß sich die Kantische Verwendung des Begriffs Antizipation keineswegs einer I n t e r p r e t a t i o n , die eben auf die zeitliche Dimension dieses Begriffs a b h e b t , verschließt. In der philosophischen Tradition ist - soweit wir sehen - erstmals im Denken Hermann Cohens der Versuch unternommen worden, die zeitliche S t r u k t u r des Begriffs Antizipation zu denken. Dieser Befund legitimiert e s , auf das scheinbar so weit von der Theologie e n t f e r n t liegende, theoretische und abstrakte Denken eines fast vergessenen Philosophen einzugehen. Eines Philosophen, dem zwar zu Lebzeiten eine weitreichende Wirkung beschieden war, dessen zusammen mit Paul Natorp b e g r ü n d e te "Schule" des Neukantianismus a b e r , ebenso wie sein Denken, bald nurmehr geschichtlichen Wert besitzen sollte: "Die Marburger Schule hat sich mit dem Ende von Cohens Lehrtätigkeit und mit Natorps Anpass u n g an die Fichterenaissance im Präfaschismus aufgelöst. Es gab ein ehrendes Angedenken der unmittelbaren Schüler, d u r c h das aber Cohens Philosophie in der Esoterik e r s t a r r t e " 1 .
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1. Der Denkansatz Hermann Cohens und sein historisch-systematischer Kontext a) Der philosophiegeschichtliche Kontext Hermann Cohen steht als Schulhaupt des sogenannten "Neukantianismus" zweifellos am Ende einer geistesgeschichtlichen Entwicklung, die im Kontext des subjektivitätstheoretischen Ansatzes der Neuzeit ihre Konsistenz e r h ä l t . Das Proprium Cohenschen Denkens muß näherhin gegenüber Kant und dem Deutschen Idealismus einerseits, dem sich anschließenden Materialismusstreit andererseits herausgehoben werden. Cohen kann nicht einfach als Epigone Kants f ü r dessen Transzendentalphilosophie vereinnahmt werden, aber auch nicht dem Deutschen Idealismus und schon gar nicht dem Materialismus zugeschlagen werden. War ihm auch n u r begrenzte Wirkung beschieden, so steht er doch insofern in der Reihe der großen Denker, als er einen originalen Beitrag der Philosophie zur Lösung der Probleme seiner Zeit leistete. Der Titel seines grundlegenden Werkes, "Logik der reinen Erkenntnis"^, kann in seiner Ambiguität den mit Schlagwörtern skizzierten philosophiegeschichtlichen Rahmen seines Denkens illustrieren: "der Leser schwankt . . . zwischen transzendentalen und spekulativen Assoziationen" 3 . Hervorgerufen wird diese Doppeldeutigkeit durch die merkwürdige Genitivverbindung des Titels : soll doch keine Kritik, sondern eine Logik reiner Erkenntnisse geleistet werden^. Erkenntnis scheint demnach ohne Sinnlichkeit möglich zu sein: sowohl ihre Reinheit^ als auch ihre exklusive Zuo r d n u n g zur Logik weisen darauf hin, daß Erkennen nicht die Synthetisierung von "reiner Sinnlichkeit" und "reinem Verstand" ist. So können die idealistischen Assoziationen e n t s t e h e n , d e r a r t , daß die Logik Cohens "als eine sich selbst genügende Tätigkeit der V e r n u n f t , die . . . sich selbst zum Thema macht", v e r s t a n d e n wird, in deren Konsequenz der "Terminus 'Erkenntnis' durch Termini wie 'Einsicht', 'intellektuelle Ans c h a u u n g ' , 'kategoriale Selbstaffektion' e t c . e r s e t z b a r (wird)"®. An dieser Konsequenz offenbart sich freilich auch die Haltlosigkeit jener Assoziation, wenn a n d e r s die reine Erkenntnis gerade auf dem "Boden der Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft"^ fixiert wird. Diese Prinzipien nämlich "sollen von neuem als die reinen Erkenntnisse nachgewiesen . . . werden"**. (Diese Seite böte somit den A n k n ü p f u n g s p u n k t f ü r transzendentale Assoziationen, die freilich durch die erwähnte Eliminierung der transzendentalen Ästhetik haltlos geworden sind. ) Damit leuchtet zugleich "ein wesentlicher Punkt neukantianischer Theoriebildung" a u f , der häufig gekennzeichnet wird als das "Angewiesensein der Philosophie auf das Faktum der Wissenschaften"9, d . i . der sogenannten "mathematischen Naturwissenschaft", namentlich der "drei Bewegungsgesetze, welche Newton dem Planetensystem zugrunde legt" 1 ^. Wir müssen auf die Zweideutigkeit jener Rede vom "Faktum " der Wissen-
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Schäften zurückkommen: hier ist zunächst i n t e r e s s a n t , daß diese Hochschätzung der Naturwissenschaft bei Cohen und ihm folgend in der Marb u r g e r Schule im Zusammenhang der Rezeption der Materialismusdebatte des 19. J a h r h u n d e r t s zu sehen i s t 1 ! . "Auch wenn man an der idealistischen Tradition bewußt festhielt, so glaubte man diese doch n u r im Durchgang d u r c h ihr Wesensfremdes, nämlich die modernen N a t u r - sowie Gesellschafts- bzw. Geschichtswissenschaften, bewähren zu können"12. Wesentlich f ü r eine Rekonstruktion des systematischen Ansatzes des Marburgers ist dabei die Erkenntnis, daß er an der idealistischen T r a dition bewußt festhielt: wie dieses Festhalten u n t e r dem Eindruck der Prävalenz der Natur- gegenüber den Geisteswissenschaften realisiert und modifiziert wurde, hat u n s jetzt zu beschäftigen.
b ) Der systematische Ansatz der Philosophie Hermann Cohens Es handelt sich um eine sehr allgemeine und scheinbar wenig hilfreiche Aussage, wenn Cohens Denken als ein der idealistischen Tradition zuzuordnendes gekennzeichnet worden i s t . Damit sollte zunächst n u r die Abgrenzung gegenüber einem empirischen Materialismus zum Ausdruck gebracht werden. Cohen steht insofern in der idealistischen Tradition, als er die Selbständigkeit des "Denkens" - was auch immer d a r u n t e r zu verstehen sein mag - gegenüber den gedachten Gegenständen b e h a u p t e t . Der Nachweis der Unabhängigkeit des Denkens von irgendwelchen (empirischen) Data und - eodem actu - die Legitimierung der Philosophie als Wissenschaft d ü r f e n als die beiden Hauptlinien der Intention Cohenschen Denkens bezeichnet werden: insofern ist sie idealistischer Theoriebildung v e r h a f t e t . Nichts anderes v e r s u c h t freilich auch ein Idealismus platonischer Provenienz, so daß jene Charakterisierung zu allgemein bleibt, um den besonderen, Standort des Cohenschen Idealismus am Ausgang des 1 9 . J a h r h u n d e r t s fixieren zu können. Der Begriff "Idealismus" wird denn auch weniger mit dem Piatons assoziiert als vielmehr mit jener k u r z e n von 1781 bis 1821 währenden Epoc h e 1 ^ die jenen Namen als Etikette erhalten h a t : mit dem "Deutschen Idealismus". Es ist ein bekannter Sachverhalt, daß im Mittelpunkt der transzendental-idealistischen Systeme das "Bewußtsein, das Ich, das Subjekt, die Intelligenz, der Geist" stand 1 '*. Diese zentrale Stellung des menschlichen Subjekts unterscheidet nicht n u r den "Deutschen Idealismus" grundlegend von dem Piatons, sondern es d ü r f t e hierin ein Charakteristikum der Neuzeit gegenüber dem antiken Denken schlechthin zu erblicken sein. Diese neuzeitliche Wendung zum Subjekt freilich wurzelt in der Hochschätzung des Wertes des einzelnen Individuums, den das Christentum wenn nicht e n t d e c k t , so doch betont h a t : zu Recht ist gesagt worden, "daß die ewige Bedeutung des Individuums und des in-
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dividuellen Lebens einer der wichtigsten Beiträge des Christentums zur Erfahrung der Struktur menschlicher Existenz, wie auch zur Entwicklung des Menschen gewesen ist" 1 ^. Die innere Systematik dieser Entwicklung von den Gleichnissen Jesu über das Verlorene an, die die Liebe Gottes zu jedem einzelnen ausdrücken, bis hin zur Aufhebung der Substanz in das Subjekt bei Hegel braucht hier nicht rekonstruiert zu werden. Wesentlich ist hier nur, daß durch die Kritik Augustine an der platonischen Anamnesislehre1® und durch die Umbildung des Aristotelischen intellectus agens, der in der Scholastik als Teil der menschlichen Seele und somit als menschlicher Intellekt interpretiert worden i s t 1 ' , aber auch durch die Mystik Eckeharts und die Betonung der persönlichen Glaubensgewißheit bei Luther der Boden bereitet war für den subjektivitätstheoretischen Ansatz der Neuzeit. Die unmittelbare Ursache dafür, daß jener Ansatz so reiche Früchte trug, ist freilich in dem unentschiedenen Ausgang der Religionskriege zu erblicken, wodurch die Wahrheit der Religion so in Frage gestellt war, daß sie als fundamentum inconcussum individuellen und gesellschaftlichen Lebens destruiert wurde. An ihre Stelle trat das menschliche Subjekt, dessen Vernunft zum Garanten der Wahrheit wurde. Daß dieses "aufklärerische" Denken so schnell so weite Kreise zog, hängt wohl nicht zuletzt mit der innerprotestantischen Kritik an der Orthodoxie zusammen, wenn anders der Pietismus Speners Frömmigkeit, Gehorsam und Tugendstreben mit dem Glauben verknüpft und darüber hinausgehend bei Francke das Bekehrungserlebnis (und die damit verbundene Betonung des Willensentschlusses) in den Mittelpunkt tritt. So wird bei Francke "die Wendung des Menschen zum lebendigen Glauben . . . zu etwas, das von uns in die Hand genommen werden kann"18. Eben darum geht es auch in der philosophischen Aufklärung, die mit dem Protestanten Kant ihren Höhepunkt erreicht: das selbsttätige Subjekt , der durch seine Vernunftbegabtheit seiner selbst mächtige und sich selbst bestimmende Mensch, ist nicht nur die Ursache seines Handelns (als gesetzgebender Wille), sondern auch der Garant für wahre Erkenntnis (als gegenstandskonstituierende Vernunft). Was letzteres betrifft, so ist es näherhin die "reine" oder "ursprüngliche Apperzeption", die die Gegenstandserkenntnis bedingt. Sie ist "dasjenige Selbstbewußtsein . . . , was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann"19. Allerdings muß zugegeben werden - die Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts lehrt dies aufs Eindrücklichste - , daß diese Formel "so allgemein und vage (ist), daß oft die entgegengesetztesten philosophischen Richtungen sich auf sie berufen konnten"20. In der Tat zielt ja die im Paralogismuskapitel geübte Kritik an der rationalen Psychologie genau darauf, daß das Selbstbewußtsein nur "die Beziehung auf Sich, als Subjekt" darstellt und deshalb nur "als die Form des Denkens" 2 1 , nicht aber als Beziehung auf ein Objekt begriffen werden darf. Die daraus resultierende Schwierigkeit besteht darin, daß dieses formale "Ich
- 64 denke" gleichwohl die "objektive Gültigkeit" der "Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand" gewährleisten, mithin "Erkenntnisse" b e dingen s o l l 2 2 . Dies ist aber nur insofern möglich, als die transzendentale Apperzeption ihren Gegenstandsbezug durch die Anschauung erhält, die ihrerseits, wie überhaupt "jede Vorstellung" von einem empirischen Bewußtsein 2 ^, von der "empirische(n) Apperzeption" 2 ^ begleitet wird. Dann>aber entsteht die schwerwiegende Frage, wie dieses Verhältnis zwischen empirischer und transzendentaler Apperzeption als solches zu denken ist. Es gibt - grob gesprochen - zwei Möglichkeiten, dieses Verhältnis zu bestimmen: entweder man hebt das empirische Ich in das transzendentale auf: dann muß die Thematisier un g der Binnenstruktur des Selbstbewußtseins gekoppelt werden mit der Setzung des Gegenstandes; die Gegenstandskonstituierung bedeutet dann zugleich Selbstsetzung des Ich: "das tätige und sichwissende Ich (ist) das Absolute" 2 5 . Indem so das Ich die Welt umgreift, treibt dieser Gedankengang interessanterweise in dieselbe Konsequenz wie der Cohens: das Ich verliert seine Individualität, wird aufgehoben in die allgemeine Denkbewegung, die freilich in der Tendenz der idealistischen Argumentation noch einmal als dem Selbstbewußtsein strukturanalog zu denken ist 2 ®. Hegel kommt dabei die herausragende Bedeutung zu, "das sich wissende Ich als das sich denkende Denken zu f a s s e n " 2 ? . Während nämlich Fichte und Schelling jene interne Struktur des Selbstbewußtseins nicht "auf den Begriff" brachten, - das der Selbsterfassung adäquate Mittel ist bei Schelling nicht der (logische) Begriff, sondern die intellektuelle Anschauung, Fichte hingegen scheitert bekanntlich nach mehreren Versuchen, die logische Struktur des Selbstbewußtseins als des Sich-selbst-Setzens zu denken, um schließlich die unumgängliche Voraus-setzung des Selbstbewußtseins zu thematisieren 2 8 - gipfelte das Denken Hegels in dem Versuch, mittels des Gedankens der Selbstaufgabe (Negation) sowohl dem Voraussetzungscharakter des Selbstbewußtseins gerecht zu werden, als auch dessen geforderte logische Struktur begrifflich faßbar zu machen. Der andere Anknüpfungspunkt an Kants Theorie der transzendentalen Apperzeption thematisiert mit Kant die Seite der Gegenstandskonstituierung - hier fungiert das Ich nur als "transzendentallogisches", d . h . , die Betrachtung des Selbstbewußtseins ist nur solange von Interesse, als es für die Gegenstandserkenntnis eine Rolle spielt. Dies ist der Ausgangspunkt der philosophischen Intentionen des Neukantianismus, der deshalb die subjektivitätstheoretische Grundlegung der Philosophie ablehnt, weil er jene These verneint, derzufolge die Gegenstandserkenntnis durch das Selbstbewußtsein bedingt ist. Für diese Ablehnung berief man sich sogar auf Kant29; auch sie konnte zumindest ausgelöst werden durch die von Kant nicht geklärte Verhältnisbestimmung von empirischem und transzendentalem Bewußtsein. Für die Formalität der transzendentalen Apperzeption war ihre Bindung an ein konkretes Individuum eher hin-
- 65 derlich; sie konnte "rein" nur dann zur Geltung kommen, wenn sie abgelöst von den subjektiv-empirischen Beimischungen des Selbstbewußtseins betrachtet wurde. Dies ist wohl ein Grund dafür, daß Cohen, wie wir unten^O noch sehen werden, das Selbstbewußtsein als ungeeignet für die ihm zugemutete Einheitsstiftung ansieht. Bevor dieser Gedankengang anhand der Darstellung von Cohens eigenen Argumenten gegen die Grundlegung der Philosophie auf das Selbstbewußtsein fortzuführen i s t , soll kurz die Destruktion der transzendental-idealistischen Grundlegung der Philosophie durch den Materialismus erinnert werden. Wenn wir recht sehen, kann nämlich die Ablehnung des subjektivitätstheoretischen Ansatzes historisch als der um der Aktualität willen zu leistende Tribut an die Materialismusdebatte des 19. Jahrhunderts v e r standen werden: dadurch wurde das Selbstbewußtsein ein zu unsicheres Fundament für die Grundlegung der Philosophie, wenn anders das menschliche Bewußtsein nicht mehr ist als ein "subjektives Phänomen", das dann vollständig erkannt i s t , "wenn wir die Hirnteile kennen, in denen es zustandekommt, und die Ströme, welche sich in diesen Teilen bewegen""^. Cohen versucht, indem er die Objektivität der Naturwissenschaften dem Materialismus zugesteht, diese Objektivität an die Stelle der Einheit des Bewußtseins zu setzen, die ja, nach Kant wie nach dem Deutschen Idealismus, die objektive Gültigkeit der Erkenntnis zu gewähren h a t t e t . Entscheidend ist nun, daß jene Objektivität der Naturwissenschaften zwar als Faktum vorauszusetzen i s t , gleichwohl aber nach der Bedingung ihrer Möglichkeit gefragt werden kann. Damit postuliert Cohen eine Metaebene jenseits des materialistischen Positivismus, die in der Tat durch den Rekurs auf die "subjektive (n) Vermitteltheit des Faktums Wissenschaft"33 gesichert werden soll - was aber nicht mit der kantischen Einheit des Bewußtseins in eins gesetzt werden darf. Auch wenn Cohens Philosophie auf die Grundlegung des einheitlichen Kulturbewu ßtseins in seiner dreifachen Gliederung in Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst zielt 34, S o wendet sich Cohen doch in einer der zweiten Auflage seiner "Logik der reinen Erkenntnis" hinzugefügten Reflexion über die innere Systematik seines Denkens vehement dagegen, daß jenes Bewußtsein degradiert wird zum "Ausgangs- oder Endpunkt einer persönlichen Aktualität"35. Damit ist zunächst einmal ausgedrückt, daß es nicht um die Einheit des Bewußtseins eines konkreten Individuums, einer Person, gehen soll. Darüber hinaus ist die Grundlegung der Einheit des Kulturbewu ßtseins die Aufgabe, das Ziel der Philosophie, nicht jedoch ihr Grund. Vielmehr ist es "die Einheit des Systems, wie sie sich in der Entwickelung des Systems vollzieht"36 ( di e das Kulturbewußtsein allererst begründet. Die Grundlegung des Systems aber vollzieht sich nach Cohen in der Logik als Logik des Ursprungs. Doch bevor darauf explizit einzugehen i s t , kann die bisherige systematische Ortung des Cohenschen Denkens insofern erhärtet und profiliert werden, als seine eigenen Argumente gegen eine auf das Selbstbewußtsein gegründete Erkenntnistheorie berücksichtigt werden.
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Zunächst einmal b e r u f t sich Cohen auf den "Fehler der Terminologie" bei Kant: die transzendentale Apperzeption wird nämlich von Kant weder auf die Ethik, noch auf die Ästhetik und auch nicht auf die Dialektik bezogen, obwohl Kant diesen Begriff "in den Mittelpunkt seiner systematischen Terminologie stellte"37. Dies wird deshalb als "Vorzug der Kantischen Wahrheit"38 i n t e r p r e t i e r t , weil sich darin zeigt, wie die "Einheit des Bewußtseins" sich in der "Kritik der reinen V e r n u n f t " "als die Einheit des wissenschaftlichen Bewußtseins ( d e f i n i e r t e ) " ^ . Es wurde oben40 darauf hingewiesen, daß die kantische V e r k n ü p f u n g von Selbstbewußtsein und Gegenstandserkenntnis die nachkantische Entwicklung sowohl hin zum Idealismus als auch zum Neukantianismus evozierte; wir müssen die detaillierte Genese dieser Entwicklung ebenso wie die Haltbarkeit von Cohens Kantinterpretation an diesem Punkt dahingestellt lassen. Sodann - und erst in diesem Zusammenhang finden sich die sachlichen Argumente gegen eine Grundlegung der Philosophie auf das Selbstbewußtsein - wendet sich Cohen gegen die Psychologie, die das e r k e n n e n de Subjekt zur Basis der Interpretation des Erkenntnisvorgangs e r k l ä r t . Die Psychologie, der größte Konkurrent zu Cohens eigenem Vorgehen, müßte zeigen können, daß der "Bewußtseinsvorgang" als Erkenntnisvorgang ein einheitlicher ist. "In dem Bewußtseinsvorgang . . . des Erkennens" meint man, "die Wurzel" der Einheit des Wissens gefunden zu haben: - "im Hochgefühl des Psychologismus"41. Die kritische F r a g e , die sich nach Cohen eine Grundlegung der Philosophie auf das Selbstbewußtsein stellen lassen muß, lautet demnach: "Gibt es . . . eine solche Einheitlichkeit des Erkenntnisvorganges?"^ 2 Cohen stellt also mit Kant die Legitimität der Philosophie im Kontext einer möglichen Einheit des Denkens d a r . Dies ist der "idealische Charakter der E r k e n n t n i s " ^ , d u r c h dessen gelungenen Aufweis die Philosophie gerechtfertigt wird, Grundlegung aller anderen Wissenschaften zu sein. Eine solche G r u n d legungswissenschaft muß nämlich auf einer Metaebene gegenüber den gegründeten Wissenschaften angesiedelt werden, von der aus diese eben begründet werden können: dieser Grund ist nach Cohen der "Inbegriff . . . des Wissens"44, der n u r d u r c h das "Mittel" der Einheit hergestellt werden k a n n . Von dieser Erwägung her wird das Hauptargument Cohens gegen die Psychologie plausibel: sie kann genau deshalb nicht den Stat u s einer Grundlegungswissenschaft b e a n s p r u c h e n , weil die von ihr thematisierten Bewußtseinsvorgänge in einer letzten Verschiedenheit v e r h a r r e n , nämlich der zwischen "der sogenannten Empfindung und der sogenannten Vorstelluhg"45 Darüber hinaus wird j e d e r , auch ein noch so a b s t r a k t e r Bewußtseinsvorgang von "kôrperliché(n) Gemeingefühle(n)" 4 ® begleitet, die a u f g r u n d i h r e r Individualität keinerlei Allgemeinheit und also auch keine Einheitlichkeit beanspruchen können. Die oben versuchte Ableitung des Cohenschen Ansatzes aus der Formalität der transzendentalen Apperzeption Kants kann von hieraus e r h ä r t e t werden.
- 67 In der Tat soll ja die transzendentale Apperzeption die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung gewährleisten: deshalb darf sie selber nicht anschaulich, muß sie eben formal sein. Nach Cohen ist diese Formalität aber am Ort des konkreten Individuums nicht durchhaltbar, da Empirisches sowohl als Empfindung als auch als individuelle Verfaßtheit körperlicher Gemeingefühle von dem "Ich denke" nicht geschieden werden kann. Dies leistet seiner Meinung nach nur der Rekurs auf das transsubjektive, wissenschaftliche Bewußtsein, auf das allgemeine Denken. Die Unmöglichkeit, den Erkenntnis vor gang als einheitlichen zu begreifen, wird von Cohen schließlich bezüglich der erkannten Inhalte verdeutlicht: da das Erkennen nicht als Tätigkeit des Intellekts isoliert werden kann, sondern mit der ästhetischen Vorstellung und dem Willen verbunden ist, bildet der Vorgang des Erkennens drei Inhalte: Wahrheit, Freiheit und Sittlichkeit aus, deren Einheit eben nicht mehr durch den Erkenntnisakt selbst gewährleistet werden kann, weil kein Kriterium für die offenkundige Verschiedenheit dieser Inhalte angegeben werden kann. Damit ist die Psychologie nicht etwa als solche destruiert, sondern nur als Grundpfeiler innerhalb der Aufgabenstellung der "Logik der reinen Erkenntnis". Gerade in der Verbindung dieser verschiedenen Inhalte besteht der Wert der Psychologie: "in dem Problem der Einheit des Kulturbewußtseins" 1 * 7 , worauf o b e n 4 8 hingewiesen worden ist. Das Ergebnis der voranstehenden historisch-kritischen Ortung des Ansatzes von Cohens Philosophieren ist für die folgende Darstellung der Funktion des Antizipationsbegriffs im Rahmen dieses Denkens deshalb relevant, weil offenkundig jener Begriff nicht - wie im theologischen Entdeckungszusammenhang - auf ein konkretes Individuum appliziert wird. Wir sahen, daß einerseits selbst der Wert der Psychologie nicht in einer Erhellung der Bewußtseinsvorgänge im einzelnen Subjekt besteht; zwar gilt: "Die Psychologie allein hat zu ihrem ausschließlichen Inhalt das Subjekt"^9. Dieses "Subjekt" darf aber als "Einheit des Kulturbewußtseins" 5 ^ keineswegs mit einem konkreten Subjekt identifiziert werden, so daß die Aufgabe und das Ziel des philosophischen Systems, "die Einheit des Menschen" zur Erzeugung zu bringen, von vorneherein auf einen abstrakten "Begriff des Menschen"51 gerichtet ist unter Absehung seiner kontingenten und individuellen Verfaßtheit Andererseits - und dies ist die entscheidende Modifikation gegenüber der Grundlegung sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie bei Kant, die den Titel Neu-Kantianismüs als problematisch erscheinen läßt - wird an die Stelle des "Ich denke", der transzendentalen Apperzeption im Sinne der "Kritik der reinen Vernunft", das wissenschaftliche Bewußtsein gesetzt. "Wir fanken mit dem Denken an"53 : dieses Leitmotiv des Cohenschen Systems im allgemeinen und der Logik im besonderen signalisiert nicht
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nur, wie wir gleich sehen werden, die Einebnung der Kantischen Anschauung, sondern auch und zunächst die Destruierung der Reflexion auf das konkrete Individuum zum Zwecke der Grundlegung transzendentaler Erkenntnis. Dies scheint uns das entscheidende Movens Cohenschen Denkens darzustellen, das gerade nicht subjektivitätstheoretisch verständlich gemacht werden kann. (Die Tendenz des Deutschen Idealismus war demgegenüber, durchaus auch unter Absehung vom konkreten Subjekt, eine Theorie des Subjekts als Theorie des Selbstbewußtseins zur Grundlage der Philosophie zu machen: es wäre allerdings zu fragen, ob im strengen Sinne nicht auch hier der subjektivitätstheoretische Ansatz aufgegeben i s t , wenn anders das Ich zur Welt w i r d 5 ^ . ) Es ist interessant, daß innerhalb der Marburger Schule die Meinung vertreten worden i s t , ihre objektivierende Interpretation der transzendentalen Apperzeption als allgemeines Denken der Wissenschaften bewahre "die 'objektive' B e deutung des Kantischen Idealismus": die "objektive Wendung" der Kantischen Erkenntniskritik bestehe näherhin darin, "nicht von Vorstellungen und Vorgängen im denkenden Individuum, sondern von dem Geltungszusammenhang zwischen Prinzipien und 'Sätzen'" zu h a n d e l n ^ . Auch wenn Kants Beharren auf der Formalität der transzendentalen Apperzeption und damit zusammenhängend die Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung von empirischer und transzendentaler Apperzeption^ die von Cohen gezogene Konsequenz zur Folge haben könnte, handelt es sich doch nicht mehr um eine kantimmanente Interpretation, sondern um eine Weiterführung Kantischen Denkens, die notwendig die beiden Grundpfeiler der Kantischen Erkenntnistheorie, Anschauung und Denken, zum Einsturz bringen muß. (Dies ist im übrigen auch eine der Konsequenzen der anderen Fortentwicklung der Philosophie Kants: des Deutschen Idealismus. ) Voranstehendes Ergebnis will nicht bestreiten, daß die Cohensche Argumentationsstruktur an einem ganz wesentlichen Punkt der kantisch-idealistischen Problemstellung verhaftet ist: sofern sie nämlich davon ausgeht, "daß die Vernunft nur das einsehen könne, was sie nach eigenem Entwurf h e r v o r b r i n g t " 5 7 . Auf diesem Hintergrund ist der Versuch verständlich , das Denken Cohens im Kontext einer Theorie der Moderne, die neuerdings auf den Begriff "Selbsterhaltung"^^ gebracht worden i s t , zu orten. Die obigen Erwägungen über die Eigenart des philosophischen Ansatzes Cohens sind geeignet, jenes Theorem zu problematisieren, weil der Strukturbegriff "Selbsterhaltung" keine erhellende "Perspektive" für den Impetus Cohenscher Theoriebildung bietet.
c ) Selbsterhaltung contra Selbsterzeugung Die Plausibilität des Terminus "Selbsterhaltung", der den die Geistesgeschichte der Neuzeit einigenden Ausgangspunkt bezeichnen soll, e r scheint auf den ersten Blick wegen seiner einheitsstiftenden Funktion
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sehr g r o ß . Der "Anfang der Moderne" schlechthin soll durch ihn b e g r ü n det werden: "Staatsphilosophie und Anthropologie ebenso wie Ontologie und Ethik (wurden) aus dem einen Begriff der Selbsterhaltung b e g r ü n d e t " · ^ . Nimmt man hinzu, daß das Massenträgheitsgesetz das Streben eines jeden Körpers nach B e h a r r u n g formuliert, B e h a r r u n g a b e r , was leicht gezeigt werden k a n n , ein defizienter Modus von Selbsterhaltung i s t , so ist auch das der neuzeitlichen Physik zugrunde liegende Prinzip mit jenem Begriff thematisiert®®. Die d u r c h die S t r u k t u r "Selbst er haitun g" mitgegebene Perspektive einer Rekonstruktion des Cohenschen Denkens ist nach D.Henrich folgendermaßen zu beschreiben: Nach Hegel ist es nicht (mehr) gelungen, "die Selbstbeziehung des subjektiven Lebens so zu denken, daß die Vergegenwärtigung ihres unvordenklichen Grundes nicht als ein zweites neben ihr zu stehen kam, sondern innerhalb der Selbstbeziehung und als Moment von deren eigenem Wesen begriffen werden konnte"® 1 . Diese These erblickt also die die nachhegelschen Denker der Modernität einigende Aufgabe d a r i n , jene Vermittlung zwischen der zu setzenden Selbstbeziehung und der immer schon gesetzten Selbstbeziehung zu leisten, wobei das Problem dadurch v e r s c h ä r f t w u r d e , daß d u r c h die Ablehnung von Hegels eigener Lösung einsichtig wurde, daß "die Auflösung des einen Moments der S e l b s t e r f a h r u n g in sein Gegenstück vollständig und fugenlos nicht gelingen kann"®2. Demgemäß müßte eine eingehende Interpretation von Cohens Philosophie den Nachweis e r b r i n g e n , daß seine Themenstellung als Selbstbegründung der Subjektivität auszugeben ist und dessen D u r c h f ü h r u n g letztlich das Scheitern an dieser Aufgabe zutage f ö r d e r t . (Mit dieser Bestimmung des Begriffs "Selbsterhaltung" d u r c h Henrich ist im übrigen eine weitreichende Modifikation der von H.Blumenberg konstatierten "intransitive(n) Erhaltungsaussagen", die "der Rationalität der Neuzeit zugrundeliegen" sollen, gegeben63. Zu Recht betont Henrich: "Was sich erhalten muß, muß nämlich wissen, daß es nicht jederzeit und vor allem nicht schlechthin seinen Grund in sich selber h a t " 6 4 . ) Der Brüchigkeit jenes S t r u k t u r b e g r i f f s "Selb st er haitun g" korrespondiert die B e s t r e i t u n g , ihn auf das Denken Cohens anzuwenden: Explizit hat sich jüngst H.-L.Ollig mit diesem Interpretationsschema auseinandergesetzt, mit dem Ergebnis, daß "der Bruch der Selbstmacht der Subjektivität . . . auch in dem Sinne verstanden werden muß, daß die monologische Logik der Selbsterhaltung immer wieder in Frage gestellt . . . wird von der E r f a h r u n g kommunikativer Freiheit"65. Die hier d u r c h g e f ü h r t e Interpretation stimmt zwar der Deutung Henrichs in allen Punkten zu, v e r b u n d e n mit der Einschränkung, daß Cohen "den bei Henrich vorgegebenen subjektivitätstheoretischen Rahmen auch in gewisser Weise sprengt"®®. Indiz d a f ü r ist nach Ollig, daß Cohen neben der Rede von der Selb sterhaitun g in seiner Ethik "das Theologumenon der Erhaltung der Welt durch Gott weiterverwendet"®^. Die Pointe dieser I n t e r p r e t a -
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tion ist also darin zu erblicken, daß "die Aporetik der neuzeitlichen Autonomieposition" am Beispiel Cohens in einer Weise sichtbar wird, die von der S t r u k t u r "Selbsterhaltung" abweicht. Die "Ambiguität(en)"69 Cohenschen Denkens evoziert, daß neben dem Gedanken "suisuffizient e ( r ) Selbsterhaltung", der "Henrichs Optik" e n t s p r i c h t , auch "eine dialogische Logik kommunikativer F r e i h e i t " ^ zu konstatieren i s t , wor u n t e r die "Koinzidenz von Freiheit und Liebe" zu verstehen i s t . Das heißt: Selbstbeziehung und Fremdbeziehung sind so zu vermitteln, "daß der eine den anderen nicht als Grenze, sondern als Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Selbstverwirklichung e r f ä h r t " 7 * . Auch wenn dieser Interpretation nicht im einzelnen nachgegangen werden k a n n , da es um die Grundlegung der theoretischen Philosophie Cohens zu tun i s t , so könnte doch folgender kritischer Einwand erhoben werden: sofern f ü r die Cohen zugeschriebene dialogische Logik a u s g e rechnet Hegel als " K r o n z e u g e ( n ) a n g e f ü h r t wird, nämlich seine Vermittlung von Fremdbeziehung und Selbstbeziehung durch den Gedanken des "Im-anderen-bei-sich-selbst-Sein", wird der subjektivitätstheoretische Rahmen gerade nicht g e s p r e n g t , sondern im Sinne der "Lös u n g Hegels" (nach Henrich 7 ^) i n t e r p r e t i e r t ; die S t r u k t u r der Selbste r h a l t u n g in ihrer Hegeischen A u s p r ä g u n g erweist sich so gerade als adäquate Kennzeichnung von Cohens dialogischer Logik. Vielversprechender erscheint uns demgegenüber eine andere Strategie gegen die These Henrichs, derzufolge Cohen jenen Denkern zuzurechnen i s t , die den Grund der Subjektivität nicht mehr vermitteln können: Es geht Cohen - in seiner Logik zumindest - gar nicht um die Thematik der Subjektivität, deren Grund er dementsprechend auch nicht vermitteln will! Das bedeutet zum einen, daß Cohen bewußt, wie wir oben versuchten zu zeigen, von einer Grundlegung der Subjektivität absieht, um an ihr e r Stelle das Denken des wissenschaftlichen Bewußtseins zu setzen. Damit würde die Anwendung von Henrichs Interpretationsmuster dem Denken Cohens zu viel zumuten. Andererseits unterbietet der Terminus "Selbsterhaltung", zumindest in der Fassung Henrichs, den Cohenschen A n s p r u c h , nicht n u r die Selbste r h a l t u n g , sondern die Selbsterzeugung des Denkens zu leisten. Cohen beansprucht in der Tat eine intransitive Erzeugung des Denkens ganz im Sinne der idealistischen Tradition. Wesentlich ist jedoch, daß diese Selbsterzeugung auf die v o r - g e g e b e n e , besser "aufgegebene" Methode mathematischer Naturwissenschaften bezogen i s t , nicht aber auf das vom Ich zu setzende Selbst des Subjekts. Wir werden freilich noch genauer herausarbeiten müssen, ob nicht auch auf die Selbsterzeugung der Methode der mathematischen Naturwissenschaften die Fichteschen Aporien der Selbstsetzung des Ich anzuwenden sind. Nur eine einheitliche Interpretation von Cohens "Logik" kann an diesem Punkte weiter-
- 71 helfen, die freilich eine Erhellung des Begriffs Antizipation zum Ziele hat und n u r insoweit zu einer Lösung des skizzierten Problems beitragen k a n n , als diese mit jenem Begriff in unmittelbarem Zusammenhang s t e h t . Im folgenden soll dabei von dem bis jetzt herausgearbeiteten Ergebnis bezüglich des Ansatzes von Cohens Denken ausgegangen werden: der Substituierung des individuellen Subjekts d u r c h das wissenschaftliche Bewußtsein als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis.
2. Zur Exposition von Cohens "Logik der reinen Erkenntnis" Obgleich es nicht darum gehen k a n n , den Gehalt von Cohens "Logik der reinen Erkenntnis" auch n u r annähernd auszuschöpfen, muß doch soviel über das Anliegen und den Aufbau dieses Werkes gesagt werden, wie nötig i s t , um die darin beschlossene Stellung und Funktion des Begriffs Antizipation herausarbeiten zu können. Für diesen Zweck mag Cohens eigene "Einleitung und D i s p o s i t i o n " ^ seiner Logik als Textgrundlage dienen, deren Interpretation der Aufgabenstellung eher gerecht werden kann als eine vorschnelle Schematisierung des Cohenschen Denkens, die notwendig einseitig bleiben muß, wenn auf die explizite Auseinandersetzung mit seinen Schriften verzichtet wird. Damit soll der Wahrheitsgehalt d e r a r t i g e r Qualifikationen - da ist von " M e t h o d e n m o n i s m u s , von "mathematisch-naturwissenschaftlichem ( r ) Idealismus" 1 ^, von "Wissenschaftstheorie"?? und einem "methodologischen Essentialismus"?8 die Rede, ein "radikaler Operativismus" 7 ^ u . a . m . wird Cohen zugeschrieben - keineswegs b e s t r i t t e n werden, ja sie mögen eine wichtige Funktion als Zusammenfassung einer vorgängigen Interpretation haben. In systematischer Hinsicht soll so vorgegangen werden, daß die aus dem entwickelten Ansatz des Cohenschen Denkens sich notwendig ergebenden Konsequenzen r e k o n s t r u i e r t werden: interessanterweise treiben sie, wie zu zeigen sein wird, auf die E i n f ü h r u n g des Antizipationsbegriffs zu. "Wir fangen mit dem Deken an ! " - so lautete die Devise der Cohenschen E r n e u e r u n g der Kantischen Philosophie, die an die Stelle der subjektivitätstheoretischen Grundlegung menschlicher Erkenntnis eine wissenschaftstheoretische setzte. Das Denken wird hier - in Frontstellung zur "Kritik der reinen V e r n u n f t " - als der "Stamm" menschlicher Erkenntnis e i n g e f ü h r t , dem nichts vorausgehen d a r f . Nun unterscheidet Kant ja bekanntlich zwischen Denken und Erkenntnis sehr präzise: "Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand e r k e n n e n , ist also nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Beg r i f f , dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, d a d u r c h er gegeben wird"80. Das heißt, im Sinne Kants darf n u r dann von Erkenntnis die Rede sein, wenn ein
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reiner Verstandesbegriff "auf Gegenstände der Sinne bezogen wird"** 1 : wenn also die Tätigkeit des Denkens mit der der Anschauung verknüpft wird. Demgegenüber soll nach Cohen die Tätigkeit des Denkens selbst die Erkenntnis hervorbringen. In der Terminologie Cohens: "Das reine Denken in sich selbst und ausschließlich muß . . . die reinen Erkenntnisse zur Erzeugung bringen"** 2 . Der Interpretation dieses Satzes, der die Intention von Cohens Logik vorzüglich zum Ausdruck b r i n g t , ist folgende grundsätzliche Erwägung voranzustellen. Der Verzicht auf die Zweistämmigkeit menschlicher Erkenntnis bei Cohen folgt notwendig aus seinem wissenschaftstheoretischen Ansatz. Weil Kant eine Erkenntnistheorie des menschlichen Subjekts leisten will, muß er auf die Sinnlichkeit rekurrieren, die freilich durch die transzendentale Ästhetik formal als reine qualifiziert werden soll. Bei "uns Menschen wenigstens", so fügt Kant in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" hinzu, setzt Anschauung als "unmittelbare" Beziehung einer Erkenntnis auf Gegenstände stets voraus, daß der Gegenstand "das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit"83. Indem Cohen, wie wir oben zu zeigen versuchten, keine Erkenntnistheorie des menschlichen Subjekts, sondern eine solche der Wissenschaften darlegen will, kann er zunächst einmal die Differenz zwischen Anschauung und Denken zugunsten des Denkens einziehen. Er muß diese Differenz allerdings dann einebnen, wenn er seinen Ausgangspunkt als nicht-empirischen absichern will. Dann aber muß das Denken den Part der Anschauung mit übernehmen, und somit ist es konsequent, wenn Cohen von einer "Erzeugung" der Erkenntnis durch das Denken spricht. Bei Kant - darauf weist auch Cohen ausdrücklich hin - wird das Erkennen nicht durch Erzeugung, sondern durch Synthesis bestimmt. "Also ist die Synthesis letztlich und eigentlich die des Denkens mit der Ans c h a u u n g " ^ . Dem ist zuzustimmen: Die transzendentale Apperzeption kann nach Kant die ansonsten getrennten Stämme menschlicher Erkenntnis einen, weil "alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption" steht85. Es kommt hier nicht auf eine Diskussion dieser Behauptung Kants (einschließlich ihrer Begründung) an: für Cohen liegt ihre Schwierigkeit darin, daß die Mehrheit von Denken und Anschauung "gegeben" i s t , nicht aber "erzeugt" wird. Dadurch aber wird "die ureigene Selbständigkeit des Denkens beeinträchtigt"86. Wenn also von Cohen der Erkenntnisvorgang terminologisch nicht als Synthetisieren, sondern als Erzeugen gefaßt wird, läßt sich dies leicht als Konsequenz der Ablehnung der Kantischen Trennung zwischen Denken und Anschauung begreifen.
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Wie aber ist jene Erzeugung der reinen Erkenntnisse zu v e r s t e h e n ? Damit kehren wir zurück zur Interpretation der philosophischen Intention von Cohens Logik. Es muß zunächst geklärt werden, was der "Schöpferkraft des Denkens "87, was dem erzeugenden Denken als Erzeugnis zugemutet wird: was bedeutet nach Cohen "reine Erkenntnis", die das Denken zur Erzeugung bringen soll? "Die Erkenntnis bedeutet viertens die reine E r k e n n t n i s " ^ : diese lapidare Aussage thematisiert die - in der Zählung Cohens - vierte Bedeut u n g des Wortes Erkenntnis, die durch das Attribut "rein" präzisiert und so erst als Gegenstand der "Logik" bestimmt wird. Nun darf "rein" - das verbietet schon die Zusammenziehung mit "Erkenntnis", wenn a n d e r s Erkenntnis konstitutiv auf einen Inhalt bezogen ist^9 - keineswegs als inhaltsleer gedacht werden ; ohne die Beziehung auf den Inhalt "wird das Reine sinnlos"90. Der Begriff "reine Erkenntnis" soll also den adäquaten Inhalt der E r k e n n t n i s , der nämlich durch Reinheit ausgezeichnet i s t , f a s s e n . Sofern nun u n t e r Erkenntnisinhalt nicht ein spezifisches Wissen neben und u n t e r anderem v e r s t a n d e n werden soll, sondern "das Ganze oder d e r ( n ) Inbegriff des wissenschaftlichen Gutes oder überhaupt des menschlichen Wissens"91 damit gemeint i s t , stellt die Reinheit das Kriterium oder den "Wert "92 des so präzisierten Erkenntnisinhalts d a r . Dieser "Wert" wird nun näherhin als "methodischer(n)"93 gekennzeichnet: und zwar "in dem Sinne, daß das Reine auf den unreinen Inhalt e r s t r e c k t werde, um ihn in reinen Inhalt zu verwandeln"94. Das heißt, das Verhältnis von Erkenntnisinhalt und Reinheit wäre unterbestimmt, würde letztere auf eine bloß "kritische" Funktion r e s t r i n g i e r t werden; hinzu kommen muß, daß der reine Inhalt selbst allererst d u r c h jene "verwandelnde" Kraft des Reinen e n t s t e h t . Reinheit besagt in diesem Sinne "die Freiheit von allem Gegebenen, sei es nun ein Gegebenes quoad objectum oder auch ein Gegebenes quoad s u b jectum"95. Diese an sich mißverständliche Aussage - offenkundig sind der Reinheit unreine Inhalte v o r - g e g e b e n ^ - erhält dann Sinn, wenn man die ausschließlich methodische Funktion des Terminus rein berücksichtigt: "Reinheit ist ein Verhältnisbegriff, der programmatisch die Aufgabe des Denkens . . . bezeichnen soll, den vorgegebenen Inhalt des Denkens hinsichtlich eines logischen Zustandes . . . zu p r ü f e n und ihn diesem anzunähern d u r c h Analyse: dem Zustand völliger Klarheit und Durchsichtigkeit, im Rahmen seiner ihn bestimmenden B e d i n g u n g e n " ^ . So bildet die Reinheit zunächst den Filter, der das Denken bzw. die Wissenschaft sond e r t : n u r das in reinen Inhalt Verwandelbare dringt in die Logik ein. Außerdem soll die Reinheit aber auch die Methode der "Verwandlung" des unreinen Inhalts selbst bezeichnen. Es wurde f r ü h e r deutlich, daß die Grundlegung der Philosophie auf dem wissenschaftlichen Bewußtsein zur Folge h a t t e , gegen Kant die Anschau-
- 74 ung zu eliminieren, was zu einer Kennzeichnung der Denktätigkeit als Erzeugen (gegen das Kantische Synthetisieren) führte. Wir versuchten dann, den Gegenstand der Erzeugung, die "reine Erkenntnis", zu präzisieren: sie zeigte sich sowohl als von allem Gegebenen gereinigte Erkenntnis, als auch als den Vollzug dieser Verwandlung vom unreinen zum reinen Inhalt selbst. Sofern nun freilich das Denken die reinen Erkenntnisse zur Erzeugung bringen soll, erweist sich jene doppelte Bedeutung von reiner Erkenntnis als vorläufig: Cohen unterscheidet durchaus zwischen Denken und Erkennen. Ersteres - und in diesem Sinne soll "Denken" im folgenden verstanden werden - bezeichnet die "Verwandlung" des unreinen Inhalts in den reinen qua "Erzeugung". Der Terminus "reine Erkenntnis" bleibt damit der Beschreibung des "Produkts" dieser Erzeugung als eines "Inb e g r i f f s " des Wissens vorbehalten, was freilich noch näher zu begreifen ist. - Was ist nun unter "Erzeugung" zu verstehen? Wenn die Erzeugung den Kantischen Begriff der Synthesis substituieren soll, muß sie deren einheitsstiftende Funktion wahrnehmen und bewähren, Die defiziente Einheit der Synthesis, "die Mehrheit" als das "Mannigfaltige der Anschauung"98 voraussetzen zu müssen, soll durch das Erzeugen überboten werden, das schon rein terminologisch "die schöpferische Souveränität des Denkens zum bildlichen Ausdruck (bringt)"99. Soll dieser bildliche Ausdruck nicht als trügerischer Schein entlarvt, sondern an der Sache bewahrheitet werden, so muß das Denken die (in der Synthesis bloß voraussetzbare) Mehrheit selbst erzeugen; das heißt, daß auch die Mehrheit selbst "als Einheit gedacht werden muß"100. Zugleich - und auch dies bringt allein schon der Begriff "Erzeugen" zum Ausdruck wird durch das Verbum "erzeugen" deutlich, daß es nicht nur auf das Ergebnis, sondern "vor allem auf die Tätigkeit des Erzeugens selbst (ankommt). Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis"101. In der Konsequenz des ersten Gesichtspunktes (der zweite hat uns später zu b e s c h ä f t i g e n 102) u e gt es, die Logik als "Logik des U r s p r u n g s " 1 0 3 zu präzisieren. Denn die zu erzeugende Mehrheit verweist auf die Einheit, aus der sie allererst hervorgehen kann. Indem diese Einheit als Hypothese konkretisiert wird, erreichen wir den letzten Gedankenschritt in der Rekonstruktion der Exposition von Cohens Logik, die die Interpretation der Einführung des Antizipationsbegriffs vorbereiten muß. "Hypothese" steht zunächst einfach für "Grundlage, vielmehr die G r u n d l e g u n g " 1^4: d . h . , die durch sie bezeichnete Einheit des Denkens ist keine nachträglich gebildete, sondern als g r u n d l e g e n de ursprünglich. Sofern die erzeugende Tätigkeit des Denkens früher als methodische bestimmt wurde - die "Verwandlung" von unreinen Wissensinhalt in reinen - , stellt die Hypothese offensichtlich die methodische Grundlegung und - in eins damit - die Einheit des Denkens dar. Als methodische Grundlegung leistet die Hypothese insbesondere die "Er-
- 75 haltung" der Distanz zwischen dem zu bestimmenden (zu reinigenden) Inhalt und der Methode, näher so, daß sie eine veränderliche Einheit beider schafft, da auch der noch nicht oder noch nicht voll bestimmte Inhalt durch diese Methode seiner vollständigen Bestimmung zugeführt werden wird. Damit ist das tragende Konstruktionsprinzip der Logik Cohens und seines philosophischen Systems überhaupt entwickelt: "Die Frage des Zusammenhangs der Wissenschaften . . . ist die Frage des Zusammenhangs ihrer M e t h o d e n " ^ . Es wird jetzt auch verständlich, daß jene obenl06 angedeuteten Schematisierungen Cohenschen Denkens mehr oder minder um den Methodenbegriff kreisen. 1
Es ist dann auch konsequent, wenn die Grundlegung der reinen Erkenntnisse als ihr Ursprung interpretiert wird. Die begriffsgeschichtliche Identifizierung von Hypothese und Prinzip ist dabei nur am Rande von Interesse: entscheidend ist der systematische Gedanke, daß die zu erzeugende Einheit der Erkenntnis mit deren Grundlegung, und nichts anderes ist ihr Ursprung, anheben muß, um nicht von vornherein an der gestellten Aufgabe zu scheitern. (Daß Einheit und Ursprung konstitutiv aufeinander bezogen sind, derart, daß der Ursprung per definitionem nur einer sein kann, ist im übrigen schon von den Vorsokratikern im Begriff der άρχή gedacht wordenl07.) Der Ursprung ist also mehr als bloßer Anfang des Denkens: er ist (als Inbegriff) "Grund jeglicher Theoriebildung" 108( jede reine Erkenntnis muß sich unmittelbar auf ihn zurückbeziehen lassen. "Alle reinen Erkenntnisse müssen Abwandlungen des Prinzips des Ursprungs sein"109. Damit ist ein weiterer Schritt auf dem Weg der Präzisierung der Methode reiner Erkenntnisgewinnung getan: sie kann nur dann ihrer Funktion gerecht werden, sie kann nur dann die verschiedenen Wissenschaften einen, wenn sie von deren Inhalten unabhängig ist. Dann aber muß sie sich selbst ihren Ursprung erzeugen: "Denken ist Denken des Ursprungs" 11 ®. Der die Einleitung der Logik abschließende gedankliche Fortschritt stellt eigentlich nur mehr eine terminologische Fixierung der entwickelten Aufgabenstellung dar. Sofern die erzeugende Tätigkeit des Denkens sich auf ihren eigenen Ursprung und die daraus fließenden Erkenntnisinhalte zu beziehen hat, entsteht die "abenteuerliche Paradoxie, daß das Denken seinen Stoff sich selbst erzeugen s o l l " 1 1 1 . Die Lösung dieser Paradoxie soll nun durch das Denken, als Urteil, "begünstigt"H2 werden. Das Problem besteht näherhin darin, wie die Mehrheit (als das Mannigfaltige der Anschauung im Sinne Kants) so als Einheit gedacht werden kann, daß sie in der Einheit als Mehrheit noch zum Zuge kommt. Die Funktion der Anschauung, der "Anspruch" 11 ·* der Empfindung, wie Cohen später sagen wird, soll nicht zugunsten des Denkens nivelliert werden, die "Gegebenheit",
- 76 die die Anschauung vertritt, "soll ihr ungeschmälert als Erkenntnis zukommen"H4. Es ist der Begriff der " E r h a l t u n g " ( j e r e s n a c h Cohen ermöglicht, das Urteil auf jene Aufgabenstellung anzuwenden: sofern nämlich die vorzügliche Tätigkeit des Urteils in der "Erhaltung zugleich für Sonderung und V e r e i n i g u n g " ^ besteht, in der erzeugenden Tätigkeit des Denkens aber Einheit als Mehrheit und Mehrheit als Einheit eben "erhalten" bleiben soll, liegt eine Strukturanalogie zwischen dem Urteil und der Erzeugung v o r . Sonderung und Vereinigung sind dabei näher zu begreifen als die beiden "Methoden" des Denkens: die analytische entspricht der Sonderung, die synthetische der Vereinigung^^. Wir sind uns darüber im klaren, daß damit nur ein Programm, nicht aber auch schon dessen Durchführung dargelegt worden ist. Die entscheidende Frage: "Wie kann man die Erhaltung logisch rechtfertigen? Mit welchem Recht postulieren wir das gegenseitige Ineinander von Analyse und Synthese?"H8 ist noch keineswegs beantwortet. Da in diesem Kontext der Begriff Antizipation eine fundamentale Rolle spielen wird, ist darauf noch eingehender zurückzukommen. Letztlich, so darf jetzt gesagt werden, indem noch einmal auf die Eliminierung der Anschauung als Erkenntnisstamm Bezug genommen wird, tritt an die Stelle der transzendentalen Apperzeption bei Cohen die Einheit des Urteils, sofern in ihm Sonderung und Vereinigung zugleich gedacht werden. Dies ist der eigentlich originale Beitrag Cohens zur Grundlegung einer transzendentalen Logik, die auf den subjektivitätstheoretischen Ansatz Kants verzichtet. Diese Einsicht ermöglicht Cohen die Ausarbeitung seines "kritischen Idealismus", der in der Tat durch die "ideale" (methodische) Grundlegung der Naturwissenschaften unterschieden ist "sowohl vom Versuch jedweden spekulativen Idealismus, das System der reinen Erkenntnisse a priori zu konstruieren, wie von der Absicht analytischer Wissenschaftstheorie, formale Kriterien der Prüfung 'gegebener' wissenschaftlicher Aussagen a u f z u s t e l l e n " ! ^ . (Kurz sei von hier aus die Mißverständlichkeit eines gängigen Interpretationsmusters verdeutlicht: es wurde darauf hingewiesen, daß die Hypothese den Ausgangspunkt für die - schließlich dem Urteil zugemutete Lösung der Aufgabe bildete, den "Zusammenhang" der Methoden zu gewährleisten. Mittels der "Hypothese" wird dieser Zusammenhang als durch die Methode der mathematischen Naturwissenschaft zustandegebrachter konkretisiert: denn die Hypothesis Keplers, bzw. ihre Definition als "Prinzip" bei N e w t o n ^ O j t eben die Methode dieser Wissenschaft, die sich in den schon erwähnten Bewegungsgesetzen des Planetensystems niederschlägt. In der Tat wird so die Methode einer Wissenschaft zum Inbegriff alles wissenschaftlichen Arbeitens stilisiert, was denn - auch darauf wurde schon hingewiesen - die Rede vom "Faktum der Wissenschaften" als norma normans neukantianischer Theoriebildung evozierte. s
- 77 Dabei ist jedoch zu b e d e n k e n , daß gerade nicht bestimmte Inhalte als Kriterium der Wissenschaftlichkeit ausgegeben werden, sondern eine nun freilich innerhalb der mathematischen Naturwissenschaft entwickelte - Methode, die im Prozeß des Erkennens ( D e n k e n s ) 1 2 ! auf die v o r gegebenen - und also "unreinen" - Inhalte der Wissenschaften zu applizieren i s t . Deshalb gilt hinsichtlich der wissenschaftlichen Inhalte: "Das 'Faktum' ist . . . immer als das 'Fieri', als das Werden und Sichentwickeln der Wissenschaft im Rahmen der jeweils vorgegebenen Probleme anzusehen"122. )
3. Die explizite Funktion des Terminus Antizipation in Cohens Logik Es wurde schon f r ü h e r darauf hingewiesen, daß die Funktion dieses Kapitels im Kontext der Arbeit darin zu erblicken i s t , den philosophischen Zusammenhang von Antizipation und Zeit allererst zu entdecken. Da dieser Zusammenhang u n s e r e s Wissens zum e r s t e n Mal bei Cohen explizit t h e matisiert worden i s t , setzten wir mit einer skizzenhaften Darstellung seines Denkens ein, um das Verständnis des Begriffs Antizipation in seiner "Logik" zu erleichtern. Im folgenden soll n u n eine (vorläufige) Interpretation der expliziten Funktion des Begriffs Antizipation innerhalb der Logik Cohens gegeben werden: wir werden noch sehen, daß die (implizite) S t r u k t u r des ganzen Werkes am angemessensten als antizipierte zu begreifen i s t . Da jedoch diese These sich n u r von der Auseinandersetzung mit dem zweiten Grundsatz der "Kritik der reinen V e r n u n f t " her entwickeln läßt, ist es sinnvoll, erst später darauf einzugehen, zunächst aber den ausdrücklichen Gebrauch dieses Begriffs zu analysieren. Hierzu ist es freilich noch einmal notwendig, den d u r c h g e f ü h r t e n Argumentationsgang des vorgestellten Programms soweit nachzuvollziehen, als es f ü r eine Klärung des in Frage stehenden Terms unumgänglich i s t .
a) Der "Ursprung" des Denkens Die Darstellung des Programms der Cohenschen Logik endete mit der f ü r die D u r c h f ü h r u n g wesentliche Frage nach der logischen S t r u k t u r des Urteils. Der Begriff "Erhaltung" präzisierte die konstitutive Funktion des reinen Denkens dahingehend, daß sich das Denken seinen U r s p r u n g selbst erzeugen müsse; n ä h e r einen solchen U r s p r u n g , der nicht bloß "Anfang" i s t 1 2 3 . Außerdem wurde das Urteil als Bürge der dem Urs p r u n g zugemuteten Aufgabe der "Erhaltung" ausgezeichnet: so ist es naheliegend, im Urteil des U r s p r u n g s jene programmatischen Aussagen einzulösen.
- 78 Vielleicht hilft die Abwehr eines naheliegenden Mißverständnisses, den Gedankengang Cohens zu profilieren: Auf den ersten Blick könnte man die "Erhaltung", sofern sie Einigung und Sonderung bzw. Einheit und Mehrheit eben "erhält", als Hegeische Identität interpretieren, die ja bekanntlich schon im "Systemfragment" als "Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung" bezeichnet wird^24_ Diese Interpretation kann nicht schon dadurch entkräftet werden, daß auf die unterschiedliche Terminologie hingewiesen wird: im Gegenteil will Cohen gerade an der "Erhaltung" die Bedeutung der "Einheit" verdeutlichen: "Diese gegenseitige Erhaltung . . . bestimmt . . . einen fundamentalen Begriff . . . : den Begriff der E i n h e i t 2 5 . Einheit darf also nicht mit jener "einigenden" Tätigkeitsrichtung des Urteils verwechselt werden: die Einheit ist vielmehr "die einzige Tätigkeit des Urteils"126 selbst. "Die Tätigkeit des Urteils . . . ergeht sich in Sonderung und Vereinigung. Beide im Verein machen das Urteil aus. Diesen Verein bezeichnet die Einheit"127. j a noch mehr: das Urteil bedingt und begründet "vermöge seiner Einheit den Grundbegriff der Einheit"128. Wie aber ist die Struktur dieser Einheit zu denken? Dem Hegeischen Begriff der Identität eignet gegenüber der Nicht-Identität insofern Priorität, als er, wie wir gerade sahen, noch einmal Verbindung und NichtVerbindung übergreifen soll. Demgegenüber soll die als Erhaltung gedachte Einheit beide Richtungen, die der Sonderun g wie die der Einigung gleichberechtigt thematisieren. Dies ist nach Cohen nur dann möglich , wenn die Tätigkeit von Sonderung und Einigung betont wird, deren Vollzug nicht als abgeschlossen gedacht werden darf. Der "Fehler", der es scheinbar möglich macht, die Erhaltung anders als im Sinne der Hegeischen Identität zu denken, liegt nach Cohen darin, daß die jeweiligen Akte von Sonderung bzw. Einigung "als vollzogen", "die entsprechenden Inhalte als abgeschlossene"129 gedacht werden. Der Vollzug der Sonderung bzw. Vereinigung ist demgegenüber "eine Aufgabe", denn "die Aufgabe, die dem Denken im Urteil gestellt wird, darf niemals als zur Ruhe, zur Vollendung gekommen betrachtet werden"130. Wir können damit die Einheit (bzw. die "Erhaltung") näher als einen (wie noch zu zeigen ist: zeitlichen) Prozeß bestimmen, der gerade als unabgeschlossener und also unendlicher die beiden Korrelate: Einigung und Sonderung eint. Dieser Gedanke erbringt nun den wesentlichen Fortschritt für den Begriff des Ursprungs: wenn nämlich einerseits der Zusammenhang der beiden "Tätigkeitsrichtungen" des Denkens, der Analyse und der Synthese durch deren Prozeßcharakter thematisiert werden soll, andererseits mit dem Begriff Ursprung eben dieser "Zusammenhang" in den Blick kommt: "erst mit der Frage nach dem Ursprung treten die einzelnen Dinge in einen Zusammenhang mit einander"131 - dann wird deutlich, daß mit dem Ursprung nichts anderes als die "Erhaltung", die "Einheit" der Korrelate selbst gemeint ist. So bildet der Ursprung in der Tat "die Zentralachse, um die sich die Cohensche Philosophie bewegt "132 - u n ( j das in dreifacher Hinsicht.
- 79 b ) Der Ursprung als Kontinuität Der Ursprung thematisiert den Zusammenhang. Dieser kann nach all dem, was bisher gesagt wurde, nicht "gegeben" sein. Genauer: Er kann nicht als "außerhalb" des Denkens liegender gegeben sein, sondern er muß "aufgegeben" sein. Cohen veranschaulicht diese Umwandlung des Ausdrucks "gegeben" anhand der Mathematik, namentlich an Euklids Buch "Data". Das, was durch mathematische Operationen "gefunden" werden soll, heißt hier "gegeben": "gefunden" aber kann es "nur vom Denken werden"133. Di e s j s t ( j e r sinn, wenn Cohen das erste Element des Ursprungs als " x " kennzeichnet: "Dieses Zeichen bedeutet nicht etwa die Unbestimmtheit, sondern die Bestimmbarkeit. Es ist daher gleichbedeutend mit dem echten Sinne des G e g e b e n e n "134. j ) e r Ausgangspunkt des Argumentationsganges ist also in der Analyse der Gegebenheitsweise eines Elementes zu erblicken: vom " x " , bzw. vom "Etwas" aus, dessen Bestimmbarkeit das Problem bildet, kann nun zurück gefragt werden nach dessen U r s p r u n g e s . Dj e Frage entpuppt sich so als der "Anfang der Erkenntnis", sie hat die Bedeutung "eines Hebels des Ursprungs"136. Sie ist freilich tatsächlich nur der Anfang, nicht aber der Ursprung der Erkenntnis, weil sie über sich hinausweist zur "Antwort": "zu einer Antwort, welche zur Aufstellung des Etwas führt" 137. Gefragt ist also nach dem Ursprung von x : wie kann dieses durch das Denken selbst "erzeugt" werden? Jedenfalls muß das Etwas aus etwas anderem erzeugt werden, aus dessen "Widerspiel"138. ß a s "widerspiel" ist nicht das "Nichts", sondern das Nicht des Etwas. Das Nicht des Etwas besagt aber nichts anderes als "nicht gegeben": das Element χ ist "nicht gegeben". Cohen trennt terminologisch allerdings nicht zwischen "Nicht" und "Nichts": das "Nichts" selbst ist ihm das "relative Nichts", in bezug nämlich auf das "Etwas"139. von daher ist denn die folgende Aussage auch terminologisch verständlich: "Das Nichts . . . ist die Abwehr des Etwas, als eines Gegebenen, sei es in der Empfindung, sei es sonstwie"140. w a s j s t aber die Bedingung der Möglichkeit für den Rückgang des Denkens "hinter" das Etwas? Dies ist nach Cohen die "Kontinuität", da sie "besagt . . . : es gibt einen Zusammenhang unter den Elementen, wenn sie nur als zu erzeugende und nicht als gegebene gedacht und gefordert werden"141. yon hieraus wird es verständlich, wenn Marx t r e f fend bemerkt: Der Ursprung ist kein "ontologischer Fixpunkt oder ein statisches Prinzip", vielmehr ist in ihm "die ungeschränkte Allgemeinheit des Kontinuitätsgesetzes gedacht"142. zu Recht ist von P.Natorp darauf hingewiesen worden, daß der Ursprung ausschließlich "die Möglichkeit des Überganges" darstellen soll, "und damit . . . die durchgängige Kontinuität des Zusammenhanges" 1^3; Kontinuität als Ursprung ist also nicht auf deren mathematische Bedeutung ( f ü r die Entwicklung einer Funktion) beschränkt, sondern bringt in ihrer Anwendung auf alle Elemente des Denkprozesses die universale Geltung zum Ausdruck. Deshalb stellt die Kontinuität nach Cohen nicht nur eine Kategorie, sondern ein "Denkgesetz" dar: "Kraft der Kontinuität werden alle Elemente des Denkens . . .
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aus dem U r s p r u n g e r z e u g t " 1 4 4 _ a i s Denkgesetz bezieht sich also die Kontinuität auf alle Elemente des Denkens, während eine Kategorie n u r eines dieser Elemente bildet. Der U r s p r u n g als Kontinuität darf schließlich mit Fug ein Urteil genannt werden, da sich die beiden konstitutiven Momente des Urteils in ihm finden: die Sonderung vollzieht sich als Abgrenzung des X vom relativen Nichts; da aber letzteres überhaupt n u r in Korrelation zum X "ist", "bewährt sich diese (sc. die Sonderung) zugleich als E i n i g u n g " 1 4 5 . Die Erhaltung dieser beiden Richtungen aber wurde mit dem Urteil des Urs p r u n g s so p r ä z i s i e r t , daß es die conditio sine qua non jeder Erhaltung und das heißt jeder Einheit des Denkens bildet: n u r wenn der U r s p r u n g als Kontinuität gedacht wird, ist der Zusammenhang der Elemente des Denkens gewährleistet· 14 ®.
c) U r s p r u n g und Identität Dem Urteil des U r s p r u n g s t r i t t das der Identität an die Seite, deren Zusammenhang von Cohen mißverständlich formuliert wurde: "Die Kontinuität v e r b ü r g t den Zusammenhang des Elements mit seinem U r s p r u n g . Die Identität . . . den Zusammenhalt des Elementes in sich s e l b s t " 1 4 ? . Es scheint, als würde hier ausschließlich Rücksicht auf das Element selbst genommen: "Das aus dem U r s p r u n g erzeugte Element allein ist vorhanden. Und dieses Element allein gilt es zu s i c h e r n " 1 4 8 . Hier ist jedoch genauer hinzusehen: die Identität bezieht sich wie die Kontinuität auf das "Urteil" selbst, indem sie g a r a n t i e r t : "Die Werte, die dem Urteil e n t s p r i n g e n , sind unveränderlich" 1 4 **. Auch diese Aussage könnte man noch in jenem Sinne v e r s t e h e n , wenn a n d e r s die Werte des Urteils eben dessen Elemente sind. Doch es geht um das Urteil als ganzes: "So bedeutet die Identität die Affirmation des Urteils "150. Dies bleibt freilich solange eine bloße B e h a u p t u n g , als nicht geklärt wird, inwiefern damit das Urteil als ganzes betroffen i s t . Cohen sucht diese scheinbare Spannung so aufzulösen, daß die Identität als solche zu denken i s t , die, indem sie sich auf das Denkelement bezieht, darauf zielt, "das Denken trotz der Mehrheit der Bewußtseinsvorgänge in seiner Einheit zu s i c h e r n " 1 5 1 . In dem " F e s t h a l t e n " 1 5 2 der Elemente des Denkens ist nach Cohen das Denken selber identisch. Die Frontstellung ist die Annahme eines etwaigen psychologischen Charakters des Denkens: Das Denken "wird aus der psychischen Sphäre herausgehoben und in eine eigene Region v e r l e g t " 1 5 ^ . Damit ist freilich die entscheidende Funktion des Urteils der Identität noch nicht e r r e i c h t : denn "daß das Denken an einen psychologischen Vorgang gebunden ist, kann in der Sphäre der Denkgesetze . . . nicht behandelt w e r d e n " 1 5 4 . Bis jetzt ist nicht mehr als die Kontinuität und das d u r c h sie bedingte X e r z e u g t . Wenn also die Stellung des Urteils der Identität im unmittelbaren Anschluß an das Urteil des U r s p r u n g s berechtigt i s t , so muß es
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sich auch auf dieses beziehen lassen und in diesem Bezug eine Funktion wahrnehmen. Das Urteil der Identität bezieht sich so auf das Urteil des U r s p r u n g s , daß es wie dieses den Prozeß des Denkens thematisiert: der kontinuierliche Prozeß ist identisch. Nur dann nämlich kann nach Cohen die Identität des Elementes χ garantiert werden, wenn der Prozeß selbst, wenn das Denken identisch ist. Aber in welcher Hinsicht kann dies gedacht werden? Wie ist die "Affirmation der Urteils" zu denken ? Worin besteht die Identität des reinen Denkens? Sie kann nicht in einem - wie auch immer zu fassenden - "Subjekt" b e s t e h e n : dessen Einheit kann n u r die Psychologie thematisieren. Auch die Inhalte des reinen Denkens können diese Identität nicht gewährleisten, da sie sich, wenn a n d e r s der Prozeß des Denkens im Vordergrund s t e h t , je und je v e r ä n d e r n . Dann kann es aber auch keine "ewigen", beharrlichen und also identischen "Formen" geben, da deren Relevanz gerade und n u r im bezug auf den je und je zu formenden Inhalt einsehbar wird. So sind sowohl die Inhalte als auch deren Formen dem Prozeßcharakter u n t e r w o r f e n . Dann kann sich die Identität n u r mehr auf den Prozeß des Denkens selbst beziehen: er selbst ist beharrlich und unveränderlich. Der Prozeß des Denkens aber ist seine Methode mit dem U r s p r u n g s p r i n zip der Kontinuität. So ist dieses Prinzip "der einheitliche und identische Träger des Gesamtprozesses, der beständige Faktor und die beharrliche Schicht des D e n k e n s " ! ^ , Es ist ganz wesentlich einzusehen, daß dieses Prinzip nicht als beständige Form, als f e s t e r Rahmen der stets wechselnden Inhalte v e r s t a n d e n werden d a r f , n u r als methodisches Prinzip - und die Kontinuität als U r s p r u n g ist nichts anderes als die Bestimmung der Methode, ein Element, ein X zu gewinnen - kann der ganze Denkprozeß seine Beständigkeit gewinnen. Cohens eigene Äußerungen zu diesem Problem sind merkwürdig vage; gleichwohl meinen wir, daß sich die vorgetragene Interpretation nicht n u r als systematische Erwägung legitimieren, sondern d u r c h eine, wenngleich schmale, textliche Grundlage e r h ä r t e n läßt. Hierzu darf zum einen an die oben zitierte Definition erinnert werden: "So bedeutet die Identität die Affirmation des Urteils"156^ Wenn Cohen zum andern darauf i n s i s t i e r t , daß die Identität "nicht als eine Art des Verhältnisses zu denken ( i s t ) " 1 5 7 sondern "als Grundlage und Voraussetzung zu jedem Verhältnis, insbesondere aber auch zu solchen Verhältnissen, welche die Mathematik zu stiften v e r m a g " 1 ^ - dann kann der Sinn dieser Aussage doch n u r darin b e s t e h e n , daß d u r c h die Identität die Methode des Denkens gegenüber den von ihr erzeugten Inhalten ("Verhältnissen") als einheitliche fest geschrieben wird. ;
(Es d ü r f t e von hier aus auch deutlich geworden sein, daß der Begriff Methode bei Cohen nicht auf die Bedeutung von "Verfahrensweise" eingeengt werden d a r f , "nach der Denkprozesse oder Handlungsabläufe d u r c h g e f ü h r t w e r d e n " 1 5 9 . Vielmehr wird d u r c h ihn im s t r e n g e n Sinn des
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Wortes der "Weg" des Denkens selbst zur Sprache gebracht, dessen aufgewiesene Selbständigkeit gegenüber den anderen Wissenschaften die Existenz der Philosophie als Wissenschaft nach Cohen legitimiert.) Es war aus zwei Gründen nötig, sowohl das Urteil des Ursprungs als auch das der Identität verhältnismäßig ausführlich darzustellen: zum einen, weil die "Kategorie der Antizipation" auf diesen beiden Urteilen gründet, zum andern, weil an ihnen gezeigt werden kann, daß "die Methode der Antizipation . . . die Grundlage des gesamten Cohenschen Systems ( i s t ) " 1 ® " . Da diese Einsicht, wie gesagt, auf der Interpretation von Kants "Antizipationen der Wahrnehmung" basiert, mag sie hier noch einmal zurückgestellt werden, um zunächst die explizite Verwendung dieses Begriffs bei Cohen herauszuarbeiten.
d ) Ursprung und die Methode der Infinitesimalrechnung Man könnte das im vorangehenden Abschnitt Ausgeführte dem traditionellen Topos der formalen Logik zuordnen. Doch ist dieser Begriff deshalb irreführend, weil er auf die Form abhebt, die unabhängig vom Inhalt gültig sein soll, sofern nach Kant hier "die Form der Wahrheit, d . i . des Denkens überhaupt" 1 ® 1 thematisiert wird. Cohens Ursprungsprinzip hingegen zielt auf die Methode des Denkens (auf dessen "Weg", auf dem fortzuschreiten i s t ) , die freilich - und das macht ihre Analogie zur f o r malen Logik aus - ebenso abgesehen von Inhalten im Sinne von konkreten Methoden entwickelt wurde. "Nachdem die allgemeinen Grundrechte des reinen Denkens verbürgt sind, kann die vorbildliche Art des reinen Denkens, kann das Denken der Mathematik beginnen" 1 ® 2 . Das "Faktum" der Wissenschaften, namentlich das Faktum der Mathematik soll also den Inhalt erbringen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Bedeutung der (Natur-)Wissenschaften im Denken Cohens nicht mißverstanden werden darf: die "vorbildliche A r t " des Denkens der Mathematik liegt nicht darin, daß ihren Inhalten ein ausgezeichneter Wahrheitsgehalt zukommt, sondern es ist der "methodische Wert des mathematischen Denkens", der dieses zum Vorbild macht. Und zwar ist gerade dies die Methode des mathematischen Denkens, "daß alle seine Inhalte nicht als gegeben hingenommen werden, sondern grundsätzlich zur Erzeugung gelangen" 1 6 ^. Erzeugen heißt aber in der Mathematik, das "Werden", die "Bewegung" einer Kurve oder einer Reihe zu bestimmen. Dies ist nur möglich, wenn die Bewegung nicht willkürlich (kontingent) ist, sondern sich eine Ordnung, ein Gesetz ihrer Bildung angeben läßt. Dies meint der Satz, daß der Bewegung, "die in rastlosem Fortschritt verläuft", durch die Mathematik ein "Ursprung" gegeben werden muß, der es ermöglicht, daß "jeder Fortschritt derselben (sc. der Bewegung) . . . stets von neuem in demselben Ursprung ( e n t s p r i n g t ) " 1 6 4 . Die Bestimmung des Ursprungs als Kontinuität ist zwar die unumstößliche Voraussetzung dieser neuen "Forderung des Ursprungs", doch kann sie selbst diese nicht einlösen.
- 83 Es ist die Infinitesimalmethode, die "kraft der Kontinuität eine unendliche Reihe von Ursprung und Element herstellen (kann)"165, Dies ist zu verdeutlichen: worin besteht der Eigenwert dieser Methode, ihre "eigene Prägnanz und . . . selbständige Bedeutung"166? vvir brauchen hier nicht auf Einzelheiten, insbesondere auf die Entwicklung der Realität im Zusammenhang der Infinitesimalmethode einzugehen: der für die Kategorie der Antizipation entscheidende Schritt liegt darin, daß die "infinitesimalen Elemente . . . den stetigen Z u s a m m e n h a n g " ^ , (ji e stetige Kontinuität gewährleisten. Das heißt, die Art des Zusammenhangs ist nicht mehr fraglich: während alle sonstigen Zusammenhänge "in Vergleichen, die Sprünge machen und Lücken lassen", bestehen, sind die infinitesimalen Elemente aufs "innerlichste und intimste"!®^ miteinander verbunden. Diese Präzision des Ursprungs bedeutet für ihn selbst: zum einen kann, wenn anders der Ursprung selbst als Unendlichkleines zu bestimmen ist, die Forderung der Anfangslosigkeit als Voraussetzung einer Lösung des Gegebenheitsproblems eingelöst werden. Die Grundlegung, die Hypothesis des Denkens offenbart sich so, dank der Kontinuität des Unendlichkleinen, als eine solche, deren Bestimmung es gerade ist, von einer neuen überboten zu werden. So drückt der Ursprung die "methodische Unendlichkeit" aus, ein Verfahren, das "man als regressus in infinitum bezeichnen kann"1®®. Es gibt kein erstes und kein letztes Element: das reine Denken ist "nach rückwärts und vorwärts eine unendliche Reihe"! 7 ®. So wird die Offenheit des Denkens in der Infinitesimalmethode zum Ausdruck gebracht unter gleichzeitiger Wahrung von dessen Einheit: die "wahre Einheit (besteht) in dem Unendlichkleinen"171, d 8 S Unendlichkleine verleiht damit der Kontinuität die Identität, sofern der Zusammenhang als unendlichkleiner bestimmt wird. 1
e ) Die Antizipation der Mehrheit Die Einführung der Antizipation innerhalb des Urteils der Mehrheit fußt auf dem bisher Erreichten ; wir wollen dieses an dem Beispiel einer mathematischen Reihe illustrieren. Die Reihe selbst ist das reine Denken (der Denkprozeß), dessen Grundlegung (Ursprung) durch den Gedanken des Zusammenhangs (Kontinuität) der Glieder der Reihe (Elemente des Denkens) sich vollzog. Dieser Zusammenhang muß, wenn er die Elemente bestimmen soll, selber identisch, d . h . beständig sein. Dazu muß er jedoch selber bestimmt sein: er erweist sich als infinitesimaler; die Reihe ist also unendlich, aber so, daß durch die Stetigkeit des Zusammenhangs ihrer Glieder diese selbst entwickelt werden kann. Die Methode der Erzeugung der Glieder einer unendlichen Reihe gibt dabei die vorzügliche Funktion der Antizipation an. Der Ausgangspunkt ist das infinitesimale Element, das jetzt als Zahl gekennzeichnet w i r d l 7 2 . Dieses ist der Ursprung des X, das " d x " . Die
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Identität konnte das X noch weitergehend fixieren: dank der durch sie geleisteten Eindeutigkeit erwies sich das X nicht nur als bestimmbar, sondern auch als Bestimmtes bestimmbar. Formal ausgedrückt: das X wurde zum A. A steht dabei nicht als Chiffre für ein inhaltlich fixiertes Denkelement, sondern es kennzeichnet ausschließlich die früher aufgewiesene Möglichkeit der Bestimmtheit eines beliebigen Gliedes der Reihe, sofern diese als stetige ausgezeichnet werden konnte. In diesem Sinne kann man nicht sagen, daß A als Denkelement schon unabhängig von Β erzeugt worden ist: im Gegenteil wird sich zeigen, daß die folgende Argumentation gerade darauf zielt, die (wechselseitige) Abhängigkeit von A und Β als beliebige aber eindeutige Bestimmtheiten der Reihe herauszustellen. Entsprechend weist Cohen darauf hin, daß die Bestimmtheit des A "eben auch nur die des Gedachten (bedeutet) . . . Nur die Vorstufe zum Inhalt liegt im A"173. Dies kann am Beispiel der Differentialrechnung illustriert werden: A steht an der Stelle von X , auf dessen Erzeugung dx zielt. X ist also noch gar nicht erzeugt, sondern bildet nur den Zielpunkt der Realität des Unendlichkleinen 1 7 4 . Wenn dann X durch A substituiert wird, so soll damit, wie gesagt, bloß zum Ausdruck gebracht werden, daß kraft der Identität die bestimmte Bestimmbarkeit des X gewährleistet wurde, nicht aber die "Erzeugung" des A. Die explizite Lösung dieser Aufgabe - es wird später deutlich werden, daß sie implizit bereits in den Urteilen der Denkgesetze enthalten ist ist dem "Urteil der Mehrheit" vorbehalten, das näherhin erweisen soll, daß das reine Denken den Gehalt (Inhalt) erzeugen kann. Dieser drückt den Mangel der bisherigen Urteile aus: der Inhalt ist e s , "den die bisherigen Arten des Urteils offen lassen, und den wir suchen müssen"175. Der Zusammenhang zwischen der Mehrheit und dem Inhalt besteht näher darin, daß das A allein nur die Bestimmtheit verkörpern kann, noch nicht aber den Inhalt, der als "Bestand" ja gerade die Einheit der beiden Tätigkeitsrichtungen des Denkens gewährleisten soll. Mag auch die Mehrheit noch nicht hinreichend den Inhalt erfassen, so ist sie doch insofern eine wesentliche Stufe desselben, als in ihr das allererst zur Erzeugung kommen soll, was dann durch den Inhalt selbst geeint werden kann. Wir erinnern uns, daß programmatisch durch den Begriff der Erhaltung gefordert wurde, daß die Mehrheit sich als erzeugbare darstellen l ä ß t 1 7 ^ . Dabei blieb die. Frage nach der logischen Struktur der Erhaltung ungeklärt: sie soll jetzt einer Antwort zugeführt werden. Die Aufgabenstellung kann durch den Terminus "Mehrheit" noch einmal präzisiert werden, insofern der Begriff "Mehrheit" dem der "Vielheit" vorgezogen wird: "Viel weist auf Dinge hin, welche an sich gegeben wären; Mehrheit dagegen enthält in dem Mehr den Hinweis auf die gedankliche Operation, die daher zum Grunde der Mehrheit w i r d " 1 7 7 . Hier muß sich der Ansatz Cohens zum ersten Mal bewähren, da die (für ihn nur scheinbar) eviden-
- 85 te Zurückführung der Mehrheit auf die Mannigfaltigkeit gegebener Empfindungen gerade abgelehnt werden muß. Formal ausgedrückt gilt e s , ein Β zum A zu erzeugen: "Es scheint notwendig, daß ein Β zum A hinzutreten müsse, wenn ein Inhalt entstehen soll"178. Die folgenden Ausführungen werden sich auf die Rekonstruktion des Argumentationsweges, der vorläufig im Gedanken der Antizipation gipfelt, beschränken: wir wollen ja zunächst diesen B e g r i f f - freilich in seiner prägnanten und weiterführenden Ausformung - allererst "entdecken" und ihn vorläufig zu verstehen suchen; im weiteren Gang der Arbeit werden wir auf die wichtigen Äußerungen Cohens dann noch einmal in kritischer Absicht zurückkommen müssen. Zunächst ist festzuhalten, daß B , obwohl verschieden von A, doch in einem ganz bestimmten Verhältnis zu A s t e h t . So ist der Ausdruck der "Andersheit" dem der "Verschiedenheit" vorzuziehen. J e n e r ist nämlich b e s s e r geeignet anzudeuten, daß es sich nicht um eine Verbindung von A mit einem von ihm verschiedenen, anderswoher gegebenen Β handelt, sondern um die Erzeugung von Β als dem anderen des A. "So wird bei und in der Sonderung zugleich die Einigung b e t ä t i g t " ^ ® . (Eine philosophiegeschichtliche Marginalie kann das Gesagte illustrieren: wenn anders Einheit und Mehrheit nicht voneinander getrennt dargestellt werden dürfen, so "zieht Cohen in bedeutsamer Korrektur Kants die Kategorie der Einheit und die der Vielheit in das Eine Urteil der Mehrheit zusammen"180^ ) Sodann ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß es im folgenden um die Methode der Erzeugung von Mehrheit geht, nicht aber um die Fixierung eines bestimmten Inhalts als B . "Die schwere F r a g e " , deren Antwort gesucht i s t , lautet : "durch welche methodischen Mittel kann dieses Β zur Erzeugung kommen"181? Diese Erwägung führt zu einer Präzisierung der Aufgabenstellung: das Problem liegt in der Tätigkeit des Erzeugens von Β , im Beispiel der Reihe also in der mathematischen Operation, die von einem Glied zum nächsten f ü h r t . Es ist die "Hinzufügung zum A " 1 ^ ¿ii e das Problem bildet, das am Beispiel der "Grundoperation mit der endlichen Z a h l " 1 8 3 gelöst werden soll. "Hinzufügung" ist demnach wörtlich als "Summierung" zu v e r s t e h e n , "und das symbolische Zeichen derselb e n , + , muß, wie die Aufgabe, so die Lösung enthalten"184. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: es wird sich herausstellen, daß die Antizipation eben dies leistet, "die Hinzufügung zur Bestimmung (zu) bringen"185, w i r d a b e r die Antizipation als "Grundtat der Z e i t " 1 8 6 gekennzeichnet, während der Ausgangspunkt, das Summieren, nur eine logische Qualität zu besitzen scheint. Es ist der Schritt von der Zahl zur Zeit, näher der Aufweis der zeitlichen Bedingtheit des Zählens, der nicht nur die "Antizipation" zur fundamentalen Struktur des Cohenschen S y -
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stems werden läßt, sondern auch - wie im einzelnen noch zu zeigen ist das Ergebnis der transzendentalen Analytik der "Kritik der reinen Vernunft" in einer ganz bestimmten Hinsicht radikalisiert. Doch zunächst muß der Gedankengang Cohens analysiert werden: Die Hinzufügung soll als "Ersonderung" 1 ^ 7 verstanden werden, d . h . , die je "anderen" Elemente (das A als das andere des Β und umgekehrt) sollen durch die Hinzufügung allererst erzeugt werden. Hier wird nur der Begriff der "Erhaltung" auf die Aufgabe des Summierens appliziert: bestünde dieses nur darin, zwei gegebene Elemente zu addieren, so könnte ihre Einheit nur als nachträglicher Akt vorgestellt werden, der immer schon die Mehrheit der beiden Elemente voraus-setzt. Diese Mehrheit soll also durch die "Ersonderung" als "Summierung . . . , in welcher die Summanden erst entstehen" 1 ** 8 , erzeugt werden. Nun ist eine Addition in der Mathematik notwendig eine solche, bei der verschiedene Zahlen durch die Summe "geeint" werden. Die Zahl wurde in anderem Zusammenhang zur Kennzeichnung des Unendlichkleinen eingeführt: die Irrationalzahl 1 *^ näherhin drückt die Einheit desselben aus. Die Irrationalzahl enthält "die unendlichen Ordnungen des Unendlichkleinen in s i c h " 1 9 0 , die freilich gerade die Kontinuität gewährleisten aber immerhin enthält sie so "die Forderung, welche über ihre absolute Einheit hinausgeht 1 , 1 9 2. Diese Forderung weist nach Cohen auf den Zusammenhang hin zwischen der Irrationalzahl einerseits, den endlichen Zahlen andererseits. Wie kann nun die Einheit der Addition endlicher Zahlen gedacht werden, da diese gerade doch die "Spaltung", die "Zerreißung" des Zusammenhangs bedeutet, wenn anders das Zählen gerade diskrete Einheiten "setzt und befestigt"193? Hier hilft weiter, daß das Zählen nur in der Zeit möglich ist und also durch Zeit bedingt ist. Nach Cohen ist die Zeit - anders als bei Kant, der sie im Zusammenhang der Bewegung entwickelt - die "Bedingung der Z a h l " 1 9 4 . Hier ist ganz wesentlich, daß wir uns auf den methodischen Charakter der Aufgabenstellung besinnen; präziser müßte es lauten: "Die Zeit ist die Bedingung des Zählens". Die weitreichende Konsequenz dieser These liegt auf der Hand und soll hier nur konstatiert werden: es gibt keine "logische Sphäre", die unabhängig und außerhalb der Zeit anzusiedeln wäre, vielmehr stellen logische und zeitliche Dimension ein Beziehungsgeflecht dar, dessen Analyse hier noch ausbleiben muß. Daß - gegen Kant - "die Zeit wieder als Kategorie anzuerkennen ( i s t ) " 1 9 ^ , ist nichts weiter als der Ausdruck der temporalen Bestimmung der Addition. Wenn die Zeit aber das Zählen bedingt, so auch die dadurch entstehende Mehrheit; und zwar eine solche Mehrheit, die zugleich Einheit ist. Dies leistet allerdings nur der "eigentliche" Modus der Zeit: die antizipierte Zukunft. Wie ist das zu verstehen? Das Zählen kann in dreifacher Hinsicht als in der Zeit zustande gebracht werden: einmal "dadurch, daß die Vorstellungen nach einander den
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Schauplatz des Bewußtseins beschreiten, und . . . verlassen"196. Nun muß freilich dieser Modus der Zeit immer auf die Vorgegebenheit der "nacheinander" wahrgenommenen Vorstellungen zurückgreifen, ohne aber deren Erzeugung durch die Zeit denken zu können. "Deshalb muß das Bild des Nacheinander aufgegeben werden, weil es unter dem Banne des Nachbildes s t e h t " * ^ . Selbst wenn man aber annimmt, das Nacheinander würde tatsächlich durch die Zeit erzeugt, - und dies ist das zweite Argument gegen die Charakterisierung der Zeit als Folge - ist daraus zu folgern, "daß das in der Sukzession folgende Β nachgezogen würde an das Dann erscheint aber die Zeit als "nur retrospektiv, während Rückschau und Vorschau in der Zeit zum mindesten abwechseln"·*·^. Mit anderen Worten: Die Kennzeichnung der Zeit als Folge unterschlägt die Zukunft als Phänomen der Zeit. Der zweite Modus der Zeit, das "Zugleichsein", erweist sich als Folge des e r s t e n , - "Es i s t , als ob die Folge zum Stillstand käme . . . er braucht deshalb nicht näher berücksichtigt zu werden. Erst der dritte, der "der Zukunft entsprechende Modus (bringt) die ursprüngliche Tendenz der Zeit zum A u s d r u c k " ^ ! , die wir in der Ersonderung erblickten. Dieser Modus wird näherhin als "Vorwegnahme" bzw. "Antizipation" gekennzeichnet. Mit der Betonung dieses Modus hängt zunächst eine terminologische Präzisierung zusammen: Nicht die Folge, sie blickt bloß rückwärts, sondern die Reihe ist der adäquate "Ausdruck der Zeit", denn bei ihr wird "die Tätigkeit des Reihens"202 betont: so blickt sie vorwärts. Mit der Interpretation dieser auf den ersten Blick dunkel wirkenden Aussage mag die Darstellung der Funktion des Antizipationsbegriffs in der "Logik" Cohens vorerst abgeschlossen werden: worin ist gerade die besondere Eignung des Modus der "Antizipation" zu erblicken, als "Grundtat der Z e i t " 2 0 3 diese auf den Begriff zu bringen? Wie kann durch Vorwegnahme "Ersonderung" geleistet werden? Im folgenden ist genau darauf zu achten, was die Zeit als Antizipation leistet und worin ihre Grenze besteht. In der Reihe wird "das Folgende, als ein Folgensollendes, Folgenmüssendes (erzeugt). Das Folgende wird also vorweggenommen"204. Dieser Satz ist genauestens zu bedenken. Die Leistung der Vorwegnahme besteht darin, daß "das Folgende als ein Folgenmüssendes" erzeugt wird. Es wird also nicht Β als das folgende Glied der Reihe erzeugt, sondern bloß dieses, daß es ein folgendes Glied gibt, über die Bestimmtheit von Β ist damit noch überhaupt nichts ausgemacht. "Wenn wir . . . den Anteil der Zeit rein bestimmen wollen, so dürfte es daher zu fordern sein, das gesuchte Symbol als A + . . . anzusetzen. Keine Art von Inhalt, weder ein bestimmter, noch ein bestimmbarer, wird jetzt bezeichnet, auf den die Vorwegnahme sich zu beziehen hätte. Nur die Vorwegnahme selbst bildet die Tätigkeit und die Tat der Erzeugung" 205.
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Durch Antizipation wird zwar kein Inhalt e r z e u g t , aber es war doch "unvermeidlich"206, von dem Folgenden als Element einer Reihe zu s p r e chen. Das Folgende ist aber die Z u k u n f t , die als bloße, d . i . "leere" Zuk u n f t d u r c h Antizipation erzeugt werden soll. Das andere Element der Zeitreihe, die Vergangenheit, ist gegenüber der antizipierten Zukunft nachträglich: "zuerst ist die Z u k u n f t , von der sich die Vergangenheit abhebt"207. »An die antizipierte Zukunft reiht sich, r a n k t sich die Vergangenheit" 2 08. Näher ist dies so zu d e n k e n , daß die Vergangenheit nur "in dieser Korrelation besteht"209, n u r in und als Verhältnis zur vorweggenommenen Zukunft ihren Inhalt e r h ä l t . Als "Noch-nicht" und "Nicht-mehr" besteht die gewonnene Mehrheit: sie entsteht "in der Ersonderung der Vergangenheit von der ursprünglichen Tat der Zukunft"210. Wir fassen zusammen: Wenn o b e n 2 H gesagt wurde, die Antizipation sei die Methode der Erzeugung der Glieder einer unendlichen Reihe, so kann dies jetzt präzisiert werden. Nicht der Inhalt der Glieder wird e r z e u g t , sondern die Bedingung der Möglichkeit von Gliedern wird d u r c h die Antizipation zur Erzeugung g e b r a c h t . Dadurch wird die geforderte Mehrheit als zeitliche so eingelöst, daß in ihr Sonderung und Vereinigung zugleich gedacht werden können. Indem nämlich die Zukunft ( z u k ü n f t i gen Glieder) vorweggenommen wird (werden) d u r c h das Denken, ist (sind) sie diesem nicht mehr äußerlich, der unendliche Prozeß (die u n endliche Reihe) des Denkens erzeugt sich tatsächlich selbst. So leistet die Antizipation die Offenheit des Denkens f ü r eine höhere S t u f e , ja f o r dert d u r c h deren Antizipation diese gleichsam h e r a u s . Die Vergangenheit (die niedere Stufe) ist dabei so auf die Zukunft hin angelegt, daß sie ihre Bedeutung jeweils n u r von der höheren Stufe her e r h ä l t . Zugleich kann damit aber auch die Einheit des Denkens gedacht werden, da die einzelnen Stufen (Glieder) desselben gerade als offene im Prozeß des Denkens aufeinander verweisen können, während, wenn sie je f ü r sich abgeschlossen wären, der Prozeß und also die Einheit des Denkens nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte. Zur Veranschaulichung sei nochmals auf die unendliche Reihe verwiesen: wenn es keinen Anfang und kein Ende gibt, so kann der Prozeß des Reihens n u r die F o r d e r u n g einlösen, daß er weitergeht, d . h . , daß es einen nächsten Schritt, ein nächstes Glied gibt. Dieses vorläufige Fazit mag nicht n u r vage, sondern auch relativ a b s t r a k t erscheinen. Bietet sich von ihm aus tatsächlich die Möglichkeit einer Bereicherung f ü r die Darstellung der theologischen Relevanz des Begriffs Antizipation? Oder stoßen hier nicht zwei "Welten" aufeinander, die per definitionem nicht vermittelbar sind? Die folgende R ü c k f ü h r u n g des Begriffs Antizipation auf Kant - der Rückgriff auf das Kantische Denken stellte sich im übrigen bereits als unvermeindlich f ü r das Verständnis des neukantianischen Ansatzes h e r a u s - und die damit v e r b u n d e n e philosophiegeschichtliche Einordnung soll die bisherigen A u s f ü h r u n g e n verdichten und zugleich den Boden f ü r ihre f r u c h t b a r e Würdigung bereiten.
- 89 2. Kapitel DAS PROBLEM DER TEMPORALEN ANTIZIPATION IN KANTS TRANSZENDENTALER ANALYTIK Es wurde f r ü h e r 1 auf die fundamentale B e d e u t u n g , die Kant dem Begriff Antizipation z u e r k e n n t , hingewiesen. Mit ihm soll die Beziehung zwischen Form und Inhalt selbst zur Sprache kommen, deren Präzisierung die nachfolgende Interpretation zu leisten h a t . Einleitend mag kurz die geistesgeschichtliche Relevanz der Kantischen Deutung der Bezugnahme von Formen auf die jeweilige "Materie" h e r a u s gestellt werden. F. Delektat, der "Kants Umformung von theistischer Metaphysik in Anthropologie"2 dargelegt h a t , weist darauf hin, daß Kants Urteils- und Kategorienlehre nicht aus der klassischen Logik, "sond e r n aus einer Auseinandersetzung mit der leibnizisch-wolfschen Ontotogie hervorgegangen (ist)"^. Für diese sind die "Urelemente der Wirklichkeit", die elementa veritatis a e t e r n a , Monaden^, und zwar "geistige Substanzen"^. Damit ist der Substanzbegriff im Sinne der Tradition installiert als die allem zu-fälligen (akzidentiellen) Wechsel zugrundeliegende Wirklichkeit. Demgegenüber wird bei Kant der Begriff der Substanz bekanntlich der Kategorie der Relation u n t e r g e o r d n e t , indem die Inhärenz bzw. Subsistenz als relationale und damit das Verhältnis von Substanz und Akzidenz als wechselseitig bestimmt gefaßt w i r d 0 . Eben diese S t r u k t u r der Wechselseitigkeit scheint nun auf das Verhältnis der Formen zu i h r e r Materie im ganzen anwendbar zu sein: d u r c h die Restriktion der Verstandesleistung auf das Antizipieren von "Formen einer möglichen Erfahr u n g " werden die "elementa veritatis aeterna der göttlichen Schöpfung . . . zum O r g a n o n ' , d . i . zum System der methodischen Prinzipien der menschlichen Wissenschaft"7. Innerhalb dieses Rahmens hat sich die folgende Interpretation des Kantischen Antizipationsbegriffs zu bewegen, der ja neben jener weitläufigen Anwendung auf die Formen der E r f a h r u n g überhaupt noch in einem ganz bestimmten, engeren Sinne, wie es in der Betitelung des 2. G r u n d satzes: "Antizipationen der Wahrnehmung" angedeutet wird, Verwendung findet. Die Deutung beider Verwendungsweisen soll in diesem Kapitel soweit als möglich werkimmanent gegeben werden: e r s t später sind die hier gewonnenen Erkenntnisse systematisch f ü r den Antizipationsbegriff f r u c h t b a r zu machen.
- 90 1. Die Antizipation der Form möglicher Erfahrung Kant faßt das "wichtige Resultat" der transzendentalen Analytik mittels jenes Terminus so zusammen: Es besteht darin, "daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne"®. Diese umfassende funktionale Definition von Antizipation soll in diesem Abschnitt genauer untersucht werden. Vorab sei darauf hingewiesen, daß die Leistung der Antizipation als positive Bestimmung des Verstandesvermögens einer negativen Bestimmung seiner Grenze gegenübersteht. Innerhalb der "Schranken der Sinnlichkeit", und nur innerhalb derselben, kann der Verstand "die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt . . . antizipieren". Wie Kant diese prinzipielle Einschränkung des Verstandesvermögens begründet, kann uns nicht näher beschäftigen. Hierzu nur soviel: Kant faßt das (negative) Resultat dieses ersten Teils der transzendentalen Logik ganz im Sinne seines Anspruchs zusammen, eine transzendentale Kritik zu leisten, die nicht "die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht hat"9. Die Stoßrichtung seiner Argumentation - und dies will im folgenden beachtet sein - zielt also darauf, was unsere Erkenntnis, genauer, was synthetische Urteile a priori, wollen sie wahr, und das heißt überprüfbar sein, nicht zu leisten vermögen, während die Beschreibung des positiven Vermögens derselben sich gleichsam nur als Mittel für jenen Zweck e r g i b t ^ . Dies läßt sich daran verdeutlichen, daß Kant selbst "die Nachforschungen unserer Vernunft . . . , der Wichtigkeit nach, für weit vorzüglicher, und ihre Endabsicht für viel erhabener" hält, "als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann"*!. So stellt sich die ganze transzendentale Analytik als "Grundlegung" des "Gebäude(s)" der Metaphysik d a r 1 2 , wiederum also als Mittel zum Zweck. Insofern, und das ist die Frucht dieser Vorüberlegungen, müssen wir Kant quasi gegen den Strich seiner eigenen Intention bürsten, wenn wir im folgenden gerade auf die inhaltliche Bestimmung und Durchführung des Gedankens der Antizipation als positiver Leistung des Verstandes abheben wollen.
a) Der literarische Befund Der Terminus Antizipation gehört zweifellos nicht zu den häufigeren Begriffen der "Kritik der reinen Vernunft". Konzentriert taucht er nur in dem nach ihm benannten zweiten Grundsatz: "Antizipationen der Wahrnehmung" auf, ansonsten wird er eher sporadisch verwendet. So spielt er auch - sieht man von jenem Grundsatz ab - in der neueren Kantlitera-
- 91 tur so gut wie keine R o l l e ^ . Um so erstaunlicher ist die Bedeutung, die Kant selbst jenem Begriff beimißt: stellt er doch offenkundig die positive Seite des Resultats der ganzen transzendentalen Analytik dar. Und es spricht sehr viel dafür, daß es sich hierbei durchaus nicht um eine "unglückliche Wortwahl" Kants handelt, sondern um eine geprägte Terminologie, die bewußt zur Beschreibung einer ganz bestimmten funktionalen Leistung des Verstandes eingesetzt wurde. Der Begriff Antizipation taucht zum ersten Mal innerhalb des Schematismuskapitels eben zur Kennzeichnung des zweiten Grundsatzes auf. Interessanterweise wird er jedoch hier nicht in bezug auf jenen Grundsatz, sondern zunächst in allgemeiner Weise bestimmt: "Man kann alle Erkenntnis, wodurch ich dasjenige, was zur empirischen Erkenntnis gehört, a priori erkennen und bestimmen kann, eine Antizipation n e n n e n " 1 4 . Am Ende des dritten Grundsatzes wird auf "Regeln der synthetischen Einheit a priori" verwiesen, "vermittelst deren wir die Erfahrung antizipieren konnten "15. Sodann taucht der Begriff Antizipation im Kontext der "transzendentalen Methodenlehre" auf: "Wir sind wirklich im Besitz synthetischer Erkenntnis a priori, wie dieses die Verstandesgrundsätze, welche die Erfahrung antizipieren, dartun"16. In den Prolegomena endlich, die explizit den fraglichen Ausdruck nur auf den zweiten Grundsatz beziehen! 7 , wird doch der weitere Sinn von Antizipation insofern angedeutet, als darauf hingewiesen wird, der Verstand könne "so gar Empfindungen . . a n t i z i p i e r e n " 1 ^ . Auf dem H i n t e r grund der "Kritik der reinen Vernunft", - der von Kant selbst legitimiert wird, da die Prolegomena "Vorübungen" zu jenem Werk sind, das "dabei immer die Grundlage (bleibt )"19 - m uß diese Aussage so verstanden werden, daß der Verstand neben vielem anderen "so gar" auch Empfindung antizipieren kann. Eben dieses "andere" hat uns zunächst zu beschäftigen, bevor auf die "Antizipationen der Wahrnehmung" explizit einzugehen ist. (Der Vollständigkeit halber sei schließlich noch eine Aussage innerhalb der transzendentalen Dialektik hinzugefügt, welche die Antizipierbarkeit der Idee "Welt" als "das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis"20 verneint. Kant lehnt die Applikation des Terminus Antizipation auf die regulative Tätigkeit der menschlichen Vernunft ausdrücklich ab: der "Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung . . . ( i s t ) ein Prinzipium der Vernunft, welches, als Regel, postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht antizipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist "21.) Nachdem somit der literarische Befund des in "weiterem" Sinne gebrauchten Begriffs der Antizipation innerhalb der "Kritik der reinen Vernunft"
- 92 registriert ist, gilt es jetzt, ihn in seinem jeweiligen Kontext zu v e r stehen. Dabei soll von der Überlegung ausgegangen werden, die Kant dazu bewog, gerade den Antizipationsbegriff als Charakterisierung des Resultats der transzendentalen Analytik heranzuziehen.
b ) Antizipation als zusammenfassendes "Resultat" der transzendentalen Analytik Der Grund dafür, daß gerade die Antizipation der Form einer möglichen Erfahrung das "wichtige Resultat" der Analytik darstellt, muß nach Kants eigenen Worten aus dem Kontext dieser Aussage erhoben werden, sofern sie selbst als Ergebnis des Vorhergehenden zu verstehen ist: "Die transzendentale Analytik hat demnach dieses wichtige Resultat . . . " . Nun soll in diesem "dritten Hauptstück" der Analytik der Grundsätze "ein summarischer Überschlag" der Lösungen von zwei Fragen gegeben werden, der diese "in einem Punkt v e r e i n i g t " 2 2 . Näherhin gilt es, noch einmal zusammenfassend zu beantworten, erstens, ob man mit dem in der transzendentalen Analytik Erreichten "nicht allenfalls zufrieden sein k ö n n t e ( n ) " 2 3 , "zweitens, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land (sc. das des reinen Verstandes) besitzen" 2 ^. Der Konvergenzpunkt aller Antworten besteht nach Kant darin, "daß alles, was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen, das habe er dennoch zu keinem anderen Behuf, als lediglich zum Erfahrungsg e b r a u c h " 2 5 . Dieser Satz drückt (in negativer Hinsicht) die Restriktion des Verstandesgebrauchs auf die Gegenstände der Sinne aus, die diesem allererst "Sinn" gibt 2 ^: dieser Gesichtspunkt kann uns hier - wie gesagt - nicht näher beschäftigen. Ungleich wesentlicher ist demgegenüber die positive Aussage: der konstitutive "Erfahrungsgebrauch" apriorischer Begriffe. Es geht dabei weniger um den von der transzendentalen Analytik beanspruchten Aufweis der Objektivität und Allgemeingültigkeit der (naturwissenschaftlichen) Erkenntnis, - dies ist (bloß) das erkenntnistheoretische Ergebnis der transzendentalen Analytik - als vielmehr um die Strukturierung des Erfahrungsgebrauchs apriorischer Beg r i f f e , also um das Verhältnis von (traditionell ausgedrückt) Form und Materie, das den Begründungszusammenhang der je und je objektiven und allgemeingültigen Erkenntnis bildet. Es ist offenkundig, daß eine "Beziehung" zwischen der Materie, den "data", und der Tätigkeit des reinen Verstandes, der Synthesis, vorhanden sein muß. Wenn es nun überhaupt apriorische Erkenntnis geben soll, kann diese Beziehung nicht durch die Materie selbst strukturiert werden, da alle solche Erkenntnis als eine von der Sinnlichkeit abhängige und somit als Erkenntnis a posteriori zu qualifizieren ist. Es ist also der Verstand, der (mittels "der Synthesis der Einbildungskraft " 2 ? ) diese Beziehung "herstellt" und somit "konstruiert". Soll aber diese Beziehung den Gegenständen auch adäquat sein, soll sie "objektiv" und "wahr" sein, dann
- 93 muß gelten, daß zum Verstand "die Erscheinungen, als data zu einem möglichen Erkenntnisse, schon a priori in Beziehung und Einstimmung stehen müssen"^. Das heißt, wenn der Verstand unabhängig von Erfahrung eine adäquate Beziehung zur Sinnlichkeit konstruieren kann, so muß diese von vornherein selbst a priori sein. Sofern diese apriorische Beziehung eodem actu mit der Sinnlichkeit übereinstimmen soll, muß die Sinnlichkeit selbst, muß zumindest etwas an der Sinnlichkeit a priori sein. Dies sind die reinen Anschauungsformen (die Formen der Sinnlichkeit) von Raum und Zeit, denen somit eine konstitutive Funktion für die Lösung des anstehenden Problems zukommt. Doch damit ist die Beziehung zwischen Form und Materie selbst noch nicht einmal thematisiert, geschweige denn strukturiert: nur gleichsam die conditio sine qua non ihrer Möglichkeit ist aufgedeckt worden. Kant thematisiert selbst ein "Verfahren", das eben jene Beziehung konstruieren soll: das "allgemeine(n) Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Beg r i f f e " ^ . Das Schema soll also die Methode charakterisieren, die Beziehung zwischen Form und Materie durch die Einbildungskraft zu konstruieren. Die Konstruktion der Beziehung ist nun aber als zeitliche zu bestimmen, wenn anders die Zeit, die "transzendentale(n) Zeitbestimmung", "das Schema der V e r s t a n d e s b e g r i f f e b i l d e t . Wir können hier nicht auf Einzelheiten eingehen: entscheidend ist, daß die Schemata zurückgeführt werden auf "Zeitbestimmungen a priori"^!. Nur die Zeit kann nämlich, als Anschauungsform des inneren Sinns, die geforderte Beziehung konstruieren, da sie einerseits Form der Sinnlichkeit ist, andererseits - und darin unterscheidet sie sich vom Raum - nicht auf die äußeren Erscheinungen beschränkt ist: "alle Erscheinungen überhaupt, d . i . alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit"32. Es ist nun von großer Bedeutung, daß der Argumentationsgang unseres Abschnittes eben das konstruierende Verfahren der Zeit auf den Begriff bringt - und zwar auf den Begriff "Antizipation". Dies wird an der zweiten Auflage, die durch die Eliminierung eines Nebengedankens 33 die Argumentation komprimiert, besonders deutlich: Wir können nach Kant nicht umhin, die Möglichkeit der Beziehung einer Kategorie (eines Grundsatzes) auf einen Gegenstand zu erklären, "ohne uns sofort zu Bedingungen der Sinnlichkeit, mithin der Form der Erscheinungen, h e r a b z u l a s s e n " 3 4 . Dies wird verifiziert durch den Hinweis, daß alle Grundsätze eben durch Zeit bedingt sind 3 5 . Daraus folgt "nun unwidersprechlich: daß die reinen Verstandesbegriffe niemals von transzendentalem , sondern jederzeit nur von empirischem Gebrauche sein können, und daß die Grundsätze des reinen Verstandes nur in Beziehung auf die allgemeinen Bedingungen einer möglichen Erfahrung . . . bezogen werden können"36. Damit ist die das Schema Zeit voraussetzende Beziehung zwi-
- 94 sehen Form und Materie analog dem oben A u s g e f ü h r t e n noch einmal deutlich gemacht. Jetzt aber wird das Konstruktionsprinzip der Beziehung selbst thematisiert: "Demnach" antizipiert der Verstand die Form einer möglichen E r f a h r u n g . Das heißt, die in Frage stehende Beziehung wird als zeitlich bedingte dahingehend p r ä z i s i e r t , daß sie als antizipierte zu charakterisieren ist. Dies darf keineswegs als eine "nachträgliche" Präzisierung einer vorher bestimmten S t r u k t u r verstanden werden, vielmehr d r ü c k t das Antizipieren genau das "Verfahren" des Schemas Zeit a u s , eine Beziehung zwischen Form und Materie zu k o n s t r u i e r e n . Der voranstehenden Interpretation sind zwei Bemerkungen hinzuzufügen: Es ist wesentlich gerade auch f ü r einen später vorzunehmenden Vergleich zwischen der Kantischen und der Cohenschen Antizipation, daß bei e r s t e r e r das Konstruktionsprinzip selbst nicht antizipiert ist. Das Verfahren selbst, Formen auf Inhalte zu beziehen, funktioniert als Antizipation, ohne jedoch selber antizipativ zu sein: antizipiert wird nicht das V e r f a h r e n , sondern die d u r c h es konstruierte Beziehung. Der zweite Hinweis ist wichtig f ü r die nun folgende Aufgabe: bisher wurde n u r die Beziehung zwischen der apriorischen Ebene einerseits, der sinnlichen Ebene andererseits thematisiert. Es ist nun zu f r a g e n , ob nicht die antizipative S t r u k t u r dieser Beziehung impliziert, daß die Formen selbst als Antizipationen (des Erfahrungsinhalts nämlich) darzustellen sind. Dies hätte wiederum ein Zweifaches zur Folge: es müßte zum einen die zeitliche S t r u k t u r der apriorischen Formen erwiesen werden, da n u r eine solche dann als antizipative (in zeitlichem Sinn) dargelegt werden k a n n . Zum andern aber müßte auch die antizipative S t r u k t u r der Schemata"^ selbst entwickelt werden, deren zeitliche S t r u k t u r ja von Kant nachdrücklich herausgestellt worden i s t . (Es wäre freilich zu f r a g e n , ob nicht der Aufweis der zeitlichen und weit e r antizipativen S t r u k t u r der Formen, wie er nachfolgend entwickelt werden soll, das Bindeglied zwischen Form und Materie (und eben dies sollen ja die Schemata v e r k ö r p e r n ) e r ü b r i g t . Darauf kann hier nicht explizit eingegangen w e r d e n . ) Zur Diskussion der skizzierten Problemstellung muß über den Kontext von Β 303 hinausgegriffen werden, um die Komplexität des Kantischen Antizipationsbegriffs in den Blick zu bekommen.
c) Die antizipierten Formen des Verstandes und der Anschauung Das vorläufige Ergebnis des bereits i n t e r p r e t i e r t e n T e x t e s , namentlich von Β 303, läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die Tätigkeit des Antizipierens gleichzusetzen ist mit dem Konstruktionsprinzip des Schematisierens. In Β 303 nun wird dieses Resultat, wie ö f t e r s e r w ä h n t , von Kant so formuliert, daß der Verstand die "Form einer möglichen Erfahr u n g ü b e r h a u p t " antizipiere. Diese Aussage scheint somit nahezulegen,
- 95 daß bloß die Form einer Erfahrung, nicht aber Erfahrung selbst, wenn auch als geformte, antizipierbar ist. Dem widerspräche dann die Behauptung von Β 264 (vgl. Β 790, Β 795, Β 814), derzufolge "Regeln" die Erfahrung selbst antizipieren. Der Unterschied bestünde darin, daß im ersten Fall die Antizipation auf die Verstandesebene unter Ausschluß der Sinnlichkeit reduziert würde - in der Terminologie Kants könnte von "reine(n) Verstandesbegriffe(n) " gesprochen werden, in denen "nichts, als die bloße Form des Denkens"38 angetroffen wird - , womit allerdings sogleich die Frage aufgeworfen wäre, in bezug worauf der Verstand jene Formen antizipiere39, während erst die Aussage von Β 264 u.ö. den Bereich der Erfahrung selbst thematisieren würde. Es ist zu fragen, ob nicht bereits der Kontext von Β 303 und weiter der Duktus der ganzen transzendentalen Analytik Ansatzpunkte für eine Lösung jenes Widerspruchs bieten. Die einfachste und harmonischste Lösung ist semantischer Art: grammatikalisch könnte "einer Erfahrung" auch als Dativobjekt zu "antizipieren" interpretiert werden, das den Bereich angibt, innerhalb dessen etwas antizipiert wird. Die Voraussetzung dieser Interpretation besteht freilich darin, daß "antizipieren" analog dem deutschen "vorwegnehmen" mit Dativobjekt konstruiert werden könnte, was für den lateinischen Stamm von "antizipieren", "antecapere", auch tatsächlich gilt40. Dies kann an der wörtlichen Übersetzung von "antecapere" als "vorfassen" bzw. "vorgreifen" verdeutlicht werden, der sich Kant selbst an einer Stelle bedient : wenn er darauf verweist, es sei befremdlich, der Erfahrung in demjenigen vorzugreifen . . . " 4 1 , so wird durch das Dativohjekt "Erfahrung" der Bereich angegeben, dem vorgegriffen wird. Schließlich ist auf die bekannte Übersetzung von πρόληψις ins Lateinsiche bei Cicero zu verweisen: " . . . id est anteceptum animo rei quandam informationem"42. Man könnte geradezu die Kantische Formulierung in Β 303 als analoge Satzkonstruktion zu derjenigen Ciceros begreifen: an die Stelle des Ablativs (animo) tritt bei Kant der Nominativ (Verstand) - die Aussage bleibt dadurch unverändert - , das Partizip (anteceptam ) wird als Verb aufgelöst, das im Lateinischen wie im Deutschen das Dativobjekt (rei bzw. Erfahrung) nach sich zieht. Freilich muß diese Interpretation eine Vermutung bleiben, die angesichts Kants intimer Kenntnis der lateinischen Sprache und seiner Vertrautheit mit den Schriften Ciceros nicht von vornherein abgelehnt werden kann. Wesentlicher ist demgegenüber folgende sachliche Erwägung: wenn das Ergebnis der transzendentalen Analytik neben anderem darin besteht, daß Verstandesformen "leer" sind, solange sie abstrakt von der durch die Anschauungsformen gefilterten Sinnlichkeit gedacht werden und erst durch Bezugnahme auf jene zur Erkenntnis werden, wenn weiter die Sinnlich-machung der Formen ihnen allererst Sinn gibt, wie die Interpretation des Kontextes von Β 303 ergab, - dann erscheint eine Isolierung der Aussage von Β 303 gegenüber ihrem Kontext und dem tragenden erkenntnistheoretischen Pfeiler der "Kritik der reinen Vernunft" nicht als ge-
- 96 r e c h t f e r t i g t . Vielmehr wird es von daher legitim, ohne vorschnelle Harmonisierung Β 303 analog den a n d e r e n , vorhin a u f g e f ü h r t e n Belegen zu i n t e r p r e t i e r e n : hier wie dort wird zum Ausdruck g e b r a c h t , daß der Erf a h r u n g in ihrer Form immer schon vorgegriffen wird d u r c h den Vers t a n d . Dann ist Β 303 als Präzisierung von Β 264 ( u . ö . ) zu v e r s t e h e n , weil in Β 303 der Gegenstand des Antizipierten eindeutiger gefaßt wird: nicht E r f a h r u n g schlechthin, sondern immer schon geformte E r f a h r u n g , E r f a h r u n g in ihrer Form wird v o r w e g g e n o m m e n ^ . Voranstehender Versuch, die Einheitlichkeit der Kantischen Verwendung des Antizipationsbegriffs zu erweisen, ist nun auch geeignet einsichtig zu machen, daß tatsächlich die Verstandesformen selbst als Antizipationen von geformter E r f a h r u n g hic et nunc ("empirischer Erkenntnis") zu begreifen sind. Dies ist im Grunde ein tautologischer Sachverhalt, da damit dasselbe ausgedrückt wird, was bereits durch den Hinweis auf die antizipative S t r u k t u r der Beziehungsweise von Verstand und Sinnlichkeit zur Sprache gekommen i s t . Denn wenn der Verstand E r f a h r u n g antizipiert, so ist damit zunächst und zumindest dies a u s g e d r ü c k t , daß die Verstandesformen E r f a h r u n g antizipieren und als solche eben Antizipationen von E r f a h r u n g sind. Diese Aussage soll nun in zweifacher Hinsicht präzisiert und problematisiert werden: zunächst ist darzulegen, welche Funktion die antizipierte Form wahrzunehmen h a t : dabei wird sich die Frage nach dem Verhältnis der Verstandesformen "an sich" zu i h r e r Anwendung auf die Sinnlichkeit erheben (1); sodann ist zu k l ä r e n , ob allen apriorischen Elementen diese antizipative S t r u k t u r eignet (2). Im Rahmen dieses zweiten Gesichtspunktes ist insbesondere darauf einzugehen, ob die antizipierte Form als zeitliche v e r s t a n d e n werden muß und inwieweit dann Kants eigene Äußerungen hinsichtlich des A n s c h a u u n g s c h a r a k t e r s der Zeit in Spannung dazu t r e t e n . Nachfolgende Präzisierung des Ergebnisses von Β 303 fungiert in beiden Fällen als Problematisierung des Kantischen Antizipationsbegriffs . (1) Ein k u r z e r Rückblick erinnert d a r a n , daß der Begriff Antizipation im Zusammenhang des Schematismus eingeführt worden ist ; mit Antizipation soll also im weitesten Sinne das Verhältnis von Form und Materie, von apriorischen Formen und sinnlichen Inhalten thematisiert werden. Bezüglich dieser allgemeinen Kennzeichnung des Verhältnisses von Form und Materie ist es freilich schwer einzusehen, warum der Terminus "Schema" nicht ausreichen sollte; auch wenn d u r c h Antizipation die zeitliche Dimension des Schemas in den Mittelpunkt gerückt wird, so wäre es doch ungleich einfacher, es dabei zu belassen, daß die Zeit als Schema gekennzeichnet w i r d ^ , noch dazu, wo der Begriff Antizipation nicht im Zusammenhang der Zeit von Kant bestimmt wird. Was also soll dieser Begriff noch darüber hinausgehend a u s d r ü c k e n , daß das Schema ein zeitliches ist?
- 97 Hier hilft folgende Aussage im Schematismuskapitel weiter: Antizipation ist all die E r k e n n t n i s , "wodurch ich dasjenige, was zur empirischen Erkenntnis gehört, a priori erkennen und bestimmen kann"45, Antizipation ist demnach eine Erkenntnis a priori: sie gehört also - darauf wurde schon mehrmals hingewiesen - zum Bereich der "Formen". Nun freilich nicht so, daß sie eine Form neben anderen darstellen würde; sonst könnte sie ihrer hier namhaft gemachten Funktion nicht gerecht werden, "dasjenige, was zur empirischen Erkenntnis gehört", a priori zu erkennen und zu bestimmen. Das apriorische Element an der empirischen E r k e n n t nis ist ja nichts anderes als ihre jeweilige Form, so daß hier noch einmal zum Ausdruck kommt, daß die Antizipation das Verhältnis von Form und Materie selber thematisiert, und zwar so, daß sich alle apriorischen Elemente als Antizipationen der jeweiligen empirischen Erkenntnis erweisen. Doch u n s e r Text macht d a r ü b e r hinaus noch eine wesentliche Aussage hinsichtlich der inhaltlichen Funktion der so antizipierten Form : die empirische Erkenntnis soll d u r c h sie a priori erkannt und bestimmt werden. Treffend erblickt H.Ebeling die Funktion des "Vorgriffs a priori" d a r i n , daß er "die Gegenstände möglicher E r f a h r u n g i h r e r Form nach konstituiert , indem er ihre apriorischen Bedingungen bestimmt als raum-zeitliche Schematisierungen der reinen Verstandesbegriffe"^®. Das heißt: Nur weil die apriorischen Elemente der empirischen Erkenntnis im voraus (antizipativ) bestimmt sind, ist apriorische Erkenntnis im Sinne Kants ü b e r haupt möglich. Denn wenn einerseits der Sinn jener apriorischen Elemente n u r im Vollzug des Schemas, d . h . in der Applikation auf die Sinnlichkeit ausgemacht werden k a n n , gleichwohl aber a n d e r e r s e i t s ihre Apriorität gewahrt bleiben soll, dann kann beides zusammen n u r so gedacht werden, daß die Apriorität im voraus f e s t s t e h t . Das bedeutet dann f r e i lich a u c h , daß jede mögliche empirische Erkenntnis im voraus schon durch diese apriorischen Elemente bestimmt i s t . Antizipation ist so die Bedingung der Möglichkeit, empirische Erkenntnis a priori zu bestimmen. Ist diese Funktion der Antizipation aber nicht eine rein logische? Kann das Bestimmen eines Gegenstandes als zeitliches q u a lifiziert werden, so daß die bestimmenden Formen selbst auch zeitlich wären? Es wurde darauf hingewiesen, daß das Schematisieren nach Kant d u r c h Zeit bedingt ist. Heißt dies aber eo ipso, daß auch die schematisierten Formen zeitlich sind, oder werden sie nicht eher in i h r e r Anwendung auf E r f a h r u n g erst "verzeitlicht", so daß sie "an sich" Zeit ausschließen? Die Schwierigkeit besteht näherhin d a r i n , daß die Verstandesformen als apriorische einerseits unabhängig von E r f a h r u n g gedacht werden müssen, andererseits nur im Bezug auf E r f a h r u n g sinnvoll und relevant werden. In der zweiten Fassung der transzendentalen Deduktion wird die Gemeinsamkeit der Kategorien mit der E r f a h r u n g , genauer mit den apriorischen Formen an der E r f a h r u n g , in i h r e r einheitsstiftenden Tätigkeit gesehen. Damit ist nach D.Henrich "eine Anwendung der Kategorien auf alle sinn-
- 98 liehen Vorstellungen gesichert Dem Schematismus bliebe dann in der Tat n u r mehr ü b r i g , das Wie dieser Anwendung nachträglich aufzuweisen. Die antizipative S t r u k t u r der Formen könnte d a n n , wie gesagt, nicht mehr als zeitliche begriffen werden^®. Dazu gesellt sich noch das a n d e r e , schwerwiegende Problem, d a ß , wie schon erwähnt, die Zeit innerhalb der transzendentalen Ästhetik entwikkelt wird, ohne daß dabei der Antizipationsbegriff ausdrücklich verwendet w ü r d e t . (2) Der letzte Gesichtspunkt lenkt auf die weiterführende Frage: Sind mit den "Formen der E r f a h r u n g " tatsächlich alle apriorischen Elemente gemeint, wie bisher stillschweigend vorausgesetzt wurde, also sowohl die reinen Formen der Sinnlichkeit als auch die des Verstandes? Dann müßten doch wohl auch Raum und Zeit als antizipierte Formen angesprochen werden d ü r f e n . Mit den folgenden Überlegungen ist die Grenze einer möglichen immanenten Interpretation des Kantischen Antizipationsbegriffs e r r e i c h t . Hier genügt es zunächst, die Konsequenzen der bisherigen Interpretationstendenz anzudeuten, um e r s t später sie in systematischer Weise auf den Antizipationsbegriff zu applizieren. Es ist die doppelte Funktion der Zeit innerhalb der "Kritik der reinen V e r n u n f t " , die dazu veranlaßt, einerseits die Grenzen der Kantischen Antizipation zu sehen, andererseits über Kants eigenen erkenntnistheoretischen Rahmen (und zwar im Sinne Kants) hinauszugehen. Das Problem besteht näher d a r i n , daß die Zeit (und auch der Raum) offensichtlich eine zweifache Rolle in der "Kritik der reinen V e r n u n f t " spielt: einmal als reine Form der Sinnlichkeit, zum anderen als Schema. Die Einheit beider Funktionen ist zunächst d u r c h den Anschauungsbegriff gewährleistet: die Zeit wird in der transzendentalen Ästhetik als Form der Anschauung bestimmt, und die Bedeutung der Verstandesformen besteht eben d a r i n , sinnlich gemacht zu werden. Diesbezügliche Aussagen Kants, die scheinbar n u r auf die Zeit bezogen sind, müssen auch als f ü r den Raum geltend verstanden werden: "Nun ist eine t r a n s z e n d e n tale Zeitbestimmung mit der Kategorie . . . sofern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori b e r u h t . Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung sofern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist "50. Der letzte Satz enthält freilich schon den Hinweis, warum nach Kant die Zeit als Schema besond e r s geeignet ist - n u r dieser letzte Gesichtspunkt soll sie vom Raum u n terscheiden, während der e r s t e beiden gemeinsam ist - : weil sie als Form des inneren Sinnes die Form aller Erscheinungen i s t . Bereits in der transzendentalen Ästhetik f ü h r t Kant a u s : "Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen ü b e r h a u p t " 5 1 . Und zwar deshalb, "weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande h a b e n , oder n i c h t , doch an sich s e l b s t , als Bestimmungen des Gemüts,
- 99 zum inneren Zustande gehören, dieser innere Zustand aber, unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit g e h ö r t " ^ . Gegen diese Begründung der an sich "richtige(n) These" ist zu Recht eingewandt worden, daß "daraus, daß alle meine Vorstellungen in der Zeit stattfinden", nicht geschlossen werden kann, "daß in allen meinen Vorstellungen solches vorgestellt wird, dessen Wirklichkeit eine zeitliche Wirklichkeit i s t , und also nicht. daß Zeit eine formale Bedingung aller Wirklichkeit ist"53. Und dies ganz "einfach deswegen, weil nicht alles Wirkliche im inneren Sinn gegeben i s t " " ^ . In der Tat ist der umgekehrte Weg die bessere Argumentation: "Man muß . . . umgekehrt davon ausgehen, daß alles Wirkliche, alles, was angeschaut werden kann, in der Zeit bestimmt i s t " ^ . Faktisch geht denn Kant auch davon aus, wenn anders er das Schematisieren selber als zeitliches bestimmt. Wie dem auch sei, die Zeit hat jedenfalls eine doppelte Funktion in der "Kritik der reinen Vernunft". Und nur ihre Funktion als Schema wird mit Antizipation in Zusammenhang gebracht, während eine antizipative Struktur der Zeit als Anschauungsform offensichtlich nicht in den Blick kommt. Eine kantimmanente Erklärung dieser Schwierigkeit bietet sich dann an, wenn auf die ausschließlich logische Bedeutung des Begriffs Antizipation abgehoben wird. Die oben angeführten Belege könnten diese Interpretationstendenz verstärken. Sie wurde als Möglichkeit ja schon erwogen. Und in der Tat kann nur eine über Kants eigene Aussagen hinausgehende Darstellung die bisherige Interpretationslinie fortführen. Denn im Sinne Kants sind die Formen des Verstandes ausschließlich in "logischer" Hinsicht als unveränderliche jedem Erfahrungsprozeß vorgegeben. Folgender Argumentation verschließt sich zwar die "Kritik der reinen Vernunft" nicht, aber es wird doch über deren erkenntnistheoretischen Rahmen hinausgegangen: Nach Kant selbst besteht ja der "Sinn" der Formen in ihrem Erfahrungsgebrauch, d . i . im Vollzug der antizipativen Beziehung. Demnach müssen die Formen selbst offensichtlich als relational aufgefaßt werden, sofern sie als solche nur in bezug auf den Inhalt fungieren. Das bedeutet dann aber doch, daß dieser Bezug ihnen wesentlich i s t , sie somit, sofern jener Bezug ein zeitlicher i s t , ebenso als zeitliche zu bestimmen sind. Wenn nun gilt, daß die Beziehung der Formen auf den Inhalt eine antizipative ist (und dies gilt wegen der Identität von Schematisieren und Antizipieren ) , dann ist damit auch die antizipative Struktur aller Formen selbst ausgesagt**®. Die hier vorgetragene Kantinterpretation ruht also letztlich auf der früher gewonnenen Einsicht, daß durch das Schematisieren die Beziehung zwischen Form und Inhalt als antizipative thematisiert werden konnte. Von da aus ist ein konstitutiver Zusammenhang zwischen der Zeit und jener Verhältnisbestimmung selbst geschaffen, hinter den jede Deutung der Antizipation als nur logische zurückfallen würde. Ist so die Zeitlichkeit der antizipativen Struktur vom Form und Inhalt anerkannt, so stellt die oben durchgeführte Argumentation, die in dem Aufweis der antizipativen und das heißt jetzt zeitlichen Struktur aller Formen gipfelte, nurmehr eine Folgerung jener
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grundlegenden Einsicht d a r . Es soll nicht bestritten werden, daß Kant jene Folgerung nicht gezogen, zumindest aber nicht explizit gemacht h a t : die Verbindung zwischen dem Schema der Zeit und der Antizipation jedoch, woraus die zeitliche S t r u k t u r der letzteren folgt, ist bei Kant selbst jedenfalls angelegt. (Den vorgetragenen Erwägungen könnte der Hinweis an die Seite gestellt werden, daß den Anschauungsformen implizit ebenso eine antizipative S t r u k t u r eignet ; damit wäre das Problem der Beziehung zwischen der Verzeitlichung der Verstandesformen als Antizipation (bzw. Schematisierung) und der Zeit selbst als Anschauungsform lösbar. Auf diese Frage i s t , wie g e s a g t 5 7 , später noch einmal zurückzukommen, da die Cohensche Lösung im Zuge der Kategorialisierung der Zeit und i h r e r Deutung als Antizipation in diese Richtung weist^S. ) Hier genügt es noch einmal h e r v o r z u h e b e n , daß im Zuge der vorgeschlagenen Interpretation die strikte T r e n n u n g zwischen Anschauung und Verstand aufgehoben werden könnte. Denn wenn tatsächlich die Bezieh u n g aller apriorischen Elemente auf die Sinnlichkeit d u r c h den Begriff Antizipation zum Ausdruck kommt, dann sind am Ort der Antizipation die so sehr getrennten "Stämme" der menschlichen Erkenntnis geeint. Die Haltbarkeit dieser "Vereinigung" hängt also davon a b , ob sich zeigen läßt, daß die (antizipative) S t r u k t u r der reinen Formen der Anschauung der der Verstandesformen analog i s t . Es ist auffallend, daß die gegenwärtige Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie sich u n s e r e s Wissens selten einer Interpretation des Kantischen Antizipationsbegriffs zuwendet. Vielleicht hängt dies damit zusammen, daß dieser Begriff n u r bedingt einer kantimmanenten Deutung zugänglich ist. W.Flach hat vor kurzem - in Auseinandersetzung mit dem Antizipationsbegriff Cohens - u n t e r Ausklammerung einer Reflexion über die zeitliche S t r u k t u r der von ihm präzisierten "Gegenstandsantizipation", diese so bestimmt: "Die Anschauung bzw. Sinnlichkeit steht f ü r die Antizipation des Gegenstandes als des Zu-Bestimmenden" 5 ^. Dieser in Gegenüberstellung zu Cohens "Prinzipien- oder Kategorieantizipation"60 gep r ä g t e Terminus ist insofern mißverständlich, als ja nicht der Gegenstand als solcher, sondern ganz bestimmte formale Elemente in der E r f a h r u n g bzw. am erfahrenen Gegenstand antizipiert sind. Es ist wichtig, die r e flexive Ebene, auf der der Antizipationsbegriff anzusiedeln i s t , festzuhalt e n . Für die Antizipation der Verstandesformen bedeutet dies, daß das Begreifen als solches, also der Erkenntnisprozeß selber, thematisiert wird. Dies berücksichtigend erscheint es denn auch als mißlich, die Antizipation selbst auf den Begriff der Anschauung einzuschränken: die einheitsstiftende Funktion der Antizipation kann n u r dann gedacht werden, wenn sie exklusiv weder auf der kategorialen (im Sinne K a n t s ) , noch auf der sinnlichen Ebene geortet wird.
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Dies bedeutet aber auch, daß die reflexive Stufe des Antizipationsbegriffs nicht gegen die Erfahrungsebene ausgespielt werden d a r f , d e r a r t , daß auf seine gleichbleibende Formalität gegenüber willkürlichen Inhalten r e k u r r i e r t wird®*. Allerdings ist W.Flach zuzugestehen, daß das V e r f a h r e n , das Kant als Schematisieren bezeichnet, vermittelt ist durch die Anschauung der Zeit, die wiederum nicht als Antizipation begriffen wird. So ist in der Tat der Antizipation als der Regel der V e r k n ü p f u n g von Verstand und Sinnlichkeit das Konstruktionsprinzip der Zeit vorgelagert , das im Sinne Kants bekanntlich als Anschauungsform auf Erscheinungen r e s t r i n g i e r t ist. Solange somit nicht die antizipative S t r u k t u r der Zeit selber erwiesen i s t , besteht der von Flach geltend gemachte Unterschied zwischen Kant und Cohen, sofern erst bei letzterem das Konstruktionsprinzip selbst als Antizipation gefaßt wird. Ob allerdings die Cohensche Prinzipienantizipation von vornherein den Erkenntnisbegriff Kants e i n e n g t ^ oder nicht zunächst als Versuch gewürdigt werden k a n n , Anschauungs- und Verstandesformen in eine gedankliche Beziehung zueinander zu setzen, erscheint doch zumindest als erwägensw e r t . Doch darauf ist später noch einmal ausführlich zurückzukommen.
2. Die "Antizipationen der Wahrnehmung" Es handelt sich bei den "Antizipationen der Wahrnehmung" um einen jener "Grundsätze", die - ganz allgemein gesprochen - die Art und Weise der Beziehung von Apriorität und Sinnlichkeit konkretisieren sollen. P.Rohs bestimmt in seinem Kommentar zu Kants transzendentaler Logik die Aufgabe der Analytik der Grundsätze folgendermaßen: Sie beantwortet die "Frage nach der Möglichkeit dynamischer Gesetzesaussagen . . . Die Grundsätze selbst können dabei i n t e r p r e t i e r t werden als Sätze, deren Wahrheit die Möglichkeit objektiv gültiger Gesetzesaussagen garantiert "6 3. Nur der zweite Grundsatz ist f ü r unser Thema i n t e r e s s a n t , deshalb soll er losgelöst von seinem Kontext im folgenden u n t e r s u c h t werden. Er laut e t : "In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung i s t , intensive Größe, d . i . einen G r a d " 6 4 . Bei der folgenden Interpretation dieses Grundsatzes muß es v o r r a n g i g um den Sachverhalt gehen, der mit dem Begriff Antizipation ausgesagt werden soll; n u r am Rande kann auf die Konsequenzen und die Probleme dieses Grundsatzes im Kontext der "Kritik der reinen V e r n u n f t " - insbesondere sein Bezug auf die Qualitätskategorien ist ja d u r c h a u s nicht eindeutig - eingegangen werden Kant b e h a u p t e t , mit diesem Grundsatz einen Sachverhalt beschreiben zu können, der "im ausnehmenden Verstände Antizipation genannt zu werden verdiene(n)"®®, d e n n : hier geht es darum, "der E r f a h r u n g in demjenigen vorzugreifen, was gerade die Materie derselben a n g e h t , die man
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nur aus ihr schöpfen kann"® 7 . Diese Begründung ist wesentlich, da sie etwaigen Mißverständnissen bezüglich der Interpretation des Begriffs "im ausnehmenden Verstände" zuvorkommen kann. Kant gibt später selbst zu, daß er sich über diesen Grundsatz wundert, der "einiges Bedenk e n " ^ hervorruft. In eben diesem Sinne ist nun auch der Begriff "im ausnehmenden Verstände" zu verstehen: es wäre gänzlich verfehlt, wollte man daraus schließen, der Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung sei auf dem Hintergrund eines besonderen. Verstandes zu erklären, der dem "allgemeinen" Verstand gegenübertreten würde. Wenngleich der Begriff Verstand von Kant durchaus differenziert gebraucht wird, - er unterscheidet zwischen "reinem", "unserem" und "intuitivem 9 - kennt er doch keinen "allgemeinen" Verstand, der einem "besonderen" Verstand gegenübersteht. Außerdem würde Kant, wenn er an dieser Stelle ein besonderes Verstandesvermögen einführen wollte, dies nicht nur beiläufig erwähnen, sondern entsprechend explizieren. Es spricht also alles dafür, daß entsprechend der erwähnten, am Ende dieses Grundsatzes geäußerten "Bedenken" die Redeweise "im ausnehmenden Verstände" beispielsweise durch "in ganz besonderer Weise" paraphrasiert werden kann. In ganz besonderer Weise soll für diesen Grundsatz die Struktur der Antizipation gelten, weil das zu Antizipierende Empfindung ist, von der Kant wenig früher selbst sagt, "daß diese es eigentlich sei, was gar nicht antizipiert werden kann" 7 ^. Wie kann dies nun doch möglich sein? Wir setzen mit einer terminologischen Klärung ein, die geeignet ist, die inhaltliche Aussage dieses Grundsatzes zu präzisieren. Bisher war von Empfindung als Gegenstand der Antizipation die Rede, der zweite Grundsatz ist aber mit "Antizipationen der Wahrnehmung" überschrieben. Darf Wahrnehmung und Empfindung einfach gleichgesetzt werden? Nun kann und braucht hier keine grundsätzliche Bestimmung und Unterscheidung dieser beiden Begriffe geleistet werden: es genügt, ihre Bedeutung im Kontext des zweiten Grundsatzes freizulegen. Beide werden - soviel kann man vorwegnehmend sagen - engstens aufeinander bezogen, ja gleich zu Beginn des für die zweite Auflage neu geschriebenen Beweises für diesen Grundsatz wird Wahrnehmung unter Zuhilfenahme des Begriffs Empfindung so definiert: "Wahrnehmung ist das empirische Bewußtsein, d . i . ein solches, in welchem zugleich Empfindung ist" 71 ·. Das Wörtchen "zugleich" deutet darauf hin, daß neben "Empfindung" noch ein anderer Inhalt dieses Bewußtsein kennzeichnet. Wie aber ist dieser Inhalt näher zu charakterisieren, was darf nach Kant "Gegenstand der Wahrnehmung" heißen? Die "Gegenstände der Wahrnehmung ( , ) sind nicht reine (bloß formale) Anschauungen, wie Raum und Zeit, (denn die können gar nicht wahrgenommen w e r d e n ) " 7 2 . Berücksichtigt man den oben durch das Wort "zugleich" gegebenen Hinweis, so darf diese Aussage nicht so interpretiert werden, daß man Wahrnehmung und (zunächst reine) Anschauungen in exklusiver Weise voneinander trennt. Die Gegenstände der Wahrneh-
- 103 mung gehen zwar "über die Anschauung (hinaus)" und enthalten "noch die Materien zu irgendeinem Objekte überhaupt" 7 ^; aber damit erweist sich das empirische Bewußtsein, das "außer der Anschauung auch Empfindung enthält" 7 ^, als beides, Anschauung und Empfindung umgreifend. Von daher wird auch das Wörtchen "zugleich" deutlich: in der "Wahrnehmung ist . . . zugleich Empfindung" heißt nichts anderes, als daß sich neben der Anschauung nun auch noch Empfindung findet. Um die Präzisierung des mit Empfindung Gemeinten soll es jetzt gehen. Sie wurde schon als "Materie(n) zu irgendeinem Objekte überhaupt" gekennzeichnet. Damit aber fällt Licht auf unsere Frage: Diese "Materien" sind nämlich "das Reale der Empfindung, also bloß subjektive Vorstellung, von der man sich nur bewußt werden kann, daß das Subjekt affiziert s e i " 7 ' ' . Damit ist der spezifische Inhalt des empirischen Bewußtseins gekennzeichnet: Neben der Anschauung und der "Qualität der Empfindung . . . ( z . B . Farben, Geschmack usw.)" 7 f > wird als dessen Inhalt eigens die Existenz, in Kants Terminologie die "Realität" der Empfindung thematisiert. Während die beiden ersteren Inhalte jede empirische Anschauung kennzeichnen, eignet der Wahrnehmung in exklusiver Weise ein Bewußtsein der Realität der Empfindung, des (bloßen) Daß des Affiziertwerdens. Empfindung und Wahrnehmung dürfen also - dies ist das Ergebnis jener Interpretation - durchaus nicht in eins gesetzt werden. Näherhin sind sie so aufeinander zu beziehen, daß Wahrnehmung als der umfassendere Terminus Anschauung und Empfindung umgreift. Dabei eignet der Wahrnehmung (und bloß darin geht sie über die empirische Anschauung hinaus, die deshalb auf ihr fußt) neben der Qualität der Empfindung das Bewußtsein der Realität der Empfindung als ihrer spezifischen Materie 7 7 . (Die Form der Wahrnehmung, dies mag der Vollständigkeit halber noch erwähnt werden, ist eben das Wissen ( " B e wußtsein") um diesen Inhalt.) Dieses Ergebnis evoziert natürlich folgendes neues Problem : Wenn in der besprochenen Weise zwischen Wahrnehmung und Empfindung zu unterscheiden i s t , dann ist augenscheinlich auch hinsichtlich des Vollzugs der Antizipation zu differenzieren, insofern einmal Wahrnehmung, dann aber Empfindung als je antizipierte angegeben wird. Doch wenn man die präzise Formulierung Kants ernst nimmt, nach der Antizipation im ausnehmenden Verstände genannt werden soll, "was sich an jeder Empfindung, als Empfindung überhaupt, . . . a priori erkennen l ä ß t " 7 8 , dann läßt sich die Frage nach dem Antizipierten vorläufig so beantworten: Nichts anderes als die spezifische Materie der Wahrnehmung wurde in der Weise definiert, daß sie "etwas an der Empfindung überhaupt i s t " : nämlich deren pure Existenz! Bevor auf eine notwendige Präzisierung des Antizipierten und des Vollzugs der Antizipation eingegangen wird, ist eine weitere, ungleich geringfügigere terminologische Ergänzung angebracht. In dem begrifflich
- 104 weit weniger präzis formulierten "Beweis" der ersten Auflage ist von der "empirischen Anschauung" die Rede, innerhalb welcher die Realität "der Empfindung korrespondiert"^®. Diese Aussage verwischt gerade den herausgestellten Unterschied zwischen empirischer Anschauung und empirischem Bewußtsein, i . e . Wahrnehmung. Wird jedoch in jenem Satz der B e griff "empirische Anschauung" durch "Wahrnehmung" s u b s t i t u i e r t s o folgt hinsichtlich der Kennzeichnung von Empfindung eben der oben an den Tag beförderte Sachverhalt. Dann stimmt nämlich in der Wahrnehmung die Empfindung mit der Realität überein, d . h . : Empfindung ist in der Wahrnehmung (auch) als Realität. Ist damit aber schon die präzise Formulierung des Antizipierten selbst erreicht? Es muß jetzt endlich die eigentliche Problemstellung dieses Grundsatzes zum Zuge kommen, was nämlich als Wahrnehmung und in welcher Weise antizipiert werden kann. Wir wollen so vorgehen, daß wir zunächst den "Gegenstand" der Antizipation einer weiteren Klärung zuführen, um dann den Vollzug der Antizipation zu diskutieren. Der zu beweisende Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung sei noch einmal in Erinnerung gebracht: "In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung i s t , intensive Größe, d . i . einen Grad"® 1 . Das Antizipierte ist also, darauf wurde schon hingewiesen, das Reale, die Realität der Empfindung, was jetzt - dies ist eine bloße Definition - mit den Termen "intensive Größe" bzw. "Grad" wiedergegeben wird. Nicht Wahrnehmung schlechthin als empirisches B e wußtsein kann antizipiert werden - dies legt ja zunächst einmal die wenig differenzierte Überschrift des Grundsatzes nahe - , sondern nur jener spezielle Aspekt an der Empfindung, der sich auf deren bloße Existenz bezieht, soll antizipiert werden. Nun freilich nicht so, daß die Existenz der Empfindung selbst vorweggenommen werden kann: daß es Empfindung gibt, kann selbstredend immer nur empfunden werden - dies ist ein tautologischer Satz. Aber daß die Existenz jeder Empfindung immer als Grad empfunden werden muß: genau dies soll antizipiert werden können. Denn dies ist ein notwendiger und allgemeiner Satz, dessen Gültigkeit nur auf dem Boden der Gültigkeit von Verstandesbegriffen einsehbar gemacht werden kann. So kann Kant auch sagen: "Realität ist im reinen Verstandesbegriffe das, was einer Empfindung überhaupt korrespondiert" 8 2 . Wie schon bei der weiteren Definition von Antizipation wird also auch hier die Verwendung gerade dieses Terms dadurch gerechtfertigt, daß Erkenntnis a priori so auf Erscheinungen zu beziehen i s t , daß diese durch jene eben antizipiert werden 8 "*. Damit ist aber noch nicht das Spezifikum der Antizipation von Wahrnehmung erreicht: hier soll nämlich nicht nur jene Beziehung der Verstandesbegriffe auf jedwede Erfahrung, hier soll vielmehr die Gradualität der Empfindung und darin die Realität des Empfundenen vorweggenommen werden. Diese These gilt es in zweifacher Hinsicht zu untersuchen: Zum einen ist kurz auf ihren "Beweis" einzugehen, zum andern - dies ist der ungleich wichtigere Aspekt - muß sich herausstellen, ob Kant darin zuzustimmen i s t , daß
- 105 sich bei diesem Grundsatz das Antizipierte wesentlich von dem der Antizipationen im weiteren Sinne unterscheidet. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß Kant zwei Beweise dieses Grundsatzes geliefert hat, den in der zweiten Auflage unverändert übernommenen der ersten (B 209-210) und einen eigens für die Neuauflage geschriebenen (B 207-208). Da sie sich in der Argumentationsstruktur entsprechen, genügt es, unter Berücksichtigung der begrifflich präziseren Fassung des späteren Beweises dem Gedankengang des früheren zu folgen, da dessen logischer Aufbau übersichtlicher ist. Wenn wir recht sehen, besteht der Beweis aus zwei "Schlüssen", die so miteinander verbunden sind, daß die conclusio des ersten zur minor des zweiten wird. Das erste Schlußverfahren lautet: (1)
Maior:
(2)
Minor:
(3)
Conclusio:
Jede Empfindung kann "abnehmen, und so allmählich verschwinden". In der Wahrnehmung entspricht das Vorhandensein von Empfindung ihrer Realität; deren Mangel ihrer Negation. Deshalb ist zwischen Realität und Negation ein "kontinuierlicher Zusammenhang vieler möglichen Zwischenempfindungen
Diese conclusio ist identisch mit der Aussage: "Das Reale in der Erscheinung hat jederzeit eine Größe"® 5 . Mit dem Aufweis der kontinuierlichen Veränderung von der Realität aus hin zur Negation (und umgekehrt) kann die Art der Größe selbst noch nicht bestimmt werden. Es könnte sich ja auch um eine Vergleichs große (d.i. extensive Größe) handeln: dann wäre das Antizipierte eine solche Form der Empfindung, die als Skala zum Beispiel antizipiert würde. Es bestände dann freilich kein Anlaß, hierfür Antizipationen im ausnehmenden Verstände zu beanspruchen; weiter wäre nicht einzusehen, in welcher Hinsicht der Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung über den der Axiome der Anschauungen hinausgeht, und schließlich widerspricht diese Interpretation Kants eigenem Anliegen, demzufolge ja nicht die Qualität, sondern eben die Realität von Empfindung so aufgewiesen werden soll, daß sie jederzeit eine Größe ist, und zwar unabhängig von anderen Empfindungen. Dieser letzte Gesichtspunkt führt zu der wesentlichen - schon öfters gestreiften Voraussetzung dieses Grundsatzes, nach der hier, deshalb wurde ja der Begriff der Wahrnehmung eingeführt, ausschließlich solche Empfindung thematisiert werden soll, die "nur einen Augenblick"^ erfüllt, die gerade "keine sukzessive Synthesis ist, die von den Teilen zur ganzen Vorstellung fortgeht"®?, "von der man sich nur bewußt werden kann, daß das Subjekt affiziert s e i " 8 8 - m.a.W.: Nicht Empfindung schlechthin, nicht die Qualität, sondern nur die Realität macht als Form der Empfindung das Spezifikum dieses Grundsatzes aus, deren intensive Größe bewiesen werden soll. Damit kommen wir zum zweiten Teil des Beweises,
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dessen logischer Aufbau sich ebenfalls als Schlußverfahren darstellen läßt : (4) Maior: Alle Realität der Empfindung "erfüllt n u r einen Augenblick". (5) Minor: Das Reale in der Erscheinung hat jederzeit eine Größe (vgl. conclusio des ersten S c h l u ß v e r f a h r e n s ) . (6) Conclusio: Die Größe erfüllt n u r einen Augenblick. Eine Größe a b e r , "die n u r als Einheit apprehendiert wird" (dies e n t spricht der Aussage, daß sie n u r "einen Augenblick e r f ü l l t " ) , wird definiert als "intensive Größe"89. Das Ergebnis dieses zweiten Teils des Beweises ist also zunächst ein negatives: Die Größe der Realität der Empfindung kann nicht von d e r selben Art sein, wie die Größe der Qualität der Empfindung. Da aber auch jener eine Größe zukommen muß (die Notwendigkeit dieser Aussage wurde oben bewiesen), handelt es sich um eine neue Größe, die als "intensive" benannt werden soll. Setzen wir einmal die Richtigkeit dieser Deduktion voraus (auf ihre kons t r u k t i v e Kritik d u r c h H.Cohen ist später90 einzugehen), so stellt sich zweitens die Frage, ob eine Antizipation jener intensiven Größe tatsächlich als Antizipation der Form von Empfindung - und damit als ganz b e sondere Antizipation, als Vorgriff auf die Materie der E r f a h r u n g nämlich^l - angesehen werden k a n n . Es soll also vorweggenommen werden, daß mit der Existenz einer Empfindung notwendig die Existenz eines Grades oder Ausmaßes von Empf i n d u n g gegeben ist (die konkrete Qualität des Grades ist freilich bloß empirisch f a ß b a r ) ; es gibt also keine "leeren" Empfindungen. Wesentlich ist - andernfalls handelte es sich um einen tautologischen Satz - , daß dieser Grad als bloß existierender ( d . i . intensiver) a priori im Verstände vor jeder Empfindung hic et nunc gegeben i s t , der E r f a h r u n g also t a t sächlich in i h r e r Materie, sofern andererseits gerade die bloße Existenz des Grades zur Materie der E r f a h r u n g gehört, vorgegriffen wird. Nicht daß es überhaupt Empfindung gibt, wohl a b e r , daß Empfindung immer "intensiv" i s t , dies kann a priori im und d u r c h den Verstand vorweggenommen werden - und zwar unabhängig von der Möglichkeit des qualitativen Vergleichs von Empfindungen in einer Skala: so lautet die These Kants. Im folgenden soll bewußt davon abgesehen werden, ob diese These bzw. ihre B e g r ü n d u n g konsistent ist (immerhin ist sie augenscheinlich von Kant f ü r wahr b e f u n d e n worden): hier kommt es darauf a n , ihre Konsequenzen f ü r die "Kritik der reinen V e r n u n f t " selbst a u f z u d e c k e n , denn es ist i n t e r e s s a n t , daß es gerade die Antizipationen der Wahrnehmung s i n d , die die Grundlage der Kritik selbst in Frage stellen. Es wird nämlich jetzt erst vollends verständlich, warum sich Kant über diesen Grundsatz wundert - und wundern muß; gerade "für einen der t r a n s z e n d e n t a -
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len (erg. Überlegung) gewohnten und dadurch behutsam gewordenen Nachforscher" hat dieser Grundsatz tatsächlich "etwas Auffallendes an sich"92. Sofern nämlich hier Formen der Empfindung aufgedeckt wurden, ist analog zu den Anschauungsformen eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Verstand einerseits, der Sinnlichkeit andererseits thematisiert. (Die Formen des Verstandes sind ja deshalb nur mittelbar auf die Sinnlichkeit bezogen, weil die Anschauung als vermittelndes Glied allererst diese Beziehung gewährleistet.) Sofern nun weiter diese Empfindungsformen - ebenso wie die Verstandesformen - antizipiert sind, deutet sich erstmals die universale Funktion dieses Begriffs bei Kant an. Es liegt in der Tat in der Konsequenz dieser Interpretation, den systematischen Ort der intensiven Größe als Empfindungsform im Kontext der Anschauungsformen festzumachen: nach der überzeugenden Interpretation A.Maiers greifen nicht Verstandesformen der Empfindung vor, sondern eine neue (den Formen von Raum und Zeit hinzuzufügende) Art von Formen der Anschauung, die "Apprehensionsformen" oder "Empfindungsformen"93 genannt werden. A.Maier behauptet allerdings, "daß die Einführung von Empfindungsformen mit den grundlegenden Betrachtungen der Kritik im Einklang s t e h t - dabei muß man immerhin von der gravierenden Korrektur absehen, daß der systematische Ort des zweiten Grundsatzes dann innerhalb der transzendentalen Ästhetik festzumachen wäre. Von dieser Schwierigkeit abgesehen, die sich dadurch potenziert, daß bei dieser dritten reinen Anschauungsform noch einmal das von Kant nicht gelöste Problem der Verhältnisbestimmung von Anschauung und Denken zu diskutieren ist, konvergiert Maiers Interpretation insofern mit der oben beabsichtigten, als auch sie zu erweisen versucht, daß Kant die Empfindung selbst noch einmal in ein apriorisches und ein aposteriorisches Element aufspalten will, so daß das aposteriorische Moment der Empfindung als letzte Bastion rezeptiver Sinnlichkeit übrig b l e i b t D a s Interessante an dieser Interpretation besteht darin, daß sie, sofern hier die Antizipationen der Wahrnehmung als Anschauungsformen gedeutet werden, die Ebene des Begriffs, bzw. in Kantischer Terminologie: die Ebene der Verstandesformen konkretisiert. An diesem Punkt entspricht, wie gesagt, die von uns vorgeschlagene Interpretation der Maiers, und es wird sich noch zeigen, daß darin die bedeutungsvollste Leistung des Begriffs Antizipation besteht, gerade nicht abstrakt Begriffe zu begreifen, sondern die Reflexion über das Begreifen auf der ontologischen Ebene selbst festzumachen. Bei Kant ist diese Funktion im Kontext des zweiten Grundsatzes angebahnt; ihre konsequente Durchführung sprengt natürlich den erkenntnistheoretischen Rahmen seiner Kritik. Immerhin darf als Resultat der Interpretation des zweiten Grundsatzes, die den Kantischen Antizipationsbegriff im engeren Sinne zum Thema hatte, festgehalten werden, daß die vorhin ausgezogene Interpretationslinie bestätigt wird - und zwar gegen das Beharren Kants auf der Reinheit
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der Verstandesformen, die "an sich" keiner E r f a h r u n g b e d ü r f e n . Jenes Problem der Verhältnisbestimmung zwischen dem Schematisieren im Sinne des Antizipierens und den Verstandesformen an sich, das durch die von ihnen thematisierte Reflexionsebene bedingt i s t , sofern sie n u r mittels der Anschauungsformen ihren Bezug zur Sinnlichkeit und damit "Sinn" erlangen können, fällt am Ort der antizipierten Em ρ fin dungs form en weg. Denn diese beziehen sich, wie gezeigt, unmittelbar auf die Materie der E r f a h r u n g , so daß die an der Empfindung antizipierte Form nicht n u r als Anwendungsfall einer vorab gegebenen Form bestimmt werden k a n n , sond e r n selbst allererst konstituiert wird in i h r e r antizipativen Beziehung auf die Materie.M.a.W. : Die Antizipation der Empfindungsformen b r i n g t analog zu der der Verstandesformen die auf Form und Inhalt gleichermaßen sich beziehende Relevanz der mit jenem Begriff namhaft gemachten S t r u k t u r zum A u s d r u c k . Die daraus sich ergebende Konsequenz der wechselseitigen Bedingtheit von Form und Inhalt kann freilich e r s t von den Empfindungsformen - in ihrem konstitutiven Bezug auf die Materie der Empf i n d u n g - ausdrücklich gemacht werden, während zwar auch die Verstandesformen sich als Antizipationen von E r f a h r u n g in i h r e r Form darstellen ließen; die damit sich erhebende Schwierigkeit des Bezugs jener Antizipation auf die Verstandesformen und ihre damit gegebene ursprüngliche Zeitlichkeit konnte freilich werkimmanent keiner Lösung z u g e f ü h r t werden. Allerdings stellt sich jene zuletzt erwähnte Schwierigkeit auch der v o r getragenen Interpretation des zweiten Grundsatzes in den Weg: sofern deren Ergebnis darin gipfelte, daß eine Konkretisierung des Antizipationsbegriffs gegenüber der Antizipation der Verstandesformen im Hinblick auf die direkte (nicht d u r c h ein "Schema" vermittelte) Beziehung zwischen Form und Materie hier festgestellt werden konnte, müßte jedenfalls auch die zeitliche S t r u k t u r der antizipierten Empfindungsformen aufgewiesen werden können. Diese Frage ist bei der Darstellung des zweiten Grundsatzes bewußt umgangen worden, und auch hier soll n u r auf die Problemstellung hingewiesen werden. Maier hat in i h r e r erwähnten Studie b e s t r i t t e n , daß dieser Grundsatz d u r c h eine Zeitbestimmung e n t stehen kann: "das schließt schon die Auslegung a u s , die der Schematismus diesen Kategorien (sc. der Qualität) gegeben h a t . Sie sind speziell und ausschließlich den Empfindungen zugeordnet, d . h . den Vorstellungselementen, in denen 'weder die Anschauung vom Raum, noch von der Zeit, angetroffen wird'"96. Es ist in der Tat zuzugeben, daß nach Kants eigenen Äußerungen die Zeit aus der intensiven Größe und damit aus der Form der Empfindung ausgeschlossen i s t . Dabei muß es hier offengelassen werden, ob sich von vornherein dieser zweite Grundsatz einer Deutung verschließt, die die temporale Bedingtheit auch der Empfindungsformen herausarbeiten könnte. Die Strategie einer solchen Argumentation mag bloß kurz angedeutet werden: Offensichtlich soll die intensive Größe aus der extensiven abgeleitet werden, da die Stetigkeit der Empfindung (ihre
- 109 "Kontinuität") bedingt ist d u r c h die Vergleichbarkeit ("Synthesis") der jeweiligen Größen. Sofern aber jede Synthesis n u r in der Zeit erfolgen kann, ist die Form der Empfindung selbst d u r c h Zeit b e d i n g t ^ . Abschließend mag die vorgeschlagene Interpretation des zweiten Grundsatzes noch dadurch profiliert werden, daß sie von den ansonsten üblichen Interpretationsmustern abgehoben wird. Es bieten sich zwei (gleichermaßen unbefriedigende) Alternativen a n , um das schwierige Problem, wie an der Empfindung etwas antizipiert werden könne, zu lösen: Entweder wird dem Grundsatz seine Apriorität abgesprochen: sofern dann die formale Ebene überhaupt eliminiert wird, ist auch der Antizipation sbe griff ü b e r f l ü s s i g , da die Vermittlung zwischen Form und Materie kein Problem mehr bildet. Oder aber man nivelliert die spezifische Leistung der im zweiten Grundsatz entwickelten Antizipation dahingeh e n d , daß sie der Antizipation im weiteren Sinne e n t s p r i c h t . In jedem Fall werden Kants eigene Äußerungen (stillschweigend) einseitig i n t e r pretiert^. Nur letztere Interpretationstendenz ist f ü r den Antizipationsbegriff von I n t e r e s s e : sie mag noch kurz verdeutlicht werden. Kant gibt folgendes Beispiel: "Eine jede Farbe, z . E . die rote, hat einen Grad, d e r , so klein er auch sein mag, niemals der kleinste ist"99. Im Sinne jener I n t e r p r e tation wäre dann die Erkenntnis zu antizipieren, daß "jede Empfindung v e r b e s s e r t werden k a n n , und diese Verbe s s e r b a r keit ins Unendliche f o r t geht "100. D a s Antizipierte könnte dann näher als Skala ( d . i . in der T e r minologie Kants als "Kontinuität") namhaft gemacht werden, die die möglichen Orte (Grade) vom Empfindungen vorgibt und so bestimmt. Mit einer derartigen Bestimmung des Antizipierten ist freilich nicht mehr der Grad der Empfindung antizipiert, denn dieser schließt ja gerade die Möglichkeit der sukzessiven Synthesis a u s . Eine solche Deutung ebnet also das Spezifikum des zweiten Grundsatzes insofern ein, als gerade das als Antizipation ausgegeben wird, was im ersten Grundsatz entwickelt wurde und am Ort des zweiten Grundsatzes vorauszusetzen i s t : die sukzessive Synthesis als Bedingung der Möglichkeit, die extensiven Größen zu e r kennen I " 1 . (Es ist übrigens i n t e r e s s a n t , daß Kant sich an einer Stelle selbst so eklatant widerspricht, daß n u r ein d e r a r t i g e r Eingriff in den Text, der dessen Aussage ins Gegenteil v e r k e h r t , die Konsistenz der Kantischen Argumentation aufrechterhalten k ö n n t e ^ 0 2 . Im Kontext des schon mehrfach herangezogenen f r ü h e r e n Beweises lautet e s : "Das Reale in der Erschein u n g hat jederzeit eine Größe, welche aber nicht in der Apprehension angetroffen wird"103_ Dieser Aussage zufolge wäre die zu antizipierende intensive Größe gerade nichts "an" der Empfindung, sondern gehörte vielmehr dem Bereich der Verstandesbegriffe a n , wenn anders "Apprehension" als Wahrnehmung eben das empirische Bewußtsein bezeichnetl04. Freilich heißt es bereits im nächsten Satz, daß die intensive Größe "nur
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als Einheit apprehendiert w i r d " 1 0 5 , so daß tatsächlich vieles f ü r ein Versehen Kants s p r i c h t . ) Die verhandelten Probleme können n u n nicht unmittelbar einer Lösung z u g e f ü h r t werden. Es muß vielmehr die Darstellung der philosophischen Diskussion insofern vertieft werden, als einerseits noch einmal auf die Argumentation von H.Cohen zurückzukommen i s t , deren Brisanz angesichts der bei ihm vollzogenen Verbindung von Zeit und Antizipation auf dem Hintergrund der Kantischen Problemstellung deutlich geworden sein d ü r f t e . Zum a n d e r n aber - und dies ist zunächst zu berücksichtigen - soll einem Hinweis Kants hinsichtlich der Geschichte des Begriffs Antizipation nachgegangen werden: "Ohne Zweifel ist das (sc. die Antizipation der Form von E r f a h r u n g ) die B e d e u t u n g , in welcher Epikur seinen Ausdruck πρόληψις b r a u c h t e " 1 0 6 . Damit verweist Kant auf den Denker, der gemeinhin als Schöpfer dieses Begriffs angesehen wird. Dieser Hinweis genügt eigentlich einer (auch) begriffsgeschichtlich orientierten Arbeit als Legitimation, den Begriff der Prolepsis bei Epikur (und in der Stoa) zu u n t e r s u c h e n . Es wird dies aber auch f ü r eine systematisch orientierte Rekonstruktion des Begriffs e r t r a g r e i c h sein, da an einem bestimmten Punkt der innere Zusammenhang der Verwendung dieses Begriffs über gut zwei J a h r t a u s e n d e hinweg deutlich werden k a n n .
3. Kapitel "PROLEPSIS" IN DER ANTIKEN PHILOSOPHIE UND BEI KLEMENS VON ALEXANDRIEN 1. Der Schöpfer des Begriffs Prolepsis: Epikur Die folgenden Bemerkungen über die Verwendung des Begriffs Prolepsis bei Epikur, der wohl zugleich dessen Schöpfer i s t , lehnen sich weitgehend an die ausgewogene Dissertation von A.Manuwald, Die Prolepsislehr e E p i k u r s 1 an. Der große Vorzug dieser Arbeit liegt in ihrem Streben, die Prolepsislehre Epikurs aus dessen eigenen (uns freilich spärlich ü b e r lieferten) Schriften zu b e g r e i f e n , ohne vorschnell dessen sich in zahlreichen Werken niedergeschlagene Wirkungsgeschichte zu Hilfe zu nehmen. Mit diesem methodischen Verfahren gelingt es Manuwald nachzuweisen, daß die doxographischen Nachrichten über die Prolepsislehre eine einseitige Sicht derselben wiedergeben, die sich auf Grund von Epikurs eigenen Schriften revidieren läßt. Zugleich ist damit jene große Alternative der Forschungsgeschichte hinsichtlich der Entstehung der Prolepsis überholt: entweder man hielt sich an Diogenes Laertius, der Prolepsis als „μνήμη τοϋ πολλάκις εξωθεν φανέντος" 2 definiert (als "Erinnerung an das oft von außen Erschienene") - dann war die Entstehung der Prolepsis in irgendeiner Weise als "empirische" zu begreifen**; oder aber man ü b e r nahm die Äußerung des Epikureers Velleius, überliefert von Cicero 4 ,
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nach welchem die Prolepseis als "ínsitas vel potius innatas" qualifiziert werden - dann mußten die Prolepseis in der Tat als angeborene bestimmt werden^. Die Einseitigkeit beider Alternativen überwunden und zugleich den Blick in neuer Weise auf die inhaltliche Bestimmung der Prolepseis Epikurs gelenkt zu haben, ist das große Verdienst der Dissertation Manuwalds. Ohne ihre Argumentation im einzelnen nachzeichnen zu wollen, ist doch auf die entscheidenden Ergebnisse und deren B e g r ü n d u n g kurz einzugehen. Dabei soll es zunächst um die inhaltliche Bestimmung der Prolepseis gehen; ihre Entstehung kann n u r hypothetisch d a r a u s gefolgert werden, denn Epikur äußert sich selbst d a r ü b e r nicht. Die Prolepseis gehören neben den αισθήσεις und den πάθη zu den Wahrheitskriterien Epikurs®. Da die Prolepseis "nicht mit den anderen Kriterien zusammen in einem Argumentationszusammenhang a u f t a u c h e n " 7 , die Bezeichnung weiter, wie schon erwähnt, von Epikur neu geschaffen w u r d e , ist anzunehmen, daß er damit ganz bestimmte Sachverhalte, deren Wahrheit die traditionellen Kriterien nicht erweisen konnten, einer Lösung z u f ü h r e n wollte. Prolepseis beziehen sich auf Gott®, auf Körper® und auf Gerechtes 1 ®; in jedem Fall ist die Prolepsis "die richtige Wesensbestimmung von e t w a s " 1 1 , und zwar von etwas Allgemeinem. So sind die richtigen Prolepseis des Gottes seine Unvergänglichkeit und seine Glückseligkeit; ihnen stehen die falschen Hypolepseis der Menge g e g e n ü b e r . Diese Prolepseis b e t r e f f e n insofern das "Wesen" des Gottes, als sie gleichsam als conditio sine qua non jeden richtigen Redens von Gott angesehen werden können. Denn wenn Epikur s a g t : "Zunächst halte die Gottheit f ü r ein unvergängliches und glückseliges Lebewesen, wie die allgemeine Vorstellung vom Gott vorgezeichnet i s t , und füge ihr nichts hinzu, was der Unvergänglichkeit fremd und der Glückseligkeit unangemessen ist"12, so ist doch damit gemeint, d a ß , was immer man über den Gott sagen mag, es n u r dann Anspruch auf Wahrheit erheben k a n n , wenn es jenen beiden Kriterien qua Prolepseis nicht widerspricht. Sie geben also eine "Minimaldefinition"13 Gottes. Auch die Prolepseis von K ö r p e r n 1 4 bestimmen deren Wesen: sie sind "Vorstellungen" (denn sie werden,,παρ' ήμΐν αύτοίς"1^ geschaut) der d a u e r n den und der akzidentellen Eigenschaften eines Körpers, ihre Summe e r gibt dessen "Gesamtvorstellung". Dieser wiederum verdankt der Körper seine Bezeichnung 1 ®: die Prolepseis definieren also den jeweiligen Körper17. Schließlich spricht Epikur noch von einer Bezogenheit der Prolepsis (hier wird ausschließlich der Singular verwendet) auf das Gerechte 1 ®. Die Prolepsis soll hier feststellen, ob das als gerecht Geltende auch wirklich gerecht i s t : dies geschieht "durch 'Passen' ( s c . des zu Überp r ü f e n d e n ) in die Prolepsis" 1-9.
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Es wird bereits hier die Einseitigkeit der Interpretation Epikurs durch Diogenes Laertius deutlich: denn seine Definition von Prolepsis schließt deren Bezugsmöglichkeit auf Unsichtbares aus, die andererseits von Epikur selbst behauptet wird 2 ®. So verwischt Diogenes Laertius den Unterschied zwischen dem Kriterium der α'ίσθησις und dem der Prolepsis und nimmt letzterem seine Selbständigkeit 2 !. Damit wird dann auch die Entstehung der Prolepsis als "von außen" gebildete, also auf der sinnlichen Wahrnehmung fußende, zumindest fragwürdig. Ist somit Cicero doch der adäquate Interpret Epikurs, indem er die Prolepseis als angèborene Ideen ausgibt? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, ist noch einmal auf die inhaltliche Bestimmung der Prolepseis einzugehen, indem das Dargelegte zusammengefaßt und vertieft wird. Auszugehen ist dabei von jenem schon gestreiften Tatbestand, daß die Prolepseis "bei uns selbst geschaut werden" 2 2 . In der Tat ist daraus zu folgern, daß hier die Prono lepseis als Vorstellungen anzusehen sind . Wenn nun die Interpretation der einzelnen Texte richtig ist, nach der sich ergab, daß die Prolepseis die richtigen Wesensbestimmungen von etwas Allgemeinem sind - dann können sie mit der eigentlichen (richtigen) Wortbedeutung des einen allgemeinen Sachverhalt bezeichnenden Wortes identifiziert werden! Die Prolepseis hängen somit aufs engste mit Sprache zusammen, ja sie sind selbst jene "Wörter", die einen Sachverhalt richtig erfassen 2 ^. Da jedes Wort seine Prolepsis hat 2 ^, es auch Wörter für unsichtbare Dinge gibt 2 ®, können auch auf letztere Prolepseis bezogen werden. So ist abschließend gegen die Bestimmung von Prolepsis durch Diogenes Laertius zu sagen, daß sie zu einseitig auf die sichtbaren Dinge abhebt und den konstitutiven Bezug auf die Sprache vermissen läßt. Vor allem ersteres hat sich wirkungsgeschichtlich verhängnisvoll durchgesetzt: Epikur gilt bis heute als der geistige Vater der "Empiristen" aller Zeiten, von Hume bis zum Wiener Kreis. So grenzt auch Kant zunächst den Gegenstand der Prolepsis ganz im Sinne des Diogenes Laertius auf die empirische Erkenntnis ein. Zugleich gesteht er freilich Epikur die Möglichkeit einer Erkenntis a priori zu, insofern man "dasjenige, was zur empirischen Erkenntnis gehört, a priori erkennen und bestimmen kann" 2 ? - und eben jene Erkenntnis a priori sei die Bedeutung, "in welcher Epikur seinen Ausdruck πρόληψις brauchte" 2 8 . Damit geht Kant über die Definition des Diogenes Laertius hinaus, insofern dieser Prolepsis als bloße „μνήμη" bezeichnet. Auch wenn man die grundsätzliche Problematik einer Übertragung der Begrifflichkeit Kants auf das Denken Epikurs ganz aus dem Spiel läßt, wird diese Charakterisierung der Prolepsis dem von Epikur Gemeinten in zweifacher Hinsicht nicht gerecht: Erstens engt sie, wie schon bemerkt, den "Gegenstand" der Antizipation auf den Bereich der sinnlichen Erfahrbarkeit ( d . h . "Sichtbarkeit") ein, zweitens unterstellt sie Epikur
- 113 die Annahme einer Erkenntnis a priori, die sich aus seinen Schriften (ebensowenig wie aus der Doxographie) nicht ableiten läßt. Doch nicht n u r die Interpretation des Diogenes Laertius mißversteht die eigenen Aussagen Epikurs: auch Cicero kann mit seiner These, die die Prolepseis als angeborene Ideen begreifen will, sich nicht auf Epikur ber u f e n . Die Kritik an Cicero kann mit wenigen Bemerkungen über die E n t s t e h u n g der Prolepseis v e r b u n d e n werden. Die Prolepseis entstehen gleichzeitig mit den Wörtern als deren wahre Bedeutungen. Das Wort aber entsteht nicht d u r c h Setzung, sondern d u r c h Empfindungen und Wahrnehmungen des zu nennenden Gegenstandes. Die Wörter der nicht sichtbaren Gegenstände "wurden d u r c h einzelne Einsichtige eingef ü h r t " ^ ; es leuchtet ein, daß im Regelfall Sinneseindrücke die richtige Bedeutung der Wörter bestimmen. Von angeborenen Ideen kann also keine Rede sein: die Prolepseis entstanden d u r c h alle zugänglichen Sinneseindrücke (hinsichtlich der sichtbaren Dinge), bzw. d u r c h wenige Einsichtige (hinsichtlich der unsichtbaren Dinge). Von diesem "historischen Stadium" der Entstehung der Prolepseis ist ein späteres zu t r e n n e n . Denn so wie die Wörter tradiert und nicht jedesmal neu gebildet werd e n , so werden auch die Prolepseis mit den Wörtern ü b e r t r a g e n . Für den "späteren" Menschen liegen also die Prolepseis immer schon in der Kenntnisnahme der Wörter vor30, er "lernt" sie mit den Wörtern "kennen". Damit wird zugleich die Wortwahl E p i k u r s , die wahren Wortbedeutungen als ,,προ-λήψεις" zu bezeichnen, einsichtig: sie sind immer schon vorgegeben. Aus den erhaltenen Schriften Epikurs läßt sich nichts d a r über ausmachen, ob mit Prolepsis auch ein Vorgang gemeint sein könnte, was ja die Wortbildung (προ-λαμβάνω: ich nehme vorweg) nahe legt . So kann man zusammenfassend sagen: Die Prolepseis nehmen als Definitionen einer Sache jedes weitere Reden über dieselbe vorweg, insofern sie das Kriterium an die Hand geben, ob diese weitere Rede wahr, d . h . der Sache entsprechend oder eben falsch i s t . Die Prolepseis - und dies ist ihre eigentliche Funktion - stellen also Fixpunkte d a r , die richtiges Reden über Sachen ermöglichen. Als solche können sie nicht mehr h i n t e r f r a g t werden32.
2. Die Prolepsislehre der Stoa Wie schon bei Epikur, so spielt auch in der Stoa die Prolepsis ihre e n t scheidende Rolle im Zusammenhang der Erkenntnislehre (Logik). Zenon ordnet bekanntlich - in Anlehnung an traditionelles Gedankengut - die drei "Disziplinen" der Philosophie im Bild des F r u c h t g a r t e n s so einander zu: Die Logik umgibt und schützt als Mauer die Bäume des Gartens; die Physik (zu ihr gehört auch die Theologie) stellt den eigentlichen F r u c h t g a r t e n , insbesondere die Bäume d a r , während deren Früchte der Ethik korrespondieren. So ist die Logik der s i c h e r s t e , die Physik der e r h a b e n s t e , die Ethik aber der wichtigste Bereich der P h i l o s o p h i e 3 3 .
- 114 Die f ü r unseren Zusammenhang allein interessierende Logik hat somit eindeutig dienende Funktion: "Sie sollte das System vor Angriffen schützen und dem Bekenner unerschütterliche Sicherheit f ü r seine L e b e n s f ü h r u n g g e b e n D e n "Zweck der Lebenskunst "35 freilich konnte sie nicht e r füllen: dies blieb den beiden anderen Teilen der Philosophie vorbehalten. Wenn bisher von "der" stoischen Logik die Rede war, so sollen damit nicht die erheblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer über fünf J a h r h u n d e r t e andauernden Entwicklung stillschweigend ü b e r g a n gen werden. Eine genauere Analyse des zu untersuchenden Begriffs wird ständig auch dessen historischen Standort mitberücksichtigen müssen, soweit dies angesichts der fragmentarischen Quellen überhaupt möglich i s t . Hier soll jedoch der Alten Stoa besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden, wobei im Anschluß an die gängige, gewiß nicht befriedigende, aber derzeit immer noch alternativlose Methode die stoische Logik zunächst einmal mit der Chrysipps identifiziert wird^ß. Bevor wir uns jedoch die spezifische P r ä g u n g der stoischen Prolepsis vor Augen stellen können, muß in groben Strichen die Erkenntnislehre der Stoa skizziert werden, um das Ganze des Systems zu gewinnen, innerhalb dessen die Prolepsis zum Tragen kommt ^ .
a) Die E n t s t e h u n g der "Vorstellung" Der stoischen Erkenntnislehre, genauer der "Lehre vom 'Kriterium' der Erkenntnis"3®, - die ja n u r einen Teil der Logik ausmacht, der noch D i a l e k t i k ^ und Rhetorik 4 ^ zuzurechnen sind - kommt es auf den Prozeß des Erkennens a n ^ . Auszugehen ist dabei von der antiplatonischen These, daß es keine von sinnlicher Wahrnehmung(αΐσθησις42) unabhängige Erkenntnis gibt. Dies gilt als "selbstverständlicher E r f a h r u n g s s a t z " , der den sensualistischen Ansatz von Zenons Erkenntnistheorie belegt 4 "*. Damit ist zugleich der Ausgangspunkt g e n a n n t , von dem aus die Wahrheit oder Falschheit einer Erkenntnis festgestellt werden kann: "illud autem, quod movet, p r i u s oportet videri eique credi ; quod fieri non p o t e s t , si i d , quod visum e r i t , discerni non poterit a f a l s o " 4 4 . Das bedeutet freilich n i c h t , daß die sinnliche Wahrnehmung auch schon das hinreichende Kriterium f ü r die Wahrheit der Erkenntnis böte: anders als bei dem an diesem Punkt doch konsequenter sensualistisch denkenden E p i k u r 4 5 , dient bei Zenon, wie wir noch sehen werden, der Logos des Menschen als kritische Instanz 4( >. Jedenfalls zieht der Erkenntnisprozeß, wenn a n d e r s er mit der sinnlichen Wahrnehmung a n h e b t , die Anschauung nach sich, daß das im Menschen f ü r die Erkenntnis zuständige Organ bei seiner Geburt als "leer", als "tabula r a s a " gedacht werden muß. Nun kommt freilich die sinnliche Wahrnehmung nicht direkt in dieses "Zentralorgan der Seele" (το ήγεμονικόν)4?: sie ist zunächst n u r ein "physiologischer Vorgang" 4 ®, der dem Hegemonikon "durch das in
- 115 den Sinnenorganen zirkulierende Pneuma"^® zu übermitteln ist. Gelingt diese Vermittlung, so entsteht die „φαντασία": sie erst ist e s , die "in der Seele wie Siegelabdrücke in einer Wachsmasse abgeprägt (wird)" 5 ^. Die Phantasia ermöglicht also die Erkenntnis der Außendinge - allerdings n u r d a n n , wenn zu ihr die "Synkatathesis" h i n z u t r i t t 5 1 . Dies hängt mit dem aktiven Charakter des Logos zusammen, der in der Phantasia als bloßem Pathos nicht zum Zuge kommen k a n n 5 ^ . Die E r f o r s c h u n g des Logos bildet bekanntlich das die philosophischen Bemühungen der Stoa s t r u k t u r i e r e n d e Moment, wobei der Logos - in Anlehnung an Heraklit - von vornherein den Bezug von Innen- und Außenwelt vermitteln soll 5 3 . Sofern aber der Logos diese Beziehung allererst s t r u k t u r i e r t und gestaltet, ist es unmöglich, daß er selbst gegenüber der Außenwelt bloß leidend i s t : deshalb muß der Phantasia eine weitere Komponente im Erkennntnisprozeß an die Seite gestellt werden, die "den aktiven Charakter und die Autonomie des Logos sicherstellt" 5 ^. Diese Aufgabe löst, wie g e s a g t , die Synkatathesis als die "Zustimmung" zu der Phantasia - durch sie fällt der Logos ein Urteil, "das freilich an sich nicht über den objektiven Wahrheitsgehalt entscheidet, wohl aber über die Gültigkeit der V o r s t e l l u n g " ^ . Dies ist so zu v e r s t e h e n , daß erst die vollzogene Synkatathesis der als Vorstellung (Phantasia) zugänglich gewordenen sinnlichen Wahrnehmung Geltung f ü r das menschliche Erkennen bzw. Handeln verleiht. Bis hierhin kann noch nicht zwischen Tieren und Menschen unterschieden werden; erst wenn die Vorstellungen zu Allgemeinbegriffen werden, kommt das spezifisch Menschliche zum Vorschein. Da im Zuge dieser Argumentation der Begriff Prolepsis zum Tragen kommt, soll etwas genauer darauf eingegangen werden.
b ) Einführende Bemerkungen über die Stellung des Begriffs Prolepsis in der Alten Stoa Es soll also gezeigt werden, wie von den Vorstellungen (φαντασίαι) a u s gehend Allgemeinbegriffe (ëwoiai) e n t s t e h e n . A e t i o s ^ schildert diesen Schritt sehr präzise: Zunächst gilt, daß man sich der Vorstellungen e r i n n e r t . "Wenn aber viele gleichartige Erinnerungen entstanden s i n d , dann sagen wir, daß wir E r f a h r u n g h a b e n " 5 ? . Die "Empeiria" darf aber noch nicht mit der Ennoia identifiziert werden: diese entsteht erst in quasi assoziativer Weise d u r c h Ähnlichkeit, d u r c h Analogie, d u r c h Verä n d e r u n g , d u r c h Zusammensetzung, durch Setzung des Gegenteils 5 ^ oder auch "unmittelbar im Anschluß an die sinnliche Wahrnehmung" 5 ®. Der entscheidende Unterschied zwischen Ennoia und Empeiria liegt jedenfalls d a r i n , daß n u r e r s t e r e losgelöst von einem sinnlichen Gegenstand existieren k a n n , während letztere als "Fülle der gleichartigen Vorstellungen"®^ durch den Bezug auf eben diese "Phantasien" konstituiert i s t ^ l . Auch wenn man von der "Lückenhaftigkeit" des Textes a u s g e h t ,
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die ja gerade da, wo es um eine präzise Bestimmung der Beziehung von Empeiria und Ennoia geht, a u f t r i t t , kann verhältnismäßig sicher ein Bezug beider hergestellt werden. Denn der Tenor der Argumentation zielt doch darauf aufzuzeigen, daß auf das Hegemonikon qua „χάρτη" eine jede der "Ennoiai" aufgeschrieben wird®^. "Die e r s t e Art der Aufschrift aber ist die d u r c h die α'ίσθησις"^^. von hier aus kommt es dann über die Phantasie und die d u r c h die Erinnerung ermöglichte Empeiria zur Ennoia. Letztere setzt also jene verschiedenen "Aufschriften" des Hegemonikon sie gleichwohl überbietend - voraus®^. Bis hierhin h e r r s c h t in der Forschung noch größtenteils Einigkeit. Schwierig wird es e r s t , wenn es darum g e h t , Prolepsis und Ennoia a u f einander zu beziehen. Damit schließt der erwähnte Passus von Aetios die Bestimmung der Ennoia ab: Es gibt näher zwei Arten von Ennoiai, solche, die "auf natürliche Weise entstehen . . . und nicht künstlich gemacht (werd e n ) " (um jene ging es bis j e t z t ) , und solche, die durch "unsere Lehren und unsere Bemühungen" entstanden sind. "Diese werden nun ausschließlich Ennoiai g e n a n n t , jene auch Prolepseis"® 5 . Hinsichtlich der Zuordn u n g von Ennoia und Prolepsis macht der Text somit eine eindeutige Aussage: Letztere ist ein Unterbegriff von e r s t e r e r . Nur die Ennoiai, die "auf natürliche Weise e n t s t e h e n " , können auch Prolepseis genannt werd e n , während es d a r ü b e r hinaus noch a n d e r e , d u r c h "menschliche(s) Bemühen"®® entstandene gibt. Allein jene sind somit f ü r unser Thema von Interesse und müssen deshalb näher u n t e r s u c h t werden® 7 . Könnten die auf natürliche Art und Weise entstehenden Ennoiai allen Menschen zugesprochen werden, müßten sie mit den κοιναί εννοιαι identifiziert werden. Dies ist in der Tat des öfteren geschehen: So argumentiert noch G.Watson, d a ß , "since we have them (sc. προλήψεις) by n a t u r e and they do not depend on our own particular environment or education . . . , they are common to all men and so they are also called the κοιναί εννοιαι "68. Den geistigen Vater dieser Anschauung wird man in A.Bonhöffer zu erblicken haben, der in dem fundamentalen Werk über "Epictet und die Stoa"®® nachdrücklich die Identität von κοινή έννοια mit Prolepsis herausgestellt h a t . Damit hängt zusammen, daß er die φυσικαί προλήψεις auf das Feld des Ethischen b e s c h r ä n k t ^ (und das des Göttlichen): sowohl f ü r die Vorstellung des Begriffs des Guten als auch des Begriffs der Gottheit gilt nämlich am e h e s t e n , daß sie allen Menschen zukommen, somit tatsächlich allgemein sind. (Hier wird in der Stoa der schwierige Begriff „έμφυτος" verwendet, auf den noch einzugehen ist. ) Auch J.Behm bezeichnet in seinem Artikel „έννοια" 7 ^ die Prolepseis als κοιναί ëvvoiai; sie sind "geistiges Allgemeingut aller Menschen, von allen gleichermaßen ursprünglich erworben (nicht angeboren) u ( n d ) dem Bewußtsein e i n g e p r ä g t " 7 ^ . So gilt e s , unter besonderer Berücksichtigung jener beiden Aspekte die Verwendung des Begriffs "Prolepsis" in der Alten Stoa zu klären.
- 117 c) Die Allgemeingültigkeit der Prolepsis 70 Bereits 1930 wurde von F.H.Sandbach der Versuch unternommen, das Verhältnis von Ennoia und Prolepsis in anderer als in der seit Bonhöffer im allgemeinen akzeptierten Weise zu bestimmen. Er geht davon a u s , daß die Verwendung des Begriffs "κοιναί προλήψεις" n u r dann sinnvoll i s t , wenn es auch solche Prolepseis gibt, denen das Merkmal der "Allgemeinheit" f e h l t ^ . Diesem "negativen" Argument stellt er den positiven Befund an die Seite, daß derselbe Plutarch, der als Kronzeuge der Universalität der Prolepseis gilt, auch die „ιδίας προλήψεις" kennt75. Weiter und das scheint mir das aussagekräftigere Argument zu sein - muß Bonhöffer zur Erklärung seiner These der grundsätzlichen Universalität von Prolepseis annehmen, daß Aetios "die Bezeichnung πρόληψις irrtümlich auf solche Begriffe ausgedehnt h a t , auf welche sie, wenigstens im engeren Sinne, nicht passt"76. Denn, wie deutlich wurde, sind nach Aetios gerade die Ennoiai als Prolepseis zu bezeichnen, die auf natürlichem Wege d u r c h die E r f a h r u n g e n t s t e h e n . Wenn dies aber das hinreichende Kriterium von Prolepsis im Sinne des Aetios i s t , dann ist in der Tat Sandbach Recht zu geben, wenn er s a g t : "There must be many conceptions that cannot possibly be universal, yet arise naturally from experience, and ought t h e r e f o r e , according to Aetius, to be preconceptions"77. Diese Ablehnung der Allgemeingültigkeit der Prolepseis braucht d u r c h a u s nicht mit dem anderen Sachverhalt in Widerspruch zu t r e t e n , daß nämlich die Stoiker "den spontan auf Grund der V e r n u n f t n a t u r e n t s t a n d e nen Prolepseis f ü r die Erkenntnis einen besonderen Wert beilegten"78. Denn wenngleich "sich auch die Prolepseis im Kinde nach der allgemeinen S t r u k t u r des menschlichen Geistes bilden, so ist dieses doch von vornherein auch den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt "79, und es ist damit noch lange nicht gesagt, daß diese φυσικαί εννοιαι f ü r alle Menschen dieselben sind. Weiter kann dann auch - nimmt man die Definition von Aetios e r n s t Prolepsis nicht auf das Gebiet des Ethischen beschränkt werden: denn hier muß in der Tat deren Allgemeingültigkeit behauptet werden. So erweist sich sowohl Bonhöffers "weiterer" Sinn von Prolepseis, bei dem jene mit "jede(r) £woia"80 identifiziert werden, als u n s c h a r f , als auch der "spezielle(n)" Sinn, nach dem die Prolepseis "έμφυτοι εννοιαι ( s i n d ) , d . h . die praktischen Begriffe des Guten, Schönen, Geziemenden e t c . " 8 1 . Diese Widerlegung Bonhöffers hängt freilich von dem Nachweis a b , daß Aetios in adäquater Weise das Verhältnis von Ennoia und Prolepsis wied e r g i b t . Sandbach konnte die Behauptung der grundsätzlichen Universalität der Prolepseis d u r c h den Verweis auf Plutarch widerlegen: dad u r c h wurde die Version des Aetios - indirekt - u n t e r s t ü t z t . Nun läßt sich in der Alten Stoa kein Nachweis finden, daß Prolepsis auch a u ß e r halb des ethischen Bereichs verwendet wird. Doch Sachbach f ü h r t dies darauf z u r ü c k , "that in our fragments the word £ννοια is used where the more definite term πρόληψις might have been used if accuracy had been consulted "82.
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In dem Bewußtsein, nicht mehr als einen Überblick über die Diskussion des Verhältnisses von Ennoia und Prolepsis gegeben zu h a b e n , fassen wir den E r t r a g noch einmal zusammen, um von da aus eine e r s t e Definition f ü r unseren Begriff zu gewinnen. Prolepsis, so behaupten wir im Anschluß an Sandbach und Pohlenz, kann nicht mit den „κοιναί εννοιαι" identifiziert werden, wenngleich sie diese umfaßt. Positiv lassen sich die Prolepseis als ,,φυσικαί εννοιαι" definier e n ^ , die als so bestimmter Unterbegriff der Ennoia jene Ennoiai, die durch den eigenen Denkakt oder durch Erziehung "künstlich" e n t s t e h e n , ausschließen. Die Prolepseis sind also aus der E r f a h r u n g gewonnene (φυσικώς) allgemeine "Begriffe", die sich "im Kinde nach der allgemeinen S t r u k t u r des menschlichen Geistes bilden"*^: als solche sind sie eine Teilmenge der Ennoiai, während die κοιναί εννοιαι wiederum eine Teilmenge der Prolepseis darstellen. Die Funktion der Prolepseis aber besteht d a r i n , den Logos, an dem alle Menschen als „λογικοί" teilhaben, bis zum siebten Lebensjahr "anzufüll e n " ^ . Es wird d u r c h sie gleichsam die Voraussetzung f ü r die bewußte Bildung der Ennoiai d u r c h den Logos geschaffen. Hier wird nun auch deutlich, warum gerade der Terminus ,,πρό-ληψις" f ü r diesen Sachverhalt gewählt wurde: die φυσικαί εννοιαι werden vom Kinde schon "vorweg-genommen", das heißt es geht immer schon mit ilvnen um, bis es in der Lage i s t , bewußt Begriffe zu bilden und sie gedanklich zu zergliedern. Auch damit ist freilich nicht impliziert, daß die Prolepseis sich n u r auf die κοιναί εννοιαι beziehen müssen: man könnte ja aus dem Satz, daß "aus den Prolepseis der Logos angefüllt wird", die Universalität der Prolepseis erschließen, insofern ja auch alle Menschen am Logos in irgendeinem Sinne teilhaben. In diesem Sinne interpretiert Watson jenen Sachverhalt, der im Zusammenhang damit die Gegenüberstellung von εννοιαι μόνον und προλήψεις so deutet : "A man could grow up lacking experience of certain ordinary colours or t a s t e s , e t c . , t h r o u g h some defect in his education or environment, and still be a reasonable man"86. Auch wenn diese I n t e r p r e tation keinen unmittelbaren Anhalt an den Aussagen des Textes finden k a n n , sie aber sicher nicht einfach von der Hand zu weisen i s t , hat sie jedenfalls nicht die von Watson behauptete Konsequenz, man müsse zwischen "individual p a t t e r n s of the εννοιαι μόνον" und den "κοιναί εννοιαι or προλήψεις"*®7 t r e n n e n . Denn auch als φυσικαί εννοιαι können die Prolepseis ihre Funktion wahrnehmen und die Tätigkeit des Logos vorbereit e n : die volle Klarheit über die S t r u k t u r der Prolepseis wird sowieso erst d u r c h die διάθρωσις ( "Zergliederung"*^) nach der Ausbildung des Logos e r r e i c h t . Abschließend soll noch auf einen Beleg kurz verwiesen werden, der die vorgetragene These der Identifizierung von Prolepsis mit φυσικαί εννοιαι untermauert : er findet sich bei Diogenes Laertius, d e r folgende Definition des Diokles von Magnesia wiedergibt: πρόληψις ist ein " n a t u r h a f t e r
- 119 Begriff des Allgemeinen"®®. Alles hängt natürlich von der Interpretation von „τα καθόλου" ab. Geht man von jener weiten Bestimmung d e r φυσικαί ewoiaiaus, die auch die aus der E r f a h r u n g gewonnenen allgemeinen Begriffe umgreift, so kann man zwanglos jene Definition als '"natural conception of the general characteristics of a thing'"90 begreifen. Bonhöffer muß wegen der Restriktion der Prolepsis auf das ethische Feld das ,,τά καθόλου" auf "die elementaren praktischen Begriffe" beziehen, die als allgemeine "den bestimmten Begriffen, die aus der E r f a h r u n g a b s t r a hiert sind, wie z . B . die έννοια λευκοϋ " 9 1 g e g e n ü b e r s t e h e n . Sieht man hingegen jene aus der E r f a h r u n g gewonnenen Begriffe als Bestandteil der φυσικαί εννοιαι a n , so läßt sich in der Tat Bonhöffers Interpretation nicht halten92.
d ) „"Εμφυτοι προλήψεις" Wenn wir uns im folgenden kurz der stoischen Ethik zuwenden, so kann es auch hier n u r um den Stellenwert der Prolepsis gehen, die in diesem Zusammenhang näher als „έμφυτος πρόληψις" charakterisiert wird. Die schroffen Alternativen der Forschung ablehnend, denen zu folgen bedeutet h ä t t e , entweder auch hier an einer rein sensualistischen Erklär u n g festzuhalten 9 ^, oder aber - diametral entgegengesetzt - eine aprioristische Erklärung dieser Prolepsis zu geben*", gelang Pohlenz ein einleuchtender Mittelweg, indem er mittels der "Oikeiosislehre" die „έμφυτοι προλήψεις" als '"die in u n s e r e r Natur mitgegebenen'" 9 ^ Begriffe bestimmt e . Es mag f ü r unseren Zusammenhang genügen, knapp die einleuchtende Argumentation bei Pohlenz zu r e f e r i e r e n A u s z u g e h e n ist dabei von dem ethisch relevanten Problem, wie die Entstehung von Werturteilen und Wertbegriffen im Menschen zu denken i s t . Dies scheint überhaupt n u r dann d e n k - b a r zu sein, wenn an der Apriorität dieser Begriffe f e s t g e halten wird: denn wie sollten "Werte" empirisch wahrgenommen werden? Die Lösung dieses Problems, die ohne Annahme von sittlichen Begriffen a priori auskommt, wird durch die Oikeiosislehre gewonnen. Die Alte Stoa - der Sache nach bereits Zenon 9 7 - l e h r t e , "daß jedes Lebewesen von Geburt an auch eine Wahrnehmung, Synaisthesis, seiner selbst und seines Wesens hat" 9 ®. Näher ist diese " ' Z u e i g n u n g ' " 9 9 ("Oikeiosis") als Trieb zu f a s s e n , sich selbst "unversehrt zu erhalten und zu entfalten"1®®. So entsteht eine e r s t e Wertung: all dies, was diesem Ziele f ö r derlich i s t , muß als g u t , das Gegenteilige aber als schlecht angesehen werden. Dem Kind eignet freilich keine klare begriffliche E r f a s s u n g des Guten ( " g u t " und "nützlich" ist auch f ü r die Stoa identisch) bzw. Schlechten: ihm kommt n u r ein "unbestimmter 'Vorbegriff'" 1 ® 1 zu. Und eben d a r i n , in den jeweiligen Vorbegriffen d e s s e n , was in bestimmten Situationen gut i s t , sind die „έμφυτοι προλήψεις" zu erblicken 1 ® 2 . Von den zahlreichen Belegen, die Pohlenz zur U n t e r s t ü t z u n g seiner These heranzieht 1 ®^, sei abschließend n u r auf den Dialog P l u t a r c h s ,
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De communibus notitiis, hingewiesen, wo er zwischen den "äußeren Wahrnehmungen" und den Dingen, die "von Anfang an bei unserer Geburt zusammen mit unserer Natur (σύμφυτον) da s i n d " 1 0 4 , unterscheidet. Demnach bilden die έμφυτοι προλήψεις "eine eigene Gruppe, die sich von den übrigen (sc. den naturhaft sich entwickelnden Prolepseis) dadurch unterscheidet, daß sie nicht aus der äußeren Erfahrung stammt, sondern aus dem Erleben unseres Ich "105.
e ) ,,Πρόληψις θεοϋ" Eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen den Prolepseis als φυσικαί εννοιαι einerseits und den έμφυτοι προλήψεις andererseits nimmt in der Stoa die πρόληψις θεοϋ ein: auf sie mag daher - und wegen ihrer gleich zu zeigenden Relevanz bei Klemens von Alexandrien - noch kurz hingewiesen werden. Den Ausgangspunkt für die Entstehung einer Gotteserkenntnis bildet die jedem Menschen eignende, ja geradezu sein Menschsein konstituierende 10 ® subjektive Anlage zur Ausbildung eines Gottesbewußtseins. Von daher ist die Gotteserkenntnis als "notwendige und natürliche (έμφυτος) Vorstellung, die in jedem vernunftbegabten (Wesen) gemäß seiner Natur entstanden i s t " 1 0 7 , bezeichnet worden. Diese Kennzeichnung würde es nahelegen, die πρόληψις θεοϋ mit den έμφυτοι προλήψεις im ethischen Sinne zu identifizieren, sofern beide auf innerer Erfahrung beruhen. Dem steht aber der augenfällige Befund gegenüber, daß äußere Erfahrung hinzukommen muß, durch die das Gottesbewußtsein allererst zur Ausbildung gelangen kann, und es ist eben diese äußere Erfahrung, aus der "ganz allgemein und naturhaft bei dem Menschen die Prolepsis (erwuchs), daß . . . ein ewiges, vollkommenes Vernunftwesen fürsorglich in der Welt walte" 1 0 ®. Erst diese Minimaldefinition Gottes, die nicht nur seine Existenz, sondern auch seine Essenz b e t r i f f t 1 0 9 , und nicht schon das Angelegtsein der Menschen auf Gott hin, wird also als πρόληψις bezeichnet, und zwar analog zu den φυσικαί εννοιαι 1 1 0 , sofern beide auf äußerer Erfahrung beruhen, sich aber allgemein und naturhaft im menschlichen Geiste bilden. Es ist interessant, daß es für die Stoa offenbar wichtiger ist, auf die proleptische Struktur der ausgebildeten Gotteserkenntnis zu verweisen als auf die Anlage zum Gottesbewußtsein, die ja analog den έμφυτοι προλήψεις als "unbestimmter V o r b e g r i f f " der Gotteserkenntnis beschrieben werden könnte. Dies kann jedoch plausibel werden, wenn berücksichtigt wird, daß die offensichtliche Verschiedenheit der Gottesvorstellungen in den einzelnen Völkern scheinbar in Widerspruch tritt mit der behaupteten Allgemeinheit der menschlichen Gotteserkenntnis. Von daher wird es verständlich, wenn der Akzent auf die proleptische Struktur der ausgebildeten Gotteserkenntnis gelegt wird - nicht, um deren Vorläufigkeit zum Ausdruck zu bringen, wohl aber, um die zur Lösung dieses Widerspruchs notwendig gewordene Zergliederung (διάθρωσις) 111
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der πρόληψις θεοΟ rechtfertigen zu können. Denn analog zur kindlichen Prolepsis kann durch die Kennzeichnung der natürlichen Gotteserkenntnis als proleptischer erklärt werden, daß die zur Katalepsis führende διάθρωσις auf jene Gotteserkenntnis Anwendung findet 1 1 '*, u n ( j Z W ar unter Beibehaltung ihrer vorausgesetzten Allgemeinheit. Diese skizzenhaften Bemerkungen über den stoischen Begriff der πρόληψις θεοϋ dienten dazu, die Darstellung der stoischen Prolepsislehre abzurunden und darüber hinaus das Verständnis der Funktion von Prolepsis in der Patristik vorzubereiten, das in exemplarischer Weise bei Klemens von Alexandrien untersucht werden soll. 3. Prolepsis als Pistis bei Klemens von Alexandrien
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Die den vor anstehenden Abschnitt abschließenden Bemerkungen über die stoische πρόληψις θεού geben zugleich den Ausgangspunkt für die folgende Darstellung an: im fünften Buch der "Stromateis" wird eben jene natürliche Gotteserkenntnis als Prolepsis bestimmt : "Deshalb hat jedes Volk . . . eine einzige und die nämliche Vorstellung (Prolepsis) von dem, der die Weltherrschaft begründet hat" 1 1 ^. D j e s ist deshalb so, weil kein Geschlecht zu leben vermag, es sei denn, daß es sich zuvor für den Glauben an den Höchsten gewinnen hat lassen 1 1 ·*. Dieser Glaube aber ist eine „πρόληψις", weil er "vorweggenommen" (αντιλαμβάνειν) wird: "Alle Wesen gewinnen von allen Ausgangspunkten her eine Beziehung (αντιλαμβάνεται) zu dem Vater und Schöpfer des Weltalls durch ihre natürliche Anlage und ohne Unterricht"! 16. Diese Anschauung über die πρόληψις θεού bei Klemens 11 ^ unterscheidet sich zwar dadurch von der Stoischen, daß jener Sachverhalt als Glaube (πίστις) präzisiert wird. Davon abgesehen stimmen Klemens und die Stoa bezüglich der natürlichen Gotteserkenntnis darin überein, daß die Prolepsis sich ,,εμφυτως" und ,,άδιδάκτως" vollzieht, obschon sie zu ihrer Entfaltung auf äußere Erfahrung angewiesen ist: es ist die Furcht, die analog der Stoa 11 ® als äußere Erfahrung zur natürlichen Gotteserkenntnis führt, die allerdings bei Klemens auf die Zeit der Kindheit beschränkt scheint, da ihr die "selbständige Überlegung" an die Seite gestellt wird, womit wohl die Zergliederung im Sinne der διάθρωσις und die wissenschaftliche Begründung, die die kataleptische Qualität der Prolepsis dartun sollen, entsprechend den obigen Ausführungen 11 ^ gemeint sein dürften. Es bedarf kaum einer Erwähnung, daß jene natürliche Gotteserkenntnis das Proprium des christlichen Glaubens nicht in den Blick kommen läßt: sie ist eng begrenzt und nur „κατά περίφρασιν" wahr, denn die Griechen vermögen weder zu sagen, "was er (sc. Gott) ist, noch inwiefern er Herr (κύριος) und Vater und Schöpfer ist; auch kennen sie den sonstigen Heilsplan der Wahrheit nicht"120_ Gerade angesichts dieser Entgegenstellung des christlichen Glaubens gegenüber dem der Griechen muß aber
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besondere Aufmerksamkeit erregen, daß auch der christliche Glaube als Prolepsis bestimmt wird. Um die Analyse dieser klementinischen "Antizipationstheorie "121 soll es im folgenden gehen. Die Ausführungen des Klemens über das Wesen des Glaubens, die erstmals grundsätzlicher Art sind, setzen im zweiten Kapitel des zweiten Buches ein. Nach einer für die Art der Klementinischen Argumentation bezeichnenden Mischung von Schriftstellen und eigenen Erwägungen zu Beginn dieses Kapitels 1 2 2 , die als Introduktion zu dem folgenden, ungleich systematischeren Gedankengang gedeutet werden könnten - sofern sie nämlich darauf zielen, "die freie Entschließung zum Glauben als den Anfang der religiösen Erkenntnis" 12 ^ darzutun - , erfolgen mehrere Definitionen des Glaubens, deren erste bereits für unsere Fragestellung relevant ist : "Der Glaube aber, den die Griechen verschmähen, weil sie ihn für leer und barbarisch halten, ist eine freiwillige Prolepsis, eine Zustimmung aus Gottesfurcht" 1 2 ^. Wir wollen zunächst die Funktion der Kennzeichnung des Glaubens als proleptischen klären, um so die schwierigere Interpretation der ,,πρόληψις έκούσιος" vorzubereiten. Es ist wichtig zu sehen, daß der Schmähung, die dem christlichen Glauben durch die Griechen widerfährt, seine proleptische Struktur entgegengehalten wird: offenbar meint Klemens, durch die Identifizierung des Glaubens mit dem den Griechen bekannten Terminus ,,πρόληψις" gerade dem Vorwurf seiner "Leere" im Sinne von Inhaltslosigkeit und Unbegründetheit 12 ·* wehren zu können. Dabei scheut sich Klemens nicht, die sinnliche Wahrnehmung, die, wie wir sahen, den Ausgangspunkt für die Entstehung der φυσικαί εννοιαι qua Prolepseis in der Stoa bildete 12 ® .und auch eine wesentliche Rolle für die Prolepsislehre Epikurs spielte 1 2 '', zur Geltung zu bringen. Hierfür können drei Belege herangezogen werden: Zunächst beruft sich Klemens ausdrücklich auf die Definition von Prolepsis bei Epikur, der sie als "den auf etwas Augenscheinliches und auf das augenscheinlich richtige Bild von einer Sache aufgebauten Begriff" 1 2 ® bestimme. Für unseren Zweck genügt der Hinweis darauf, daß „εναργής" auch den Bereich der Sinnlichkeit thematisieren kann 12 ^, was durch folgenden Beleg sichergestellt wird: "την φαντασίαν, ήν και ένάργειαν καλεί, . , . " 1 * ^ . Wenn tatsächlich Klemens jene Definition von Antiochus von Askalon übernommen haben sollte 1 "* 1 - und es findst sich "keine Vergleichsstelle in diesem Sinne bei Epikur" 1 ^ 2 - , so könnte „εναργής" im Sinne des Antiochus auf sinnliche Wahrnehmung bezogen werden, ohne mit der früher dargestellten Prolepsislehre Epik u r s 1 ^ , derzufolge sich die Prolepsis auch auf Unsichtbares bezieht, zu konkurrieren. Ein zweiter Beleg lenkt auf die Prolepsislehre der Stoa. Anders als bei Epikur ist die Prolepsis in der Stoa noch nicht das letzte Glied im Erkenntnispro zeß, sofern die sie bewahrheitende Klärung oder Zergliederung erst Erkenntnis als Katalepsis gewährleistet. Darauf verweist Klemens , wenn er im Anschluß an das Epikurzitat fortfährt : "Wie könnte
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jemand, der keine Prolepsis von dem hat, wonach er strebt, das lernen, was er erforschen will? Der es aber lernt, macht die Prolepsis zur Katalepsis" 1 3 4 . wir müssen auf diese Verhältnisbestimmung gleich noch einmal zurückkommen: hier genügt zunächst der Hinweis, daß eben diese Prolepsis, die Voraussetzung für das zur Katalepsie führende Lernen ist, wenig später als eine "Art natürlicher Kunst" 1 3 ^ beschrieben wird. Dies erinnert an die stoische Prolepsislehre, und zwar an die φυσικαί εννοιαι, die ja bekanntlich äußere Erfahrung zum Ausgangspunkt h a b e n 1 3 6 . Schließlich verweist Klemens zustimmend auf Theophrastus (etwa 370287, dem Mitbegründer der peripatetischen Schule), der sagt, "die sinnliche Wahrnehmung sei der Anfang des Glaubens" 1 3 ^. Der vorgetragene Befund läßt sich zusammenfassend dahingehend deuten, daß nach Klemens der christliche Glaube von demselben Sachverhalt ausgeht wie das Wissen (επιστήμη) der verschiedenen Philosophenschulen: der sinnlichen Erfahrung. Es ist näherhin die Fähigkeit des H ö r e n s 138, u n d zwar des Hörens auf die göttlichen Schriften 1 3 ^, die nach Klemens als der sinnlich wahrnehmbare Ausgangspunkt des Glaubens angegeben werden kann. Die Wahrheit des Glaubens ist von diesem Ausgangspunkt her freilich noch nicht erwiesen, aber die der επιστήμη im übrigen auch nicht. Die Wahrheit des Glaubens und seine Überlegenheit über jedes menschliche Wissen gründet darin, "daß die Christen nicht irgendwem, sondern dem göttlichen Logos selber glaub e n " 1 4 ^ . Es ist die "Stimme Gottes" selbst, die der zu hören bekommt, der den göttlichen Schriften glaubt 1 4 1 . Dieser wirkungsgeschichtlich bedeutungsvolle Sachverhalt 1 4 2 braucht hier nicht weiter ausgebreitet zu werden: worauf es ankam, war darzulegen, daß Klemens seine Antizipationstheorie entwickelt, um dem Glauben einen festen Platz innerhalb der Erkenntnistheorie der Antike anzuweisen, und zwar einen solchen Platz, der den Glauben als proleptischen wegen dieser Strukturanalogie zum Wissen (έπιστήμη) bereits als vernünftigen ausweist. Diese Strukturanalogie ist nun nicht nur bezüglich der sinnlichen Wahrnehmung als beider gemeinsamer Ausgangspunkt gegeben, sondern darüber hinaus läßt sich eine noch weitergehende Affinität zur stoischen Erkenntnislehre konstatieren: Gemeint ist der in anderem Zusammenhang entdeckte Sachverhalt, daß die Prolepsis (als πίστις) zur Katalepsis (als γνώσις) führe143. Damit ist in zweifacher Hinsicht "eine gute Grundlage für die Rechtfertigung des Glaubensaktes gewonnen" 1 4 4 : einmal in dem Sinne, daß der Glaube analog zur stoischen Prolepsis als "die Anerkennung der Tatsächlichkeit und der Unentbehrlichkeit eines großen Maßes rein geschenkten ohne Beweis hingenommenen Wissens" 14 ^ gedeutet werden konnte. Klemens legt denn auch Wert darauf, daß der Glaube an sich schon, auch wenn er nicht zur Katalepsis durchgedrungen ist, zur ewigen Seligkeit genügt: denn er vertraut dem Logos 14 ®. Solch "ungeläu-
- 124 t e r t e r " Glaube ist demnach ebensowenig sinnlos oder gar falsch wie die im •kindlichen Geiste n a t u r h a f t sich bildenden Prolepseis der Stoa: hier wie dort leistet die d u r c h Zergliederung gewonnene Katalepsie zwar die wissenschaftliche B e g r ü n d u n g d e r Prolepsis, die aber ausschließlich auf deren Verifizierung zielt, so daß eine eventuelle Destruktion eines bloß proleptisch erhobenen Wahrheitsanspruchs von vornherein ausgeschlossen i s t . Dies ist stets zu berücksichtigen, gerade d a n n , wenn der Glaube als Prolepsis bei Klemens als "eine dumpfere, autoritätsgläubige Form des Erkennens und Verstehens" gekennzeichnet w i r d 1 ^ . Damit ist auch schon der zweite Aspekt zur Sprache gekommen, d u r c h den der Glaube als v e r n ü n f t i g ausgewiesen werden kann: er ist einer zur Katalepsie f ü h r e n d e n wissenschaftlichen B e g r ü n d u n g d u r c h a u s a u f geschlossen. Diese B e g r ü n d u n g braucht hier nicht im einzelnen nachgezeichnet zu w e r d e n 1 ^ ; wesentlich i s t , daß die Prolepsis als die f ü r wahr anerkannte Prämisse mittels Konklusionen den Gang einer wissenschaftlichen Theologie aus sich entläßt, der d u r c h die "logische(n) Verarbeit u n g " der Prämisse zur wissenschaftlich abgesicherten E r k e n n t n i s , zur Katalepsie f ü h r t 1 ^ . Diese wirkungsgeschichtlich bedeutsame "Entdekk u n g " des Klemens ist von K.Prümm zu Recht hervorgehoben w o r d e n 1 5 ^ , und es war auch das Ziel der voranstehenden A u s f ü h r u n g e n , auf dem Hintergrund der dargestellten epikureischen und stoischen Prolepsislehr e herauszustellen, daß die klementinische Identifizierung von Prolepsis und Glaube diesen der Begründbarkeit d u r c h wissenschaftliche Reflexion zugänglich macht. Klemens macht sich dabei in der. Tat den Unterschied zunutze, "daß die damals noch ein flu ßr eie hen Schulen, besonders die Stoa, dem Antizipationserkennen, den Gemeinbegriffen, eine so hohe Bed e u t u n g , ja geradezu Schlüsselstellung in der Eroberung der philosophischen Wahrheit z u e r k a n n t e n " 1 ^ 1 . Gilt dies, so begibt man sich von v o r n herein der Möglichkeit, die beschriebene Leistung des Klemens zu würdigen, wenn man mit H.Reinkens feststellt: "ή πρόληψις non est antieipatio apud Clemens, quod idem e s s e t , atque notia quaedam insita, nam notio insita minime est εκούσιος" 1 ·^. Dieses Argument zehrt von der stillschweigenden Identifizierung der Ciceronischen Definition von Prolepsis 1 "''* mit der stoischen bzw. epikureischen Bestimmung dieses B e g r i f f s . Da diese Interpretation abgewiesen werden konnte 1 ®^, stellt sich das Problem in modifizierter Form: wie läßt sich die von Klemens behauptete Freiwilligkeit des Glaubens mit seiner proleptischen S t r u k t u r in Einklang b r i n g e n , ohne daß einer dieser beiden Aspekte zu k u r z kommt? Ohne das Problem im Detail diskutieren zu können, ist zunächst einmal darauf hinzuweisen, daß die Entwicklung des Klementinischen Glaubensb e g r i f f s in seiner doppelten Frontstellung gesehen werden muß: einerseits geht es um die Verteidigung gegen die Behauptung der "griechischen Philosophie", der christliche Glaube sei inhaltsleer bzw. u n b e g r ü n d e t . In dieser Auseinandersetzung verweist Klemens, wie wir zu zeigen s u c h t e n , auf die proleptische S t r u k t u r des Glaubens, die in ihren bei-
- 125 den Aspekten, in ihrem Bezug auf die Sinnlichkeit - darin den φυσικαί Evvotai der Stoa entsprechend - und in ihrer Aufgeschlossenheit für die zur Katalepsie führende wissenschaftliche Begründung und Klärung, dem zur Zeit Klemens' geläufigen philosophischen Gebrauch der Prolepsis analog i s t 1 5 5 . Zum anderen - und dieser Gesichtspunkt ist bisher vernachlässigt worden, weil er nur bedingt mit der proleptischen Struktur des Glaubens zu tun hat - muß Klemens gegen die Gnostiker, namentlich gegen Basilides 1 5 ®, di e ¿ e n Glauben als "Naturanlage" 1 5 ? bezeichneten, seine Freiwilligkeit hervorheben. Das Interessante an jener Definition des Basilides, wie sie Klemens hier wiedergibt 1 5 8 , ist die stoische Terminologie, sofern gegenüber Klemens "die Gnostiker schon mit dem Versuch des Einbaus der Glaubensdefinition in die stoische Erkenntnislehre voraufgegangen w a r e n " 1 0 9 . D . h . , daß bei aller vorhin herausgearbeiteten Affinität der klementinischen Prolepsis zur stoischen letztere gegenüber den Gnostikern an einem entscheidenden Punkt korrigiert wird: sie ist freiwillig, ihre Prädizierung als "naturhafte" (φυσικώς) bei Klemens bezieht sich nur auf die hörende und damit äußere Kenntnisnahme der Hl. Schrift, nicht aber auf die darin sich ausdrückende "Stimme Gottes" 1 ®®. Die sinnliche Wahrnehmung ist somit nur insofern der Anfang des Glaub e n s , als die Bibel allererst zu Gehör gebracht werden muß; der Glaube ist - gegen Basilides - eine "vernünftige Zustimmung einer mit freiem Willen begabten Seele" 1 ® 1 . Diese Korrektur der stoischen Prolepsis muß auf dem Hintergrund einer sowohl gegenüber der platonischen als auch der stoischen Tradition vollzogenen Aufwertung und Verselbständigung des Willens gegenüber dem theoretischen Erkennen gesehen werden. Terminologisch bahnt sich diese Verschiebung an durch die stillschweigende Substituierung von πρόληψις durch προαίρεσις im Kontext der Verteidigung der christlichen Pistis gegenüber den Vorwürfen der griechischen P h i l o s o p h i e dadurch gelingt es Klemens, "den Zusammenhang von Glauben und praktischer Lebensgestaltung hervorzukehren"163. Freilich vollzieht sich diese Wendung zur "Praxis" in den Bahnen des traditionellen griechischen, namentlich aristotelischen Denkens 1 ®^: die προαίρεσις (Entscheidung) als eine "Art des Strebens" ist vernünftig (διανοητική)1®5 und somit dem Denken und Erkennen untergeordnet, weil sie auf einen geistig erfafiten Zweck sich richtet. Worauf es Klemens hier also ankommt, ist der Nachweis, daß der Glaube als theoretische Erkenntnis zugleich der Ausgangspunkt (αρχή) des Handelns ist : zur Stützung dieser These wird Prolepsis durch Prohairesis ersetzt 1 ®®.
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4. Kapitel ANTIZIPATION ALS GRUNDTAT DER ZEIT: DIE COHENSCHE RADIKALISIERUNG DES KANTISCHEN ANTIZIPATIONSBEGRIFFS AUF DEM HINTERGRUND DER ANTIKEN PHILOSOPHIE In diesem Kapitel wird eine erste Ertragsformulierung der erkenntnistheoretischen Relevanz des Antizipationsbegriffs angestrebt, wobei die bisherigen Ausführungen als Grundlage dienen sollen. Nachdem an einigen Punkten die systematische Relevanz der Beschäftigung mit der Antizipationstheorie der antiken Philosophie herausgestellt worden i s t , soll die Weiterentwicklung dieses Gedankens bei Cohen im Vergleich zu Kant zur Sprache kommen. Diese Gegenüberstellung ist geeignet, die erkenntnistheoretische Tragfähigkeit und Tragweite von Antizipation zur Diskussion zu stellen. 1. "Prolepsis" in der Antike und "Antizipation" bei Kant Nachfolgende Ausführungen versuchen einen Brückenschlag über den bekannten "garstigen Graben" der Geschichte, und zwar in systematischer Hinsicht· 1 . Näherhin soll der Ertrag der Beschäftigung mit der antiken Philosophie zusammenfassend im Blick auf die Aufnahme des ursprünglich Epikureischen Begriffs der πρόληψις bei Kant formuliert werden. Damit ist zugleich der für das Verständnis der bei Cohen vollzogenen expliziten "Verzeitlichung" jenes Begriffs notwendige Hintergrund geschaffen. Erwartungsgemäß erschweren die Unterschiede zwischen der antiken Philosophie und Kant den intendierten Brückenschlag: anders als die Stoa unterscheidet Kant nicht zwischen Begriffen, die sich im Kindesalter herausbilden, und solchen, die später durch die Lehre und das eigene Bemühen hinzutreten. Wichtiger noch, die antizipierten Formen bei Kant bedürfen keiner Zergliederung, um zur Erkenntnis (Katalepsie) zu werden: sie werden zwar auf Erfahrung angewendet und gewinnen gerade darin ihre Bedeutung (ihren "Sinn"^), aber diese Applikation dient nicht der wissenschaftlichen Begründung ihrer Wahrheit. An diesem Punkt kommt im übrigen Kant der Epikureischen Verwendung des B e griffs nahe, sofern ja auch die wahren Wortbedeutungen keiner Begründung mehr bedürfen, vielmehr als Prolepseis evident sind und somit ebensowenig wie bei Kant auf die Entwicklung des Bewußtseins im Kinde eingeengt, sondern auch und vorzüglich auf das Denken der Erwachsenen bezogen sind. Es bleibt allerdings fraglich, ob sich Kant dieser Strukturanalogie bewußt war jedenfalls könnte der dargestellte Antizipationsbegriff Kants und der Epikurs als Verallgemeinerung der Stoischen Prolep-
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sis interpretiert werden, sofern er auf alle Formen (Kant) bzw. Wortbedeutungen (Epikur) Anwendung findet. Was die Gemeinsamkeiten betrifft, so ist zuerst der negative Sachverhalt zu konstatieren, daß in keinem Fall die Prolepseis als angèboren gedeutet werden dürfen. Die Ciceronische Übersetzung der Prolepsis Epikurs und ihre Deutung als angeborene Idee^, die den Grund für die Möglichkeit der systematischen Verknüpfung mit der später ausführlicher zu bedenkenden AnamnesislehreS legte, findet sich weder bei Epikur noch in der Stoa. Gleichwohl stimmt das Denken Epikurs und der Stoa mit Kant darin überein, daß die Wahrheit der Prolepseis unbestreitbar feststeht, weil sie vorausgesetzt ist. Bei Epikur wird eben dieser Sachverhalt der vorausgesetzten wahren Wortbedeutung als Prolepsis bezeichnet, und auch in der Stoa sind die Prolepseis nicht strittig, sondern verdienen im Gegenteil mehr Vertrauen als die durch Erziehung entstehenden Begriffe, da sich bei letzteren unvermerkt Subjektives einmischen kann®. An diesem Punkt also, dies muß noch einmal betont werden, sind sich Epikur und die Stoa mit Cicero und anderen doxographischen Mitteilungen einig, daß Prolepseis als solche wahr sind. Auch wenn in der Stoa ausdrücklich nur die Katalepsis als "Kriterium der Wahrheit" erscheint, so ist es doch undenkbar, daß die Prolepseis diesem Kriterium nicht genügen könnten. Ersteres hängt damit zusammen, daß die Prolepseis als vorweg-genommene erst noch näher zu zergliedern und zu entfalten sind - deshalb sind sie kein hinreichendes Kriterium für die Wahrheit. Freilich kann, wie gesagt, diese Entfaltung nicht die Richtigkeit der Prolepseis in Frage stellen - sie dient ausschließlich zu deren Verifizierung - , deshalb könnten die stoischen Prolepseis auch als Minimalkriterium der Wahrheit bezeichnet werden. Wenn soeben behauptet worden ist, daß auch Kant die Wahrheit der Antizipation von vornherein festgeschrieben habe, so ist dies entsprechend dem Ergebnis der Kantinterpretation zu modifizieren: sofern den Formen ihre Anwendung auf Erfahrung äußerlich ist, weil ihre Wahrheit unabhängig davon vorausgesetzt ist, ist auch die Wahrheit der Antizipation gesichert; nachträgliche Erfahrung kann sie nicht bestreiten oder gar falsifizieren, da sie nur als kon-forme zugelassen ist. Dies ändert sich schlagartig, wenn im Zuge der früheren Interpretation auf den die Formen gerade konstituierenden Erfahrungsbezug, der als antizipativer präzisiert werden konnte, hingewiesen wird. Dann hebt sich der Kantische Gebrauch von Antizipation wesentlich von dem der Antike ab, denn jetzt muß sich die nur mehr behauptbare Wahrheit der Formen an der jeweiligen Materie bewähren; die Formen können also nicht mehr von vornherein als wahr vorausgesetzt werden. Für den hier angehenden Vergleich Kants mit der Antike mag dieser Hinweis genügen?, aus dem einige Konsequenzen, die die bisher dargelegten Vergleichspunkte vertiefen können, zu ziehen sind.
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Zunächst einmal folgt aus obiger Kantinterpretation, daß der E r f a h r u n g selbst in i h r e r Form vorgegriffen wird (bzw. sogar in i h r e r Materie, wenn man an die "Antizipationen der Wahrnehmung" d e n k t ) ; mit Antizipation soll somit bei Kant das Verhältnis von formaler und inhaltlicher Ebene bestimmt werden. Anders in der Antike: sowohl bei Epikur als auch in der Stoa wird formalen Elementen v o r g e g r i f f e n , deren Erfahr u n g s b e z u g nebensächlich tat* die wahren Wortbedeutungen Epikur s beziehen sich auf den Gebrauch von Wörtern, d . i . B e g r i f f e n , die sie kritisieren, und die φυσικαί εννοιαι der Stoa greifen nicht der E r f a h r u n g , sondern der endgültig f ü r wahr befundenen E r k e n n t n i s , der Katalepsis, vor. Damit ist zweitens v e r b u n d e n , daß die zeitliche Dimension des Antizipationsbegriffs in der Antike eher als unterbelichtet bezeichnet werden muß; auch hier sei noch einmal daran e r i n n e r t , daß bei Kant jene zeitliche S t r u k t u r erst dann zum Tragen kommt, wenn die Formen selbst als zeitliche und als ihrerseits d u r c h E r f a h r u n g bestimmbare gedeutet werden. Bei Epikur wie in der Stoa ist nun interessanterweise der mit den Prolepseis implizierte zeitliche Aspekt nicht auf Zukünftiges, sondern auf Vergangenes gerichtet: die wahren Wortbedeutungen bzw. die φυσικαί εννοιαι sind das je F r ü h e r e , sie werden von den e r s t e n Menschen bzw. vom Kinde gebildet im Gegenüber zum Sprachgebrauch s p ä t e r e r Menschen bzw. der begrifflichen Erkenntnis der Erwachsenen. Damit hängt zusammen, daß die Zeit nicht die Prolepseis selbst s t r u k t u r i e r t , sondern ihnen äußerlich bleibt: weder bei Epikur noch in der Stoa gehen die Prolepseis so in die Zeit ein, daß sie selbst zeitlich und geschichtlich würden; ihre Wahrheit ist vielmehr als ewige und also unzeitliche vorausgesetzt. Aus dem Gesagten folgt schließlich, daß sich eine gewisse Affinität zur platonischen Anamnesislehre bezüglich der epikureischen und stoischen Antizipationstheorie nicht leugnen läßt. Jene Strukturanalogie gründet wohl insbesondere in dem Sachverhalt der vorausgesetzten Wahrheit der Prolepseis und dem damit gegebenen Rückbezug der jeweiligen Erkenntnis auf wahre Wortbedeutungen bzw. φυσικαί εννοιαι qua Prolepseis. Es darf freilich nicht übersehen werden, daß - die Adäquatheit der vorgetragenen Interpretation vorausgesetzt - sowohl bei Epikur als auch in der Stoa die proleptische Erkenntnis nicht als angeborene gedacht wird. Erst wo dies geschieht, im Zuge der Ciceronischen Deutung der Prolepseis als angeborene Ideen mithin, kann das zeitliche Moment der dann "vor aller Erf a h r u n g gegebenen" Prolepseis eliminiert werden. Solange freilich das Erkennen dieser Ideen im wörtlichen Sinne auf "Anamnesis" b e r u h t , kann die zeitliche S t r u k t u r der Erinnerung an ehemals Geschautes nicht gänzlich ausgeblendet werden. Damit ist der Hintergrund g e s c h a f f e n , auf dem sich die Besonderheit des Cohenschen Antizipationsbegriffs, seine zeitliche Explikation, abheben k a n n . Sofern nämlich der Kantische Antizipationsbegriff im Kontext der
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antiken Philosophie dargestellt werden konnte, und Cohen, wie wir noch sehen werden, eine Radikalisierung der Kantischen Antizipation intend i e r t , d ü r f t e der (geistes-)geschichtliche Rahmen, der das Verständnis der Weiterentwicklung des Cohenschen Antizipationsbegriffs erhellt, hinreichend geklärt sein 9.
2. Cohens eigene Interpretation des Kantischen Begriffs der Antizipation 1 0 Die oben auf gewiesene zweifache Bedeutung des Terminus Antizipation innerhalb der "Kritik der reinen V e r n u n f t " , dessen Distinktion d u r c h den damit jeweils gemeinten Gegenstand geltend gemacht wurde, scheint Cohen nicht zu k e n n e n . Jedenfalls läßt er jene Behauptung Kants, daß der Verstand die Form jeder E r f a h r u n g antizipiere, unberücksichtigt ü . Dies mag mit der Kehrseite jener These zusammenhängen, die b e s a g t , daß dem Verstand durch die Anschauung E r f a h r u n g so vorgegeben i s t , daß sie ihm sein "Gebiet" gibt und zugleich b e s c h r ä n k t . Dazu steht natürlich das aufgezeigte Anliegen Cohens, dem es ja gerade um den Aufweis der Möglichkeit von reiner Erkenntis geht (das ist solcher Erkenntnis, die nichts außerhalb ihrer h a t ) , in diametralem Gegensatz. Mit diesem Gegensatz hängt auch die tiefgreifende Kritik Cohens an dem zweiten Grundsatz der transzendentalen Analytik zusammen, die sich nicht so sehr auf die inhaltliche Funktion des Begriffs Antizipation als vielmehr auf die Herleitung dieses Grundsatzes durch Kant bezieht. Er sei, "anstatt von der Realität des Fundamentes a u s , welche über die extensive Anschauung hinausliegt, zur Empfindung überzugehen, von der Empfindung ausgegangen, und hat in ihr selbst die Realität, nämlich als den Grad der Empfindung g e g r ü n d e t " 1 ^ . Dies sei der auch in der zweiten Auflage der "Kritik der reinen V e r n u n f t " beibehaltene Fehler, den Cohen "von Anfang an bei dieser Betrachtung (sc. der Antizipationen der Wahrnehmung) auszuscheiden bemüht (ist)"*'*. Damit hält der Neukantianer Kant v o r , sein zweiter Grundsatz könne schon deshalb nicht die ihm zugemutete apriorische Synthesis zwischen Verstand und Erscheinungen leisten, weil ihm gerade die Apriorität mangelt. Dieser Vorwurf ist in der Folge immer wieder, und nicht n u r gegen den zweiten Grundsatz, erhoben w o r d e n ^ ; e s läßt sich in der Tat leicht zeigen, daß Kant den Grundsatz aus der Vorgegebenheit der Empfindung ableitet: die Prämissen des oben dargestellten S c h l u ß v e r f a h r e n s ^ sind nämlich empirischer Art und "Empfindung" ist dessen entscheidender "Mittelbegriff". Es wurde schon darauf hingewiesen: Die Konsequenz dieser Kritik läuft darauf hinaus, daß der Gedanke der Antizipation aufgegeben werden rau Demgegenüber liegt das Interessante an Cohens Entwurf darin, daß er den apriorischen Charakter dieses Grundsatzes (durch eine andere Herleitung) a u f r e c h t e r h ä l t , gleichwohl aber daran festhalten will,
- 130 daß "dies im eminenten Sinne eine 'Antizipation' ( i s t ) , wenn schon alle Grundsätze so gedacht werden könnten 1 , 1 Cohen beruft sich bei seiner Interpretation auf Kant selbst, der den Grundbegriff dieses Schemas bloß verdunkelt habe. Wenn dieser wieder ans Licht gebracht i s t , dann wird nicht nur die Apriorität des Grundsatzes, dann wird auch dessen spezifische Kennzeichnung als Antizipation hinreichend dargetan worden sein. Der "verdunkelte(n) Grundbegriff als das Schema der Realität" 1 ** ist aber kein anderer als der Grundbegriff der "Logik der reinen Erkenntnis", der hier aufs engste mit dem Begriff der Antizipation verknüpft wird: "die 'kontinuierliche und gleichförmige Erzeugung' der Realität in der Zeit" 1 ^. Dieser Satz findet sich dem Wortlaut nach nicht nur bei Cohen, sondern auch in der "Kritik der reinen V e r n u n f t " 2 0 , die ansonsten den Terminus Erzeugung äußerst sparsam verwendet, dera r t , daß nur Ideen durch die Vernunft erzeugt werden k ö n n e n 2 1 , während die Vorstellung ihren Gegenstand zwar a priori bestimmen kann, jedoch "dem Dasein nach nicht h e r v o r b r i n g t " 2 2 . Von jener Aussage Kants ausgehend begreift Cohen, analog zum Gedankengang seiner "Logik", die Erzeugung der Realität durch die "Limitation, welche im Verhältnis zur Negation die Realität konstituiert" 2 3. Nun ist es hier für uns nicht weiter von Belang, wie durch die Identifizierung der intensiven Größe mit der Infinitesimalzahl die Apriorität der Realität der Empfindung konstruiert werden soll 2 ^. Wesentlich ist aber die Rolle der Antizipation in diesem Zusammenhang. Die Redeweise von Antizipation ist angebracht, "denn antizipieren müssen wir die Realität, welche wir in der Empfindung als den Gegenstand derselben ( s c . der Empfindung) bezeichnen" 2 ^. Diese auf den ersten Blick unklare Formulierung wird im Kontext verständlich: Die Apriorität der Realität als Gegenstand der Empfindung kann nur dann durchgehalten werden, wenn ihre Unabhängigkeit von Empfindung dargelegt werden kann. Und eben dazu eignet sich der Begriff Antizipation, der zum Ausdruck bringt, daß schon 'vor' jeder Empfindung Realität gewußt werden kann. Wir stoßen hier von einer anderen Seite her auf die früher im Zusammenhang der Darstellung des Urteils der Mehrheit formulierte wesentliche Funktion der Antizipation bei Cohen, das A und das Β allererst zu erzeugen. Darauf fußend können dann die anderen Grundsätze ihre Funktion wahrnehmen, die allesamt Verhältnisse zwischen vorauszusetzenden Gliedern thematisieren. Zunächst "bedarf es der ausdrücklichen und selbständigen Setzung des A und des B , um ein Verhältnis unter ihnen gliedern zu können " 2 6 . Wenn die Antizipation von A und Β "die Empfindung , die Wurzel des Subjektiven . . . apriorisieren und . . . objektivier e n " 2 ^ soll, so ist damit der Aufweis gemeint, "daß A und Β an sich gesetzt werden d ü r f e n " 2 8 . Dies ist der immer wieder von Cohen hervorgehobene "Anspruch der Empfindung", der seiner Meinung nach völlig zu Recht besteht, und dem mittels der Funktion der Antizipation Rechnung getragen wird.
- 131 Von hier aus mag im übrigen verständlich werden, inwiefern gerade dieser zweite Grundsatz der "Kritik der reinen V e r n u n f t " den A n k n ü p f u n g s punkt f ü r Cohens eigenes philosophisches System bilden kann: wagten sich die "Antizipationen der Wahrnehmung" doch am weitesten in das u r eigene Gebiet der Empfindung v o r , d e r a r t , daß diese Materie der Erfahr u n g selbst noch einmal in eine apriorische Form und eine sinnliche Materie aufgespalten werden konnte. Eben diese Interpretation erlaubt e s , das Thema und die Aufgabe einer Logik reiner Erkenntnis als schon bei Kant vorgegebene Problemstellung zu begreifen. Dabei wird die apriorische Form der Empfindung bei Cohen, wie wir sahen, als Kontinuität präzisiert. Freilich müssen Vermutungen über die zeitliche S t r u k t u r jen e r Form (als antizipierte) im Hinblick auf Cohens eigene Kantinterpretation innerhalb "Kants Theorie der E r f a h r u n g " zurückgestellt werden: es ist i n t e r e s s a n t , daß die beschriebene Funktion von Antizipation zwar sowohl in jener Schrift als auch in der Studie über das "Prinzip der Infinitesimalmethode"29 geltend gemacht wird - a b e r , im Gegensatz zur Logik, die S t r u k t u r dieses Begriffs selber nicht u n t e r s u c h t wird. Dies gründet m.E. d a r i n , daß zum Zeitpunkt der Abfassung jener Schriften Cohen noch nicht die Aufteilung zwischen Anschauungs- und Verstandesformen aufgegeben h a t , was b e d e u t e t , daß die zeitliche S t r u k t u r der Antizipation hier gar nicht zum Tragen kommen d a r f , wenn a n d e r s der Anspruch der Empfindung innerhalb des Grundsatzes der Antizipationen der Wahrnehmung n u r dann eingelöst wird, wenn er unabhängig von Raum und Zeit dargestellt werden k a n n . Denn Raum und Zeit als An-, schauungsformen können n u r extensive Größen d u r c h Vergleich bestimmen, jener Grundsatz der intensiven Größe aber "gilt vor Raum und Zeit, welcher(s) daher von den eingeschränkten Rechten auch der reinen Anschauung nicht abhängen kann"30. Es wird von hier aus verständlich, warum Cohen trotz des Nachweises der Apriorität des Antizipierten diesen Grundsatz als Antizipation "im eminenten Sinne" bezeichnet. Er a r gumentiert so: "Wenn wir nun das intensive 'Fundament des Körpers' f ü r die Objektivierung der Empfindung zu Grunde legen, so ist dies im eminenten Sinne eine 'Antizipation' . . . Denn es ist schlechthin eine Eigenart des Bewußtseins, welche die Kontinuität in den intensiven Einheiten d a r l e g t , wie ähnlich auch d u r c h die Identität das Bewußtsein c h a r a k terisiert ist"31. Von Antizipation soll also deshalb die Rede sein, weil das Bewußtsein durch das Antizipierte konstituiert und definiert wird; die besonders enge Verbindung und wechselseitige Bezogenheit zwischen Bewußtsein und Empfindung r e c h t f e r t i g t es nach Cohen - "Das Bewußtsein . . . ist durch Nichts so unmittelbar und unzweifelhaft beschrieben als d u r c h E m p f i n d u n g " ^ - , den Aufweis der Einheit der Empfindungsqualitäten als Antizipation im eminenten Sinne zu v e r s t e h e n ^ . Cohen muß freilich zugeben: "Somit schwindet das Wunder; denn die Kontinuität gehört nicht der Empfindung an, sondern läßt sich n u r auf die Apriorisierung des Inhalts derselben beziehen"34. Die Antizipationen der Wahrnehmung sollen also ein auf seine S t r u k t u r hin nicht näher u n -
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t e r s u c h b a r e s "Vor" namhaft machen, das jedenfalls nicht zeitlich bedingt sein d a r f . Die damit v e r b u n d e n e n Schwierigkeiten brauchen nicht diskutiert zu werden, da sie sich in dem Moment, wo die Zeit als Kategorie ausgewiesen wird, erledigen. Wir fassen zusammen: Cohen korrigiert in seinem f r ü h e n Werk über "Kants Theorie der E r f a h r u n g " an einem f ü r sein eigenes, späteres System wesentlichen Punkte den zweiten Grundsatz von Kant, indem er die Kategorie der Realität als Erzeugnis des reinen Denkens aufzuweisen s u c h t . Hinsichtlich des Begriffs Antizipation bleibt er demgegenüber dem Kantischen Denken v e r h a f t e t , indem er nicht explizit dessen zeitliche S t r u k t u r h e r ausarbeitet und seine besonders geeignete Verwendung an dieser Stelle mit der dem Bewußtsein schlechthin eigentümlichen Beziehung auf die Objektivität der Empfindung zu gründen sucht - also gerade unabhängig von Zeit. Bezeichnenderweise fällt in der 31 Jahre später veröffentlichten "Logik der reinen Erkenntnis" der Begriff Antizipation im Kontext der Erzeugung der Realität völlig a u s , um desto größere Bedeutung f ü r die Erzeugung von Mehrheit zu gewinnen, die freilich Realität v o r a u s s e t z t . Die Beschäftigung mit Cohens f r ü h e r Kantinterpretation zeigt also zum einen die Entwicklung des Begriffs Antizipation in seinem eigenen Denken a u f , zum andern kann sie den grundlegenden Unterschied beider Denker deutlich machen. Das Schema der Erzeugung der Realität eignet sich nämlich nicht n u r dazu, den zweiten Grundsatz Kants auf die Ebene des Apriorischen zu heben, sondern er enthält - mindestens implizit die Ablehnung der T r e n n u n g zwischen "gegebenen" Gegenständen und sie bestimmendem Denken. Wir müssen freilich noch s e h e n , welchen Bezug zur Wirklichkeit, die ja nicht mit Realität in eins gesetzt werden d a r f , das System Cohens dann herzustellen v e r m a g ^ . Vorher muß aber die Bedeutung und Funktion des Begriffs Antizipation in der "Logik" Cohens möglichst präzise dargestellt werden, und zwar in dem f ü r ihn wesentlichen Kontext: dem der Zeit und damit v e r b u n d e n dem der u n endlichen Reihe ( i . e . Allheit).
3. Antizipation als Grundtat der Zeit Cohen verweist an einer Stelle in seiner "Ästhetik des reinen Gefühls auf die Übernahme (bei gleichzeitiger Modifizierung) des Begriffs Antizipation von Kant : "Die Logik der reinen Erkenntnis hat . . . die Antizipation zum Hebel der Zeit gemacht. Kant hat diesen Terminus f ü r einen logischen Behuf von Epikur angenommen, nämlich die Wahrnehmung damit zu b e g r ü n d e n . In derselben Richtung halten wir sie fest f ü r die Beg r ü n d u n g des Bewußtseins"37. Können wir auch mit Cohen darin nicht ü b e r einstimmen, daß sich die Funktion von Antizipation bei Kant auf einen bloß "logischen Behuf" b e s c h r ä n k t , so ist doch mit jener Aussage zweierlei g e t r o f f e n : zunächst einmal ist in der Tat die V e r k n ü p f u n g von Antizipa-
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tion und Zeit bei Kant nicht in der Weise explizit gemacht wie bei Cohen. Zum andern - und darauf muß im folgenden eingegangen werden - ist die Antizipation der schlechthin systemtragende Begriff bei Cohen: er fungiert nämlich nicht nur zur Begründung des Bewußtseins in der Ethik, worauf Cohen hier abhebt, sondern er muß die Logik des Ursprungs selbst begründen. a) Erzeugung und Kategorialität der Zeit Anders als Kant bestimmt der reife Cohen Antizipation ausdrücklich in eminent zeitlichem Sinne: "Die Antizipation ist das Charakteristikum der Zeit"38. Dies hängt eng damit zusammen, daß Antizipation als funktionaler Begriff der "Logik der reinen Erkenntnis" nicht auf vorgegebene Methoden rekurrieren d a r f , um sie zu bestimmen, sondern jene allererst selbst erzeugen muß. In der Tat ist dieser These in negativer Hinsicht zuzustimmen: jene Antizipation, der bloß eine logische Antizipation eignet , hat per definitionem nur das Vermögen einer solchen Bestimmung, die selbst wiederum durch den Inhalt, auf den sie sich bezieht, als vorgegebenen nämlich, bestimmt wird. Nun zielte die früher versuchte Interpretation der "Kritik der reinen Vernunft" gerade darauf, die zeitliche Struktur der Formen der Erfahrung abzudecken. Deren negatives Ergebnis bestand darin, daß die strikte Trennung zwischen Verstandes- und Anschauungsformen die zeitliche Struktur des Antizipationsbegriffs v e r deckt. Es kann im folgenden nicht darum gehen, die Aporien der Erkenntniskritik Kants, die sicherlich in jener unvermittelten Gegenüberstellung von Anschauung und Verstand als Erkenntnisarten gründen, aufzudekken: wir müssen uns darauf beschränken, die Funktion der Zeit innerhalb der transzendentalen Ästhetik kurz darzustellen, da eben sie bei Cohen als durch Antizipation bedingte Kategorie eingeführt wird. Es muß sich zeigen, ob diese einschneidende Veränderung im Denken Cohens geeignet i s t , unter Beibehaltung seiner Komplexität den Kantischen Antizipationsbegriff stringent fortzuführen. Zunächst ist also noch einmal kurz auf Kant zurückzukommen: es wurde schon darauf hingewiesen und ist bezeichnend für die Rolle der Zeit innerhalb der Kritik, daß Kant eine gänzlich andere Abhängigkeit der Zeitmodi aufstellt: Während das Vergangene ("antecedentia") das Gegenwärtige bedingt, steht die Zukunft auf der Seite des Bedingten ("consequentia"). Daß die Zukunft nicht als Bedingung der Möglichkeit des Vergangenen gesehen wird, geht aus folgender Äußerung Kants eindeutig hervor: n , als Glied der Reihe m, η , o "ist nach der Vernunft . . . nur vermittelst jener Reihe möglich, seine Möglichkeit beruht aber nicht auf der folgenden Reihe o, p , q , r . . . " 3 9 . Das heißt: Wird die Zeit so bestimmt, daß sie nur am Gegenstand i s t , so folgt aus dieser ihrer transzendentalen Idealität notwendig das Aufeinander-Folgen der Zeitmodi in der beschriebenen Reihenfolge. Wenn hingegen die Kategorialität der Zeit
- 134 zugestanden wird, erweist sich die Antizipation als Erzeugung von Zukunft zumindest als denkbar (auf die Kritik dieses Gedankens ist gleich einzugehen). Denn nur als Verstandesbegriff kann Zukunft (wenn überhaupt) erzeugt werden, da ja die Möglichkeit einer sinnlichen Gegebenheit des Zukünftigen gerade ausfällt. (Es wurde schon auf die weitreichende Folge der Ethisierung der Eschatologie bei Kant, die hier in der Bestimmung der Zeit als Anschauung und in der damit verbundenen These ihrer transzendentalen Idealität wurzelt, hingewiesen 4 ^. ) Was veranlaßt nun aber Kant, so nachdrücklich die Gegebenheitsweise der Zeit als reine Form der Anschauung zu thematisieren? Zunächst einmal wendet er sich (wie auch Cohen) gegen das "empiristische(n) Vorurteil" 4 1 - dabei soll nach Kant die Reinheit der Zeit ins Spiel gebracht werden; nach Cohen ist demgegenüber, "nur die Kategorie schlechthin von durchschlagender Bedeutung" 4 ^. Kant versucht also - obwohl in derselben Frontstellung gegen die "Sensualisten" stehend - die Zeit als "reine Form der Sinnlichkeit" 4 ^ auszugeben. Die auf den ersten Blick dunkel erscheinende Begründung lautet: "Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit. Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber A n s c h a u u n g " 4 4 . Diese Aussage muß im Zusammenhang mit der neben der Zeit nach Kant einzigen Form der reinen Sinnlichkeit gesehen werden: dem Raum. Ähnlich werden auch hier die Teile des Raumes so bestimmt, daß sie nur "als Teile eines und desselben alleinigen Raumes" 4 ^ gedacht werden dürfen. Dann folgt der entscheidende Satz, den Kant offensichtlich wegen der analogen Darstellung der Zeit zum Raum bei jener weggelassen hat: "Diese Teile können . . . nur in ihm gedacht werden . . . Hieraus folgt, daß in Ansehung seiner eine Anschauung a priori . . . zum Grunde liegt" 4 ®. Raum und Zeit sind also deshalb Anschauungsformen, weil der Erfassung des Teils (des sinnlichen Gegenstands) die Vorstellung des Ganzen (des Raums und der Zeit) schon zugrunde liegt, der einzelne Gegenstand nur in Raum und Zeit eben angeschaut werden kann. Anders als die Verstandesformen können jene Anschauungsformen nicht vom Gegenstand abstrahiert werden: sie sind somit nicht "diskursiv" oder "allgemein", sondern "einzig" bzw. " e i n i g " 4 7 . (Jenem systematischen Argument für die Anschauungsstruktur von Raum und Zeit tritt ein äußerliches an die Seite, das uns nicht weiter zu beschäftigen braucht: der Raum muß deshalb Anschauung sein, weil sonst nicht erklärt werden kann, wie die Mathematik (Geometrie) Sätze formulieren kann, "die über den Begriff hinausgehen", mithin synthetisch s i n d 4 8 . ) Diese bewußt recht allgemein gehaltene Darstellung wird später 4 ^ als Indiz dafür dienen, daß die Anschauungsformen bei Kant als antizipierte gedeutet werden dürfen, sofern nämlich das am Ort der jeweiligen Raumbzw. Zeitstelle voraus-gesetzte Ganze als antizipiertes begriffen werden kann. Hier mag jene Darstellung als Vorbereitung für folgende, wichtige Erkenntnis bezüglich der fundamentalen Aufgabe der transzendentalen
- 135 Ästhetik innerhalb der "Kritik der reinen Vernunft" im ganzen genügen, die Cohen ebenso knapp wie präzis folgendermaßen auf den Begriff gebracht hat: "Sie ( s c . die Zeit innerhalb der "Kritik der reinen Vernunft") soll aber mehr zu bedeuten haben, als Denken zu bedeuten hat ; sie soll Gegebenheit v e r t r e t e n " 5 ^ - deshalb ist sie die (wenngleich reine) Form der Anschauung. Diese an vielfältigen Aussagen Kants leicht zu verifizierende These mag nur an der sicher zu Recht als "Kernstück" der "Kritik der reinen Vernunft" bezeichneten transzendentalen Deduktion der Kategorien belegt werden. An zentraler Stelle wird hier die Erkenntnisleistung der Kategorien, allgemeiner die des Verstandes, von dem Ergebnis der transzendentalen Ästhetik abhängig gemacht: "Der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit war laut der transz. Ästhetik: daß alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Raumes und der Zeit s t e h e " 5 * . Nur "sofern" das Mannigfaltige der Sinnlichkeit "uns gegeben wird (werd e n ) " , kann der Verstand mittels der transzendentalen Apperzeption zur "objektiven" Erkenntnis gelangen 5 ^. Beurteilt man nun Cohens Unterfangen durch die Brille Kants, so drängt sich sofort die Frage auf: Wenn die transzendentale Ästhetik in die transzendentale Logik zurückgenommen wird, wird dann nicht gerade der spezifische Anspruch der "Kritik der reinen Vernunft", wie nämlich der Verstand a priori Gegenstände erkennen kann, derart nivelliert, daß die transzendentale Logik durch eine bloß formale, allgemeine Logik substituiert wird? Von daher wird Cohens Forderung verständlich, die er an die Zeit als Kategorie richtet: "Die Gegebenheit, derentwegen sie als Anschauung angenommen wurde, soll ihr ungeschmälert als Erkenntnis zukommen"^. Damit ist gemeint, daß der Inhalt der Zeit, der nach Kant nur als gegebener "angeschaut" werden kann (und gerade nicht "erkannt" werden kann: Anschauungen ohne Begriffe sind b l i n d ! ) , als gegebener "erkannt" werden muß. Dies ist aber nach Cohen die vorzügliche "Bedeutung der Kategorie . . . , als reine Erkenntnis Bedingung des Gegenstands zu s e i n " 5 ^ . Es wird deutlich, wie die Er-örterung der Zeit als paradigmatisches Schibboleth für den Aufweis der grundlegenden Differenz zwischen dem Neukantianismus Cohens und Kant selbst geeignet i s t . Dabei muß zunächst der Wahrheitsgehalt der an diesem Punkte exklusiven Alternativen dahingestellt bleiben: erst wenn (gleichsam systemimmanent) die nach Cohen mögliche "Erzeugung" des "Gegebenen" hinreichend gedeutet wurde, kann dieser Frage nachgegangen werden. Hier soll bloß noch einmal daran erinnert werden, daß der Gebrauch von Antizipation im Sinne Cohens mit der Radikalisierung der Position Kants steht und fällt, die die Differenz zwischen (sinnlich) gegebenem Gegenstand und auf ihn notwendig rekurrierendem Denken einzieht.
- 136 b ) Erzeugung der Zukunft durch Antizipation? Antizipation hat die Aufgabe, als "Grundtat der Zeit" Zukunft (und mittelbar Vergangenheit) zu erzeugen: die Entwicklung dieser zentralen These im Rahmen der "Logik der reinen Erkenntnis" wurde eingehend dargestellt, so daß im folgenden eine kritische Auseinandersetzung mit ihr stattfinden kann. Auf den ersten Blick kann jene These nahezu unmittelbare Evidenz für sich beanspruchen: wenn überhaupt von Zukunft die Rede sein soll, so scheint e s , dann muß notwendig im Modus der Vorwegnahme von ihr gesprochen werden. Doch wird diese Einsicht schnell fraglich: Die Zeit soll als Antizipation Zukunft und Vergangenheit erzeugen, und zwar so, daß die Einheit in dieser Ersonderung durchgehalten wird. Doch muß Cohen im Duktus seiner Argumentation nicht gerade das immer schon voraussetzen, was allererst Ergebnis derselben sein soll? Macht er sich nicht insofern einer petitio principii schuldig, als Zukunft nur dann vorweggenommen werden kann, wenn zumindest das Wissen darob, daß etwas noch aussteht, zukünftig i s t , vorausgesetzt wird? Wird nicht die Antizipation des Noch-nicht der Zukunft allererst durch das Wissen um ein Wessen dieses Noch-nicht e r möglicht? Dieses Wissen könnte dann weiter allenfalls eine nachträgliche Bestimmung, keineswegs aber die Erzeugung des Vergangenen e r möglichen. Man mag diesen Einwand als an das System Cohens herangetragen b e zeichnen, da es sich nicht um eine systemimmanente Kritik handelt. Nun ist es ja gerade das Anliegen Cohens, "innerhalb des Systems" zu bleiben, d . h . , wenn man glaubt nachweisen zu können, daß Cohen etwas - hier die Mehrheit - nicht als ursprünglich erzeugbar denken kann, so verläßt man damit in der Tat sein System: dies ist die notwendige Konsequenz solcher Kritik. Sie beschränkt sich also darauf zu behaupten, daß der Gedanke der Antizipation nicht das leistet, was Cohen ihm zumutet. Wie ist diesem Einwand zu begegnen? Es ist kaum zu bestreiten, daß die Vorwegnahme der Zukunft ein Wissen um den Unterschied des Noch-nicht und also Zeit als "Zukunft" und "Vergangenheit" tatsächlich voraussetzt. Damit bietet sich nur mehr eine Möglichkeit an, die Argumentation Cohens gegen diesen Einwand zu schützen: Dieses Wissen um den Unterschied des Noch-nicht muß selbst als durch Vorwegnahme bedingtes aufgewiesen werden, die Vorwegnahme muß sich selbst die Zukunft voraussetzen. Damit sind wir an die Grenze des bisher Geleisteten gestoßen: "Die Zeit hat nicht die Aufgabe und nicht die Kompetenz, eine andere Art von Inhalt zu erzeugen als nur diese Korrelation von Zukunft und Vergangenheit" 5 5 . Erzeugt wurde also ein Verhältnis, näher das von Zukunft und Vergangenheit: Antizipation erweist sich so zunächst nur als die Bedingung des Zugleich des Noch-nicht mit dem Nicht-mehr (und mit der Gegenwart) und so als Bedingung der Mehrheit. Daß dabei der
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Unterschied des Noch-nicht nicht v o r a u s g e s e t z t , sondern als d u r c h Antizipation e r z e u g t e r zu denken i s t , weiter, daß Vergangenheit d u r c h Antizipation nicht n u r in ein Verhältnis zur Zukunft gesetzt, sondern selbst erzeugt wird : all dies konnte bisher n u r b e h a u p t e t , nicht aber bewiesen werden. Nicht mehr und nichts anderes konnte die Antizipation bis jetzt aufdecken, als daß sie "die H e r a u s f o r d e r u n g , welche in dem Plus-Zeichen liegt, zur A u s f ü h r u n g (bringt)"^®. In dem Zeichen nämlich "wird die Mehrheit gedacht", näher so, daß sie "eine Einheit des Denkens ist . . . ; und Gebilde, Erfolge des reinen Denkens sind die Einheiten dieser Mehrheit . Dem e r s t e n Teil dieser Aussage kann u n eingeschränkt zugestimmt werden: Mehrheit (als Zugleich des Unterschieds von Noch-nicht und Nicht-mehr) kann in der Tat d u r c h Antizipation erzeugt werden; der zweite Teil der Aussage ist noch zu erweisen. Cohen deutet die b e s c h r ä n k t e Leistung des Urteils der Mehrheit selbst an: "Bei der Mehrheit könnte doch vielleicht die Bedeutung, die wir aus ihrem U r s p r u n g in der Antizipation der Zeit ableiten, künstlich erscheinen: daß sie k r a f t der Plus-Antizipation die Einheiten sich selbst e r z e u g e , auf die es jedoch an sich nicht ankomme, die n u r die negativen Bedingungen seien f ü r die Mehrheit s e l b s t , die sich an ihnen v o l l z i e h t " ^ . Der eben59 erhobene Einwand zielt demnach auf ein Problem, dessen Lös u n g noch a u s s t e h t : die Bedeutung der Antizipation als Bedingung der Kategorie der Zeit, sofern sie deren "Einheiten" (Vergangenheit und Zuk u n f t ) e r z e u g t , ist noch nicht abschließend erwiesen worden. Immerhin scheint Cohen der Meinung zu sein, daß grundsätzlich die .Möglichkeit der Erzeugung jener Einheiten dargelegt worden ist ; n u r eine gewisse "Künstlichkeit" haftet noch an jener Ableitung. Darüber hinaus kommt es ihm auf die Einheiten als solche gar nicht an^O, da nicht sie, sondern der Aufweis der Mehrheit als d u r c h Antizipation bedingte die konstitutive Vorstufe ("Anlage zum Inhalt"® 1 ) auf dem Weg der Erzeugung des Inhalts bildet. Letzteres ändert jedoch nichts d a r a n , daß die Einlösung des von Cohen mit dem Antizipationsbegriff erhobenen A n s p r u c h s , der d u r c h ihn denkbaren Erzeugung der Zeit, noch aussteht - wenn die oben geübte Kritik z u t r i f f t . Dies darf im folgenden nicht aus dem Auge verloren werden, da die Haltbarkeit jenes Anspruchs nicht n u r f ü r Cohens eigenes System wesentlich ist - da es ja um die Reinheit der Mehrheit geht - , sondern auch f ü r die Tragweite bzw. Grenze von Antizipation von Bedeutung i s t .
4. Antizipation und Allheit Aus zwei Gründen ist der im Urteil der Allheit entwickelte Sachverhalt wichtig f ü r die Themastellung dieser Arbeit: zum einen taucht hier eine Antwort auf den im vorigen Abschnitt erhobenen Einwand a u f , zum andern ist dieses Urteil geeignet, Bestimmung und Funktion des Gedankens d e r Antizipation so weit voranzutreiben, daß - u n t e r Berücksich-
- 138 tigung der Ausführungen im 1.Kapitel - ein Knoten geschürzt wird, von dem aus die verschiedensten wirkungsgeschichtlichen Stränge ihren Ursprung nehmen. Dies kann dann als erreicht gelten, wenn für den Gebrauch des Gedankens der Antizipation bei Cohen nachzuweisen ist, daß er im Zusammenhang von "Ganzheit", "Abschluß", "Ende" u.a.m. inso-" fern eine konstitutive Rolle spielt, als er eben durch diesen Zusammenhang zur Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung bzw. Erzeugung von "Teilen" derselben (vorrangig bestimmten bzw. erzeugten) Ganzheit wird. Vorwegnehmend sei darauf hingewiesen, daß der Begriff Antizipation seit M.Heidegger m.E. ausdrücklich diese Bedeutung hat, wobei der Zusammenhang von Antizipation und Ganzheit so zu begreifen ist, daß eben diese der Gegenstand der Antizipation®^ ist. a) Allheit als unendliche Reihe Mathematisch wird die Allheit "durch den Begriff der unendlichen Reihe bezeichnet"®^. Diese kommt durch "die Überschreitung des Endlichen bei der Plus-Erzeugung, der Plus-Antizipation"®4 zustande. Die Allheit entsteht also, sofern die Plus-Antizipation "sich nicht sowohl auf die endlichen Glieder selbst . . . , als vielmehr . . . auf den Begriff ihrer Zusammenfassung"®^ richtet. (Dabei werden sowohl die Kontinuität als auch die Realität qua Infinitesimalzahl vorausgesetzt: auf diese spezifisch mathematischen Probleme kann nicht eingegangen werden®®.) Was dies für die spezifische Leistung des Urteils der Allheit bedeutet, ist gleich darzulegen. Vorher soll jedoch die mit diesem Urteil angekündigte Antwort Cohens auf den geltend gemachten Einwand zur Sprache kommen. Wenn die Antizipation durch Plus-Erzeugung fähig ist, das Endliche zu überschreiten, dann sind in der Tat "die Glieder in ihren Einzelheiten nicht nur nicht vorhanden, sondern sie dürfen nicht als vorhanden gedacht werden; nur als Schemen für die Plus-Setzung figurieren sie"® 7 . So muß "bei der Reihe . . . dieser Schein . . . schwinden"®8, daß nämlich die Einheiten, zunächst als Vergangenheit und Zukunft, dann als die Glieder der unendlichen Reihe, nicht durch Antizipation "erzeugt" werden könnten. Doch ist diese Antwort schon zufriedenstellend? Sie besagt ja zunächst nur negativ, daß Antizipation als Plus-Erzeugung nicht bestimmter Glieder bedarf. Damit ist aber durchaus nicht positiv erwiesen, daß diese Glieder durch Antizipation als bestimmte erzeugt würden! Nun sollte der Mehrheit freilich die Bestimmung gar nicht zugemutet werden: sie "hatte Unbestimmtheit; darin gerade bestand ihr selbständiger Wert"®**. Aber immerhin als unbestimmte Glieder sind sie doch die "negativen Bedingungen . . . für die Mehrheit selbst" 7 ^, "die an sich belanglosen Mittel, die Mehrheit zu bilden" 7 1 . So sehr Cohen auch die Irrelevanz des Inhalts dieser Einheiten für die Mehrheit herauszustellen sucht 7 ^, es bleibt doch bestehen, daß deren Existenz unabdingbar für sie ist. Und
- 139 eben den Aufweis der Erzeugung der Existenz (als bloß unbestimmter) muß, wenn wir recht sehen, Cohen auch im Urteil der Allheit schuldig bleiben.
b) Die spezifische Leistung des Urteils der Allheit Die ganz besondere Leistung des Urteils der Allheit soll darin zum Ausd r u c k kommen, "daß die unendliche Anzahl, die nicht ausgezählte, also scheinbar nicht abgeschlossene Reihe der Glieder nichtsdestoweniger einen Zusammenhang bildet und v e r t r i t t " 7 ^ . Gerade darin lag ja die Unbestimmtheit der Mehrheit, daß sie "nur eine Relativität ( i s t ) " 7 ^ ; "nur korrelativ zu einem Vorwärts taucht ein Rückwärts a u f . Es bleibt nichts liegen auf diesem Felde"'5. Es handelt sich also um eine "abschlußlose(n) Relativität " 7 6; doch soll es nicht "bei den relativen Mehrheiten und ihrem Wechsel sein Bewenden h a b e n " 7 7 . Die Allheit kann nämlich den Inhalt, das B, erzeugen; Inhalt ist f ü r Cohen, wie e r w ä h n t , identisch mit "Einheit", "Bestand", " B e h a r r u n g " . So muß die Allheit die Einheit der Mehrheit aufweisen können. Dies geschieht zunächst durch den Gedanken der "unendlichen Zusammenfassung" 7 ^. Dieser B e g r i f f , der Unendliches und Grenze in ein enges Verhältnis s e t z t , wird seinerseits d u r c h "die u n e r schöpfliche Kraft dieser . . . Summation" 7 9, die genauer als unendliche Antizipation zu fassen i s t , bedingt. Nur d u r c h Antizipation der Grenze des Unendlichen wird die Reihe zwar nicht a b - , aber doch zusammengeschlossen. Damit weist aber die Antizipation nach Cohen über die Zeit selbst hinaus: die Allheit k a n n , will sie Be-stand h a b e n , will sie den gef o r d e r t e n Zusammenschluß leisten, nicht mehr "in" der Zeit gedacht werd e n , wenn a n d e r s die Zeit alle Einheiten "verschweben läßt"80. So f ü h r t die Allheit zum Zusammenschluß der Zeit, ja "stellt . . . sich (ihr) als Raum entgegen . . . Der Raum hält diese Einheiten f e s t ; . . . seine Allheit schließt sie alle zusammen" 0 1 . Dies ist jedoch n u r die eine Funktion des unendlichen Raumes, der eine zweite, fast noch gewichtigere, an die Seite t r i t t . Der Raum soll den Inhalt bringen: damit wird nicht n u r der Zusammenschluß der unendlichen Reihe thematisiert, sondern auch "eigentlich zum e r s t e n Mal der korrelative Wert des Denkens f ü r das Sein zu einem prägnanten Ausdruck gebracht"®^; denn der Raum beinhaltet - im Gegensatz zur Zeit, deren "Erzeugnisse . . . n u r das Innere ( g e s t a l t e n ) " ^ - die "Potenz der Entgegenstellung zu allem Innern des Denkens "84. So kann das Denken selbst das Außen e r z e u g e n , "und d u r c h diese Erzeugung erst wird das Denken zum Denken der Natur, also zum Sein"85. Im Urteil der Allheit begegnet uns demnach - dem Anspruch nach - die Einlösung der großen These Cohens, der Aufweis der Identität von Sein und Denken. Diese These entspricht notwendig Cohens oben a u s g e f ü h r t e r F o r d e r u n g , eine "Logik des reinen Erkennens" zu schreiben, die sich ihre Inhalte erzeugen soll und zugleich mehr als eine bloß formale Logik
- 140 leisten will. Bevor jedoch diese These, deren Voraussetzungen zusammengetragen w u r d e n , genauer in einem eigenen Abschnitt diskutiert werden soll, gilt e s , noch auf ein anderes Problem hinzuweisen: Wie kann der Raum, offensichtlich der Zeit e n t g e g e n s t e h e n d , diese gleichwohl einen?
c ) Der Raum als Einheit der Zeit? Es wirkt zweifellos befremdend: der Raum soll die Zeit so umgreifen, daß er ihr Bestand verleiht. Wenn überhaupt eine solche Verhältnisbestimmung beider gegeben werden k a n n , möchte man doch mit Kant die Zeit als die übergeordnete Größe ansehen: sie "ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen ü b e r h a u p t . Der Raum . . . ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen e i n g e s c h r ä n k t " . Freilich hebt die Zuordnung von Raum und Zeit nach Kant nicht die jeweilige Selbständigkeit beider Anschauungsformen a u f : so kann die Zeit "keine Bestimmung äußerer Erscheinungen sein" und der Raum nicht "das Verhältnis der Vorstellungen in unserem inneren Z u s t a n d e b e s t i m m e n . Diese Einsicht f ü h r t noch einmal zurück zur Bestimmung des Verhältnisses von Raum und Zeit bei Cohen. Etwas vorschnell brachten wir den vom Raum geforderten Bestand so in Zusammenhang mit der Zeit, daß jener diese umgreifen sollte. Dies muß weiter a u s g e f ü h r t werden. Zunächst scheint es ja so, als könne der Raum das Zusammen der in der Zeit erzeugten Einheiten so leisten, daß sie er-halten bleiben. Hier e r s t , d . h . mit der Erzeugung des Raumes scheint "die Erhaltung . . . wahrhafte Tat zu werden. Das Beisammen vollzieht die Erhaltung . . . Wie in u n endlicher Summation werden die unendlichen Elemente in das All des Raumes vereinigt"®®. Betrachtet man jedoch die Art der Vereinigung gen a u e r , so wird bald deutlich, daß die Zeit - und damit die Einheiten oder Elemente - vom Raum vorausgesetzt wird: "Die Zeit mit ihren Erzeugnissen gilt jetzt als eine Voraussetzung, mit der der Raum o p e r i e r t D a s heißt dann freilich auch, daß der Raum die Tätigkeit der Zeit unumschränkt v o r a u s s e t z t : er kann die von der Zeit erzeugten Einheiten als Einheiten nicht "halten", weil er nicht auf sie beschränkt ist: "wenigs t e n s nicht auf sie, sofern die Zeit sie verschweben läßt"9Q. So bildet er "vielmehr einen H i n t e r g r u n d " , also einen Rahmen f ü r die erzeugende Tätigkeit der Zeit. In der Tat: "Worauf es ankommt . . . , das ist die gediegene, u n z e r s t ö r b a r e Selbständigkeit des B e i s a m m e n N u r hängt die Möglichkeit des Beisammen von den d u r c h die Zeit erzeugten Einheiten a b : es handelt sich also s t r u k t u r e l l um eine wechselseitige Bedingtheit von Raum und Zeit, Allheit und Elementen o d e r : Ganzem und Teil. Die Kennzeichnung der vorliegenden S t r u k t u r d u r c h das Verhältnis Ganzes - Teil geschieht freilich gegen Cohens eigenen Willen. Er wehrt sich deshalb gegen dieses B e g r i f f s p a a r , weil "das Ganze aus und in seinen Teilen ( b e s t e h t ) " 9 3 . Damit ist aber die Einheit nicht mehr gewähr-
- 141 leistet, die die Allheit darstellen soll; das Ganze ist ja nur in seinen Teilen: "Das ist das Illusorische in dem Begriffe des Ganzen, daß die Teile seine Voraussetzung s i n d " 9 4 . Es ist leicht, von hier aus im Sinne des idealistischen Gedankens "wahrhafter" Einheit als Einheit von Einheit und Unterschiedenheit Kritik zu üben, derart, daß auf die wechselseitige Bedingtheit der Struktur von Ganzem und Teil hingewiesen wird. Man könnte in diesem Zusammenhang die schon mehrfach beiläufig erwähnte Beobachtung der unermüdlichen Betonung der Irrelevanz der Elemente - und zwar sowohl bei der Mehrheit als auch bei der Allheit - stark machen, die dann zu einem bezeichnenden Indiz für die Ambivalenz der Cohenschen Argumentation würde. Sind nämlich die Elemente der Allheit tatsächlich belanglos, so wird einmal mehr die Äußerlichkeit der Allheit als Einheit betont: alles Gewicht liegt dann auf dieser "abstrakten" Einheit, der gegenüber das zu Einende in der Versenkung verschwindet. Andererseits weist Cohen gerade im Urteil der Allheit auf die konstitutive Bedeutung der Glieder für dasselbe hin: "Freilich kommt am . . . Ende alles auf die Bestimmung des Endlichen selbst an"95 ; wobei mit dem "Endlichen" eben die "endlichen Glieder" 96, die Elemente der Allheit gemeint sind. Und auch wenn die Mehrheiten als Glieder der Allheit nur in Zukunft und Vergangenheit ( " A + . . . " ) bestehen, die Bestimmtheit der Glieder also in der Tat noch nicht geleistet ist, sollen doch immerhin diese Mehrheiten durch den Raum so Be-stand erhalten, daß dieser als deren wahrhafte Einheit ausgegeben werden darf. Faktisch kommt also die Leistung des Raumes als Bestand der Glieder gerade an den Gliedern zur Geltung: deshalb bleibt es dabei, daß die Allheit des Raumes als relationaler Begriff seine Bedeutung nur im Gegenüber zur Mehrheit und ihren Gliedern erlangt, weswegen diese Struktur ihre adäquate Kennzeichnung durch das Binar Ganzes - Teil erhält. Wir werden anhand einer grundsätzlicheren Aussage Cohens^ noch einmal auf die Problematik einer solchen Kritik zurückkommen: hier genügt es, in nachdrücklicher Weise zu betonen, daß die Allheit nicht vorliegende "Inhalte" einen soll - und dies ist die Voraussetzung dafür, daß jene Kritik verfängt - , sondern im Kontext der Methode der Erzeugung von Inhalten begriffen werden muß. Dies kann noch einmal am Beispiel der unendlichen Reihe veranschaulicht werden: erst durch die Allheit, so sahen wir, wird die Unendlichkeit der Reihe als Zusammenschluß thematisiert, und zwar so, daß "die Allheit eine unendliche Einheit bildet, in welcher die Glieder selbst, in ihrer Besonderheit, nicht in Betracht komm e n " ^ . Es geht Cohen also keineswegs darum, die Einheit der Glieder einer unendlichen Reihe zu bestimmen, sondern die Einheit der Tätigkeit (Methode) des Reihens, des Addierens bzw. Antizipierens soll erst gewährleistet werden: und die Einheit der Tätigkeit ist die Unendlichkeit oder Allheit der Reihe. Diese Einheit wird in der Tat aus der Zeit insofern gewonnen, als auf die Unendlichkeit der Zeiterzeugung durch Anti-
- 142 zipation reflektiert wird. Dadurch wird außerdem die d u r c h das Antizipieren erzeugte Mehrheit "tiefer b e g r ü n d e t " ^ , weil die Mehrheit ohne die Unendlichkeit der Allheit eine "stabile(n)"100 bleibt. Wie ist dies zu v e r s t e h e n ? Erst mit der Allheit ist die unendliche Offenheit des Prozesses (der Reihe) gedacht: denn die antizipierte Mehrheit f ü r sich genommen gerinnt zum s t a r r e n Gebilde, weil mit der Antizipation der Zukunft auch schon der Abschluß gedacht i s t . Erst die Allheit gewährleistet also, daß nicht n u r von der Offenheit der Glieder innerhalb der Mehrheit, sond e r n auch von der Offenheit aller Glieder f ü r das je nächste gesprochen werden d a r f . Auf dieses bedeutsame Ergebnis ist noch einmal zurückzukommen, wenn a n d e r s diese Offenheit gerade d u r c h die antizipative S t r u k t u r der Allheit geleistet wird. Diese Funktion der Antizipation der Allheit ist bezüglich der wirkungsgeschichtlichen B e t r a c h t u n g des Cohenschen Antizipationsb e g r i f f s von besonderer Bedeutung. Es wird sich nämlich herausstellen, daß Heidegger zwar die Antizipation der Allheit von Cohen übernimmt, dieser aber eine ganz andere Funktion zuweist. Während nämlich bei Cohen durch die Vorwegnahme der Unendlichkeit des Prozesses dieser als einheitlicher aber offener bestimmt werden k a n n , sofern er immer weiterg e h t , wird bei Heidegger mit der Allheit das Ende eines Prozesses v o r weggenommen. (Nach Cohen soll die Einheit demnach als unbestimmte bestimmt bzw. erzeugt sein, während Heidegger diese als bestimmte bestimmt.) In beiden Fällen - und dies ist die Konsequenz der Funktion des Antizipationsbegriffs - kann d u r c h ihn die Einheit eines Prozesses gedacht werden. Wir müssen allerdings im Zusammenhang der Darstellung des Heideggerschen Antizipationsbegriffs noch einmal ausführlich auf seine Beziehung zu Cohen eingehen. Die Offenheit des Antizipierens zu gewährleisten, ist freilich n u r der eine Aspekt der Funktion des Raumes: der andere schon hervorgehobene besteht in der Einheit des Antizipierens. Und zwar soll gerade die Offenheit als Unendlichkeit diese Einheit darstellen - auch dies wurde schon deutlich. Es-trägt zur Illustrierung des A u s g e f ü h r t e n bei, daß Cohen an s p ä t e r e r Stelle die im Urteil der Allheit gedachte unendliche Einheit anhand des naturwissenschaftlichen Begriffs der Bewegung verdeutlicht. Die Bewegung kann in der Zeit allein nicht gefaßt werden, da sie den Raum voraussetzt als Bezugsrahmen. Nun aber so, daß d u r c h sie zugleich "das Beisammen des Raumes aufgelöst ( w i r d ) " 1 0 1 . Es gibt aber keine anderen "Elemente" des Raumes als die der Zeit: "Also geht die Auflösung des Beisammen, als die Auflösung des Raumes, in die Zeit z u r ü c k " ^ . So verbindet die Bewegung allererst Raum und Zeit: "in ihr vollzieht sich ein wahrhaftes Verhältnis (sc. zwischen Raum und Z e i t ) " 1 ^ . Denn d u r c h die Bewegung wird der Raum als "Projektionsfeld", als "Hinterg r u n d " ^ , also als Bezugsrahmen der Bewegung e r h a l t e n , die als sol1
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- 143 che die "Veränderungen", die "methodischen Operationen", d . h . die Antizipationen wahrnimmt 1 0 ^. An d e r Funktion der Koordinatenachsen schließlich wird dies vollends deutlich, wenn Zeit und Raum d u r c h die Kurve z . B . in Beziehung zueinander t r e t e n . Es ist also der Fort-schritt selbst (der Bewegung, der Kurve, der Reihe e t c . ) , der Zeit und Raum v e r b i n d e t . Hier deutet sich a n , was im folgenden als Ergebnis der Beschäftigung mit der Philosophie Cohens h e r auszustellen i s t , daß das Urteil der Mehrheit n u r den logisch-systematischen Ort f ü r die E i n f ü h r u n g des Begriffs Antizipation im Aufbau der Logik darstellt, im Grund genommen aber das Konstruktionsprinzip des ganzen Werkes auf diesem Gedanken b e r u h t , so nämlich, daß es selbst antizipiert i s t .
5. Seinskonstituierung als Erzeugung des Seins a) Erzeugen und Entdecken bei Cohen Es d ü r f t e deutlich geworden sein, daß mit dem Anspruch einer solchen "Logik der reinen E r k e n n t n i s " , die die Kantische Distinktion zwischen Sinnlichkeit und Verstand überwinden möchte, der Aufweis der Erzeugung des Seins d u r c h das Denken notwendig v e r k n ü p f t i s t , ja deren Gipfel und Zielpunkt bilden muß. So weist Cohen bereits in der Einleit u n g immer wieder auf die enge Verschränktheit zwischen Denken und Sein hin, deren Identität aufgewiesen werden soll. Interessanterweise werden hier jene beiden Begriffe - in v o r l ä u f i g e r , thetischer Absicht so in Beziehung zueinander gesetzt, daß meist nicht n u r von einer Erzeugung, sondern auch, und ö f t e r , von der Entdeckung des Seins durch das Denken gesprochen wird. "Das Sein r u h t nicht in sich selbst; sond e r n das Denken erst läßt es entstehen . . . Das Denken k a n n , das Denken soll das Sein e n t d e c k e n " ^ ® . Werden hier noch beide Begriffe nebeneinander gestellt, so heißt es wenig s p ä t e r : "Diese Entdeckung (sc. des Seins) ist die w a h r h a f t e , die wissenschaftliche E r z e u g u n g " ^ . Bereits diese terminologische Distinktion ist geeignet, das fundamentale Problem, das jedem Versuch eines Nachweises der u r s p r ü n g l i c h e n , i . e . wesentlichen Einheit von Denken und Sein aufgegeben i s t , h e r a u s z u stellen. Soll nämlich das Sein nicht von vornherein auf den Bereich des Denkens eingeengt werden, so muß es in irgendeiner Weise außerhalb des Denkens zu stehen kommen und gleichwohl - zumindest gemäß dem Anspruch einer reinen Logik des Erkennens - als "Erzeugung" des Denkens ausgewiesen werden können. Im Denken Cohens soll der Raum (der ja a n d e r n o r t s als antizipierter dargestellt wurde) die Lösung dieses offenkundigen Dilemmas e r b r i n g e n . Die Rekonstruktion dieser Argumentation und der damit v e r b u n d e n e n Aporien verweist zum e r s t e n Mal auf den entscheidenden Wendepunkt, auf die "Kehre" einer Argum e n t a t i o n s s t r u k t u r , die uns in anderem Zusammenhang noch zu beschäftigen h a t .
- 144 Vorab eine terminologische Klärung: Es ist zu unterscheiden zwischen empirisch f a ß b a r e r Wirklichkeit einerseits, Realität bzw. Sein a n d e r e r seits. Diese im Kontext des Urteils der Realität von Cohen vollzogene Unterscheidung behält zweifellos auch f ü r das Urteil der Allheit ihre u n umschränkte Gültigkeit, so daß Sein nicht f ü r die Wirklichkeit stehen d a r f , die als "Instanz der zu kennzeichnen ist. Damit ist von vornherein die Schranke des Seins aufgedeckt: außerhalb des Denkens kann Sein nicht als Empfindung "entdeckt" w e r d e n * ^ . Worauf sich dann das "Außerhalb" noch beziehen k a n n , ist im folgenden d a r zustellen. Es wurde schon darauf hingewiesen: Das Außerhalb des Denkens ist der Raum, d u r c h ihn kann der Inhalt und damit das Sein zur Erzeugung gelangen: "Mit dem Raum wird eigentlich zum ersten Male der korrelative Wert des Denkens f ü r das Sein zu einem prägnanten Ausdruck gebracht"!!®. Es soll also aufgewiesen werden, daß sich Denken notwendig auf Sein bezieht, daß eine "notwendige Korrelation des Innern und des Äußern"·'·^ namhaft gemacht werden d a r f . Die Beziehung zwischen Denken und Sein muß also in der Weise hergestellt werden, daß der "Immanenz", dem "Innern des Denkens"Ü2 e i n "Außen" "entgegengestellt" wird, und zwar so, daß "das Denken selbst . . . dieses Außen ( e r z e u g t ) ; und d u r c h diese Erzeugung erst wird das Denken zum Denken der Natur, also zum S e i n " ü 3 . Der Raum als die gesuchte "neue(n) Kategorie"!!^ h a t demnach zwei Bedingungen zu erfüllen: er muß sich dem "Innern", d . h . der Zeit und der d u r c h sie erzeugten Mehrheit entgegenstellen, und er muß sich als Erzeugnis des reinen Denkens aufzeigen lassen! Wurde die erste Bedingung im Zusammenhang der neuen Leistung des Urteils der Allheit dargestellt (hier wurde ja die Funktion des Raumes thematisiert), so gilt es jetzt, die Herleitung des Raumes, d . i . den Anspruch der Erzeugung von Sein durch das Denken zu u n t e r s u c h e n . Scheinbar u n a b hängig vom Begriff der Antizipation f ü h r t Cohen die Erzeugung des Seins auf die Funktion des Raumes z u r ü c k , das Beisammen (der u n e n d lichen Reihe) zu gewährleisten. "Indem der Raum dieses Beisammen möglich macht, erweitert er . . . nicht n u r den Begriff des Bewußtseins, als des I n n e r n ; sondern er überschreitet i h n " ü 5 . Das bedeutet f ü r die Zeit als Vorstufe des Inhalts, daß sie "nur das Innere ( v e r t r i t t ) , dem das Beisammen entzogen, verschlossen i s t " ü 6 . Der Raum hingegen als Beisammen v e r t r i t t das Äußere, "welches doch n u r sein (sc. des I n n e r n ) Erzeugnis sein k a n n " ! ! ? . Dieser Widerspruch wird aber so behoben: "Das Äußere ist in der Tat das Innere; aber das Innere verwandelt sich zum Äußeren in dem Fortschritt der Erzeugungen von Zeit und Raum"H8. Diese "Lösung" des Widerspruchs kann m.E. n u r dann verständlich gemacht werden, wenn berücksichtigt wird, daß der Raum durch unendliche Summation, i . e . d u r c h Antizipation gewonnen wurde. Es konnte Cohen darin zugestimmt werden, daß durch Antizipation deshalb Mehrheit erzeugt wird, weil jener Gedanke als Bedingung der Möglichkeit der Gleichzeitigkeit des Un gleichzeitigen gefaßt werden darf 1 !®: d . h . a b e r , daß die so bestimmte Mehrheit als solche nicht n u r ihre Elemente (Zukunft E m p f i n d u n g " ! * ^
- 145 und Vergangenheit) - in freilich vorläufiger Weise - e i n t , sondern auch "mehr" ist als das jeweilige Element, über das jeweilige Element "hinausgeht". Dieses "Hinausgehen" findet nun im Fortschreiten zur Allheit insofern seine E r - f ü l l u n g , als diese antizipierte Allheit nicht noch einmal überboten werden k a n n . So erweist sich die Allheit als end-gültige Einheit d e r g e s t a l t , daß sie tatsächlich gegenüber ihren Gliedern das Äußere verkörpert.
b ) Kritische Würdigung der Seinskonstituierung Überblickt man den dargestellten Ausschnitt von Cohens "Logik der reinen E r k e n n t n i s " , der insofern als deren Kernstück bezeichnet werden d a r f , als er in dem Aufweis der Möglichkeit der Erzeugung von Inhalt gipfelt, und das ist nichts weniger als - dem Anspruch nach - die Erzeugung von Sein durch das Denken, so wird schnell deutlich, daß die am Urteil der Mehrheit geübte Kritik - ihre Berechtigung vorausgesetzt das ganze Unterfangen des Werkes in Frage stellt. Denn das Urteil der Allheit, das ja der Summation " n u r " ihre Unendlichkeit und damit Grenze h i n z u f ü g t , nicht aber an der Art der Erzeugung selbst (der Summation als Antizipation nämlich) etwas ä n d e r t , kann damit ebensowenig wie das Urteil der Mehrheit die Erzeugung der Glieder selbst leisten. Es wurde schon deutlich, daß gerade auch innerhalb des Cohenschen Denk e n s , d . h . u n t e r vorläufiger Bejahung von dessen Prämissen, die Bestimmung der Glieder oder Elemente den schwächsten, weil ambivalenten Argumentationsschritt bildet. Genau an diesem Punkt konnten wir nicht umhin, das System selbst zu v e r l a s s e n , da der im Urteil der Allheit v o r a u s g e s e t z t e n , im Urteil der Mehrheit e i n g e f ü h r t e n , aber nicht b e g r ü n d e ten These der Erzeugung der Glieder ( d . i . hier Zukunft und Vergangenheit) durch Antizipation widersprochen werden mußte. Damit kann aber auch der ungleich gewichtigere Anspruch Cohens, im Urteil der Allheit die Erzeugung des Seins d u r c h das Denken aufgewiesen zu hab e n , nicht eingelöst werden. Denn wenn der Raum, der ja den Inhalt und damit "Sein" v e r k ö r p e r n soll, sich als abhängig von der Zeit erweist, diese aber als das "Innere" e r s c h e i n t , das "Bewußtsein" oder Denken v e r t r i t t , dann bleibt auch das Sein abhängig vom Denken, d . h . , es ist vom Denken gesetztes Sein, es ist nicht mehr als ein Gedanke und eben nicht außerhalb des Denkens zu stehen kommendes Sein. Auch wenn das Recht jener (öfters geübten) Kritik als solcher kaum bestritten werden k a n n , wirkt sie doch merkwürdig schal und a b g e s t a n d e n , fast so, als t r ä f e sie das Cohensche Denken, wenn ü b e r h a u p t , dann n u r am Rande. Es ist ja gerade das Anliegen Cohens, mit dem Denken, nicht aber mit der Anschauung, geschweige denn mit der Empfindung, anzuf a n g e n . Doch an diesem Punkte ist Kants Kopernikanische Wende nicht h i n t e r g e h b a r : Denken - genauer der menschliche Verstand - kann immer n u r Gedanken e r z e u g e n . Diese gewiß legitime Kritik am System Cohens
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darf aber keinesfalls in idealistische Bahnen gelenkt werden: dieser naheliegende Beigeschmack ist e s , der jene Schalheit hervorruft. Dies kann in exemplarischer Weise an dem Grund-Satz der "Logik der reinen Erkenntnis" aufgewiesen werden, an der schon mehrfach zitierten Aussage: "Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis". Man könnte zunächst die Relevanz dieser These unterstreichen, indem eine Koinzidenz der logischen Struktur der Erzeugung mit der der "wahren" B e s t i m m u n g l 2 0 konstatiert wird. Durch jene Identifizierung der wahren Bestimmung mit Erzeugung wird folgende Struktur des Begriffs "Erzeugung" deutlich: Man kann jede Bestimmung hinsichtlich des Bestimmenden und des Bestimmten unterscheiden. Gewöhnlich wird das Verhältnis beider so gedacht, - das hat Hegel in seiner Logik geltend gemacht - daß nicht nur das Bestimmende das Bestimmte bestimmt, sondern auch das so Bestimmte das Bestimmende (ate Bestimmendes nämlich) bestimmt. Damit gerät aber der Boden der ursprünglichen Positionen ins Wanken, das Bestimmte erweist sich hinsichtlich des Bestimmenden selbst als bestimmend, während umgekehrt das Bestimmende hinsichtlich des Bestimmten selbst bestimmt wird. Dann kann aber weder auf der Ebene des Bestimmenden noch auf der des Bestimmten eine umgreifende Einheit gedacht werden. Die "wahre" Bestimmung, die die Einheit des Bestimmten und des Bestimmenden darstellen soll, kann also nicht auf der Ebene des Bestimmens selbst liegen; sie muß andererseits, will sie nicht "leer" sein, aber doch das Bestimmen in seinen beiden Momenten enthalten. In Anbetracht dieses doppelten Anspruchs, der an eine wahre Bestimmung gerichtet ist, wird die vorzügliche Eignung des Begriffs der Erzeugung für die Lösung dieses Problems deutlich. Denn dieser Begriff drückt aus, daß das Erzeugende kein Erzeugnis vorgängig "gegenüber" hat, wenn anders die Erzeugung gerade als das Erzeugen des Erzeugnisses verstanden werden soll. So bleibt der Akt der Erzeugung im Erzeugnis als seinem anderen bei sich selbst: "Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis"121. go wird der Begriff der Erzeugung den oben geltend gemachten beiden Kriterien einer wahren Bestimmung gerecht: er leistet die wahre Einheit von Bestimmtem/ Erzeugtem und Bestimmendem/Erzeugendem, weil einerseits das Erzeugte nur als Erzeugen und angesichts des Erzeugens ist (Identität), andererseits sich doch von dem Erzeugen, als dessen Erzeugnis nämlich, unterscheidet (Differenz). Sofern nun von "nichts" Gegebenem auszugehen ist, ist jene Struktur zu allererst auf das Denken selbst zu applizieren: Das Denken hat so zunächst die Aufgabe der Selbst-Erzeugung wahrzunehmen. Ist man einmal so weit einer idealistischen Interpretation der Cohenschen Argumentation gefolgt, so ist es nicht mehr schwer, mit dem Hammer der Fichteschen Aporien der Selbstsetzung des Ichl22 jene zu zerschmettern: "Setzen bzw. Produzieren hat offenbar ein Setzendes bzw. Produzierendes zur Bedingung. Produktion ist nur zufolge eines Habens des Produktes. Indem das Haben sowohl durch das, woraus das. Produkt ist, als auch durch ein Zurück auf jenes Woraus bestimmt ist, zeigt sich ein uneinholbar Produzierendes ; dieses fungiert als dasjenige, für welches das Pro-
- 147 dukt das Produkt ist. Gleichgültig nun, ob ein solches Produzierendes seine Produktion zufällig oder notwendig produziert, niemals wird man mit Sinn folgern können, das Produzierende sei als solches produziert" 123. Während H.-L.Ollig meint, daß Cohen - von einer "entscheidenden Stelle" seiner Ethik abgesehen - "im Gesamtrahmen seines systematischen Konzepts ihr (sc. jener Einsicht) nicht entsprechend Rechnung trägt"124 1 scheint uns die ganze hier angedeutete (idealistische) Interpretationstendenz von vornherein verfehlt, weil sie das Grundanliegen Cohens nicht treffen kann. Dieser These kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden: es ist jedenfalls bedeutsam - dies wurde früher ausgeführt - , daß Cohen mit dem Denken, nicht aber mit dem Subjekt und dessen möglicher Konstituierung anhebt. So ist der Terminus "SelbstErzeugung" jedenfalls nicht auf das Selbst zu beziehen, dessen sich das Ich bewußt ist. Es sollen überhaupt keine "Dinge" erzeugt werden, weswegen auch der obige Interpretationsversuch, Erzeugung als "wahrhafte" Bestimmung zu deuten, ursprünglich scheitern muß. Gleichwohl bleibt das Problem jeder Selbsterzeugung bestehen : auch wenn die Methode (der unendliche Prozeß) des Denkens erzeugt wird, scheint das Produzieren (hier der Ursprung) in irgendeiner Weise vorausgesetzt zu sein, um dem Anspruch des Produzierens zu genügen. Oder sollte er so voraus-gesetzt sein, daß er im voraus, d.h. vor dem Produzieren zwar thematisiert, aber erst durch die Tätigkeit des Produzierens er selbst wird? M.a.W. : Ist der Ursprung seiner Tätigkeit vorweg-genommen? Diese Frage führt zurück zu unserer Themastellung: wenn sich zeigen läßt, daß das Konstruktionsprinzip selbst bei Cohen antizipiert ist, so ist damit nicht nur die Struktur der Selbsterzeugung erhellt, sondern auch die fundamentale Bedeutung dieses Begriffs für eine transzendentale Erkenntnistheorie dargetan. 6. Neukantianische Prinzipienantizipation Kantische Ge genstandsanti zipation a) Antizipation als Strukturprinzip von Cohens Logik Das Urteil der Allheit soll noch einmal den Ausgangspunkt der nachstehenden Überlegungen bilden. Es wurde schon deutlich, daß die Allheit des Prozesses, der Reihe, in ihrer Unendlichkeit besteht, die wiederum durch Antizipation, als Fortführung der Summation ins Unendliche nämlich, entsteht. Die Allheit des Prozesses selbst ist somit antizipiert. Das heißt aber, daß die Struktur der Allheit zeitlich vermittelt ist, wenn anders die Antizipation als "Grundtat der Zeit" bestimmt worden ist. (Auch dies wurde im übrigen schon anschaulich am Beispiel der Bewegung, die den Raum in seine zeitlichen Elemente aufhebt 125.)
- 148 Es ist von daher zumindest m i ß v e r s t ä n d l i c h , wenn H . G ü n t h e r k o n s t a t i e r t : " I n s b e s o n d e r e d e r Begriff d e r Allheit bei Cohen wird ohne die Logik d e r Zeit gedacht"126 # zu diesem Urteil kann man kommen, wenn d e r Begriff Antizipation auf die Kategorie d e r Mehrheit e i n g e s c h r ä n k t wird u n d nicht dessen g r u n d l e g e n d e B e d e u t u n g f ü r das System des Cohenschen Denkens gesehen w i r d . Zu diesem Urteil d ü r f t e man a b e r nicht kommen, wenn zu dessen S t ü t z u n g d a r a u f hingewiesen w i r d , d a ß die Totalität des Raumes von Cohen b e s c h r i e b e n wird mit den "Mitteln d e r Mathematik: 'das I n t e g r a l a b e r ist n i c h t s a n d e r e s als die Allheit, in welcher die unendliche Reihe mit dem Unendlichkleinen sich v e r b i n d e t ' " 1 ^ . Gerade die Reihe muß als zeitliche gedacht w e r d e n , wenn a n d e r s ihre E n t s t e h u n g , die R e i h u n g , d u r c h Antizipation des folgenden Glieds bedingt ist u n d also d e r Begriff d e r Allheit die "Logik d e r Zeit" v o r a u s s e t z t 1^8. Das u n b e s t r e i t b a r e Verdienst d e r Dissertation J.Solowiejczyks b e s t e h t d a r i n , b e r e i t s 1930 gezeigt zu h a b e n , daß die A u f g a b e n s t e l l u n g der Coh e n s c h e n Logik auf dem Gedanken d e r Antizipation f u ß t . Die antizipative S t r u k t u r d e r Allheit illustriert diese These bloß; i h r e hermeneutische Adäquanz ist damit noch nicht a u s g e w i e s e n . Solowiejczyk setzt mit einem f r ü h e r skizzierten Problem e i n 1 2 ^ : wenn das Denken ( d e r Philosophie) die ( n a t u r - W i s s e n s c h a f t l i c h e E r k e n n t n i s so problematisiert, daß es s e l b s t ä n d i g ( " r e i n " ) i h r e Methode e r z e u g t , dann müssen die beiden geläufigen n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Methoden, die Synthese u n d die Analys e , im Denken selbst geeint, " e r h a l t e n " sein. Die logische S t r u k t u r dies e r E r h a l t u n g ist d u r c h "die Methode der Antizipation" g e w ä h r l e i s t e t 1 ^ . Denn n u r so k a n n gedacht w e r d e n , daß die Analyse notwendig auf die S y n t h e s e und umgekehrt v e r w e i s t , weil am Ort der Analyse die S y n t h e se immer schon antizipiert ist u n d u m g e k e h r t . Dieser Sachverhalt wurde dargestellt an den beiden Gliedern der Zeitreihe, Z u k u n f t u n d V e r g a n g e n h e i t . Völlig zu Recht aber weist Solowiejczyk darauf h i n , daß die Antizipation nicht e r s t in der Mathematik zur Geltung kommen k a n n . "Denn die Schwierigkeit: wie gelangt das Denken von einem Element zum zweiten? b e s t e h t b e r e i t s in d e r Klasse der Urteile d e r Denkgesetze"131. Deshalb k a n n das schwierige Problem des U r s p r u n g s des Denkens n u r so gelöst w e r d e n , d a ß dieser den ganzen Denkprozeß vorwegnimmt: "Das Wesen des U s p r u n g s b e s t e h t in d e r Antizipation d e r Richtung"132. Nur so kann die Einheitlichkeit u n d Selbständigkeit des D e n k p r o z e s s e s gewahrt bleiben u n d d e r P r o z e ß c h a r a k t e r selbst a u f r e c h t e r h a l t e n w e r d e n . L e t z t e r e r d e s h a l b , weil die Antizipation als Summierung auf das je n ä c h ste Element v o r - v e r w e i s t . In d e r T a t : "Die Antizipation b e s a g t n i c h t s a n d e r e s , als daß die E r k e n n t n i s kein zufälliges Faktum, kein summaris c h e s Ergebnis von a u f e ; n a n d e r folgenden P h a s e n , s o n d e r n ein regelmäßiger notwendiger Prozeß ist"133. Für den E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d hat dieses "antizipative" Denken die Konsequenz, d a ß sie " s t e t s die Unvollkommenheit dieser Einheit von Denkinhalt u n d Denktätigkeit h e r b e i ( f ü h r t ) " ! 34 : dies e n t s p r i c h t dem f r ü h e r als konstitutive Offenheit eines Elementes f ü r
- 149 das nächste dargestellten Sachverhalt. Damit fällt Licht auf die idealistisch klingende Formel: "Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis": Daru n t e r ist nichts anderes zu v e r s t e h e n , als daß die Tätigkeit des Antizipierens der Synthese am Ort der Analyse und umgekehrt das einzig Beständige im Prozeß des Denkens ist. Jetzt wird auch verständlich, wie Cohen die Identität des Denkprozesses denken kann: diese ist bedingt d u r c h Antizipation. (Es scheint, daß Cohen sich zunehmend der fundamentalen Bedeutung der Vorwegnahme f ü r seine Konzeption einer transzendentalen Wissenschaftstheorie bewußt geworden ist. Jedenfalls f ü g t er in der zweiten Auflage seiner Logik einen wichtigen Abschnitt über "Die Vorwegnahmen ein, wo er ausdrücklich das Ergebnis der voranstehenden Interpretation bestätigt : fSchon die Erzeugung ist eine Vorwegnahme, und zwar eine solche des schlechthin ersten ( ! ) Grundsteins. Und nicht minder ist die Einheit eine solche Vorwegnähme"·'·^®. Auch wenn diese Äußer u n g sich auf das Problem der Darstellung der Logik b e z i e h t ! ^ , sollte sie doch nicht zu schnell als beiläufig beiseite geschoben werden. Denn es gelingt Cohen immerhin, indem er sachlich die Logik auf dem Antizipationsgedanken fußen läßt, die Darstellung der Logik als ihre innere Entwicklung selbst zu b e g r e i f e n . )
b ) Der Fortschritt der Prinzipienantizipation Cohens gegenüber Kant Die voranstehende Interpretation von Solowiejczyk, die die f r ü h e r e n A u s f ü h r u n g e n über das Urteil der Mehrheit b e s t ä t i g t , wurde deshalb relativ breit dargestellt, weil sich von ihr aus die Bedeutung des Beg r i f f s Antizipation bei Kant und bei Cohen in zusammenfassender Weise vergleichen läßt. Den Vergleichspunkt bildet dabei das Antizipierte: bei Kant, so sahen wir, erwiesen sich die Verstandesforrnen als antizipiert, während sich hinsichtlich der antizipativen S t r u k t u r der Anschauungsformen Schwierigkeiten e r g a b e n . Von diesen Schwierigkeiten zunächst abgesehen kann man jedenfalls s a g e n , daß mittels Antizipation eine Klammer zwischen Form und Inhalt (Materie) gefunden wurde, sofern eben die antizipierten Formen auf jeden E r f a h r u n g s p r o z e ß hic et nunc v o r greifen. Demgegenüber erweist sich bei Cohen das reine Denken selbst als antizipativ, und zwar so, daß seine Prinzipien, namentlich das Prinzip des U r s p r u n g s , antizipiert sind. Es ist n u n möglich zu zeigen, daß Cohen die Kantische Position in s t r i n g e n t e r Weise radikalisiert. Äußerlich betrachtet ist es die Bestimmung der Zeit als Kategorie der Antizipation, die den wesentlichen Fortschritt Cohens gegenüber Kant bildet. Diese Weiterentwicklung müßte freilich als Fortschritt im Rahmen der transzendentalen Analytik selbst interpretiert werden, was hier n u r hinsichtlich der Konsistenz der Funktion des Antizipierens als Schematisieren angedeutet werden kann. Wird nämlich die S t r u k t u r der Zeit selbst
- 150 als antizipative gedacht, so kann allererst das Schematisieren als zeitliches verstanden werden, während bei Kant nicht einzusehen ist, warum der Zeit nur als Schema, nicht aber als Anschauungsform jene Struktur eignet. Freilich wurde schon angedeutet, daß sich bei Kant selbst Hinweise finden, die über jene exklusive Qualifikation des Schematisierens als Antizipierens hinausgehen: bereits jene beiden Äußerungen Kants, die ganz allgemein von einer Antizipation der "Formen der Erfahrung" sprechen - also offensichtlich sowohl Anschauungs- als auch Verstandesformen umgreifen - , lassen sich hier anführen. Insbesondere aber kann eine bedeutsame, in anderem Zusammenhang bereits zitierte 1 "^ Äußerung Kants zumindest als Anknüpfungspunkt dafür interpretiert werden, daß durchaus auch die Anschauungsformen in der transzendentalen Ästhetik als antizipierte begriffen werden, wonach den Anschauungen selbst die Struktur des Antizipierens eignen würde. Gemeint ist jene Äußerung, derzufolge die Anschauung der Teile des Raumes bzw. der Zeit das Ganze immer schon voraus-setzen, also vorwegnehmen. Gilt dies, so ist zum einen die einheitsstiftende Funktion der Antizipation insofern erwiesen, als dann sowohl die Formen der Anschauung als auch die des Verstandes als antizipative zu bestimmen sind. Sofern nun die Anschauung sich auf "Gegebenes", d . h . (im Sinne Kants) auf sinnlich Wahrnehmbares bezieht, wird am Ort der Antizipation offensichtlich die Form des Verstandesbe1 qq griffs bezüglich seiner "ontologischen" Ebene konkretisiert . Könnte es gerade ihre antizipative Struktur sein, die Denken und Sein eint? (Von hier aus mag eine früher ^O bloß konstatierbare Beobachtung verständlich werden: die verwunderliche Tatsache, daß Kant für die Kennzeichnung des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft des Gottesreiches nicht den Antizipationsbegriff verwendet. Zwar kann Kant den "Vollzug sittlichen Handelns" als "Transzendierung der Sinnenwelt auf das intelligible Reich der Zwecke hin . . . als das 'Ende der Dinge' bezeichnen" 1 ^ 1 , aber dies darf im Kantischen Sinne nicht als "Antizipation des Eschaton" 1 ^ 2 gedeutet werden. Es ist nicht zufällig, daß der Terminus Antizipation eine positive Funktion ausschließlich innerhalb der transzendentalen Analytik erhält: soll er nämlich das Verhältnis von Form und Materie thematisieren, so wird er in der Tat dort unanwendbar, wo über den Bereich der Phaenomena hinausgegangen wird. Überdies ist das "Ende aller Dinge" deshalb unzeitlich, weil es "der Anfang einer Fortdauer . . . übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender, Wesen ist, die also und deren Zustand keiner andern als moralischen Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig sein wird 1 ' 1 ^. Ohne diesen Befund pressen zu wollen, könnte er ein zusätzliches Indiz für die zeitliche Struktur des Kantischen Antizipationsbegriffs darstellen, sofern der zeit-lose Bereich der praktischen Vernunft, näherhin die wachsende Fähigkeit der Menschen, die Sinnenwelt zum Reich der Zwecke hin zu überschreiten, nicht durch jenen Begriff ausgedrückt wird. Als argumentum e silentio ist diese Beobachtung wenigstens einer Erwähnung wert.)
- 151 Sofern außerdem - und dies wird die Beschäftigung mit dem Antizipationsbegriff bei K.Rahner lehren - am Ort der Antizipation der Verstandesbegriff zum Vernunftbegriff hin (dies ist im Sinne der Kantischen Unterscheidung gemeint) ü b e r s c h r i t t e n wird, scheint in der Tat die S t r u k t u r der Prolepse allen geistigen Akten zu eignen. Doch diese Andeutungen müssen hier genügen: auf sie ist als A n k n ü p f u n g s p u n k t e f ü r die später darzustellende Tragfähigkeit von Antizipation zurückzukommen. Jedenfalls wird jetzt deutlich, daß Cohen, indem er die Kategorialität der Zeit als ihre antizipative S t r u k t u r d e u t e t , ein einheitliches Prinzip des Denkens, das die Kantischen Anschauungsformen umfaßt, aufgedeckt h a t . Daß tatsächlich das Prinzip der Konstruktion bei Cohen (analog zu Kant) als Antizipation begriffen werden muß, erhellt im übrigen auch folgende Überlegung: wenn das Konstruktionsprinzip (der U r s p r u n g ) selber antizipiert ist - dies wurde oben dargelegt - , so muß das Konstruktionsprinzip deshalb die Antizipation sein, weil andernfalls dem Konstruktionsprinzip ein ihm fremdes (äußerliches) vorgelagert wäre, was wiederum zur Folge h ä t t e , daß dieses neue Prinzip der wahrhafte U r s p r u n g wäre. Es bleibt allerdings fraglich, ob Cohen auch das ungleich schwerwiegendere Problem gelöst h a t , dem Anspruch der Empfindung, also dem im Kantischen Sinne sinnlich Gegebenen gerecht zu werden. Damit wollen wir uns anhangsweise noch kurz b e s c h ä f t i g e n .
c) Ausblick: Denken und Sein Das Ergebnis der Beschäftigung mit Cohens Logik hinsichtlich ihres Ans p r u c h s , den Gegenstand zu e r z e u g e n , ist ein negatives : das in der Logik erzeugte Sein kann nicht die Empfindung legitimieren. Denn es wurde "der Sinn von Erkenntnis auf reine Erkenntnis e i n g e e n g t " 1 ^ . In der Tat muß diesem Résumée zugestimmt werden, das dem f r ü h e r 145 dargestellten e n t s p r i c h t : "Man kann nicht s a g e n , daß die Apriorisierung und Objektiv i e r u n g der Empfindung dadurch (sc. d u r c h die "Logik der reinen Erk e n n t n i s " ) vorangekommen ist. Sie ist eher zu einer Verlegenheit geword e n " · ^ . Dieses f ü r die Schrift "Das Prinzip der Infinitesimalmethode" ausgestellte Urteil gilt sicherlich auch f ü r Cohens Logik. Der A n s p r u c h , daß d u r c h Antizipation im zeitlichen Sinne "Wirklichkeit", die außerhalb des Denkens "ist", erzeugt werden k a n n , wurde nicht eingelöst, ja es wurde noch nicht einmal ein Bezug zu solcher Wirklichkeit h e r g e s t e l l t . Cohens große These, nach der die Zeit und auch der Raum als Kategorien unvermindert das "Gegebene" v e r t r e t e n , muß von daher bezweifelt werden; freilich wird dadurch noch nicht die Behauptung Kants, daß das Gegebene n u r als Anschauung "erkennbar" wird, ü b e r z e u g e n d e r . Es kann hier nun nicht um eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser weichen-
- 152 stellenden These Kants gehen; d e r Hinweis mag hier g e n ü g e n , d a ß die apriorische O r d n u n g s f u n k t i o n d e r Formen d e r A n s c h a u u n g , die a n d e r e r s e i t s k o n s t i t u t i v f ü r den Erweis einer a p r i o r i s c h e n V e r s t a n d e s e r k e n n t nis i s t , die Rezeptivität der A n s c h a u u n g v e r n a c h l ä s s i g t : s o f e r n notwendig zum "Wahrnehmen" ein " k o n s t r u k t i v e r Z w a n g ( e s ) " 1 4 8 hinzukommt, können A n s c h a u u n g e n gar nicht mehr d u r c h i h r e Rezeptivität von d e r spontanen Tätigkeit des V e r s t a n d e s u n t e r s c h i e d e n w e r d e n , so daß sich das s c h e i n b a r Gegebene ü b e r h a u p t n u r als " K o n s t r u k t " des menschlichen V e r s t a n d e s a n s c h a u e n l ä ß t . Wir müssen u n s mit diesem Hinweis deshalb b e g n ü g e n , weil eine a u s g e f ü h r t e Kritik des Gegebenen bei K a n t 1 ^ ¿ e n v o r g e g e b e n e n Rahmen s p r e n g t : zur Legitimation dieser Kantkritik sei n u r so viel h i n z u g e f ü g t , d a ß philosophiegeschichtlich gerade die K o r r e k t u r u n d Neuformulierung der t r a n s z e n d e n t a l e n Ästhetik als Radikalisierung des Kantischen Denkens den d e u t s c h e n Idealismus einsetzen ließ. In diesem Sinne erweist sich auch die Position Cohens als Radikalisierung u n d P r ä z i s i e r u n g eines bei Kant selbst angelegten S a c h v e r h a l t s ; gleichwohl wird man an diesem P u n k t die eigentliche Differenz beider Denker e r b l i k ken d ü r f e n , s o f e r n Kant genau diesen Schritt der Kategorialisierung der A n s c h a u u n g nicht t u t . Es ist wichtig zu s e h e n , d a ß die Fortentwicklung d e r Kantischen E r k e n n t nistheorie zu jenem Neukantianischen "Methodenmonismus" in d e r letztlich äußerlichen Beziehung von Form u n d Inhalt in d e r "Kritik der r e i n e n V e r n u n f t " g r ü n d e t 150> die s t r u k t u r e l l als Wiederholung d e r f r ü h e r d a r gelegten Problematik einer Verhältnisbestimmung von t r a n s z e n d e n t a l e r u n d empirischer Apperzeption gedeutet werden k ö n n t e * 5 * . Nur so nämlich ist es ü b e r h a u p t möglich, die Formen "an s i c h " zu nehmen und den philosophischen E r k e n n t n i s p r o z e ß zu einem rein methodischen umzufunktionier e n . Sofern diese Äußerlichkeit von Form und Inhalt d u r c h die logische Antizipation der Formen als eines f e s t s t e h e n d e n G e r ü s t s jeder Wahrnehmung b e d i n g t i s t , ist diese E x t r a p o l i e r u n g d e r Formen denn auch v e r s t ä n d l i c h . Pointiert wäre dieser Sachverhalt so zu formulieren: An die Stelle d e r v o r g e g e b e n e n Inhalte t r i t t im Neukantianismus die a u f g e g e b e ne M e t h o d e 1 . Man könnte a u c h einen a n d e r e n Weg der K a n t i n t e r p r e t a t i o n e i n s c h l a g e n , d e r die wechselseitige V e r s c h r ä n k t h e i t von Form und Inhalt a u f z e i g t . Diese I n t e r p r e t a t i o n s t e n d e n z w u r d e oben im Zusammenhang d e r D e u t u n g d e r impliziten Temporalität d e r Kantischen Antizipation a n d e u t u n g s w e i s e entwickelt - an sie sollte zum Abschluß d e r Darstellung der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Funktion des Antizipationsbegriffs in d e r Philosophie noch einmal e r i n n e r t w e r d e n , da sie den A u s g a n g s p u n k t f ü r die s p ä t e r a u s z u f ü h r e n d e Tragweite von Antizipation hinsichtlich einer positiven Verhältnisbestimmung von Glaube und Erkennen darstellen wird 153. Das zweite g e g e n ü b e r jenem positive E r g e b n i s der B e s c h ä f t i g u n g mit dem philosophischen Denken Cohens b e s t e h t in d e r Einsicht, daß Mehrheit, i n s b e s o n d e r e Allheit, wenn auf i h r e zeitliche S t r u k t u r abgehoben w i r d ,
- 153 n u r als vorweggenommene denkbar i s t . Antizipation gründet letztlich in einer Relation von Zeitmodi. Damit wird von vornherein der Begriff der Antizipation in seine Schranken verwiesen: er kann zwar die Zukunft zu der von ihr unterschiedenen Gegenwart in Beziehung setzen - er kann gleichsam die Zukunft "vergegenwärtigen" - , weil er diese Beziehung e r zeugt , er kann aber die Zukunft weder inhaltlich bestimmen noch gar e r zeugen. Das Wissen um das Wessen des Noch-nicht muß ihm von woanders her gegeben sein. Als bloß relationaler Begriff kann somit die Antizipation unmittelbar keine kritische Instanz gegenüber den Elementen der Relation bilden. Immerhin mag durch die erzeugte Relation die Zukunft f ü r die Vergangenheit und Gegenwart wirksam werden, so daß die antizipierte Zukunft das Verstehen dieser Zeitmodi b e d i n g t . Für Cohen mag dieses Ergebnis dann zufriedenstellend sein, wenn b e rücksichtigt wird, daß es ihm insbesondere auf die Darlegung der Methode der Erzeugung eines Prozesses, näherhin des Denk- bzw. E r k e n n t nisprozesses der Wissenschaften, ankam. D . h . , die eben noch einmal konstatierte Reduktion der Kantischen Gegenstandsantizipation auf die Vorwegnahme der dem Inhalt gegenüber stets gleich gültigen methodischen Prinzipien impliziert die Gleichgültigkeit und damit Äußerlichkeit der je und je zu s t r u k t u r i e r e n d e n Materie. Die Wahrheit der antizipierten Prinzipien - wenn a n d e r s es Wahrheit (auch) mit der Adäquatheit von Form und Inhalt zu tun hat - steht somit von vornherein und f ü r immer f e s t , weil die sie in Frage stellende Materie u r - s p r ü n g l i c h eliminiert wurde. Demgegenüber wird die Antizipation der methodischen Prinzipien selbst, d . h . abgesehen von deren inhaltlichem Bezug, tatsächlich so entwickelt, daß nicht vorab das System in nuce vorgestellt wird, um n u r mehr dessen Keim nachträglich zu e n t f a l t e n . Zu Recht sieht H.Holzhey gerade darin "ein Charakteristikum seines (sc. Cohens) eigenständigen Philosophierens, die Einheit des Systems nicht vorgängig zu k o n s t r u i e r e n , sie wohl zu antizipieren, aber sie als solche e r s t nach erfolgter Ausfalt u n g des Systems in einem letzten Teil zur Aufgabe zu m a c h e n " · ^ . Wesentlich ist demnach, daß Cohen am Ort der noch nicht erreichten Einheit, d . h . am Ort der Differenz mittels der Methode der Antizipation Einheit thematisieren kann. Da diese Einheit zeitlich als Allheit gefaßt wird, d r ü c k t die vorhin hinsichtlich der Relation der Zeitmodi formulierte Bedeutung der Antizipation die zeitliche Wendung dieses Ergebnisses a u s : Durch die Vorwegnahme der zukünftigen Allheit (Einheit) können die ihr gegenüber differenten Zeitmodi als solche bestimmt werden. Auf die A m b i v a l e n z * ^ dieses Ergebnisses und auf seine theologische Rel e v a n z ^ ß wird später noch einmal zurückzukommen sein. (Die vorgetragene Interpretation von Cohens Logik stellte den Antizipationsbegriff in das Zentrum seines Denkens. Sofern freilich der U r s p r u n g des Systems als antizipierter zu begreifen i s t , müßte nicht n u r dessen
- 154 Grundlegung in der Logik, sondern auch seine Durchführung in der Ethik und der Ästhetik zur Sprache kommen. Hier müssen wir uns mit wenigen Hinweisen zur ethischen Relevanz von Antizipation bei Cohen begnügen 1 5 ^: s ie bestätigen zum einen die fundamentale Bedeutung dieses Begriffs für das Denken Cohens, zum anderen zeigen sie, daß die wesentliche Funktion dieses Begriffs tatsächlich in der Bestimmung der Einheit des Denkprozesses als unbestimmter, die freilich als solche unabhängig von "Inhalten" entwickelt wird, besteht. Die Logik selbst verweist auf die ethische Relevanz der Antizipation, indem diese auf das sittliche Urteil appliziert wird. Die in der Kategorie der Zeit erkannte Antizipation der Zukunft "wird im sittlichen Urteil zum Glauben an die Zukunft, als den unerschöpflichen Schoß geschichtlicher Möglichkeiten" 1 5 8 . Dieser Glaube an die Zukunft aber, und somit mittelbar die Antizipation der Zukunft selbst, ist "das treibende, und zwar das reine Motiv der H a n d l u n g " 1 ^ : damit ist der Bezug zur Ethik hergestellt. Darüber hinaus aber wird, ganz anders als in der aktuellen theologischen Verwendung dieses B e g r i f f s , gerade nicht eine Bestimmung und Beurteilung der Geschichte angesichts ihres vorweggenommenen Endes geleistet; die Antizipation beschränkt sich darauf, die Gewißheit des Fortschritts festzustellen, zum Glauben an die Zukunft aufzurufen und so zum Handeln zu motivieren. Inwiefern hier Cohen ein Kind seiner Zeit i s t , das vom Fortschritt des Künftigen überzeugt i s t , sei dahingestellt; nicht untersucht werden kann ferner, ob hier seine jüdische Religion und seine andernorts ausgesprochene "Messiaserwartung" 1 ® 0 zum Tragen kommt. In der Ethik selbst ist von Antizipation im Zusammenhang der Unterscheidung des reinen Willens vom reinen Denken die Rede, die für unsere Thematik belanglos ist. Die "Tendenz" - als Analogie des Affektes, um dessen Reinheit es geht, da er allein den Willen vom Denken zu unterscheiden vermag, dabei freilich die Reinheit des Willens nicht in Frage stellen darf - ist neben anderen Kennzeichen so zu bestimmen, daß sie immer "über sich selbst hinausstrebt" 1 ® 1 . So kann sie als Mehrheit "nicht prägnanter den Charakter der Vorwegnahme haben, als derselbe der Zeit und also dem Denken eigen i s t " 1 6 ^ . Dadurch, daß der Tendenz (auch) diese Struktur der Antizipation eignet, "die als Grundbedingung aller Reinheit" 1 6 ·* eben Reinheit verbürgt, kann auch das "Fortstürmen von Tendenz zu Tendenz" als "rastlose Fortführung der Antizipation" 16 ^ die Reinheit der Tendenz wahren: so ist der Fortgang der Tendenz "doch nur als Neuerzeugung gemäß der Kontinuität zu denken. Sonst wäre der Fortgang nicht der Fortschritt in der Entwicklung des B e g r i f f s " 1 6 5 . )
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II. DER DAS MENSCHSEIN KONSTITUIERENDE VORGRIFF
5. Kapitel SELBSTBEGRÜNDUNG DES MENSCHEN ALS VORLAUFEN ZUM TODE BEI MARTIN HEIDEGGER Der systematische Ort dieses Kapitels ist wohlbegründet: Zum einen wird sich ergeben, daß Heidegger - seinem eigenen Anspruch nach - die temporale Verwendung des Begriffs Antizipation (im Sinne Cohens, wie sich zeigen wird) aufnimmt - dies legitimiert den unmittelbaren Anschluß dieses Kapitels an die Darstellung der Philosophie Cohens. Zum anderen führt Heidegger diesen Begriff so weiter, daß der bisherige erkenntnistheoretische Rahmen überschritten wird - deshalb setzt hier der zweite Teil der Darstellung der philosophischen Relevanz der Antizipation ein. Es geht näher darum, daß Heidegger mittels Antizipation als "Vorlaufen zum Tode" die Selb stbe gründun g des Menschen aufweisen will. Damit e r hält dieser Begriff erstmalig eine "existenziale" Bedeutung, um zugleich mit einem konkreten Inhalt, dem Tod, versehen zu werden. Diese Situierung des Heideggerschen "Vorlaufens zum Tode" verweist zugleich auf die noch auszuführende These, derzufolge es in "Sein und Zeit" nicht gelungen ist, durch Antizipation die Einheit von Sein und Denken aufzuweisen, vielmehr die Vorwegnahme des Todes als einer (ausgezeichneten) Möglichkeit gerade gedanklicher Art i s t , deren Wahrheit mithin als unstrittige vorausgesetzt wird.
1. Der Impetus frühen Heideggerschen Denkens Auch wenn weder eine theologie- noch gar philosophiegeschichtliche Einordnung des Denkens Heideggers geleistet werden kann, muß doch dessen "Ansatz" so weit verständlich gemacht werden, als es für eine adäquate Interpretation des "Vorgriffs" (als Antizipation) unumgänglich i s t . Dank der jüngst veröffentlichten Vorlesungen Heideggers, gehalten im Sommersemester 1925 unter dem Titel "Geschichte des Z e i t b e g r i f f s w i r d deutlich, in welchem Maße es E.Husserl ist, der, sicherlich auf der Folie der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts^, Heideggers Denken anstößt und beeinflußt. In "Sein und Zeit" 3 wird zwar auch der Name Husserls e r wähnt^, aber es wird eine explizite Auseinandersetzung mit ihm vermieden. Auf dem Hintergrund der erwähnten Vorlesungen Heideggers kann nun leicht gezeigt werden, inwiefern Heidegger den Ansatz der Phänomenologie Husserls in "Sein und Zeit" übernimmt, um ihn zugleich zu radikalisieren:
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der erste Schritt wird durch den Aufweis des "ontolotische(n) Vorranges) der Seinsfrage"^, der zweite durch den Aufweis des "ontische(n) Vorrang(s) der Seinsfrage"® vollzogen. Näherhin werden im ersten Fall die "Grundbegriffe" einer Wissenschaft bestimmt: es wird also von den "positiven" wissenschaftlichen Sachgebieten zurückgegangen zu den allen Wissenschaften zugrundeliegenden Begriffen; eben dies ist aber die Funktion der Husserlschen Epoche. Damit ist allerdings die spezifische Problemstellung Heideggers noch nicht erreicht: er wirft jener phänomenologischen Reduktion vor, daß "in der Betrachtung und Ausformung des reinen Bewußtseins lediglich der Wasgehalt herausgehoben (ist), ohne nach dem Sein der Akte im Sinne ihrer Existenz zu fragen"^. So leistet Husserl zwar eine Thematisierung des Seins des Intentum, nicht aber des Seins der Intentio selbst : "In der Herausarbeitung der Intentionalität als des thematischen Feldes der Phänomenologie bleibt die Frage nach dem Sein des Intentionalen unerörtert"^. Das heißt, die Phänomenologie ist gerade da unphänonienologisch, "steht unter dem Bann einer alten Tradition . . . , wo es um die ursprünglichste Bestimmung ihres eigensten Themas - die Intentionalität - g e h t D i e "alte Tradition" ist in der Tat als "die ganze alte Ontologie" zu begreifen, der "Husserl und Scheler . . . gerade indirekt verhaftet (blieben), denn nur weil ihnen Sein gleichbedeutend war mit welthafter Vorhandenheit, setzten sie das Ich und die Person als eigentlich nicht-seiend a n " 1 " . Erst jetzt ist die Problemstellung erreicht, die die den Ansatz Heideggers leitende Frage nach dem Sinn des Seins verständlich werden läßt: mit ihr radikalisiert er nämlich Husserls Phänomenologie insofern, als er auf das "reine Bewußtsein", auf die Intentionalität selbst deren Ansatz so anwendet, daß er sagen kann: "Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist_"H. Das Dasein wird also durch ein Verhältnis zum Sein konstituiert ; näher verhält es sich sowohl zu seinem eigenen als auch zum Sein "alles nicht daseinsmäßigen S e i e n d e n " ^ - dies ist der dritte Vorrang des Daseins. Wesentlich für diese (grobe) Er-örterung des Ansatzes von "Sein und Zeit" ist allein der ontische Vorrang des Daseins: denn dieser macht deutlich, daß Heidegger die Epoché Husserls so radikalisiert, daß er ihre "Bastion", das "absolute Bewußtsein" als ein solches thematisiert, das nicht Nichts (im Gegensatz zum Etwas) ist, sondern das selbst noch einmal im und als Verhältnis zu sich selbst ist. So versucht er nicht die Setzung als Akt der Intentionalität, sondern die Bedingung der Möglichkeit der Setzung zu begreifen: es ist die Frage nach dem ganzen Menschen, nach der "Seinsart der Person", die "positiv 10 ontologisch" beantwortet werden soll und nicht nur in der negativen Weise Husserls. Sehr schön faßt L.B.Puntel Heideggers Anliegen zusammen: "Heidegger fragt nach der Dimension der Gegebenheitsweisen, d . h . nach dem Geschehen des gelichteten Begegnens als solchem" 14 . Es geht um "die Zusammengehörigkeit von Mensch und Sein", "die weder rein subjektiv noch einfach objektiv (ist)"15; und eben die Frage nach dieser Dimension entspricht der Frage nach dem Sinn von Sein. (Allerdings 1
- 157 darf diese Formulierung nicht so verstanden werden, als hätte Heidegger von vornherein die Ganzheit der Geschichte im Blick; er beschränkt sich vielmehr in "Sein und Zeit" auf die Analyse des Seins des einzelnen D a s e i n s ^ . ) Diese ursprüngliche Fragestellung von "Sein und Zeit" ist nun a u f s engste mit dem methodischen Vorgehen des Werkes v e r b u n d e n ; in der Tat ist es "ein methodisch äußerst d u r c h d a c h t e s Werk", das "gleichsam spiralenförmig"!? f o r t s c h r e i t e t . Es erscheint zunächst zusammenhangslos und wird erst im Rückblick verständlich, wenn Heidegger in der Exposition von "Sein und Zeit" s c h r e i b t , daß gezeigt werden soll, "daß d a s , von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein'unausdrücklich v e r s t e h t und auslegt, die Zeit i s t " 1 8 . Inwiefern hängt die Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein konstitutiv mit der Zeit zusammen? Die (hier n u r in wenigen Strichen skizzierbare) Rekonstruktion der immanenten Systematizität von "Sein und Zeit" ergibt folgenden Sachverhalt: Da allein das Dasein als ein solches auszuzeichnen i s t , dem es "in seinem Sein um dieses Sein selbst g e h t " ^ (dieses "Zu-sein" wird "Existenz" g e n a n n t ) , "muß die Fundamentalontologie . . . in der exi^tenzialen Analytik des Daseins gesucht werden"' 2 0 . Und eben diese Analyse des Daseins hinsichtlich seines Seins wird in spiralenförmiger Weise so geleistet, daß zunächst das vorgefundene Dasein, seine "Alltäglichkeit" aufgedeckt und beschrieben wird, um in einem zweiten wiederholenden und zugleich v e r s c h ä r f e n d e n Durchgang die Zeitlichkeit des Daseins zu e r u i e r e n . Die Notwendigkeit dieser Wiederholung aber ergibt sich aus Heideggers Themenstellung selbst: denn das Sein des Daseins muß als conditio sine qua non so b e stimmt werden, daß es "ontologisch das S t r u k t u r g a n z e (sc. des Daseins) als solches trägt"21. (Die Frage nach dem Sein des Daseins scheint so auf den e r s t e n Blick eine gottlose Frage zu sein, da sie die Ganzheit als "Absolutheit" auf Seiten des Daseins festmachen w i l l ^ . ) So erweist sich die Ganzheit des Daseins als das eigentliche Bindeglied zwischen dem Sein des Daseins einerseits und seiner Zeitlichkeit a n d e r e r s e i t s . Nur wenn sich die Ganzheit des Daseins als "ein u r s p r ü n g l i c h einheitliches Phänomen"^ aufweisen l ä ß t , kann es Existenz geben; die Ganzheit des Daseins kann aber andererseits - wenn überhaupt - n u r als zeitliche b e griffen werden, wenn a n d e r s mit dem "ganze(n) Dasein . . . dieses Seiende von seinem 'Anfang' bis zu seinem 'Ende'"^ 4 gemeint sein soll. 1
Es ist nun wesentlich f ü r den nächsten (Fort-)Schritt der Rekonstruktion des Begriffs Antizipation, daß diese zeitlich v e r s t a n d e n e Ganzheit des Daseins - ähnlich dem Gedanken der Allheit bei Cohen - n u r d u r c h Vorwegnahme, d u r c h einen "Vorgriff" bzw. ein " V o r l a u f e n " 2 5 aufgedeckt werden k a n n . Doch bereits die Analyse des Daseins als des "In-der-Weltseins" gründet auf einem zu präzisierenden "Vor-", das noch einmal bei der E r ö r t e r u n g des menschlichen Existenzials "Verstehen" zum Tragen kommt.
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Damit ist die Gliederung der folgenden Darstellung angegeben: in den nächsten drei Abschnitten gilt e s , die Bedeutung des Vorgriffs für jene drei Bereiche aufzudecken, wobei darauf verzichtet werden muß, die "hermeneutische" Diskussion, die sich an Heideggers Interpretation des auf Antizipation fußenden Verstehens anschloß, darzustellen 2 6 . 2. Das Dasein als In-der-Welt-sein a ) Das "Vor" der Welt Es ist zu Recht betont worden, daß das Weltproblem - auch wenn es scheinbar im Schatten wesentlicherer Themen von "Sein und Zeit" steht "die erste Möglichkeit bietet, den methodischen Anfang von Heideggers Philosophie in seiner spezifischen Eigenart zu e r f a s s e n " 2 ? . Ohne diese These im einzelnen darlegen und begründen zu können, mag der Hinweis darauf genügen, daß bereits hier - in der bewußten Entgegenstellung zum Entwurf der Welt als res extensa im Gegenüber zum ego cogito bei Descartes - der (beanspruchte) Rückgang Heideggers "hinter" alle neuzeitliche "Subjektivitäts"-Philosophie greifbar wird. Denn der defizitäre Modus der Vorhandenheit gegenüber der Zuhandenheit soll ursprünglich verdeutlichen, daß das Dasein als In-der-Welt-sein ist^, die klassische Spaltung zwischen innen (Subjekt) und außen (Objekt) deshalb aufgegeben werden muß: "Das Erkennen schafft aber weder allererst ein 'commercium' des Subjekts mit einer Welt, noch entsteht dieses aus einer Einwirkung der Welt auf ein Subjekt" 2 ®*. Die Rekonstruktion dieser begrifflichen Argumentation Heideggers ist geeignet, die " e r s t e " Verwendungsweise von Antizipation in "Sein und Zeit" kennen zulernen. Es wurde behauptet, daß dem Dasein "seine" Welt nicht äußerlich ist; sie ist nicht das andere, von dem es sich abzugrenzen gilt, um zu sich "selbst" zu kommen, sondern das Dasein "geht" damit "um", d . h . , es gebraucht seine Welt, "um" damit "etwas zu" machen. Dieses "etwas um zu . . . " qualifiziert das weltliche Seiende als "Zeug" (πράγματα) , dem die Seinsart "Zuhandenheit" 2 9 eignet. Damit ist der Ausgangspunkt geschaffen, von dem aus einsichtig werden mag, inwiefern der Mensch allein durch Vorwegnahme Welt entdecken und verstehen kann: wird die Struktur des dem Menschen begegnenden Seienden als "Um-zu" bestimmt, so bedarf es nur eines analytischen Urteils, um zu erkennen, daß vor dem einzelnen Zeug "je schon eine Zeugganzheit entdeckt ( i s t ) " 3 ^ . Denn die Struktur "Um-zu" definiert sich als "Verweisung von etwas auf e t w a s " 3 ! , womit zumindest eine Zweiheit impliziert i s t , die jedoch insofern zur N-heit fortgeführt werden kann, als jedes neue "Etwas" immer schon den Ausgangspunkt eines neuen "Um-zu" angibt . Wie kommt aber der Mensch dazu, die ihn angehenden Dinge als Zeuge zu qualifizieren? Könnte er nicht auch ganz anders seine Umwelt fassen,
- 159 ohne immer schon auf ihre Ganzheit verwiesen zu sein? Heidegger a r g u mentiert so: In den Modi der Auffälligkeit, der Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit, d . h . immer d a n n , wenn Zuhandenes defizient i s t , tritt dessen innere S t r u k t u r zutage. Denn dann ist das Zeug u n v e r w e n d b a r : "Darin liegt: die konstitutive Verweisung des Um-zu auf ein Dazu ist gestört . . . In einer Störung der Verweisung - in der Unverwendbarkeit f ü r . . . wird aber die Verweisung ausdrücklich "32. Damit kommt dann der "Werkzusammenhang, die ganze 'Werkstatt'" ins Blickfeld, und zwar so, daß dieser "Zeugzusammenhang" als "im vorhinein schon gesichtetes Ganzes" 33 zu begreifen ist. Dieser Zeugzusammenhang ist selbst kein Vorhandenes: "Es (sc. das Zeug) ist im 'Da' vor aller Feststellung und Betrachtung"^. Diesem "Vor" soll nun ein zeitlicher Sinn eignen: "Die Bewandtnisganzheit ... ist ' f r ü h e r ' als das einzelne Z e u g " 3 5 . Mit der Charakterisierung des Zeugzusammenhangs als "Bewandtnisganzheit" ist freilich schon der nächste Argumentationsschritt vorweggenommen, der demgemäß jene "Verweisungsganzheit" selbst zum Thema h a t . Die Zeugganzheit soll nämlich als Bewandtnisganzheit die Bedingung der Möglichkeit d a f ü r darstellen, daß "Welt Zuhandenes begegnen lassen (kann)"36. Die a r gumentative B e g r ü n d u n g dieses Sachverhalts nimmt m.E. eine Schlüsselstellung in "Sein und Zeit" ein - deshalb, und weil es um das Thema v o r weggenommener Ganzheit g e h t , muß auf sie näher eingegangen werden. Wenn die Welt als Zeugganzheit entdeckt i s t , so liegt darin·, daß das Zeug als Zuhandenes "daraufhin entdeckt ( i s t ) , daß es als dieses Seiende, das es ist (sc. als Zeug), auf etwas verwiesen ist"37. Diese Verwiesenheit wird als "Bewandtnis" und als "(vorgängige) Freigabe" begrifflich p r ä zisiert: dabei p a r a p h r a s i e r t "Bewandtnis" als "Bewenden lassen mit etwas bei etwas"38 das "Um-zu" des Zeugs als Zuhandenen. Es wird also mit der E i n f ü h r u n g des Begriffs Bewandtnis noch einmal mit anderen Worten der eruierte Sachverhalt umschrieben und verdeutlicht39. Wesentlicher ist demgegenüber die zweite Präzisierung, da von hier aus ein Gedankenf o r t s c h r i t t sichtbar wird. Zunächst scheint auch sie eine bloße Umschreib u n g dessen darzustellen, daß Erkenntnis von Zeug notwendig eine v o r gängige Verweisung auf etwas impliziert. "Vorgängig 'sein' lassen besagt je schon 'Seiendes' in seiner Zuhandenheit entdecken . . . Dieses 'apriorische' Bewendenlassen ist die Bedingung der Möglichkeit d a f ü r , daß Zuhandenes b e g e g n e t , so daß das Dasein . . . es im ontischen Sinne dabei bewenden lassen kann "40. Die oben als analytisches Urteil d a r g e stellte Aussage einer vorweggenommenen Zeugganzheit offenbart sich jetzt als Bedingung der Möglichkeit des In-der-Welt-seins schlechthin. Nur weil nämlich Seiendes je schon "freigegeben" i s t , kann es als Zuhandenes begegnen. Damit wird aber nicht n u r Seiendes als Zeug f e s t g e l e g t , sondern auch eine e r s t e wesentliche Aussage über das Dasein selbst gemacht : "Das auf Bewandtnis hin freigebende Je-schon-haben-bewenden-lassen ist ein apriorisches P e r f e k t , das die Seinsart des Daseins selbst c h a r k t e -
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r i s i e r t B e v o r diese Aussage i n t e r p r e t i e r t wird, gilt e s , ihre Relevanz f ü r die gedankliche Stringenz von "Sein und Zeit" selbst anzudeuten: Die Vorgängigkeit der Bewandtnisganzheit bedeutet: "Zum Sein des Daseins gehört Seinsverständnis. Verständnis hat sein Sein in einem Verstehen . . . Das vorgängige Erschließen d e s s e n , woraufhin die Freigabe des innerweltlichen Begegnenden e r f o l g t , ist . . . das Verstehen von Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon immer verhält Verstehen gründet demnach in der Möglichkeit der Vorwegnahme von Welt! Damit erweist sich aber das zeitlich verstandene "Vor" zumindest im e r s t e n Teil von "Sein und Zeit" als der systemtragende Schlüsselbeg r i f f , wenn anders das Existenzial des Verstehens und das der Sorge von ihm aus ihre Entfaltung e r f a h r e n . Bei dieser skizzenhaften Bemerkung muß es zunächst sein Bewenden hab e n , da die die Analyse des In-der-Welt-seins b e t r e f f e n d e n Probleme noch nicht hinreichend zur Geltung gekommen sind. Dasein selbst ist so in der Welt, daß es eine Bewandtnisganzheit vorgängig "erschlossen" hat. Die weitreichenden Konsequenzen dieser These können auf folgenden Begriff gebracht werden: Durch ein "Vor" soll die ursprüngliche und konstitutive "Seinsar.t" des Daseins als In-der-Welt-sein so entdeckt werd e n , daß eine T r e n n u n g im Sinne von ego cogito und r e s extensa hinfällig wird. Die Destruktion dieser T r e n n u n g ist ja die negative Bedingung der Möglichkeit f ü r die Aufgabenstellung von "Sein und Zeit", den notwendigen Bezug des Menschen auf Sein (das "mehr" als Denken ist) h e r auszustellen. Wenn oben 4 ^ gesagt w u r d e , daß diese Destruktion nach Heidegger n u r dann gelingen k a n n , wenn Welt als Zusammenhang von Zuhandenen aufgewiesen werden k a n n , sich weiter bei der Darstellung der Argumentation e r g i b t , daß n u r die Vorwegnahme der Bewandtnisganzheit dies leisten k a n n , so folgt daraus notwendig, daß eben d u r c h jenes "Vor" der Bewandtnisganzheit der e r s t e Schritt auf dem Wege der Klärung des Seins des Daseins getan i s t . Zugleich wird damit die oben behauptete Schlüsselstellung dieses "Vor" v e r s t ä n d l i c h e r .
b ) Kritische Würdigung Zunächst soll ein Bedenken, das Heidegger selbst gegen seine v o r g e tragene These des ursprünglichen In-der-Welt-seins r i c h t e t , formuliert werden. Welt ist als Zeugganzheit ein "Relationssystem . . . u n d , sofern Relationen immer 'Gedachtes' s i n d , (wird) das Sein des innerweltlich Seienden in das 'reine Denken' a u f g e l ö s t " 4 4 . Diesem von Heidegger vorsichtiger als Frage formulierten Einwand hält er e n t g e g e n , daß Relationen als "mathematische (n) Funktionalisierung" 4 5 n u r a u f g r u n d eines "Nur-noch-Vorhandenseins" bestimmt werden können und somit immer schon die vorgängige Entdeckung des innerweltlich Seienden als Zuhandenen voraussetzen. Diese Argumentation legitimiert e s , mit der kritischen Würdigung eben bei dem Aufweis der Zuhandenheit von Zeug selbst
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anzusetzen. Zuhandenes leuchtet auf d u r c h einen "Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge" 4 ®. Das h e i ß t , der B r u c h , die Störung des Zuhandenen ist die Bedingung der Möglichkeit von dessen Entdeckung: dies bedeutet a b e r , "daß der Ursprünglichkeit des Zuhandenen die Ursprünglichkeit des Umschlags zuvorkommt " 4 Y . Die aus dieser Beobachtung entstehende Frage ist klar: "Wie ist dieses Ganze als solches zu d e n k e n , wenn gerade d a f ü r notwendig ist mitzudenken, daß es gestört ist"48? Es ist in der Tat zu sagen, daß undenkbar bleibt, wie die Welt als das "ungestörte Worin des Sich-verweisens . . . zerstört werden k a n n , d . h . aus dem so a u f g e f a ß t e n Vorgang erklärt er selbst sich n i c h t " 4 9 . Die Entgegnung auf diese interessante Kritik ist geeignet, das fundamentale Problem von Heideggers Weltanalyse h e r a u s z u a r b e i t e n . Soweit wir sehen, kann Heidegger nämlich gegen diese Kritik in Schutz genommen werden, indem die Aussagen über das "apriorische P e r f e k t " im obigen Sinne 5 ® hervorgehoben werden; der Preis, der d a f ü r bezahlt werden muß, besteht aber d a r i n , daß gerade die Andersartigkeit von Heideggers Weltbegriff gegenüber dem (seit Descartes) traditionellen a u f z u g e ben i s t . Denn die Apriorität des Perfekts weist darauf hin, daß Welt ganz unabhängig von der Störung des Verweisungszusammenhangs immer schon eröffnet i s t , so daß eine Störung der Verweisung in diesen v o r gängigen (eben apriorischen) Weltbegriff immer schon eingebettet werden k a n n . Vor aller E r f a h r u n g , das heißt auch vor der E r f a h r u n g von innerweltlich Seiendem als Zuhandenem, hat der Mensch Welt. Damit ist freilich die Spitze von Heideggers Argumentation abgebrochen - ist Welt ein Gedanke, der der E r f a h r u n g von Welt nicht b e d a r f , dann tut sich automatisch jener (gerade einzuebnende) Graben zwischen ego cogito und res extensa a u f . Das Ergebnis der Beschäftigung mit der dargelegten Kritik f ü h r t uns zu folgender These: Das begriffliche Fundament von Heideggers Weltbegriff ist in dem als "apriorisches P e r f e k t " ( v e r k ü r z t ) a u s g e d r ü c k t e n Sachverhalt zu erblicken, dem eine phänomenologische Untersuchung vorgeschoben wird, der keine tragende Funktion f ü r die Argumentation eignet. Obwohl die Zeugganzheit (scheinbar) aus der Störung der Verweisung e n t wickelt w u r d e , weist Heidegger darauf hin, daß sie "selbst kein Zuhandenes u n t e r anderen ( i s t ) " 5 1 : "dieses, woraufhin umweltlich Zuhandenes freigegeben ist, . . . kann selbst nicht als Seiendes dieser entdeckten Seinsart begriffen werden" 5 ^. Diese Belege untermauern die These, d e r zufolge Zuhandenes überhaupt n u r d u r c h eine vorgängige apriorische S t r u k t u r von Welt, die dem menschlichen Subjekt eignet, begriffen werden kann. Was bedeutet dieses Ergebnis f ü r die Vorwegnahme der Welt? Es bleibt jedenfalls ein vorgängiges Erschlossensein von Welt erhalten: n u r v e r liert dieses gerade seine Relevanz als Bindeglied zwischen Denken und Sein von Welt. Als bloß "apriorisches P e r f e k t " vermag Antizipation trotz
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aller gegenteiligen Beteuerungen in "Sein und Zeit" die Sphäre des Denkens nicht zu v e r l a s s e n . Eine andere Beobachtung bestätigt diese Kritik. Beiläufig wird im Rahmen der Thematisierung des In-der-Welt-seins ein Zusammenhang aufgezeigt, der " f ü r s erste noch nicht eingehender verfolgt werden (soll)"53. Zwischen Dasein und Bewandtnisganzheit besteht nämlich näherhin ein solcher Zusammenhang, daß letztere "letztlich auf ein Wozu z u r ü c k ( g e h t ) , bei dem es keine Bewandtnis mehr hat . . . "54. Das Dasein kommt also "außerhalb" der von ihm je schon vorweggenommenen Ganzheit zu stehen: auch wenn d u r c h das apriorische Perfekt die enge Verbindung zwischen Dasein und Welt geltend gemacht werden soll, ist doch diese Verbindung im Dasein festzumachen, dem die Welt das Gegen-über i s t . Da alles über den Weltbegriff Heideggers Ausgeführte u n t e r dem Aspekt von Antizipation, nicht aber "an sich" f ü r unsere Themastellung von Belang i s t , halten wir hier mit den kritischen Bemerkungen ein, um noch einmal explizit das bisher Erhobene f ü r das Thema f r u c h t b a r zu machen. Unter eher formalem Aspekt könnte man die Funktion des Begriffs Antizipation auch im Kontext der S t r u k t u r von Ganzem (Welt als Bewandtnisganzheit) und Teil (Zeug als Zuhandenem) aufzeigen. Wir waren in anderem Zusammenhang auf diese S t r u k t u r g e s t o ß e n ^ ; sie erschien als eine solche, deren "Glieder" sich wechselseitig bedingen. Analog zu Cohen v e r s u c h t auch Heidegger die Einheit jener Glieder als zeitliche zu begreif e n , und zwar so, daß die Bewandtnisganzheit f r ü h e r ist als das einzelne Zeug56. Anders als bei Cohen wird freilich bei Heidegger nicht die Ganzheit in dem Sinne antizipiert, daß sie offen ist f ü r die E n t s t e h u n g je neuer Glieder, sondern das Ganze soll immer schon feststehen bevor seine Teile durch es "konstituiert" werden: damit erweist es sich in der Tat als unabhängig von i h n e n ^ . Nur e n t s t e h t bei einer derartigen Konzeption das Problem, in welcher Weise dieses Ganze als Ganzes seiner Teile, als Einheit der Teile aufgefaßt werden k a n n . Wird doch das Ganze gerade nicht a r i d e n Teilen vorweggenommen, wie etwa die Glieder einer Reihe zwar nicht zur Gänze bestimmt zu sein b r a u c h e n , um deren Summe (Ganzes) angeben zu können, aber jedenfalls (in b e g r e n z t e r Anzahl) v o r ausgesetzt werden müssen, um von ihnen aus das Ganze antizipativ zu erschließen! Ist das Ganze f r ü h e r da als jedes seiner Teile - dies i s t , wenn wir recht s e h e n , das Spezifikum der Bewandtnisganzheit in "Sein und Zeit" - so kann es sich n u r um eine S t r u k t u r ("Um . . . zu") handeln, die je schon vorweggenommen i s t , nicht aber um konkrete Inhalte ("Zeug e " ) . Damit wird man unwillkürlich an jenen Aspekt von Antizipation bei Kant e r i n n e r t , der ihre Restriktion auf eine bloß logische Vorgegebenheit von Formen gegenüber ihnen äußerlicher Materie n a h e l e g t e 5 8 . Von daher wäre dann das " F r ü h e r " nicht mehr im zeitlichen, sondern im logischen Sinne zu v e r s t e h e n . Damit erweist sich aber der Weltbegriff Heideggers als a b s t r a k t , weil er das Mannigfaltige nicht als solches, sondern n u r hinsichtlich seiner Funktion (nämlich gebraucht zu werden) zu themati-
- 163 sieren vermag. So ist von einer anderen Seite her noch einmal die Schlüsselstellung des apriorischen Perfekts in Heideggers Argumentation deutlich geworden: es ist in*der Tat ein apriorisches Ganzes, das als abgeschlossenes ( p e r f e k t e s ) vorgegeben ist (bzw. voraus-gesetzt wird) und von dem aus das in der Welt begegnende Seiende als Zeug bestimmt wird.
c) Philosophiegeschichtliche Reminiszenz: Heidegger und Dilthey Die voranstehende Interpretation des Weltbegriffs Heideggers kann kurz philosophiegeschichtlich profiliert werden. Sowohl die exklusive Rückbindung des Verstehens der Bewandtnisganzheit an das jeweilige menschliche Individuum, das "Dasein" ( 1 ) , als auch die Vorgängigkeit der Bewandtnisganzheit s e l b s t , als einer fixierten und damit un-geschichtlichen " S t r u k t u r " ( 2 ) , findet sich nämlich schon bei Dilthey. (1) E r s t e r e s ist freilich von Dilthey im Laufe seines philosophischen Denkens insofern überwunden worden, als er in einem der "Entwürfe zur Kritik der historischen V e r n u n f t " e r k e n n t : "Das Individuum ist n u r der Kreuzungspunkt f ü r Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben i s t : wie könnten sie aus ihm verstanden w e r d e n " 5 9 ? Diese Wandlung der f r ü h e n A u f f a s s u n g Diltheys, die den Ausgangspunkt der Geisteswissenschaften - in Abgrenzung von den Naturwissenschaften - "in der 'Lebenseinheit', und zwar in der 'psycho-physischen Lebenseinheit' des Individuums"®® finden wollte, ist nach W.Pann e n b e r g zum einen im Kontext der "Abwendung Diltheys von dem an J . S t . Mill's Wissenschaftstheorie orientierten Programm einer Grundlegung der Geisteswissenschaften d u r c h eine allgemeine Psychologie"®! zu v e r s t e h e n , zum anderen drückt sich hierin Diltheys zunehmende Betonung der '"Selbigkeit der allgemeinen M e n s c h e n n a t u r a u s . Jedenfalls entstand jetzt das Problem, die Einheit des ganzen geschichtlichen Prozesses, i n n e r halb dessen das Individuum immer n u r einen Teil d a r s t e l l t , zu denken : und zwar so zu d e n k e n , daß die Einheit der wechselseitigen geschichtlichen Bedingtheit, von Teil und Ganzem auch die Unabgeschlossenheit des geschichtlichen Prozesses zu umgreifen vermag. (2) Die Tatsache, daß Dilthey diese Schwierigkeiten offenkundig nicht als solche empfunden h a t , zumindest aber nicht thematisiert h a t , erklärt W.Pannenberg einleuchtend mit dem Hinweis auf die Diltheysche "allgemeinein) Konzeption des Lebens, das als Totalität in allen seinen Gestalten pulsiert"®·*. Freilich kann damit die Unabgeschlossenheit des Ganzen nicht mehr wirklich gedacht werden, wenn a n d e r s jene allgemeine Konzeption des Lebens eben ein vorgängiges Wissen um das Ganze v o r a u s s e t z t , das sich einer geschichtlichen V e r ä n d e r u n g notwendig verschließt. Eben darin konvergiert nun die Anschauung Heideggers mit der Diltheys, weil
- 164 auch nach Heidegger in ganz analoger Weise eine apriorische Bewandtnisganzheit dem Dasein vorgängig erschlossen ist. Mit dieser Konzeption handelt sich Heidegger dieselben ¡Aporien ein, die schon bei Dilthey durch die Voraus-setzung eines abgeschlossenen Bedeutungsganzen entstehen. Dabei geht es Heidegger in "Sein und Zeit" nicht mehr um die Ganzheit der Geschichte: die Beschränkung auf eine Analyse der möglichen Ganzheit des Daseins findet freilich auch einen positiven Anknüpfungspunkt im Denken des späten Diltheys. Dessen Konzeption der "Selbigkeit der allgemeinen Menschennatur" erleichtert es Heidegger zumindest, zur Position des frühen Dilthey zurückzukehren 6 4 . Es wird freilich noch zu fragen sein, ob die Entwicklung der ganzheitlichen Struktur des Daseins, worauf es Heidegger in "Sein und Zeit" ja eigentlich ankommt, diesen Aporien entgehen kann.
3. Vom Sein zur Zeitlichkeit des Daseins Bevor auf die bedeutsame Untersuchung Heideggers über die Möglichkeit einer Ganzheit des Daseins - als Vorlaufen zum Tode - explizit einzugehen ist, muß noch einmal die schon öfters angesprochene immanente Logik von "Sein und Zeit" herausgestellt werden, nicht zuletzt deshalb, um Heideggers Rede vom Vorgriff adäquat orten zu können. Die v o r gängige Erschlossenheit von Welt wurde als Verstehen qualifiziert: der Ausdruck "verstehen" soll aber nicht nur im Sinne von "etwas verstehen", sondern auch und zunächst "in der Bedeutung von 'einer Sache vorstehen können', 'ihr gewachsen sein', 'etwas können"'65 verwendet werden. Nun wurde schon bei der Analyse des In-der-Welt-seins deutlich, daß Verstehen eben in jenem Sinn der vorgängigen Erschlossenheit der Bewandtnisganzheit ein Existenzial des Daseins selbst ist. Setzt man in diesem Zusammenhang an die Stelle von "verstehen" den Ausdruck "etwas können", so heißt das: "Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des Daseins als Sein-können" 6 6 . Die anthropologische Engführung, die dadurch zustande kommt, daß die Analyse des In-der-Welt-áeins als Ergebnis gerade Welt ausblendet - "Dasein ist Seiendes, dem es als In-derWelt-sein um es selbst geht" 6 7 - , ist wichtig für den Gedankenfortschritt in "Sein und Zeit". Denn Dasein als Sein-können heißt: Dasein "ist primär M ö g l i c h s e i n ; Die Möglichkeit als Existenzial verweist auf die ambivalente Struktur des Daseins: es kann so und auch anders sein, aber es muß sein-können; Dasein is^ als geworfener Entwurf 6 ^. Damit kommt zum ersten Mal so etwas wie Ganzheit des Daseins in den Blick, um die es ja immer geht, wenn anders der Sinn des Seins gesucht wird. Als Sein-können ist Dasein nämlich "nie mehr, als es faktisch ist, weil zu seiner Faktizität das Seinkönnen wesenhaft gehört" 7 0 . M.a.W.: Das, was Dasein "in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es e x i s t e n z i a l - oder, entsprechend der Maxime Nietzsches: "werde, was du b i s t ! ' " 7 ^ .
- 165 Da es uns ausschließlich um Strukturzusammenhänge zu tun i s t , können wir den phänomenalen Boden, auf dem diese Struktur "sieht"-bar wird, hier vernachlässigen (namentlich-das Phänomen der Angst), um gleich mit dem nächsten Argumentationsschritt in "Sein und Zeit" fortzufahren. Es wurde deutlich : Dasein ist Seinkönnen ; dies besagt nun aber auch : "Das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg" 7 ·*. Es ist nämlich "je schon in eine Welt geworfen" 7 4 und "immer auch schon in der besorgten Welt aufgegangen" 7 **. Damit wird die Ganzheit des Daseins präzisiert: "Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei . . . Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge" 7 ®. Die phänomenale Untermauerung dieser These wird hier, wie gesagt, bewußt außer acht gelassen; nur ihre begriffliche Struktur sollte kurz dargestellt werden. Die Schlüsselstellung wurde dabei in der Deutung von Verstehen als Seinkönnen gefunden: Verstehen ist in der Tat "die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins " 7 7 , von der aus dessen Ganzheit als in-der-Welt-seiende in den Blick kommt. Die Ganzheit konnte freilich nur als Sich-vorweg des Daseins thematisiert werden, ohne daß deutlich wurde, wie Dasein überhaupt sich-vorweg-sein kann. Dies ist die Problemstellung des zweiten Abschnittes von "Sein und Zeit": Wenn überhaupt Ganzheit des Daseins, und damit Sein, namhaft gemacht werden kann, so muß die Möglichkeit aufgewiesen werden, daß Dasein sich vorweg sein kann - und eben dies ist die Funktion der "Zeitlichkeit". Wenn überhaupt, so ist es die Zeitlichkeit, die das ganze Dasein vor Augen stellen kann: durch Vorwegnahme der Zukunft nämlich kann allein das Problem gelöst werden, daß Dasein, das per definitionem unganz i s t , doch als ganzes gesehen wird. Hier wird der spiralenförmige Aufbau von "Sein und Zeit" besonders deutlich: die bisher aufgestellten Thesen werden problematisiert, sofern sie von zwei Bedingungen abhängen, die noch nicht verifiziert wurden: Die eine besteht eben darin, da ß Dasein offensichtlich nur unter der Voraussetzung von Zeitlichkeit, näherhin der möglichen Vorwegnahme seines Endes, als Ganzes begriffen werden kann. (Die andere Bedingung ist hier nicht weiter auszuführen: es geht um den Aufweis der Möglichkeit des eigentlichen Seinkönnens von Dasein, wenn anders das Sein des Daseins in den Blick kommen soll, Dasein aber, vermittelt durch das Existenzial des In-der-Welt-seins, nur als verfallenes zugänglich wurde.)
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4. Das "Vorlaufen zum Tode" als Vorwegnahme des ganzen Daseins a) Problemstellung Gerade die Sorge, die eine mögliche Ganzheit des Daseins allererst in den Blick kommen ließ?8, ist es, die von vornherhein als "Ganzheit des Strukturganzen des D a s e i n s " 7 9 jedem Bestreben, ein mögliches Ganzsein des Daseins zu begründen, zuwiderzulaufen ischeint. Denn die durch sie konstituierte Struktur des Daseins ist die der Unabgeschlossenheit, da eben jenes "Seinkönnen", zu dem sich Dasein verhält, per definitionem immer auch anderes Sein sein kann, somit "immer noch etwas aussteht, was als Seinkönnen seiner selbst noch nicht 'wirklich' geworden ist"80. Das heißt aber: Endgültig abgeschlossen, endgültig ganz ist Dasein erst im Tode, aber dann i£t es nicht mehr da! Will man also an dem Ganz seinkönnen des Daseins festhalten - oder bezüglich Heideggers Fragestellung formuliert: Will man die Frage nach dem Sein des Da nicht als unbeantwortbar abtun - , so muß in irgendeiner Form der Tod als das evidente Ende des Daseins in das Dasein hineingenommen und also vorweggenommen werden, da nur so das Ende des Daseins und sein Noch-nicht-zu-Ende-sein sich verbinden lassen 8 ^. in zwei Vorüberlegungen wird die von Heidegger anvisierte Lösung konkretisiert: (1) Zunächst gilt es, die Begriffe "Fehlen" bzw. "Ausstand" zu klären. "Ausstehen als Fehlen gründet in einer Zugehörigkeit"82, d . h . , das Noch-nicht eines Seienden kann nur deshalb als dessen Noch-nicht begriffen werden, weil es immer schon zu ihm dazugehört. So qualifiziert ontologisch die "Unzuhandenheit von beizubringenden Stücken"83 das Noch-nicht, während dem Seienden, dem etwas fehlt, demnach die ontologische Struktur der "Zuhandenheit" eignet. Kann diese allgemeine Erörterung von "Ausstand" auf den Tod als Ausstand des Daseins übertragen werden? Kann dem Dasein etwas "fehlen", das, zwar ihm zugehörig, doch erst "im Laufe der Zeit" zu ihm hinzutritt, so daß dann erst das Dasein "zusammen" ist? So läßt sich der Tod als Noch-nicht des Daseins sicher nicht begreifen: denn das Dasein ist gar kein innerweltlich Zuhandenes, an das fortlaufend angestückt werden kann. "Das Dasein ist_ nicht erst zusammen, wenn sein Noch-nicht sich aufgefüllt hat", sondern es "existiert je schon immer gerade so, daß zu ihm sein Noch-nicht gehört "84. Der Tod tritt nicht additiv zum Dasein hinzu, wie der Rest der Schuld zu ihrer vollständigen Begleichung: vielmehr ist^ "das Dasein, solange es ist, je schon sein Noch-nicht "85. Das Ergebnis dieses ersten Schrittes ist also, daß der "Ausstand" des Todes nicht so begriffen werden kann als würde er irgend einmal zum Dasein hinzutreten: nein, gerade als "Nochnicht" des Daseins konstituiert er dieses als ein solches, das immer schon sein eigener Ausstand ist. Dies stellt eigentlich eine bloße Repro-
- 167 duktion dessen d a r , was hinsichtlich des Existenzials des Verstehens ausgeführt wurde. Denn daß das Noch-nicht des Daseins es als solches konstituiert, wurde aus der These abgeleitet, derzufolge Dasein Verstehen im Sinne von "Sein-können" ist 86. Im folgenden geht es um den Aufweis der Bedingung der Möglichkeit dieser These. (2) Es ist zu präzisieren, "in welchem Sinne überhaupt der Tod als Enden des Daseins begriffen werden m u ß " ^ . Zunächst ist negativ zu sagen, daß das Wort "enden" weder als "vollenden" noch als "einfach verscheiden", noch als "verfügbar werden" begriffen werden kann: keine dieser Bedeutungen trifft die Rolle des Todes im Dasein®^. Denn wenn das Dasein immer schon sein Noch-nicht i&t, dann ist es auch sein Ende. Das heißt: "Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seienden"^. Nur wenn also das Dasein immer schon Sein zum Tode ist, erweist sich Heideggers Programm, die Möglichkeit der Ganzheit des Daseins aufzuzeigen, als durchführbar. Wie wird "die Möglichkeit eines existierenden Seins des Noch-nicht, das 'vor' dem 'Ende' liegt, verständlich"^? Diese Möglichkeit wurde bisher ja nur behauptet, um negativ zu klären, was "Ausstand" und "enden" nicht bedeuten können; um so mehr gilt e s , sie jetzt als Konstitutivum des Menschen aufzudecken. Um noch einmal die Problemstellung deutlich zu machen: Die Todesanalyse soll die mehrfach erwähnte Behauptung begründen, daß Dasein sich als Verstehen im Sinne von Sein-können konstituiert. Gelingt dieser Nachweis, dann ist immerhin deutlich geworden, daß die Frage nach der Möglichkeit der Ganzheit des Daseins, nach dem Sein des Daseins, sinnvoll ist und eine Antwort erfahren kann. (Die inhaltliche Konkretisierung ebenso wie der Aufweis der ontischen Faktizität dieser ontologischen Möglichkeit steht freilich auch dann noch a u s . ) In drei größeren Schritten soll methodisch die Analyse des Todes rekonstruiert werden: Zunächst ist noch einmal zusammenfassend zu verdeutlichen, welche Bewandtnis es hat, den Tod als Möglichkeit zu kennzeichnen. Sodann ist diese Möglichkeit von anderen Möglichkeiten abzugrenzen; natürlicherweise zerfällt diese zweite Aufgabe wiederum in zwei Teile: sowohl die Alltäglichkeit des Daseins als auch dessen "Eigentlichkeit" (dieser Begriff ist noch zu klären) weist den Tod in je verschiedener Hinsicht als ganz besondere Möglichkeit aus. Schließlich - und damit wird das Zentrum von Heideggers Argumentation erreicht - ist zu klären, wie sich Dasein zur ausgezeichneten Möglichkeit des Todes verhalten kann. Wir lassen uns bei der folgenden Interpretation der Todesanalyse in "Sein und Zeit" auf die phänomenale Ebene deshalb ein, weil hier ein "Vorgriff" als "Vorlaufen zum Tode" quasi "entdeckt" wird. Doch soll auch dabei größtes Augenmerk darauf gerichtet werden, worin die tragenden Elemente von Heideggers Argumentation zu erblicken sind und worin die Bedeutung des Phänomens Tod f ü r den Gedanken einer Antizipation besteht.
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b) Die Möglichkeit des Todes Wenn von der Möglichkeit des Daseins die Rede ist, dann wird darunter nicht die modale Kategorie als "das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals N o t w e n d i g e v e r s t a n d e n . Möglichkeit als Existenzial ist die "ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins"" 2 . Es ist schon angedeutet worden, daß durch das "Verstehen als erschließendes S e i n k ö n n e n " 9 3 dj e Möglichkeit als Existenzial begründet werden s o l l 9 4 ; diese Argumentation ist noch präziser darzustellen, weil von da aus ihre Applikation auf den Tod als Möglichkeit verständlich wird. In der schon erwähnten Vorlesung Heideggers, "Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs", findet sich interessanterweise eine etwas andere Gedankenentwicklung als in "Sein und Zeit". Der Ausgangspunkt beider Argumentationen ist insofern identisch, als Verstehen am Existenzial "In-der-Welt-sein" erstmals sichtbar wird, näher so, daß es die (vorgängige) "Entdecktheit des Woran-seins mit etwas, die Entdecktheit der Bewandtnis" i s t D a n n ist auch Verstehen ein Existenzial, "Verstandenhaben besagt nichts anderes als diese jeweilige Bewandtnis sein "96. Diese beiden Aussagen dienen nun in der knapp zwei Jahre vor der Veröffentlichung von "Sein und Zeit" gehaltenen Vorlesung als Prämissen für den folgenden Schluß: Da es offensichtlich verschiedene Möglichkeiten des Verstehens gibt, Verstehen aber ein Existenzial ist, gibt es auch verschiedene "Seinsmöglichkeiten des Daseins" 9 ?. An der Beiläufigkeit, mit der diese Aussagen getroffen werden, - es soll damit zunächst nur erklärt werden, daß es dementsprechend "auch die verschiedenen Stufen und Formen des theoretischen Verstehens"98 gibt - wird deutlich, daß für das Verstehen als solches dieser Charakterisierung wenig Gewicht zukommt. Erst "im Blick auf die Sorge" wird dann explizit Verstehen als Sein-können entwickelt, wobei allerdings unklar bleibt, inwiefern "das Dasein ate Sorge . . . nichts anderes als Möglich-sein ( i s t ) " 9 9 . So ist es bezeichnend, daß in "Sein und Zeit" das Seinkönnen gänzlich unabhängig von der Sorge aufgewiesen wird. Auch hier wird freilich auf den ersten Blick "Verstehen" als "Seinkönnen" schlicht definiert, ohne daß deutlich würde, was diese Identifizierung legitimiert l u u . Erst zwei Seiten später findet sich ein Argument für diese These: "Der Entwurfscharakter des Verstehens konstituiert das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens" 1 ® 1 . Dieses Argument entspricht sachlich dem oben erwähnten der Vorlesung, dem jetzt allerdings größere Bedeutung zugemessen wird. Es wird hier auf das In-der-Weltsein des Daseins zurückgegriffen; dieses wurde ja so bestimmt, daß die Erschlossenheit als apriorisches Perfekt ein Seinsmodus des Daseins selbst ist. Als apriorisches Perfekt kann nun der offenkundige Tatbestand, daß es verschiedene Bewandtnisganzheiten gibt, nur so interpretiert werden, daß das Dasein selbst diese Möglichkeiten entwirft. Dies besagt hinsichtlich des Seins des Daseins selbst, daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, sein Sein zu sein: Dasein ist "primär Möglichsein"! Es wurde schon deutlich, daß dieser Entwurf selbst notwendig ist:
- 169 in? Dasein i s t j e schon in der Welt und also geworfener Entwurf . Damit wird einsichtig: Dasein umgreift als geworfener Entwurf alle Möglichkeiten zu sein, auch die, die es noch gar nicht i s t . Mit dieser E r ö r t e r u n g ist eine wesentliche Voraussetzung noch einmal verdeutlicht worden, die die argumentative S t r u k t u r der Interpretation des Todes als Möglichkeit zumindest einsehbarer werden läßt: Sofern der Tod eine Möglichkeit des Daseins i s t , kann das Dasein als "Sein zum Tode" qualifiziert werden. Heidegger selbst formuliert das erreichte Zwischenergebnis so: "Das Sein zum Tode gründet in der Sorge"·^**. Di e Sorge als jener geworfene Entwurf läßt v e r s t e h e n , daß Dasein Sein zu seinem Noch-nicht sein k a n n . Das bedeutet a b e r : "So wie das Dasein . . . ständig, solange es i s t , schon sein Noch-nicht i s t , so isrt es auch . . . sein Ende"104. Hier also liegt die Wurzel f ü r das Verständnis der Redeweise: "Sein zum Tode". "Das mit dem Tod gemeinte Enden bedeutet kein Zu-Ende-sein des Daseins, sondern ein Sein zum Ende dieses Seien(jeni'105. D a m it ist die begriffliche Argumentation d e s s e n , was oben·*-^ bloß thetisch formuliert wurde, deutlicher geworden: Dasein ist "Sein zum Tode". Freilich bleiben immer noch zwei wesentliche Fragen offen: Zunächst einmal ist darzulegen, inwiefern der Tod gegenüber allen anderen Möglichkeiten des Daseins ausgezeichnet i s t ; sodann ist zu f r a g e n : Wie ist das Verhältnis des Daseins zia seinem Tode als "Sein zu" b e g r i f f lich zu fassen?
c) Die ausgezeichnete Möglichkeit des Todes Im Entwurfscharakter des Verstehens gründet die Fähigkeit des Daseins, so und auch anders "sein" zu "können": dabei sind grundsätzlich zwei Alternativen d e n k b a r , die freilich in den verschiedensten Ausformungen "möglich" sind, nämlich einmal "kann" sich das Dasein "zunächst und zumeist aus seiner Welt her v e r s t e h e n " , oder aber "das Dasein existiert als es selbst"-'•07. So ist das Verstehen entweder "uneigentliches" oder aber "ei gen tlic he s " 1 ® ®. Wenn im folgenden eine Präzisierung des Todes gesucht wird, so ist sowohl das eigentliche als auch das uneigentliche Dasein danach zu bef r a g e n , was es vom Tode (in "vor zeichnen d e r " Weise) weiß. Auf dieser Ebene werden die fünf "Charaktere" des Phänomens Tod gleichsam e n t deckt , ohne daß auch schon Konsequenzen f ü r die Themastellung daraus gezogen würden. Die folgenden drei Charaktere des Todes werden aus einer "Vorzeichn u n g der existenzial-ontologischen S t r u k t u r des Todes"109 gewonnen. (1)
Der Tod ist die eigenste Möglichkeit: diese C h a r a k t e r i s i e r u n g , die hier n u r thetisch gesetzt wird, ergibt sich aus der U n v e r t r e t b a r keit des Todes von jemand a n d e r s . "Keiner kann dem Anderen sein
- 170 Sterben abnehmen", so daß der Tod "ontologisch d u r c h Jemeinigkeit und Existenz konstituiert wird" 1 *®. (2)
Der Tod ist die unbezügliche Möglichkeit : dies folgt mittelbar aus der obigen Kennzeichnung. Denn wenn der Tod die "Möglichkeit des N i c h t - m e h r - d a s e i n - k ö n n e n s " m i s t , dies aber die eigenste Möglichkeit i s t , so nämlich, daß sie dem Dasein selbst b e v o r s t e h t , dann "ist es völlig auf sein eigenstes Seinkönnen verwiesen 1 , 1 Nicht unmittelbar folgt die Unbezüglichkeit des Todes aus der Jemeinigkeit, weil erst d u r c h das Phänomen, daß d u r c h den Tod das Dasein aus seinem konstitutiven In-der-Welt-sein herausgelöst wird (eben als Nichtm e h r - d a s e i n ) , der Verlust aller Beziehungen zur Welt explizit wird.
(3)
Der Tod ist die ä u ß e r s t e Möglichkeit: das heißt, der Tod ist nicht d u r c h etwas anderes "überholbar". Auch dies folgt aus der Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens, denn diese ist "die Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit"H3. Als solche ist sie nicht mehr ü b e r b i e t b a r .
Auch das alltägliche Dasein enthüllt in seiner Flucht vor dem Tod zwei wesentliche Charaktere d e s s e l b e n ! ^ . (4)
Der Tod ist die gewisse Möglichkeit: nicht n u r eine empirische, sond e r n auch und vor allem eine apodiktische Gewißheit soll den Tod auszeichnen. Sie wird im Ausweichen der Alltäglichkeit vor dem Tod offenbar : "Seinem Tode ausweichend ist auch das alltägliche Sein zum Ende des Todes doch a n d e r s gewiß, als es selbst in rein theoretischer Besinnung wahrhaben m ö c h t e " ! ^ . j ) a s alltägliche Dasein weicht dem Tod a u s , indem es von ihm s a g t : "Vorläufig" gilt er "noch nicht" f ü r michUG. Damit enthüllt sich aber in der Alltäglichkeit ein neues Attribut des Todes:
(5)
Der Tod ist die unbestimmte Möglichkeit : auch dieser Charakter wird aus der Flucht des alltäglichen Daseins vor dem Tod gewonnen. Indem es ihn nämlich als "später einmal" gewissen qualifiziert, v e r deckt das Man die Tatsache, daß der Tod "jeden Augenblick möglich i s t . Mit der Gewißheit des Todes geht die Unbestimmtheit seines Wann zusammen"H7.
Was ist mit dieser vorzeichnend-alltäglichen Charakterisierung des Phänomens Tod geleistet? Der Tod ist als "Phänomen", mithin so, wie er sich von ihm selbst her zeigt^ 1 ®, verstanden worden. F r ü h e r wurde mit der S t r u k t u r der Sorge als Sich-vorweg die grundsätzliche Möglichkeit auf gewiesen, daß Dasein sein Noch-nicht sein k a n n . Diese grundsätzliche Möglichkeit ist jetzt auf die oben ausgezeichnete Möglichkeit des Todes anzuwenden , um deutlich zu machen, ob das Dasein den Tod "auch eigentlich v e r s t e h e n , daß heißt sich in einem eigentlichen Sein zu seinem Ende halten ( k a n n ) " 1 1 ^ Erst wenn diese ontologische Möglichkeit des Daseins aufgedeckt i s t , kann über dessen ontische Faktizität Näheres ausgemacht werden.
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d) "Vorlaufen" als "Sein zum Tode" Es wird hier, wie gesagt, die Bedingung der Möglichkeit des eigentlichen Seins zum Tode thematisiert, die mit dem bloßen phänomenalen Aufweis des Todes noch gar nicht in den Blick gekommen ist. Es wäre also gänzlich verfehlt, von einer logischen Zirkularität der Argumentation zu sprechen, dahingehend, daß der Tod immer schon in jener fünffachen Hinsicht verstanden sei und somit das Vorlaufen jenem Phänomen gegenüber sich als äußerliches und nachträgliches erwiese. Verstanden im Sinne von "verstehen" als Seinsweise der Eigentlichkeit ist der Tod deshalb bis jetzt noch nicht, weil die obige phänomenale Bestimmung als Vorzeichnung bzw. aus der Alltäglichkeit gewonnen wurde, damit in beiden Fällen der Nachweis für deren Eigentlichkeit noch aussteht. Höchstens ein hermeneutischer Zirkel könnte derart namhaft gemacht werden, daß ein Vor-verständnis von Tod sich am Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode zu bewähren hat, der selber andererseits von diesem Verständnis her seinen Ausgangspunkt gewinnt. So weist z . B . die vorzeichnende Kennzeichnung des Todes als "eigenste, unbezügliche Möglichkeit" darauf hin, daß das eigentliche Sein zum Tode diesen nicht - wie das Man verdecken darf. Damit wird aber - dies muß noch einmal hervorgehoben werden - nichts hinsichtlich der Bedingung der Möglichkeit eines unverdeckten Seins zum Tode vorweggenommen. In zwei Schritten erfolgt der Aufweis der ontologischen Möglichkeit eines eigentlichen Seins zum Tod: zunächst muß geklärt werden, in welcher Weise überhaupt Dasein als Sein zu dieser Möglichkeit des Todes gekennzeichnet werden kann - es geht also um die Beschreibung des Modus der Beziehung zwischen eigentlichem Sein und Tod - , sodann ist die "konkrete (n) Struktur" dieser Beziehung herauszustellen - hier gilt es, "die Charaktere des vorlaufenden Erschließens (zu) bestimmen"12Ü. Die Aufgabenstellung des ersten Schrittes lautet: "Im Sein zum Tode . . . muß die Möglichkeit ungeschwächt als Möglichkeit verstanden, als Möglichkeit ausgebildet und im Verhalten zu ihr als Möglichkeit ausgehalten werd e n " ^ ! . Die Möglichkeit des Todes muß aus zwei Gründen als solche belassen werden: einmal unterscheidet sich der Tod von anderen Möglichkeiten dadurch, daß er eine Möglichkeit des Daseins ist. Somit ist er weder vor- noch zuhanden; er kann deshalb nicht durch ein "besorgende(s) A u s s e i n " 1 2 2 verwirklicht werden. Dies geht zweitens auch schon deshalb nicht, weil die Verwirklichung der Möglichkeit "Tod" die Vernichtung des Daseins und damit die Vernichtung seiner Möglichkeit, existierendes Sein zum Tode zu sein, bedeuten würde. Die angemessene Beziehung des Daseins zum Tod ist "terminologisch" zu fassen " als Vorlaufen in die Möglichkeit "123, Dieser "Terminus" soll einerseits "ein besorgendes Verfügbarmachen eines W i r k l i c h e n 1 , 1 2 4 ausschließen, um andererseits der Möglichkeit des Möglichen selbst näher zu kommen. "Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen so fern als möglich"125.
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Durch das "Vorlaufen" soll also der Tod dem Dasein nahe-gebracht werd e n , um so in seiner Bedeutung f ü r es erschlossen zu werden. (Auf diese Funktion des Vorlaufens als Vergegenwärtigung von Zukünftigem ist später näher e i n z u g e h e n . ) Der "unverhüllte" Tod offenbart sich aber als Möglichkeit "der Unmöglichkeit der Existenz ü b e r h a u p t " ! ^ und somit als die äußerste Möglichkeit des eigentlichen Daseins, wenn a n d e r s er dessen eigenste Möglichkeit i s t . Damit eröffnet sich im Vorlaufen zum Tode das Verstehen von "eigentlicher E x i s t e n z " l ^ 7 , deren S t r u k t u r anhand d e r dargelegten fünf Charaktere des Todes konkretisiert werden soll. (1) Das Vorlaufen zur eigensten Möglichkeit des Daseins "erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen" 1 2 8. D . h . , das Dasein hat die Möglichkeit, es selbst zu sein, und entdeckt damit seine "faktische Verlorenheit in die Alltäglichkeit des Man-selbst"129. (2) Das Vorlaufen zur unbezüglichen Möglichkeit des Daseins läßt das Dasein v e r s t e h e n , "daß es das Seinkönnen . . . einzig von ihm selbst her zu übernehmen h a t " ^ 0 . Auch hier kann die Eigentlichkeit des Daseins v e r standen werden, nämlich als solche, die unabhängig von Welt sich konstituiert. (3) Das Vorlaufen zur unüberholbaren Möglichkeit erschließt dem Dasein, "daß ihm als äußerste Möglichkeit der Existenz b e v o r s t e h t , sich selbst aufzugeben "131. Das Verstehen dieses Charakters ist in zweifacher Hinsicht von größter Bedeutung: Zum einen werden dadurch die anderen Möglichkeiten des Daseins in ein Verhältnis zum Tod gesetzt, d u r c h welches "jede Versteif u n g auf die je erreichte Existenz"132 zunichte gemacht wird. Denn das Dasein wird "frei f ü r " diese anderen Möglichkeiten, die es jetzt allererst v e r s t e h e n und wählen k a n n . Die anderen Möglichkeiten offenbaren sich nämlich "vom Ende h e r " als "endliche", werden dadurch relativiert, in Beziehung gesetzt zum Tod und so als überholbare Möglichkeiten v e r s t a n den. (Nicht n u r die eigenen, sondern auch die Existenzmöglichkeiten der Mitmenschen werden so relativiert. ) Die a n d e r e , vorzügliche Bedeutung dieses Charakters ist darin zu erblikk e n , daß "in ihm die Möglichkeit eines existenziellen Vorwegnehmens des ganzen Daseins (liegt), das heißt die Möglichkeit, als ganzes Seinkönnen zu existieren"133. Dies liegt einfach in der d u r c h nichts "Neues" ü b e r bietbaren Möglichkeit des Todes als Ende des Daseins. Diese drei Charaktere lassen sich, analog zur oben erhobenen S t r u k t u r des Phänomens Tod, enger zusammenfassen und zugleich von den beiden folgenden abheben. Auf den e r s t e n Blick ist es erstaunlich, warum es mit diesen Charakteren nicht sein Bewenden hat. Mit ihnen wird doch die ontologische Möglichkeit des eigentlichen Ganz-sein-könnens des Daseins
- 173 aufgewiesen. In der Tat drücken die Charaktere der Gewißheit und Unbestimmtheit eine ganz bestimmte Beziehung des Daseins zu seinem als eigentliches Ganzseinkönnen erschlossenen Tod aus: so gewiß er kommt, so unbestimmt ist seine A n k u n f t . Auch diese Beziehung wird aus dem Vorlaufen zum Tode selbst erschlossen. (4) Das Vorlaufen zur gewissen Möglichkeit erschließt dem Dasein die Gewißheit seines eigentlichen Ganzseinkönnens. (5) Das Vorlaufen zur unbestimmten Möglichkeit erschließt dem Dasein (vermittels der Angst) die ständige "aus seinem Da selbst e n t s p r i n g e n de . . . B e d r o h u n g " * ^ seines eigentlichen Ganzseinkönnens. Soweit die Funktion des Vorlaufens zum Tode im Kontext von "Sein und Zeit". Mehrere Einwände drängen sich a u f , denen auch Raum gegeben werden soll. Zuvor ist jedoch zu erwägen, ob die von Heidegger vorget r a g e n e Ergänzung dieser Analyse des Todes als einer bloß "ontologisehen M ö g l i c h k e i t " ^ ^ durch den Aufweis i h r e r ontischen Faktizität f ü r die kritische Würdigung des beschriebenen "Vorlaufens" wesentlich ist. H.Ebeling hat v e r s u c h t zu zeigen, daß Heidegger die "daseinsmäßige Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens"136 durch das Gewissen n u r gewinnen k a n n , indem "das Gewissenhabenwollen schon im vorhinein 'als Sein zum Tode' . . . bestimmt gewesen ( i s t ) " 1 ^ . "Die Einheit von Todesund Gewissensdeutung ist re vera die Einheit eines einseitigen Todesentwurfs mit einer entsprechend einseitigen T o d e s e r f a h r u n g . . . " ; so sind nicht "Tod und Gewissen", vielmehr "Tod und T o d " 1 ^ geeint. Hier leuchtet erstmals a u f , was uns später noch eingehender zu beschäftigen h a t : das Verhältnis des Nichts zum Sein. (Es wäre ja immerhin d e n k b a r , daß der Tod n u r der negative Aspekt des letzteren i s t , während das Gewissen es anläßlich des Todes mit dem Sein zu tun bekommt.) So ist es legitim, sowohl das Gewissen als Bezeugung der existenziellen Möglichkeit des eigentlichen Seinkönnens darzustellen (um nämlich einen Ansatzpunkt f ü r das oben aufgeworfene Problem zu e r l a n g e n ) , als auch den Zusammenhang zwischen der ontologischen Möglichkeit der Eigentlichkeit mit dem entsprechenden ontischen Seinkönnen herauszustellen. (Von hier aus mag dann deutlich werden, welche grundlegende Rolle der Gedanke der Antizipation f ü r die Konstitution der Eigentlichkeit spielt. )
e) Das Gewissen als Bezeugung des eigentlichen Seinkönnens Die Darstellung der Analyse des Gewissens muß sich im folgenden auf jene beiden genannten Aspekte b e s c h r ä n k e n . Das Ergebnis der phänomenalen Untersuchung des Gewissens lautet: Das Man-selbst wird d u r c h das Gewissen a u f g e r u f e n zu seinem eigensten Seinkönnen, wobei der Rufer (die "Sorge") und das Angerufene (das "verfallende Man") identisch sind: beidemal ist es das Dasein selbstl39_ D e r Inhalt des Rufes (er wird aus der
- 174 alltäglichen Rede vom "schuldig sein" abgeleitet) lautet: Dasein ist als "Grundsein einer Nichtigkeit"140. £) as gemeinte "Nicht" ist zwar aus dem alltäglichen "schuldig sein" abgeleitet, aber "soweit formalisiert . . . , daß die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen" 1 4 1 . M.a.W.: Nichtigkeit ist nicht im Sinne eines "Mangels" zu verstehen, da der Existenz, wenn anders sie kein Vorhandenes ist, nichts mangeln k a n n 1 4 2 . Wie ist aber dann positiv jene "Nichtigkeit" zu interpretieren? Das Dasein ist Grund seiner selbst als geworfener Entwurf; dies heißt nichts anderes als: Dasein ist Grund seiner Nichtigkeit. Dies ist zu verdeutlichen: Das In-sich-selbst-Gründen des Daseins entspricht der Forderung, das Sein, die Ganzheit des Daseins zu thematisieren. Dies wurde oben 1 4 ^ als die "Absolutheit" des Daseins bezeichnet, die sich als notwendige Konsequenz der Aufgabenstellung von "Sein und Zeit" erwies. Dasein ist als Verstehen geworfener Entwurf: auch dies wurde schon dargelegt. Sowohl die Geworfenheit als auch der Entwurf sind aber selbst je nichtig: die Geworfenheit soll ja gerade ausdrücken, daß das Dasein seiner selbst nie mächtig ist, und der Entwurf ist im Auslassen der nicht gewählten Möglichkeiten ebenso nichtig. Der Grund dieser Nichtigkeit ist aber selbst ein nichtiger: dies folgt aus der Selbstapplikation des geworfenen Entwurfs auf das Dasein, die andererseits notwendig ist, wenn das In-sich-selbst-Gründen des Daseins aufrecht erhalten werden soll. Es ist noch kurz anzudeuten, inwiefern diese Analyse zu einer "Bezeugung" des eigensten Seinkönnens gelangt: Sofern das Gewissen ruft, bringt es den ermittelten Inhalt, daß nämlich das Dasein ursprünglich schuldig ist ("schuldig sein" heißt ja "Grundsein einer Nichtigkeit" 1 4 4 ), dem Dasein zum Verständnis. Damit kann es aber sich selbst verstehen, was sich in der "Wahl" ausdrückt "Gewissen-haben-(zu-)wollen" 14 **. Somit ist das Dasein im Dasein selbst als Gewissen-haben-wollen erschlossen: diese "durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit . . . nennen wir die Entschlossenheit" 14 ®. f) Vorlaufende Entschlossenheit Wir schließen die Darstellung der Bedeutung des Begriffs Antizipation in "Sein und Zeit" mit der Interpretation des Verhältnisses von Entschlossenheit und Vorlaufen zum Tode. Der notwendige Bezug zum Tod ist im Gewissen deshalb impliziert, weil es als Grundsein des Daseins sich für das Schuldigsein "entschließt", "solange es (sc. das Dasein) i s t " 1 4 ? . Das bedeutet aber, "daß sich das Dasein das Seinkönnen 'bis zu seinem Ende' erschließt" 1 4 8 . Als Existenzial ist die Entschlossenheit aber "verstehendes Sein zum Ende, d . h . . . . Vorlaufen in den Tod" 14 ®. So setzt das Gewissen, weil es ihm um das G an ζ seinkönnen des Daseins geht, das Vorlaufen voraus, das allererst die Möglichkeit als solche erschließt.
- 175 Weiter wurde das Gewissen als Grundsein einer Nichtigkeit bestimmt : der Tod selbst ist aber "die das Sein des Daseins ursprünglich durchherrschende N i c h t i g k e i t " 1 5 D a m i t setzt das Gewissen wiederum das Vorlaufen voraus : "Das Vorlaufen macht das Schuldigsein erst aus dem Grunde des ganzen Seins des Daseins offenbar "151. Der Zusammenhang zwischen Tod und Gewissen ist allerdings als wechselseitig bedingter zu begreifen; umgekehrt zeigt nämlich die Gewissensdeutung: "Das Vorlaufen ist keine erdichtete und dem Dasein aufgezwungene Möglichkeit, sondern der Modus eines im Dasein bezeugten existenziellen Seinkönnens"152. go wird erst durch "die Interpretation des 'Zusammenhangs' zwischen Entschlossenheit und Vorlaufen das volle existenziale Verständnis der Vorlaufens selbst (erreicht)"153. Bevor nun die Rolle des Vorgriffs im dargestellten Kontext ausführlich zu würdigen ist, muß noch einmal der vorhin erwähnte grundsätzliche Einwand gegen Heideggers Gewissensdeutung zur Sprache kommen: Wird tatsächlich faktisch nicht Tod und Gewissen, sondern Tod und Tod geeint? Hierzu ist zweierlei zu sagen: Bloß auf "Sein und Zeit" bezogen, d . h . die spätere Entwicklung Heideggers - und somit die Ambivalenz von "Sein und Zeit" - völlig außer acht lassend, ist dieser These zuzustimmen. Denn auch dann, wenn man darauf verweist, daß das Gewissen als Grundsein des Todes ein analoges Verhältnis hat zu jenem wie das Sein zum Dasein, bleibt doch bestehen, daß dieses Grundsein hi "Sein und Zeit" selbst noch einmal durch den Tod konstituiert wird. Sofern nämlich das "Nicht " ein solches ist, "das dieses Sein des Daseins . . . kons t i t u i e r t " ^ , erreicht eben der Tod den Höhepunkt seiner Macht: er offenbart sich als ursprünglicher Grund des Daseins selbst. Jene These - und darin liegt ihre Problematik - verdeckt freilich gerade den weiterführenden Ansatz, der bereits in dieser Gewissensdeutung angelegt ist. Das Nicht als letzter Grund des Daseins ist in der Tat doppeldeutig: die eine Deutung führt zur Absolutsetzung des Todes als die das Dasein bestimmende Möglichkeit. Die andere aber führt zur Unbegründbarkeit des Daseins in sich selbst, zur Ek-sistenz des seiner selbst nicht mächtigen Daseins. Hier setzt die vielbeschriebene Kehre ein, die uns noch beschäftigen wird - deshalb mögen diese skizzenhaften Bemerkungen hier genügen. 5. Kritische Würdigung des Sachverhalts der Antizipation in "Sein und Zeit" Die Bedeutung des mit Antizipation gemeinten Sachverhalts im Zusammenhang der Aufgabenstellung von "Sein und Zeit" kann kaum überschätzt werden: ihm eignet insofern eine singuläre Funktion, als er in exklusi-
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ver Weise fähig i s t , die Zeitlichkeit des Daseins als dessen "Sinn" in den Blick kommen zu lassen. Daneben ist zu erwarten, daß jenem Begriff (hier allerdings neben anderen) eine wesentliche Rolle zukommt für den Aufweis der "zeitlichen Alltäglichkeit", wenn anders das Phänomen Welt eine "vorgängige Erschlossenheit" der Bewandtnisganzheit voraussetzte, um überhaupt in den Blick kommen zu können. Aus methodischen Gründen ist es sinnvoll, die Erörterung dieser Funktion voranzustellen, da sie in negativer Weise Aufschluß geben kann über die formale Struktur des "Vorlaufens", ohne freilich dessen Tiefe ausloten zu können: hier setzt dann die an erster Stelle genannte Funktion von Antizipation bei Heidegger ein. a) Vorgängige Erschlossenheit und vorläufige Entschlossenheit Wenn im Mittelpunkt der Rekonstruktion des Gedankengangs von "Sein und Zeit" das Thema der Antizipation steht, kann dieses doch nicht isoliert von in seinem Umkreis sich ergebenden Problemen behandelt werden. So waren wir früher auf Schwierigkeiten von Heideggers Weltbegriff gestoßen, aus denen wiederum sich wesentliche Konsequenzen für das Verständnis der vorgängigen Erschlossenheit (im Sinne eines apriorischen Perfekts) ergaben. Ähnlich wird die folgende Interpretation der Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins nicht nur erste Klarheiten hinsichtlich des mit "Vorlaufen" gemeinten Sachverhalts erbringen, sondern auch, quasi als "Nebenprodukt", die Schwierigkeiten des Weltbegriffs in "Sein und Zeit" verdeutlichen. Im Duktus der bisherigen Untersuchungen ist insbesondere im Zusammenhang der Analyse von "Prolepsis" in der antiken Philosophie, aber auch bei Kant, sofern sich auch bei ihm der Aspekt der logischen Voraussetzung der antizipierten Formen gegenüber ihrer Materie findet, die Vorgegebenheit der mit Antizipation geltend gemachten Wahrheit konstatiert worden. Interessanterweise tauchten bei Heidegger zwei verschiedene Termini auf, um das "Früher" einer Sache zu kennzeichnen: vor gängige Erschlossenheit und vorläufige bzw. vorlaufende Entschlossenheit. Und man wird in der Tat sagen müssen, daß der erste Ausdruck in Anlehnung an die antike Verwendungsweise der "Prolepsis" gebildet wurde, um zumindest die Chance zu wahren, eine ur-sprüngliche, i . e . im Ansatz sichtbare Einheit von Dasein und Welt deutlich zu machen. Wenn von vornherein das Dasein aktiv sich zur Welt verhielte, wenn im Sinne der wechselseitigen und darin antizipativen Bestimmung von Form und Materie bzw. von Ganzem und Teil des Denkprozesses bei Cohen die Bewandtnisganzheit zu begreifen wäre, so wäre jener Ansatz bei der ursprünglichen Einheit von Welt und Dasein auch schon zerstört. Die Deutung der Antizipation als einer vorgängigen Erschlossenheit von Welt im Sinne einer je vorgegebenen Welt (in Heideggers Terminologie: das In-der-Welt-sein als
- 177 "geworfenes") eliminiert somit das f ü r Cohen konstitutive Moment der Erzeugung bzw. Bestimmung: an seiner Stelle rückt jene passive Perspektive in den V o r d e r g r u n d . Von hier aus e r f ä h r t die oben angedeutete Kritik am Weltbegriff Heideggers eine wesentliche Vertiefung: Die an die "Prolepsis" gemahnende S t r u k t u r der "Vorgängigkeit" von Welt soll bei Heidegger gerade die "vorgängige" Einheit von Dasein und Welt sichtbar machen, die freilich d u r c h ihre Apriorität in Frage gestellt wird. Das heißt, faktisch wird diese Einheit als d u r c h das Dasein bestimmte am Dasein festgemacht, wodurch sich jene merkwürdige Strukturanalogie zu Kants Verwendung des Begriffs Antizipation ergab 155. Diese These kann nun noch einmal an der Interpretation der Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins verifiziert und verdeutlicht werden: dieses Phänomen wird nämlich - entgegen der geäußerten Erwartung - nicht aus der vorgängig erschlossenen Bewandtnisganzheit abgeleitet (wobei der Zukunft die primäre Rolle zukäme), sondern die Zeitlichkeit der Sorge stellt sich als Bedingung seiner Möglichkeit d a r : "Wenn das Bewendenlassen die existenziale S t r u k t u r des Besorgens ausmacht, dieses aber als Sein bei . . . zur wesenhaften Verfassung der Sorge g e h ö r t , und wenn diese ihrerseits in der Zeitlichkeit g r ü n d e t , dann muß die existenziale Bedingung der Möglichkeit des Bewendenlassens in einem Modus der Zeitigung der Zeitlichkeit gesucht w e r d e n " 1 5 6 . Es soll hier noch nicht die Zeitlichkeit als solche i n t e r p r e t i e r t w e r d e n 1 5 ^ ; zunächst genügt e s , den in diesem Zitat ausgesprochenen Begründungszusammenhang h e r a u s z u stellen. Demnach kann das Bewendenlassen als Bedingung der Möglichkeit des In-der-Welt-seins deshalb in zeitlichem Sinne i n t e r p r e t i e r t werden, weil es als "Besorgen" Teil des Phänomens "Sorge" i s t , dessen Zeitlichkeit von Heidegger schon herausgestellt wurde. M.a.W.: Die Störung der Bewandtnis, f r ü h e r als Bedingung der Möglichkeit des In-der-Weltseins ausgegeben, wird in dieser Funktion überhaupt nicht mehr thematisiert. Diese These braucht nicht n u r negativ aus dem festgestellten Begründungszusammenhang erschlossen zu werden, sondern kann an folgender Stellungnahme Heideggers leicht verifiziert werden. "Was", so f r a g t e r , "bedeutet das . . . o n t o l o g i s c h " ^ ^ , daß allererst durch eine Störung "das Zeugganze als solches sich mit a u f d r ä n g t "159? »D a s gegenwärtigend-behaltende Gegenwärtigen wird d u r c h d a s , was sich nachher als Beschädigung herausstellt, aufgehalten"160; diese Antwort kann wohl n u r dahingehend i n t e r p r e t i e r t werden, daß die Zeitlichkeit der Störung selbst ü b e r s p r u n g e n wird, um sofort die ( f r ü h e r e i n g e f ü h r t e Definition 1 ^ 1 d e r ) Zeitlichkeit des Zuhandenen im Verhältnis zur Störung zur Sprache zu b r i n g e n . Das heißt, der Aufweis der Möglichkeit von Störung gründet in der vorgängig erhobenen (hier zeitlich i n t e r p r e t i e r t e n ) S t r u k t u r des Zuhandenen, wenn a n d e r s dem "Wobei der Bewandtnis" die S t r u k t u r des "Gegenwärtigens" eignet, die "in eins mit dem Behalten" ein "Gegenwärtigen des Zeugs" e r m ö g l i c h t ^ ^ wenn aber dies gilt, daß die Störung der Verweisung immer schon Zuhandenes v o r a u s s e t z t , dann wird hier noch einmal der negative Aspekt der f r ü h e r v e r t r e t e n e n These b e s t ä t i g t , dem-
- 178 zufolge der Gedanke der "Unzuhandenheit" nicht geeignet ist, eine tragende Funktion innerhalb der Argumentation des In-der-Welt-seins zu übernehmen. Zugleich - und damit kehren wir zu der eingangs formulierten Problemstellung zurück - fällt Licht auf den früher als "apriorisches P e r f e k t " 1 6 3 gekennzeichneten Sachverhalt. Es wurde vorhin etwas voreilig behauptet, jener habe keine Funktion für die Interpretation der Zeitlichkeit des Inder-Welt-seins: dies muß jetzt präziser gefaßt werden. Es .geht um die Frage, ob die vorgängige Erschlossenheit von Welt (als Bedingung der Möglichkeit der Entdeckbarkeit von Zuhandenem) in zeitlichem Sinne interpretiert werden kann. Obzwar sich Heidegger eingehend über "die Zeitlichkeit der Erschlossenheit überhaupt"164 äußert, wird hier ebensowenig wie in der Analyse der Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins aufgezeigt, inwiefern Welt als Bewandtnisganzheit in ihrer vorgängigen Erschlossenheit gründet. Die Frage nach der Möglichkeit des "vorgängigen Verstehen(s) der Bezüge des Um-zu, Wozu, Dazu, U m - w i l l e n " 1 6 5 nach der Möglichkeit des "Bewendenlassens" also, wird sogleich umgebogen in die ihr gegenüber sekundäre Problemstellung: "Wie ist so etwas wie Welt in seiner Einheit mit dem Dasein ontologisch möglich?" 16 ®. Es geht hier also um "den ursprünglichen Zusammenhang der Um-zu-Bezüge mit dem Um-willen" 16 ?, nicht aber um die in der Tat "vorgängige" Möglichkeit des Verstehens der Bezüge als solcher. Auf unser Thema zugespitzt formuliert: Das apriorische Perfekt bleibt die "un-zeitliche" ( i . e . logische!) Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Welt als Bewandtnisganzheit, die allen "zeitlichen" Interpretationen, sei es die der Zuhandenheit oder die der Bewandtnisganzheit zugrunde liegt. )
Dieser These stehen durchaus nicht solche Sätze wie: die Welt "muß schon ekstatisch erschlossen sein . . . " , entgegen. Hier müssen die A r gumentationsebenen säuberlich getrennt bleiben: es braucht gar nicht in Zweifel gezogen zu werden, zumindest aber ist es für obige These irrelevant, daß Heidegger die Bewandtnisganzheit selbst als zeitliche (durch das "horizontale Schema") interpretiert - worauf es uns allein ankommt, ist, daß die im ersten Teil von "Sein und Zeit" vorgetragene Analyse des In-der-Welt-seins, die das "apriorische Perfekt" als Bedingung der Möglichkeit von Welt als Bewandtnisganzheit aufwies, bei der zeitlichen Interpretation keine Berücksichtigung mehr findet; das apriorische Perfekt "zeitigt" nicht! Damit bestätigt sich nun die eher intuitiv vollzogene Parallelisierung des "Vor" von Welt mit der als logisch gedeuteten Antizipation der Formen von Erfahrung bei Kant: Gegen Heideggers eigene Intention ist zu sagen, daß es ihm zumindest nicht gelungen ist, argumentativ aufzuweisen, warum "die Bedeutsamkeitsbezüge . . . kein Netzwerk von Formen, das von einem weltlosen Subjekt einem Material übergestülpt w i r d " * * , darstellen sollen. Im Gegenteil ist die Rede des "Vor" der Welt bei Heidegger , soweit wir sehen, nur dann argumentativ haltbar, wenn es nicht in zeitlicher, sondern in logischer Hinsicht verstanden wird. 1 6
- 179 Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß nicht der Anspruch erhoben werden kann, "vorgängiges Verstehen" überhaupt sei dieser Kritik zu unterwerfen. Es ging uns ausschließlich um das vorgängige Verstehen von Welt, und es wird sich gleich zeigen, daß Heidegger durchaus ein zeitliches "Vor" - im Kontext des "eigentlichen Verstehens" - als Vorlaufen zum Tode namhaft macht. b ) Antizipation als Grundtat der Zeitlichkeit Mit Bedacht wurde diese Überschrift gewählt, die bewußt der grundlegenden These Cohens bezüglich des Begriffs Antizipation entspricht. Wir wollen nämlich im folgenden zu zeigen suchen, daß weder Kant noch Husserl und auch nicht Dilthey, sondern Cohen als geistiger Vater des bei Heidegger temporal verstandenen "Vorlaufens" angesehen werden muß1^. Der voranstehende Abschnitt ergab, daß die vorgängige Erschlossenheit von Welt nicht in temporaler, sondern in logischer Hinsicht zu interpretieren ist : damit beschränkt sich die folgende Argumentation auf die Diskussion des schon ausführlich dargestellten "Vorlaufens zum Tode". Zunächst muß geklärt werden, welche Funktion die explizite Verbindung der vorlaufenden Entschlossenheit mit Zeit im Duktus der Heidegger sehen Argumentation hat. Aus folgendem Grund endet "Sein und Zeit" nicht mit dem (beanspruchten) Aufweis der faktisch-existenziellen Selbständigkeit (d.i. vorlaufenden Entschlossenheit 170) ¿es Daseins: damit ist noch nicht dessen Strukturganzheit selbst manifest, sondern nur gleichsam die Bedingung der Möglichkeit des Ganzseinkönnens erreicht. Deshalb bedarf es "der ungebrochenen Disziplin der existenzialen Fragestellung" 1 7 1 , u m zum gesteckten Ziel zu gelangen. Die Ganzheit des Daseins muß nämlich aus ihrer aufgewiesenen Möglichkeit deduziert werden, wenn anders die Einheit der Argumentation gewahrt werden und das über Tod und Gewissen Dargelegte ihr nicht äußerlich bleiben soll. Positiv ausgedrückt: Wenn gezeigt werden kann, daß das Dasein sein eigenes Ganzseinkönnen ist, wenn Dasein der Grund seiner eigenen Ganzheit ist, dann erst ist das Ziel der Heideggerschen Argumentation in "Sein und Zeit" erreicht. Von daher ergibt sich auch die Notwendigkeit dieser Deduktion: nicht das Ganzseinkönnen, sondern die Ganzheit, das Sein des Daseins soll aufgewiesen werden* 7 2 . Wenn also ein notwendiger und innerer Bezug zwischen der vorläufigen Entschlossenheit im Sinne der obigen Interpretation und dem Sein des Daseins herzustellen ist, so bleibt immer noch offen, warum gerade die Zeit dieser Funktion gerecht zu werden vermag. Die Diskussion dieses Problems wird sich freilich weniger auf die konstitutive Rolle der Zeit für die Ganzheit des Daseins, sondern eher auf deren Ableitung aus dem Ganzseinkönnen selbst konzentrieren 1 7 ^. Dies ist nun zugleich der für
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unsere Themastellung entscheidende Punkt : Weil das Ganzseinkönnen des Daseins als "vorlaufendes" gefaßt wurde, eignet ihm selbst Zeit; das Vorlaufen stellt sich somit als entscheidendes "Gelenk", als Bedingung der Möglichkeit dar, zwischen Ganzseinkönnen und Sein des Daseins eine konstitutive Beziehung herzustellen, derart, daß letzteres aus ersterem zwar abgeleitet wird, in logischer Hinsicht freilich das Ganzseinkönnen im Sein des Daseins gründet. Das "Vorlaufen" leistet deshalb diese argumentative Vermittlung, weil es voraussetzt, "daß das Dasein überhaupt in seiner eigensten Möglichkeit auf sich zukommen kann und die Möglichkeit in diesem Sich-auf-sich-zukommenlassen als Möglichkeit aushält D . h . , das zweifache Vermögen des Vorlaufens, den Tod vorwegzunehmen, und zwar so, daß er in seiner Möglichkeit belassen wird, gründet als Bedingung seiner Möglichkeit in der Zukunft, wenn anders diese so bestimmt wird: "Das die ausgezeichnete Möglichkeit aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft "175 Heidegger definiert in diesem Zusammenhang "Zukunft" in einer negativen und einer positiven Hinsicht: "'Zukunft' meint hier nicht ein J e t z t , das, noch nicht 'wirklich' geworden, einmal erst sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt "176, (wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß gerade diese Definition von Zukunft natürlich durch das Vorlaufen evoziert wurde : denn zu einer Zukunft, der keine Möglichkeit der Vergegenwärtigung eignet, kann gar nicht vorgelaufen werden!77#)
Der Inhalt dieser durch den "Vorgriff" auf Dasein zu-kommenden und 'von ihm übernommenen Zukunft wurde aber im Grundsein einer Nichtigkeit erblickt : die darin zum Ausdruck kommende Geworfenheit bedeutet, "das Dasein in dem, wie es je schon war, eigentlich s e i n " 1 7 8 . j ) i e Vergangenheit als das, "wie es je schon war" ("Gewesenheit"), wird so mittelbar durch das Vorlaufen ermöglicht und "entspringt in gewisser Weise der Zukunft" 1 7 ^. Entsprechend hat auch die Gegenwart ihren Grund im Vorlaufen, das "die jeweilige Situation des Da" 1 8 ^ erschließt und so das "Gegenwärtigen" eines Seienden ermöglicht. Damit ist der Heideggersche Sinn von "Zeitlichkeit" als "Ganzheit" des Daseins e r reicht: das "als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen"181. Von hier aus wird auch deutlich, warum Heidegger an die Stelle des "vulgären Z e i t b e g r i f f ( s ) " 1 8 2 den Terminus "Zeitlichkeit" setzt: damit soll der dynamische Charakter dieses Phänomens schon terminologisch zur Geltung kommen, die Zeitlichkeit "zeitigt s i c h " 1 8 ^ . Nur durch diese Dynamik nämlich gelingt es Heidegger, die Einheit der Zeitmodi, die deshalb Ekstasen genannt werden, um schon terminologisch darauf hinzuweisen, daß sie nicht als je abgeschlossene zu betrachten sind, aufzuweisen. Das Wesen der Zeitlichkeit "ist Zeitigung in der Einheit der Ekstasen" 1 8 ^; dabei kommt der Ekstase "Zukunft" noch einmal insofern herausragende Bedeutung zu, als sie "das Seinkönnen schließt" 1 8 ^ und somit die Einheit des Daseins als Zeitlichkeit garantiert.
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Damit ist endlich der Punkt erreicht, von dem aus eine Würdigung und Er-örterung des Gedankens der Antizipation bei Heidegger (als eines Vorlaufens zum Tod) einsetzen kann. Sofern nämlich Heidegger die Zukunft als "das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Z e i t l i c h k e i t Ì ' 1 8 6 f a ß t , - und zwar vermittelt durch ihre mögliche Vorwegnahme - wird die Analogie zum Zeitbegriff Cohens deutlich, wo ja auch die Einheit der Zeit als in der antizipierten Zukunft gründende erwiesen wurde. So liegt es nahe, anhand des über Cohens Zeitbegriff Ausgeführten die Besonderheit des Heideggerschen Standpunktes aufzuweisen. Es findet sich ja zunächst einmal eine verblüffende Strukturanalogie nicht nur hinsichtlich der Vorrangstellung der Zukunft, sondern gerade bezüglich ihrer Begründung: nur weil die Zukunft vorweggenommen worden ist, kann sie die Einheit der Zeitmodi aufdecken. Wir bezeichneten in Anlehnung an Cohens Terminologie diese Einheit als Mehrheit, die erzeugt ist durch die Antizipation der Zukunft, und so, zeitlich gewendet, die Gleichzeitigkeit des Noch-nicht mit dem Nicht-mehr gewährleistet. Dieselbe formale Struktur eignet dem "Vorlaufen" bei Heidegger: Auch hier soll die Zukunft so vergegenwärtigt werden, daß sie die Zeitmodi eint. So stellt sich auch nach dieser Konzeption Antizipation als Bedingung der Möglichkeit von temporaler Mehrheit (als Einheit von zeitlich Verschiedenem) dar. Das Spezifikum des Heideggerschen "Vorlaufens" liegt freilich auf der inhaltlichen Ebene, die uns nun eingehender zu beschäftigen hat. c) Das Antizipierte in "Sein und Zeit" Aus methodischen Gründen wollen wir noch einmal das Werk Cohens heranziehen: hier sollte die Zukunft selbst durch Antizipation erzeugt werden, wogegen sich unsere Kritik richtete. An diesem Punkt verläuft nun die Argumentation Heideggers ungleich subtiler: Natürlich darf die Zeitlichkeit nicht so gedacht werden, als würde sie aus den Zeitmodi "zusammengesetzt". "Die Zeitlichkeit 'ist' überhaupt kein Seiendes"187_ Damit ist freilich zunächst nur gesagt, daß Zeit nicht in der Welt ist (wie Seiendes), sondern das Dasein konstituiert. Sofern dieses aber nicht nur "entwirft", sondern auch "geworfen" ist, braucht es durchaus der Zeitlichkeit nicht nur in aktiver, "erzeugender" Weise gegenüberzutreten. Der Duktus der Argumentation zielt ja gerade darauf, daß das Dasein seine Ganzheit (Zeitlichkeit) wählen bzw. verfehlen kann: aber es kann sich nicht ihr gegenüber indifferent verhalten, es muß entweder ganz oder uneigentlich sein. Damit ist allerdings noch nicht ausgeschlossen, daß in der Erzeugung der Zeitlichkeit selbst der Zwang oder die Geworfenheit liegt. Auf dieser formalen Ebene kann anscheinend das anstehende Problem nicht gelöst werden: deshalb gilt es, den Inhalt der Zukunft noch einmal zu thematisieren, um von daher nicht nur Aufschluß über das Verhältnis des "Vorlaufens" zur "Erzeugung" zu erhalten, sondern auch das Antizipierte selbst in den Griff zu bekommen.
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Das "Wohin" des "Vor lauf ens" ist der Tod. Dieser ist als Zukunft des Daseins die Bedingung der Möglichkeit seines Ganzseins. Die Frage konzentriert sich also jetzt d a r a u f , ob d u r c h das Vorlaufen in die Möglichkeit des Todes clieser allererst als solcher erzeugt wird. Dies ist aber offensichtlich falsch: die Möglichkeit des Todes "beschafft sich . . . das Dasein nicht nachträglich und gelegentlich im Verlaufe seines Seins"·'-®® - es ist vielmehr immer schon "in diese Pdöglichkeit geworfen"189. £) a s heißt: Die Zukunft des Daseins, deren Inhalt der Tod i s t , kann d u r c h Antizipation nicht erzeugt werden, sondern liegt ihr z u g r u n d e . Wohl aber "ermöglicht" das Vorlaufen diese Möglichkeit, dadurch wird sie "erschlossen" bzw. " v e r s t a n d e n " ^ . g j i d somit wirksam, d e r a r t , daß das Dasein ganz sein k a n n . e
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Als e r s t e s Ergebnis ist also festzuhalten: Der Inhalt der Zukunft des Daseins wird d u r c h Antizipation zwar v e r g e g e n w ä r t i g t , nicht aber e r zeugt. Was wird aber vorweggenommen? Der Tod ist der Gegenstand des Vorlauf e n s , aber d u r c h i h n , so sahen wir, kann das ganze Dasein vorweggenommen werden. Ist also das Dasein selbst das Antizipierte? Dann würde es sich ja selbst vorwegnehmen. Doch wir müssen genauer hinsehen: nicht das Dasein, sondern die Ganzheit des Daseins soll durch das Dasein (die "Seinsart ( s c . des Daseins) (ist) das Vorlaufen selbst"^®!) vorweggenommen werden, oder: die Ganzheit erzeugt sich, indem sie sich vorwegnimmt. Diese S t r u k t u r des Vorlaufens in "Sein und Zeit" ist zu verdeutlichen: Die Ganzheit des Daseins ist nicht der Tod, sondern durch seine Vergegenwärtigung als Vorlaufen wird das Dasein ganz. Weil über den Tod h i n a u s , weil "nach" dem Tode "nichts" i s t , ist er das u n ü b e r b i e t b a r e Ende des Daseins. Wenn er also vorweggenommen werden k a n n , dann kann auch die Ganzheit des Daseins als antizipierte sichtbar werden. Die festgestellte reflexive S t r u k t u r der Antizipation bezieht sich also so auf das Dasein, daß dieses seine Ganzheit (und so sich) vorwegnimmt. Damit taucht dasselbe Problem a u f , das uns im Zusammenhang der Diskussion des Cohenschen Gedankens der "Selbsterzeugung" des Denkens b e reits beschäftigte: muß das Selbst nicht immer schon vorausgesetzt sein, um überhaupt als vorwegnehmbar gedacht werden zu können? Dabei ist freilich die Andersartigkeit der Cohenschen Aufgabenstellung zu beacht e n : ging es ihm um die Möglichkeit der Selbsterzeugung des U r s p r u n g s des Denkprozesses und somit um das Problem der Selbständigkeit der philosophischen Methode u n t e r bewußter Absehung von der konkreten Bestimmung der Inhalte jenes Prozesses, so steht bei Heidegger die Ganzheit des Daseins und ihre Ermöglichung d u r c h die Vorwegnahme eines konkreten Inhalts, des Todes nämlich, auf dem Spiel. Es ist i n t e r e s s a n t , daß Heidegger s t r u k t u r e l l dieses Problem ganz ähnlich wie Cohen lösen möchte: so wie der U r s p r u n g des Denkprozesses bei Cohen zwar im
- 183 vorhinein thematisiert und so antizipiert, aber erst im Verlauf der Tätigkeit des Denkens er selbst wird, so soll auch nach Heidegger der Tod als die Ganzheit des Daseins nicht verwirklicht, sondern in seiner Möglichkeit belassen werden, und zwar gerade so, daß sie "jetzt schon" wirksam wird. Und diese Wirksamkeit drückt sich näherhin so aus, daß Ganzheit als Einheit zeitlicher Unterschiedenheit sichtbar werden kann. Diese Ganzheit erweist sich so als Ergebnis des Vorlaufens. Nun handelt es sich aber wie gesagt um eine konkrete Ganzheit, nämlich um die Ganzheit des Daseins, um dessen Sein als Zeitlichkeit (nach Heidegger). Andererseits ist der Akt der Erzeugung derselben Ganzheit, wenn anders er im Vorlaufen gründet, ein Akt des Daseins selbst. Demnach ist aber das Erzeugende (das Dasein) mit seinem Erzeugnis (der Ganzheit des Daseins) identisch, oder: Das Dasein erzeugt sich selbst. Die Haltbarkeit dieser These hängt an zwei Behauptungen: Erstens daran, daß durch das Vorlaufen tatsächlich der zukünftige Grund des Daseins vorweggenommen wird, und zweitens daran, daß dieser auch wirklich dessen Grund ist. Diese beiden Behauptungen verhalten sich so zueinander, daß eine Destruktion der letzteren sich nur auf den Inhalt des Antizipierten beziehen kann, so daß damit noch nichts über die grundsätzliche Möglichkeit der Vorwegnahme von Zukunft ausgemacht ist. Aus diesem Grund wollen wir die Diskussion der zweiten Behauptung v o r a n s t e l l e n j kritisch hint erfragen, ob tatsächlich der Tod als Grund des Daseins namhaft gemacht werden kann. Dabei ist wesentlich, daß der Tod selbst zum einen dem Dasein nur durch Antizipation gewahr wird, zum andern als Bedingung der Möglichkeit der antizipierten Ganzheit des Daseins fungiert. Hier wird die Ambivalenz in Heideggers Argumentationsgang vielleicht am deutlichsten: Einerseits soll das Dasein in seiner Ganzheit selbst Grund seiner Nichtigkeit sein, andererseits ermöglicht diese Nichtigkeit allererst die Ganzheit des Daseins. (Der nichtige Grund seiner Nichtigkeit ist das Dasein. ) Genau an diesem Punkt setzt denn auch die Weiterentwicklung von Heideggers Denken ein: indem die Möglichkeit der Selbstbegründung des Daseins aufgehoben wird (weil als nichtige erkannt) und dessen Grund nicht in seiner eigenen Nichtigkeit (als Nichts schlechthin), sondern im "Nicht'' des Daseins erblickt wird, bahnt sich das Verständnis des Daseins als Ek-sistenz an. u n c
d ) Der Tod als Grund des Daseins Die Funktion der Todesanalyse im Kontext der Argumentation von "Sein und Zeit" konnten wir darin erblicken, daß das Dasein selbst ganz sein kann. Von hier aus ergab sich die Möglichkeit seines eigenen Grundseins als Selbsterzeugung durch Antizipation. Diese Hypostasierung des Todes in "Sein und Zeit", der von der Konstruktion der Ganzheit des Daseins her nur ein Element derselben sein dürfte, aber wegen der beanspruch-
- 184 ten Selbstbegründung zu deren Bedingung der Möglichkeit sich erhebt, hat sicher nicht zu Unrecht vielfache Kritik hervorgerufen. Es braucht hier nicht auf deren Vielschichtigkeit im einzelnen eingegangen zu werden. Zum einen ist die beanspruchte Allgemeinheit von Heideggers Todesanalyse angesichts anderer, von ihr nicht berücksichtigten "Todesarten" hinfällig g e w o r d e n e s . Zum andern wird Heideggers methodischer Solipsismus 194 dadurch in Frage gestellt, daß auf eine immanente Inkonsistenz der Analyse des Todes hingewiesen wird. Indem nämlich der "Unvertretbarkeitsanspruch zu einem A l l e i n v e r t r e t u n g s a n s p r u c h " 1 9 5 wird, zugleich aber "die Todesanalytik beanspruchen darf, die Analytik des Todes von mehr als bloß Einem zu sein"196 ; w i r ( j jener Anspruch zur bloßen Versicherung. Beide Punkte der Kritik mögen wichtig für eine Neuformulierung einer realitätsnahen Thanatologie sein: für unser Thema sind sie nicht weiterführend. Wesentlicher als diese beiden Einwände ist der Hinweis, daß der Tod nicht die Ganzheit des Daseins (im Sinne seiner Abrundung) leisten könne; zu Recht ist gefragt worden: "Wird unser Leben nicht vielmehr im Tode abgebrochen, so daß es auch im besten Falle, im Falle des gelungensten Lebens Fragment bleibt?"19? Auch diese kritische Erwägung soll nur erwähnt werden, da es uns ja weniger um Heideggers Todesanalyse als vielmehr um den damit verbundenen Gedanken der Antizipation zu tun ist. Eine vierte Kritikrichtung schließlich zielt gerade auf diesen Gedanken, wenn nämlich gefragt wird, wie das Nichts der Grund des Daseins sein könne. So bemerkt K.Rahner, auf dessen positive Ausführungen zum Gedanken des Vorgriffs gleich einzugehen ist: "Das Nichts begründet nichts ; das Nichts kann nicht das Woraufhin des V o r g r i f f s , das Anziehende und Bewegende, das in Gang Bringende jener Wirlichkeit sein, die der Mensch als sein wirkliches und nicht nichtiges Leben erfährt"198. Dieser Kritik ist zunächst einmal entgegenzuhalten, daß sich in "Sein und Zeit" auch Aussagen finden, denen zufolge nicht dem schlechthinnigen Nichts, sondern dem Nicht des Daseins jene gründende Funktion innewohnt. Die "Bedingungen . . . , auf deren Grund das Problem des Nicht und seiner Nichtheit und deren Möglichkeit sich stellen läßt", sind nach Heidegger nirgends anders zu finden "als in der thematischen Klärung des Sinnes von Sein überhaupt"199. (Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Kehre gerade von der Betonung des Nicht des Daseins her zu verstehen i s t . ) Andererseits wird jene Kritik in der Tat durch die erwähnte Hypostasierung des Todes in "Sein und Zeit" evoziert: denn als Grund des Daseins scheint der Tod den eigentlichen Gegenstand der Antizipation darzustellen, dessen Vorwegnahme genügt, um die weiteren Möglichkeiten des Daseins zu erzeugen. Hier stellt sich aber die Frage, wie der Tod solches leisten könne, wird doch durch seine Antizipation "keineswegs die inhaltliche Vielfalt der dem Tode vorangehenden Lebensmöglichkeiten mitgegeben" 2 0 0 . So bleibt der Tod gegenüber dem von ihm
- 185 zu bedingenden Leben a b s t r a k t . Es wäre nicht schwer, diese Kritik im Sinne der f r ü h e r angestellten Erwägungen über den Gedanken der Selbstbestimmung bzw. - e r z e u g u n g so zu u n t e r s t r e i c h e n , daß die IJnmöglichkeit des Grundseins des Todes noch deutlicher wird. Da jedoch Heideggers Denken genau an diesem Punkte sich fortentwickelte, t r ä f e diese Kritik einen von Heidegger selbst überholten Standpunkt und ginge so ihres Sinns verlustig. Es mag hier der Hinweis genügen, daß der Tod deshalb die Funktion der Antizipation des ganzen Daseins nicht wahrnehmen k a n n , weil er den jeweiligen positiven Möglichkeiten des Daseins äußerlich bleiben muß. Nun hat jüngst E.Tugendhat die Rede Heideggers vom "Sein zum Tode" "für u n a n f e c h t b a r " erklärt^Ol. i n der "Konfrontation mit dem jederzeit möglichen Ende meines Lebens" muß man sich den darin "enthaltenen allgemeineren Umstand klarmachen, daß man, wie jede Möglichkeit, so auch die des Lebens selbst n u r wahrnimmt in eins mit ihrer Negation "202, j ) e r Tod ist also nach dieser Interpretation die Bedingung der Möglichkeit des Wahrnehmens von Leben. Dies wird v e r s t ä n d l i c h e r , wenn Tugendhats Interpretation von "Sein" und "Nichts" berücksichtigt wird, wonach "Heidegger das Wort 'ist' soweit verstanden wissen will, wie die Verwendung des Wortes 'nicht' reicht"203. e s i d hier deutlich, daß zwischen beiden ein Verhältnis wechselseitiger Bedingung angenommen wird, d e r a r t , daß "nicht" den Bezirk des "Seins" a u s g r e n z t und umgekehrt. In diesem Sinne ist die oben zitierte Aussage zu i n t e r p r e t i e r e n , daß "in eins" mit der Negation des Lebens dieses wahrgenommen werden k a n n , daß "in gleichzeitiger Konfrontation" mit dem Ende des Lebens dieses selbst thematisch wird. Tugendhat reduziert so Heideggers Todesanalyse auf die Ebene der negativen Definition, die in der Tat als B e - g r e n z u n g d u r c h A u s - g r e n zung v e r s t a n d e n werden k a n n . Dadurch werden aber Tod und Leben als je sich notwendig ausschließend nebeneinander gestellt, so zwar, daß ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis gilt, d e r a r t : Der Tod ist das andere des Lebens und umgekehrt. Diese Interpretation bedarf freilich des in "Sein und Zeit" so ausführlich entwickelten Gedankens des Vorlaufens nicht mehr, der bei Tugendhat zur. bloßen "'Erstrecktheit' der eigentlichen Existenz", zu einer gewissen "'Ständigkeit'"204 des Daseins zusammenschmilzt. Damit hat aber Tugendhat die konstitutive Funktion des Todes in "Sein und Zeit", Grund f ü r die Ganzheit des Daseins zu sein, de facto aufgegeben. Dies klingt zwar noch a n , wenn er "Tod" und "Leben im ganzen" identifiziert205, aber aus dem A u s g e f ü h r t e n ergibt sich, daß dies eben n u r noch im Sinne einer notwendigen Komplementarität von Tod und Leben v e r s t a n d e n werden d a r f . w
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Das Mißliehe an dieser Interpretation Tugendhats besteht jedoch nicht n u r darin, daß sie Heideggers eigene Aussagen in "Sein und Zeit" nicht genügend in Rechnung stellt - "Es war nicht meine Intention, eine getreue Darstellung von Heidegger zu geben, sondern das aus Heidegger herauszuholen, was wir f ü r u n s e r e sachliche Fragestellung b r a u chen. "206 ~ t sondern sie muß die weitere Entwicklung des Heidegger-
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sehen Denkens, namentlich die Aufgabe der Selbstbegründung des Daseins, deren wichtige Vorstufe in der Vorlesung "Was ist Metaphysik?" zu erblicken sein dürfte, wenn schon nicht übergehen, so doch in sehr einseitiger Weise interpretieren. Denn Heidegger hat, wenn wir recht sehen, an keiner Stelle darauf verzichtet, einen Grund des Daseins anzugeben und sich nie mit einem bloß wechselseitigen ΒedingungsVerhältnis zufrieden gegeben. Und eben dies kann auf dem Boden der Tugendhatschen Interpretation nicht plausibel gemacht werden, die deshalb, auch wenn sie anders als Rahner das Nicht dem Sein als einander wechselseitig bedingend entgegenstellt, dieselbe Konsequenz zur Folge hat, nämlich den Ausgangspunkt der Kehre nicht interpretieren zu können. e) Die vorausgesetzte Wahrheit des "Vorlaufens" bei Heidegger Es bleibt noch übrig, den Ertrag der Beschäftigung mit dem Antizipationsbegriff Heideggers im Hinblick auf die bisher rekonstruierte philosophische Tradition zu formulieren. Bezüglich der "Vorgängigkeit" von Heideggers Weltbegriff konnte eine Analogie zu Kant und zur Antike festgestellt werden, sofern in jedem Fall die Wahrheit der Antizipation als unstrittige unabhängig von Erfahrung vorausgesetzt ist. Demgegenüber scheint die von Heidegger beanspruchte zeitliche Explizierung des "Vorlaufens", seine Zukunftsbezogenheit und seine Bedeutung für eine Ontologie des Daseins nicht ohne weiteres jenem Sachverhalt zuordenbar zu sein; hinzu kommt die vorhin festgestellte Analogie zu Cohens antizipativer Bestimmung des Ursprungs des Denkprozesses. Es wurde freilich auch schon deutlich, daß an diesem Punkt ein wesentlicher Unterschied zwischen der Funktion des Antizipationsbegriffs bei Cohen und bei Heidegger besteht: nur bei letzterem soll ein konkreter Inhalt (der Tod) vorweggenommen werden als die Bedingung der Möglichkeit , die Ganzheit des Daseins zu antizipieren, während bei Cohen der Ganzheit, bzw. Allheit, des Denkprozesses als unbestimmter vorgegriffen werden soll 2 *^. Nun gründete die Ambivalenz der Cohenschen Antizipation in der damit verbundenen Eliminierung der Materie ("Empf i n d u n g " ) 2 ^ , weil dadurch die Wahrheit der methodischen Prinzipien gegenüber den konkreten Inhalten der Wissenschaften unbestreitbar wurde. Dies trifft in ganz ähnlicher Weise für das "Vorlaufen zum Tode" bei Heidegger zu: in ihrer "Unüberholbarkeit" wird die Antizipation des Todes durch keine Erfahrung im Lebensvollzug des Menschen fraglich oder gar strittig. Für die vorlaufende Vorwegnahme der Ganzheit des Daseins im Vorgriff auf den Tod gilt nicht, was W.Pannenberg zu Recht von der Antizipation der Daseinsganzheit fordert: daß ihr "von seiner (sc. des Daseins) künftigen Bestimmung her immer auch die Vorläufigkeit des bloßen Vorgriffs anhaftet" 2 0 9 und als "bloße Antizipation . . .
- 187 überholt werden kann und muß" 2 1 ". Das heißt nicht, daß der Vorgriff hier den Status der bloßen, willkürlichen Vermutung zuerteilt bekäme, was "in einen unendlichen Prozeß einander gleichgültig ablösender Antizipationen f ü h r t ( e ) " 2 1 1 ; es ist Heidegger darin zuzustimmen, daß durch ein "Vorlaufen", durch einen Vorgriff auf die Ganzheit des Daseins dieses als solches auch gegenwärtig wird - nun aber gerade so, daß das Ganze als antizipiertes Korrekturen gegenüber aufgeschlossen beibt, die im Falle der Nichtbewährung des Antizipierten im konkreten Lebens Vollzug nötig werden. Eben diese Korrigierbarkeit des Vorgriffs ist durch die Endgültigkeit des Vorlaufens zum Tode bei Heidegger ausgeschlossen, die "Wahrheit" des Todes als die Möglichkeit der Vorwegnahme des ganzen Daseins ist als unbestreitbare vorausgesetzt. Es wäre von hier aus zu fragen, wie dieser Voraussetzungscharakter des Antizipierten sich zu der von Heidegger beanspruchten Zeitlichkeit der Antizipation, dem Vorlaufen der äußersten Zukunft des Daseins, zum Tod verhält. Auf dieses Problem ist s p ä t e r 2 ! 2 zurückzukommen im Zusammenhang der wichtigen Kritik Sartres an Heideggers Gedanken des Vorlaufens, die von dessen apriorischer Struktur ausgeht. Da Sartres Kritik in genereller Weise die Unvereinbarkeit der Apriorität der Antizipation mit ihrer zeitlichen Struktur, mit ihrer Zukunftsbezogenheit näherhin am Beispiel der Heideggerschen Vorwegnahme des Todes aufweisen will, ist ihr systematischer Ort in dieser Arbeit im Zusammenhang einer rückblickenden Zusammenfassung und Ertragsformulierung der Beschäftigung mit dem Antizipationsbegriff festzumachen 2 ^. Hier gilt es, die Voraussetzung für das Verständnis jener Kritik zu schaffen, indem untersucht wird, ob tatsächlich auch die Vorwegnahme des Todes de facto unabhängig von Erfahrung sich vollzieht, so daß nicht nur die vorausgesetzte Wahrheit des philosophischen Gedankens der Antizipation, sondern auch seine Apriorität analog zu Cohen und jenem Aspekt der "logischen" Vorgegebenheit der Formen bei Kant auf Heideggers Antizipationsbegriff zuträfe. Dem scheint allerdings von vorneherein zuwiderzulaufen, daß Heideggers philosophischer Impetus, wie früher herausgestellt wurde 2 * 1 *, sich auf die Analyse des Mensch-seins richtet ; er begnügt sich gerade nicht damit, die Intentionalität als Akt des Bewußtseins zu begreifen, sondern er beansprucht, "dahinter" zurückzugehen und nach der Bedingung der Möglichkeit der Setzung zu fragen, nach dem "Sein des Da" in Heideggers Terminologie. Heidegger kommt am Ende von "Sein und Zeit" explizit auf das skizzierte Problem zu sprechen: "Wie nic ist erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich?"^ 13 Es würde hier zu weit führen, die besondere Akzentuierung der Problemstellung durch Heidegger zu diskutieren, die terminologisch darin zum Ausdruck kommt, daß nicht, wie üblich, das Verhältnis von Denken (Bewußtsein) und Sein thematisiert wird, sondern das von Dasein und Sein. Für uns ist allein wesentlich, daß der Bereich des Daseins auch nach Heidegger von dem des Seins zu trennen ist, nä-
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her hin so, daß letzteres durch die Zeitlichkeit, die wiederum im "Vorlaufen " gründet, allererst in den Blick kommen kann. Die mit dem Dasein in den Blick kommende "ontologische Differenz" gegenüber dem Sein wird bekanntlich "vor der 'Kehre' vom Dasein her int e r p r e t i e r t " ^ , denn "Sein und Zeit" fragt nach der Möglichkeit, Sein "daseinsmäßig" zu verstehen. Dies wird durch die letzten Zeilen dieses Werkes bestätigt: es wird hier ausschließlich von der gewonnenen Daseinsstruktur aus auf ein mögliches Seinsverständnis hin gefragt : "Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des S e i n s ? " 2 ^ Die Zeitlichkeit als Daseinsganzheit ist also ebenso wie das sie ermöglichende Vorlaufen ausschließlich auf der Seite des Daseins anzusiedeln. Es ist nun freilich problematisch, diesen Tatbestand mit dem Terminus "a priori" zu kennzeichnen, da Heideggers Denken gerade auch in "Sein und Zeit" von einem antiplatonischen Impetus getragen wird. Andererseits soll es ja gar nicht darum gehen, die Daseinsganzheit als solche als "apriorische" zu qualifizieren (wenngleich die früher geübte Kritik am "In-der-Welt-sein" in dieser Hinsicht weitreichende Folgen hat), sondern wir begnügen uns damit, das Vorlaufen zum Tod unter diesem Aspekt zu untersuchen. Hierzu muß noch einmal auf die Deduktion der fünf Charaktere des Todes zurückgegriffen werden: es ist deutlich geworden, daß jene aus dem Vorlaufen selbst erschlossen werden. Damit fällt die Argumentation zurück auf das Vorlaufen, dessen Struktur allein - und nicht sein Inhalt - Aufschluß über seine Apriorität geben kann. Das Vorlaufen wurde aber deshalb eingeführt, weil es den eigenen Tod verstehen kann, ohne ihn zu verwirklichen. Das Verstehen der Möglichkeit des eigenen Todes ist aber nicht aus irgendeiner anderweitigen Todeserfahrung abgezogen, wenn das Vorlaufen selbst der Grund dieses Verstehens sein soll. Wenn also weder die Erfahrung anderweitigen Todes noch die Erfahrung des eigenen Todes (d.i. seine Verwirklichung) dieses Verstehen begründet, dann handelt es sich um ein apriorisches (d.i. unabhängig von jedweder Erfahrung sich vollziehendes) Vorlaufen zum eignen Tod. Inwiefern damit nicht letztlich doch das Vorlaufen reduziert wird zu einem bloßen Denken an den Tod, steht auf einem anderen Blatt. Heidegger wehrt sich bekanntlich dagegen, denn ein "'Denken an den Tod' . . . bedenkt die Möglichkeit, wann und wie sie sich wohl verwirklichen möchte" und schwächt so den Möglichkeitscharakter des Todes ab "durch ein berechnendes Verfügenwollen über den Tod"218. Für unsere Themastellung dürfte indes folgendes deutlich geworden sein: Gemäß Heideggers Anspruch soll tatsächlich der Tod als ausgezeichnete Möglichkeit des Daseins vorweggenommen werden, der vom bloßen Gedanken daran zu unterscheiden ist. Faktisch kommt jedoch auch Heidegger nicht umhin, wenn anders das Vorlaufen als apriorisches zu begreifen ist, Gedanken mit ganz bestimmten Inhalten bezüglich des Todes zu formulieren.
- 189 Die weitreichende Konsequenz dieses Befundes soll, wie g e s a g t , im Zusammenhang der Kritik S a r t r e s an Heideggers "Vorlaufen zum Tode" dargestellt werden. Hier genügt e s , noch einmal auf den springenden Punkt hinzuweisen: die Zeitlichkeit des Vorlaufens gründete in der Zukünftigkeit seines Gegenstandes, dem Tod. Wenn sich nun h e r a u s s t e l l t , daß gar nicht der Tod "an sich", sondern n u r der Gedanke des eigenen Sterbenmüssens jenes "Worauf" des Vorlaufens bildet, so ist zu f r a g e n , ob und wie die behauptete zeitliche S t r u k t u r des Daseins im Gedanken an den Tod noch zum Zuge kommen k a n n . Das Problem wird d a d u r c h noch v e r s c h ä r f t , daß die Strittigkeit des Vorlaufens, wie auch schon deutlich w u r d e , nicht berücksichtigt, vielmehr dessen Wahrheit von vorneherein festgeschrieben wird. Die Beschäftigung mit Heideggers Philosophie soll d u r c h einen e x k u r s artigen Abschnitt über die berühmte "Kehre" abgerundet werden, da der Nachweis obiger Behauptung219 noch a u s s t e h t , wie auf dem Hintergrund der vorgetragenen Interpretation des Sachverhalts der "vorlaufenden Entschlossenheit" die Kehre als kontinuierlicher Fortschritt im Denken Heideggers i n t e r p r e t i e r t werden kann.
f ) Ausblick: Die "Kehre" als kontinuierlicher Fortschritt im Denken Heideggers Die Kehre ist rein formal die Um-Kehrung einer B e g r ü n d u n g s s t r u k t u r , was inhaltlich so präzisiert werden k a n n , daß nicht mehr das Dasein d u r c h Vorwegnahme des Todes sich selbst b e g r ü n d e t , sondern umgekehrt sich immer schon als b e g r ü n d e t e s v o r f i n d e t . Diese Kehre erhält n u r dann eine Kontinuität, ja Notwendigkeit in der Denkentwicklung Heideggers, wenn es gelingt aufzuweisen, daß sie d u r c h die in "Sein und Zeit" angelegte B e g r ü n d u n g des Daseins notwendig provoziert wird. Zu diesem Zweck muß noch einmal auf Heideggers Gewissensdeutung zur ü c k g e g r i f f e n werden. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß jene (wenngleich naheliegende) I n t e r p r e t a t i o n , die das Gewissen auf das Phänomen des Todes r e d u z i e r t , von vorneherein einen Bruch im Denken Heideggers konstatieren muß, da die Selbstbegründung des Daseins d u r c h den Tod nicht mehr die Möglichkeit offen läßt, über das Dasein hinaus zu gelangen, es zu t r a n s z e n d i e r e n . Dieser Deutung ist folgende Aussage Heideggers entgegenzuhalten: "Grundsein besagt . . . , des eigensten Sein von Grund auf nie mächtig sein"220. Es wurde schon auf den ambivalenten Charakter des durch diese Aussage angezeigten Sachverhaltes hingewiesen 2 21 : solange der Akzent so auf das Grundsein gelegt wird, daß damit die Absolutheit des Daseins noch einmal gesetzt wird (und so in der Tat der Tod als Wesen des Gewissens ausgegeben wird), gibt es freilich keine Möglichkeit, das Dasein zu t r a n s z e n d i e r e n . Es ist jedoch auch legitim, den Schwerpunkt dieser Aussage auf den Inhalt dieses Grundseins zu legen, nämlich d a r a u f , seiner selbst nie mächtig sein zu
- 190 können. Diese Ohnmacht des Daseins ist e s , die über den Tod und so über das Dasein hinausweist, hin zum Nicht des Daseins. Es ist sehr wichtig, zwischen dem Tod einerseits und dem Nicht des Daseins zu unterscheiden. Während nämlich ersterer so dem Dasein selbst zu eigen ist, daß es durch seine Vorwegnahme sein eigener Grund werden kann, ist im Nicht des Daseins gerade das andere des Daseins zu erblicken, gegenüber welchem kein aktives Verhalten im Sinne eines Vorlaufens mehr möglich ist. Genau hier setzt m.E. das Anliegen von Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?" 2 2 2 a n > w 0 e s nicht mehr um das Verhältnis von Tod und Dasein, sondern von Nicht und Dasein geht. Daß eben dies der Themenstellung der Vorlesung entspricht, darauf hat Heidegger selbst in nachdrücklicher Weise in seiner Einleitung zu deren 5. Auflage (1949) hingewiesen: Man möge "die vielfach bekämpfte Vorlesung 'Was ist Metaphysik?' einmal von ihrem Ende (zu) durchdenken, von ihrem Ende, nicht von einem e i n g e b i l d e t e n " 2 ^ . Und ihr Ende mündet eben in die Frage: "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" 2 2 ^. Diese soll nun aber gerade nicht im Sinne Leibniz' verstanden werden als Ausgangspunkt für seinen Gottesbeweis - dann wäre, "was sich wohl s c h i c k t e " 2 2 5 ? der Name "Leibniz" in der Tat genannt - , sondern gemeint i s t , daß das Nichts selbst "als ihr ( s c . der Vorlesung) einziges T h e m a " 2 2 6 s j c h als der Grund alles Seienden, vorzüglich des Daseins, erweist. Interessant ist es zu sehen, daß die Vorlesung als "Entfaltung eines metaphysischen F r a g e n s " 2 2 7 mit derselben Problemstellung anhebt wie Cohens "Logik der reinen Erkenntnis": in beiden Fällen geht es nämlich um den Aufweis der Einheit der offensichtlich in vielfältiger Hinsicht verzweigten Wissenschaften, um "die Verwurzelung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund" 2 2 8. Und dieser Wesensgrund soll nun, als Grund alles Seienden, das Nichts sein. Gegen den Satz des zu vermeidenden Widerspruchs, nach dem Nichts nicht "sein" kann, wird die Möglichkeit der Frage danach "ausgearbeitet" auf dem Boden der "Gegebenheit" des Nichts: "Wir kennen das Nichts" als "die vollständige Verneinung der Allheit des S e i e n d e n " 2 2 9 > Diese Verneinung begegnet uns in der A n g s t 2 3 0 . In ihr "liegt ein Zurückweichen vor . . . " 2 3 1 , das vorn Nichts ausgeht. Dieses ist nämlich "wesenhaft abweisend"; durch die Abweisung aber geschieht zugleich ein "entgleitenlassende(s) Verweisen auf das versinkende Seiende im Ganzen" 2 32 ) u n d dies ist "das Wesen des Nichts: die Nicht u n g " 2 3 3 . go kann das Nichts metaphorisch als "helle(n) Nacht" 2 ·^ bezeichnet werden: indem es das Seiende im Ganzen entgleiten läßt, v e r weist es gerade darauf, "offenbart es dieses Seiende in seiner vollen, bislang verborgenen Befremdlichkeit als das schlechthin Andere - gegenüber dem Nichts"235. So bringt das Nichts "das Da-sein allererst vor das Seiende als ein solches"236 - n u r durch das Nichts, durch die "Hineingehaltenheit in das Nichts" 2 ^ 7 kann sich das Dasein zu Seiendem verhalten, weil es dadurch "je schon über das Seiende im Ganzen hinaus (ist
)"238_
- 191 Fassen wir zusammen: Das Nichts soll eine solche Bestimmung des Daseins leisten, daß diesem dadurch allererst ermöglicht wird, sich zu Seiendem zu verhalten. Das Spezifikum des Menschen also, nicht nur Seiendes neben anderen Seienden zu sein, sondern auch von diesen anderen Seienden zu wissen: dies wird durch das Nichts gewährleistet! Und wenn sich das Dasein nicht zu anderen Seienden verhalten kann, dann kann es auch kein Verhältnis zu sich selbst bekommen, so daß ihm seine Grundbestimrnung im Sinne Heideggers, die der Existenz nämlich, abgesprochen werden müßte. Das Nichts ist also zugleich der letzte Grund der Existenz des Daseins! Dieser Interpretation sind abschließend zwei Hinweise hinzuzufügen: Zum ersten dürfte deutlich geworden sein, daß der Sachverhalt der Antizipation - im Gegensatz zu "Sein und Zeit" - hier keine Rolle mehr spielt. Dies hängt, wie schon angedeutet, damit zusammen, daß die Selbstbegründung des Daseins, sofern der Tod in dynamisch-aktiver Weise vom Dasein vorweggenommen wird, aufgegeben worden ist. Die "Begegnung" mit dem Nichts vollzieht sich in der Grundstimmung der Angst: sie ist "kein Erfassen des Nichts" 2 ·^, sondern "gebannte Ruh e " 2 ^ . So wird alles "Handeln" dem Nichts überlassen, während dem Dasein nurmehr Passivität eignet 2 4 *, nun freilich so, daß das Nichts nie losgelöst vom Dasein behandelt werden kann. Das heißt aber, daß das Thema der Antizipation hier belanglos geworden ist und, soweit wir sehen, außerhalb von "Sein und Zeit" im Denken Heideggers in der Tat keine Rolle mehr spielt. Von daher ist es für unsere Zwecke legitim, es mit diesen skizzenhaften, die Kehre betreffenden Äußerungen bewenden zu lassen. Der zweite Hinweis ist kritischer Art und richtet sich gegen die These, daß Heidegger im Übergang zum Nichts "über" Gott als das höchste Seiende hinausgeht und so die klassische Metaphysik mit ihren eigenen Mitteln auflöst. Diese von W . S c h u l t z 2 ^ vertretene These kann sich auf folgende Aussage am Ende jener Vorlesung berufen: "Wenn aber Gott Gott ist, kann er das Nichts nicht kennen, wenn anders das 'Absolute' alle Nichtigkeit von sich ausschließt" 24 ^. Dieser These ist eine andere entgegenzuhalten, die freilich einer ausführlichen Begründung bedürfte und auf das Verhältnis des Gekreuzigten zu Gott anspielt : Nicht aus-, sondern ein geschlossen wird durch das Kreuz "alle Nichtigkeit" in Gott, wenn anders der Gekreuzigte Gott selbst ist ! 2 4 4
Exkurs I : "Protention" und "Erwartung" in Husserls "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" Da die Verwendung des Begriffs Antizipation im Sinne von "Protention" bzw. "Erwartung" bei Husserl nicht über die bis jetzt herausgearbeitete Struktur hinausgeht und somit keinen unmittelbaren Beitrag zur weiteren
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Entfaltung der diesem Begriff innewohnenden Systematizität liefert, mag eine e x k u r s a r t i g e Darstellung der entsprechenden Argumentation Husserls genügen. Andererseits kann von hier aus Heideggers Interpretation des "Vorgriffs" noch nachdrücklicher einsichtig werden, sofern sein Lehrer, dessen Denken den Schüler zweifelsohne geprägt h a t , gerade in unspezifischer Weise von jenem Gedanken Gebrauch macht. So dient dieser Exkurs nicht zuletzt dazu, in negativer Hinsicht die bisher v e r t r e t e n e These zu s i c h e r n , daß Cohen es war, dessen temporale Verwendung des Begriffs Antizipation Heideggers "Vorlaufen zum Tode" nachhaltig beeinflußt h a t .
a) Der Kontext von Antizipation bei Husserl Der f r ü h e Hussetl entfaltet den Gedanken der Antizipation im Zusammenhang seiner Analyse der Zeit*, deren wichtigste Ergebnisse zunächst zu vergegenwärtigen sind, da auf sie der (hier entscheidende) Begriff "Protention" a u f b a u t . Seine klare Anwendung und Bestimmung findet der Begriff "Protention"^ in dem von M.Heidegger3 herausgegebenen Manuskript einer v i e r s t ü n d i gen Vorlesung Husserls, gehalten 1904/1905 zum Thema: "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins"; sie wird ergänzt d u r c h "Nachträge(n) zur Vorlesung" und d u r c h "Neue(n) . . Studien bis zum J a h r e 1910"^. Wie der Titel der Vorlesung schon s a g t , geht es um das innere Zeitbewußtsein, dem anscheinend ein äußeres korrespondiert. Näher will Husserl "das rein subjektive Zeitbewußtsein''^ analysieren u n t e r "Ausschaltung der objektiven Zeit"®. Diese "objektive Zeit" als Gegensatz zum subjektiven Zeitbewußtsein darf n u n nicht verwechselt werden mit jener "objektiven Zeit", die das subjektive Zeitbewußtsein allererst konstituiert. Diese wesentliche Distinktion, die also eine Äquivokation des Terminus "objektive Zeit" bei Husserl geltend macht, wird von ihm selbst in subtiler Weise angedeut e t , wenn er zwischen der Zeit, "die in einem Zeitbewußtsein als objektive gesetzt ist" und der "wirklichen objektiven Zeit" 7 unterscheidet. Eindeutig wird also das Zeitbewußtsein als Relation zu einer objektiven Zeit angegeben, die gerade nicht ausgeschaltet werden d a r f . Jene "andere" objektive Zeit wird näher als "Weltzeit", als "reale Zeit", als "Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft" 8 c h a r a k t e r i s i e r t . Diese Gegenüberstellung von e i n e r , wie wir noch sehen werden, "immanenten objektiven" Zeit und einer auszuschaltenden objektiven Zeit wird erst auf dem Hinterg r u n d der "phänomenologischen Reduktion" verständlich. Bekanntlich u n terscheidet man deren drei (bzw. vier) Wege, die alle cum grano salis zu demselben Ergebnis f ü h r e n , daß die Welt als bloßes "Phänomen" zu betrachten i s t , über deren Ansichsein ( d . i . ein solches Sein, das unabhängig vom Betrachter i s t ) nichts ausgemacht werden kann und braucht®.
- 193 Wenn also im folgenden der Begriff "objektive Zeit" verwendet wird, so ist d a r u n t e r ausschließlich jene "immanente" Zeit zu v e r s t e h e n , i n n e r halb d e r e r das jeweilige Zeitobjekt n u r als "hyletisches Datum "10 i n t e r e s s i e r t , das heißt, es geht ausschließlich um dessen ErscheinungsweltH, nicht aber um so etwas wie dessen " A n - s i c h - s e i n " l 2 . Weiter ist es f ü r Husserl " e v i d e n t " ^ , "daß Wahrnehmung der Dauer selbst Dauer der Wahrnehmung voraussetzt"14; dem entspricht die Doppelheit von "Zeitobjekten . . . , die nicht n u r Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten" 1 ^, insofern nämlich "das d a u e r n de, immanente Objekt und das Objekt im Wie, das als aktuell gegenwärtig oder als vergangen bewußte"16 voneinander zu unterscheiden s i n d . So bezieht sich das Bewußtsein in jener doppelten Weise auf das Zeitobjekt, je nachdem, ob es die Dauer des Tones beispielsweise oder aber den Ton als vergangenen (zu erwartenden e t c . ) wahrnimmt: eben diese doppelte Beziehung des Bewußtseins definiert Husserl als "doppelte Intentionalit ä t " 1 7 , als "Längs-" bzw. "Querintentionalität". Letztere bestimmt "die immanente Zeit, eine objektive Zeit, . . . in der es Dauer und Veränder u n g von Dauerndem gibt"18 - m.a.W. hier "steht der dauernde Ton da"19 während e r s t e r e "die quasi-zeitliche Einordnung der Phasen des Flusses . . . " vornimmt*® 3 - hier geht es um das "Vor" und um das "Danach" des dauernden Tones. Diese Unterscheidung darf nun nicht mit jener a n d e r e n , folgenreichen vermengt werden, nach der zwischen Bewußtsein und Wahrnehmung zu unterscheiden ist. Von Wahrnehmung soll immer schon dann die Rede sein, wenn ihr "Objekt" sich noch "im Ablaufmodus" b e f i n d e t , Husserl spricht z . B . von "der in das aktuelle Jetzt hineinreichenden Ton-Dauer" 2 **. Dieser Wahrnehmung, die sich also auf einen noch nicht abgeschlossenen Vorgang bezieht, steht das "'Bewußtsein'" oder "'Erlebnis'" 2 ! gegenü b e r : es "bezieht sich auf sein Objekt vermittelst einer Erscheinung, in der eben das Objekt im Wie' d a s t e h t " 2 2 . Die Fähigkeit der "Längsintentionalität" ermöglicht demnach deshalb die bewußte Erkenntnis der Querintentionalität, weil d u r c h e r s t e r e allererst ein Zeitobjekt als abgeschlossene Dauer begriffen werden k a n n . Wir wollen uns im folgenden der Analyse des Bewußtseins der Querintentionalität näher zuwenden, da in ihrem Zusammenhang nicht n u r der Begriff "Protention" zur Sprache kommt, sondern auch der f ü r den Sachverhalt der Antizipation fundamentale Gedanke der Ganzheit als Abgeschlossenheit - hier freilich v e r b u n d e n mit dem Begriff "Reproduktion" - entwickelt wird.
b ) Zur Analyse des "Ablaufmodus" eines Zeitobjektes Zeitobjekte - "im speziellen Sinn" 2 ^ - sind dadurch zu c h a r a k t e r i s i e r e n , daß sie "nicht n u r Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich e n t h a l t e n " 2 4 . Die oben dargestellte Unterscheidung zwischen Längs- und Querintentionalität ist also in der Weise auf das je zu analy-
- 194 sierende Objekt anzuwenden, daß letztere in besonderem Maße das "Zeitobjekt" auszeichnet. Wie ist aber die Zeitextension selbst in bezug auf ein Zeitobjekt zu begreifen? Wir sahen schon, daß sie erst als abgelaufene "bewußt" wird - im jeweiligen Akt kann sie bloß "wahrgenommen" werden. Die bewußte Beziehung auf das Zeitobjekt vollzieht sich nun "in Retent i o n e n " ^ , die sich an die "Urimpression", den "'Quellenpunkt', mit dem die 'Erzeugung' des dauernden Objektes e i n s e t z t " ^ , anschließen. Die Wahrnehmung selbst ist nichts anderes als jene " A l s - J e t z t - S e t z u n g " 2 7 , während einerseits ein "Wahrnehmungsbewußtsein" oder "impressionales Bewußtsein"28 im Moment des jeweiligen "'Jetzt'" "die f r ü h e r e n Jetztp u n k t e " e r f a ß t , andererseits das "Bewußtsein von dem nun vergangenen Objekt"29 auf die Summe der Wahrnehmungen zurückblickt. Diese beiden Modi des "Bewußtsein(s) von Zeitlichkeit"30 unterscheiden sich also n u r hinsichtlich i h r e r Stellung innerhalb bzw. außerhalb des Wahrnehmungsablaufs. Wesentlicher ist die eigentümliche Rolle der Retentionen f ü r das Bewußtsein der Zeitlichkeit: Im Gegensatz zur "Reproduktion" (sekundär e n E r i n n e r u n g ) bilden sie als primäre Erinnerung "einen Kometenschweif, der sich an die jeweilige Wahrnehmung anschließt"^ 1 . Rentention entsteht notwendig im Anschluß an das Jetzt der jeweiligen Impression (der jeweiligen Töne einer Melodie beispielsweise) als "Retention von gewesenem Ton"32 : S o erhält jeder Ton einer Melodie seine Retention. Diese lineare Bewegung wird n u n überlagert d u r c h die Fortwirkung der Retention des "vorher" wahrgenommenen Tones, die in jedem neuen Jetzt zu einer Retention von der vorherigen Retention modifiziert wird. Da f r e i lich jede neue Retention einer f r ü h e r e n sich " a b s c h a t t e t " ^ , entsteht kein unendlicher R e g r e ß , sondern "mit der Modifikation geht eine Schwächung Hand in Hand, die schließlich in Unmerklichkeit endet"34. Der Vollständigkeit halber sei noch h i n z u g e f ü g t , daß selbstverständlich jede neue Retention nicht n u r stetig die vorhergehende Retention "modifiziert", sondern auch alle " f r ü h e r e n stetigen Modifikationen desselben Einsatzpunktes" 35. Retention und Impression sind also - dies wird schon d u r c h das Bild vom "Kometenschweif" deutlich - im Modus der kontinuierlichen "Abschattung" aufeinander bezogen. Hier wird der Unterschied der Retention zur schon erwähnten Reproduktion (Wiedererinnerung) - die erst a u f t a u c h t , "nachdem die primäre Erinnerung dahin ist"36 - vielleicht am deutlichsten: obwohl nämlich ihr Ablauf "gleich mit der Wahrnehmung und primären Eri n n e r u n g (ist) . . . , ist es (sc. die Reproduktion) nicht selbst Wahrnehmung und primäre E r i n n e r u n g " ^ 7 . Denn die Reproduktion hat nicht wirklich die Melodie gehört, der Unterschied von Impression und Reproduktion "ist ein diskreter"38. So ist das Vergegenwärtigen "etwas Freies . . . , wir können die Vergegenwärtigung 'schneller' oder 'langsamer', . . . blitzschnell in einem Zuge oder in artikulierten Schritten usw. vollziehen"39. Der Reproduktion fehlt also das Moment der absoluten Gewißheit, das der
- 195 Wahrnehmung, wenngleich in stetig abschattender, i . e . "unklarerer" Weise4®, eignet. In zweifacher Hinsicht ist diese Differenzierung zwischen Retention und Reproduktion interessant : Zum einen wird nämlich von ihr aus der äquivoke Gebrauch des Terminus "Protention" bei Husserl deutlich, zum anderen soll insbesondere der Gedanke der Reproduktion so etwas wie Einheit und Ganzheit des "Bewußtseinsflusses" gewährleisten, so daß sich von hier aus ein unmittelbarer Anknüpfungspunkt an Heideggers Gedanken über die Ganzheit des Daseins ergibt.
c ) Der Begriff "Protention" in seinem Verhältnis zu primärer und sekundärer Erinnerung Zwei durchaus verschiedene Bedeutungen des Begriffs Protention hebt Husserls voneinander ab, unterschieden nach ihrem jeweiligen Kontext der primären Erinnerung bzw. der sekundären Erinnerung. Gemeinsam ist beiden das Faktum der Zukunftsintention als Protention: den jeweiligen Modus derselben gilt es zu differenzieren. Die primäre Erinnerung "ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen, zur Erfüllung bringen" 4 *. Diese "unbestimmte ursprüngliche Protention" 4 2 wird erst durch weitere Wahrnehmung bestimmt: "Bestimmt ist nur, daß überhaupt etwas kommen w i r d " ! } , g i g i { damit "von vornherein charakterisiert als Offenheit" 4 4 . 4
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Demgegenüber werden in der Reproduktion diese Protentionen nicht nur erneuert : "Sie waren nicht nur auffangend da, sie haben auch aufgefangen, sie haben sich erfüllt" 4 ^. So eignet der Wiedererinnerung "eine vorgerichtete Erwartung, die all das (sc. was die Protention in der primären Erinnerung offen läßt) nicht offen läßt" 4 ®. Damit sind die Zukunftsintentionen der Reproduktion "völlig bestimmte, insofern als die Erfüllung dieser Intentionen . . . in bestimmter Richtung läuft und inhaltlich völlig bestimmt ist" 4 ?. Diese Darstellung mag als hinreichender und eindeutiger Beleg dafür genügen, daß Husserl in äquivoker Weise den Begriff der Protention faßt 4 ^, wenngleich er freilich eine Definition für die "erfüllten Protentionen in der Reproduktion" einführt: wie wir sahen, kennzeichnet er sie als "vorgerichtete Erwartung" 4 ^, bzw. nur als " E r w a r t u n g " ^ . Anders gewendet könnte man versuchen, die beiden Modi der Protention - genauer der "ursprünglichen Protention." und der "vorgerichteten Erwartung" - hinsichtlich der Möglichkeit von Erfüllung und Nicht-Erfüllung (Enttäuschung) voneinander zu unterscheiden. Leuchtet unmittelbar ein, daß die Erwartung im Sinne Husserls ebensowenig wie die Retention "enttäuscht" werden kann, so ist scheinbar bei der "ursprünglichen Protention" der Sachverhalt nicht eindeutig. Denn wenn sie nur das Daß des
- 196 Kommenden antizipiert, so scheint ihr einesteils ebensowenig der Modus der "Enttäuschung" zugeordnet werden zu können, und in der "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" äußert sich Husserl auch nicht in gegenteiliger Weise. Andernteils hat G.Shin darauf hingewiesen, daß Husserl andernorts davon ausgeht, daß diese ursprüngliche Protention durchaus enttäuscht werden kann, insofern sie sich "nicht immer so (erf ü l l t ) , wie es sich nach dem Stil des Bekannten erwarten läßt" 5 1 . Von hier aus könnte man dann Erwartung und Protention tatsächlich so voneinander unterscheiden, daß erstere nur erfüllt, letztere erfüllt und enttäuscht werden kann 5 2 . Diese Unterscheidung erscheint jedoch sowohl im Hinblick auf das von Shin herangezogene Beispiel als auch bezüglich der entsprechenden Äußerungen Husserls in "Erfahrung und Urteil" als unzutreffend. Denn weder in diesem W e r k 5 ^ noch in jenem Beispiel geht es um die Enttäuschbarkeit der ursprünglichen Protention: es geht um "Vorzeichnung", um einen "Vorverweis", der tatsächlich enttäuscht werden kann, aber eben nicht um jenen spezifischen Sinn von "Protention", wie er in der "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" dargestellt worden ist 5- *. -
d ) Husserls "Protention" im Kontext der Arbeit Wie ist die vorangegangene Darstellung des Begriffs "Protention" bzw. "Erwartung" in Husserls "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" im Kontext des bisherigen Verlaufs unserer Arbeit zu beurteilen? Zunächst erinnert die Charakterisierung der Protention innerhalb der primären Erinnerung an Cohens Rede von der Offenheit der Zukunft, die nur durch das Daß ihres Kommens, sonst aber in keiner Hinsicht bestimmt ist 5 5 . Angesichts dieses Sachverhalts erscheint es besonders mißlich, eben diese Bedeutung von Protention als ein "Im-Vorgriff-halten des Sogleich-Kommenden zu qualifizieren. Denn die Bedeutung des Terms " V o r g r i f f " ist durch "Sein und Zeit" in solchem Maße geprägt, daß es der Rede von einem "hölzernen Eisen" nahekommt, wenn man gerade jene Protention, die G.Shin andernorts selbst in unserem Sinne als Entwurf von "Künftigkeit überhaupt" 57 charakterisiert, als " V o r g r i f f " zu fassen sucht. Husserl selbst hat im übrigen - zumindest in der "Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" - auf die Verwendung dieses Begriffs v e r zichtet 5 8 . Der Sache nach ist freilich eine gewisse Nähe der "Protention" - nun genauer im Sinne von "vorgerichteter Erwartung" - zu Heideggers "Vorg r i f f " kaum zu übersehen. Wir sahen, daß die Protention als Erwartung eine bestimmte ist, die gerade nicht durch vage Offenheit gekennzeichnet ist. Insofern kann durchaus eine funktionale Analogie zu Heideggers Vorgriff aufgezeigt werden: beide Begriffe dienen nämlich dazu, etwas "Zukünftiges" zu bestimmen. Bei näherem Hinsehen ergibt sich freilich,
- 197 daß dieser vagen Übereinstimmung eine weitaus größere Differenz im Detail gegenübersteht. Zum einen unterscheidet sich die Struktur beider Begriffe: indem Heidegger den "Vorgriff" als "Vorlaufen zum Tode" faßt, konkretisiert er diesen, indem er ihn auf ein ganz bestimmtes Objekt bezieht. Demgegenüber stellt die "Erwartung" bei Husserl einen formalen Begriff dar, der mit verschiedensten "Inhalten" gefüllt werden kann. Sodann - und dies erscheint als die gravierendste inhaltliche Differenz zielt Heideggers Vorgriff (dem Anspruch nach) auf ein noch ausstehendes Ereignis, das bereits die Gegenwart bestimmt, während die "Erwartung" ja nur auf dem Boden der Reproduktion ein sinnvoller Begriff ist. Das heißt, die Erwartung bestimmt das zu Erwartende nur dadurch, daß es sich seiner Vergangenheit, innerhalb deren es habhaft war, erinnert. So bestimmt letztlich das zu Erwartende selbst die Erwartung aufgrund der immer schon statt gefundenen, vergangenen Gegenwart des WiederErwarteten. M.a.W.: Nicht das Zukünftige, sondern das Vergangene bestimmt die Erwartung durch seine eigene Re-Produktion. Es wird deutlich, welch grundlegender Unterschied zwischen Heideggers "Vorgriff" und Husserls "Erwartung" besteht: letztere leistet eine Bestimmung der Zukunft nur um den Preis der Wiederholung von Vergangenem, während im ersten Fall zumindest dem Programm nach versucht wird, durch Vorwegnahme von Zukünftigem das ganze Dasein, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bestimmen. Nicht nur hinsichtlich des Gegenstands der Antizipation, der bei Husserl sehr formal bleibt, bei Heidegger hingegen konkret genannt wird, unterscheiden sich also diese Argumentationen, sondern auch bezüglich des Modus der Beziehung auf den jeweils zu bestimmenden Gegenstand, insofern in einem Falle dies als Vorwegnahme, im anderen als Wiedererinnerung zu fassen ist. So kann man zusammenfassen: Die "ursprüngliche Protention" hat zwar mit der Struktur des "Vorgriffs" die Beziehung auf Zukunft gemeinsam, doch fehlt ihr gerade der konstitutive Gedanke der Bestimmung des Zukünftigen. Der Wiedererinnerung hingegen eignet in der Tat diese B e stimmung, sie kann aber in keiner Weise als "Vorwegnähme" charakterisiert werden. e ) Ausblick: Antizipation beim späten Husserl Werfen wir abschließend noch einen Blick auf das Denken des späten Husserls^^, wie es sich in "Erfahrung und Urteil" niedergeschlagen hat. Wie schon erwähnt, fehlt hier der Terminus "Protention"; es geht freilich auch nicht mehr um eine Analyse des Zeitbewußtseins, sondern um eine "phänomenologische Ursprungserklärung des Urteils" und weiter um
- 198 eine "phänomenologische(η) Genealogie der Logik überhaupt"®^. Ohne den Gang der Argumentation im einzelnen nachzeichnen zu können, sei darauf hingewiesen, daß es Husserl auf die Genesis des evidenten Urteils ankommt. Mittels eines "Rückgang(s) von der Urteilsevidenz auf gegenständliche Evidenz"®* gelangt er zu den "'letzten' Urteile(n)"62 der Form "'S ist p'"63, die keine "Niederschläge f r ü h e r e n Urteilens mit kategorialen Formen an sich t r a g e n " ^ . Diese ersten ( u r s p r ü n g l i c h s t e n ) Urteile sind aber E r f a h r u n g s u r t e i l e , denn die E r f a h r u n g ist c h a r a k t e r i siert als "Evidenz von individuellen Gegenständen" und in derselben Weise werden die letzten Urteile definiert: "Ursprüngliche Substrate sind . . . individuelle Gegenstände"*^. E r f a h r u n g selbst ist aber konstituiert d u r c h ihren "Erfahrungshorizont "66, genauer d u r c h einen "Innenhorizont" und "einen offen endlosen Außenhorizont von Mitobjekten"® 7 . Dieser Außenhorizont wird ebenso "antizipiert", wie "vorher" bereits die "Bestimmungen, die als sich herausstellende an diesem e r f a h r e n e n Gefiß genstande jetzt erwartet w e r d e n " 0 0 . Für unser Thema ist nun wesentlich, wie diese Antizipation bestimmt wird: auf den ersten Blick scheint es ja so, als eigne ihr sowohl die Dimension der Zukunft als vorweggenommener als auch das Moment der Bestimmung. Dennoch fehlt auch diesem Begriff jenes Spezifikum, das Heideggers "Vorg r i f f " ausgezeichnet h a t t e . Die Antizipation des Außenhorizontes wird mehrfach als "nicht besondert und bestimmt"®^ bezeichnet, wenngleich die "Willkür doch nicht schrankenlos ( i s t ) " " ' : Husserl spricht vom "Spielraum der Möglichkeiten", vom "'Umfang' der unbestimmten Allgemeinheit der Antizipation" 7 1 , vom "Leerhorizont einer bekannten Unbekanntheit Das Antizipierte kann also n u r als äußerst vager "Rahmen" angegeben werden, innerhalb dessen "Erfüllung" und "Enttäuschung" s t a t t h a t ; die Konkretheit der Vorwegnahme (des Todes) findet sich auch beim späten Husserl nicht. Das vorläufige negative Ergebnis dieses Exkurses besteht d a r i n , daß die f r ü h e r geäußerte Vermutung sich b e s t ä t i g t , wonach nicht Husserl, sond e r n Cohen als geistiger Vater des "Vorgriffs" von "Sein und Zeit" anzusehen i s t . Im übrigen bestätigte sich die zu Beginn dieses Exkurses geäußerte Vermutung, daß Husserls Begriff der Antizipation ("Protention") zwar in den bisher e r ö r t e r t e n systematischen Rahmen einfügbar i s t , aber diesen nicht übersteigt. Denn das f ü r den theologischen Gebrauch des Antizipationsbegriffs wesentliche Moment der Strittigkeit kommt bei Husserl n u r innerhalb des Bereiches ("Horizontes") der Antizipation zum T r a g e n , kann aber auf sie s e l b s t , wie wir sahen, keine Anwendung finden: ihre Wahrheit ist als unenttäuschbare vorausgesetzt.
- 199 Exkurs II: Glaube als "vorlaufende Entschlossenheit" bei R.Bultmann Bestand die Funktion des voranstehenden Exkurses darin, den von Heidegger vorgefundenen geistesgeschichtlichen Kontext durch die Darstellung von Husserls Antizipationsbegriff auf dem weiteren Hintergrund des bisher Ausgeführten zu erhellen, so geht es im folgenden Exkurs um die Wirkungsgeschichte von "Sein und Zeit", bzw. von dessen zentraler Argumentation des "Vorlaufens zum Tode". In exemplarischer Weise soll die Abhängigkeit der Theologie R.Bultmanns von "Sein und Zeit" unter dem Aspekt der "vorlaufenden Entschlossenheit" untersucht werden, die Bultmann für die Analyse des (seiner Meinung nach) genuin reformatorischen Glaubensbegriffs fruchtbar machen will. Dadurch soll zugleich der früher in Teil A interpretierte Sachverhalt der Antizipation bei Bultmann und seine theologische Kontextualität in philosophischer Hinsicht vertieft werden.
1. Die Funktion von "Sein und Zeit" in der Theologie R.Bultmanns a) Philosophie und Theologie R.Bultmann gibt in einem für die Beurteilung des Verhältnisses seiner eigenen Theologie zur Philosophie Heideggers grundlegenden Aufsatz von 1930 zu, daß er in seinen bisherigen Veröffentlichungen "einseitig an derjenigen Aufgabe interessiert war, die den Zusammenhang der theologischen Arbeit mit der existentialen Analyse zum Gegenstand h a t " 1 . Doch dies war kein Fehler, sondern ist im Gegenteil die genuine Aufgabe der Theologie: "eben das muß die Theologie tun, wenn sie überhaupt die gläubige Existenz begrifflich klären will, d . h . aber wenn sie Wissenschaft und nicht bloß Predigt sein will"2. Freilich darf die Philosophie keineswegs zum Begründungszusammenhang der Theologie werden "Die Theologie kann nur im gläubigen Dasein selbst ihren Grund haben. "3 - : aber sofern das "gläubige Dasein" eben auch Dasein ist, bedarf die Theologie des Instrumentariums der Philosophie. Dies ist die entscheidende, von K.Barth so energisch bekämpfte Voraussetzung der Theologie Bultmanns: Philosophie und Theologie konvergieren in ihrem Gegenstand. "Der Gegenstand der existentialen Daseinsanalyse aber ist das Dasein, der Mensch; und eben das Dasein, der Mensch, ist auch der Gegenstand der Theologie" 4 . Diese Aussage bringt ihren Hintergrund ins Blickfeld, auf dem sie allein verständlich wird. Man könnte ja zunächst in je exklusiver Weise sagen: "Die Philosophie hat das ungläubige, die Theologie das gläubige Dasein zum Thema, sodaß die Aussagen der Philosophie zwar richtig sind, aber auf einen andern Gegenstand gehen"5. Diese Trennung ist deshalb nicht
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möglich, weil "das gläubige und ungläubige Dasein nicht einfach wie zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, nebeneinander stehen"®. Und diese Kontinuität zwischen ungläubigem und gläubigem Dasein ist nicht ein unnötiges Zugeständnis einer philosophischen Moden folgenden Theologie, sondern sie wird vom Glauben selbst gefordert und damit legitimiert. Nichts anderes will nämlich das "simul iustus et peccator" ausdrücken, als "daß es das ungläubige Dasein i s t , welches zum Glauben kommt, daß der Glaube nicht die menschliche Natur verändert, daß der Gerechtfertigte nicht neue aufweisbare Qualitäten hat, sondern daß der Sünder der Gerechtfertigte ist"^. Theologie als die Wissenschaft vom "gläubigen Dasein" ist also geradezu auf die Arbeit der Philosophie angewiesen: zum einen fordert es ihr spezifischer "Gegenstand", der Glaube des die Theologie begründenden gläubigen Daseins, zum andern hängt von dieser Bezugnahme die intellektuelle Redlichkeit, d . i . Wissenschaftlichkeit der Theologie ab. Dies zweite ist die Forderung an die theologische Methode, wenn anders die Theologie nur dann ihre Aufgabe erfüllen kann, "wenn sie nach den B e griffen f r a g t , die das Sein des Daseins möglichst sachgemäß und 'neutral' zum Ausdruck bringen"®. Damit ist nun auch die wesentliche Grenze jeder Philosophie ausgesprochen, die allein ihre Nutzbarmachung für die Theologie ermöglicht: die Philosophie verhält sich gegenüber ihrem Gegenstand "neutral", oder, für die Theologie Bultmanns konkretisiert : die Existenzialphilosophie Heideggers thematisiert eine "rein formal-ontologische"^ Ebene, "ihr Thema ist eigentlich nicht die Existenz, sondern die Existentialität, nicht das Faktische, sondern die Faktizität; sie untersucht die Existenz hinsichtlich der Existentialität, aber sie redet nicht in die konkrete Existenz"10. Im folgenden soll zunächst die positive Leistung von Heideggers Philosophie als neutraler Daseinsanalyse im Sinne Bultmanns verdeutlicht werden, um davon die "Theologie des gläubigen Daseins" umso schärfer absetzen zu können. b ) Grundzüge der Heideggerinterpretation Bultmanns Das Entscheidende über die Funktion der Existenzialphilosophie für die Theologie wurde bereits gesagt: sie thematisiert ausschließlich die formalen Bedingungen des Menschseins - sie beschränkt sich darauf zu zeigen, daß es das Wesen des Daseins i s t , "je seine eigene Möglichkeit" zu wählen 1 2 . Dies kann an einem von Bultmann selbst herangezogenen Beispiel illustriert werden: "Ob in einem konkreten Fall ein Liebesantrag angenommen oder abgewiesen wird" - darüber kann die Philosophie nichts befinden. "Nichtsdestoweniger wird die philosophische Daseinsanalyse die Bedingungen der Möglichkeit dafür aufweisen müssen, daß im Dasein
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so etwas wie ein Liebesantrag und seine Annahme oder Abweisung v o r kommen kann"!·*. Ebensowenig kann die Philosophie über Glaube bzw. Unglaube aussagen: "Da Glaube und Unglaube die Antworten sind auf eine konkrete und kontingente Verkündigung . . . , so wäre eine a u s drückliche Reflexion auf Glaube und Unglaube f ü r die Philosophie ebenso absurd"14. Das tertium comparationis dieses Vergleichs ist offensichtlich darin zu erblicken, daß "in einem konkreten Fall" der Glaube bzw. Unglaube von der Philosophie nicht festgestellt werden k a n n , gleichwohl aber kann sie "Bedingungen der Möglichkeit" aufzeigen, daß g r u n d s ä t z lich Glaube bzw. Unglaube im Dasein "vorkommen k a n n " . Glaube bzw. Unglaube kann also nach diesem Vergleich n u r in ontologischer nicht aber in ontischer Hinsicht thematisiert werden: "Glaube ist von v o r n herein eine ontologische Möglichkeit des Daseins, um die dieses dunkel ] ) e r philosophie soll demnach keineswegs "abgesprochen werden, w e i ß " 1 5 daß sie Glaube und Unglaube als konkrete und dennoch universale, jedes mögliche Dasein angehende Möglichkeiten der Existenz . . . ontologisch aus dem Sein des Daseins ableiten könne"16. Bultmann drückt sich an diesem Punkt d u r c h a u s klar und eindeutig a u s , und zwar nicht n u r im Zusammenhang des vorliegenden Aufsatzes, sondern auch a n d e r n o r t s : "Die Philosophie kann . . . ihn (sc. den Glauben) nicht a n d e r s v e r s t e h e n , denn als . . . ein innerhalb des Daseins sich ereignendes Geschehen, f ü r das sie die Bedingungen seiner Möglichkeit im Dasein aufweisen k a n n " ! ^ . In analoger Weise argumentiert Bultmann in dem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Aufsatz: "Neues Testament und Mythologie"18, Es geht hier um die Frage, ob der Glaube eine "natürliche Haltung des Menschen" seil9. Dabei wird von Bultmann keineswegs in Abrede gestellt, daß die Philosophie zeigen k a n n , "was eine (sc. des Menschen) 'Natur' eigentlich ist"20. Das heißt doch, daß auf der ontologischen Ebene von der Philosophie in adäquater Weise formuliert werden k a n n , was Eigentlichkeit als Glaube und Uneigentlichkeit al¡3 Unglaube des Daseins bedeuten. "Ich meine, man sollte lieber d a r ü b e r e r s c h r e c k e n , daß die Philosophie von sich aus schon sieht, was das Neue Testament s a g t " ^ . Bevor wir auf die Besonderheit des christlichen Glaubens einzugehen h a b e n , sofern dieser f ü r die Philosophie " ' ü b e r f l ü s s i g ' " i s t ^ , m u ß die ("formale") Leistung der (existenzial) philosophischen Daseinsanalyse präzisiert werden, um ihrer Grenzen und eben damit des Freiraums der Theologie ansichtig zu werden. Bultmann ist sich d a r ü b e r im k l a r e n , daß die von Heidegger in "Sein und Zeit" vorgetragene Daseinsanalyse b e a n s p r u c h t , "das Dasein als ganzes im Blick zu haben, und ihr Bild kann n u r als ganzes richtig oder unrichtig sein"^^. Die Theologie muß sie entweder ganz "übernehmen oder verwerfen bzw. ignorieren", nicht aber kann sie sie "im einzelnen korrigieren" oder gar " e r g ä n z e n " ^ . Die Theologie setzt sowohl die Verfallenheit des Daseins an das Man als auch den Aufweis von dessen Eigentlichkeit voraus. J a , wenn Bultmann "den E r t r a g der Analysen Heid e g g e r s " zum "Zweck" der theologischen A n k n ü p f u n g zusammenfaßt,
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so läßt er keinen Zweifel d a r a n , daß die entscheidende Argumentationsfigur in "Sein und Zeit", der Aufweis der ontologischen Möglichkeit der Eigentlichkeit im "Vorlaufen zum Tode" und ihre existenzielle Bezeugung in der "vorlaufenden Entschlossenheit", uneingeschränkt von der Theologie übernommen werden k a n n 2 5 . "Der Tod hat in der existentialen Analyse die Bedeutung, als Grenze des Daseins die Frage nach der Daseinsganzheit zü beantworten (Sein und Zeit, § 4 6 ) " 2 6 . Es ist der Tod, angesichts dessen ich mich "als in die Entscheidung gestellt weiß" 2 7 : so "gründet die Entschlossenheit . . . in der Zeitlichkeit des Daseins, als der Endlichkeit, als des Seins zum Tode"2**. Damit ist aber die Freiheit des Daseins a u f g e d e c k t , indem nämlich "sich das faktische Dasein, an seinem Tode zerschellend, auf sein Da zurückwerfen läßt und sich in die Situation und damit f ü r sich e n t s c h l i e ß t " 2 9 . Nach alledem kann nicht bezweifelt werden, daß Bultmann sich nicht s c h e u t , die "ganze" philosophische Daseinsanalyse zu übernehmen. Ist dies aber der Fall, muß dann nicht spätestens an dem Punkt die Formalität ja "Neutralität" der Philosophie aufgegeben werden, wo die Theologie die "existentielle Bezeugung" des ganzen (eigentlichen) Daseins als "vorlaufende Entschlossenheit" sich zu eigen macht? Oder, a n d e r s a u s g e d r ü c k t : Verliert die Daseinsanalyse der Philosophie nicht insofern ihre Neutralität, als sie - und zwar neben dem Aufweis der ontologischen Möglichkeit von Glaube und Unglaube - Partei f ü r das ungläubige Dasein e r g r e i f t , sofern sie dessen Ganzseinkönnen existenziell bezeugt? Damit ist freilich eine Identifizierung vorweggenommen, deren Haltbarkeit einer Ü b e r p r ü f u n g b e d a r f : korrenpondiert das eigentliche Dasein der Philosophie dem ungläubigen Dasein der Theologie?
2. Glaube und Unglaube als Proprium der Theologie a) Der Unglaube Zunächst scheinen - in der dargestellten Weise - Unglaube und Uneigentlichkeit bzw. Glaube und Eigentlichkeit einander zu e n t s p r e c h e n . Doch wir erinnern u n s : hier ging es ausdrücklich um jene formale S t r u k t u r der Entscheidung f ü r die eine bzw. andere Möglichkeit. Auf dieser Ebene konvergieren Philosophie und Theologie, "Verfallenheit" und "Sünde". Der Unterschied beider besteht n u r darin, daß nach der Philosophie "der Unglaube . . . ein gelegentliches Verhalten i s t , das im Dasein vorkommt, daß er . . . die Entschließung zu einem konkreten Verhalten i s t , die philosophisch von der Entschlossenheit aus (als der Haltung des Daseins in seiner Eigentlichkeit) verstanden werden könnte"30. An diesem Punkt divergieren Philosophie und Theologie, freilich nicht so, daß die Philosophie "dasjenige Phänomen gar nicht sieht, das f ü r die Theologie gerade die G r u n d v e r f a s s u n g des Daseins konstituiert"31. Vielmehr entspricht der Unglaube als Phänomen der Theologie demjenigen, was die Philosophie
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als Freiheit bezeichnet, als "die ursprüngliche Freiheit, in der sich das Dasein k o n s t i t u i e r t " ^ . Dies kommt unmißverständlich in folgender Äußerung Bultmanns zum Ausdruck: "Bei Heidegger liegt das Frevelhafte deshalb nicht so deutlich zutage, weil er die Haltung der Entschlossenheit nicht als Hingabe charakterisiert; deutlich aber i s t , daß die Übernahme der Geworfenheit in der Todesentschlossenheit radikale Eigenmächtigkeit des Menschen ist""^. Die Spitze der Heideggerschen Argumentation in "Sein und Zeit", die These der möglichen Selbstbegründung des Menschen durch die Übernahme seiner Nichtigkeit, wird somit von Bultmann als Ausdruck der totalen Sündigkeit des Menschen gedeutet, weil "in der Verfallenheit jede Bewegung des Menschen eine Bewegung des verfallenen Menschen i s t " ^ . Diese Einsicht in die doppelte Bedeutung des Unglaubens bei Bultmann indiziert das entscheidende Problem seiner Heideggerrezeption: die christliche Rede vom Unglauben bzw. Glauben hebt in ihrer Radikalität die philosophische Daseinsanalyse von "Sein und Zeit" auf. Bultmann versucht, wohl um die Wissenschaftlichkeit der Theologie aufrechtzuerhalten, seine (als Exeget) gewonnenen Einsichten einer christlichen Anthropologie in die dafür viel zu engen Formen der Existenzialphilosophie von "Sein und Zeit" zu gießen: mit dem Ergebnis, daß diese entweder gesprengt werden oder jene wesentlich verkürzt wird. In paradigmatischer Weise soll im folgenden gezeigt werden, daß die Beibehaltung der Ontotogie Heideggers Bultmanns genuin theologische Aussagen zu einer bloßen Versicherung verkümmern läßt.
b ) Der geschenkte Glaube Es kommt hier nicht auf eine umfassende Würdigung bzw. Kritik der philosophischen Intentionen Bultmanns an. So beschränken wir uns im folgenden darauf, die angedeutete Kritik im Hinblick auf Bultmanns Glaubensbegriff zu präzisieren. Als Ausgangspunkt hierzu mag noch einmal auf das über den Unglauben Ausgeführte zurückgegriffen werden. Folgt man Bultmann darin, daß das "ganze" Dasein von Heidegger als ungläubiges verstanden wird, so muß jedenfalls der "bloß" ontologische Charakter von Heideggers Daseinsanalyse verneint werden. Dies scheint uns auch durchaus der Intention von "Sein und Zeit" zu entsprechen, wo ja offenkundig mehr geleistet werden soll, als bloß der Aufweis der Struktur des Daseins als eines Seinkönnens. Damit aber erhebt sich das ungleich schwierigere Problem, wo nämlich der systematische Ort des Glaubens innerhalb einer Daseinsanalyse festgemacht werden kann, die mit der Analyse des ungläubigen Daseins bereits erschöpft ist. Angesichts dieses Befundes ergeben sich zwei Möglichkeiten für die Theologie, den Glauben zu orten : entweder man lehnt die philosophische Daseinsanalyse oder aber man lehnt den Glauben ab. Hat Bultmann, da
- 204 er offenkundig an der Notwendigkeit der philosophischen Bemühungen stets festgehalten hat, den christlichen Glauben als jenen gegenüber inadäquat befunden? Zumindest wird der spezifische Inhalt des Glaubens als "Ärgernis" bezeichnet: und zwar dessen "Behauptung . . . , daß ein . . . Entschluß die Grundverfassung des Daseins neu konstituiere, so daß es hinfort außer einem ungläubigen auch ein gläubiges Dasein geb e " ^ . Die Kennzeichnung des Glaubens als "Neukonstituierung" des Daseins will nichts anderes als seinen Geschenkcharakter ausdrücken, sofern das sich selbst gründende Dasein in der "Entschlossenheit der V e r z w e i f l u n g " ^ nur die Möglichkeit hat "zu sein, was das Dasein je schon war "37, während die Gnadengabe des Glaubens ein neues Dasein eröffnen kann, weil Glaube "die Wegwendung des Menschen von sich selbst ist, die Preisgabe aller Sicherheit, der Verzicht, sich selbst seine Geltung, sein Leben zu gewinnen . . . " 3 8 . Jene Behauptung des Glaubens ist ein "Ärgernis", denn sie "ist nicht nur nicht ausweisbar . . . , sondern sie darf auch im Sinne des Glaubens gar nicht ausgewiesen werden. Denn der Glaube versteht sich als eschatologisches E r e i g n i s " 3 9 . Spätestens hier wird deutlich, daß von diesen Aussagen her die mögliche Aufweisbarkeit der ontologischen Struktur des Glaubens im Rahmen einer philosophischen Daseinsanalyse nicht mehr einsehbar gemacht werden kann. Denn er ist "als das Ergreifen Gottes und als rechtfertigender Glaube kein Phänomen des Daseins"^. Wie sehr auch der Glaubende noch "im Dasein ( s t e h t ) " , wie auch immer "der Unglaube . . . von vornherein auf den Glauben angelegt ( i s t ) " ^ , das Phänomen "Glaube" ist im Zuge dieser Argumentation jedenfalls nicht am Ort des Daseins verstehbar. "Was freilich dieser Glaube ist, der den Menschen so unverwandt und 49
unverwandelt glauben läßt, dies zu verstehen ist Sache der Theologie" . Diese ironische Aussage K.Löwiths zieht sehr treffend die Konsequenz daraus, daß der unaufweisbare eschatologische Glaube in die ontologischen Strukturen gepreßt werden soll: Dies bedeutet in der Tat "nicht nur . . . , daß die Behauptung des Glaubens, das Dasein neu zu konstituieren , nicht ausweisbar ist . . . , sondern es bedeutet viel einschneidender, daß die Behauptung des Glaubens schon als bloße Behauptung ohne jeden denkbaren Sinn i s t " 4 3 . Es ist also nicht möglich, die Übernahme des Daseins aus sich selbst als Unglauben zu qualifizieren und zugleich an der ontologischen Struktur des Glaubens festzuhalten. Daß Bultmanns Argumentation faktisch zugunsten der philosophischen Daseinsanalyse umkippt, daß in der Tat, wenn nicht die protestantische Theologie schlechthin, so doch die Bultmanns "selbst profane Wissenschaft sein (kann) und die wissenschaftlichen Ergebnisse auch der ungläubigen Philosophie in sich aufnehmen ( k a n n ) " 4 4 dies soll im folgenden illustriert werden an der Kennzeichnung des Glaubens als Vorwegnahme des ganzen Daseins. :
- 205 c ) Der antizipierte Glaube Die im folgenden zu begründende These lautet : Durch die faktische Identifizierung der ontologischen Struktur des Glaubens mit der Eigentlichkeit des Daseins, wobei der Tod durch die ζωή substituiert wird, entpuppt sich der Glaube als die Bedingung der Möglichkeit der Selbstübernahme bzw. Selbstbegründung des Daseins. Die Rede vom geschenkten, neukonstituierenden Glauben etc. bleibt demgegenüber eine blanke Versicherung, ja wird sinnlos Es wurde bereits im Teil A darauf aufmerksam gemacht, daß Bultmann öfters die Struktur des Glaubens als antizipative beschreiben kann. Dort wurde vermutet, daß Bultmann diesen Begriff aus den exegetischen Untersuchungen von J.Weiß übernommen hat. Dies gilt es jetzt zu präzisieren. Es kommen von vorneherein nur die Stellen in Betracht, bei denen die Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart des Antizipierten eingezogen i s t , da nur hier eine offenkundige Anlehnung an die Terminologie Heideggers e r f o l g t ^ . Bultmann drückt die Strukturanalogie zwischen theologischer und philosophischer Daseinsanalyse deutlich aus, wenn er darauf hinweist, daß Neues Testament und Philosophie darin übereinstimmen, "daß der Mensch sein eigentliches Leben nur auf Grund der Tatsache führen kann, daß er schon in ihm s t e h t , daß es ihm schon zu eigen i s t " ^ . Das heißt, wenn die Glaubenden "die befreiende Tat Gottes an sich haben vollziehen lassen "48, dann stehen sie in derselben Spannung zwischen "schon jetzt" und "noch nicht" wie die Ungläubigen. Diese Spannung soll nun auf den dem ungläubigen Dasein analogen Begriff der Vorwegnahme gebracht werden, trotz, nein gerade wegen der eschatologischen Existenz des Glaubenden! "Der Glaube bedeutet als die Vorwegnahme jeder Zukunft die Entweltlichung des Menschen, bedeutet seine Versetzung in die eschatologische E x i s t e n z D i e s e interessante Äußerung Bultmanns, die den Begriff der "geschenkten Antizipation" prägt - in der "Gabe Gottes (ist) alle Zukunft vorweg geschenkt"^Q - , macht noch einmal die Inkommensurabilität von Heideggers Daseinsanalyse mit dem christlichen Glaubensbegriff deutlich : gerade das Vorlaufen in den Tod als "Vorwegnahme des ganzen Daseins" soll ja nach Heidegger die Selbst-Übernahme des Daseins gewährleisten. Faktisch scheint uns Bultmann denn auch durchaus den Heideggerschen Sinn des Begriffs "Vorwegnahme" zu übernehmen: " . . . der Glaube ist ja das Ergreifen seines Seinkönnens, ist Vorwegnahme seiner Zukunft in der Entschlossenheit " ^ l . Natürlich will Bultmann dies so verstanden wissen, daß das "Ergreifen" des "Seinkönnens" (der ζωή^) bedingt ist durch die Gnadengabe des Glaubens. Nur eben dies kann nicht mehr von ihm argumentativ entfaltet werden. So kann zusammenfassend gesagt werden, daß Bultmann tatsächlich in konsequenter Weise die ontologische Daseinsanalyse Heideggers übernimmt. Dies drückt sich inhaltlich darin aus, daß selbst der Glaubens-
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Vollzug noch als antizipativer ganz im Sinne Heideggers (hier vollzog sich die Übernahme der Eigentlichkeit als "vorlaufende Entschlossenheit") gekennzeichnet werden kann. Den Preis dieser Konsequenz bezahlt Bultmann mit dem Schweigen des Glaubens angesichts der Aufgabe seiner argumentativen Rechtfertigung. Dies ist in der Tat ein "Ärgernis"! Es ist hervorzuheben, daß die voranstehenden Erörterungen keineswegs die antizipative Struktur des Glaubens als solche - was immer dies heißen mag: darauf ist noch zurückzukommen - einer Kritik unterziehen wollen. Sieht man nämlich von der dargelegten Inkonsistenz des Bultmannschen Glaubensverständnisses ab, so kann durchaus zugestanden werden, daß dieses gerade wegen seiner antizipativen Struktur tendentiell über die Punktualität des Existenzverständnisses Bultmanns hinausweist. In der Tat könnte in jenem Gedanken "die Chance enthalten sein, Stetigkeit und Wandel des menschlichen Lebensvollzugs und also auch des Glaubens zusammenzudenken "53. Bultmann hat dies selbst auch angesprochen, wenn er an der o b e n 5 4 zitierten Stelle fortfährt : "Der Glaubende nimmt im Glauben gewissermaßen die konkreten einzelnen Liebesentscheidungen der Zukunft v o r a u s " 5 5 . "Das Bleiben ist also ein Strukturmoment des Glaubens; . . . es ist Treue, die immer neu ist" 5 ®. Überwunden freilich ist mit solchen Aussagen die Punktualität des Bultmannschen Existenzverständnisses n i c h t - und es kann faktisch eben nicht davon abgesehen werden, daß Bultmann zur Kennzeichnung seines Glaubensbegriffs den Heidegger sehen Terminus des "Vorlaufens" verwendet'. d) Zur Bultmanninterpretation von M.Boutin M.Boutin versucht in seiner umfangreichen Studie über Bultmann die "Kehre" Heideggers und die Theologie Bultmanns so aufeinander zu beziehen, daß sich die in "Sein und Zeit" anbahnende und schließlich die Kehre provozierende Einsicht in die Ohnmächtigkeit der Selbstübernahme des Daseins als "die Grundfrage der Bultmannschen Theologie" entpuppt 5 ^. Nach M.Boutin ist diese Parallelisierung deshalb möglich, weil die Kehre nichts anderes ist als die Einsicht, "daß die Frage nach der ontisch-faktischen Möglichkeit der existenziellen Modifikation des Manselbst zum eigentlichen Selbstsein ungestellt bleibt" 5 ®. Diese Beschreibung setzt die Bultmannsche Heideggerinterpretation voraus, derzufolge "Sein und Zeit" eine "neutrale" Daseinsanalyse geben will - eine Thes e , über die man zumindest streiten kann. Worauf es hier ankommt, ist die vorhin begründete Einsicht, daß Bultmann keineswegs im Sinne der "Kehre" über "Sein und Zeit" hinausgeht, sondern dessen Begrifflichkeit und Argumentationsstruktur auf der ontologischen Ebene unbesehen übernimmt. Dies kann noch einmal an dem Begriff der "Vorlaufens" verdeutlicht werden, wenn anders Heidegger - wie wir gesehen haben - diesen Begriff deshalb aufgibt, weil damit gerade die für den späten Heidegger ver-kehrte Selbstübernahme des Daseins thematisiert werden soll,
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während Bultmann hier durchaus "Sein und Zeit" verhaftet bliebt. Es ist von daher nicht möglich, den ontisch-existenziellen Standpunkt der Theologie als den "Standpunkt . . . des Glaubens"®® mit der "Kehre" in eins zu setzen, weil dieser Glaubensstandpunkt nur formal mit der Einsicht in die Unmöglichkeit der Selbstübernahme des Daseins konvergiert. Solange dieser nämlich vermittelt ist durch die ontologische Daseinsanalyse von "Sein und Zeit", erhält er seine Plausibilität ausschließlich durch seine Unaufweisbarkeit, die etwas ganz anderes meint als der Verzicht auf "den metaphysischen Willen des Begründenwollens"® 1 .
6. Kapitel DER VORGREIFEND AUF GOTT VERWIESENE MENSCH BEI KARL RAHNER Es sind durchaus nicht nur äußerliche Gründe, derart, daß K.Rahner Schüler Heideggers ist und nach eigenen (mündlichen) Äußerungen den für sein philosophisch-theologisches Denken zentralen Begriff "Vorgriff" aus "Sein und Zeit" übernommen hat, die die Stellung dieses Kapitels als Abschluß des zweiten Teils dieser Arbeit hervorgerufen haben. Der Vorgriff im Denken Rahners weist in formaler Hinsicht zurück auf den Sachverhalt der "Antizipation der Form von Erfahrung" und auf die damit verbundene Problematik seiner zeitlichen Dimension. Dem Inhalt nach wird Gott als "Gegenstand" von Antizipation thematisiert, freilich so - und dies rechtfertigt e s , auch bei Rahner von einer apriorischen Antizipation und dem damit verbundenen Sachverhalt ihrer vorausgesetzten Wahrheit zu sprechen - , daß, entgegen anderweitiger Versicherung, bloß der Gottesgedanke, nicht aber seine Wirklichkeit zur Sprache kommt. Weiter stellt auch nach Rahner der Vorgriff ein Konstitutivum des Menschseins dar, so nämlich, daß die notwendige Verwiesenheit des Menschen auf Gott anhand der endlichen menschlichen Erkenntnis ausgewiesen werden soll. Indem der Mensch erkennt, greift er auf Gott vor: dieser Ausgangspunkt der Rahnerschen Theologie, der vorgreifend auf Gott verwiesene Mensch, bildet den Mittelpunkt der folgenden Interpretation. Die Beschäftigung mit dem Vorgriff bei Rahner als Abschluß des zweiten Hauptteils dieser Untersuchung ist also systematisch legitimiert: in Rahners Denken fließen die logische und die ontologische Bedeutung von Antizipation - zumindest dem Anspruch nach - zusammen. Darüber hinaus wird die kantische Antizipation radikalisiert, indem der Vorgriff auf das - Kantisch gesprochen - "transzendentale Ideal" Anwendung findet. Es wird sich freilich auch zeigen, daß im Grunde genommen die Rahnersche Antizipationstheorie sowohl der Cohenschen als auch der Kantischen unterlegen bleibt, sofern sie sich einer zeitlichen Strukturierung ( z . B . der Angewiesenheit auf zukünftige Bewährung) gänzlich verschließt.
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1. Karl Rahners Theologie im Kontext In katholischer Terminologie ausgedrückt läßt sich der Impetus der grundlegenden Werke Rahners mit H.U. v . Balthasar dahingehend beschreiben: Es geht Rahner darum, einen Weg zwischen der "Szylla des Extrinsezismus und ( d e r ) Charybdis des Immanentismus" zu bahnen*. Im "üblichen Gang der katholischen Fundamentaltheologie sieht es so a u s , "als ob die geoffenbarten Geheimnisse sich eben als neues Stück Wissen an das natürliche Wissen anreihten"^, wobei unklar bleibt, wie der Mensch "kraft seines geistigen Wesens f ü r eine solche 'Erweiterung' seines Wissens aufnahmefähig sein könne"4 - hier besteht somit die Gef a h r , die "rationale(n) Glaubensbegründung"^ vernachlässigend, auf die p u r e Faktizität einer dem Menschen äußerlichen (ex-trinsezistischen) Off e n b a r u n g Gottes zu insistieren, ohne den Aufweis e r b r i n g e n zu können, daß der Mensch solche O f f e n b a r u n g als ihn in seinem Wesen b e t r e f f e n d "hören" kann und muß. Freilich gilt e s , bei aller Betonung der notwendigen Verwiesenheit des Menschen auf eine O f f e n b a r u n g Gottes, der Möglichkeit Raum zu s c h a f f e n , daß diese O f f e n b a r u n g mehr ist als die ä u ß e r lich-sichtbare Konstituierung der aufgedeckten Religiosität des Menschen: andernfalls gelangte man zum anderen Extrem des "Intrinsezismus", der Gott als den "freie(n) Unbekannte (n)"® negiert und nach Rahner der "nouvelle théologie" vorzuwerfen i s t 7 . Nun darf diese Problemstellung - wenngleich sie mittels katholischer T e r minologie skizziert wurde - d u r c h a u s nicht als n u r die katholische Diskussion b e t r e f f e n d e angesehen werden. Rahner selbst grenzt diese seine Themenstellung von "zwei . . . Grundtypen einer protestantischen Religionsphilosophie"8 ab: während beim e r s t e n Typ der "Inhalt der Religion bloß die Objektivation der je schon vom Menschen selbst her gegebenen oder doch möglichen . . . Subjektivität ( i s t ) " 9 , wird im anderen Fall "Gott als Offenbarer eigentlich zum dialektisch notwendigen Korrelat des radikal Ungöttlichen des Menschen"10. i n dieser interessanten Schematisier u n g der evangelischen Theologie zeigt Rahner - wenngleich n u r t h e tisch - a u f , "daß diese beiden Typen letztlich in eins fallen"*!. Und man wird in der Tat ihm darin recht geben müssen, daß die dialektische Theologie, zumindest in ihrer radikalen, vom jungen Barth geprägten Form und in der A u s p r ä g u n g der Theologie Bultmanns, entgegen ihrem Anspruch den von ihr bekämpften Subjektivismus der liberalen Theologie, der letztlich in der "Glaubenslehre" Schleiermachers wurzelt, auf die Spitze t r e i b t · ^ . Denn nicht n u r macht jener extreme "Extrinsezismus" des jungen B a r t h , der Gott als den "ganz a n d e r e n " gegenüber dem Menschen bestimmt, diesen vom Menschen abhängig, sondern d u r c h diese Andersheit Gottes kann gerade nicht mehr dem Menschen plausibel gemacht werden, warum an ihn zu glauben sei (dies leistet immerhin Schleiermacher und die liberale Theologie), und so wird die Entscheidung f ü r Gott zu einem reinen Willkürakt menschlicher Subjektivität: hier bleibt Bultmann am konsequentesten der dialektischen Theologie v e r h a f t e t .
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Gerade auf dem Boden der heute u n ü b e r h ö r b a r e n Kritik an der dialektischen Theologie gewinnt so Rahners Anspruch Aktualität, sofern er einerseits zeigen will, "daß Gott sich so offenbaren könne, daß diese O f f e n b a r u n g mehr ist als die bloße Objektivation der religiösen Zuständi g k e i t des Menschen", andererseits einsichtig machen will, "inwiefern der Mensch eine innere Offenheit zum Empfang einer solchen Offenbar u n g h a t , . . . ohne sie in ihrem Inhalt schon in seiner Empfänglichkeit vorwegzunehmen"^. In ähnlicher Weise hat Hegel die wechselseitige Gegenläufigkeit der Bewegung zwischen Mensch und Gott in seinem "Vorlesungen über die Philosophie der Religion" gefaßt. Indem er nämlich eine Koinzidenz der notwendigen Manifestation des Absoluten mit der notwendigen Manifestation des religiösen Bewußtseins a u f z e i g t b e a n s p r u c h t e r , d u r c h a u s der Themenstellung Rahners e n t s p r e c h e n d , Unendliches und Endliches so zu vermitteln, daß beides (im Denken bzw. im Kultus) geeint i s t . Allerdings faßt Hegel diese Einung von der Seite des Menschen terminologisch als "Erhebung", während Rahner - und damit erreichen wir die im folgenden a u s z u f ü h r e n d e These - mittels des Begriffs "Vorgriff" v e r s u c h t , seiner Aufgabenstellung gerecht zu werden. Damit ergibt sich bereits aus diesen allgemeinen Erwägungen eine e r s t e E r - ö r t e r u n g des Gedankens "Vorgriff" im Denken R a h n e r s . Er erlangt seine Stellung und Funktion im Kontext der Diskussion um die notwendige ( i . e . "natürliche") Verwiesenheit des Menschen auf Gott: wenn Rahner zwar nicht von einem "apriorischen(r) Gottesbeweis" sprechen will, so meint er doch "sachlich d a s s e l b e " ^ wie die Thomanischen quinqué viae. (Es ist im übrigen i n t e r e s s a n t , daß auch Hegel die Legitimität der Gottesbeweise gerade im Kontext der "Erhebung zu Gott" aufzuweisen s u c h t : das "Wissen von Gott ist eine Bewegung in sich, näher eine Erhebung zu Gott"16. Weil nun dieses Wissen von Gott als Wissen um die Verschiedenheit Ich-Gott anzusehen i s t , bedarf es einer Vermittlung, die "in einem Dritten gegen das Verschiedene (ist) . . . Damit liegt es nicht n u r n a h e , sondern in der Sache selbst, d a ß , insofern vom Wissen Gottes gesprochen wird, gleich von der Form eines Schlusses die Rede ist" 17 .)
2. Rahners "Vorgriff" und Kants "Antizipation der Form von E r f a h r u n g " "Geist in Welt" und "Hörer des Wortes" sind die komplementären, g r u n d legenden Zeugnisse f r ü h e n Rahnerschen Denkens. Sofern freilich in letzterem "die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Religionsphilosophie"18 thematisiert wird, wobei "Religionsphilosophie" f ü r den notwendig auf Gott verwiesenen Menschen, "Theologie" aber f ü r den frei-willentlich sich offenbarenden Gott s t e h t , außerdem "Geist in Welt" dem Untertitel nach als Untersuchung "Zur Metaphysik der endlichen E r k e n n t -
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nis bei Thomas von Aquin" scheinbar "bloß" eine Thomas-Interpretation beinhaltet, liegt der (häufig gezogene) Schluß nahe, Rahners eigenständiges Denken beginne - von früher veröffentlichten Aufsätzen abgesehen - mit "Hörer des Wortes". Nun will ja Rahner in der Tat in "Geist in Welt" eine Thomas-Interpretation leisten: "Wie das menschliche Erkennen nach Thomas Geist in Welt sein könne, das ist die Frage, um die es in dieser Arbeit geht" 1 9 - nur daß eben in der (laut Rahner) nn Thomanischen'*" Antwort auf diese Frage tragende Gedanken von Rahners eigener theologischer Konzeption zum Ausdruck kommen, Gedanken , die sich insbesondere auf den ersten Aspekt der mehrfach erwähnten Themenformulierung, auf die notwendige Verwiesenheit des Menschen auf Gott also, beziehen 2 ^. Deshalb ist es durchaus legitim, mit einer ausführlichen Darstellung des Begriffs "Vorgriff" in jenem frühesten Werk Rahners zu beginnen; notwendig aber wird gerade dieser Einstieg in Rahners Denken weil hier, unserem Thema gemäß, die - wir werden sehen: konstitutive - Bedeutung dieses Begriffs entwickelt wird. a) Terminologische Vorbemerkung Es muß an diesem Punkt noch offen bleiben, innerhalb welches geistesgeschichtlichen Horizontes Rahner auf den Ausdruck "Vorgriff" gestoßen ist. Dies kann erst dann adäquat beurteilt werden, wenn der Sachverhalt, den dieser Terminus bezeichnen soll, hinreichend geklärt ist. Deshalb seien hier nur einige sprachstatistische und allgemeinere Bemerkungen vorangestellt. Wenngleich der Terminus "so nicht unmittelbar bei Thomas zu finden (ist), so ist er doch sachlich in dem enthalten, was Thomas 'excessus' (Überschritt) nennt" 2 2 . Zwar übersetzt Rahner "excessus" als "(ausgreifenden) Überschritt" 2 ·*, aber bereits das Verb "ascendere" wird mit "ausgreifen" wiedergegeben 24 , und außerdem verwendet er - abgesehen von einer Stelle, wo er von einem "Übergriff" 2 5 spricht - nahezu einheitlich den Terminus "Vorgriff" für diesen noch genauer zu bestimmenden Sachverhalt. In "Hörer des Wortes" und im "Grundkurs des Glaubens" wird dann ausschließlich "Vorgriff" als terminus technicus gebraucht 2 **. Es darf also schon jetzt festgehalten werden: Nach Rahners eigenen Äußerungen soll der "Vorgriff" dem Thomanischen "excessus" der Sache nach entsprechen - eine Bestreitung dieser Identifizierung muß also den Nachweis erbringen, daß eben der Sache nach beide Begriffe divergieren . Im übrigen müssen wir uns mit einem Hinweis darauf begnügen, daß der Begriff "excessus" in der Entwicklung des Denkens Rahners mit dem der "Ekstase" in engstem Zusammenhang gesehen werden mu Von hier aus ergibt sich dann noch einmal auf terminologischer Ebene eine erstaunliche Nähe zu Hegel, insofern dieser Ekstase durchaus nicht nur in jenem nega-
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tiven Sinne verwendet, dem dieser Begriff in der Vorrede zur "Phänomenologie des Geistes" zunächst beigelegt wird: hier wird der "Begriff" als die "kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache" der "Ekstase" als "gährende(r) Begeisterung"28 gegenübergestellt. Am Ende derselben Vorrede spricht Hegel von der "mißverstandene(n) Ekstase", die "in der Tat nichts andres als der reine Begriff sein s o l l t e " ^ . Dieser letzten Äußerung entspricht die Charakterisierung der Philosophie Plotins durch eben den Terminus "Ekstase", womit Hegel Plotin gerade gegen den Vorwurf der Schwärmerei verteidigen will^. "Und Ekstase ist ja nicht bloß Entzückung der Empfindung und Phantasie, sondern vielmehr ein Heraustreten aus dem Inhalt des sinnlichen Bewußtseyns; es ist reines Denken , das bei sich selbst ist, sich zum Gegenstand hat"31. Damit ist eine, wenngleich mittelbare, Beziehung zwischen dem Rahnerschen "Vorgriff" und der "Erhebung" im Sinne Hegels - vermittelt nämlich durch die Begriffe "excessus" bzw. "Ekstase" - geschaffen. Eine sowohl begrifflich als auch sachlich näherliegende Parallele zu Hegels Denken, zu seiner Rede vom "Obergriff" nämlich, kann uns erst später beschäftigen: zunächst muß der mit dem "Vorgriff" gemeinte Sachverhalt selbst dargestellt und gewürdigt werden. b) Die "Definition" des Vorgriffs Rahner definiert den "Vorgriff" als das "übergreifende Erfassen der weiteren Möglichkeit, durch das die in der Sinnlichkeit in concretione gehabte Form als begrenzte erfaßt und so abstrahiert, wird Diese Definition beinhaltet drei verschiedene Aspekte, die voneinander zu trennen und je zu interpretieren sind. Zunächst einmal wird der Vorgriff als Akt im Sinne eines "übergreifende(n) Erfassen(s)" bestimmt, der sich - das ist der zweite Aspekt - auf einen Gegenstand (die "weiterein) Möglichkeit") richtet, um dadurch eine Funktion so wahrnehmen zu können, daß ein zweiter Gegenstand ("die in der Sinnlichkeit gehabte Form") "als begrenzt(e) erfaßt und so abstrahiert wird". Obschon man also zwischen der Funktion des Vorgriffs und dem Gegenstand, der vorweggenommen wird, unterscheiden muß, wollen wir in diesem ersten Abschnitt den Akzent auf die Funktion legen : dadurch mag die Entsprechung von Kantischem und Rahnerschem Denken besonders deutlich werden. Zuvor muß jedoch der Vollzug des Vorgriffs präzisiert werden. c) Der Vorgriff als Akt Die gerade geltend gernachte Distinktion zwischen dem "Gegenstand", auf den der Vorgriff "geht" (das, was vorweggenommen werden soll), und der davon abgehobenen Funktion impliziert eine entsprechende Differenzierung hinsichtlich des jeweiligen Vollzugs: Es soll zunächst der
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Akt des Vorgreifens auf jenen (hier noch nicht interessierenden) "Gegenstand" thematisiert werden, da sich von hier aus vielleicht am eindrücklichsten die verblüffende Parallellität beider Vollzüge aufweisen läßt. Was also ist unter "übergreifendem Erfassen" zu verstehen? Der "Griff" ist nach Rahner "die gegenständliche konkretisierende Erkenntn i s " ^ , "über" welche der sich vollziehende Vorgriff hinausgeht: "Vorgriff" ist "Über-Griff"! Damit wird zweifelsohne die logische Dimension des "Vor" zumindest akzentuiert: wir müssen später zusehen, ob dem "Vorgriff" überhaupt Zeit eignet. Vorläufig genügt e s , diese Beobachtung dadurch bestätigt zu finden, daß an einer der wenigen Stellen, wo ausdrücklich in "Geist in Welt" die Bedeutung des "Vor" thematisiert wird, dieses, bzw. der Vor-Griff insofern legitimiert werden soll, als er sich nicht auf einen "Gegenstand erster O r d n u n g " ^ , auf einen sinnlich gegebenen Gegenstand mithin bezieht. Hier entsteht nun freilich ein - wie wir noch sehen werden: symptomatisches - Problem: Ist mit dem Über-Griff nur gemeint, daß im Vorgriff auf eine nicht näher angebbare Weise über den Griff der gegenständlichen Erkenntnis "hinausgegangen" wird, oder soll der Übergriff als "Griff" auf ein außerhalb dieser sinnlichen "Objektebene" liegendes "Objekt" verstanden werden? (Im ersten Fall würde dabei eher eine passivische Dimension verstärkt zum Tragen kommen, im anderen Fall eher eine aktivische. ) Es kann vorläufig nur um eine Präzisierung des Vollzugs des Vorgriffs gehen, dessen Relevanz für die Beurteilung seiner Gegenständlichkeit allerdings mit dieser Problemstellung erstmals anklingt. Zu präzisieren ist näherhin, was Rahner mit der Charakterisierung des vorgreifenden Aktes als eines "übergreifenden Erfassens" meint. "Erfassen" ist durchaus nicht einfach gleichzusetzen mit "Erkennen" oder "Begreifen"; die von Rahner intendierte Nuancierung des gerade mit diesem Terminus gekennzeichneten Sachverhaltes wird vielleicht am leichtesten deutlich, wenn wir von folgender Beobachtung ausgehen: "Erfassen" bezieht sich auf ein " E i n z e l d i n g " ^ , das mit Hilfe der "äußeren Sinnlichkeit" und der "Einbildungskraft" eben "erfaßt" wird^®. Das vollzogene Erfassen kennzeichnet Rahner als "Anschauung"·^ des jeweiligen Einzeldings. Damit haben wir zum einen den vorhin an zweiter Stelle gekennzeichneten funktionalen Vollzug des Vorgriffs erreicht: Mittels des vorgreifenden Erfassens soll ja die "in der Sinnlichkeit in concretione gehabte Form als begrenzte erfaßt werden"! Der Einwand, daß zwischen der Erfassung des Sinnendings und der Erfassung von dessen "Form" noch einmal zu trennen sei, ist kurzschlüssig: denn gerade als begrenzte Form kann das Sinnending überhaupt nur erfaßt werden, und umgekehrt: nur am Sinnending selbst ist die Form e r f a ß b a r ^ 8 . Zum andern erhellt diese zugegebenermaßen spärliche "Definition" des Begriffs "Erfassen" den Vollzug des Vorgriffs selbst: Wenn nämlich das
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Erfassen sich im Bereich des Sinnlichen vollzieht, dieser Bereich aber gerade der "hinnehmenden E r k e n n t n i s " ^ zukommt, so muß von daher dem Vollzug zumindest auch "Passivität" eignen. Diese Vermutung wird dadurch verstärkt, daß Rahner selbst diesen Vollzug auch so kennzeichnen kann, daß der Vorgriff "in der Weise seines Worauf die reale Möglichkeit dieser anderen Gegenstände implicite mitbejaht" 4 ®. In anderem Zusammenhang - wenn das esse als esse absolutum prädiziert wird taucht eben dieselbe Charakterisierung des Vollzugs des Vorgriffs noch einmal auf verbunden mit folgender Abgrenzung: "Nicht" geht "er (sc. der Vorgriff) unmittelbar auf das absolute Sein " 4 1 ; er "geht auf Gott" nur deshalb, "weil die Wirklichkeit Gottes . . . durch die Weite des Vorgriffs . . . implicite mitbejaht ist"42. O.Muck hat in seiner herausragenden S t u d i e w e i t e r e ähnliche Ausdrucksweisen Rahners zusammengestellt. Er kommt zu dem Ergebnis: "Einerseits wird . . . negiert, daß dieses Vorwissen (sc. der vollzogene Vorgriff) und sein Inhalt bereits Thema und 'als solcher angezielter Gegenstand' (HW.47) des ermöglichten ausdrücklichen Wissen sind . . . Anderseits sollen diese Ausdrücke besagen, daß dennoch ein Einfluß auf das ausdrückliche Wissen besteht" 4 4 . Während der erste Satz unsere Beobachtungen zusammenfaßt, leuchtet im zweiten Teil des Zitats erstmals eine Ambivalenz auf, die uns später im Zusammenhang der kritischen Würdigung noch eingehender beschäftigen wird. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß auf der Ebene der sinnlichen Objekterkenntnis diese Ambivalenz eine notwendige ist: hier sind Passivität (Einwirkung von außen durch Sinnendinge) und Aktivität (Begreifen des Sinnendings) notwendig verschränkt, deren Einheit zusammenfassend als "Erfassen" bzw. "hinnehmende Erkenntnis" beschrieben wird. Dies kann auch daran verdeutlicht werden, daß die Funktion des Vorgriffs hinsichtlich der Sinnendinge auch als "Setzung" apostrophiert wird: "Der Vorgriff setzt in seinem realen Vollzug . . . , was seinem Wesen nach innerhalb der Weite des Vorgriffs zu stehen kommen kann" 4 ^. So zeitigen unsere Untersuchungen über die Charakterisierung des Vollzugs des Vorgriffs ein signifikantes Ergebnis, auf das noch zurückzukommen ist: Insofern sowohl der Vorgriff auf seinen "Gegenstand" als auch dessen Funktion selbst als "Erfassen" beschrieben wird, dieser Tätigkeit aber Aktivität und Passivität eignet, muß genauestens untersucht werden, was dies für den (über die sinnliche Objektebene hinausreichenden) "erfaßten" Gegenstand - in seinem Verhältnis zu dem "erfassenden" Subjekt nämlich - bedeutet. d) Die Funktion des Vorgriffs auf die "weitere Möglichkeit " In scheinbar vager, aber doch bezeichnender Weise, wird das Antizipierte in der oben zugrundegelegten Definition des Vorgriffs als "weitere (n)
- 214 Möglichkeit" gefaßt: dadurch kann "die in der Sinnlichkeit in concretione gehabte Form als begrenzte erfaßt und so a b s t r a h i e r t " 4 6 werden. Dieser äußerst weiten "Definition" des Antizipierten entspricht die Beobachtung, daß Rahner hier den Vorgriff ausschließlich in funktionaler Weise defin i e r t . Sogar d a n n , wenn scheinbar abstrahiert von der Funktion des Vorgriffs auf dessen mögliche G e g e n s t ä n d l i c h k e i t ^ abgehoben wird, wird diese gerade in funktionaler Abhängigkeit bestimmt. Sofern der Vorgriff "seinem Wesen nach eine der Bedingungen der Möglichkeit einer gegenständlichen Erkenntnis ( i s t ) " , geht er "als solcher nicht auf einen Geg e n s t a n d " ^ . wir wollen jetzt diese Reflexion Rahners über die "Gegenständlichkeit" des Antizipierten, wie schon e r w ä h n t , zurückstellen, um zunächst über die Funktion des Vorgriffs Klarheit zu gewinnen. Es wurde schon deutlich, daß der Vorgriff eine Möglichkeit bieten soll, "die Formen der Sinnlichkeit als eingegrenzt zu e r f a h r e n " ^ und somit zu a b s t r a h i e r e n . Das bedeutet f ü r diese "Formen", daß sie im sinnlichen Ding in ihrem "weiteren Feld der Möglichkeiten" eingegrenzt werden. Es handelt sich also näherhin um zwei Funktionen: d u r c h den Vorgriff wird einmal die Bedingung der Möglichkeit aufgezeigt, die Formen eines "Diesda" als begrenzt erkennen zu können. Zum a n d e r e n , das ist eigentlich n u r die positive Wendung dieses Sachverhaltes, können so diese Formen losgelöst vom je konkret existierenden Sinnending e r k a n n t , d . h . "abstrahiert" werden. Die Funktion des Vorgriffs ist also nicht unmittelbar auf der Ebene des Erkennens anzusiedeln, sondern auf jener Metaebene, die nach der Bedingung der Möglichkeit dieses Erkennens, genauer gegenständlichen Erkennens, f r a g t . Zugleich soll damit ausged r ü c k t werden, daß der Vorgriff eben als "Bedingung" gegenüber dem Bedingten nicht "in unverbindliche(r) Nachträglichkeit "51 v e r h a r r e n kann. Die Ebene der Erkenntnis s e l b s t , die "affirmative Synthesis" im Sinne Rahners, ist also hier schon vorausgesetzt und kann zunächst außer acht gelassen werden: es soll vielmehr nach dem Grund ihrer Möglichkeit gefragt werden. Diese wird in der spezifischen Leistung des Vorgriffs erblickt, eine Begrenzung und damit Abstraktion des Sinnendings zu vollziehen. Wie ist dies möglich? Die Abstraktion t r e n n t zwischen der Form des sinnlich gegebenen Gegenstands und ihm selbst als bloßem "Diesda" - in Rahners Terminologie: d u r c h Abstraktion wird zwischen "Form" (allgemeiner Washeit) und "suppositum" (konkretem Einzelding) geschieden. Jener Vollzug kann aber n u r so gedacht werden, daß die Form als im und d u r c h das Sinnending begrenzte erfaßt wird, gepaart mit der Einsicht, daß sie somit auch a n d e r s , in einem anderen Sinnending "verwirklicht" sein könnte "man erkennt die Endlichkeit und Gegrenztheit einer konkreten Seinsbestimmung (eines Seienden), indem sie in das weitere 'Nichts' i h r e r Möglichkeit gehalten w i r d " 5 3 . Damit ist aber in der Abstraktion zumindest implizit b e j a h t , daß die Grenzen der Form nicht mit dem jeweiligen Sinnending
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identisch sind, sondern seine Form über es "hinaus-geht", es transzendiert. Die wesentliche Konsequenz, die Rahner aus der dargestellten funktionalen Definition des Vorgriffs hinsichtlich seiner Gegenständlichkeit zieht, wurde schon erwähnt: "Der Vorgriff geht als solcher nicht auf einen Gegenstand" 5 4 . Dennoch muß das "Worauf" des Vorgriffs angegeben werden können: deshalb muß, "soll von ihm ausdrücklich gesprochen werden, (das Worauf) als Gegenstand vorgestellt (bezeichnet), wenn auch nicht als solcher gemeint (bejaht) werden" 5 5 . Wir halten hier mit der Darstellung des "Vorgriffs" ein: bisher - so meinen wir - entspricht die entwickelte Funktion des Vorgriffs in "Geist in Welt" den Antizipationen der Formen von Erfahrung im Sinne Kants. Dies gilt es kurz zu zeigen. Im Sinne Rahners konnte die spezifische Leistung des Vorgriffs darin erblickt werden, "eine der Bedingungen der Möglichkeit einer gegenständlichen Erkenntnis" 5 6 aufzuweisen. Bereits der von Kant entlehnte Terminus der "Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis" ist aufschlußreich: wie Kant so ortet auch Rahner den Vorgriff - die Antizipation auf einer gegenüber der Objektebene des Erkenntnisvollzugs sich befindenden Metaebene. Rahner reflektiert dabei explizit auf die Notwendigkeit dieses so georteten Vorgriffs für die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis: wenn nämlich die Formen des Sinnendings wesensmäßig mit demselben verbunden sind, so kann die Erkenntnis der Ablösbarkeit der Form vom Sinnending - und gerade darin besteht ja ihre Allgemeinheit - nur so gedacht werden, daß sie "vorgängig zur sinnlichen Erkenntnis schon immer vollzogen ist" 5 ^. Im Zusammenhang der Kantinterpretation wurde auf diesen Sachverhalt h i n g e w i e s e n d e r im übrigen die ausschließlich logische "Vorgängigkeit" der Formen zu implizieren schien - ein Punkt, an dem auch, wie sich noch zeigen wird, der Kantische und der Rahnersche Gebrauch von Antizipation konvergieren. Beiden geht es weiter um die Bedingung der Möglichkeit "gegenständlicher Erkenntnis", d . h . , die "Formen" - auch dieser Terminus wird von Rahner analog zu Kant gebraucht - der Erfahrung sollen erkannt werden. Schließlich ziehen beide aus diesem gemeinsamen Anspruch, die Formen der Erfahrung mittels eines Vorgriffs zu erkennen, dieselbe Konsequenz für das Antizipierte selbst: es kann nicht - analog zum Vollzug des Vorgriffs - wiederum auf der Ebene der Gegenstände festgemacht werden. Es scheint so, als wäre damit der Punkt erreicht, an dem sich die Wege scheiden: während Kant, wie wir gesehen haben, den Modus der Beziehung der Erkenntnis auf die jeweilige Erfahrung als antizipiert begreift, wodurch von vorneherein die "Weite" des Vorgriffs durch den Bereich
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der sinnlich e r f a h r b a r e n Gegenstände abgesteckt i s t , also nicht als Raum und Zeit " ü b e r - g r e i f e n d " gedacht werden k a n n , ist es nach Rahner das "'esse' . . . , auf das der intellektuelle, die Abstraktion ermöglichende Vorgriff geht"59. Es wird sich jedoch zeigen, und dies ist vielleicht die beeindruckendste philosophische Leistung R a h n e r s , daß der Vorgriff auf das esse als konsequente Ausweitung des Kantischen Antizipationsbegriffs zu interpretieren i s t , sofern nämlich von Rahner aufgewiesen wird, daß das transzendentale Ideal als "omnitudo realitat i s " den letzten "Gegenstand" des Vorgriffs bildet. Erst die Kennzeichn u n g dieses Ideals als "daseiender" Realität t r e n n t Kant und Rahner und kann gegen letzteren im Sinne eines Thomismusvorwurfes gewendet werden. Beides gilt es im folgenden zu verdeutlichen, um von da aus noch einmal den beschriebenen Vollzug des Vorgriffs kritisch u n t e r die Lupe zu nehmen.
3. Der Vorgriff auf Sein a) Vorbemerkung Bevor wir mit der systematischen Darstellung des "Worauf" des Vorgriffs nach Rahner f o r t f a h r e n , sind zwei Vorbemerkungen zu machen: Die e r s t e bezieht sich auf die Einheitlichkeit der Terminologie in "Geist in Welt". Rahner nennt das Antizipierte das "Worauf" bzw. "Woraufhin" des Vorgriffs. Da er auch von dem "Woraufhin des beziehenden Wissens"®® sprechen k a n n , d a r u n t e r freilich die materia prima® 1 v e r s t e h t indem nämlich das Gewußte "auf" die materia bezogen wird, entsteht allererst gegenständliche Erkenntnis - , wird man in der Tat mit P. Eicher von einer Äquivokation des Begriffs "Woraufhin" sprechen können. Diese ergibt sich freilich erst d a n n , wenn die Terminologie von "Hörer des Wortes"®·* hinzugezogen wird: in "Geist in Welt" wird, soweit wir sehen konsequent, die Beziehung des gewußten Inhalts auf die materia prima als "Woraufhin" 6 4 , die "Richtung" des Vorgriffs aber als "Worauf" 6 5 gekennzeichnet - dementsprechend soll auch hier jene präzise Unterscheid u n g beibehalten werden. Die zweite Vorbemerkung will auf ein Problem aufmerksam machen, dessen Lösung hier noch zurückgestellt werden muß. In scheinbar analoger Weise zu Kant muß - nach dem bisher A u s g e f ü h r t e n - die Funktion des Vorgriffs als Bedingung der Möglichkeit von gegenständlicher E r k e n n t nis begriffen werden. Dem entspricht die - sicher vorläufige - Formulier u n g , die das "Worauf" des Vorgriffs als "weitere Möglichkeit " bestimmt. Der Vorgriff scheint also nach Rahner nicht "unmittelbar" auf die Wirklichkeit seines zu bestimmenden Gegenstandes zu zielen. (Dies könnte damit zusammenhängen, daß bei Kant das Antizipierte auch nicht "unmittelb a r " auf der sinnlichen Ebene festgemacht werden k a n n , sondern Erfah-
- 217 rung in ihrer Form bezeichnet. ) Andererseits soll nun aber nach Rahner, wie gleich zu zeigen sein wird, der Vorgriff auf Sein gehen: so stellt sich die Frage, ob hier nicht eine Spannung entsteht, die im letzten in der unvermittelten Verbindung Thomanischer Ontologie mit der kritischen Philosophie Kants gründet. Damit ist vorweg der Zielpunkt folgender Argumentation schon angegeben, deren Durchführung wir uns jetzt zuwenden wollen. b) Der Ausgangspunkt der Argumentation Die Darstellung des Begriffs "Vorgriff" war so weit gediehen, daß neben seinem Vollzug auch seine Funktion einsehbar wurde: in analoger Weise zu Kants Gedanken der Antizipation soll nach Rahner der Vorgriff "eine der Bedingungen der Möglichkeit einer gegenständlichen Erkenntnis (sein)"®®. Als solches - darauf weist Rahner ausdrücklich hin - kann das Antizipierte nicht selbst ein Gegenstand in dem Sinne sein, "wie ihn ein Urteil der Erkenntnis vorstellt"® 7 : diese Einsicht, daß das Bedingende nicht selbst ein Bedingtes sein darf, wenn anders ein regressus ad infinitum vermieden werden soll, stellt den Impetus für Rahners weitere Argumentation dar. Und eben dies scheint der Punkt zu sein, wo einsichtig werden kann, warum Rahner sich genötigt sieht, einen Vorgriff auf Sein zu postulieren. Dies mag noch deutlicher werden, wenn wir noch einmal die zugrunde gelegte funktionale Definition erinnern. Bisher konnte die Funktion des Vorgriffs darin erbli'ckt werden, daß er die Bedingung der Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis ist, sofern durch ihn die nicht im Sinnending wahrnehmbare Form erkannt werden kann, indem nämlich das vereinzelte Sinnending als vereinzeltes erfaßt wird. Diese Erfassung der "Gegrenztheit des einzelnen Gewußten" ist aber - und zwar als solche - bedingt durch den Vorgriff auf die Ungegrenztheit der Formen. Es ist eben diese im folgenden zu präzisierende Ungegrenztheit der Formen, die es nach Rahner legitimiert, den Vorgriff als "die Hinbewegung des Geistes auf das Ganze seiner möglichen Gegenstände"®** zu begreifen. Damit ist von einer anderen Richtung her derselbe Ausgangspunkt erreicht, den wir oben thetisch formulierten: Das Ganze der möglichen Gegenstände des Vorgriffs, so lautet die zu begründende These Rahners, kann nur dann zum "Gegenstand" des Vorgriffs, die oben angesprochene "Bestimmung" kann nur dann zur Funktion des Vorgriffs werden, wenn dieser auf das Sein zielt. Die Bedingung der Möglichkeit des Vorgriffs, selbst Bedingung der Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis zu sein, wird also von Rahner in anderer Weise aufgewiesen als von Kant, während die Funktion des Vorgriffs durchaus in derselben Weise begriffen wird. Dabei bleibt zunächst offen, ob nicht die Begründung der Funktion des Vorgriffs bei Rahner deren (Kantische) Einschränkung auf den erkenntnistheoretischen Bereich sprengt.
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c) Die Weite des Vorgriffs Bevor Rahner seine These vom "Sein" als dem "Worauf des Vorgriffs" zur begrifflichen Darstellung bringt, weist er alternative Zielrichtungen des Vorgriffs ab, indem er die im Vorgriff abstrahierte "Form " näher bestimmt. Beiden, der Form und dem suppositum (dem sinnlich gegebenen "Diesda") eignet Ungegrenztheit^: nur die der Form ist allerdings als "negative", die der Materie aber als "privative" zu kennzeichnen. Daraus ergibt sich, daß nur die Erkenntnis der Form Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Materie sein kann, und nicht umgekehrt. Der ungegrenzten Materie fehlt nämlich als formloser Materie "eine Vollkommenheit (Wirklichkeit, forma) . . . , auf die sie innerlich angelegt ist"^0 (ihre Ungegrenztheit ist als eine der Form "beraubte", "privative" zu kennzeichnen), während die ungegrenzte Form, der bloß "eine innere Gegrenztheit abgesprochen wird"71, "nicht über das 'Normale' unvollkommen (ist)" 7 ^. Dann ist aber das Erkennen der Ungegrenztheit der Materie, wenn anders der Gegenstand der Erkenntnis per definitionem nur "geformte(n) Wirklichkeit" 7 3 sein kann, nur "an der Wirklichkeit (und) . . . durch die Wirklichkeit" möglich, an der die Materie teilhat. Nur "von der forma her" kann somit "die privative Ungegrenztheit der materia als des bloß Möglichen, des Niehts" 7 ^ erkannt werden. In einem ersten Argumentationsschritt ist somit ausgeschlossen worden, daß die Materie selbst in irgendeiner Weise Bedingung der Möglichkeit ihrer Erkenntnis sein könnte: das Problem, daß die Form durch die Materie scheinbar begrenzt wird, indem die "an sich unbegrenzte Form gerade dieses Diesda wird" 7 5 , ist dadurch gelöst, daß die logische und ontologische Vorrangigkeit der Form gegenüber der Materie aufgezeigt wurde7®. Dies bedeutet für das Worauf des Vorgriffs: es ist nicht als nichtige Potentialität von Materie, sondern als freilich genauer zu bestimmende "formhafte Wirklichkeit" anzugeben 7 7 . Genauer heißt das: Sofern die "Form" eines Sinnendings begriffen werden soll, das zuerst in der affirmativen Synthesis als Gegen-stand "gegeben" ist, weiter die "Form" dieses Sinnendings dem "Prädikat" der affirmativen Synthesis entspricht, dieses aber wiederum "an sich, d . h . unabhängig vom Vollzug der affirmativen Synthesis" 7 **, feststeht, geht der Vorgriff auf "das Ansichsein überhaupt" 7 ^, Thomanisch ausgedrückt, auf das "esse". Rahner gelangt also zur Identifizierung des Worauf des Vorgriffs mit dem "Sein" über eine Analyse des Urteils: genauer wird das im Urteil konkretisierte Ansichsein ad rem als in einer vorgreifenden Abstraktion gründend erblickt. Damit ist das Zentrum der Rahnerschen Argumentation sichtbar geworden; zu ihrem besseren Verständnis soll zunächst kurz das Urteil in der Sicht Rahners charakterisiert werden, um von da her den Vorgriff auf das esse als Bedingung der Möglichkeit dieses Urteils verstehen zu können. Wir holen damit den bisher vorausgesetzten "Unterbau" von "Geist
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d ) Der Urteilsvollzug Das Urteil ist die Bedingung der Möglichkeit, nach dem Sein im Ganzen zu f r a g e n . Die Frage danach ist ja, zumindest gemäß Rahners A n s p r u c h , der einzige A u s g a n g s p u n k t , das einzige nicht h i n t e r f r a g b a r e Axiom der Anthropologie Rahners im allgemeinen und seiner Erkenntnistheorie in "Geist in Welt" im besonderen. In der Frage nach dem Sein im Ganzen setzt sich aber der Mensch als Fragender "in scharfer T r e n n u n g von allem ü b r i g e n , von Welt und von sich als d u r c h die Sinnlichkeit immer schon in ihr Seiendem ab. Er 'objektiviert' . . . Das andere . . . tritt nun in den Abstand vom E r k e n n e n d e n , es wird G e g e n - s t a n d " ^ . Das Urteil soll also, neben dem allgemeinen B e g r i f f , der freilich n u r als Urteil b e griffen werden k a n n , "die innere Möglichkeit jenes von der Welt Abstand gewinnenden Rückgangs des Erkennenden auf sich selber . . . begreifen"®^ u n t e r Berücksichtigung der Tatsache, daß der Mensch d u r c h seine Sinnlichkeit immer schon in unmittelbarer Identität mit der Welt i s t . Da hier die Erkenntnistheorie Rahners n u r soweit zu behandeln i s t , als sie f ü r den Gedanken des Vorgriffs erhellend i s t , müssen wir uns mit diesen Andeutungen begnügen: bereits sie d ü r f t e n deutlich gemacht hab e n , daß der Vorgriff als Bedingung der Möglichkeit des Urteils mittelbar auch die Seinsfrage ermöglicht, die wiederum das Menschsein des Menschen konstituiert. Wie ist nun der Urteilsvollzug selbst zu begreifen? Im Urteil wird das im Subjekt und im Prädikat "enthaltene Allgemeine mit demselben suppositum synthetisiert es handelt sich somit "um die Hinbeziehung von zwei Washeiten auf das gleiche Diesda"83. Für Rahner ist dabei die Einsicht wesentlich, daß im Urteil nicht zwei Formen miteinander v e r k n ü p f t werd e n , um dann einen sinnlichen Gegenstand zu benennen: vielmehr soll in der Hinbeziehung eines Allgemeinen auf das Diesda, das als "an sich seiendes Suppositum"84 zu charakterisieren i s t , das Urteil vollzogen werden. Auf der Ebene des Urteilens ist nun freilich nicht auszumachen, "was dieses 'Ansich' näherhin sei"®"', auf das sich das Urteil bezieht. Hier setzt das Vermögen des Vorgriffs a n , der ja einerseits das Urteil "unmittelbar" ermöglicht, da n u r durch ihn die im Urteil mit den Sinnendingen synthetisierten Formen "erkannt" werden können, andererseits wenn nämlich gezeigt werden k a n n , daß er das "Ansichsein" "in formaler Allgemeinheit . . . erfaßt"®® - die letzte und e r s t e Bedingung der Möglichkeit des Urteils und somit von gegenständlicher Welterkenntnis überhaupt darstellt.
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Bevor auf dieses letzte "Vermögen" einzugehen ist, soll, quasi "phänomenologisch", der mit dem "Ansich" gemeinte Sachverhalt präzisiert werden. Rahner spricht zunächst im Zusammenhang der complexio von einem "an sich seiendes(n) Suppositum", das "keiner weiteren Erklärung" bedarf® 7 . Wenig später wird freilich das Ansich als das charakterisiert, "was nicht dem psychischen Vorkommnis dieses Wissens (sc. des im Urteil vollzogenen Wissens um einen Gegenstand) als solchen sein Sein verdankt"®®. Das Ansich - und dies ist seine wesentliche Vor-Bestimmung vor seiner Identifizierung mit dem esse - soll also die prinzipielle Unabhängigkeit des Gegenstandes von seiner im Urteil sich vollziehenden Erkenntnis so geltend machen, daß diese gegenüber dem Gegenstand immer ein nachträglicher Akt ist. e) Der Vorgriff auf das Ansich als esse (1) Aus methodischen Gründen wollen wir noch einmal den Vollzug des Vorgriffs von seinem Worauf trennen: Inwiefern kann nach Rahner das Ansich selbst, bzw. das esse, als Antizipiertes charakterisiert werden? Es handelt sich also darum "zu zeigen, daß das esse selbst in einem Vorgriff 'abstrahiert' werden muß . Rahner versucht, den geforderten Aufweis dadurch zu erbringen, daß er den Vorgriff auf das esse mit dem auf die forma im Urteil parallelisiert. Wenn nämlich gezeigt werden kann, daß, ebenso wie die forma des Urteils sich auf viele concreta bezog, dem Ansich negative Ungegrenztheit eignet, dann muß es auch als Gegenstand eines Vorgriffs begriffen werden90. Hier wird noch einmal deutlich, wie Rahner den Vorgriff verstanden wissen will: Es wurde schon angedeutet, daß bei Rahner das "Vor" nicht zeitlich verstanden werden kann, es sich vielmehr um ein logisches "Aus"-greifen über eine Begrenzung hinaus handelt. Das "Vor" drückt somit nach Rahner die transzendentale Dimension des Vorgriffs aus, insofern er auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ziélt®1. Rahner sagt dies in negativer Weise so aus, daß "der Vorgriff, soll er nicht 'Griff' werden, nur vollzogen werden kann unter gleichzeitiger conversio auf eine bestimmte das esse einschränkende forma und in der conversio ad phantasma"®2. Diese, neben der oben z i t i e r t e n d i e einzige explizite Bestimmung des Vor-griffs in "Geist in Welt" 9 4 , bestätigt unsere Interpretation noch einmal: gegenüber dem "Griff" (den man näherhin als Begriff charakterisieren könnte, was Rahner vielleicht, um der Vermeidung von Assoziationen mit dem Hauptbegriff Hegeischen Denkens willen, nicht getan hat) zeichnet den Vollzug des Vorgriffs die Erkenntnis der Beschränkung einer forma bzw. der Phantasma aus. In der Tat ist dann der von Rahner mit dem Terminus "Vorgriff" belegte Sachverhalt treffender als "Obergriff" wiederzugeben; allerdings besagt die Präposition "vor" ja nicht nur ein zeitliches "früher als", sondern kann auch im räumlichen Sinne zur Angabe der Richtung verwendet werden: in dieser Hinsicht
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kann wohl am ehesten das "Vor" des Vorgriffs v e r s t a n d e n werden. Mit dem prägnanten (zeitlichen) Sinn, den Cohen und in gewisser Hinsicht auch Kant diesem Terminus beilegen, hat jedenfalls der von Heideggers Schüler Rahner geprägte "Vorgriff" nichts zu t u n . Neben diesem philosophie geschichtlichen Aspekt, der sich aus der spezifischen Verhältnisbestimmung von "Vorgriff" und Antizipiertem e r g a b , sofern die Rede vom Vorgriff ihre Legitimation d u r c h sein "Worauf" selbst e r f ä h r t , folgt aus diesem Sachverhalt die Einsicht in die innere Verschränktheit des Vollzugs des Vorgriffs mit dem Antizipierten selbst: Wenn sich nämlich der Vorgriff als solcher e r s t durch sein "Worauf" ausweisen läßt, sofern dieses jene Bestimmung leistet, wird deutlich, daß die Möglichkeit der Funktion des Vorgriffs auf der Ebene seines B e g r ü n dungszusammenhangs festzumachen i s t . Diese Ebene gilt es n u n zu präzisieren: Wie wird das "Worauf" bei Rahn e r bestimmt, um seine geschilderte Funktion wahrnehmen zu können o d e r , in Rahners Terminologie: Inwiefern eignet ihm negative Ungegrenztheit? (2) Das Ansich als "Worauf" des Vorgriffs ist nach Thomas (und dem schließt sich Rahner an) "immer das esse"® 5 . Insofern nämlich "Wahrheiten und Geltungen . . . von vorneherein immer wahr und geltend (sind) von der wirklichen Welt"96, "ergibt sich . . . kein G r u n d , das Ansich dieser wirklichen Gegenstands weit d u r c h ein prinzipiell von ihr unabhängig e s , ideales Ansich zu erweitern"®?. Rahner macht hier - freilich in Thomanischer Terminologie - den gewichtigsten Einwand gegen das "kritische" Denken Kants geltend: Wie können "diese 'an sich' seienden, d . h . von der realen Welt getrennten Geltungen . . . doch wieder das innere Gesetz der realen Welt . . . ( s e i n ) " ^ ? Diese Argumentation ist e r s t an s p ä t e r e r Stelle zu beurteilen - n u r darauf mag vorwegnehmend hingewiesen werden: Spätestens hier wird deutlich, daß Rahner das Herz und den Impetus der Kantischen Philosophie - die Kopernikanische Wende als "Kritik" nämlich - nicht nachvollzieht, gleichwohl aber ansonsten die transzendentale Analytik in der "Kritik der reinen V e r n u n f t " sich zu eigen m a c h t Z u g e s p i t z t könnte man sagen: Rahner ü b e r n i m m t ! ^ die "Kritik der reinen V e r n u n f t " , indem er die Distinktion zwischen Erschein u n g und Ding an sich zugunsten des Dings an sich einebnet. In der Identifizierung des Ansich mit dem esse d u r c h die Analyse des Urteils vollzieht also Rahner den entscheidenden, Kant diametral e n t g e gengesetzten Schritt: Das "Absolutsein" des Gegenstandes von seinem jeweiligen Gewußtwerden ist nicht eine bloße "Idee" ohne Realität, vielmehr ist das Ansich das jedem Urteilsvollzug vorgängige Sein des Gegenstandes. Darauf k a n n , wie gesagt, erst im Zusammenhang der k r i t i schen Würdigung dieser Gedanken eingegangen werden: zunächst muß gezeigt werden, wie das esse als "Worauf" des Vorgriffs zu charakterisieren ist; damit ist zugleich die Frage nach seiner möglichen Vorwegnahme gestellt.
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Wir sahen schon: "Der Vorgriff auf das esse muß sich in ähnlicher Weise erfassen lassen, wie sich der Vorgriff auf die forma als in sich negativ unbegrenzte z e i g t e " 1 0 1 . Diese Erkenntnis gründet darin, daß dieselbe Form von vielen Emzeldingen aussagbar ist. Analog dazu gilt f ü r das esse: "Das Ansichsein als esse läßt sich von vielen Einzelnen a u s s a g e n " 1 0 2 . Das e s s e , das im Urteil einem Gegenstand zugesprochen wird, ist "an sich weiter, allgemein und u n b e g r e n z t " 1 0 ^ : das "zeigt sich in der E r f a s s u n g des esse von vielem Selbigem "104, Zugleich erweist sich darin die Einheit des e s s e , nicht als leere Abstraktheit freilich, sondern als "Wirklichkeit der verschiedenen Washeiten", denn n u r ein d e r a r t "einiges" esse ist seiner "inneren Natur nach f ä h i g , Wirklichkeit der v e r schiedenen Washeiten zu s e i n " 1 0 ^ . Es wird deutlich, "daß esse nicht die leere Gleichgültigkeit eines bloßen Existierens meint . . . Denn diese Bestimmungen (sc. des jeweiligen Gegenstands) sind wirkliche und so bestimmende gerade d u r c h das esse"106. Das esse leistet aber nicht n u r eine logische Bestimmung von Washeiten und somit mittelbar von Gegens t ä n d e n , sondern eine ontologische: "Das esse ist gerade d a s , was die Washeit (forma) zur Wirklichkeit b r i n g t " 1 0 7 . So ist das esse nicht n u r "der innere tragende Grund aller der Bestimmungen, die möglicherweise diesem b e t r e f f e n d e n Seienden zukommen k ö n n e n S o n d e r n "es ist auch an sich die Fülle aller möglichen Bestimmungen schlechthin. Denn es ist in allen Urteilen auf dasselbe Ansichsein vorgegriffen" 1 0 ®. Damit ist der entscheidende Punkt in der Argumentation Rahners e r r e i c h t : Weil im Urteil· notwendig auf Sein vorgegriffen wird, deshalb muß das "Worauf" des Vorgriffs wirklich sein; d . h . , ihm darf nicht n u r d i e Fülle der Potentialität aller Realisierung eignen, sondern es ist selbst Realgrund aller Realisierung. Auffallenderweise spricht Rahner hier immer wieder vom esse als der "Fülle aller möglichen Bestimmungen" 1 1 0 , es ist "der einheitliche Grund der Bestimmungen . . . , der sie aus sich als seine h e r a u s s t e l l t , sie in sich zusammenhält und sie in sich selbst schon vorweggenommen h a t " 1 ^ . Würde man diese Aussagen aus ihrem Kontext lösen, so könnte man sie im Gegensatz zu dem oben gekennzeichneten Sachverhalt der Identifizierung von Ansichsein und esse darstellen und daraus folgern, daß Rahner letztlich doch Thomas im Sinne Kants i n t e r p r e t i e r t : die zu antizipierenden "Bestimmungen" entsprächen im Zuge dieser Interpretation den "Formen" der "Kritik der reinen V e r n u n f t " (die ihrerseits auch nach Kant, wie gleich zu zeigen i s t , bedingt sind d u r c h Gott als die "omnitudo realitatis", freilich als "transzendentales Ideal" v e r s t a n d e n ) , denen das sinnliche "Material" g e g e n ü b e r s t e h t . Diese Interpretation kann sich freilich n u r auf die in der Tat eigenartige Char a k t e r i s i e r u n g der Funktion des Antizipierten als "Bestimmung" b e r u f e n : wir sahen schon, daß hinsichtlich i h r e r Rahner mit Kant übereinstimmt. Und dennoch darf nach dem Duktus der Argumentation von "Geist in Welt" u n t e r "Bestimmen" nicht n u r ein logischer Akt des Erkennens eines Gegenstandes, sondern muß der ontologische Akt seiner Erzeugung
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verstanden werden. Dies wird deutlich, wenn wir uns an die Verhältnisbestimmung von forma und suppositum erinnern: es gibt gerade keine "Wirklichkeit" der zu "bestimmenden" Materie - eben "als des bloß Möglichen, des Nichts" 1 1 2 ! Die Materie ist "leere . . . Potentialität" 1 1 3 , wirklich wird sie erst durch die Form und so durch das esse: insofern wäre es präziser, wenn Rahner - analog zu der Aussage, daß das esse "die Washeit (forma) zur Wirklichkeit bringt" 1 1 ^ - , anstelle den Vollzug des Vorgriffs als Bestimmung zu qualifizieren, von einer "Erzeugung" oder "Verwirklichung" spräche. Freilich wird hier noch einmal eine Spannung deutlich, die in der folgenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Gedanken der Antizipation genauer zu untersuchen ist : Leistet Rahner tatsächlich eine Interpretation genuin Thomanischer Erkenntnislehre, oder entstehen nicht erhebliche Unebenheiten aus der versuchten Synthese eben jener Position mit der Philosophie von Kant bis Heidegger, die nach Rahners eigenen Worten zwar "keine ausdrückliche, eingehende" 11 ^ Interpretation erfährt, wohl aber "unausdrücklich" um so stärker zum Zuge kommt? Wir wollen deshalb gerade an diesem Punkte einhalten, weil uns Vollzug und Funktion des Vorgriffs und die inhaltliche Bestimmung seines "Worauf" bei Rahner hinlänglich geklärt erscheinen: die Applikation von letzterem auf den Gottesgedanken nimmt gegenüber seiner herausgearbeiteten logischen Struktur nur mehr den Stellenwert eines Paradigmas ein, auf ihn und die damit gegebenen Probleme mag deshalb erst später eingegangen werden. f) Der Vorgriff auf das "transzendentale Ideal" Die sich an die Darstellung des Vorgriffs bei Rahner anschließende kritische Würdigung im folgenden Abschnitt wird um das Problem der Rahnerschen Gleichsetzung von Sein und Erkennen kreisen, die auf dem Hintergrund der "kopernikanischen Tat" Kants kritisierbar wird. Gleichwohl kann das Rahnersche Denken in "Geist in Welt" auch als stringente Ausweitung des Kántischen Antizipationsbegriffs verstanden werden, sofern das - von Kant selbst für dié Verstandesebene als notwendige Bedingung erkannte - transzendentale Ideal bei Rahner das letzte "Worauf" des Vorgriffs bildet. Es ist somit bei Rahner strikt zu unterscheiden zwischen der unkantischen Prädizierung jenes Ideals als eines "Dings an sich", die aus der Interpretation des Urteilsvollzugs gewonnen wird, und der im kantischen Sinne interpretierbaren Ausweitung der Antizipation auf die omnitudo realitatis. Anders als Kant insistiert Rahner explizit darauf, daß eine Präzisierung des Vorgriffs insofern vorgenommen werden kann, als "er die Hinbewegung des Geistes auf das Ganze seiner möglichen Gegenstände ist"H6. Kant hatte zwar davon gesprochen, daß die Form einer möglichen Erfahrung antizipiert sei, und es wurde beiläufig darauf hingewiesen 1 ^, daß
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die transzendentale Deduktion der Kategorien u . a . die Gültigkeit der Kategorien f ü r alle Objekte aufweisen soll, so daß in der Tat jeder möglichen E r f a h r u n g vorgegriffen wird. Bei Kant hängt dieser Aufweis f r e i lich mit der Behauptung zusammen, daß Raum und Zeit "alles in sich einschließen, was unseren Sinnen n u r vorkommen kann" 11 **. Das heißt a b e r , daß die Ganzheit, auf die die Antizipation von geformter E r f a h r u n g zielt, nicht aus der S t r u k t u r der Antizipation selbst abgeleitet wird, sondern ihr als Universalität der Anschauungsformen, die ja bei Kant gerade nicht in ihrer antizipativen S t r u k t u r entwickelt werden* 1 ®, vorausliegt. Es ist wichtig zu sehen, daß bei Rahner die Ganzheit implizierende Funktion des Vorgriffs durch eine Reflexion auf dessen innere S t r u k t u r i e r t heit aufgewiesen wird. Näherhin kann dieser Aufweis als Explikation des - schon erwähnten - Sachverhalts der Deutung des "abstrahere" als antizipieren dargestellt werden. Sofern nämlich d u r c h den Vorgriff die Gegrenztheit der einzelnen konkretisierten Form begriffen wird, d . i . die "Zufälligkeit"120