Antike als Transformation: Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels 9783110499261, 9783110500660

The volume explores two essential terms to describe historical and cultural change: "transformation" and "

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German Pages 272 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Die Sterne Babylons
Panbabylonismus als Mythos der Kulturentwicklung
Disparate Topologien
Making the Truth with Images
Widerständigkeit vs. Deutungshoheit: die Transformation des metus hostilis
Politische Denker als Allelopoeten
Leerstellen des Bundes
Allelopoietische Wechselwirkungen bündischer Föderalität: Eine Erwiderung
Transformative Dynamik und Kontinuität
Erkenntnis- und Religionskritik bei Herbert von Cherbury
Mechanik in der Querelle des Anciens et des Modernes
Antike Mechanik im 16. Jahrhundert
Übersetzung als Allelopoiese: „um so abweichender […], je mühsamer sie nach Treue strebt“ (Humboldt)
Übersetzen als Konstruktion
Sach- und Begrifsverzeichnis
Personenverzeichnis
Tafelteil
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Antike als Transformation: Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels
 9783110499261, 9783110500660

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Antike als Transformation

Transformationen der Antike

| Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band 49

Antike als Transformation | Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels Herausgegeben von Johannes Helmrath, Eva Marlene Hausteiner und Ulf Jensen

Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.

ISBN 978-3-11-050066-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049926-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049806-6 ISSN 1864-5208

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Johannes Helmrath, Eva Marlene Hausteiner und Ulf Jensen Vorwort | 1 Michael Weichenhan Die Sterne Babylons – Leitfaden zur Konstruktion einer globalen Kultur am Anfang der zivilisierten Menschheit | 15 Gerd Graßhoff Panbabylonismus als Mythos der Kulturentwicklung | 39 Ulf Jensen und Marcus Becker Disparate Topologien. Zum Wechselspiel von Geschichtsbild und Filmszenographie in The Fall of the Roman Empire (1964) | 47 Rachel Esner Making the Truth with Images. Some Visual Context for The Fall of the Roman Empire | 71 Marco Walter Widerständigkeit vs. Deutungshoheit: die Transformation des metus hostilis | 81 Veith Selk Politische Denker als Allelopoeten. Allelopoiese in der politischen Ideengeschichte – das Beispiel des Feindtheorems | 95 Eva Marlene Hausteiner Leerstellen des Bundes: Über konföderale Ausblendungen in föderalen Denktraditionen | 109 Thomas O. Hueglin Allelopoietische Wechselwirkungen bündischer Föderalität: Eine Erwiderung | 127 Alexander Klaudies Transformative Dynamik und Kontinuität – Zum Theorem der notitiae communes in der Philosophie Herberts von Cherbury | 139

VI | Inhalt

Anne Eusterschulte Erkenntnis- und Religionskritik bei Herbert von Cherbury | 159 Christoph Lehner und Helge Wendt Mechanik in der Querelle des Anciens et des Modernes | 179 Joyce van Leeuwen Antike Mechanik im 16. Jahrhundert | 197 Josefine Kitzbichler Übersetzung als Allelopoiese: „um so abweichender […], je mühsamer sie nach Treue strebt“ (Humboldt). Ad fontes – Die Intention auf das Original | 209 Thomas Poiss Übersetzen als Konstruktion | 225 Sach-und Begriffsverzeichnis | 243 Personenverzeichnis | 245 Tafelteil | 247

Johannes Helmrath, Eva Marlene Hausteiner und Ulf Jensen

Einleitung I Dieser Band versammelt die Beiträge der Jahrestagung, die der SFB Transformationen der Antike im Dezember 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstaltet hat. Unter dem Titel: Allelopoiese – Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels war es das Ziel, das Konzept der Antiketransformation mit dem übergeordneten Prinzip der Allelopoiese, das im SFB interdisziplinär entwickelt worden ist, anhand konkreter Beispiele anzuwenden und es dabei zu prüfen, anzupassen, zu erweitern und auch seine Grenzen zu benennen. Nach fast einem Jahrzehnt Forschung und Theoriebildung in den vorangegangenen zwei Laufzeiten des SFB ging es nun um die Konsolidierung des Konzepts, nicht zuletzt mit dem Ziel, es über die Grenzen des Sonderforschungsbereichs hinaus noch attraktiver und verfügbarer zu machen. Von den Mitgliedern des SFB bereits verinnerlicht und in den verschiedensten Forschungsfeldern praktiziert, sollte das Theoriekonzept von Transformation und Allelopoiese daher auf dieser Tagung gerade dem externen Blick ausgesetzt und von Außenstehenden auf seine Plausibilität und Operationalisierbarkeit gleichsam getestet werden. Um dies auf sinnvolle Weise in Szene zu setzen, haben die an der Tagung beteiligten sieben Teilprojekte jeweils externe Gastwissenschaftler dazu eingeladen, auf der Basis ihrer fachlichen Vertrautheit mit den vorgestellten Themen die jeweiligen Konzeptionen nachzuvollziehen und im oratorischen Agon kritisch zu prüfen. Dabei ging es auch darum, über die Verallgemeinerbarkeit des Transformationskonzepts nachzudenken, das zwar in Auseinandersetzung mit der Antike, oder besser: konkurrierenden Antiken, entwickelt und geprüft worden war, das darüber hinaus aber Potenziale erkennen ließ, auch für allgemeinere Konzeptionen kulturellen Wandels tauglich zu sein, etwa, indem das diachron (nachantik) etablierte Transformationsmodell auch auf synchrone Austausch- und Transferprozesse zwischen nur räumlich entfernten Kulturen angewandt würde. Der Band spiegelt die agonale Struktur der Tagung: fachdisziplinäre Problemfelder mit prinzipiellen Fragen an das Transformationskonzept werden in paarig angelegten Vorträgen ausgefochten. Ein Forscher (bzw. ein Zweierteam) des SFB trat jeweils gegen einen geladenen Gast an. Dies versprach auch rhetorisch einigen Reiz. Die Referenten aus dem Kreis des SFB gehörten dabei ausnahmslos der jüngeren Generation der Projektmitarbeiter an. Für sie war das Rüstzeug des Transformationskonzepts bereits ein selbstverständliches Arbeitsinstrument, während sich die Gäste überwiegend neu darauf einstellen mussten. Und sie taten dies, skeptisch und lobend, aber in jedem Fall brillant. Die Beiträge repräsentieren zugleich die volle Bandbreite der Untersuchungsgegenstände und Disziplinen, in die sich die Kompetenzen des SFB aufgefächert haben. DOI 10.1515/9783110499261-001

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Sie spannt sich auf von der Astronomie der Babylonier auf der Seite der Referenzbereiche bis hin zum Antikfilm der 1960er Jahre auf der Seite der Aufnahmekulturen. Die Gäste kamen aus benachbarten Instituten und Universitäten in Berlin ebenso wie aus diversen europäischen und überseeischen Ländern. Dafür, dass sie unserer Einladung gefolgt sind und sich dafür mit dem Transformationskonzept kritisch auseinandergesetzt haben, sei ihnen vielmals gedankt. Sie haben zusammen mit den vielen engagierten Diskutanten der Tagung dazu beigetragen, dass für das Konzept ein ermutigender Mehrwert erwachsen ist. Zu Beginn der dritten Förderphase des SFB im Jahr 2013 hatte das bis dahin erarbeitete Transformationskonzept sich bereits als ein ergiebiges Instrument für die Neubefragung von Antike und den Formen ihrer späteren Aneignungen erwiesen und zu vielfältigen Forschungsergebnissen geführt.¹ Bereits 2011 hatte der SFB die theoretischen Voraussetzungen und analytischen Begrifflichkeiten des Konzepts in einem Band veröffentlicht. Er enthält zwei programmatische Beiträge und vier Fallstudien.² Hier ist nun einleitend zu fragen: Wie lauten die Kernthesen und -begriffe des Transformationskonzepts? Und was trägt der neu gebildete Begriff der Allelopoiese zum Verständnis von Antiketransformationen bei? Wir beginnen mit einer Skizze des Transformationskonzepts (II) und einer knappen wissenschaftsgeschichtlichen Verortung (III), um abschließend die sieben paarigen Plädoyers vorzustellen (IV).

II ‚Antike‘ ist nichts statisch Vorgefundenes, so lautet die Grundannahme, sie wird vielmehr in späteren Aneignungen immer wieder neu imaginiert und hervorgebracht. Darin besteht das maßvoll konstruktivistische Element des Konzepts. Es interessiert sich daher kaum dafür, wie die Antike „wirklich“ gewesen ist, sondern dafür, wie antike Artefakte, Texte, Begriffe etc. kreativ imaginiert³ und bearbeitet wurden, und wie damit „Antike“ immer neu hervorgebracht wurde. Die Kontroverse um die dennoch unleugbaren Faktizitäten und Widerständigkeiten antiker Objekte, Texte und Diskursformationen ist damit von vornherein gegeben und hat den SFB begleitet. Man muss sich dabei klar machen, dass der erst Ende des 18. Jahrhunderts manifeste Begriff einer kulturellen Entität „Antike“ zwar klassisch, sprich: griechisch1 Siehe die bisher ca. 45 Bände unserer SFB-Reihe „Transformationen der Antike“, http://www.sfbantike.de/index.php?id=467. Zahlreiche weitere Bände der Reihe sind in Vorbereitung und werden 2017/18 erscheinen. 2 Böhme/Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), darin programmatisch Böhme (2011) sowie Bergemann et al. (2011), gefolgt von vier Fallstudien aus verschiedenen Disziplinen von Eva Elm, Julia Weitbrecht, Georg Töpfer, Karsten Fischer und Philipp Brüllmann. 3 Zur hohen Bedeutung der Imagination für das Konzept siehe Brüllmann/Rombach/Wilde (Hg., 2014).

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römisch, dominiert war, dass sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts das Bild der Antike, auch disziplinär, pluralisierte und man auch von einer ägyptischen, hebräischen, babylonischen, persischen „Antike“, bzw. dann oft genug: Gegenantike ausgeht. Als Zeitgenossen ist uns wissenschaftlichen Transformationsbeobachtern illusionslos klar, dass der Antike in der globalisierten Wissenskultur schon längst kein vorbildhafter oder gar kanonischer Referenzstatus mehr zukommt, dass sie freilich dennoch im kollektiven Gedächtnis nach wie vor präsent und virulent ist. Das Konzept ‚Transformation der Antike‘ geht von der Differenz zwischen einem antiken Referenzbereich einerseits und einem nachantiken, beispielsweise mittelalterlichen, neuzeitlichen oder auch in der Gegenwart liegenden Aufnahmebereich andererseits aus. Es versucht, präzise die Veränderung zu beschreiben, der antike Artefakte, Texte, Begriffe und Diskursformationen im Prozess der Aneignung durch unterschiedliche Transformationsagenten ausgesetzt waren. Es geht also um die Beschreibung und Diagnose von Wandlungsprozessen, die zwischen dem gesetzten Referenz- und dem Aufnahmebereich beobachtet werden können. Um diese Prozesse in ihrer Funktionsweise verstehbar und vergleichbar zu machen, wurden in enger Verbindung mit der Forschungspraxis des SFB nach und nach eine Reihe von drei basalen Transformationsmodi und vierzehn Transformationstypen ermittelt. Dies geschah vornehmlich in der ersten und zweiten Förderphase. Die drei Modi der Transformation leisten gleichsam die Grundsortierung, wobei jeweils die Extrema angegeben sind: a) nach dem Modifikationsgrad von Inklusion/Exklusion antiker Referenzbereiche; b) nach dem Inkorporationsgrad (Grad der Veränderung) des Referenzbereichs, also zwischen Konservierung und Innovation; c) nach dem Evaluationsgrad (Geltungszuweisung): zwischen Identifikation und Distanzierung des Agenten.⁴ Die vierzehn Transformationstypen umfassen Appropriation, Assimilation, Disjunktion, Einkapselung, Fokussierung, Hybridisierung, Ignoranz, kreative Zerstörung, Montage, Negation, Rekonstruktion, Substitution, Übersetzung oder Umdeutung. Sie sind nur zum geringen Teil Neukreationen, sondern integrieren begrifflich sowohl die Methoden und Methodengeschichte der beteiligten Fächer ebenso – etwa den von Erwin Panofsky entliehenen, gerade für Transformationen der Antike im Mittelalter einschlägigen Typus der Disjunktion als auch die Spezifika der Untersuchungsgegenstände, die von Ideen, Texten, Bildern bis hin zu archäologischen Ausgrabungsstätten reichen. Als Ensemble ermöglichen sie eine sehr viel genauere Diagnose der jeweiligen Prozesse als bislang üblich. Obwohl die unterschiedlichen Typen auf den ersten Blick in ihrer Abstraktheit fast an eine Kategorientafel erinnern, ging es bei der Arbeit des SFB nie – und so auch nicht in diesem Band – um einen Schematismus oder um eine geschichtsphilosophische Extraktion von Gesetzen kulturellen Wandels. Daher wird auch vermieden, von einer Transformationstheorie im strengen Sinne zu reden, sondern der Konzeptcharakter

4 Böhme (2011) 24.

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bewahrt. Die Generierung und Anwendung der Transformationstypen im Sinne eines heuristischen Instrumentariums hat sich in der Forschungspraxis bewährt. Schon sehr bald stellte sich in der historischen Arbeit an den Projekten die erfreuliche Erfahrung ein, dass man mit diesem „Organon“ ebenso effektiv wie zeitgemäß arbeiten kann, dass es ein Arbeitsinstrument, nicht bloß einen gelegentlich pflichtschuldig anzitierten theoretischen Überbau bereitstellt. Die Typenbegriffe erlauben mehr als Etikettierung, sie erlauben Deutung, öffnen jedes Mal einen Problemhorizont. Sie bilden aber kein statisches Set, sondern stehen flexibler Modifikation offen, sei es durch Kreation neuer Begriffe, sei es durch Anpassung der bestehenden. So wird zum Beispiel deutlich, dass einige Typenbegriffe weniger trennscharf sind, bzw. sich stärker mit ähnlichen Begriffen überlappen als andere; insofern könnte die Anzahl durchaus reduziert werden.⁵ Ein Wandlungsprozess ist wiederum oft nicht bloß durch einen einzigen Typenbegriff diagnostizierbar, sondern durch Kumulierung mehrerer, durch Transformationsbündel. Wichtig sind die Agenten der Transformation und die sie leitenden Kräfte und Ideen: Personen, Institutionen, Schulen und andere soziale Gebilde – also nicht allein Akteure in einem engen autorschaftlichen Sinne –, die jene dynamis entfalten, die Wandlungen jeweils initiiert. Diese Dynamik, die intentional angestoßen sein kann, aber nicht muss, entfaltet sich jedoch stets in Auseinandersetzung mit Dingen, mit Relikten der Vergangenheit, die zunächst einmal hervorgebracht werden müssen, um dann durch ihr bloßes Dasein – oder auch durch ihr Fehlen – das Nachdenken über Geschichte immer wieder aufs Neue anzuregen. Viele dieser Gegenstände lassen sich als Objekte in die Transformationsprozesse einordnen, die lediglich als ‚Bestände‘ verwendet und neu kontextualisiert werden (etwa Spolien). Und doch eignet auch ihnen besagte dynamis, die sich einerseits negativ als ihre Widerständigkeit, andererseits positiv als die ihnen scheinbar inhärente agency beschreiben lässt: Nicht jedes Objekt der Transformation lässt sich nach Belieben der jeweiligen Agenten appropriieren, hybridisieren oder ignorieren; und dementsprechend ist der Akt der Transformation keine rein voluntaristische Konstruktion. Insbesondere an Gegenständen, die eine besonders große agency aufweisen, lassen sich ganze Transformationsketten beobachten, die von Aufnahme- zu Aufnahmekultur gleichsam diachron weitergereicht und zugleich angereichert werden, das heißt eine Vielzahl von Geltungsdiskursen und Deutungsgeschichten in sich vereinen. Insofern könnte man auch von einem Transformationsgeflecht (s. unten) sprechen. Die antiken Referenzobjekte liegen damit im Brennpunkt zweier polar entgegengesetzter theoretischer Grundeinstellungen, des Konstruktivismus auf der einen Seite, für den in seiner radikalsten Form Geschichte nicht mehr ist als die medialen Bedin-

5 Dies versucht in anregender Weise Töpfer (2011), 165–174, es bleiben die acht trennscharfen, z. T. aus anderen kontrahierten, Begriffe Appropriation, Idealisierung (neu eingeführt), Hybridisierung, Projektion (neu eingeführt), Inkapsulation, Negation, Inversion, Destruktion übrig.

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gungen ihrer Erzählung, und des geschichtsontologischen Ansatzes auf der anderen Seite, der genau diese Erkenntnisdynamiken ausklammert und von einem prästabilen historischen „Ding an sich“ ausgeht, das man, die richtige Methode vorausgesetzt, rekonstruieren kann. Mit diesen beiden idealtypisch konträren Sichtweisen ringt das Transformationskonzept in stets neuer Problematisierung und macht die Widersprüche damit für das operative Wissenschaftsgeschäft fruchtbar.⁶ Ist dieses differenzierte Organon für die Neubefragung von Antikeaneignungen schon ein beachtlicher Differenzierungsgewinn gegenüber dem recht allgemeinen und überdies in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen und Disziplinen angewendeten Oberbegriff der Transformation, so ist der innovative Kern des Konzepts das Prinzip der Allelopoiese. Der neologistisch aus griechisch állelos und poieín gebildete Begriff besagt zunächst nichts anderes als eine wechselseitige verändernde Hervorbringung, hier von etwas Antikem, sowohl in ihrem Referenz- wie auch in ihrem Aufnahmebereich. Diese reziproke, wechselseitige Hervorbringung, allelopoiesis, setzt die gegenseitige Bedingtheit von Referenz- und Aufnahmebereich in einem gemeinsamen Transformationshorizont voraus. Im Akt der Aneignung wird sowohl der Referenzbereich wie der Aufnahmebereich reziprok – aber meist nicht symmetrisch – verändert.⁷ Man muss sich also sozusagen an eine intellektuelle Pendelbewegung gewöhnen. Ein Beispiel: Der antike Kameo mit dem Bild des Augustus wird vom Künstler, möglicherweise in materieller Anpassung des Formats, durch seine Montage in das um 1000 entstandene Aachener Lotharkreuz, neu, christlich, kontextualisiert, der Christus des Kreuzes hingegen durch den Augustuskameo seinerseits in die Gegenwart des ottonischen Hofs hinein „verkaiserlicht“. Die Auswahl des Augustuskameos statt zahlloser anderer möglicher Artefakte repräsentiert anschaulich den für Transformationsakte grundsätzlichen Kontingenzfaktor.⁸ Transformation unterscheidet sich hierin dezidiert von mehr oder weniger monodirektionaler bzw., wie in der Konstanzer Schule, allzu einseitig leserbezogenen Rezeption – und macht so entscheidende Effekte kulturellen Wandels erst sichtbar. ‚Die Antike‘ existiert in diesem Verständnis nur in Bezug auf eine andere Entität im hergestellten gemeinsamen Horizont, nämlich für den Aufnahmebereich, für den sie gewisse, ganz unterschiedliche ideale, ästhetische, politische, legitimatorische etc. Funktionen erfüllt. Je nach Kenntnis oder Ignoranz haben diese Eigenschaften gemeinsam, für antik gehalten zu werden. So kann – um bei Beispielen in diesem Band zu bleiben – sinnvoll nur noch von einem Wilhelminischen Babylon oder dem Prinzipat im Lichte des britischen Empire gesprochen werden; von der römischen Antike, wie sie sich im farbigen Film der 1960er Jahre darstellt; von altgriechischen Theoremen wie dem metus hostilis, die im Lichte politischer Debatten der Gegenwart Gestalt anneh6 Böhme (2011). 7 Zu den Paradoxien des Allelopoiesekonzepts anhand politologischer Beispiele: Fischer (2011). 8 Zur Bedeutung der Kontingenz für das Transformationskonzept siehe Böhme/Röcke/Stephan (2016).

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men; von aristotelischen Lehren, die im Christentum eingemeindet und kanonisiert wurden; von antiken naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die (erst) in der Neuzeit überholt, und von antiken Texten, die jeweils in Übersetzungen immer wieder aufs Neue appropriiert und damit aktualisiert werden. Erst in dieser Paarung wird der Referenzbereich zur Antike, und erst in der strengen Ausdifferenzierung der Agenten, Modi und Typen der Transformation sowie in der Fokussierung des jeweiligen Referenz- und Aufnahmebereichs läutern sich die Bedingungen damaligen Wissens von einer Antike. Das Verständnis der Wechselseitigkeit rückt dabei auch eine bislang nur am Rande beachtete Größe von Transformationsagenten in den Vordergrund: nämlich die Medien der Geschichtskonstruktion, Texte, Diskurse, Bildwerke, welche die Form des jeweiligen Referenzbereiches maßgeblich mitbestimmen, auswählen und daher transformieren. Handelt es sich um Ideen, die immerhin in Schriftform überliefert worden sein müssen, um dann etwa in die Performativität einer politischen Rede eingebunden werden zu können; handelt es sich um Texte, die kompiliert, kopiert, gedruckt, digitalisiert wurden; handelt es sich um Bildwerke, die entdeckt oder ausgegraben, transportiert, ergänzt, ins Museum gestellt werden müssen; oder haben wir es mit einer gezeichneten oder gar gefilmten Antike zu tun, in der sie virtuell hervorgebracht wird? Das allelopoietisch zentrierte Transformationskonzept, das dergestalt gerade für Effekte der Medialität und Akteursdynamik sensibel ist, soll somit Phänomene kulturellen Wandels nicht abschließend beschreiben – sondern auf jene entscheidenden Fragen vorausweisen, die zum Verständnis und vor allem zur subtileren, bislang unterkomplex praktizierten Differenzierung substanzieller Varianten der Transformation beitragen können. Die letzte Kategorie, die das Konzept berücksichtigt, ist diejenige des Beobachters. Damit ist der distanzierte Blick des Wissenschaftlers, des Transformationsforschers selbst gemeint, der freilich dabei unweigerlich selbst zu einem Glied der Transformationskette wird, ein Vorgang, den er nur bedingt reflektieren kann. Bei Referenzobjekten, die selbst Akteure der modernen Verwissenschaftlichung von Antike sind, etwa Theodor Mommsen als Verfasser der Römischen Staatsrechts, wird das Problem noch komplexer. Gerade anhand der Debatten, die im vorliegenden Band ausgefochten werden, sind mehrere dieser neuralgischen Problemstellungen offensichtlich geworden – und zwar in Bezug auf die Transformation antiken Wissens und darüber hinaus. Zuerst stellt sich die (noch direkt aus der Beobachtung des Nachlebens der Antike erwachsende) Frage nach dem Referenzbereich: Wie und mit welcher Begründung lässt sich dieser plausibel eingrenzen, wie also nachantike Aufnahme von antiker Referenz angesichts unklarer Epochenschwellen, Begrifflichkeiten und Akteursansprüche unterscheiden? Noch stößt die Zweigliedrigkeit des Konzeptes der Allelopoiese auf Schwierigkeiten, wenn sich die Transformation in einer Grauzone zwischen Referenz und Aufnahme vollzieht – und etwa Agenten für sich in Anspruch nehmen,

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selbst noch innerhalb eines normativ hoch angesetzten antiken Referenzrahmens zu handeln. Hieraus ergibt sich zweitens das Problem der verführerischen Metaphorik des bislang erarbeiteten transformationsanalytischen Organons: Lässt sich kultureller Wandel tatsächlich immer so sinnvoll als eine diachrone Abfolge wechselseitiger Beeinflussungen beschreiben, wie es das Bild der Transformationskette suggeriert? Kontert Alexander Klaudies im Folgenden mit der flexibleren, aber auch schwieriger in ein Analysewerkzeug operationalisierbaren Metapher des „Transformationsgeflechtes“, so lenkt Eva Hausteiner den Blick auf mögliche Phänomene einer synchronen, vorgängigen Transformation: Wie nämlich fügt sich der Wandel und die wechselseitige Beeinflussung unterschiedlicher Wissensbestände innerhalb des Referenzrahmens in das Transformationskonzept ein? Drittens bedarf das Problem der Vielschichtigkeit von Transformationsprozessen, also die Fülle an Grenzfällen der Transformationstypen, weiterer Klärung: Wenn es sich etwa beim Typus „Ignoranz“ als Verschweigen der transformativen Anverwandlung um eine eigenständige Transformationsleistung handelt, wie lässt diese sich identifizieren – wie ist also der Nachweis des strategischen Ausblendens und vorgeblichen Nichtwissens methodisch zu erbringen? Dies betrifft schließlich auch die bewusste Transformationsverweigerung – das von Thomas Poiss so bezeichnete „Verstummen“: Ist selbst dieses ein Modus des Transformierens, und ist also jeder vorhandene oder fehlende Umgang mit vergangenem Wissen Transformation – zumindest ab dem Moment des Wissenskontaktes? Bzw. anders gefragt: ist jeder Transformationsprozess auch allelopoietisch? Auch wenn der theoretische Anspruch hoch scheint, ist nüchtern zu betonen, dass vier Fünftel des transformationstheoretischen Arbeitens in ‚traditioneller‘ solider historischer und philologischer Arbeit besteht.

III Der SFB ‚Transformationen der Antike‘ hat nicht das Rad neu erfunden, sein Konzept ging von bestehenden Modellen und Begriffen aus. Von Anfang an wurde das Konzept selbstkritisch reflektiert und, soweit das möglich ist, historisch eingeordnet. Die „Wurzeln“ und „Einflüsse“ sind freilich nicht retrospektiv gleichsam chemisch in ihre Basiselemente auflösbar. Der wissenschaftshistorischen Autoanalyse sind ohnehin Grenzen gesetzt. Bei einer unverkennbaren kulturwissenschaftlichen Ausrichtung macht es doch den Reiz eines solche Forschungsverbunds aus, dass unter dem gemeinsamen Dach viele disziplinäre und methodische Wohnungen sind. Wesentliche Bedeutung hatte die Kunstgeschichte: Unstrittig ist die Langzeitwirkung Aby Warburgs und seines Kreises, das Projekt des „Mnemosyne-Atlas“ etc., sind in der Warburgtradition stehende

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Forscher wie Erwin Panofsky und Salvatore Settis. Die Warburg-Renaissance seit den siebziger Jahren hat ihrerseits ein wachsendes Interesse an Antikerezeption über die Kunstgeschichte hinaus bewirkt. Dieses Interesse beflügelte den SFB, der dabei ein deutliches Theoriedefizit erkannte, einen Bedarf, der durch den gleichzeitig aufgekommenen ‚material turn‘ und sein Pochen auf elementarer ‚Widerständigkeit‘ der Antike, vor allem ihrer Artefakte und Bilder diskursiv verstärkt wurde. Naheliegenderweise gingen Impulse von der Literaturtheorie aus: neben Ernst Robert Curtius, der sein Werk ‚Europäische Literatur und lateinisches Mittelalters‘ u. a. Aby Warburg widmete, war zum einen die jüngere Rezeptionsforschung (der Kreis ‚Poetik und Hermeneutik‘, die Freiburger Schule mit Wolfgang Iser und Robert Jauss) wichtig, wenngleich das Transformationskonzept mit seinem allelopoietischen Ansatz die stark leserzentrierte Rezeptionstheorie ablehnt und zugleich überschreitet. Zum anderen wurden Konzepte der Intertextualität (Kristeva, Genette und andere) geprüft; hieraus stammen etwa die Begriffe Adaptation, Assimilation und Appropriation, die zum Teil übernommen wurden und innerhalb des Transformationskonzepts unterschiedliche Grade der Veränderung des Referenzbereichs skalieren. Transformation ist immer auch ein Akt der Übersetzung im weiten Sinne.⁹ Basal war daher die Übersetzungstheorie und ihre lange Tradition. Die Übersetzung einer Ausgangssprache (Griechisch, Latein) in eine Zielsprache (Deutsch) ist die wohl vertrauteste Form von Transformation. Gelernt hat man auch von der Politologie und ihrer spezifischen Transformationstheorie:¹⁰ es ging damals um die – mittlerweile freilich in Frage stehende – Umwandlung der Staaten und Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks von sozialistischen in demokratische. Methodisch fruchtbar war hier z. B. die Differenzierung in eine Mikro-, eine Meso- und eine Makroebene der Untersuchung. Der gravierendste Unterschied zwischen diesem Modell und den ‚Transformationen der Antike‘ besteht vor allem in deren latent teleologischem Ansatz: die Gesellschaften durchlaufen, holzschnittartig gesprochen, einen unidirektionalen Prozess, in dem kaum nach Reziprozität, nämlich nach Rückkopplungseffekten auf die Referenzkultur (in diesem Fall: die westlichen Demokratien) gefragt wird. Dazu kam die Auseinandersetzung mit gängigen Modellen des Kulturtransfers, der ‚histoire croisée‘, ‚entangled history‘, der Globalisierung etc. Zuletzt wurde der SFB gewahr, dass ganz unabhängig der Berliner Philosoph Christoph Asmuth beim Thema Platonrezeption im deutschen Idealismus ein der Allelopoiese sehr nahestehendes Modell entwickelt hatte, von dem die ‚Transformationen‘ wiederum lernen konnten. ¹¹

9 Siehe den Band zur ersten Jahrestagung des SFB, zugleich der erste, auch programmatische, Band der Reihe ‚Transformationen der Antike‘: Böhme/Rapp/Rösler (2007). 10 Böhme (2011), 26–31. 11 Asmuth (2006).

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IV Hier setzen die sieben paarigen Streitvorträge ein, die kurz eingeführt seien: Dass nicht jedes Vortragspaar ganz symmetrisch komponiert ist, versteht sich von selbst. 1. Michael Weichenhan charakterisiert in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung den sogenannten Panbabylonismus in der Zeit zwischen 1900 und 1930. Während die Babylon-Imagination bis in das 19. Jahrhundert hinein weitgehend von alttestamentlichen Textstellen und von Bildfindungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit geprägt gewesen war und die Stadt Babylon als negatives Gegenbild der jüdisch-christlichen Kultur gedient hatte, wurde die babylonische Kultur um 1900 einer radikalen Umwertung unterzogen: Akteure aus der Altorientalistik bauten die Babylonische Antike als Trägerin früher arkaner Wissenschaft zu einer Referenzkultur für aktuelle Bestrebungen aus. Babylon wurde zum „fernen Spiegelbild“ des Zweiten Deutschen Reiches als Großmacht mit wissenschaftlichem Know-How und seiner Hauptstadt Berlin. Hauptachse dieser kurzen und daher um so deutlicher herauszuarbeitenden allelopoietischen Beziehung ist die altbabylonische Astronomie. Gerd Graßhoff (HU Berlin), der Kontrahent, erweitert den wissenschaftshistorischen Kontext des von Weichenhan umrissenen Panbabylonismus, dessen Hauptakteure sogar in ausgesprochenen Gegenmilieus zur Wilhelminischen Kultur, bei den Jesuiten und in England, gewirkt haben. Durch diese Korrekturen weist Graßhoff implizit darauf hin, wie differenziert die Akteure von Antikentransformation zu betrachten sind und wie sehr nicht nur antikes Wissen, sondern auch synchrones, modernes Wissen über Antike zugunsten von unterschiedlichen Interessenlagen ignoriert, zugespitzt, vereinfacht und gewichtet wird. Gerade die Wissenschaftsgeschichte sei geradezu allelopoietisch veranlagt, weil „für die erarbeiteten historischen Befunde moderne Forschungsinteressen und Sachkenntnisse erkenntnisleitend und somit selektiv sind“, das also die historischen Wissenschaften selbst einer der wichtigsten oder beinahe idealtypischen Akteure von wechselseitigen Wandlungen und Konstruktionen von vergangener und gegenwärtiger Kultur sind. 2. Der gemeinsame kunsthistorische Beitrag von Ulf Jensen und Marcus Becker sowie Rachel Esner (London) als Respondentin stellt die Frage nach den Medien der Allelopoiese, zu denen auch Bilder und in diesem Fall die Filmbilder der Antikfilme gehören. Am Beispiel des Films The Fall of the Roman Empire aus dem Jahr 1964 zeigen Jensen und Becker zunächst, wie unterschiedlich die bildlichen Antikekonzeptionen selbst in einem einzelnen Film sind. So findet die Szenographie der klassischen Antike am Schauplatz des römischen Forums eine vollplastische Bildlösung, während der Osten des Reiches zum „moving panorama“ peripheriert wird. Die Autoren stellen heraus, dass nicht nur die zeitgenössischen Bild- und Blickkulturen etwa mit den Bildwelten des Tourismus in die filmische Antikekonzeption eingebracht werden, sondern dass das kinematographische Dispositiv selbst hier das Erbe jener zentralperspektivisch rekonstruierten Architekturen aus der Hochphase des Historismus antritt,

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von dem die Methodik der Geschichtswissenschaft längst Abstand genommen hatte. Die Antikfilmszenographie erweist sich somit als ein für das 20. Jahrhundert bildgewaltiger Ordnungsrahmen für das Wissen um Antike, auch wenn dieser aus dramaturgischen Zwecken im Einzelnen gedehnt und gestreckt wird. Die Kunsthistorikerin Rachel Esner (Amsterdam) führt in ihrer Respondenz das Argument noch weiter in die „Vorgeschichte“ des Kinos zurück, indem sie nachweist, dass die Historienmalerei der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl im Antik- als auch im Orientalismussujet die Kamera-Affinität des Antikfilms bereits vorweggenommen hat. So hatte sich in der malerischen Rekonstruktion der Antike nicht nur der zentralperspektivische Bildraum als Realitätseffekt durchgesetzt, sondern die Maler orientierten sich für diesen Zweck ihrerseits auch wieder an fotografischen Vorlagen. Die drei Autoren deuten die Moderne im Bereich des Bildes als kameraästhetische Aufnahmekultur, in der Abbilder antiker Fragmente im Sinne der Filmdramaturgie und des filmischen und, diesen beerbend, des malerischen Bildaufbaus angeordnet und vervollständigt werden. 3. Mit Dynamiken der Ideengeschichte und Ideenpolitik setzen sich zwei Beitragspaare aus dem Bereich der Politischen Theorie auseinander. Zunächst geht Marco Walter auf eine politiktheoretische Spurensuche, indem er das rhetorische Motiv der einenden Kraft eines äußeren Feindes (den metus hostilis) bis in das antike Denken zurückverfolgt. Walter identifiziert dieses „Feindtheorem“ bereits in der antiken griechischen Geschichtsschreibung zur persischen Bedrohung Athens: Seit der Blütezeit der griechischen Poleis wirkte diese „langfristig prägende Großerzählung“ von der Notwendigkeit der Feindschaft für das Bestehen der Republik etwa in den Schriften Sallusts einflussreich fort. Ignoriert wurden, so Walter, die Wurzeln des Theorems aber trotz seiner Wirkmächtigkeit: Indem man Gegennarrative ins Feld führte oder die antike Herkunft schlicht unterschlug, wurden die transformatorischen Ursprünge und damit die Historizität des Theorems verschleiert. Genau bei dieser Historisierung und variantenreichen Kontextualität des „Feindtheorems“ setzt der Politologe Veith Selk (Hamburg) in seiner Gegenrede an: Die von Walter postulierte Existenz eines kohärenten Theorems sei zweifelhaft, wie ein genauerer Blick auf konkrete nachantike Theoretisierungen politischer Feindschaft zeige. Da diese Theoretisierungen stets kontextuell verwurzelt seien – etwa bei Augustinus, Spinoza und Adam Ferguson – sei die mannigfaltige und allelopoietische Transformation von Überlegungen zu FreundFeind-Beziehungen eben kein Fall eines reproduzierten (oder ignorierten) Theorems. Kann das Transformationskonzept für Walter also auch den transhistorischen Transport von Ideenclustern und Argumentationen in seiner Konstanz umgreifen, versucht Selk zu zeigen, dass Transformation im Gegenteil substantiell Brüche erzeugend in diese Cluster eingreift – und eben so massiv allelopoietisch wirkt. 4. Eine zweite politiktheoretische Debatte verfolgt das Motiv des politischen Bundes. Hier fragt Eva Marlene Hausteiner nach den umkämpften Bedeutungen im semantischen Feld der Föderalität: Was wurde unter welchen Bedingungen als föderal begriffen, und welche Rolle spielt antikes Praxiswissen in seiner transformierten Form in diesem Zusammenhang? Hausteiner identifiziert hier eine „Leerstelle des Bundes“:

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Seit begriffspolitischen Interventionen des späten 18. Jahrhunderts spielten antike Formen des Föderalen, etwa die griechischen Städtebünde, keine maßgebliche Rolle im politischen Denken; sie werden vielmehr transformatorisch zugunsten des modernen Bundesstaates nach US-amerikanischem Vorbild ignoriert und somit allelopoietisch aus dem antiken Wissensbestand eliminiert. Dieser Effekt war aber nur möglich, so Hausteiner, durch einen weiteren Vorgang synchroner Transformation: Bereits innerantik wurde das bündische Praxiswissen nicht politiktheoretisch übersetzt – eine Schwachstelle für die nachantike Transformation mit weitreichenden politischen Folgen. Die Replik des Politologen Thomas Hueglins (Waterloo, Ontario) zielt auf Hausteiners Föderalismusbegriff ab: Ist die antike Bundpraxis tatsächlich in Zusammenhang zu bringen mit einem „konföderal erweiterten Föderalismusbegriff“, oder fordert die Autorin hier eine zu ambitionierte transformatorische Inklusion von nicht anschlussfähigem antiken Wissen? Und ist die „Ignoranz“ antiker Bundphänomene wirklich umfassend, oder stellt die föderale Theorie zur Entstehung des Deutschen Reiches von 1871 nicht gerade einen Versuch dar, konföderale Ansätze zu propagieren? Hueglin relativiert Hausteiners Diagnose der Ausblendung, bezweifelt aber auch grundsätzlich die Anschlussfähigkeit antiker Bundmodelle – und plädiert für eine vorsichtige Anverwandlung. 5. Alexander Klaudies bietet einen transformationstheoretischen Einblick in den Wandel der Überlegungen zu Allgemeinbegriffen – einem der Bildung vorläufigen, allen Menschen gemeinsamen Wissen über Grundlagen der erlebbaren Welt, „auf dessen Basis Erkenntnis überhaupt erst möglich ist. Platons Menon-Paradox und Ciceros Begriff der notitia insita bilden als Wegmarken des antiken Referenzbereiches den Ausgangspunkt für ein veritables „Transformationsgeflecht“, das sich aufgrund seiner Komplexität nicht als lineare „Transformationskette“ fassen lässt. Im frühneuzeitlichen Aufnahmebereich findet sich eine Variante des „Theorems“ in der Form einer theologischen Ideenlehre Melanchthons, aber gerade Herbert von Cherbury bietet eine besonders subtile Transformation, indem er eine transzendenterkenntnistheoretische Deutung der Überlegung von den Allgemeinbegriffen vorstellt und dabei sowohl antike wie auch nach-antike Versatzstücke innovativ kombiniert. Die Allelopoiese vollzieht sich hier als selektive Transformation einzelner Elemente, aus der sich ein erheblicher Interpretationsspielraum eröffnet. Auf die Intervention Cherburys hebt auch die Philosophin Anne Eusterschulte (FU Berlin) in ihrer Replik ab: Dessen transformatorisch geschickter, vernunftreligiöser Ansatz sei nicht nur epistemologisch, sondern auch praktisch von beträchtlicher Tragweite, indem er eine „universale Instanz sittlicher Vernünftigkeit“ postuliert. Cherburys Interpretation der notitiae communes zu einem konsensfähigen Wahrheitsbegriff erweist, so Eusterschulte, die Bandbreite der Transformationsvarianten: Es wandele sich nämlich nicht allein ein Motiv oder Begriff, sondern tatsächlich ein umfassender Problemkomplex, bzw. eine Fragestellung, an der sich sowohl antike als auch neuzeitliche Agenten abarbeiteten.

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6. Der gemeinsame Beitrag von Christoph Lehner und Helge Wendt richtet sich auf einen neuralgischen Punkt der Geschichte der Naturwissenschaften in der Hochzeit der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘: als letzter Denker der naturwissenschaftlichen Theorie sieht sich Isaac Newton in seiner Mechanik noch in continuatio zum antiken Wissen; nach ihm wird mit der Durchsetzung der analytischen Methode die Rhetorik von einer Überlegenheit antiken Wissens obsolet. Allelopoietisch ist dabei Newtons Umgang mit den antiken Wissensbeständen, wenn er sich beispielsweise als deren Wiederentdecker bezeichnete. Die antike Methodik schätzte er vor allem aufgrund ihrer Anschaulichkeit und zog sie der „Obskurität und Langwierigkeit moderner analytischer Methoden“ vor. Das Beispiel Newtons leitet an die Grenze des Transformationskonzepts der Antiken, weil bereits dessen zeitgenössischen Rezipienten den Bruch mit der Antike als Autorität und damit als Referenzbereich für die Naturwissenschaft beschreiben: in der Folge kommt ein wichtiger Wissensbereich gänzlich ohne Antikebezug aus. Joyce Van Leeuven (MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin) bestätigt diesen Befund in ihrer Replik an einem weiteren Beispiel: ein antiker Text zur Mechanik wird in der Frühen Neuzeit übersetzt und verleiht somit einer weitestgehend auf Praxis ausgerichteten Lehre der Mechanik einen theoretisch-autoritativen Hintergrund. Damit prägt der pseudoaristotelische Text die Wissenschaftskultur des Aufnahmebereichs. Da es sich auch hier um einen lückenhaft überlieferten Text handelt, sind die Akteure der Transformation neben der Übersetzung vor allem im Bereich der Visualisierungen in Diagrammen kreativ geworden. Dieser Rekonstruktionsprozes passt nun in der Gegenrichtung das antike Wissen unweigerlich dem gegenwärtigen an, wodurch sich natürlich auch letzteres verändert: ein deutliches Beispiel für Allelopoiese. 7. Ist eine Übersetzung dann besonders gelungen, wenn sie sich vom Ausgangstext besonders weit entfernt? Diese Frage bildet den Ausgangspunkt der finalen und ausnahmsweise SFB-internen Debatte zwischen Josefine Kitzbichler und Thomas Poiss: Ist das Übersetzen eine „Abbild-“ oder „Transfertechnik“? Die bereits von Horaz propagierte fides der getreuen Übersetzung verfolgt Kitzbichler über die Phase der „Erfindung des Originals“ im 18. Jahrhundert weiter, durch die das Übersetzen einerseits überhöht, andererseits aber – zumindest gemäß dem Ideal der Treue – verunmöglicht wird. Beispielhaft für die transformierte Konzeptionalisierung der Differenz zwischen Original und Übersetzung sind zwei frühe Übersetzungen des 18. Jahrhunderts von Sophokles’ Ödipus ins Deutsche. Hier wird die temporale Gleichzeitigkeit zweier radikal unterschiedlicher Stationen in der Transformation des Übersetzungsideals evident: Orientiert sich die eine Übersetzung konsequent an Maßstäben der eigenen Gegenwart, so fokussiert die andere ihre Kräfte auf die „Richtigkeit“ des griechischen Originals – mit tiefen allelopoietischen Eingriffen. Gerade im Bereich der Übersetzung ist das Konzept der Allelopoiese aufschlussreich, so Kitzbichler – macht sie doch sichtbar, dass die normative Anbindung an den Ausgangstext im Kern gerade auf der wechselseitigen Konstruktion beider Gegenstände beruht. Thomas Poiss hingegen, genüsslich den advocatus diaboli spielend, bezweifelt, dass die Rolle des

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Übersetzers als konstruierender und innovativer Agent tatsächlich so überhöht sei, wie dies Kitzbichler andeutet, und demonstriert dies anhand einer Debatte prominenter Berliner Philologen im 19. und 20. Jahrhundert. „Man soll nicht übersetzen“ – Moritz Haupts Maxime der Transformationsverweigerung – des Transformationsmodus des „Verstummens“, so Poiss – habe beträchtliche Beharrungskräfte entfaltet. Ungeachtet der ambitionierten Übersetzungsbemühungen eines Wilamowitz sei in der Übersetzungstheorie wie -praxis der „semantische Abgrund zwischen den Sprachen, Kulturen und Zeiten“ über lange Phasen und bis heute aufrecht erhalten geblieben. Aus diesem Wettstreit der Argumente ergibt sich einerseits ein – im besten Sinne – verkomplizierender Blick auf die Dynamiken der Transformation: Kultureller Wandel zwischen antiken und nachantiken Wissensbeständen ist nicht nur um ein Vielfaches komplexer als einfache Rezeptionsschemata dies nahelegen.¹² Freilich sollte auch das Transformationsmodell mit seinem Typenkatalog, richtig angewandt, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Dimensionen der Diachronizität, der Selektion verwandelter Wissenselemente und vor allem der reziproken Allelopoiese einen nahezu unendlichen Raum möglicher Transformationskonstellationen eröffnen. Dennoch liegt, wie der vorliegende Band ebenfalls zeigen soll, die eigentliche Leistung des Konzeptes genau in einer wohlbegründeten Komplexitätsreduktion: Weder sind die Dynamiken kulturellen Wandels beliebig, noch entziehen sie sich dem verstehenden Vergleich. Dies gilt für Transformationen der Antike, aber – und auch dies deutet dieses Buch an – auch für kulturellen Wandel weit jenseits klassisch antiker Ursprünge.¹³

Literatur Asmuth, Christoph, Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Schopenhauer und das Legitimationsproblem der Philosophiegeschichte, Göttingen 2006. Böhme, Hartmut/Rapp, Christof/Rösler, Wolfgang, Übersetzung und Transformation (Transformationen der Antike 1), Berlin/New York 2007. Böhme, Hartmut, „Einladung zur Transformation. Was ist Transformation?“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. von Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Töpfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, München 2011, 7– 38.

12 Dazu siehe demnächst den von Patrick Baker, Johannes Helmrath und Craig Kallendorf herausgegebenen Band mit dem Titel ‚Beyond Reception‘ zu der vom Projekt A4 ‚Historiographie des Humanismus‘ mit dem SFB 644 im März 2015 veranstalteten gleichnamigen Tagung internationaler Renaissanceforscher an der HU Berlin. 13 Dieser interkulturelle Ausgriff, der analog zu europäischen auch nach ‚Antiken‘ in außereuropäischen Kulturen (China, Alt- und Lateinamerika etc.) fragt, wurde in der Abschlusstagung des SFB 644 im Juni 2016 unter dem Thema ‚Antike ohne Ende?‘ erprobt. Der Tagungsband erscheint Ende 2017.

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Böhme, Hartmut/Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/Schirrmeister, Albert/Töpfer, Georg/Walter, Marco/Weitbrecht, Julia (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011. Böhme, Hartmut/Röcke, Werner/Stephan, Ulrike C. A. (Hg.), Contingentia. Transformationen des Zufalls (Transformationen der Antike 38), Berlin/Boston 2016. Brüllmann, Philipp/Rombach, Ursula/Wilde, Cornelia (Hg.), Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen (Transformationen der Antike 31), Berlin 2014. Fischer, Karsten, „Das allelopoietische Paradox. Ein transformationstheoretischer Versuch anhand des politischen Dekadenzdiskurses“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. von Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Töpfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, München 2011, 183–201. Töpfer, Georg, „Transformationen des Lebensbegriffs. Vom antiken Seelen- zum neuzeitlichen Organismuskonzept“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. von Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Töpfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, München 2011, 137–182.

Michael Weichenhan

Die Sterne Babylons Leitfaden zur Konstruktion einer globalen Kultur am Anfang der zivilisierten Menschheit

1 Einleitung Die Babylonier sind das erste Volk in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, das eine geschlossene Weltanschauung schuf und von einem Mittelpunkt aus bestrebt war, alle Gebiete des Denkens und Handelns zu einem Ganzen zusammenzuschließen. Alle Erfahrungen treten in den Dienst eines Hauptgedankens, bestätigend oder widersprechend, als Probleme, die der Lösung harren; vom Hauptgedanken aus wird alles übersehen und gewertet. Die geniale Konzeption eines großen einheitlichen Zusammenhanges in allen Dingen und Vorgängen erfüllt die schöpferischen Denker so sehr, daß sie nicht einen Augenblick zweifeln, die Lösung aller Rätsel sei in ihrer Hand, das innerste Wesen der Welt erschlossen; die Idee hinter den greifbaren Dingen, hinter der Anschauungswelt und der Alltagspraxis ist allein wirklich und richtig; die anschaulichen Dinge und Vorgänge dienen ihr nur als Ausdrucksmittel, das man lernen muß, richtig zu verstehen. Die Idee herrscht, die Erfahrung dient. […] Wie eine bürgerliche Kultur kann man die babylonische eine wissenschaftliche Kultur nennen; Rationalismus und Utilitarismus herrschen in der ganzen Weltanschauung und lassen nichts gelten, was ihnen dumm und unnütz erscheint.¹

Betrachtet man die Worte des Philosophen Hermann Schneider (1874–1953) aus dem Jahre 1910, so fällt sogleich die Affinität des babylonischen Denkens zu dem der Gegenwart auf. Ein mit der philosophischen Bildungssprache vom Anfang des 20. Jahrhunderts vertrauter Leser erkannte die Problematisierung der dinglichen Substanz und seine Ersetzung durch den Begriff. Die Welt nicht als ein Gefüge von Substanzen, sondern als Einheit bestimmbarer Größen zu verstehen² – laut Ernst Cassirer zuerst in Platons Konzeption der „Idee“ vollzogen³ – war, wie Schneider zu verstehen gab, in gewisser Weise eine Einsicht, zu der bereits viele Jahrhunderte zuvor die Denker an den Ufern von Euphrat und Tigris gelangt waren. Wer sich gedanklich nach Babylon versetzte, betrat also kein fremdes Terrain. Er begegnete einer rationalen und bürgerlichen Kultur, in der die Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielte. Freilich auch die Religion, denn bei aller Affinität zu den Ausdrucksweisen der neukantianischen Philosophie hinsichtlich der geschlossenen Weltanschauung konstituierte deren Einheit nicht das Denken, sondern wurde von Gottheiten verbürgt. Die altmesopotamische Kultur schien insbesondere in Deutsch-

1 Schneider (1910), 513, 515. 2 Vgl. Gomperz (1905), 109–131, zum Versuch, eine der Gesamtheit der historischen Phänomene Rechnung tragende Neuinterpretation der „Substanz“ zu finden. 3 Vgl. Cassirer (1953) I, 4 f. DOI 10.1515/9783110499261-002

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land zwischen 1900 und 1930 eine solche zu sein, die der eigenen signifikant ähnelte und zu der sich in ein Verhältnis zu setzen deshalb aufschlussreich war. Zu erinnern ist beispielsweise an Fritz Langs Metropolis oder Alfred Döblins Berge, Meere und Giganten, in denen die Visionen künftiger hochtechnisierter Megalopoleis mit ihren Verheißungen, vor allem aber ihren Schrecken mit Reminiszenzen an Babylon Gestalt gewannen. Dabei handelte es sich um Werke der 20er Jahre, bei denen die düsteren Aspekte überwogen: das Babylon, das als Inbegriff von Stolz, Hoffart, Verführung galt und unaufhaltsam seinem Untergang entgegenging. Die Erinnerung an jene Stadt konnte aber auch andere Züge tragen, eben diejenigen, die Schneider hervorgehoben hatte: Dann war sie Hort einer hochstehenden bürgerlichen Zivilisation, Stätte des Gewerbefleißes und der Wissenschaft. Insbesondere die Astronomie der Babylonier hatte es den Gelehrten angetan. Wiesen doch früh entdeckte Tontafeln auf eine leistungsstarke Himmelskunde, die die Bewegungen der beiden großen Himmelskörper Sonne und Mond sowie der übrigen fünf mit bloßem Auge erkennbaren Planeten nicht allein präzise registrierte, sondern offenbar auch mathematisch zu modellieren in der Lage war.⁴ Eine Gruppe deutscher Altorientalisten der zweiten Generation, namentlich Hugo Winckler (1863–1913), Alfred Jeremias (1864–1935), in gewisser Weise auch Peter Jensen (1861–1936)⁵ und schließlich der jüngere Astronomiehistoriker Ernst Weidner (1891–1976) insistierte auf der Abhängigkeit der astronomischen Traditionen mindestens des eurasischen Raumes von derjenigen Babylons.⁶ Aber nicht nur das. Da die Beobachtung der Gestirne dort untrennbar mit Divination verbunden war, umfasste sie auch, was bei den Griechen von der mathematisch-kinematischen Sternkunde getrennt und seit dem 17. Jahrhundert auch terminologisch als „Astrologie“ von „Astronomie“ unterschieden war. Es war deshalb weniger die Astronomie selbst, eher eine Weltanschauung, die von der Einheit von Himmel und Erde sowie der Lenkung des Geschehens durch astrale Gottheiten ausging, die den gemeinsamen Ausgangspunkt der östlichen wie westlichen Kulturen Eurasiens bildete. Einheitlich war sie insoweit, als Wissenschaft und Religion keine Ge-

4 Weidner (1915), 1: „Astronomie und Astrologie – zwei untrennbare Begriffe im alten Babylonien. Niemals und nirgends ist auf ihrer Grundlage eine Weltanschauung von so großartiger Einheitlichkeit geschaffen worden wie hier. Weltenbild und Himmelsbild sind eins – keine Grundformel eines Systems kann klarer, keiner zugleich umfassender sein. […] Die astronomischen Kenntnisse der Babylonier stehen bis in die Zeiten des Mittelalters unerreicht da; kein Volk des Altertums hat ein so umfassendes Wissen vom Sternenhimmel gehabt wie sie.“ Vgl. bereits Hommel (1882), 420; ders. (1885), 5 f. 5 Jensen hielt gegenüber Jeremias und Winckler Distanz, obgleich seine Forschungen zur Kosmologie (1890) und zu den Adaptionen des Gilgameschepos in der Weltliteratur (1906) dem Panbabylonismus ähnlich angelegt sind. 6 Vgl. Jeremias (1909), 78: Panbabylonismus sei die „Behauptung einer durch die Welt gewanderten, auf Himmelskunde beruhenden kosmisch-astralen Lehre“. An anderer Stelle unterscheidet Jeremias im Anschluss an Wilhelm Wundt „Babylonismus“ als die Ansicht, „daß alle Kulturvölker der Alten Welt und wahrscheinlich auch einige der Neuen Welt Einflüsse von Babylon aus empfangen haben“ vom „Panbabylonismus“, der lehre, „alle Mythologie [sei] von Babylon“ herzuleiten, so 1907, 21.

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gensätze darstellten, die Suche nach natürlichen Erklärungen für Phänomene in den Glauben an Gottheiten überging, die sich in den Planeten manifestieren. Das Postulat dieser Weltanschauung und deren Ausbreitung in Form von Astralmythen stellt den Kern der Auffassungen dar, die einer Selbstbezeichnung jener Forschergruppe entsprechend als „Panbabylonismus“ bezeichnet wird. In diesem Sinn wird er hier verwendet und insoweit von Strömungen unterschieden, die auf andere Weise die Bedeutung des „babylonischen“ Denkens für die Kulturgeschichte artikulierten. Die Beziehung zwischen der altmesopotamischen Kultur und dem Deutschland zwischen 1900 und 1930 ist zweifelsohne „allelopoietisch“. Das zeigt sich insbesondere dort, wo zunächst einige Fachgelehrte, dann aber vor allem Architekten, Stadtplaner, bildende Künstler und Literaten in Babylon nicht nur eine beeindruckende Stadtkultur des ersten Jahrtausends v. Chr., sondern geradezu ein Modell prospektiver Ideen fanden. Die Imagination der Metropole, die an Motive des 17. und 18. Jahrhunderts anknüpfte, aber durch Ausgrabungen auf ein solideres Fundament gestellt worden war und um die Jahrhundertwende einen enormen Aufschwung erlebte, prägte das Selbstbild zunächst der wilhelminischen Gesellschaft, dann auch der Weimarer Republik entscheidend. Es wäre ein dankbares Thema, dieser Dimension der Beschäftigung mit Babylon nachzugehen. Wird in architektonischen Entwürfen für die Reichshauptstadt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts doch anschaulich, in wie hohem Maße das Bild Babylons, das aus archäologisch zugänglich gemachten Rudimenten entstand, wiederum dasjenige Bild bestimmte, das man für die deutsche Metropole nicht allein erhoffte, sondern zu verwirklichen sich anschickte.⁷ Babylon war wie kaum ein anderes der im Laufe des 19. Jahrhunderts entdeckten und wiederentdeckten Altertümer in der Lage, sehr reale Phantasien und Visionen anzuregen und den Rahmen lediglich gelehrter Interpretationen zu überschreiten. Bei dem an Euphrat und Spree wieder erstehenden Babylon handelte es sich nicht lediglich um ein Wissensfeld, das nur für eine kleine Anzahl von Experten der Altorientalistik von Interesse war, sondern in Literatur, Kunst und Architektur Selbstdarstellung und -reflexion entscheidend bestimmte.⁸ Umgekehrt sah das aufstrebende Deutsche Reich in den gewaltigen Bauten, den technischen und organisatorischen Fertigkeiten, die zu deren Errichtung erforderlich waren, gleichsam ein fernes Spiegelbild seiner selbst: eine Großmacht, gestützt nicht allein auf militärische Stärke, sondern auch auf wissenschaftliches Know-how. Insofern sich hinsichtlich Babylons Archäologie und Philologie mit theologischen Debatten und verschiedenen künstlerischen Imaginationen verbanden, also zwischen gelehrter Rezeption und Gestaltung der Gegenwart nur innerhalb eines Babylon-Diskurses unterschieden werden kann, handelt es sich um einen geradezu

7 Vgl. Liverani (2013), 67–142. 8 Vgl. die grundlegenden Studien von Polaschegg (2011); (2015).

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paradigmatischen Fall von Allelopoiese.⁹ Der Terminus bringt freilich auch zur Geltung, dass es sich nicht nur um eine Form der Transformation handelt, sondern die Vorstellung vom Referenzbereich wiederum das Bild des Aufnahmebereiches, also das kulturelle Selbstbild, entscheidend bestimmt. In genau diesem Sinn, der mitnichten auf alle Erscheinungen anwendbar ist, an denen Transformationen beispielsweise antiker Gedanken, Konzeptionen und dergleichen konstatiert werden können, wird der Terminus „Allelopoiese“ hier verwendet. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf einen kleinen Teil dieses Diskurses. Sie beziehen sich auf Druckerzeugnisse, die teilweise der Fachliteratur, überwiegend aber Publikationen angehören, in denen Ergebnisse der Forschung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden. Wenngleich sich die Disziplin Assyriologie bzw. Altorientalistik erst allmählich entwickelte, so war doch der Unterschied beträchtlich. Zwar hatte die Altorientalistik anfangs mit Schwierigkeiten bei der Lesung der Zeichen zu kämpfen, was insbesondere bei Eigennamen störend auffiel und ihre Reputation bei Althistorikern schmälerte,¹⁰ begann aber sogleich als eine philologische und kritische Wissenschaft mit eigenen Fragestellungen. Beiträge in den renommierten Fachzeitschriften, der nicht speziell auf die Assyriologie zugeschnittenen Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG), deren erstes Heft 1847 publiziert wurde, und der seit 1884 erscheinenden Zeitschrift für Keilschriftforschung, zwei Jahre später in Zeitschrift für Assyriologie und verwandte Gebiete umbenannt, schließlich in den Mitteilungen der Vorderasiatischen Gesellschaft (MVAG)¹¹ waren nicht nur auf Grund der Fülle von unter anderem in Aramäisch, Arabisch und Keilschrift gesetzten Termini für ein nicht fachkundiges Publikum schwerlich zugänglich und zumeist sehr spezieller Themen wegen wohl auch kaum von Interesse. Eine breitere Leserschaft erreichten hingegen Darstellungen wie das in der angesehen Reihe Monographien zur Weltgeschichte erschienene Ninive und Babylon von Carl Bezold (1859–1922), einem der führenden Assyriologen seiner Zeit, Hugo Wincklers Himmelsund Weltenbild der Babylonier¹² und Die Weltanschauung des Alten Orients¹³ oder Biblische und babylonische Urgeschichte von Heinrich Zimmern (1862–1931), oder die Vorträge von Friedrich Delitzsch (1850–1922) zum Thema Babel und Bibel.¹⁴

9 Vgl. Fischer (2011), 189. 10 Vgl. Gutschmid (1876), bes. v–xiv, 42–81; Tiele (1886), 40 f. Eine Reihe der von Gutschmid angeführten Argumente hatte allerdings bereits Schrader (1869) diskutiert. 11 Erster Jahrgang 1896. Die Vorderasiatische Gesellschaft hatte es sich laut Satzung zur Aufgabe gemacht, „durch gemeinverständliche Darstellungen die vielseitigen Resultate wissenschaftlicher Forschung weiteren Kreisen zugänglich“ zu machen; vgl. Renger (1979), 163; Mangold (2004), 281–284. 12 Winckler (1901); erschien in der Reihe Der alte Orient, die von der Vorderasiatischen Gesellschaft herausgegeben wurde. 13 Winckler (1904), erschienen als Band 1, Heft 1 der von Winckler herausgegebenen Reihe Ex oriente lux. 14 Der erste Vortrag wurde am 13. Januar 1902, der zweite am 12. Januar 1903, der dritte am 17. April 1903 gehalten; die Resonanz in der Öffentlichkeit war beträchtlich.

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Bei der Leserschaft derartiger Veröffentlichungen handelte es sich zunächst um jene im Deutschen Reich rasch wachsende Bildungselite,¹⁵ die über humanistische Bildung und häufig über Hebräischkenntnisse verfügte. Neben diese bildungsbürgerliche Schicht trat mit der 1898 gegründeten Deutschen Orient-Gesellschaft,¹⁶ die die Finanzierung der von Robert Koldewey geleiteten Ausgrabungen in Babylon garantierte,¹⁷ eine andere Gruppe von Interessenten, die eher der wirtschaftlichen und Funktionselite zuzurechnen ist. Ein Blick in die Liste der Mitglieder der ersten Jahrgänge zeigt, in wie hohem Maße die Grabungen in Mesopotamien und die Erschließung der altorientalischen Welt zu einer prestigeträchtige Angelegenheit geworden waren, wobei die nationalen Interessen gegenüber dem Streben nach wissenschaftlicher Reputation sicher nicht zu kurz kamen, wie allein die Tatsache verdeutlicht, dass die konstituierende Sitzung von dem kurz zuvor vom Amt des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes zurückgetreten Admiral Friedrich Hollmann (1842–1913) geleitet wurde. Zu den ersten, die der Gesellschaft beitraten, zählten die als Mäzene bekannten Bankiers James Simon (1851–1932),¹⁸ Alexander Meyer Cohn (1853–1904),¹⁹ die Brüder Max (1867–1946) und Paul Warburg (1868–1932), Paul von Mendelssohn-Bartholdy (1875– 1935)²⁰, Max von Wassermann (1863–1934)²¹ oder ein Unternehmer wie Hermann Nathan Israel (1863–1905).²² Firmen wie Borsig, Krupp und die AEG unterstützten den Orientverein. Neben Persönlichkeiten aus Bankwesen, Handel, Industrie und einigen ausgewiesenen Experten der Orientalistik zog die Gesellschaft auch Angehörige einer intellektuellen Führungsschicht an, die den mittleren und fernen Osten teilweise auf Grund von Studienreisen kannten. Ein Architekt wie Wilhelm Boeckmann (1832–

15 Wehler (1995), 1201–1224. 16 Dem wissenschaftlichen Beirat, der am 2. Juni 1898 erstmals tagte, gehörten Eduard Sachau (1845– 1930) und der Ägyptologe Adolphe Erman (1854–1937) an; vgl. MDOG 1898/1, 6. Den Vorsitz übernahm der liberale Heinrich Prinz zu Schönaich-Carolath. 17 Koldewey (1913); vgl. Simons (2004). 18 Die erste deutsche Expedition nach Mesopotamien, geleitet von Bruno Moritz, nach Lagaš (Tell alHibba), wurde von seinem Onkel Louis Simon finanziert (1886/7). Bereits an dieser Expedition nahm Koldewey teil; Bericht über die Grabungen Koldewey (1887). Übersicht über die Ausgrabungen in Artikel Ausgrabungen im Reallexikon der Assyriologie I, 315–321. 19 Homeyer (1963), 9–13. Meyer Cohn war 1891–1904 überdies Schatzmeister des Berliner Vereins für Volkskunde. Zu gelehrten Vereinen der Kaiserzeit vgl. Müller/Nottscheid (2011). 20 Eintritt 1902 (MDOG Mitteilung Nr. 15/ 1902, 5). 21 Eintritt 1902 (MDOG Mitteilungen Nr. 16/1902–3, 4). 22 In einer Polemik gegen Delitzschs Babel und Bibel wurde in der Zeitschrift Ost und West (Nr. 3, 1903, Sp. 360) insofern zu Recht darauf hingewiesen, dass die babylonischen Tonziegel „ohne Hilfe jüdischer Millionäre nie das Tageslicht erblickt hätten“ und „der Segen in Form klingender Münze oder guter Kassenscheine sogar den Ausgrabungen des Herrn Delitzsch so sehr zu Gute gekommen“ sei.

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1902)²³, der Geograph und Chinareisende Ferdinand v. Richthofen (1833–1905),²⁴ der Jurist Josef Kohler (1849–1919)²⁵ oder der Biologe und Förderer der zionistischen Bewegung Otto Warburg (1859–1938) verkörperten wie der Indologe Gustav Salomon Oppert (1836–1908) eine Gruppe von Ingenieuren oder Gelehrten, deren Interesse an Babylon anderer Natur war als das der ersten deutschen Assyriologen, jener brillanten Philologen, die in erster Linie in historischer Sprachwissenschaft sowie der alttestamentlichen Wissenschaft geschult waren. Sprachliche Kompetenz spielte, schon auf Grund der enormen Schwierigkeiten der Sprachen, für Interesse an und Beschäftigung mit dem „babylonischen“ Altertum keine konstitutive Rolle. Von den Landschaften um Nimrud oder Assur, vom Gilgameschepos und den Gesetzen des Hammurabi ließ sich auch faszinieren, wer kein Experte für Altorientalistik oder alte Geschichte war. Obwohl der hohe Anteil an Juden in der Orient-Gesellschaft gelegentlich im Horizont der sogenannten „Judenfrage“ thematisiert wurde, dürfte er vor allem Indiz des progressiv-dynamischen Charakters des Projekts sein, der den imperialistischen Ambitionen Deutschlands mindestens auch eigen war – besonders solchen, die sich auf das Osmanische Reich bezogen. Untrennbar mit dem Streben nach einem gleichberechtigten Platz unter den führenden Mächten verbunden hieß das in diesem Falle zunächst, den Rückstand des Deutschen Reiches auf dem Feld der Archäologie gegenüber England und Frankreich aufzuholen. Rudolf Virchow hatte 1898 in einer Rede im Preußischen Landtag an den Stellenwert von Ausgrabungen erinnert. Da man hier ins Hintertreffen geraten war, sei eine Veränderung der Situation dringend erforderlich.²⁶ Für erfolgreiche Grabungen aber war wiederum unabdingbar, sich auf dem weltpolitischen Feld zu positionieren, weshalb die Archäologie Teil der aktiven Orientpolitik des Kaisers wurde.²⁷ Kaum etwas verdeutlicht die politische Dimension der OrientGesellschaft und der Grabungskampagnen mehr als die Mitteilung, dass am 20. März 1901 Wilhelm II das „Protektorat über die Deutsche Orient-Gesellschaft“ übernehmen werde.²⁸ Dessen Interesse am Alten Orient war notorisch,²⁹ und er engagierte sich in den folgenden Jahren für das wiedererstehende Babylon sehr konkret mit Geldzuwendungen.

23 Boeckmann war unter anderem Architekt des Völkerkundemuseums in der Prinz-Albrecht-Straße (1881–85) und Vorsitzender des Architektenvereins Berlin. 24 Vgl. v. Richthoven (1877). 25 Kohler widmete sich mit Unterstützung von Assyriologen eingehend der babylonischen Rechtsgeschichte: Kohler/Peiser (1890); Kohler/Ungnad (1913). 26 Virchow (1898); vgl. Honold (2002), 153–155. Die Entzifferung der mesopotamischen Keilschrift leisteten v. a. Edward Hinks (1792–1866), William Henry Fox Talbot (1800–1877) und Jules Oppert (1825–1905); vgl. auch Babelon (1888). 27 Eine politisch sehr einseitige Darstellung bietet McMeekin (2010), ähnlich bereits Fischer (1969), 324–360; Honold (2004); vgl. auch Reinhard (1988), 129–147. 28 MDOG 1900/1901/7, 1. Vgl. Wilhelm II (1922), 168 f. 29 Wilhelm II (1938); vgl. Bremer (2001), 122–252; Honold (2002); ders. (2004c); Canis (1997), 232–252.

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Babylon fand also am Ende des Jahrhunderts ein Publikum jenseits der Grenzen der Welt der Gelehrten, und zwar unter denen, die Träger des ökonomischen und wissenschaftlichen Aufbruchs der wilhelminischen Epoche waren. Ein Publikum, das sich für die Ausgrabungen selbst interessierte, aber auch nach der „Bedeutung“ dessen fragte, was dort ans Licht gebracht wurde. Es verstärkte die Tendenz innerhalb der Assyriologie, die Grenzen der sich rasch spezialisierenden Fachwissenschaft zu überschreiten und die Altorientalistik zu einem Bestandteil der allgemeinen Kulturgeschichte zu machen, also „die Eierschalen der klassischen Philologie und der Theologie“³⁰ abzulegen, wie der Herausgeber der seit 1898 erscheinenden Orientalistischen Litteratur-Zeitung formulierte. Dazu gehörte um 1900, einem Bedürfnis nach historischer Orientierung nachzukommen, also nicht nur über ferne Vergangenheiten zu informieren, sondern Fragen nach der Bedeutung für die Gegenwart nachzugehen. Kaum jemand hatte darauf an der Jahrhundertwende so virtuos reagiert wie der Polyhistor Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) in seinen Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. Das Buch empfahl sich nicht nur denen, die Argumente für den Antisemitismus suchten, es beeindruckte weit darüber hinaus durch den großen Bogen, mit dem eine 2500jährige Vergangenheit auf ihre Relevanz durchmustert wurde. „Geschichte, im höheren Sinne des Wortes, ist einzig jene Vergangenheit, welche noch gegenwärtig im Bewusstsein des Menschen gestaltend weiterlebt“, hatte er erklärt.³¹ Der alte Orient freilich kam in dieser Geschichte im höheren Sinne nicht vor. Chamberlain bot eine Darstellung, die sich auf die humanistische Bildung und die Ausrichtung auf die „klassische“ Antike stützte. Dass die Geschichte im „höheren“ Sinne allererst mit den Griechen begann, die Wurzeln der Gegenwart also bis ins Zeitalter des Hellenen Homer, nicht aber in den nahen oder mittleren Osten reichten, hatte er nicht erfunden, sondern lediglich aufgegriffen. Dies freilich um so lieber, als es seinen rassentheoretischen Überzeugungen entsprach.³² Unter Berufung auf Ernest Renan sprach er dem „esprit sémitique“ die Befähigung zur Ausbildung einer hochstehenden Kultur ab und

30 So Peiser im Programm der Orientalistischen Litteratur-Zeitung vom 15. Januar 1898, Sp. 1, das vermutlich von ihrem Herausgeber Felix Peiser verfasst wurde, aber mit „Die Redaktion“ unterzeichnet ist. 31 Chamberlain (1942), 49. Zur Entstehungsgeschichte des Buches Martynkewicz (2011), 54–58. 32 Auf rassistische Untertöne in der deutschen Griechenverehrung machte aufmerksam Gruppe (1887), 168: „Noch heut zu Tage spukt der liebliche Geist des unendlich schönen, unendlich tugendhaften, unendlich begabten und deshalb zur Freiheit erkorenen Griechenvolkes neben dem grässlichen Gespenst des namenlos wollüstigen, unsäglich verruchten und deshalb zur Sklaverei verdammten Orientalen umher. Die keusche Religion Homers ist zur Zeit der Perserkriege mit dem semitischen Götzendienst geschändet (Wilamowitz ‚aus Kydathen‘, 40). Der Geniekultus, der von jeher so verführerisch ist, weil es so leicht ist, an eine Art Congenialität zwischen dem göttlichen Genius und seinem irdischen Propheten zu glauben und glauben zu machen, hat sich hier ein ganzes Volk zur Anbetung erkoren: die Einheitlichkeit seines Genius soll ausschliessen, dass dies Volk sich je mit andern gemischt, und die Feinheit seines Blutes die Reinheit seiner Rasse beweisen!“

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stand der Assyriologie deshalb äußerst reserviert gegenüber.³³ In dem Bestseller, der bis 1915 bereits zwölf Auflagen erlebte, spiegelten sich Erwartungen eines breiten Publikums an eine Historiographie, die Orientierung zu geben hatte. Es war diese Leserschaft, an die sich auch gemeinverständliche Publikationen von Altorientalisten richteten. Dann galt es den Nachweis zu führen, dass der Alte Orient eben durchaus Teil der Geschichte war. Und das musste heißen, ihn als für die Gegenwart bedeutsam, als ‚weiterlebend‘ und ‚gestaltend‘ zu erweisen – eine Aufgabe, derer sich insbesondere die Panbabylonisten annahmen.

2 Von der Bibel zurück nach Babel Zunächst bestand die Bedeutung der keilschriftlichen Texte und der geborgenen Reliefs darin, aus der Bibel bekannte Namen mit identifizierbaren Personen und Orten zu versehen.³⁴ Was bislang einzig aus Bemerkungen der Bibel bekannt war, wurde so zu lebendiger Geschichte, wie Delitzsch in den vielbeachten Vorträgen Babel und Bibel feststellte.³⁵ Neues trug er darin, anders als im ersten Vortrag insinuiert wurde,³⁶ nicht vor. Dass der Bericht von der Flut sich auf der elften Tafel des Gilgamesch-Epos fand,³⁷ dass es Vorbilder für Schöpfungs- und Sündenfallgeschichten, dass es eine weit entwickelte Mathematik und Astronomie gab, gehörte um die Jahrhundertwende zu den gesicherten Erkenntnissen. Neu war das Pathos, mit dem hier – offenbar veranlasst durch die Gegenwart des Kaisers und seiner Entourage – gesprochen wurde und das den Hörern das Gefühl vermittelte, Zeugen einer epochalen Wende zu sein. Die „gewonnenen neuen Erkenntnisse“, so Delitzsch, würden tiefgreifendere Folgen haben als „alle modernen Entdeckungen der Naturwissenschaften zusammen“.³⁸ Natürlich erheischte der hohe Ton Aufmerksamkeit für die Ausgrabungen. An Kontur aber gewinnt der Anspruch, da Delitzsch es unternahm, eine Vielzahl von religionsgeschichtlichen Motiven auf babylonische Ursprünge zurückzuführen. Eine Tendenz, die nach der Entdeckung der Stele mit dem Gesetzeswerk des Hammurabi noch verstärkt wurde, da nunmehr auch der Gedanke des Primats eines singulären ethischen Monotheismus des Alten Testaments zu fallen schien, Recht und Ethos

33 Chamberlain (1942), 383; angeführt wird Renan (1862), bes. 28. Im Vorwort zur vierten Auflage der „Grundlagen“ setzte er sich namentlich mit Delitzsch auseinander (1912), 43–95. 34 Vgl. z. B. Buddensieg (1880); Delitzsch (1902), 3 f. 35 Delitzsch (1902), 5; zum Babel-Bibel-Streit bes. Lehmann (1994); ders. (1999). 36 Darauf haben hingewiesen Oppert (1903), 157f., Lehmann (1903), 2f., Jeremias (1903), 4–6; Bezold (1904), 5–11, 57 f. 37 Interessant in diesem Zusammenhang Goldziher (1876), 380–385, der ähnlich wie später Delitzsch argumentierte, aber daraus andere Schlüsse zog; vgl. auch Haupt (1881); Oppert (1885) u. a. Zur Entdeckungsgeschichte vgl. Damrosch (2007), bes. 34–50. 38 Delitzsch (1902), 4.

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auf babylonische Ursprünge zurückgeführt und somit deren Verbindung mit dem Monotheismus gelockert wurde.³⁹ Bemerkenswert an den Vorträgen ist, dass Babylon zu einer „Antike“ erhoben wurde, zu einer Referenzkultur aktueller Probleme. Dies waren beispielsweise das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion, der Stellung von Bibel⁴⁰ und Christentum⁴¹ in einer modernen Gesellschaft, der Wert von historischer Forschung für eine tendenziell stärker von Naturwissenschaft und Technik und weniger von klassischer Bildung geprägte Nation, die überdies ihre Rolle im Konzert der europäischen Mächte neu zu bestimmen sich anschickte. Dass die Einlassungen über die Abhängigkeit der hebräischen Bibel von babylonischen Mustern historische Behauptungen waren und Argumente in der Diskussion der „Judenfrage“ lieferten, wurde auf allen Seiten schnell verstanden. Wurde Delitzsch oft als Stichwortgeber antisemitischer Auffassungen gesehen, dokumentierten die Vorträge für Chamberlain hingegen nichts anderes als „Semitomanie“.⁴² Bei Babel und Bibel ging es jedenfalls auch um Deutschtum und Judentum, um die Stellung der Bibel als eines noch möglichen Fundaments der „Sittlichkeit“. Die Jahrtausende zurückliegende Vergangenheit wurde zum Bild, in dem sich die Gegenwart wiedergegeben sah und von der sie Orientierung erwartete. Delitzsch’ Blick auf Babylon war der eines Philologen und Sprachwissenschaftlers, dessen Perspektive durch die Theologie bestimmt war. Eine Reihe anderer Aspekte wurden nur erwähnt.⁴³ Die Astronomie und das Maßsystem interessierten ihn nur am Rande, und die Techniken der Divination erschienen ihm zwar von ausgesprochen weitreichender Wirkung, aber passten in das Bild, das der Kulturprotestant von Babylon entwarf, schlecht hinein. Gerade auf diesen Bereich lenkte eine Reihe von Assyrio-

39 Delitzsch (1903), 20–27 sowie dem nachträglichen Vorwort Zur Klärung iii–v, insbes. iv. 40 Vgl. Delitzsch (1904), 40–44; ders. (1907), 55: „So tragen die Ergebnisse der babylonischassyrischen Grabungen mächtig auch dazu bei, uns von alt eingewurzelten Irrtümern unseres religiösen Denkens zu befreien und jene Weiterbildung der Religion, zu welcher unsere Zeit immer unaufhaltsamer hindrängt, auf der Grundlage unerschütterlicher historischer Erkenntnisse anbahnen zu helfen.“ 41 Vgl. die Bemerkungen des Beraters des Reichskanzlers zum Bedeutungsverlust der Religion: Riezler (1914), 144–153; zu seinen politischen Reflexionen: Flasch (2000), 232–243. 42 Vgl. Oppert (1903), Horovitz (1904); Chamberlain (1912), 54; zum Antisemitismus der Wilhelminischen Zeit: Nipperdey (1992), 289–311. 43 Dazu kritisch Lehmann (1903), 3 f.: „Hat schon Babylonien auf manche nichtbiblische Völker eine tiefgehende religionsgeschichtliche Einwirkung geübt, so ist auf anderen Gebieten menschlicher Gesittung der Babylonien zu verdankende wirkliche und dauernde Kulturgewinn noch erheblich bedeutender. [..E]rst unsere Zeit hat durch das Studium keilinschriftlicher astronomischer Berechnungen von der erstaunlichen Tiefe und Genauigkeit dieser babylonischen Kenntnisse eine Vorstellung erhalten. Schon beginnt die moderne Astronomie nicht etwa bloss historisch, sondern unmittelbar praktisch, z. B. für die Theorie des Mondlaufes, aus den Beobachtungen und Berechnungen der Babylonier Nutzen zu ziehen, und die Vorstellung, dass die antike Astronomie eine Neuschöpfung der alexandrinischen Gelehrten sei, muss der Erkenntnis weichen, dass diese auf den Schultern der Babylonier stehen.“

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logen aber die Aufmerksamkeit. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: Die Keilschrifttexte umfassten eine Fülle von astronomischen Texten. Sie ermöglichten das im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder diskutierte Problem der Herkunft des Tierkreises neu zu beantworten⁴⁴ und die Beziehungen zwischen der Astronomie der Griechen zu der des Zweistromlandes zu klären. Zum anderen aber war die babylonische Astronomie eng mit Divination verknüpft und wies also auch einen religiösen Aspekt auf. Zu denen, die sich mit der babylonischen Sternkunde befassten,⁴⁵ sie zu einem Pfeiler ihrer Interpretation machten, also wissenschaftshistorische Forschung und kulturphilosophischen Reflexionen verbanden, gehörte der kurz nach der Jahrhundertwende entstandene „Babylonismus“ oder „Panbabylonismus“.⁴⁶

3 Die Sterne Babylons und der ursprüngliche Monismus Material basierte der Panbabylonismus auf der babylonischen Astronomie, die insbesondere durch die Arbeiten der Jesuitenpatres Joseph Epping (1835–1894), Johann N. Strassmaier (1846–1920) und Franz Xaver Kugler (1862–1929)⁴⁷ auf der Grundlage von in London aufbewahrten Tafeln erschlossen worden war. Dabei zeigte sich, dass die Babylonier in der Lage gewesen waren, die unterschiedlichen Bewegungen des Mondes und der Sonne arithmetisch zu modellieren und damit Finsternisse ziemlich exakt zu prognostizieren.⁴⁸ Eine für den Panbabylonismus entscheidende Frage rich-

44 Kurzer Überblick aus altorientalischer Perspektive bei Jensen (1890), 57–60; gegen Thiele (1898) vertrat Hommel (1900) den babylonischen Ursprung des Zodiakos, dessen Entstehung er bis mindestens 1000 v. Chr. zurückdatierte. Zur Debatte an der Wende vom 18. zum 19. Jh.: Buchwald/Josefowicz (2010). 45 Anders als beispielsweise Kugler vertraten die Panbabylonisten somit einen Forschungsansatz, der die Untrennbarkeit von mathematisch-kinematischer „Astronomie“ und divinatorischer „Astrologie“ betonte. Dies entspricht genau dem Vorgehen der modernen Forschung, vgl. v. a. Rochberg (2004) und Graßhoff (2012); ebenso Chadwick (1984); Reiners (1999); Maul (2011); Hunger (2013). 46 Winckler (1904), 3; die gründlichste Kritik bietet Kugler (1910), dazu Bezold (1911), 24–27. 47 Epping/Strassmaier (1889); dies. (1890); dies. (1893); Kugler (1900) sowie die zwischen 1907 und 1914 erschienenen Bände Sternglaube und Sterndienst; zur Forschungsgeschichte Neugebauer (1975) I, 347–351; Swerdlow (1999), Ossendrijver (2012), 1–4; mehr als eine Forschungsgeschichte, vielmehr die methodische Reflexion ihrer eigenen brillanten kulturgeschichtlichen Rekonstruktion bietet Rochberg (2004), 1–65. 48 Auf die Verfahren kann hier nicht eingegangen werden, zur ersten Orientierung vgl. Neugebauer (1957), 104–122; Waerden (1966), 136–172, Kelley/Milone (2011), 211–238; die klassische Darstellung ist Neugebauer (1975) I, 347–555; neuere Ergebnisse und eingehende Untersuchungen finden sich in dem von Swerdlow herausgegebenen Band (1999). Ebenfalls kann das für die Diskussion der Transformationstheorie hochinteressante Problemfeld der Transformation der babylonischen Astronomie bei den Griechen hier nicht erörtert werden, vgl. dazu insbes. Jones (1996); Kelley/Milone (2011), 238 f.

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tete sich auf das Alter dieser mathematischen Astronomie, und in dieser Hinsicht fielen die Ergebnisse Kuglers recht ernüchternd aus, da die von ihm untersuchten Texte erst der Seleukidenzeit entstammten. Das würde zwar die Priorität gegenüber der uns bekannten griechischen Astronomie nicht ausschließen, sie an Alter allerdings nicht sonderlich übertreffen. Allerdings kann aus der Lage des Frühlingsäquinoktiums in dem älteren der beiden Systeme (II bzw. A) bei 10° à geschlossen werden, dass dieses um 500 v. Chr. ausgearbeitet wurde,⁴⁹ während das jüngere (I bzw. B), das den Frühlingspunkt auf 8° à setzt, auf ca. 375 v. Chr. zu datieren ist. Es ergäbe sich für die Entstehung einer nicht nur beobachtenden, sondern mathematischen wissenschaftlichen Astronomie also die Perser- und Seleukidenzeit. Da sich dies nur auf die endgültige Fixierung älterer theoretischer Überlegungen bezieht, käme man zu einem durch griechische Autoren auch gestützten höheren Alter der babylonischen Astronomie gegenüber derjenigen der Hellenen, also immerhin bis in die Zeit des neubabylonischen Reiches zurück. Selbstverständlich wurden die Gestirne auch schon zuvor beobachtet. Dies zeigt etwa die Auflistung von Sternen bzw. Sternbildern in einem Text, den man nach seinen Anfangsworten als „MUL.APIN“ zitiert. Es handelt sich natürlich nicht um eine bloße Aufzählung, sondern um ein Verzeichnis, das heliakische Aufgänge und Sichtbarkeitsdauern von Planeten festhält, also Bestimmungen der Bewegungen der Sonne und der Rotation des Fixsternhimmels enthält. Es genügt der Hinweis, dass dieser Text, der in einer Abschrift von 687 v. Chr. erhalten ist, zu den astronomischen Verhältnissen des letzten Drittels des zweiten Jahrtausends v. Chr. passt.⁵⁰ In noch ältere Schichten führt die Ominaliste Enūma Anu Enlil, auf die Zeit um 2100 v. Chr. lassen sich Beobachtungen von Gestirnen für divinatorische Zwecke zurückführen, die aus Lagaš überliefert sind. Aber selbst mit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend gelangt man nicht auf das phantastische Alter, das der Panbabylonismus ansetzte. Um welch gewaltige Unterschiede nicht allein in der Chronologie, sondern bei der Veranschlagung der Leistungsfähigkeit der babylonischen Sternkunde es geht, verdeutlicht Werner Papke, ein moderner Nachfahr der Panbabylonisten, folgendermaßen: Lange vor Stonehenge […] hatte die wissenschaftliche Erkenntnis in Chaldäa den Zenit längst überschritten. Noch als Abraham die chaldäische Stadt Ur am Persischen Golf verließ, da wußte er mehr von den Gesetzen des Himmels und seiner Herrschaft über die Erde als Pythagoras, Eudoxos, Hipparch und Ptolemäus zusammen, die Jahrtausende später nur noch Trümmer des einstigen Wissens auflasen, die sie bei ihren unwissenden Landsleuten berühmt machten.⁵¹

Entsprechend hatte die Blütezeit der babylonischen Astronomie nicht im siebenten oder achten Jahrhundert v. Chr. begonnen, sondern lag in einer Zeit, die mit der Ma49 Kugler (1900), 79, rechnete hier mit „Mitte des 3. Jahrhunderts“, anders auf Grund von Schnabel (1927), 12–16, Waerden (1966), 171. 50 Waerden (1966), 72; Hunger/Pingree (1999), 70–72. 51 Papke (1996), 11.

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chergreifung durch Sargon von Akkad 2340 v. Chr. abgeschlossen war. Wenn sich selbst die Reste diesen Wissens den Kenntnissen der Gesamtheit aller griechischer Astronomen als haushoch überlegen erweisen, dann umfasste es nicht nur die Präzession,⁵² sondern auch das heliostatische System.⁵³ Historische Entwicklung von theoretischen Konzeptionen wird auf diese Weise zu einem epigonalen Unternehmen, das sich als umständliche Wiederentdeckung von Wahrheiten vollzieht. Schon deshalb muss die griechische Astronomie diskreditiert werden: Ist sie doch im günstigsten Falle nur Restitution dessen, was schon längst eingesehen worden war.⁵⁴ Genau dieses Modell, wonach das Wissen, über dessen vielfach gewundene Geschichte wir durch Dokumente informiert sind, nur im Wieder-Erwerben der ursprünglichen Wissensfülle besteht, bestimmte nun auch die Panbabylonisten. Freilich drückten sie sich nicht nur gewählter als Papke aus. Mögen ihre Argumentationen auch in hohem Maße wissenschaftsgeschichtlich problematisch sein – es handelte sich dennoch um eine subtile und komplexe Rekonstruktion und nicht nur um eine sensationelle „Entschlüsselung“. Auch der Panbabylonismus ging von dem Gedanken aus, der für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Philosophiegeschichtsschreibung im Gefolge Schellings konstitutiv war, in Mythen oder der Offenbarung, der Weisheit Ägyptens oder Indiens nicht nur den Anfang, sondern in gewisser Weise auch das Prinzip, den Höhepunkt zu sehen, dem gegenüber die Geschichte ein Oszillieren zwischen Restitution und Verfall ist. Dies steht im Kontrast zu einer Konzeption der Vergangenheit, die getragen ist von einem Bewusstsein des kognitiven Fortschritts – die für die Historiographie der Wissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts noch weitgehend selbstverständliche Einstellung. Mindestens für einen bestimmten Bereich wurde der Fortschritt auch von Vertretern des Panbabylonismus nicht in Frage gestellt. Die Annahme eines Zustandes, der den einzelnen historischen Entwicklungen, die strukturiert sind durch das Streben nach Verbesserung, vorausliegt und deshalb die Fülle des Wissens umfasst haben muss, was sich in der Zeit erst sukzessiv entfaltet, unterläuft zwar die Logik der Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen und der sukzessiven Annäherung an die Realität. Diese Annahme war allerdings mit dem Wissen verbunden, dass es sich bei jener „altorientalischen Weltanschauung“ nicht um etwas handelt, was selbst Teil der Wissensgeschichte ist.⁵⁵ Es erscheint deshalb aussichtsreicher, sie, anders als dies das Zitat des Panbabylonisten unserer Zeit nahelegt, nicht 52 Kugler schloss in (1900) ein Wissen um die Präzession nicht kategorisch aus, hielt es allerdings für nicht direkt nachweisbar, deutlich gegen das Wissen um die Präzession in (1909), 24–32, sowie (1913), 130–135; anders Schnabel (1927), 39 f. Auf die Vorgeschichte dieser Ansicht u. a. bei Bailly (1781), 149 f., die bei Schnabel nicht erwähnt wird, kann hier nicht eingegangen werden, ebenso wenig wie auf das für den Panbabylonismus generell sehr bedeutsamen Werk von Dupuis (1795). 53 Vgl. Papke (1996), 201–206, 268–276. 54 Jeremias erwog auch, dass den Babyloniern der günstigen atmosphärischen Verhältnisse und ihrer Augenschärfe wegen auch die vier größeren Jupitermonde bekannt gewesen seien, so (1903), 34. 55 Winckler (1907), 11: „Das klassische Zeitalter der altorientalischen Kultur liegt […] am Anfang unserer Kenntnis oder vorher.“ (als prägnante Formulierung zitiert bei Jeremias [1909], 14). Vgl. auch

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als eine historiographische Behauptung in dem Sinne aufzufassen, bei der uns bekannten Astronomie- und Kosmologiegeschichte handele es sich nur um Versuche, Bestandteile des einst Gewussten zu restaurieren. Die „altorientalische Weltanschauung“ stand vielmehr außerhalb des historischen Zusammenhangs.⁵⁶ Genau dies erzwang ihre Frühdatierung, auf die noch einzugehen sein wird. Es handelt sich vor allem um eine Größe, der in erster Linie eine orientierende Funktion zukommt. Die Annahme der altorientalischen Weltanschauung, jener komplexen Einheit aus Wissenschaft, Philosophie und Religion, situiert in grauer Vorzeit, begründet dann nicht die Auffassung, zwischen Thales und Kepler habe man sporadisch aufgegriffen, was bereits an den Ufern von Euphrat und Tigris Jahrtausende zuvor bekannt gewesen sei. Vielmehr bedeutet es, jene geschlossene Weltanschauung als historisches Gegenstück zu einem erstrebenswerten Ziel der Wissenschaftsentwicklung zu konzipieren. Ein Zitat von Winckler verdeutlicht das: In Babylonien hat der Gestirnkult seinen Ursprung und seine Ausbildung erhalten, die Grundlage aller Götterverehrung ist dort der Kult von Mond, Sonne und Sternen, in ihnen offenbaren sich die Götter und in ihren Bewegungen ist darum ihr Walten in Erschaffung und Lenkung des Weltenalls zu erkennen. Das ist der Grundgedanke aller babylonischen Weltanschauung, die darum mit Religion identisch ist, und die zu einem System entwickelt worden ist, wie es in seiner Geschlossenheit die Menschheit nur einmal hervorgebracht hat, und wie es unseren neuen Einzelerkenntnissen entsprechend zu finden als ein in unendliche Ferne gerücktes Ziel unserer Wissenschaft erscheint.⁵⁷

In einer kurz zuvor erschienen Publikation hatte Winckler die Spezialisierung der Wissenschaften beklagt: Das Gesamtbild unserer heutigen geistigen Bestrebungen ist zweifellos das der Zerfahrenheit. All unsere Wissenschaften […] gehen jede ihren eigenen Weg, keine bekümmert sich um die andere und selten ist sich eine bei ihrem Wirken des Endziels bewußt. Dies Endziel wäre aber die Erkenntnis des gemeinsamen Urgrundes der Dinge, die Erkenntnis vom Wesen alles Seienden und die Ableitung alles Geschehenen und Bestehenden aus dieser einen Wurzel. Das Erreichen die-

die enge Bindung zwischen „Geschichte“ und schriftlichen Quellen, Winkler (1907), 3. Vgl. Winckler (1903), 15. Würde man jene Blütezeit quantitativ bestimmen, wäre der Zeitraum zwischen dem sechsten und dem vierten bzw. dritten Jahrhundert v. Chr. anzunehmen, Winkler (1903), 10, 87. So auch Jeremias (1929), 1, der die oberste Grenze dessen, was historisch erschlossen werden kann, auf ca. 3300 v. Chr. setzt, und der Herkunft der Astralmythologie aus einem Zeitalter mit dem Frühlingsäquinoktium in v, Sommersolstitium in m, so a. a. O., 203 f. 56 Vgl. dazu insbes. Jeremias (1909), 16–22, bes. 17 f.: „Es war von unserer Seite im Hinblick auf die Welt der ältesten babylonischen Urkunden wiederholt ausgeführt worden, daß sich hier Kulturentwicklung zeigt, die zu den aus den Erscheinungen der okzidentalen Welt abgeleiteten Gesetzen der Geschichtswissenschaft und Völkerkunde nicht stimmt. […] Diese Theorie nimmt in Babylonien wie in Ägypten an, daß die Wahrheit in der Urzeit liegt. […] Die geschichtliche Entwicklung wurde von uns keineswegs negiert; nur daß die Theorie der geradlinigen Entwicklung zuschanden gemacht ist, wurde unsererseits behauptet.“ 57 Winckler (1904), 3.

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ses Zieles wird wohl der Menschheit versagt sein, das Hinarbeiten auf dieses Ideal soll aber der gemeinsame Leitstern aller geistigen Bestrebungen sein.⁵⁸

Der altbabylonischen Weltanschauung war Spezialisierung, „Zerfahrenheit“, noch fremd. Sie war Sternkunde und Sternglaube, beantwortete Fragen nach Tatsachen ebenso wie solche nach Gründen und dem Sinn. Der einstige „Kosmotheismus“⁵⁹ kannte die Differenzierung in Probleme der Welterkenntnis und der Orientierung des menschlichen Lebens nicht. Insofern empfahl er sich als Modell monistischer Alternativen, in der tendenziell Naturwissenschaften Fragen der Ethik, Metaphysik und Religion zu beantworten in der Lage sein würden. Es würde zu weit führen, ähnliche Bestrebungen nach Konvergenzen im zeithistorischen Kontext zu analysieren, das sich in so verschiedenen Richtungen wie im Marxismus, im Monismus Ernst Haeckels, aber auch in der Esoterik⁶⁰ manifestierte. Dem Philosophen Carl du Prel (1839–1899) etwa, einem Anhänger Darwins, aber entschiedenem Gegner des materialistischen Monismus Haeckels, schwebte eine philosophisch reflektierte Astronomie als Inbegriff einer Naturwissenschaft vor, die sich als Teil einer Metaphysik verstand und so den prinzipiell geistigen Charakter der Wirklichkeit zur Geltung brachte.⁶¹ Und der ihm nahestehende Eduard v. Hartmann (1842–1906) hielt dualistische oder pluralistische Systeme für flach und zudem überholt: Wo wir uns auch umblicken unter den genialen philosophischen oder religiösen Systemen ersten Ranges, überall begegnen wir dem Streben nach Monismus […] Es ist nicht allen nach Monismus strebenden Systemen gelungen, denselben wirklich zu erreichen, doch fühlt man das unverkennbare Bedürfniss nach einer einheitlichen Weltanschauung heraus, und nur die seichteren religiösen und philosophischen Systeme haben sich mit einem äusserlichen Dualismus […] oder gar einer Vielheit begnügt. Es giebt gar keine näher liegende Conception für den mystisch Erregbaren, als die, die Welt als einheitliches Wesen aufzufassen, sich als Theil dieses Wesens zu fühlen, aber als Theil, in dem zugleich das Ganze wohnt und in dem Contrast des Ich mit jenem die Erhabenheit des letzteren und die Theilnahme des Ich an derselben religiös zu geniessen.⁶²

von Hartmann hielt den Monismus für eine philosophisch aussichtsreiche Option, aber auch auf religiösem Gebiet erschien ihm die Entwicklung in diese Richtung unabdingbar, da sich das Christentum mittlerweile buchstäblich überlebt hatte. Seine

58 Winckler (1902), 16 f. Vgl. auch ders. (1907), 148–150, mit Blick auf die Wiederbelebungen der altorientalischen Einheitsvorstellungen in Form des Christentums und besonders des Islam und den „wiedererschlossene[n] alte[n] Orient“, wovon Winckler eine tiefgreifende Änderung der historischen Auffassungen erwartet. 59 Assmann (2003), 64. 60 Insbes. Blavatsky (1888) I, 579–588. Auf Affinitäten zur Esoterik und einen evtl. Einfluss Blavatskys auf den Panbabylonismus kann hier nicht eingegangen werden; vgl. Jeremias (1929), 25 f.; GoodrickClarke (2008), 211–228. 61 Vgl. du Prel (1882), 4 f.; ders. (1885), bes. 499–502; Häfker (1926), 185–187. 62 v. Hartmann (1890) II, 165 f.

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Vorstellungen über die Religion der Zukunft an dieser Stelle zu erwähnen, legt sich nahe, da erstens die von ihm geforderte Synthese von „östlicher“ (kosmosorientierter indischer) und „westlicher“ (exklusiv monotheistischer) Religiosität,⁶³ recht genau dem entspricht, was er als Anfang der Religionsgeschichte ansah,⁶⁴ den es auf einer reflektierten Stufe wieder einzuholen gelte. Zweitens aber, weil dieser Anfang, ohne dass zur Zeit der Publikation seiner religionsphilosophischen Schrift bereits an Babylon gedacht worden wäre, nicht nur geographisch auf diesen Ort zwischen Ost und West verwies, sondern inhaltlich vorzeichnete, was von einer zeitgemäßen Religion zu erwarten war, die wiederum als Restitution der ursprünglichen monistischen Auffassung gelten sollte. Es waren derartige Erwartungen, in die sich die Vorstellungen einer ursprünglichen, altorientalischen Astralreligiosität einschrieben, die für den Panbabylonismus charakteristisch waren. Es ist schwerlich zu übersehen, dass jene Religion der Zukunft, also die philosophisch gereinigte, die somit einer theistischen Metaphysik gleicht, genau auf die historische Entwicklung um 1900 zu einer globalen Welt zugeschnitten ist. Im Unterschied zu den traditionellen Religionen wie auch zu Auffassungen über die richtige Lebensführung, erweisen sich nur exakte Wissenschaften als problemlos globalisierbar. Von jener Religion musste deshalb auch erwartet werden, dass sie im Einklang mit den Wissenschaften stand. Daher erschien es plausibel, genau dies wiederum für den Anfang der Zivilisationsgeschichte anzunehmen: die „altorientalische Weltanschauung“, die Wissenschaft, Philosophie und Religion war. Für den Panbabylonismus gilt nicht nur das „Axiom“ der Hermetik, „wie oben, so unten“,⁶⁵ womit der Zusammenhang des Kosmos artikuliert wird, der wiederum Voraussagen über irdische Ereignisse mit Hilfe von Zeichen am Himmel ermöglicht, sondern auch ein „wie am Anfang, so auch am Ende“.

4 Zeitlosigkeit und Alter Ein grundlegendes Problem der Panbabylonisten stellt dar, dass die altorientalische Weltanschauung, symmetrisch einem in der Zukunft angesiedelten erwünschten Zustand, einerseits gleichsam außerhalb der Zeit steht. Das heißt konkret: sie befindet sich jenseits der Grenze dessen, was durch Dokumente direkt erschlossen werden kann. Zugleich gilt sie als der Höhepunkt, von wo aus es eher Rückschritt und Verfall

63 Vgl. v. Hartmann (1874), 104. 64 v. Hartmann (1874), 99: „Im Anfang der Religion finden wir die Indifferenz des theistischen und pantheistischen, des monotheistischen und polytheistischen Elements; das Bewusstsein hat sich die Tragweite der Differenzen zwischen Transcendenz und Immanenz, zwischen Einheit und Vielheit noch nicht zum Bewusstsein gebracht […].“ 65 Vgl. Jeremias (1929), 25, Axiom 2.

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als Fortschritt zu verzeichnen gibt. Sie fungiert also andererseits sowohl als Quelle wie auch Ausgangspunkt der Wissenschaften späterer Zeiten. Vergleichsweise einfach lässt sich die Überschreibung von „Ausgangsstadium“ mit „Höhepunkt“ erklären. Denn gemeint sind hier die beiden Aspekte, die an jener Weltanschauung interessierten: (a) die Herkunft der Astronomie aus Babylon, die sich von hier aus sowohl nach Westen wie nach Osten verbreitet und weiterentwickelt habe; (b) die Vorstellung, mit der zunehmenden Differenzierung des Wissens ginge die ursprüngliche Einheit verloren und auf sie müsse sich, gleichsam in „Renaissancen“, immer wieder rückbezogen werden. Innerhalb der Geschichte des alten Mesopotamiens galt die Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal als Beispiel für eine solche Einstellung. Aufschlussreicher ist das problematische Verhältnis zwischen der Vor-Geschichtlichkeit der Entstehung jener Weltanschauung und ihrer historischen Ausbreitung. Denn es ist, ebenso wie der angesprochene Monismus, unmittelbar mit dem Anspruch auf Universalität verknüpft. Vor allem in den Publikationen Wincklers wurde wiederholt auf die Verbindung hingewiesen, die zwischen den beiden Erweiterungen des Wissens im 19. Jahrhundert bestand, (a) der Erweiterung des Wissens in historischer Hinsicht über das erste Jahrtausend v. Chr. hinaus und (b) der „Ausdehnung des Gesichtskreises in geographischer Beziehung auf die ganze Erde“.⁶⁶ Die Erschließung der gesamten Welt, eine Begleiterscheinung des Kolonialismus, stellte eine Vielzahl von Sprachen, Sitten, Mythen und Religionen vor Augen, die, wie Winckler hervorhob, nicht einfach auf die europäische Kultur bezogen und in ihre historische Erzählung integriert werden konnte – eine Erzählung, wie sie in weit verbreiteter Form etwa Chamberlain vorgetragen hatte. „Weltgeschichte“ konnte also nicht mehr konzipiert werden als die Geschichte, die von Griechenland ausgehend zu den starken Nationalstaaten Westeuropas führte und alles Übrige als peripher betrachtete. Die in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht erweiterte Perspektive auf die Menschheit verlangte neue Erklärungen der Gemeinsamkeiten. Probleme dieser Art thematisierte die Ethnologie, und an ihr orientierten sich Winckler⁶⁷ wie sein Schüler Eduard Stucken (1865–1936).⁶⁸ Hier konkurrierten um 1900 zwei Modelle, mit denen Konvergenzen auf der Ebene von Mythen verschiedener Völker erklärt werden konnten. Es gab zum einen das genealogisch-diachrone Modell Leo Frobenius’ (1873–1938),⁶⁹ zum anderen das eher synchrone der „Elementargedan-

66 Winckler (1907), 3 f. 67 Vgl. Winckler (1901), 3 f., ders. (1902), 5 f. 68 Stucken (1896) IV, 189 f. Den ersten Band hatte Stucken seinem Onkel Adolf Bastian gewidmet. 69 Vgl. Frobenius (1904), 9f. gegen Bastian: „Also gesetzmäßiges Arbeiten der Gehirnmaschine. Die Konsequenz dieser Theorie ist natürlich, daß die Kultur überall auf der Erde die Geschichte von Schema F durchmachen muß, und daß dementsprechend die Kultur an verschiedenen Ecken ohne geographischen Zusammenhang in derselben Weise entstehen und sich entwickeln muß.“

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ken“⁷⁰ Adolf Bastians (1826–1905). Mit Elementargedanken (oder: Archetypen)⁷¹ ließ sich erklären, weshalb es weltweit ähnliche Motive und Themen von Erzählungen gab, wobei keine Abhängigkeit vorauszusetzen ist. Es war der menschliche Geist, der allenthalben zu ähnlichen Formen führte, in denen konkrete Erfahrungen artikuliert wurden. Angewandt auf die Beschäftigung mit dem überall sichtbaren Sternenhimmel könnte dies heißen, dass sich die Übereinstimmungen zwischen der Einteilung des Tierkreises, der Mondstationen, der Belegung der Abschnitte des Zodiakos mit bestimmten Figuren, der Verknüpfung von Erscheinungen am Himmel mit Ereignissen auf der Erde, die Existenz von Astralmythen und dergleichen auf die Funktionsweise des Geistes zurückführen ließen. Obwohl diese Auffassung nicht sonderlich überzeugend klingt und von Winckler wie auch Stucken verworfen wurde, so liegt auf der Hand, dass ein Zug dieser Theorie den Panbabylonismus prägte: die Indifferenz gegen die historische Zeit. Das Universale kann zwar hier oder dort zuerst in Erscheinung getreten sein, aber es hat selbst keinen Anfang. Die in vielen Publikationen wiederkehrenden Hinweise auf die Entstehung der altorientalischen Weltanschauung in einer Zeit vor den ältesten bekannten Dokumenten, die immer bereits Segmente einer Gesamtheit bieten, signalisieren das. Ebenso die Gleichgültigkeit gegenüber dem kritischen Einwand, was sie, die Panbabylonisten, als „altorientalisch“ ausgäben, sei in Wahrheit das Weltbild der spätantiken Astrologie oder der Kabbala.⁷² Auf der Logik historischer Entwicklung basierende Argumentationen hielten die Panbabylonisten grundsätzlich nicht für sonderlich überzeugend. Späte Texte konnten deshalb das anfängliche Bewusstsein um die Einheit der Welt und deren Reflexion dokumentieren. Dennoch ist der Panbabylonismus, wie bereits der Name signalisiert, mit dem alternativen Modell verbunden, dem genealogischer Abhängigkeit. Winckler erklärte kategorisch, wir „schließen jede andere Annahme als die Entwicklung aus einer gemeinsamen Wurzel, d. h. der Entlehnung im Gegensatz zu selbständigem Entstehen, aus.“⁷³ Es war also die altbabylonische Kultur, die das gemeinsame Band zwischen den so verschiedenen Kulturen und Völkern darstellte – nicht die griechische, nicht die ägyptische, indische oder die britische. Diesen buchstäblich globalen Einfluss, den sie durch „Wanderungen“ und „Entlehnungen“ ausübte, ermöglichte das enorme Alter, das man ihr zuschrieb. Mit Hilfe von waghalsigen Kombinationen ließ sich beispielsweise der Zodiakos sogar in ein Zeitalter datieren, in dem das Jahr mit dem Frühlingsäquinoktium in â begonnen hatte, was auf das siebente bis fünfte Jahrtausend zutraf.⁷⁴ Dies aber hatte den Preis, annehmen zu müssen, überall dort, wo Astronomie

70 Vgl. Bastian (1901) I, 22 f. 71 Vgl. Jung (2014), 99 f. 72 Vgl. Jeremias (1909), 13 f., ders. (1929), X; vgl. Boll (1950), 63 f.; Boll/Bezold/Gundel (1966), bes. 72–82. 73 Winckler (1904), 4. Ähnlich bereits ders. (1901), 4 f. 74 Vgl. Jeremias (1929), 203 f.

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getrieben wurde, sei eine Rezeption babylonischer Gedanken anzunehmen. Der weltweite Einfluss der altbabylonischen Kultur schien freilich auch deshalb möglich, weil er sich weniger an Sprache als an dem orientierte, was allen Menschen vor Augen stand und ihm Orientierung in Raum und Zeit ermöglichte: dem Sternenhimmel und den – vermeintlich – an ihm sichtbaren bewegten Bildern. Doch auf die Probleme der Wege der Verbreitung der babylonischen Kultur soll hier nicht mehr eingegangen werden.

5 Schluss Die Aussage ist heute fast zu einem Gemeinplatz geworden, dass eine Kultur, die sich als historisch gewordene versteht, sich über die Geschichte ihrer Identität versichert. Die Vergangenheit wird dabei nicht nur aus der Gegenwart betrachtet, sondern auch perspektiviert, also „auf das Gefüge kultureller Werte, Bewertungen und Kommunikationsschichtungen bezogen“, wie ein prominenter Wissenschaftshistoriker unserer Zeit formuliert hat.⁷⁵ Da dabei nicht nur die „Aufnahmekultur“ verändert wird, insofern sie das kollektive Gedächtnis modifiziert, sondern auch die „Referenzkultur“ in bestimmter Weise geformt wird, spricht man von „Allelopoiese“. Hugo Winckler, der oft zitierte Altorientalist und Wortführer der Panbabylonisten, hat 1902 die Frage gestellt, ob es nicht all zu weit hergeholt und ein bloßes „Kunststückchen akademischer Rhetorik“ sei, „das alte Babylonien mit den Bedürfnissen und Bestrebungen der heutigen Kulturwelt in Zusammenhang zu bringen“.⁷⁶ Selbstverständlich sollte diese Frage als rein rhetorisch durchschaut werden. Am Willen, das alte Babylon zu einer lebendigen Geschichte zu machen, hat es insbesondere den Panbabylonisten nicht gemangelt. Ihr Babylon entsprach den Erwartungen an eine paradigmatische Vergangenheit, eine Antike, in höchstem Maße: Es war genau die Antike, die auf Grund ihrer globalen Verbreitung in die Zeit der kolonialen Erschließung der Welt passte. Freilich hat dies auch einen gewissen Preis, und die Unhaltbarkeit vieler Thesen, die von den Panbabylonisten aufgestellt wurden, zeigt dies überdeutlich. Dabei darf wiederum nicht übersehen werden, dass beispielsweise der Versuch, die altbabylonische Kultur als ganze zu erfassen und so die Zusammengehörigkeit von Divinationstechniken und Wissenschaft zur Geltung zu bringen, sich als ebenso innovativ erwies wie die Kritik an der Vorstellung, allein die Griechen seien zu wissenschaftlichem Denken befähigt gewesen. Der „Preis“ bestand wohl vor allem darin, dass das Bild, das jene Gruppe von Altorientalisten von Babylon zeichnete, all zu genau auf das Bild vom wilhelminischen Deutschland zugeschnitten war, das des-

75 Breidbach (2011), 25; vgl. auch Rüsen (2002). 76 Winckler (1902), 4.

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sen Eliten entwarfen, etwa diejenigen, die in der Orient-Gesellschaft engagiert waren. Um nochmals Winckler zu zitieren: Im besonderen ist Deutschland in dieser Zeit nach seiner nationalen Einigung aus seinen engen Grenzen herausgetreten und hat sich eine gleichberechtigte und angesehene Stellung auf diesem erweiterten Schauplatze gesichert, auf dem jetzt die Entwicklung der Menschheit, die Weltgeschichte ihren Gang nehmen wird. Es ist aus solchen Gründen kein Zufall, wenn eine Welt, die so lange uns kalt gelassen hat, allmählich anfängt das Interesse zu wecken.⁷⁷

Der forsche Optimismus, der aus diesen Zeilen spricht, die die Verbindung zwischen den wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten des Kaiserreiches im Orient und der Erforschung der altbabylonischen Kultur herstellen, sollte nach Ende des Krieges schnell obsolet werden. Damit aber verlor auch der Panbabylonismus an Plausibilität, und die Rede von der Menschheit wurde bei seinen frustrierten und gealterten Vertretern bald durch Gedanken über die Ungleichheit der Rassen ersetzt. Doch dies ist ebenso ein anderes Kapitel wie das Bild Babylons als gestrafter Hybris.

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Gerd Graßhoff

Panbabylonismus als Mythos der Kulturentwicklung Michael Weichenhan hat ein beeindruckend dichtes Bild einer virulenten wissenschaftshistorischen Episode um 1900 gezeichnet. Er zeigte die Bemühung vieler Geisteswissenschaftler, vor dem Hintergrund verschiedener Disziplinen der Antikenforschung die Weltanschauung der Babylonier als Ausgangspunkt der kulturellen Entwicklung der Menschheit (als „Urzelle“) aller Kulturen, zumindest der Alten Welt, zu zeichnen. Die „Panbabylonismus“ genannte Auffassung behauptet, dass das kosmologische Weltbild Babylons mit elaborierten astronomischen Ansichten Ausgangspunkt für die Weltanschauungen fast aller Religionen und Kulturen der alten Welt gewesen sei. So wie nach einer gängigen biologischen Evolutionstheorie der Urmensch seinen weltweiten Siegeszug aus Afrika begann, so seien es die mesopotamischen Astrologen gewesen, die vergleichbar die Wissenschaften im alten Orient hervorbrachten. Mit dem Begriff „Panbabylonismus“ werden verschiedene Thesen verbunden: Zum einen die häufig mit Delitzsch in seinen drei öffentlichen Vorträgen vertretene These, dass die Texte des Alten Testaments Abschriften oder enge Varianten älterer babylonischer Texte seien;¹ Babylon habe als Erklärung und Illustrator der Bibel zu gelten. Delitzsch verband die These mit einer behaupteten sittlichen Überlegenheit der babylonischen Kultur über ihr christliches Plagiat.² Der Begriff „Panbabylonismus“ selbst wurde durch Hugo Winckler in seiner Geschichte Israels von 1900 geprägt,³ der – und ihm folgend Peter Jensen⁴ und Alfred Jeremias⁵ – die Erzählungen des Alten Testaments nicht im engeren Sinne als Kopien, sondern Umformulierungen ihrer babylonischen Vorbilder wie dem Gilgamesch-Epos als beeinflussende Quellen gesehen hat.⁶ In diesen Varianten positionierte sich der Panbabylonismus als These zur Religionsentwicklung des Alten Testaments. Ich möchte mich in meinem Kommentar nicht auf die religionshistorischen Aspekte, sondern auf die wissenschaftshistorischen Dimensionen des Panbabylonismus konzentrieren. Weichenhan versteht diese Episode als ein Paradebeispiel für eine Allelopoiese, die den Entwicklungs- und Transformationszusammenhang zwischen einer ursprünglichen Kultur – Referenzkultur genannt – und der sich daraus trans-

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Delitzsch (1903), (1904), (1905). Arnold/Weisberg (2002). Winckler (1900), (1907). Jensen (1906). Jeremias (1929). Ebd., Parpola (2004).

DOI 10.1515/9783110499261-003

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formierten Kultur – Aufnahmekultur – zu einer wechselseitigen Veränderung beider begreift. Wie haben wir uns eine solche Relation hinsichtlich der wissenschaftshistorischen Befunde zur babylonischen Wissenschaft nach der Sicht des Panbabylonismus vorzustellen? Wird diese als kulturelle Wechselwirkung verstanden, so ist sie in einer bestimmten Lesart durch alle in einem Entwicklungszusammenhang stehenden kulturellen Stadien trivial zu erfüllen. Die sich später entwickelnden Kulturen werden in einem Transformationszusammenhang immer von einer ursprünglichen Kultur beeinflusst gewesen sein. Weiterhin wird es unstrittig sein, dass für die erarbeiteten historischen Befunde moderne Forschungsinteressen und Sachkenntnisse erkenntnisleitend und somit selektiv sind. In einem solchen Sinne ist es ohne allzu radikale kulturrelativistische Generalisierungen zu vertreten, dass ein gegenwärtiges Verständnis historischer Sachverhalte unser Urteil über die historischen Tatsachen beeinflusst. Um das mit einem sehr einfachen wissenschaftshistorischen Beispiel zu illustrieren: Es erfordert alle heutigen himmelsmechanischen Raffinessen, um die von den Babyloniern beobachteten Bewegungen des Mondes so genau zu berechnen, dass ein Urteil über die babylonische Beobachtungspraxis und ihre potentiellen Fehler möglich ist. Jede wissenschaftshistorische Beurteilung der astronomischen Beobachtungsverfahren, ihrer Genauigkeit und systematischen Durchführung ist somit abhängig von unserem heutigen Vermögen, die damals beobachteten astronomischen Phänomene überhaupt zu rekonstruieren. Weichenhan aber versteht den Rückimport umfassender. Er projiziert einen solchen Wissenstransfer auf die damaligen gesellschaftlichen Umstände: Die Vertreter des Panbabylonismus konstruierten seiner Meinung nach die mesopotamische Kultur und Wissenschaft anachronistisch als Kopie ihrer wilhelminischen Gesellschaft. Das bürgerliche Selbstverständnis, die aufstrebenden Wissenschaften und zunehmende Technisierung Deutschlands zu Ende des 19. Jahrhunderts fänden ihre Vorläufer im Babylon vor fast 4000 Jahren. Damit antizipierte Babylon nicht nur die sozialen und religiösen Charakteristiken der damaligen Zeit. Auch die wissenschaftlichen Grundüberzeugungen hätten ihren ersten Höhepunkt in den Tempeln Babylons gefunden, dem die nachfolgenden Wissenschaftsepisoden der antiken Philosophen und Astronomen bis zu Kopernikus und Kepler nur nacheifern, den sie aber nicht erweitern oder korrigieren konnten. Gemäß dem Panbabylonismus ist die Quellkultur gewissermaßen zeitlos, so Weichenhan, da ihre Errungenschaften universalen Geltungsanspruch erheben würden und keinem historischen Wandel unterworfen waren. In Weichenhans Darstellung ist die Quellkultur des Panbabylonismus ein Konstrukt seiner Zeit des Wettbewerbs um Kolonien, die ihre Selbstversicherung über eine Neuerfindung einer orientalischen Renaissance suchte. Heute erscheint eine so skizzierte historische Deutung völlig überzogen und Frucht eher von Wunschdenken als Ergebnis historischer Analyse. Zudem hält Weichenhan eine solche These zurecht für wissenschaftshistorisch widerlegt. Doch ist die Motivlage zur Formulierung des Panbabylonismus als Rückprojektion eines wil-

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helminischen Gesellschaftsverständnisses selbst historisch angemessen? Versuchen wir, die zugegebenermaßen extremen Ansichten der Panbabylonisten wissenschaftshistorisch zu kontextualisieren. Zunächst einmal ist festzustellen, dass Delitzsch, Winckler, Jeremias und die anderen genannten Personen keine wissenschaftlichen Amateure waren, die in Festsälen vor Kaiser und Gesellschaft das große Wort führten und in Bierzeltlaune ihre Sprüche anbrachten.⁷ Die öffentlichen Vorträge hatten zwar einen großspurigen Stil, ihre Vertreter aber sind fast ohne Ausnahme die renommierten Fachvertreter der Assyriologie der Zeit. Es sind die Lehrstuhlinhaber der Zunft, die diese Thesen vertraten. Einmal unterstellt, dass sich ihre wissenschaftlichen Ansichten von den öffentlichen Darstellungen nicht bedeutend unterscheiden, ist ihre Motivation für eine derart profilierte öffentliche Debatte fraglich. Natürlich hegte die bürgerliche Öffentlichkeit im kaiserlich vereinten Deutschland große Sympathien für alles, was sie für den Orient hielten. Nicht nur begeisterte sich Ludwig II an legendären orientalischen nächtlichen Umzügen und die archäologischen Ausgrabungen Babylons profitierten von der Privatschatulle Wilhelms II. Unvergessen blieb der Auftritt Wilhelms II in Jerusalem, wo er anlässlich seines Einritts in die Altstadt das historische Jaffator einreißen ließ, um die Sitzhöhe des Imperators zu Pferd dem Anlass angemessen hochstehend einzunehmen.⁸ Verhält sich nach dem Panbabylonismus die Kulturgeschichte Babylons ähnlich? Tatsächlich fehlt an diesem Bild der wissenschaftshistorische Kontext. Die Keilschrifttexte Babylons sind erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Grotefend und Rawlinson entdeckt worden. Erst 1837 publizierte Grotefend seine Neuen Beiträge zur Erläuterung der persopolitanischen Keilschrift, gefolgt von Neue Beiträge zur Erläuterung der babylonischen Keilschrift.⁹ Erst danach konnte es gelingen, die wichtigsten zentralen Monumente wie den Kodex von Hammurapi zu entziffern und die wichtigsten babylonischen Epen, darunter das Gilgamesch-Epos, zu übersetzen. Von einem nur skizzenhaften Verständnis der babylonischen Kultur konnte zu dieser Zeit noch nicht die Rede sein. Dieses änderte sich rasant in den nachfolgenden Jahrzehnten. Für die Wissenschaftsgeschichte sind dabei drei Personen von zentraler Bedeutung: Es sind die Jesuiten Joseph Epping, Johann Nepomuk Strassmaier und Franz Xaver Kugler, die das Verständnis um die astronomischen Keilschrifttafeln wesentlich förderten. Kugler veröffentlichte ab 1907 in mehreren Bänden seine Sternkunde und Sterndienst in Babel, in denen er die Früchte der Jesuitischen Forschung zur babylonischen Astronomie zusammenfasste.¹⁰ Während Strassmaier den größten Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit in der British Library an der Entzifferung der Keilschrifttexte verbrachte, gelang Kugler die bis heute wenig modifizierte Identifikation 7 Parpola (2004). 8 Thomas (1979). 9 Grotefend (1837). 10 Kugler (1907).

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der zwei grundlegenden theoretischen Konzepte babylonischer Mondtheorie.¹¹ Diese wissenschaftshistorischen Beiträge konnten epochal unser Verständnis der beginnenden Wissenschaft prägen. Nicht umsonst betitelte der Mathematiker Bartels van der Waerden sein Hauptwerk über die babylonische Astronomie: Erwachende Wissenschaft.¹² Die wissenschaftshistorischen Einsichten zum Stellenwert und Inhalt babylonischer Astronomie hatten nichts mit den Thesen des Panbabylonismus zu tun. Im Gegenteil, mit seiner Veröffentlichung trat Kugler den vollkommen überzogenen Extrapolationen des Panbabylonismus entgegen und konnte die Debatte um den Streit um die Babylon-Bibel effektiv durch die Präsentation der wissenschaftshistorischen Fakten beenden.¹³ Es ist zwar auffällig, dass die einschlägigen ersten Veröffentlichungen zur babylonischen Astronomie in der Reihe Stimmen aus Maria Laach erschienen, mit Titeln, die der panbabylonischen Übertreibung ähnelten. Es sei daran erinnert, dass die Abtei Maria Laach zwischen 1862 und 1872 als Ausbildungsstätte der Jesuiten diente und diese als Folge von Bismarcks Kulturkampf zwischen 1872 und 1914 ins holländische Exil zogen.¹⁴ Die Verfasser der wissenschaftshistorischen Forschungen über Babylon sind damit überhaupt nicht mit dem wilhelminischen Deutschland und seinem Kulturverständnis zu identifizieren, sie wurden geradezu verfolgt. Tatsächlich entstanden die Grundthesen des Panbabylonismus überhaupt nicht in Deutschland, sondern sind englischen Ursprungs. Dort begann 1872 George Smith eine Debatte über die auffälligen Ähnlichkeiten zwischen der biblischen Geschichte der Sintflut und dem Gilgamesch-Epos.¹⁵ Smith behauptete, dass die biblische Schöpfungsgeschichte babylonischen Ursprungs sei. Am 4. Dezember 1872 erschien in der Times The Chaldean History of the Deluge, 1876 erschien sein Buch The Chaldean Account of Genesis.¹⁶ Delitzsch war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Smiths Buch in London und von dem Werk tief beeindruckt.¹⁷ Er überredete seinen Bruder Hermann, den Text ins Deutsche zu übersetzen. Dies geschah so schnell, dass die deutsche Ausgabe bereits 1876 erscheinen konnte.¹⁸ Von diesem Zeitpunkt an vertrat Delitzsch die These, dass beispielhaft an der Darstellung der Sintflut viele Varianten der Schöpfungsgeschichte anderer alter Kulturen auf einen einzigen Vorläufer babylonischen Ursprung zurückzuführen sind. Der Panbabylonismus hat nichts mit dem wilhelminischen Deutschland zu tun. Er ist inhaltlich zunächst eine These über die historische Entwicklung der Schöpfungsgeschichte. Bis zur Publikation der Arbeiten

11 12 13 14 15 16 17 18

Ebd. Waerden (1952). Kugler (1909). Jong (2015). Smith (1872a). Smith (1876). Ebd. Delitzsch/Herrmann (1876).

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von Kugler wurden die babylonischen Leistungen der Astronomie viel zu früh datiert. Das ist verständlich angesichts des anfänglichen geringen Verständnisses der spätbabylonischen Keilschrifttexte. Deswegen ist nachvollziehbar, warum man zunächst behauptete, die babylonischen Theorien der Mondbewegung seien bereits im zweiten Jahrtausend entwickelt worden. Dass diese Vorstellung falsch ist, ist kein Ergebnis heutiger Forschung zur babylonischen Astronomie. Bereits Kugler korrigierte diese Sicht und damit war die Debatte beendet. Heute ist unsere Kenntnis über die Entwicklung der Astronomie viel umfassender und fundierter.¹⁹ Wir können mittlerweile sagen, in welchem Rahmen astronomische Vorhersagen über die regelmäßigen Muster von Jahreszeiten und Finsternissen sowie der Kalender im zweiten Jahrtausend systematisiert worden sind und zusammen mit der Erstellung von Omen eine große gesellschaftliche Relevanz im alten Babylon erfuhren.²⁰ Es war aber erst in der persischen Zeit Mesopotamiens, als im fünften Jahrhundert vor Christus ein systematisch angelegtes Beobachtungsprogramm der babylonischen Astronomen zur Aufzeichnung täglicher Himmelsbeobachtungen führte. Und es geschah wahrscheinlich in einem engen Zeitfenster zwischen 450 und 400, dass die mathematische babylonische Astronomie voll entwickelt wurde.²¹ Die Periodenbeziehungen zur Bewegung des Mondes sind dabei mit einer Genauigkeit bestimmt worden, die in der Antike ohne Änderung übernommen wurden. Tatsächlich wurden die Periodenbeziehungen der Himmelsbewegungen von Ptolemaios und seinem Vorgänger Hipparch aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert trotz eigenständiger Beobachtungen übernommen. Man kann nachweisen, dass die eigentliche quantitative Verarbeitung babylonischer Astronomie erst um 200 vor Christus im griechischen Kulturraum erfolgte.²² Deshalb ist es kein Zufall, dass weder in Platons Timaios noch bei Aristoteles quantitativ brauchbare Angaben über die Himmelsbewegungen zu finden sind. Zu dieser Zeit war die griechische Philosophie der babylonischen Astronomie nicht ebenbürtig. Interessanterweise gelang durch die Diffusion und Transformation des Wissens der babylonischen Astronomie zwar der Nachweis, dass die babylonischen Periodenbeziehungen von allen umliegenden Kulturen übernommen wurden. Erstaunlicherweise hat man jedoch nur sehr wenige direkte sprachliche Übersetzungstexte der babylonischen mathematischen Keilschrifttexte. Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts dachte man sogar, dass es keine griechischen Übersetzungen babylonischer Keilschrifttafeln gäbe.²³ Dieses führte die britische Assyriologin Eleanor Robson zur Behauptung, dass eine Diffusion babylonischen Wissens nach Griechenland nicht nachzuweisen sei und einer der sel-

19 Neugebauer (1975). 20 Graßhoff et al. (2016). 21 Ossendrijver (2012). 22 Jones (1991). 23 Neugebauer (1989).

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tenen Fälle von Parallelentdeckungen angenommen werden müsste.²⁴ Tatsächlich ist eine solche Parallelisierung schlecht vorstellbar, da die übernommenen Zahlenwerte bis in hohe Stellen nach dem Komma spezifisch sind, was eine Duplikation der Entdeckungen ausschließt. Eine genaue Analyse des Hauptwerks von Ptolemaios, dem Almagest, zeigt zudem, dass in ihm Exzerpte babylonischer Quellen fast wortwörtlich enthalten sind. Ptolemaios schreibt, dass Hipparch und ihm babylonische Finsternislisten vorlägen, mit deren Hilfe sie ihre geometrischen Modelle validieren konnten.²⁵ Tatsächlich sind seit Hipparch die geometrischen Modelle aus den Daten hergeleitet worden, im Ergebnis wurden jedoch die babylonischen Parameter der Bewegung der Himmelskörper nicht korrigiert. So verstehen wir heute die Wissenschaftsentwicklung der Astronomie als einen Prozess der griechischen Aufnahme einer hoch entwickelten babylonischen Astronomie zusammen mit der Übernahme von umfassendem Beobachtungsmaterial, das im griechischen Kulturraum keine Entsprechung hatte. Dieser Transformationsprozess ist jedoch nicht als eine einfache Ideenübernahme zu verstehen. Wie in jeder modernen Wissenschaft wurden auch in der Antike die Ergebnisse der Vorläufer aufgenommen, kritisch überprüft und mit den Mitteln der neu entwickelten geometrischen Methode durch die griechischen Mathematiker konzeptionell reformuliert. So wissen wir heute, dass die arithmetischen Methoden der babylonischen Astronomie durch die späten griechischen Astronomen geometrisch reinterpretiert wurden. Eine empirische Neufundamentierung wurde dagegen nicht vorgenommen. Die enge Verbindung der astronomischen Nutzung in astrologischen Kontexten und zur Regulierung der Kalender ist aus heutiger Sicht eine korrekte Interpretation des Panbabylonismus. Das Entstehen einer einheitlichen kosmologischen Vorstellung von Regularitäten, die als periodische Überlagerungen von Bewegungen hinter den sichtbaren Phänomenen die kosmologischen Prozesse bestimmen, ist auch nach heutiger Vorstellung im frühen Babylon artikuliert und in spätbabylonischer Zeit quantitativ perfektioniert worden. Diese Vorstellungen haben gleichzeitig die Schriften griechischer Philosophen und deren Weltverständnis maßgeblich bestimmt. Die chronologischen Irrungen und rhetorischen Übertreibungen des Panbabylonismus sind bereits durch Kugler wissenschaftshistorisch endgültig korrigiert worden. Der Panbabylonismus ist auch um 1900 kein spezifisches Phänomen deutscher Kulturgeschichte. Tatsächlich gab es einen frappierend ähnlichen Vorläufer in Frankreich. So veröffentlichte 1794 Dupuis eine Publikation zum Ursprung aller Kulte,²⁶ in der fast wortgleich über den gemeinsamen Ursprung von Religion und Astronomie spekuliert wurde. Nur ist es in diesem Fall nicht Babylon, das den Ursprung aller späteren Kulturentwicklungen darstellt, sondern Ägypten. Befördert durch Napoleons

24 Robson (2008). 25 Graßhoff et al (2016). 26 Dupuis (1794).

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ägyptischen Feldzug führten die nach Frankreich verschleppten Kulturgüter dort zu einer intensiven Auseinandersetzung um die kulturelle Frühgeschichte der Menschheit, die nicht nur Sprachwissenschaftler der damaligen Zeit involvierte. Wie Jed Buchwald in seiner umfassenden Monographie über den Zodiak von Dendera nachzeichnete, wurden auch von staatlicher Seite praktisch alle damals renommierten Astronomen und Physiker in die Debatte um die Interpretation einbezogen.²⁷ Auch in diesem Fall bestanden anfänglich größte Missverständnisse über ein als viel zu alt angesetztes astronomisches Wissen Ägyptens. Analog zum Streit um den Panbabylonismus fast 80 Jahre später setzte erst das genaue Textverständnis durch die Übersetzung Champollions den Spekulationen ein Ende.²⁸ Dieser konnte zeigen, dass der Zodiak nicht tausende Jahre vor Christi zu datieren ist, sondern erst in römischer Zeit verfasst wurde. Tatsächlich ist der Streit um den Panbabylonismus nicht ohne den Kontext der Gegenthesen zu verstehen, die durch die vorgebrachten babylonischen Ursprünge kontrastiert wurden. Hier muss man berücksichtigen, dass um die Jahrhundertwende die dominierende Sicht zur Entwicklung der Wissenschaften von einem klassischhellenistischen Ursprung ausging. Die öffentliche Debatte der Astrologen zum Panbabylonismus wurde durch einen religionshistorischen Aspekt über die Deutungshoheit der Religionsentstehung hervorgebracht. Dieser macht den zentralen Teil der Kontroverse aus.

Literatur [Anon.], „Some Recent Books on Panbabylonism“, in: Studies. An Irish Quarterly Review 1 (1912), 563–578. Arnold, Bill/ Weisberg, David, „A Centennial Review of Friedrich Delitzsch’s ‚Babel and Bibel‘ Lectures“, in: Journal of Biblical Literature 121 (2002), 441–457. Buchwald, Jed Z., „Egyptian Stars under Paris Skies“, in: Engineering and Science 66.4 (2003), 20– 31. Buchwald, Jed Z./Josefowicz, Diane Greco, The Zodiac of Paris. How an Improbable Controversy over an Ancient Egyptian Artifact Provoked a Modern Debate between Religion and Science, Princeton 2010. Champollion, Jean-François/Champollion-Figeac, M., Grammaire égyptienne Ou Principes généraux de l’écriture sacrée égyptienne appliquée à la représentation de la langue parlée, Paris 1836. Delitzsch, Friedrich, Zweiter Vortrag über Babel und Bibel. Mit zwanzig Abbildungen und einem Vorwort zur Klärung, Stuttgart 1903. Delitzsch, Friedrich, Babel und Bibel. Ein Rückblick und Ausblick, Stuttgart 1904. Delitzsch, Friedrich, Babel und Bibel. Erster Vortrag, Leipzig 1905.

27 Buchwald 2003, Buchwald/Josefowicz 2010. 28 Champollion 1836.

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Delitzsch, Herrmann, George Smiths Chaldäische Genesis. Autorisierte Übersetzung von Herrmann Delitzsch, nebst Erläuterungen und fortgesetzten Forschungen von Friedrich Delitzsch, Leipzig 1876. Dupuis, Charles-François, L’Origine de tous les cultes ou religion universelle, Bd. 2, Paris 1794. Ginzel, Friedrich Karl, „Die astronomischen Kenntnisse der Babylonier und ihre kultur-historische Bedeutung: I. Der gestirnte Himmel bei den Babyloniern und der babylonische Ursprung der Mondstationen (pp. 1–25); II. Sonnen- und Mondlauf und der Gang der Gestirne nach babylonischer Kenntnis und deren Einfluss auf die griechische Astronomie (pp. 189–211); III. Der mutmaßliche Entwicklungsgang der babylonischen Astronomie (pp. 349–380)“, in: Klio 1, (1901). Graßhoff, Gerd , „Longitude“, in: Group Reports. Berlin Studies of the Ancient World 3X. etopoi, 2016 (i. E.). Grotefend, Georg Friedrich, Neue Beiträge zur Erläuterung der persepolitanischen Keilschrift nebst einem Anhange über die Vollkommenheit der ersten Art derselben bei der ersten Secularfeier der Georgia Augusta in Göttingen, Hannover 1837. Gundel, Wilhelm, Astronomie, Astralreligion, Astralmythologie und Astrologie. Darstellung und Literaturbericht 1907–1933, Leipzig 1934. Jensen, Peter, Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur, Bd. 1., Strassburg 1906. Jeremias, Alfred, Handbuch der altorientalischen Geisteskultur, Berlin 1929. Johanning, Klaus, Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie, Frankfurt a. M. /New York, 1988. Jones, Alexander, „The Adaptation of Babylonian Methods in Greek Numerical Astronomy“, in: Isis 82 (1991), 441–453. Jong, Teije de, „Babylonian Astronomy 1880–1950. The Players and the Field“, in: Otto Neugebauer Memorial Volume, ed. by Christine Proust/John Steele, im Druck. Kugler, Franz Xaver, Sternkunde und Sterndienst in Babel, Münster 1907. Kugler, Franz Xaver, „Auf den Trümmern des Panbabylonismus“, in: Anthropos 4 (1909), 477– 499. Kugler, Franz Xaver, Im Bannkreis Babels. Panbabylonistische Konstruktionen und Religionsgeschichtliche Tatsachen, Münster 1910. Kugler, Franz Xaver/Johann Nepomuk Strassmaier, Die babylonische Mondrechnung. Zwei Systeme der Chaldäer über den Lauf des Mondes und der Sonne, Freiburg i. Br. 1900. Larsen, Mogens, „The ‚Babel/Bible‘ Controversy and Its Aftermath“, in: Civilisations of the Ancient Near East, ed. by Jack Sasson, New York 1995, 95–106. Lehmann, Reinhard, Friedrich Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, Freiburg/Schweiz 1994. Neugebauer, Otto, „A Babylonian Lunar Ephemeris from Roman Egypt“, in: A Scientific Humanist: Studies in Memory of Abraham Sachs (1988), 301–304. Ossendrijver, Mathieu, Babylonian Mathematical Astronomy. Procedure Texts, New York 2012. Parpola, Simo, “Back to Delitzsch and Jeremias. The Relevance of the Pan-Babylonian School to the Melammu Project“, in: Schools of Oriental Studies and the Development of Modern Historiography, ed. by Antonio C. D. Panaino/Andrea Piras, Winona Lake, IN, 2004, 237–247. Robson, Eleanor, Mathematics in ancient Iraq A social history, Princeton 2008. Smith, George, The Chaldean Account of Genesis, Containing the Description of the Creation, the Fall of Man, the Deluge, the Tower of Babel, the Times of the Partiarchs, and Nimrod; Babylonian Fables, and Legends of the Gods; from the Cuneiform Inscriptions, New York 1876. Smith, Robert, „Chaldean History of The Deluge“, in: The Times (December 4, 1872a) 27551, 7. Smith, Robert, „The Chaldean Story of The Deluge“, in: The Times (December 5 1872b) 27552, 9. Thomas, Ritchie, „Some 19th Century Photographers in Syria, Palestine and Egypt“, in: History of Photography 3.2 (1979) 157–166. Waerden, Bartel Leendert van der/Habicht, Helga, Erwachende Wissenschaft, Basel 1968. Winckler, Hugo, Geschichte Israels in Einzeldarstellungen, Leipzig 1895. Winckler, Hugo, Die babylonische Geisteskultur, Leipzig 1907.

Disparate Topologien Zum Wechselspiel von Geschichtsbild und Filmszenographie in The Fall of the Roman Empire (1964) Ulf Jensen

I Das Forum Romanum als Zentrum Ein Gruppenporträt vereint die dramatis personae des Films The Fall of the Roman Empire aus dem Jahr 1964 (Abb. 1). Die freistehende, weiße und durch die Beleuchtung nochmals hervorgehobene Säule scheint in der Mittelachse hinter der Figur des Marc Aurel emporzuwachsen, der hier von Alec Guiness verkörpert wird. Der Kaiser legt seine zu einer milden Faust geschlossene Hand präzise in dieser Achse vor sein Gewand, so als ob er damit die Mitte des Reichs bezeichnen würde. Hinter ihm stehen im Halbkreis die übrigen Handlungsträger des Films. In deren Händen wird – unter der Regie von Anthony Mann – das Schicksal des Reiches nach dem gewaltsamen Tod des Kaisers im Jahr 180 nach Christus liegen. Sie stehen für die zentrifugalen und zentripetalen Kräfte, die den Fall des Reiches verursachen. Größe und Fall Roms sind somit auf eine szenographische Minimalformel reduziert: Die Konterkräfte des germanischen Barbarenfürsten ganz rechts ebenso wie die des armenischen Prinzen neben ihm als Vertreter des Ostens, aber auch des tyrannischen vermeintlichen Kaisersohnes Commodus, wurden in Form eines schräg nach vorn gefallenen Säulenstumpfes wie ein Vektor zum Zentrum hin übertragen und materialisieren sich dort als eine reale Stolperfalle für das Kaisertum. Die Protagonisten, die links vom Kaiser auf einer Art Tugendtreppe angeordnet sind und ihn hier noch gegen die beiden Bösewichter ganz links abschirmen, können den Intrigen nur wenig entgegensetzen; am wenigsten die in einer unentschiedenen Liebesbeziehung verbundenen Hauptpersonen Sophia Loren als Lucilla und Stephen Boyd als Livius.¹ Neben der Reduktion auf das wohl charakteristischste Requisit des Antikfilms, die Säule, fasst die Fotografie ein weiteres szenographisches Merkmal des mehr als dreistündigen Films zusammen: Es ist das Verhältnis zwischen Zentrum und unterschiedlich charakterisierten Peripherien, das im Foto mit dem spitzwinkligen Verhältnis der aufrechten und der gestürzten Säule auf den Punkt gebracht wird. Die drei Hauptschauplätze – zuerst eine befestigte Anlage im Grenzland zu Germanien, dann die

1 Zum Verhältnis vom Plot zur Geschichtsschreibung: Ward (2009); zu Livius und Lucilla: ebd., 74. Umfassend zum Film: Winkler (2009); (1995). Zum Filmschaffen des Produzenten Samuel Bronston: Martin (2007), insb. 129–151. DOI 10.1515/9783110499261-004

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Stadt Rom mit ihrem Forum und schließlich eine nicht näher bestimmte Gegend im Osten des Reiches – werden nicht nur mit den üblichen Bauten und Requisiten, sondern auch mit jeweils unterschiedlichen Raumkonzepten ausgestattet. Zwei dieser Bildraumkonzepte sollen im Folgenden analysiert und voneinander unterschieden werden: Im ersten Teil das Römische Forum, dessen Rekonstruktion im Film seine Bedeutung als Zentrum des Reiches herausstellt, und in einem zweiten Teil der Osten des Reichs, dessen periphere Lage mit einer spezifischen Tangentialität ins Filmbild gesetzt wird. Wenn im Zusammenhang mit Transformationen der Antike über Bilder gesprochen wird, dann ist zunächst davon auszugehen, dass Bilder – ähnlich wie Texte – Medien sind, in denen Antike als solche zunächst überhaupt erst eine Form annimmt. Die Medien der Antike² bieten einen Ordnungsrahmen an, in den die überlieferten Fragmente virtuell – wie auf Bildern – oder materiell – wie beispielsweise im Museum – eingestellt und in einen sinnstiftenden Zusammenhang gebracht werden können. Insbesondere die römische Antike hat das Modell für eine besonders qualifizierte Vergangenheit gebildet, deren direkter Bezug zur eigenen Gegenwart zunächst als unterbrochen wahrgenommen werden musste, um dann um so aktiver an sie anzuknüpfen. Die Qualifizierung der römischen Vergangenheit als „die“ Antike, die durch ein epochales medium aevum im Dunkeln belassen worden war, das nun durch die Beschäftigung mit dem Vorvergangenen beendet werden sollte, kann als primäre Formierung von Antike begriffen werden, die sich selbst als deren Renaissance bezeichnet hat. Dieser fundamentale Akt einer primären Antikeformation legte die Fundamente für die darauffolgenden Antiketransformationen, aber auch für die Erweiterung des Antikebegriffs auf griechische, germanische, babylonische und alle anderen als qualifiziert eingebundenen Vergangenheiten. Bilder bleiben bei neuzeitlichen und modernen Antiketransformationen wichtige Agenten nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst nicht nur einem stil- sondern auch einem medientechnischen Wandel unterworfen sind. Jede Differenzierung in der bildlichen Darstellung von Antike bewirkt demnach eine Antiketransformation, die ein ganz bestimmtes Geschichtsbild zum Ausdruck bringt. Damit ist noch nichts über Intentionalität ausgesagt. Das Gros der Antikfilme hat gerade deshalb ein so ergiebiges Analysepotenzial, weil sie Antikekonzeptionen beiläufig kolportieren und daher ein kollektives und manchmal sogar vulgäres historistisches Unbewusstes offenlegen. Davon ist The Fall of the Roman Empire nicht ausgenommen, obwohl diese Produktion die filmkünstlerische Antikeimagination auf die Spitze getrieben hat. Die Filmproduktion in Spanien ist durch ihre Rekonstruktion des römischen Forums im Maßstab eins zu eins legendär geworden: der Produzent Samuel Bronston hatte seinem eigenen Bekunden nach vor, das römische Forum in Originalgröße voll-

2 Im Unterschied zu den Medien, die in der Antike bekannt waren und verwendet wurden, vgl. dazu Engell/Siegert/Vogl (2003).

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plastisch zu errichten. Ein Foto zeigt die Baustelle, die sich in Las Matas bei Madrid, etwa auf halbem Wege zum Kloster El Escorial, befand (Abb. 2). Die Aufnahme der Treppe zum Cäsartempel verdeutlicht den Detailreichtum, mit dem die Reliefs am Architrav des Triumphbogens ausgeführt worden sind. Hier hat sich ökonomische Unvernunft durchgesetzt. Der Untergang des römischen Reiches hatte auch den Bankrott von Bronston zur Folge.³ Will man den Angaben aus der Begleitbroschüre zum Film Glauben schenken, dann quantifiziert sich dieser filmszenographische Superlativ folgendermaßen: Auf einer Fläche mit Seitenlängen von 400 mal 230 Metern errichteten 1100 Arbeiter im Verlauf von sieben Monaten 27 Gebäude, die auf 3000 Zeichnungen entworfen worden waren. 500 Kilometer Stahlstäbe wurden verbaut und für die Freifläche des Forums benötigte man 170.000 Betongusssteine. Über 600 Säulen und 350 Statuen wurden errichtet; damit waren 400 Kunsthandwerker beschäftigt.⁴ In der Filmhandlung dient das Forum erstmals nach ungefähr einem Drittel als Schauplatz, als Commodus triumphal über die Via Sacra hinauf zum Jupitertempel geleitet wird (Abb. 3). Die Kamera folgt dem Zug mit langsamen Schwenks und erschließt damit den westlichen Teil des Gebäudeensembles, welches das Forum umschließt, vom Tempel des Castor und Pollux bis hin zum Tabularium, mit dem das historische Forum nach Nordwesten zum Kapitol hin abschließt. Immer wieder richtet sich die Kamera auf die Westecke aus, die durch die ankantenden Tempelfronten geprägt ist und vom Jupitertempel überragt wird. Es ist derjenige Bereich, der einen Wiedererkennungswert aufweist. Hier künden nicht lediglich bestimmte Bauordnungen von klassischer Antike, so wie beispielsweise die freistehende korinthische Säule auf dem Gruppenfoto, sondern es ist eine ganz bestimmte, unverwechselbare Anordnung von Gebäuden, die das Forum Romanum topografisch markiert. Bei der Translozierung des römischen Forums nach Madrid und der Transsubstantiation des augusteischen Marmors in Beton und Glasfiber handelt es sich um filmtechnische Zwischenschritte. Das Forum wurde von den beiden Szenographen, Bronstons Hausszenograph John Moore und dem historienfilmerprobten Italiener Veniero Colasanti⁵ als Filmkulisse entworfen, auch wenn darüber nachgedacht wurde, es für den Anschauungsunterricht für Schulklassen nach den Dreharbeiten zu erhalten.⁶ Das Resultat sind großformatige, bis zu 20 Meter breite, leuchtende Wandbilder,

3 Vgl. Martin (2007), 129. 4 Zit. n. Winkler (2009), 142–143. 5 Vgl. De Angelis (1938), 72, wo der ausgebildete Architekt hauptsächlich als Kostümbildner für moderne Opern von Debussy bis Strauss aufgeführt wird. 6 Daraus ergibt sich, dass die Bauten selbst keinem archäologischen Anspruch genügen sollten, sondern nur ihr „look“ in der Kamera. Der Nachweis wäre beispielsweise am Grundriss zu führen, der ganz anders als das historische Forum streng rechtwinklig angelegt ist, sowie an der Serialität der Dekorationen; so wurden etwa die den Caesartempel flankierenden Triumphbögen einfach verdoppelt. Beides sind spezifisch moderne Formprinzipien.

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die über 70-Millimeter-Filmmaterial mit größtem Detailreichtum auf die Kinoleinwände projiziert wurden. Die vollplastische Errichtung der gigantischen Kulisse ermöglichte es, den Platz von allen Seiten aufzunehmen. In den verschiedenen Szenen, in denen das Forum als Schauplatz dient, entsteht daher in der Filmmontage die Illusion eines geschlossenen Raumes, einer allseitig begrenzten Bühne, auf der die Geschicke des Reichs verhandelt werden. Indem die Filmkamera sich immer wieder aus allen Himmelsrichtungen auf das Zentrum der Macht richtet, qualifiziert sie die architektonisch eingefasste Fläche szenographisch als Mitte. Die aufwändig gepflasterte Freifläche, auf der Tumulte ausbrechen, auf der Barbaren verbrennen und ein Kaiser geehrt und später im Zweikampf getötet wird, tritt tatsächlich als der Nabel in Erscheinung, als jener archäologisch nachgewiesene Umbilicus Urbis Romae, von dem aus die Handlungsimpulse zunächst in die umliegend angeordneten Interieurs und dann bis zu den Grenzen des Reichs ausstrahlen. Wenn von einem Wiedererkennungswert des Forums die Rede ist, dann richtet sich dieser nicht, wie der Produzent selbstbewusst anmerkt, auf den Kaiser Commodus „were he suddenly to come to life“⁷ – genauso wenig wie auf die Ausgrabungsstätte des historischen Forums, die zu wenige ikonische Anhaltspunkte bietet, um dort auf einen flüchtigen Blick hin überhaupt etwas erkennen zu können.⁸ Der Wiedererkennungswert richtete sich auf zeichnerische Rekonstruktionen, auf Bilder des Forums.⁹ Daher ist die visuelle Überzeugungskraft der Kulissenbauten auf bestimmte Kamerastandpunkte hin ausgerichtet, deren Kadrage sich mit solchen Rekonstruktionszeichnungen deckt. Von herausgehobener Bedeutung ist dabei, wie bereits erwähnt, die Westseite des Forums, weil sie die topographische Markierung ermöglicht. Hier führt die Spur zunächst in die Geschichte des Antikfilms selbst. Direktes Vorbild für die monumentalen Kulissenbauten dürfte der für den italienischen Antikfilm Scipione l’Africano aufgebaute Teil des Forums gewesen sein, der 1937 unter der Regie von Carmine Gallone fertiggestellt wurde. Verantwortlich für die Szenographie zeichnete hier der ArchitektSzenograph Pietro Aschieri, der später das Museo della Civiltà Romana entwerfen sollte. Zumindest Vittorio Colasanti dürfte mit der Arbeit Aschieris bestens vertraut gewesen sein, da beide nicht nur die gemeinsame szenographische Arbeit für die Oper, sondern auch die Lehrtätigkeit an der Scuola Nazionale di Cinematografia in Rom verband. Aschieris für die republikanische Zeit gegen Ende des dritten vorchristlichen

7 Zit. n. Winkler (2009), 142. 8 Zur Geschichte des Forums vgl. jüngst Watkin (2009); Hölscher (2006). 9 Die historische Dimension der Rekonstruktionen des Forum Romanum beschreibt bereits Hülsen (1911); vgl. allgemein zur Rekonstruktion antiker Stadtbilder Kockel (2010); sowie zum Rompanorama von Bühlmann und Wagner: Kockel (2011). Neben den Zeichnungen sind Modelle wichtige Medien der Rekonstruktion, die wiederum nur im Medium der Fotografie verbreitet werden; siehe z. B. Bigot (1942), dessen Rommodell neben dem Gismondis fast in Vergessenheit geraten ist.

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Jahrhunderts entworfenes Forum, für welches sich ebenfalls eine Geschichte der Rekonstruktionszeichnungen herleiten lässt, überwältigt durch die gleiche reduzierende und zugleich überhöhende Formensprache, die der Architekt dann im EUR-Komplex realisieren wird. Wie im Filmstandbild sichtbar (Abb. 4) stammt aus diesem Forumsentwurf die Aufbrechung der Forumsecke, um die Rampe zum Jupitertempel in Szene zu setzen.¹⁰ Als szenographische Anregung müssen die beiden großen Modelle des antiken Roms gelten, von denen das bekanntere im von Aschieri erbauten Museum zu besichtigen war und ist, während das weniger prominente von Paul Bigot immerhin in einem Prunkband von 1942 allseitig fotografiert zur Verfügung stand (Abb. 5).¹¹ Weniger aufwändig hatte 1923 Buster Keaton die Westseite des Forums filmisch aufbereitet. In seinem Film Three Ages von 1923 parallelisierte er drei Geschichten aus drei unterschiedlichen Epochen: davon spielt eine im kaiserlichen Rom. Für den Zwischentitel, der die römische Episode ankündigt – „Rome, in all Her Glory“ (Abb. 6) – hat der Art Director Keatons, Fred Gabourie, eine weit verbreitete Illustration ausgewählt (Abb. 7).¹² Wie noch heute üblich, dienten die Druckerzeugnisse aus eigens eingerichteten Bibliotheken der Filmstudios, den Buch- oder Bildsammlungen der Filmszenographen oder den Beständen der ortsansässigen Buchhändler als Bildquellen für die Filmbildnerei.¹³ Für die Zwecke des Zwischentitels wurde die Vorlage beschnitten und dadurch die ohnehin bereits hohe Dichte an aneinander ankantenden Tempelfronten noch einmal erhöht. Möglicherweise stammt die Vorlage aus dem 1910 in New York produzierten Band The Roman Forum. A Photographic Description of its Monuments von Rodolfo Lanciani, dem Nestor der Topographieforschung für das antike Rom.¹⁴ Der in seinen italienischen Publikationen mit Rekonstruktionszeichnungen äußerst sparsame Lanciani hat hier für den internationalen Markt offenbar einem auflagensteigernden Kompromiss zugestimmt und die Zeichnung, als deren Urheber hier

10 Vgl. zu den szenographischen Arbeiten Aschieris: Donetti (2013). 11 Bigot (1942). Vgl. zum älteren Modell von Giuseppe Marcelliani von 1910: Rossetto (1991); zum Modell Italo Gismondis: Filippi (2007); Pavia (2006). Einige Fotografien zeugen davon, dass auch für das Forum Bronstons ein Gipsmodell erstellt wurde; siehe beispielsweise Winkler (2009), Tafel 9. 12 Vgl. Rickitt (2007), 306. Die hier gezeigte Reproduktion stammt aus der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Art and Achaeology aus Washington D.C. aus dem Jahr 1926. Sie kann demnach nicht die direkte Vorlage für den Zwischentitel sein, dient aber als Beleg für ihre Verbreitung; siehe: Calza (1926). Die Romszenographie der Episode aus Three Ages bemüht sich nicht um eine topographische Spezifikation. Keaton betritt 1966 nochmals als Senex in Richard Lesters Historienkomödie „A Funny Thing Happened on the Way to the Forum“ altrömischen Boden. 13 Der Mediävist Bernhard Jussen hat das jüngst als die „Bildreservoirs geschichtswissenschaftlicher Produktion“ bezeichnet, deren, wie er sagt, „ostentativ fiktiv illustrierte[r] Stil […] [nach dem Modell des Historienbildes]“, zwischen 1900 und 1930 aus den Geschichtsbüchern verschwand – um im gleichen Zeitraum in den Historien- und Antikfilm überzuwechseln. Jussen (2013), 261. Vgl. auch HarsTschachotin (2014), 34–41. 14 Lanciani (1910), 20–21, Fig. III.

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ein gewisser Becchetti angegeben ist, wissenschaftlich legitimiert, zumal er die Bildbezeichnung in Monumentalschrift latinisiert. Die farbige Pinselzeichnung Becchettis wiederum verrät in der bei Lanciani leicht beschnittenen rechten unteren Ecke auch ihr Entstehungsdatum: 1893 (Abb. 8).¹⁵ Ein Detail der skulpturalen Ausstattung des Forums dient nun als Indiz dafür, dass diese Rekonstruktion für das madrilenische Forum Bronstons ausschlaggebend war: die Gruppe der „Ringer“ links auf einem der Postamente zu platzieren, ist eine genuine Erfindung Becchettis, die für das Filmset übernommen und im Film für den finalen Zweikampf zwischen Livius und Commodus dann auch szenographisch aktiviert wurde. Becchettis Zeichnung wiederum orientierte sich in der gewählten Perspektive an einer als Holzstich überlieferten Rekonstruktion von Josef Bühlmann aus dem Jahr 1882 (Abb. 9), einem der produktivsten Restauratoren des antiken Roms im Bild in dieser Zeit. Bei der Westseite des Forums im Filmset von The Fall of the Roman Empire handelt es sich um eine dreidimensional verräumlichte begeh- und bespielbare Rekonstruktionszeichnung aus der Spätphase des Historismus, die dann kinematographisch auf das monumentale Wandformat der Kinoleinwand aufgezogen worden ist. Der Vergleich legt die wichtigsten Unterschiede offen: Das Architekturensemble wurde dem Breitwandformat entsprechend in die Breite gezogen, so dass auch die für die Filmhandlung wichtige Rampe und die imposante Front des Jupitertempels noch markanter ins Bild kommen. Gleichzeitig wird damit die Ikonographie administrativer Architekturensembles von staatstragender Bedeutung dem Geschmack der 1960er Jahre angepasst, die nur in automobil- oder hier – retrotransformiert – in streitwagenfreundlicher Erschließung vorstellbar waren. Großformat und Montage der teils im Kameraschwenk erfassten Forumsansichten ergeben eine Parallele zum Panorama, dem populären Großbildformat des 19. Jahrhunderts mit ähnlich immersiven Effekten wie das Kino.¹⁶ Während die Panoramen einen Rundumblick nach außen simulieren, umkreist die Kamera das Forum im Film von 1964 von außen; nicht der Betrachter befindet sich im Mittelpunkt, wie beispielsweise auf dem Kapitol im Panorama von Josef Bühlmann und Alexander Wagner 1888,¹⁷ sondern der Schauplatz des Forums wird allseitig erschlossen, auf dem die Schauspieler stellvertretend für die Betrachter agieren. Beide Bildstrategien privilegieren den bezeichneten Ort szenographisch als ein Zentrum. Becchettis Zeichnung wäre für die Filmszenographen nicht derart attraktiv gewesen, wenn sie nicht in einem vergleichbaren Modus entstanden wäre wie die Bilder der Filmkamera. Im virtuell begehbaren Bildraum der zentralperspektivischen Raumkonstruktion begegnen sich Szenographie, Historienbild und archäologische Rekon-

15 Die Zeichnung befindet sich im Besitz der Soprintendenza Speciale per i beni archeologici di Roma. 16 Vgl. dazu Grau (2001), insb. 54–117. 17 Rád (2014), 205–220; Kockel (2011).

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struktionszeichnung.¹⁸ Die historistisch gewendete „historia“ Leon Battista Albertis, die zum „Fenster der Geschichte“ erweiterte Metapher des ersten Theoretikers des Kamerabildes, wird zur Grundlage von Geschichtsdarstellung im Bild. Das Versprechen des Historismus, vergangene Epochen als Totalität rekonstruieren zu können, kann nur im Medium des Kamerabildes vollständig eingelöst werden. Denn es ist die Kamera, die – seit 1839 mit der Erfindung der fotografischen Techniken lichtmetaphorisch erneut legitimiert – Augenzeugenschaft zu simulieren vermag. Obwohl es viele verschiedene weitere Vergegenwärtigungsstrategien im Bild gibt,¹⁹ hat sich in der Moderne das Kamerabild durchgesetzt, weil der zugrundeliegende Apparat der Denkfigur einer distanzierten Objektivität entspricht, die sich nicht zuletzt auch im Wissenschaftsideal einschließlich der Geschichtswissenschaft niedergeschlagen hat, bis sie durch relationale und multiperspektivische Modelle, die den Beobachter stärker berücksichtigen – beispielsweise das Transformationskonzept –, tiefer reflektiert wurden.²⁰ Um 1900 war die Objektivität der Kamera unangefochten. An Tafel 4 a und b der Restauration de l’Ancienne Rome²¹ des Architekten Giuseppe Gatteschi,²² einem Zeitgenossen Becchettis, lässt sich das Prinzip einer kamerabasiert rekonstruierten Antike gut demonstrieren, weil hier die Arbeitsweise offengelegt wurde. Gemeinsam mit dem Maler Giovanni Lessi, Sohn eines Theaterszenographen,²³ nimmt sich Gatteschi Folgendes vor: „donner l’idée la plus exacte et scientifique possible de la ‚Rome impérial‘ à l’apogée de sa splendeur, avec les vues de l’état actuel comme pendants“.²⁴ Aus-

18 Vgl. dazu Jensen (2015). 19 Für archäologische Rekonstruktionen sind das beispielsweise auch der Grund- und Aufriss sowie die stereometrische Darstellung. 20 Erwin Panofsky, dessen Arbeiten zur Geschichte der Zentralperspektive für die Untersuchung von Filmszenographie höchste Aktualität haben, vergleicht die Technik der Zentralperspektive sogar mit dem Modell neuzeitlicher Antikekonzeption: „In der italienischen Renaissance begann man, die antike Vergangenheit von einer festen Entfernung aus zu betrachten, die der ‚Entfernung zwischen Auge und Gegenstand‘ bei der bezeichnendsten Erfindung dieser Renaissance vergleichbar ist, der Zentralperspektive. Wie in der Zentralperspektive verbietet diese Entfernung die unmittelbare Berührung – dank dem Dazwischenlegen einer idealen ‚Projektionsebene‘ –, ermöglicht aber eine vollständige und rationalisierte Ansicht.“ Panofsky (1984), 112. 21 Gatteschi (1905), Blatt 4. Die politische Ikonologie der Zentralperspektive wäre ausgehend vom Bild des „Dux radiorum“ Albertis für den Zentralstrahl der Sehpyramide mit der bildlichen Deutungshoheit auf Geschichte im Historienfilm an anderer Stelle auszuführen. 22 Zur Rolle Gatteschis für die Szenographie des Films vgl. Winkler (2009), 215; vgl. Gatteschi (1924), 11–12. Vgl. auch die Sammlung der American Academy in Rome: Gatteschi Collection of Roman Architecture and reconstructive drawings of Imperial Rome, 1900–1935; sowie Rom (2006). 23 Siehe Ivaldi (2011). 24 Gatteschi 1924, unpag. Das Bedürfnis, historische Zustände in Pendants zu differenzieren, findet sich bereits bei Sandrart 1684 angelegt, der ausgewählte Architekturrekonstruktion römischer Bauten über Stiche mit zeitgenössischen Zustand platziert, siehe Tafel XXI und XXV; die barocke szenographische Natur dieser Darstellungen spiegelt sich bereits im Titelwort „Theatrum“ bzw. „Schauplatz“,

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gangspunkt der Rekonstruktionszeichnung ist eine Fotografie der Nordwestseite des Forums, deren Aufnahmewinkel sich nur unwesentlich von dem Blickwinkel Becchettis und Bühlmanns unterscheidet (Abb. 10). Obwohl nur die Front des Saturntempels und die drei Säulen des Vespasian-Tempels tatsächlich als Architekturelemente übernommen wurden, suggeriert eine Vielzahl weiterer Bildelemente eine Ähnlichkeit beider „Aufnahmen“, beispielsweise die diagonal im Vordergrund verlaufende Treppenkante des Platzes, die linke Kante des mittelalterlich überbauten Tabulariums oder die scheinbar auf Traufhöhe des Saturntempels verlaufenden Gebäudeoberkanten auf dem Kapitol. Die stärkste Suggestivkraft geht jedoch von den zentral aufgestellten Reliefplatten aus, die in der Fotografie den Standort der Rostra einnehmen. In der Zeichnung wird die auf den Reliefplatten dargestellte Szene in den szenographischen Raum überführt: Der Schuldenerlass unter Hadrian im Jahr 118 n. Chr., der – so wurde vermutet – auf dem Forum als feierliche Verbrennung der Schuldentafeln inszeniert wurde.²⁵ Die Ruinenfotografie ist demnach der eigentliche allelopoietische Akt im Bild. Hier werden Fragmente der antiken Referenzkultur auf fotografischem Wege erfasst und in den bildlichen Ordnungsrahmen der Aufnahmekultur eingefügt. Diese Erfassung mit der gleichzeitigen Einstellung in den auf strengen Winkelkonstruktionen beruhenden zentralperspektivischen Bildraum schafft die Voraussetzung für die architektonische Rekonstruktion einerseits wie auch für die szenographische Belebung andererseits. Damit gelingt der virtuelle historistische Zeitsprung, die „szenographische Differenz“.²⁶ Obwohl diese Ablösung absolut und abstrakt ist, bleibt das Verhältnis zwischen den Ruinen der Referenz- und dem sie vervollständigenden Kamerabild der Aufnahmekultur wechselseitig, weil die immer wieder beschriebene Anziehungskraft der Ruinen der Ursprungsreiz für die Ausrichtung der Kamera – und zuvor von Zeichnern und Malern – gebildet hat.²⁷ Der moderne Blick auf Antike kann nicht ins Leere laufen, wenigstens nicht bei einem als Zentrum der Welt interpretierten Ort wie dem Forum Romanum.

genauso wie auf dem Titel die korrekte perspektivische Darstellung angepriesen wird. Auf Tafel V: „Des alten Capitolij vormalige Herrlichkeit“ ist diese allerdings zugunsten eines topographischen Schematismus aufgegeben worden. Jan Goeree kombiniert in seiner Zeichnungsfolge zu römischen Gebäuden von 1704 rekonstruierte mit gegenwärtigen Zuständen, auch hier sind die Ruinen an unterer Position. Beide nutzen allerdings vielfältigere Bildformen als das Kamerabild, siehe beispielsweise das Blatt „A Reconstruction of the Temple of Antonius and Faustina (above) and a View of the Ruins (below)“ (Museumstitel), Metropolitan Museum of Art, New York, Acc.-Nr. 58.648.2(35). 25 Die sogenannten „Anaglyphi Hadriani“ wurden erst 1872 auf dem Forum wieder aufgefunden; vgl. Seston (1927), 154. 26 Jensen (2017). 27 Böhme (2011), 13.

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Bildnachweis Abb. 1-2 Photofest, New York. Abb. 3 DVD Der Untergang des Römischen Reiches, Spirit Media 2009 Abb. 4 DVD Scipione l’Africano, Mosaico Medio, 2013 Abb. 5 DVD Three Ages, JPC Medien 2007

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II An den Rändern: Orientalisches Capriccio Die Faszination für das Forum-Set in The Fall of the Roman Empire lässt auch die Forschung manchmal vergessen, dass der Film noch weitere Schauplätze hat: Germanien – und den Osten des römischen Reiches am Ende des zweiten Jahrhunderts, die Grenzgebiete zu den östlichen Nachbarn im Vorderen Orient. Im Osten rebellieren die Provinzen, und Commodus sieht sich gezwungen, den Feldherrn Livius zu entsenden, um den Aufstand niederzuschlagen. Kaum eingetroffen, muss Livius feststellen, dass

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seine geliebte Lucilla den Aufruhr initiiert hat. Sie beschwört Livius, ein vom Rom des schurkigen Commodus unabhängiges Reich zu begründen. Die Lage eskaliert, als Lucillas Gemahl, der armenische König, die Perser zu Hilfe ruft. In Livius aber obsiegt römisches Pflichtgefühl, die römischen Truppen schlagen sich wieder auf Roms Seite, und Livius besiegt die Perser. Innenpolitische römische Probleme sind, so vermittelt der Film qua Sympathieträger Livius, gefälligst nicht mit Hilfe des Erzfeindes zu lösen. Historiographisch beckmessernd ließe sich anmerken, dass der jahrhundertelange Konflikt Roms mit einem östlich benachbarten Großreich zwar Höhepunkte unter Mark Aurel und Septimius Severus erlebte, doch zur Zeit des Commodus war ausnahmsweise all quiet on the eastern front.²⁸ Die von Colasanti und Moore szenographierten Schauplätze dienen auch im Osten nicht lediglich einer Verortung der Handlung, sondern zuvörderst der Verdeutlichung des filmischen Geschehens. Sie legen sich wie Charakterhüllen um Protagonisten und Vorgänge und erweisen sich als eminente handlungsmodulierende Elemente. Allelopoietisch relevant steht die verlebendigende Rekonstruktion antiker Orte damit in unmittelbarer Abhängigkeit nicht nur von den für das Forum diskutierten Implikationen des modernen Bildmediums, sondern auch von modernen (film-)dramaturgischen Funktionen. Aufgabe war hier nun vor allem die Gestaltung differenzierender Szenenbilder für die Verdeutlichung einer „strong dichotomy between East and West“.²⁹ Im Film von 1964 konturiert sich der Osten vor allem durch das Geschehen im und um das Feldherrenzelt der Lucilla, bei den Kämpfen auf dem Schlachtfeld sowie zu Beginn der Rückreise des siegreichen Livius und seines Gefolges. Hinzu kommt eine kurze Kamerafahrt über eine Landkarte, mit der die Reise gen Osten visualisiert und das politische Abenteuer eröffnet wird. In der historistischen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts visualisiert sich die Differenz zwischen Ost und West nicht zuletzt in der Indienstnahme stilistischer Semiophoren, die mit der Gestaltung von Schauplätzen, Requisiten und Kostümen das klassizistisch Klassische einer griechisch-römischen Antike gegen das orientalisch, asiatisch, persisch Unklassische eines antiken Ostens absetzt. Eine Orientalisierung nicht nur des Habitus östlicher Gegner, sondern auch der mit ihnen verbundenen Dinge und Räume ist bereits bei den Charakterkonstruktionen römischer Autoren angelegt. Laut Vergils metonymischem Vexierspiel zwischen Schiffsdekoration und himmlischem Beistand war in der Schlacht von Actium zu sehen, wie auf Kleopatras Seite „[v]ielerlei göttliche Scheusale, wie auch der Kläffer Anubis, / […] die Waffen gegen Neptun, Minerva und Venus [zückten].“³⁰ In der Historia Augusta erweist sich Hero-

28 Ein Überblick zu den historischen Auseinandersetzungen bei Schottky (2000), Sp. 375–377; zum römischen Nahen Osten vgl. etwa Millar (1993). 29 Vgl. zu diesem Thema in The Fall Drijvers (2009), 117–129 (das Zitat 119), der die östlichen Szenen des Films im Anschluss an Edward Saids Orientalism von 1978 untersucht, sich aber, wie sich vielleicht formulieren ließe, darauf konzentriert zu zeigen, wie es eigentlich gewesen. 30 Verg. Aen., 8, 698 f.

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des, ein Stiefsohn der palmyrenischen Königin Zenobia, als effeminiert und „prorsus orientalis et Graecae luxuriae“, da er bestickte Zelte, vergoldete Pavillone und „omnia Persica“ liebe. Die Besprechung schließt konsequent sittenstreng: „neque plura sunt quae de Herode dicantur.“³¹ Der Film übernimmt seit Anbeginn seiner Geschichte ein solches Konzept von der Historienmalerei, wie nicht nur die lange Reihe von Orientalisierungen der makedonisch-ptolemäischen Königin Kleopatra zeigt,³² sondern auch das Zelt in The Fall, das bei ihrem östlichen Ausflug zur (zeitweiligen) Charakterhülle der römischen Prinzessin und Mark-Aurel-Tochter gerät. Eingeführt als Schauplatz des Treffens zwischen Livius und Lucilla, wandeln sich die Bestandteile des Zeltes und seiner Ausstattung in der metonymischen Verdichtung der Kameraarbeit zu eindeutigen Attributen der eigentlich an marmorweiße klassische Säulen gewöhnten, nun aber fehlgeleiteten Römerin (Abb. 11). Wenn sie dem Geliebten ihren Aufstandsplan erläutert, nimmt Lucilla, in einer Haltung scheinbarer Dominanz, vor dem Hintergrund assyrisch/persisch reich bemalter und vergoldeter Zeltwände Platz auf einem Sofa, das üppig mit Leopardenfellen drapiert ist. Die Tierfelle aktualisieren die Topoi der luxuria und des Barbarischen, und asiatisch-archaisch geriert sich auch die Statue der vielbrüstigen Diana Ephesia, die die Kamera aus der Zeltausstattung dicht an die Person der Lucilla heranrückt und die in die Kategorie der göttlichen Scheusale vergilscher Provenienz fällt. So geht’s natürlich nicht!, wie jeder Zuschauer, der mit den entsprechenden Bildtraditionen sozialisiert wurde, sofort spürt. Folgerichtig wiederholt sich die Einstellung, wenn Lucilla nach der Niederlage eine nur knapp von Livius vereitelte Vergewaltigung auf denselben Tierfellen vor dem Hintergrund des ephesischen Götzenbildes übersteht (Abb. 12). Akzentuiert durch genderspezifische Körperhaltungen transportiert der aufrecht reitende Livius die liegend leidende und nun in die Tierfelle wie in eine Krankendecke gehüllte Lucilla in einer Sänfte ab (Abb. 13). Die Differenzierung der Gegner durch die Semantisierung unterschiedlicher Stillagen ist hingegen in den Kampfszenen, die sich im Osten in einer topographisch nicht näher charakterisierten kargen Felslandschaft ereignen, vollständig in die Verantwortung des Kostümbilds gelegt. Kontrastraum und -szene zu Lucillas Zelt und ihren orientali(sti)schen Eskapaden ist die Übergabe der Schriften ihres Vaters Mark Aurel in die konservierende römische Obhut. Der Orient in Gestalt von ungeliebtem armenischen Gatten und finster-ernst prunkenden Dienern kündet lediglich von einem aufgezwungenen Schicksal, in das sie sich fügt. Der (Thron-)Saal hingegen ist imperial-römisch, nicht verspielt-dekadent wie die Privaträume des Commodus mit ihren musivischen Gladiatorenportraits, son-

31 Hist. Aug., Tyranni triginta, 16, 1–3; zum historischen Herodes bzw., recte, Herodianus vgl. etwa Hartmann (2001), bsd. 115 f. 32 Vgl. zu diesem Paradebeispiel etwa Wenzel (2005); für den allgemeineren Kontext etwa Said (2003); Bernstein/Studlar (1997); Lockman (2004); Hackforth-Jones/Roberts (2005); Winkler (2005), 70–72.

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dern von strenger Pracht. Panzerstatuen suggerieren andauernde imperiale Genealogien, und der Verzicht auf lebhaft gemusterten Buntmarmor zugunsten eines schwarzweißen Farbschemas der marmornen Oberflächen verleiht der Halle sowohl sepulkrale als auch akademische Konnotationen im Sinne des 19. Jahrhunderts. Obwohl der Zuschauer unterschwellig weiß, dass auch dieser Raum zerfallen, aber eine erhabene, touristisch zu goutierende Ziegelruine hinterlassen wird, überzeugt die szenographierte Atmosphäre aus Mausoleum und Bibliothek im Gegensatz zum ephemeren orientalischen „Bedouin tent“³³ sofort davon, dass dieses Erbe der Lucilla, die Meditations des stoischen väterlichen Kaisers, wie im Dialog angekündigt überdauern wird. Die Konventionalität dieser Lösungen dient der dramaturgischen Verständlichkeit und garantiert dem Film innerhalb seiner Entstehungskultur kommunikative Anschlussfähigkeit und massenkulturelle Effizienz. Die Semantisierung von Stillagen zitiert ihre Gegenstände – wie etwa die Diana von Ephesos – mit historistischem Gestus aus der antiken Referenzkultur, vermittelt jedoch über Medien der Kanonisierung wie illustrierte Publikationen zur antiken Kunst oder Gipsabgusssammlungen. Appropriiert erscheinen – mit Blick etwa auf die augusteischen Actium-Elogen – gewisse Deutungsmuster, stärker sind jedoch Phänomene der Assimilation, wenn die Elemente der Szenographie sich dramaturgisch funktionabel in die narratologischen Schemata des modernen Historienfilms fügen.³⁴ Da viele der genutzten Lösungen konzeptionell keineswegs Neuentwürfe sind, verdeutlicht sich hier auch der Aspekt der Transformationsketten: die Verwendung assyrischer oder persischer Elemente erscheint als Einkapselung vorgängiger Transformationsprodukte, die aus der Historienmalerei übernommen und innerhalb der Filmgeschichte rekonfirmierend als interpiktoriale Zitate weitergereicht werden. Abgesehen von den topographisch eher unspezifischen Kampfszenen, öffnet sich mit dem Krankentransport zum ersten Mal eine Totale, in der sich auch die Landschaft szenographisch als Schauplatz an den östlichen Rändern des römischen Reiches zu verstehen gibt (Abb. 14). Nach einem etwa halbminütigen Schwenk unter elegischer Musik kommt die Kamera für die Begegnung des siegreichen Livius mit den römischen Legaten zum Stehen; die folgende etwa einminütige Unterredung wird mit Großaufnahmen, Gegenschnitten und kleineren Kameraschwenks dynamisiert. Die – im Übrigen durch die Wahl des Drehorts spanische – Felslandschaft, die während der Kampfszenen ohne spatialisierte Historizität auskam, erscheint nun wie durchsetzt mit architektonischen und skulpturalen Elementen als Semiophoren für den Osten. Ein Ost-West-Antagonismus veranschaulicht sich hier jedoch nicht lediglich durch die stilistische Abgrenzung dieser szenographischen Semiophoren zu den klassischen Architekturen des Forum Romanum, sondern vor allem durch eine divergente Raum-

33 Drijvers (1997), 126. 34 Die transformationstypologische Charakterisierung hier nach Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), 47–54.

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und Bildlogik. In der scheinbar so homogenen szenographischen Konzeption des Fall of the Roman Empire verbirgt sich eine disparate raum- und bildökonomische Organisation von östlichen und westlichen Schauplätzen, die dem Publikum untergründiger, aber vielleicht nachdrücklicher noch als durch die stilistische Differenzierung den Unterschied von Ost und West vermittelt.³⁵ 1920 hielt Urban Gad in einer der frühesten Reflexionen über das Filmszenenbild fest: „Kein erklärender Dialog kann zum Verständnis des Geschauten beitragen oder die Eindrücke vertiefen, die das Auge empfängt.“³⁶ Damit ist in The Fall durch die Struktur der profilmischen Verräumlichung und anschließenden kinematographischen Verbildlichung auch über den römischen Osten bereits Wesentliches ausgesagt, bevor Handlung und Dialog zum Tragen kommen. Auf eine topologische Differenz lässt zunächst nichts schließen, wenn der Film sein Fort denn eile, nach Osten gewandt! unter dramatisch orientalistischer Musik mit einer lediglich fünfsekündigen Kamerafahrt über eine Landkarte eröffnet (Abb. 15). Die Karte ist ein Ausgleichsprodukt, vielleicht in der älteren Formulierung Aby Warburgs besser: Compromißproduct,³⁷ das den dargestellten Mittelmeerraum – unabdingbar für die Verständlichkeit innerhalb der extrem kurz bemessenen zeitlichen Verfügbarkeit des Filmbildes³⁸ – modernen kartographischen Konventionen assimiliert. Komplementär dazu wird die Darstellung jedoch zugleich mit grob gestichelten Pergamentnähten, Beschriftungen in der Art einer forciert krakeligen Capitalis rustica, simplifizierten Küstenlinien und verzerrten Proportionen distanzierend antikisiert. Während der antike Reisende sicher eine Itinerarkarte bevorzugt hätte, mag in The Fall auch Commodus nicht auf eine ähnliche Karte verzichten, die als polylither Fußboden seines oben beschriebenen düster-prachtvollen Thronsaals dazu angetan ist, eine recht modern geopolitisierte Welt mit cäsarenwahnsinnigen Schritten in Besitz zu nehmen. Die durch die Kamerafahrt verbundenen Ausgangs- und Zielorte der Reise erhalten auf der Pergamentkarte detailierte Bildsignaturen, während etwa achaia als nicht handlungstragend lediglich durch Beschriftungen bezeichnet ist.³⁹ In roma ragen Gebäude mit Giebeln, Säulen und Arkaden, eine einzelne Säule, wohl ein Theater, eine fasces nebst der Beischrift sp.qr und ein Feldzeichen aus den Stadtmauern auf, im

35 Eine dritte Variante, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden soll, wählten die Szenenbildner für das germanische Hauptquartier; vgl. etwa die Bemerkungen dazu bei Solomon (2001), 84–87. 36 Gad (1920), 116. 37 Warburg (2010), 48. 38 Vgl. dazu etwa Rothschild (2006), 52–61. 39 Eine ähnliche Struktur haben etwa die Karten der Cosmographia (Γεωγραφικὴ ῾Υφήγησις) des Ptolemäus in den Handschriften des 15. Jahrhunderts. Im Exemplar der Neapler Nationalbibliothek (Cod. lat. V F. 32) beispielsweise erhalten nur die Länder, denen die jeweilige Tafel gewidmet ist, eine differenzierte Binnenstruktur und Beschriftung, während bei den angrenzenden nur Umrisse und ggf. zwei oder drei der wichtigsten Städte markiert sind. Vgl. Ptol., passim.

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Osten erscheint eine als antiochia bezeichnete Stadtsilhouette über einer in Felsen eingebetteten Fassade und drei wie auf dem Boden verstreuten Statuenköpfen. Die Bezeichnung armenia dominiert das zentrale Kleinasien; der Name syria kommt irgendwo in der Wüste des heutigen Dreiländerecks Syrien-Irak-Jordanien zu liegen. Die Gestaltung der Stadtsignaturen orientiert sich an spätantiken Vorbildern wie der Notitia Dignitatum, der Tabula Peutingeriana und der Mosaikkarte von Madaba.⁴⁰ Nichts deutet darauf hin, dass den homologen Kartensignaturen für Rom und den Osten nicht auch bei den szenographierten Schauplätzen der Filmhandlung eine einheitliche Gestaltung entsprechen sollte. Tatsächlich scheint sich das Versprechen der Kartographie einzulösen, wenn sich die Objekte, die bei der sekundenschnellen Fahrt über das Pergament antizipierend den Osten chiffrieren, getreu in der Landschaft wiederfinden, die die Kamera bei der Abreise des Livius erschließt.⁴¹ Bei allen Versatzstücken, die der Kameraschwenk den Zuschauern vor Augen führt, lassen sich die antiken Vorbilder identifizieren, und so erweisen sich die kinematographischen Objekte dieser szenographierten Architekturen und Skulpturen also zunächst einmal ebenso wie die Anlagen des Forum Romanum intentional als Produkte einer rekonstruierenden Aneignung des Referenzbestandes. In einer Rekonstruktion der szenographischen Recherche und Motivsuche findet sich das Vorbild für die hoch in die Felsenwand gegrabene hellenistische Fassade im sogenannten Schatzhaus des Pharao, zwischen erstem vorchristlichen und zweitem nachchristlichen Jahrhundert entstanden und wohl das bekannteste der nabatäischen Felsengräber im jordanischen Petra (Abb. 17).⁴² Aus verschiedenen identifizierbaren Teilen besteht hingegen die prominent ins Filmbild gesetzte Stadt, die auf der Karte als Antiochia bezeichnet worden war.⁴³ Ihre Mauern orientieren sich mit den reliefierten Tierdarstellungen am Ischtar-Tor von Babylon und an der Prozessionsstraße Nebukadnezars II., etwa um 600 v. Chr., verzichten aber, lehmfarben, auf das ikonische babylonische Blau. Das Stadttor erweist sich als der Taq-e Kisra, die im

40 Vgl. etwa Notitia dignitatum (1876), passim, bspw. 58 (Comes limitis Aegypti); Tabula Peutingeriana (1976); bzw. Donner (1992). Von einer Diskussion der komplexen Überlieferungslage für die ersten beiden Quellen sei hier abgesehen. 41 Produktionsästhetisch gestaltete sich diese Übereinstimmung rekursiv, da die Karte wohl erst entstanden sein dürfte, nachdem zumindest die szenographische Konzeption für den Schauplatz feststand. 42 Drijvers (2009), 128, fühlt sich hier hingegen erinnert an das Relief (bzw. wohl eher die gesamten Fassaden der Felsengräber) von Naqsch-e Rostam bei Persepolis. Auch seinen „[…] rider, probably a Persian cavalry soldier“ mag ich selbst bei einem eingehenden Rorschach-Test mit den zerklüfteten Felsen auf den Screenshots nicht erkennen – wenngleich sich derartige achämenidische und sassanidische Artefakte bestens in die szenographische Konzeption gefügt hätten, die damit auch für einen akademisch anspruchsvollen Filmzuschauer wie Drijvers assoziationsästhetisch ihren Zweck erfüllt hat. 43 Solomon (2001), 84, sieht hier „a magnificent sandstone fortress of Oriental design“.

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dritten oder sechsten Jahrhundert, auf jeden Fall aber nach der Zeit der Filmhandlung entstandene sassanidische Palastfassade in Ktesiphon südöstlich von Bagdad (Abb. 16), und auch die in Kartensignatur und Filmszene über der Stadtmauer aufragenden zikkurat-artigen Turmbauten führen nach Mesopotamien. Getreppte assyrische Zinnen und die Vielzahl kleiner Kuppeln dienen seit der Stummfilmzeit pauschal der Orientalisierung antiker Schauplätze. Unter den möglichen Vorbildern bekrönen assyrische Zinnen etwa die römische Säulenordnung des Bel-Tempels im syrischen Palmyra (während Robert Wood Spuren einer derartig unklassischen Kombination an diesem Temple of the Sun in seinen Ruins of Palmyra, mit denen 1753 die westliche Begeisterung für die Wüstenstadt einsetzte, geflissentlich ignorierte).⁴⁴ Kuppelbauten fungieren als Erkennungszeichen mesopotamischer Städte bereits auf den Partherkriegsreliefs am Triumphbogen des Septimius Severus auf dem Forum Romanum, die zur Entstehungszeit des Films in der archäologischen Diskussion, etwa bei Guido Kaschnitz von Weinberg, als Beleg für eine Herkunft der Kuppel als Bautyp aus dem Osten herangezogen wurden.⁴⁵ Als Inspirationsquelle für die eigentümlichen kassettierten Strukturen oberhalb des Torbogens mögen die klassischen Felsengräber im lykischen Myra vorgeschlagen sein. Unbestritten dürfte hingegen die Herkunft der fragmentierten Sitzstatuen oberhalb der Felswand und die der in der Ebene verstreuten monumentalen Köpfe sein: es sind minutiöse Wiedergaben der Funde vom Nemrut Dağ, dem im ersten vorchristlichen Jahrhundert entstandenen Heiligtum der kommagenischen Könige im Taurus-Gebirge. In der Auflistung der vorbildgebenden antiken Monumente sollte deutlich werden, wie Colasanti und Moore für den Osten des römischen Reiches ein Capriccio entwarfen, das sich frappant von ihrer Konzeption des Forum Romanum unterscheidet. Seine Bestandteile entstammen, ungeachtet der Zikkurat-Allusionen, einem Zeitraum vom sechsten vorchristlichen bis zum dritten oder gar sechsten nachchristlichen Jahrhundert und einem geographischen Raum, der sich in einem immensen Bogen von Kleinasien über Mesopotamien bis zum heutigen Jordanien spannt (Abb. 18). Ein solches Capriccio leistet, in den Worten Peter Geimers, eine „Ruinierung historischer Kontexte“,⁴⁶ um die Trümmer im Prozess der Dekontextualisierung und Rekontextualisierung sinnstiftend in eine neue Einheit zu überführen. Im Fall of the Roman Empire ermöglicht die Montage die spatiale und temporale Verdichtung des gesamten „Ostens“ in einem einzigen Felsental unter zeitlos blauem Himmel. Vorzüglichste Leistung dieses Capriccios ist daher eine konstituierte und als konstitutiv suggerierte geographische und historische Vagheit des Ostens⁴⁷ – in deren Kontext sich auch von der Annalistik unabhängige historische Achsen visualisieren lassen.

44 Vgl. etwa Stoneman (1994), 64; bzw. Wood, Ruins of Palmyra, Taf. 21. 45 Kaschnitz von Weinberg, Baukunst im Kaiserreich, 38 f. 46 Vgl. Geimer (1997), 139–153, das Zitat 140. 47 Auch Drijvers (2009), 127 f., bezeichnet es als „[…] unclear whether they are travelling through the eastern provinces of the Roman Empire or through Persia.“ Er hebt hervor, wie die Szene „[…] creates

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Während der Historismus der szenographischen Konzeption für das Forum Romanum gewissenhaft dazu zwang, den für die Bildtradition des Forums eigentlich bedeutsamen Septimius-Severus-Bogen fortzulassen, da er chronologisch erst nach der Zeit der Filmhandlung errichtet werden sollte, können Roms Feinde im gesprochenen Dialog des Films pauschal als persians bezeichnet werden. Die Pergamentlandkarte verdeutlicht, wer alles damit gemeint sein könnte (Abb. 15): am rechten Rand drängen sich die Bezeichnungen parthi (das Parther-Reich bis zu den 220er Jahren), synonym arsacides für die herrschende Dynastie und auch bereits die auf sie folgenden sassanides der Spätantike – eine Art Randbemerkung für Kenner (und im flüchtigen Filmbild kaum oder nicht zu lesen).⁴⁸ Die Kamera hingegen konstruiert – wie im Zelt der Lucilla – attributive Zusammenhänge zwischen Protagonisten und Szenenbild in der Unterredung des Livius mit den Legaten des Commodus, die dem siegreichen Feldherrn die Mitregentschaft antragen. Dräuen hinter den Legaten die zahllosen Gestelle für die Kreuzigung der Besiegten, so wird Livius im Gegenschnitt von den Köpfen des Nemrut Dağ hinterfangen (Abb. 19). Als circumstantial details spezifizieren die erratischen Skulpturen den östlichen Schauplatz, verleihen diesem Osten eine geschichtsphilosophische Historizität der Ruinen, indem sie in ihrer gestürzten Monumentalität der Landschaft die Logik des decline and fall einstiger – und wiederum historisch vager – imperialer Größe einschreiben, und geraten so als Folie hinter Livius am Scheideweg zum Memento einer solchen auch Rom drohenden Dynamik. In dieser Funktion endet die Szene mit der unheilschwangeren Großaufnahme eines der Köpfe. Wie das Szenenbild für das Forum Romanum leitet sich auch die szenographische Konzeption des Ostens bildhistorisch aus der Tafelmalerei ab, hier jedoch eher aus Vorbildern wie den Ruinencapricci des 18. Jahrhunderts, die dekontextualisierte römische Monumente zu einem Bild römischer Größe und erhabenen Verfalls rekontextualisierten.⁴⁹ Dieselbe Quelle speist aber auch im engeren Sinne die räumliche Organisation des szenographierten Ostens in The Fall. Trotz der bildhistorisch motivierten Fokussierung der Nordwest-Ecke des Forum Romanum ist dessen 1:1-Rekonstruktion im Film ein Schauplatz, der in weiteren Szenen von der Kamera aus unterschiedlichsten Perspektiven verbildlicht werden kann. Im Gegensatz dazu präsentiert sich der Osten als einansichtiges Ensemble, für dessen eineinhalbminütige kinematographische Existenz dem spanischen Drehort die szenographischen Semiophoren als Kulissenbauten und matte paintings mit ungeheurem Aufwand implementiert wurden (Abb. 14). Wie in den Ruinencapricci eines Giovanni Paolo Pannini oder Hubert Robert gewährleistet nur die zweidimensionale Bildkomposition formalästhetisch und semantisch befriedigende Relationen der Bildelemente – der dargestellten Architektu-

in an intelligent way an Eastern atmosphere but is unspecific as to its location and time“, kommt dann aber – auf Grund der getreu wiedergegebenen Artefakte – zu dem überraschenden Schluss: „The film is not always as authentic in picturing the East as in the scene just described.“ 48 Angemerkt sei, dass auch die Römer generell von „Persern“’ sprachen. 49 Ein Überblick zum Architekturcapriccio etwa bei Kiene (1996), 83–93.

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ren und Plastiken wie der Personen(gruppen) – untereinander.⁵⁰ Der Kameraschwenk in The Fall folgt dem Weg des Livius und seines Gefolges, der in der Sänfte getragenen Lucilla, der Legionäre und Gefangenen, und erschließt in dieser Bewegung zugleich den Schauplatz in natürlicher Leserichtung. Ausgehend von einer ausgedehnten Wasserfläche, mit der sich vielleicht ein Grenzfluss wie der Euphrat assoziieren lässt,⁵¹ und der Stadt mit ihren mächtigen Mauern kommen die einzelnen Elemente über die monumentalen Skulpturen bis hin zum Felsengrab sukzessive am rechten Rand ins Bild und verschwinden am linken wieder aus ihm – ein horizontaler Zug, der mit den bildkompositorischen Qualitäten des Breitwandformats interagiert, das sich hier als ein Aspekt der agency des Mediums Geltung verschafft. Auch das Capriccio dieses Ostens ist, medial bedingt, zentralperspektivisch konstruiert. Während sich jedoch für das Forum die Zuschauer dem Phantasma einer wirklichkeitsgetreuen fotografischen Erkundung des dreidimensionalen Schauplatzes durch die Kamera hingeben dürfen, erscheint der zweidimensionale Prospektcharakter des östlichen Schauplatzes wie ausgestellt. Die Einansichtigkeit veranschaulicht sich vielleicht am deutlichsten in der szenographischen Konzeption der Stadt, die die architektonischen Semiophoren so verdichtet arrangiert, dass ihr Erscheinen im Film nach der Art einer sogenannten Stadtprofilansicht exakt der gemalten zweidimensionalen Stadtsignatur auf der zuvor gezeigten Landkarte entsprechen kann (Abb. 15).⁵² Das Geschehen ereignet sich auf der vorderen Bildebene, von wo aus der Prospekt mit dem Zug des Livius sequentiell erschlossen wird – ein Verfahren, das an die Funktion der Wegführung als Narrativ in der älteren Malerei erinnert. Fügen sich die szenographischen Zeichensysteme römischer Größe daher auf dem Forum zu einem Handlungsraum, so geraten ihre östlichen Gegenstücke zu Anschauungsobjekten, die zwar von einem Landschaftskontinuum zusammengehalten werden, einer Funktion als Aktionsraum jedoch trotz der auf den Felsen verteilten Komparsen weitgehend enthoben sind. Die kulturhistorische Dimension des östlichen Raums bleibt, distanzierend, ein Bild im Bild. Das kulturhistorisch Vage dieses Ostens korrespondiert mit einer kulturgeographischen Desorientierung, die im scharfen Gegensatz zur topographischen Detailversessenheit des westlichen Forums im selben Film steht. Wesentlich für die allelopoietische Dynamik, mit der sich in The Fall of the Roman Empire die antiken östlichen Schauplätze zunächst verräumlichen, um anschließend

50 Vgl. etwa Arisi (1993); Kiene (1993), beide passim; bzw. Burda (1967). Es sei aber daran erinnert, dass auch das Forum in The Fall mit ähnlichen Manipulationen aufwartet, wenn etwa der Titusbogen näher an Vesta- und Dioskurentempel herangezogen wird, um insignifikante Zwischenräume der vorbildgebenden räumlichen Situation zu überspielen. 51 So Drijvers (2009), 128. 52 Vgl. zum symbolischen Paradigma der Stadtprofilansicht Michalski (1999), 46–55. An dieser Stelle sei im übrigen auch hingewiesen auf die Möglichkeit eines Vergleichs der filmszenographischen Lösungen mit der Wahrnehmung und Erfassung geographischer Räume in der Antike (Rathmann [2007]).

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verbildlicht zu werden, sind die Kriterien, die den selektiven Zugriff auf die Monumente bestimmt haben. Eine solche Auswahl erfolgte nicht unmittelbar im Sprung zu den antiken Referenzkulturen, sondern orientierte sich ebenfalls an traditionsbildenden Zwischenprodukten innerhalb von Transformationsketten. Babylons Ischtar-Tor ging mit den frühen Publikationen des Ausgräbers Robert Koldewey vor dem ersten Weltkrieg und der spektakulären Rekonstruktion im Berliner Pergamon-Museum seit 1930 in das Bildgedächtnis breiter Schichten ein.⁵³ Die Palastfassade von Ktesiphon war wohl immer schon bekannt – die Datenbank des Census of Antique Works of Art and Architecture known in the Renaissance verwendet für solche Fälle die transformationstheoretisch bemerkenswerten Formulierungen always there bzw. happened to be around⁵⁴ –, erlangte aber stärkere Bekanntheit seit den Grabungen der University of Michigan in Seleukia-Ktesiphon in den 1920/30er Jahren. Eine 1921 entworfene Briefmarke – das automobile Bilderfahrzeug der Moderne! – des frisch gegründeten Königreichs Irak zu drei Annas zeigt das Monument bereits ohne die von Hochwassern des Tigris 1888 und 1909 weggerissenen Flügel, die erst unter Saddam Hussein von den 70ern bis zum zweiten Golfkrieg teilweise rekonstruiert wurden (Abb. 16). Die Szenenbildner von The Fall of the Roman Empire von 1964 dürften Stiche und frühe Fotografien des 19. Jahrhunderts genutzt haben.⁵⁵ Den Schutzumschlag der britischen Erstausgabe von Agatha Christies Appointment with Death von 1938 ziert das Schatzhaus des Pharao in Petra (Abb. 17). Obwohl der Krimi in der rosaroten Felsenstadt, die Johann Ludwig Burckhardt 1812 für den Westen wiederentdeckt hatte, spielt, wird der Grabbau nirgends erwähnt.⁵⁶ Trotzdem verdichtet der Illustrator Robin Macartney, der als Grabungszeichner auch Christies Archäologengatten Max Mallowan begleitete, den Schauplatz mühelos auf dieses eine Bauwerk. Macartney reflektierte wie beförderte damit die Popularität der jordanischen Ruinenstadt, die nicht nur T. E. Lawrence (of Arabia) in seinem Bestseller Seven Pillars of Wisdom in den höchsten Tönen pries, sondern deren Aufstieg zum massentouristischen Reiseziel seit den 1930ern eng mit der Entwicklung und Kommunikation solcher prägnanten Bildformeln verzahnt war und ist.⁵⁷ Entscheidend schließlich für die Bekanntheit des Nemrut Dağ – 1881 wiederentdeckt, 1882/83 von Otto Puchstein und Carl Human, in den 1950/60er Jahren von einem deutsch-amerikanischen Team um Friedrich Karl Dörner und Theresa Goell von den American Schools of Oriental Research erforscht und heute ein must see des TürkeiUrlaubs – war 1958 die Dokumentation durch ein französisches Fernsehteam. Die Aufnahmen, die in diesem Zusammenhang der türkische Fotograf Ara Güler von der An-

53 Vgl. etwa Koldewey, Babylon; bzw. Eickstedt (2000), 25 f. 54 Vgl. bspw. Census, CensusID 150792 (Kolosseum) bzw. 155719 (Kapitolinischer Dornauszieher). 55 Vgl. zum Taq-e Kisra etwa Safai (2004), 205–217; zu den Ausgrabungen die Website des Kelsey Museum in Ann Arbor, http://www.umich.edu/~kelseydb/Excavation/Seleucia.html (23. 06. 2015). 56 Vgl. Christie, Appointment with Death. 57 Ein Überblick zur modernen Geschichte Petras etwa bei Bourbon (2004), 22–33.

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lage machte, erschienen in den Jahren kurz vor der Entstehung des Fall of the Roman Empire international in über hundert Zeitschriften.⁵⁸ Die Semiophoren für den römischen Osten, die der Film in Dienst nimmt, sind damit bereits vorgängig verbildlichte Versatzstücke einer globalisierten und zunehmend auch touristischen Massen- und Populärkultur. Der Vertrautheit, die ihre Assimilation in die entsprechenden modernen Kommunikationsformen mit sich brachte, hält das distanzierende Moment der Einzigartigkeit, Fremdheit, des Staunenswerten die Waage – selbst aber wiederum wohlassimilierender Aspekt der modernen touristischen Kultur im Gegensatz etwa zur Suche nach dem Klassischen und Typischen der Antike bei den Grand Touristen des 18. Jahrhunderts. Als Massenmedium prägen Filme wie The Fall of the Roman Empire von 1964 die Vorstellungen von Antike für ein modernes globales Publikum. Einer der entscheidenden Faktoren für den allelopoietischen Effekt solcher Monumentalfilme ist die Szenographie. In The Fall differenzieren sich die antiken Schauplätze nicht nur durch die Semantisierung unterschiedlicher Stillagen, sondern bereits durch die Indienstnahme divergenter Raum- und Bildkonzepte. Damit werden geradezu disparate Topologien für den Westen und den Osten entworfen, die nicht nur Einfluss auf die Darstellung von römischer Geschichte des ausgehenden zweiten Jahrhunderts gewinnen, sondern generell die kulturgeschichtlich westlichen Konstruktionen von Europa und Asien aktualisieren und auf ein neues der kollektiven Imagination des Publikums anheimgeben. „The eastern world it is explodin’“, sang ein protestzorniger Barry McGuire 1965. In The Fall of the Roman Empire waren die antiken Bestandteile schon wieder gelandet und fügten sich zu einem wohlkomponierten Capriccio bildkulturell und touristisch vertrauter Versatzstücke für einen Osten, der aber historisch entkontextualisiert und topographisch vage blieb – zumindest im Massenmedium Kino und jenseits der Stabskarten des Kalten Krieges. Dabei darf die Frage, ob Filmemacher und Szenenbildner als Transformationsagenten ihre Version der strong dichotomy between East and West intendiert entwarfen oder ob die transformatorischen Leistungen korrelative Phänomene waren, die sich aus dem Wirken der Transformationsagenten innerhalb entsprechender Traditionen ergaben, durchaus offen bleiben.⁵⁹ So betonte etwa der Universalhistoriker Will Durant als wissenschaftlicher Berater des Films die enge Verflechtung der europäischen Kultur mit der vorderasiatischen ebenso in einem Vortrag 1948 in Teheran⁶⁰ wie in seiner bis 1975 publizierten Story of Civilization, deren allgemeiner Rezeptionsstatus in der anglophonen Welt im deutschsprachigen Raum höchstens mit der Propyläen-Weltgeschichte verglichen

58 Vgl. zum Nemrut Dağ etwa Dörner (1987); zu Gülers Rolle etwa Kürkçüoğlu (2002), http://www. hezarfen.net/paralax/056sabri.htm (23. 06. 2015). 59 Für die römisch-persische Konfrontation im Film als Projektion der Konstellationen des Kalten Krieges vgl. hingegen etwa Winkler (1995), 150; Wyke (1997), 187; Drijvers (2009), 122. 60 Durant, Persia.

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werden kann. Zwar heißt es im Vorwort zum ersten Band, Our Oriental Heritage von 1935: „[…] the theme of the twentieth century seems destined to be an all-embracing conflict between the East and the West […]“, doch bedeutete dies für Durant zugleich, dass „[…] the provincialism of our traditional histories, which began with Greece and summed up Asia in a line, has become no merely academic error, but a possibly fatal failure of perspective and intelligence.“⁶¹ In diesem Sinne waren die disparaten Topologien in The Fall of the Roman Empire vielleicht ein allelopoietisch etablierter und immer noch bildpolitisch funktionabler failure, der niemandem auffiel.

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61 Durant, Story of Civilization, VIII f.

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Bildnachweis Abb. 11–15, 19: DVD Der Untergang des Römischen Reiches, Spirit Media 2009 Abb. 16: Christie (1938), Schutzumschlag Abb. 17: Wikimedia Commons, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/eb/Stamp_Iraq_1923_3a.jpg (23. 06. 2015) Abb. 18: Marcus Becker.

Rachel Esner

Making the Truth with Images Some Visual Context for The Fall of the Roman Empire The notion that underpins the collaborative research unit Transformationen der Antike, namely that the appropriation of objects, ideas and concepts from past cultures affects not only the present and the sphere of reception, but also the past and thus the sphere of reference – is an intriguing one. This idea, denoted by the neologism allelopoiesis, is convincingly explicated in the writings of Böhme, Bergemann et al.,¹ and seems to me to be particularly useful for describing the process of the visual appropriation of Antiquity, whether in painting or in film, and how this has both informed and transformed our ideas of the ancient world. In what follows, I would like to look at what I believe to be the core aims of both Jean-Léon Gérôme’s monumental Roman genre scenes and films such as The Fall of the Roman Empire, what visual means are used to achieve these, and how such images have irrevocably colored both the popular and scholarly understanding of the ancient world.² The plot of Mann’s Fall of the Roman Empire is both difficult to follow and in many ways patently absurd. The film is, however, extremely interesting on a visual level. The analytical emphasis must therefore lie not on the narrative, but on the scenography, which is far more compelling and forms the true motor of the film. This is indeed clearly a choice of the director and the producer, Samuel Bronston, who sought to create as convincing an image as possible of the locations where the action takes place. These recreations, however, take different forms. The Roman Forum, where some of the major scenes in the film are played out, responds more or less to architectural restoration drawings and appears to make a strong claim to archaeological correctness, with no expense spared in re-erecting its most important monuments and buildings. Drawing not on the Forum as it now exists – that is: as a ruin – but rather on both film history and archaeological reconstructions (as Ulf Jensen has shown), the filmmakers were clearly intent on making their setting both believable and easily recognizable. The eastern Empire, the stage for the film’s crucial turning point, on the other hand, is made up of a collage of fragments of disparate temporal and geographic origin, decontextualized and then recombined to evoke a generalized “Oriental” atmosphere. This capriccio approach is ultimately far less convincing, but serves – as Marcus Becker has noted – an important purpose: namely the differentiation of East

1 See Böhme/Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), Bergemann/Dönike/ Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011). 2 For examinations of the most popular “sword-and-sandal” films and their relation to history see a. o. Wyke (1997) and Cyrino (2005). DOI 10.1515/9783110499261-005

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and West and the validation of the superior and “scientific” quality of the latter against the “vagueness” of the former. Much the same goes for the interiors – these are based (quite naturally) not on real places, but on popular notions of Roman opulence and Oriental decadence – this becomes particularly clear in the tent scene with Livius and Lucilla. These, too, serve to distinguish the “effeminate” East from the “virile” West – an old Orientalist trope. In the contributions of Ulf Jensen and Marcus Becker, the technical details and sources, as well as the ideological implications of these reconstructions, have been presented. What follows here should be viewed as a complement to their remarks, asking the question of the function of these cinematic remakes, that is: their impact on the viewer, and how this contributes to the appropriation and transformation of the past. What are the affective and allelopoietic qualities of these images? How are these transmitted? And what have they done to how we understand the ancient world? I will address these issues by looking briefly at the history of such re-imaginings of Antiquity in nineteenth-century painting, and their relation to the sword-and-sandal genre in general. The Fall of the Roman Empire opens and closes with a voiceover – the omniscient narrator who tells us how we are to understand what we will and what we have seen: “Two of the greatest problems of history are how to account for the rise of Rome, and how to account for her fall. We may come nearer to understanding the truth [emphasis added, R. E.] if we remember that the fall of Rome, like her rise, had not one cause but many, and was not an event but a process.” And at the end: “This [emphasis added, R.E.] was the beginning of the fall of the Roman Empire.” There can be no question, then, that what we have just seen is not a fiction, but the very truth: “this” – the film – has shown us, in glorious Technicolor and Ultra-Panavision, was the beginning of Rome’s downfall: in Ranke’s words, “Wie es eigentlich gewesen”. Never mind the fact that the story is both historically inaccurate and implausible – the aim is for the viewer to leave the cinema believing she has actually been in ancient Rome and, above all, has borne witness to the events enacted. This desire to (re)present “the truth” of the past, to give it “accurate” visual form and thus to provide the spectator with the illusion of “being there”, finds its roots in the early nineteenth century, in the period of the awakening of what Stephen Bann has called “historical-mindedness”.³ The quintessential example of this artistic aspiration is the work of the French painter Paul Delaroche.⁴ With the rise of historical and archaeological research in Romanticism, and a new notion of history as embedded not only in texts but also in artifacts – propagated by the historians and preservationists Alexandre Lenoir and François Guizot – artists like Delaroche saw the exacting and

3 Bann (1984), 2. See also the same author’s The Inventions of History. Essays on the Representation of the Past (1990) and Romanticism and the Rise of History (1995). 4 See Bann (1997); Schneemann (1994).

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detailed depiction of objects and costumes as a means of providing viewers access to the past. An enormous amount of historical research went into Edward V and the Duke of York in the Tower (Salon of 1831), with the intention of precisely recreating the room in the Tower of London where in the sixteenth-century the Duke of York and his brother were held, and probably murdered, by their uncle, Richard, Duke of Gloucester. The experience of what Huizinga would later call “the historical sensation”⁵ is further underlined in Delaroche’s work by his compositional inventions: we are shown the moment when the Duke of York, hearing a noise, looks up from his reading; he is, however, as yet unaware of the approaching danger. In almost proto-filmic fashion, we the viewers are given a clue as to what is about to happen, thanks to the little dog who directs our gaze to the light under the door. In an intense experience of the passage of time, we grasp not just this moment, but what has gone before and what will come after. The transparency and “truth” of the scene, as well as our feeling of total access, is further strengthened by the transparency of the painted surface – nothing (no sign of the “made-ness” of the work through traces of the artist’s hand) stands between us and what is depicted: we are present and can bear witness to the unfolding tragedy. Similarly, in The Execution of Lady Jane Grey (Fig. 20), shown at the Salon of 1834, where it created a sensation, a space is left in front of the scene, which the viewer is clearly intended to fill. We are, in fact, positioned much as we would be in front of a movie screen. So “real” is the image, indeed, that we might even fear that the head that is about to roll might fall into our lap. But of course, what interests us here is the visualization – perhaps better: visual appropriation – of Antiquity. The master of such appropriation was, of course, JeanLéon Gérôme, the late nineteenth-century artist as well known for his exacting depictions of scenes of the ancient and Oriental worlds as for his business acumen.⁶ It will probably come as no surprise that Gérôme was a student of Delaroche, or that he and his art were seen as the great nemesis of Modernists like Manet and the Impressionists. Gérôme was of course the quintessential academic painter; but he was also in many ways extraordinarily “modern”, both in his approach to his subject matter and in the way he was able to play the art market in order to disseminate his work both across Europe and as far away as the United States and the territories of the Ottoman Empire. Thanks to his family connections with the great art, print and photography dealer Goupil,⁷ which meant that reproductions of his work could be found in homes across the globe, Gérôme’s work came to shape the perception of the past in profound ways. Like Gérôme’s “filmic” imagery, which will be discussed in detail below, this strategy of “reproduction dissemination”⁸ can be compared to the democratic, mass medium of film, so that in this way, too, his art may be said to prefigure cinema. 5 6 7 8

See Huizinga (2014), 17–76, esp. 51–55. On Gérôme see, most recently, Des Cars/Font-Réaulx/Papet (2010), and Allan/Morton (2010). See, among others, Lafont-Couturier (2000) and Renié (2010). See Païni (2010), 333.

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Gérôme’s first major excursion into Antiquity was Ave Caesar! Morituri Te Salutant (Fig. 21), exhibited at the Salon of 1859. In it, the painter introduces several elements that would become the compositional standard for his “Roman” paintings: not only the panoramic format, but more importantly the placement of the viewer in the arena itself, in the position of eyewitness. Nonetheless, although it seems at first glance utterly convincing, Gérôme was apparently somewhat dissatisfied with the picture. He admitted later in his autobiographical notes that he did “not have all the documents” at the time of painting, and that this had resulted in some historical inaccuracies, particularly in the gladiators’ dress,⁹ confirming – as if such confirmation were necessary – that the artist was obsessed with archaeological correctness. Shown, however, at the same Salon was his Dead Caesar (whereabouts unknown), depicting, in a radical close-up, nothing but the body of the murdered emperor next to his overturned throne. Baudelaire, normally critical of Gérôme’s efforts, was fascinated by the image: “The effect is truly powerful. This dreadful summing up is enough. We all know enough Roman history to picture to ourselves what is left unsaid, the disorder that preceded, and the tumult that followed.”¹⁰ For Théophile Gautier, who had seen in the artist’s studio both this work and the now more famous version in Baltimore (Fig. 22), the difference between the Dead Caesar and that more anecdotal picture was that the first could be likened to history, while the second was comparable to a chronicle.¹¹ This was not to say, however, that Gautier in any way disapproved of the latter work or found it less believable: “Never has a page of history seemed so real. If photography had been known in the days of Caesar, we might think that the painting had been done from a print made on the spot at the very moment of the catastrophe.”¹² Gautier’s comment points to the most salient aspects of the Baltimore picture, namely its immediacy and its exactitude, both of which give it its “truth” value. This, in turn, is further strengthened by the reference to photography, the nineteenth-century documentary medium par excellence. The painting thus becomes evidence for the crime committed. But the picture may also be said to have filmic qualities as well. The mosaic with its Medusa head provides the viewer a bodily entry point, luring us to view the scene from the seats of the Curia; at the same time, the seats themselves, cut off at the right, can be imagined to continue into our own space. We as viewers are made witnesses to the event, standing both in and before the work: we do not participate in the action, but see it unfold before our eyes. The crime itself may be irrevocably past – we can do nothing anymore to prevent it – but Gérôme offers us the possibility of entering the scene, detective-like, and gathering up the evidence, the physical traces of the

9 Gérôme, Notes autobiographiques [1874], 11–12. 10 Baudelaire, “Salon of 1859”, 318. 11 Gautier, “Exposition de 1859”; cited in The Spectacular Art (2010), 124. On the Dead Caesar see also Çakmak (2010). 12 Gautier “À travers les ateliers”, 18. On the Death of Caesar see also Lübbren (2010).

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event.¹³ This has the effect of bringing history into the beholding moment, of making it both real and true. The artist here clearly pushes the boundaries of painting – in arttheoretical terms a preeminently static and a-temporal medium – capturing time and movement, offering up a a transparent surface and immersive format that convinces us of the reality of what we see: this is how Caesar was murdered, like this and not otherwise. Fully realizing the anachronism and that the term “proto-cinematic” is a controversial one within film studies, there is nonetheless abundant evidence – as Marc Gottlieb has shown – for Gérôme’s “cinematic imagination.”¹⁴ The Christian Martyrs’ Last Prayer (Fig. 23) begun in 1863 and only finished twenty years later, in 1883, is a case in point. Countering the most fundamental principle of French history painting, the unity of time and action, the artist here shows us the past, the present, and the future. The chariot tracks indicate the sporting events of a day now drawing to its close; the lions emerge from their underground cage at a solemn pace – we have no idea how many are still to come, but the way they appear assures us there will be more; the first one pauses to sniff the air, preparing the attack; some of the crucified bodies are already burnt, others are just set alight. The roar of the crowd is audible, and the suspense is palpable: we know that in a moment the lions will fall upon the men and women huddling together at the right.¹⁵ Such implications of temporality, believed to be the sole province of cinema, increase the believability of the scene, as well as once again sparking our imaginative participation. It is well known that The Christian Martyrs’ Last Prayer in fact served as the inspiration for one of film’s earliest excursions into the ancient world, namely Enrico Guazzoni’s 1913 version of Quo Vadis?.¹⁶ But for the modern viewer, the “reality effect” of Gérôme’s painting may be even stronger than that of the movie, which appears overtly stagey and melodramatic, and of course has neither color nor sound. Gérôme’s picture, in other words, has a visceral and even auditory quality which early cinema lacks. Its narrative and immersive properties in fact come closer to that of The Fall of the Roman Empire. Gérôme’s pictures thus offered cinema more than just sets, costumes and stereotypes; they show the whole future of the sword-and-sandal genre. It is Gérôme’s Pollice Verso of 1872, however, that may be said to have the most profoundly cinematic effect, and also to have quite literally influenced the history of film. It reappears in Guazzoni’s Quo Vadis? and was also used for one of the many publicity shots for the film. More recently, it appears to have prompted Ridley Scott’s Gladiator, a movie widely thought to have been responsible for a revival of cinematic and television treatments of ancient history. The painting, in particular its central figure,

13 Çakmak (2010), 73. 14 See Gottlieb (2010), 54–64. 15 Ibid., 54–56. 16 On the link between Quo Vadis? and Gérôme see Blom (2001) and Blom (2014). See also Wyke (1997), 120–23.

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has been reincarnated in various media, including both a stand-alone sculpture and a sculpture of Gérôme executing it (this kind of self-reflexivity and medial crossover is typical of the artist), as well as in posters and advertisements for popular entertainments . It has become, in short, the quintessential popular image of Roman Antiquity. Once again, the artist has set everything on archaeological exactitude: dress, architecture, decorative elements, even the addition of a roof to the arena – invisible, but indicated by the shafts of light that fall through the slits cut into it – have been meticulously researched and expertly rendered in paint. Initially, it would seem that Gérôme here adheres to the academic precepts of history painting, presenting us with the ultimate “pregnant moment” – the unanimous condemnation of the vanquished gladiator – a narrative strategy by which the viewer is meant to grasp the story at a glance. More careful viewing, however, reveals that once again Gérôme’s aims were more ambitious, seeking not instantaneity, but an unfolding of time and the total (emotional) immersion of the spectator.¹⁷ The gladiator, whose victim has just been felled and whose body has not yet entirely settled into a prone position (he still almost seems to be falling), looks toward the Vestal Virgins in the stands as they all feverishly point their thumbs down, pollice verso, indicating the impending death of the loser. But the decision has yet to be taken: the emperor, who will make the final judgment, moves in a separate sphere of time, slowly eating his figs, unfazed by the chaos before him. And further back, the greater part of the crowd is still unaware of the battle’s outcome. The artist thus spins time on several different axes – the moment before, the moment of, and the (potential) moment after. As in his other arena works, Gérôme here once again opts for a panoramic format. Through cropping – particularly at the right, with the extreme foreshortened arms in the stands above the Vestal Virgins – the artist implies an extension of the visual field – a compositional element already employed in The Death of Caesar. This puts the spectator on the arena floor, albeit slightly raised from the action, surrounded by the bleachers and the crowd; we have the impression that we need only turn our heads to see the rest of the stadium, and if we open our ears we will surely hear the roar of the bloodthirsty masses…As before, we are constructed as witnesses, again located not only in front of but also in the picture. We are not, however, direct participants, but instead dematerialized observers, projecting ourselves into the scene, but never becoming one with the multitudes. Gottlieb characterizes our relation to the picture as that of the “omniscient spectator”,¹⁸ a construct also typical of classic Hollywood narrative films like The Fall of the Roman Empire. It is this sense of “being there” that gives us such a strong impression of truth, a sensation once again only strengthened by the slick and transparent surface of the canvas.

17 The following description of Gérôme’s pictorial strategies is derived from Gottlieb (2010), 62–64. 18 Ibid., 62.

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Gérôme’s paintings, like the sword-and-sandal films, thus create a world, what we might call “a new Antiquity”, one to which we are privy with all our senses, but most especially with our eyes. And, like all such movies, his paintings have the objective of conveying something of the truth of the past. Similar to Hollywood cinema, his art constructs a viewer who, thanks to the convincing nature of the scenography and the overall narrative and immersive quality of the work, is not merely a spectator, but more importantly a witness. We, the viewers, are actually there when in The Fall of the Roman Empire Commodus enters the Forum in triumph and when the Barbarians are burned at the stake. But of course, Gérôme was not only known for his depictions of Roman spectacles. An equally important aspect of his vast oeuvre is his representation of the Orient. As with his images of Antiquity, his pictures of the harems, snake-charmers, slave markets and monuments of the Middle East have found their way into the popular imagination, creating in fact kind of “imaginary Orient.”¹⁹ It is interesting to discover that in this case Gérôme’s approach to this subject matter is not altogether different from the capriccio method employed by the scenographers of The Fall of the Roman Empire. Between 1856 and 1880 Gérôme travelled no less than six times to Egypt, accompanied on the first journey by the sculptor and photographer Auguste Bartholdi, and on the second by his brother-in-law Albert Goupil, who was also a talented amateur photographer. During these journeys numerous photographs were taken and many more probably purchased from the photography dealers who made a living selling photographs of famous monuments and genre scenes to tourists and artists alike.²⁰ These photographs were later incorporated into many of Gérôme’s works, but in a most unusual way, with the aim of creating a fantasy world and making it look enticingly real. Rather than merely reproducing a photographic scene, Gérôme instead imaginatively constructed his Oriental worlds, combining disparate photographic material with many other sources, such as prints or his own collection of costumes and objects. For example, for the painting known as Cairene Horse Dealer (Fig. 24), Gérôme based the architecture on Bartholdi’s photographs of Yemen (Fig. 25), where the sculptor had even travelled without his painter friend. Furthermore, the artist here combines two different photographs of two different types of houses into one.²¹ In The Prisoner (Fig. 26) the background is based on Bartholdi’s panoramic view of the Nile, employed not for its realism or detail, but to create a theatrical effect, a stage set for the scene in the foreground. The wide-screen format and the landscape “flowing” parallel to the river give the impression we are somehow accompanying the boat, as if witnessing a real scene in an almost cinematic fashion. Furthermore, the figures were not from

19 On Gérôme and Orientalism see a. o. Nochlin (1989). 20 On Gérôme and photography see Font-Réaulx (2010). 21 Des Cars/Font-Réaulx/Papet (2010), 222–23, cat. nos. 117, 120, 123 and 124.

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Egypt or even sketched in Egypt, but based on studies of men in Oriental costumes that Gérôme had photographed on the roof of his studio in Paris.²² And there are even more incongruities, because the scene is completely absurd: why would a prisoner be serenaded? Yet once again, Gérôme makes us feel like eyewitnesses. The Excursion of the Harem (Fig. 27) is once again an incongruous mix of a real, photographed, landscape and a fantasized figural scene:²³ Nubian oarsmen make sense for an Egyptian scene, but what are the Arab bashi-bazouks and an Ottoman harem doing riding a boat along the Upper Nile? In his ultimate Orientalist image, The Serpent Charmer of 1880 (Fig. 28), he shows us a scene he would have encountered while in Egypt, but the setting is Topkapi palace, based on a tourist photograph by Abdullah frères (Fig. 29). However, once again the artist shifts and manipulates the photograph in such a way as to create a dark backdrop for the body of the snake charmer. He also simplified the color scheme of the original from quite colorful to pure blue and white, and he changed the inscription, inventing it in parts.²⁴ As in The Fall of the Roman Empire, this collage-like approach creates a fantastic “othered” Orient that stands in sharp contrast to the real and eigen of the ancient Roman world. Returning to the notion of “transformation” as outlined in the research project Transformationen der Antike, the example of Gérôme teaches us an interesting lesson. Thanks to the mediation of archaeologists and historians, Gérôme was able to appropriate the culture and artifacts of the ancient world. He in turn transformed the way in which that culture was understood. As noted above, although in many ways the least modern of painters, Gérôme was a man of his times in that his work circulated widely in the form of mass-media reproductions – namely, as prints and photographs. His paintings, among them the ones examined here, did much to determine the popular vision of antiquity. Moreover, although I have no evidence, I suspect that Gérôme’s art may even have played a role in determining how later scholars understood their object of study. In how far did the notion of Rome as decadent and bloodthirsty presented here (and elsewhere) from the way both new and old artifacts were interpreted and in turn appropriated? The “truth-telling” aspect plays an important role here as well: for now we have “seen” how Caesar was murdered, the Christians burned, and the gladiator put to death. Just as now we “know” how Rome began to fall, thanks to the scenographers in The Fall of the Roman Empire. The “reference culture” is thus irrevocably altered. Gérôme’s already mediated vision then found its way into film, in turn transforming (once again) the understanding of ancient Rome, but also, simultaneously, the understanding of his art – which is now widely accepted as in some sense “precinematic.” This indeed was the very premise upon which the large retrospective

22 Ibid., 228–30, cat. nos. 121, 127. 23 Ibid., 231, cat. no. 129. 24 Des Cars/Font-Réaulx/Papet (2010), 278, cat. no. 160. See also Makariou/Maury (2010).

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exhibition at the – highly appropriate – J. Paul Getty Museum in Los Angeles in 2010 was built. These transformations constitute a kind of mise-en-abîme, as the various media influence each other and continually transform our understanding of each element individually, as well as of the collective whole known as “Antiquity.” Acknowledgment: I would like to thank Ulf Jensen, Markus Becker and Annette Dorgerloh for the invitation to respond to their most interesting work on what is one of my favorite film genres, the so-called “sword-and-sandal” picture, here in particular to Anthony Mann’s epic Fall of the Roman Empire. Their request has led me back to some work I did in the early 90s on the photographic, and occasionally even filmic, effect of nineteenth-century history painting, and to an artist by whom I remain intrigued, the French painter Jean-Léon Gérôme.

Primary sources Baudelaire, Charles, “Salon of 1859”, in: Selected Writings on Art and Literature, trans. P.E. Charvet, London 1993. Gautier, Théophile, “Exposition de 1859”, in: Le Moniteur universel (18 April 1859). Gautier, Théophile, “À travers les ateliers,” in: L’Artiste 4 (16 May 1858). Gérôme, Jean-Léon, Notes autobiographiques [1874], ed. Gérald Ackerman, Vesoul 1981.

Secondary literature Allan, Scott/Morton, Mary (eds.), Reconsidering Gérôme, Los Angeles 2010. Bann, Stephen, Paul Delaroche. History Painted, London 1997. Bann, Stephen, The Clothing of Clio. A Study of the Representation of History in Nineteenth-Century Britain and France, Cambridge 1984. Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/Schirrmeister, Albert/Toepfer, Georg/Walter, Marco/Weitbrecht, Julia, “Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels”, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. v. dens./Hartmut Böhme, München 2011, 39–56. Blom, Ivo, “Gérôme en Quo Vadis? Picturale invloeden in de film“, in: Jong Holland 4.18 (2001), 19– 28. Blom, Ivo, “Quo Vadis? From Painting to Cinema and Everything in Between“, in: Early Cinema. Critical Concepts in Media and Cultural Studies, ed. by Richard Abel, New York 2014, vol. 3, 9–22. Böhme, Hartmut, “Einladung zur Transformation”, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. v. dems./Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, München 2011, 7–38. Çakmak, Gülru, “The Salon of 1859 and Caesar. The Limits of Painting”, in: Reconsidering Gérôme, ed. by Scott Allan/Mary Morton, Los Angeles 2010, 65–80. Cyrino, Monica Silveira, Big Screen Rome, Oxford 2005.

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Des Cars, Laurence/Font-Réaulx, Dominique de/Papet, Edouard (eds.), The Spectacular Art of JeanLéon Gérôme, Exh. cat. The J. Paul Getty Museum Los Angeles, Los Angeles 2010. Font-Réaulx, Dominique de, “Gérôme and Photography. Accurate Depictions of an Imagined World”, in: The Spectacular Art of Jean-Léon Gérôme”, Exh. cat. The J. Paul Getty Museum Los Angeles, ed. by Laurence Des Cars/Dominique de Font-Réaulx /Edouard Papet, Los Angeles, 2010, 213– 221. Gottlieb, Marc, “Gérôme’s Cinematic Imagination”, in: Reconsidering Gérôme, ed. by Scott Allan/Mary Morton, Los Angeles 2010, 54–64. Huizinga, Johan, “The Task of Cultural History”, in: Men and Ideas. History, the Middle Ages, the Renaissance, Princeton, NJ 2014, 17–76. Lafont-Couturier, Hélène, Gérôme and Goupil. Art and Enterprise, Bordeaux 2000. Lübbren, Nina, “Crime, Time, and ,The Death of Caesar‘”, in: Reconsidering Gérôme, ed. by Scott Allan/Mary Morton, Los Angeles 2010, 81–91. Makariou, Sophie/Charlotte Maury, “The Paradox of Realism. Gérôme in the Orient”, in: The Spectacular Art of Jean-Léon Gérôme, Exh. cat. The J. Paul Getty Museum Los Angeles, ed. by Laurence Des Cars/Dominique de Font-Réaulx/Edouard Papet, Los Angeles, 2010, 259–265. Nochlin, Linda, “The Imaginary Orient”, in: The Politics of Vision. Essays on Nineteenth-Century Art and Society, New York 1989, 33–59. Païni, Dominique, “Painting the Moment Just Afterward, or, Gérôme as Film-Maker”, in: The Spectacular Art of Jean-Léon Gérôme, Exh. cat. The J. Paul Getty Museum Los Angeles, ed. by Laurence Des Cars/Dominique de Font-Réaulx/Edouard Papet, Los Angeles, 2010, 333–336. Renié, Pierre-Lin, “Gérôme. Working in the Era of Industrial Reproduction”, in: The Spectacular Art of Jean-Léon Gérôme, Exh. cat. The J. Paul Getty Museum Los Angeles, ed. by Laurence Des Cars/Dominique de Font-Réaulx/Edouard Papet, Los Angeles, 2010, 173–178. Schneemann, Peter Johannes, Geschichte als Vorbild. Die Modelle der französischen Historienmalerei 1747–1789, Berlin. Wyke, Maria, Projecting the Past. Ancient Rome, Cinema and History, New York/London 1997.

Marco Walter

Widerständigkeit vs. Deutungshoheit: die Transformation des metus hostilis Im Spätsommer 480, wohl Ende September, vollzog sich an den Küsten Attikas ein verzweifeltes, trauriges und doch auch imposantes Schauspiel. Ganz Athen begab sich auf die Flucht vor der heranrückenden persischen Armee; Männer, Frauen, Kinder, Sklaven – nur wenige, zumal Alte, Gebrechliche und einige Priester blieben zurück. Die Athener verließen die Gräber ihrer Vorfahren, die Heiligtümer, die Häuser, Felder, Plantagen und stellten sie dem Schutz ihrer Göttin anheim. […] Ihre Flucht war Teil eines Abenteuers. Es war, wie sich später herausstellte, das Abenteuer nicht nur des Kriegs eines David gegen einen Goliath, sondern des fünften Jahrhunderts vor Christus überhaupt, des Jahrhunderts Athens, eines der kühnsten, unwahrscheinlichsten und folgenreichsten der Weltgeschichte.¹

Am Anfang der „Entstehung des Politischen bei den Griechen“² steht die Erfahrung der Furcht vor einem äußeren Feind (metus hostilis). Als die übermächtige persische Armee auf ihrer Strafexpedition in Griechenland einmarschiert, vermag sie zwar viele Poleis zur kampflosen Unterwerfung zu bewegen, aber eine Allianz um die Führungsmächte Athen und Sparta ist fest entschlossen, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Der Ausgang der Auseinandersetzung ist bekannt: Trotz deutlicher zahlenmäßiger Überlegenheit zu Wasser und zu Lande unterliegen die Perser den Griechen unter athenischer Führung bei Salamis und unter spartanischer Führung bei Platäa; die Invasoren werden zurückgeschlagen und die Blütezeit der griechischen Poliswelt kann sich ungehindert entfalten. Neben der Einigkeit, die sich in Anbetracht des äußeren Feindes zwischen den verschiedenen Poleis einstellte, war es die auf den Ruderbänken der Trieren erzwungene Einigkeit von Männern unterschiedlichen Ranges, die nachhaltig wirkte und die Entwicklung Athens zur Demokratie begünstigte.³ Aus unzähligen möglichen Beispielen in der antiken Geschichte ist dieses nur eines der bekanntesten. Die Überzeugung, dass die Präsenz einer äußeren Bedrohung den inneren Zusammenhalt stärke, wird im Folgenden als Feindtheorem bezeichnet. Dazu passte im beschriebenen Kontext, dass bald nach dem Wegfall der persischen Gefahr die Streitigkeiten zwischen den griechischen Poleis – und hier insbesondere zwischen den beiden Führungsmächten Athen und Sparta – wieder aufflammten und sich schließlich im Peloponnesischen Krieg entluden.⁴ Darüber hinaus erscheint das Feindtheorem durchaus als Allgemeinplatz antiken politischen Denkens, war es doch

1 2 3 4

Meier (1993), 7 f. Meier (2007). Meier (1993), 17, Bleicken (1995), 49 ff. Thuk., 1, 18.

DOI 10.1515/9783110499261-006

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schon in Homers Epos angelegt und fand daraufhin ebenso Eingang in philosophische Abhandlungen wie in historische Werke oder allgemein in die Rhetorikschule.⁵ Eine detailliertere Beschreibung des Feindtheorems in der Antike im Vergleich zu seiner Stellung in der jüngsten Vergangenheit dient im Folgenden dazu, in der Ignoranz den dominanten Transformationstypus in Bezug auf dieses spezifische Referenzobjekt zu identifizieren. Das Ziel ist es schließlich, Aufschluss über das allelopoietische Verhältnis von Referenz- und Aufnahmebereich zu erlangen, insbesondere über eine mögliche Symmetrie beziehungsweise Asymmetrie in dieser Beziehung. Hierzu gibt eine Strukturanalyse des Transformationsaktes der Ignoranz Auskunft, der von bestimmten Transformationsagenten in Gang gesetzt wird, indem sie sich einem Referenzobjekt zuwenden und dieses in ihrem Aufnahmebereich je unterschiedlich zur Geltung zu bringen versuchen. Dabei müssen sie mit der Widerständigkeit des Referenzobjekts umgehen, das durch seine je spezifische materielle Sicht- und Greifbarkeit einer beliebigen Transformation mehr oder weniger Widerstand entgegensetzen kann. Die langfristig prägende Großerzählung zum Feindtheorem entstand im Zuge der Auseinandersetzung Roms mit Karthago. Nach der Zerschlagung des ewigen Rivalen in drei gewaltigen Kriegen, so die gängige Interpretation, fehlte das notwendige Korrektiv, das bis dahin das Ruhmesstreben des Einzelnen in republikverträgliche Bahnen gelenkt hatte. Befreit von dieser Einschränkung dauerte es nicht lange, bis Genuss- und Verschwendungssucht sowie Habgier um sich griffen, die auf das Gemeinwohl ausgerichteten republikanischen Institutionen von mächtigen Potentaten usurpiert wurden und die freiheitliche Ordnung in einer langen Reihe von Bürgerkriegen in sich zusammenstürzte.⁶ Unterstützung fand diese Sicht in den später kolportierten Anekdoten, die sich angeblich in entscheidenden Phasen der Standortbestimmung zwischen den beiden Großmächten des Mittelmeerraums abgespielt haben. So hat der ältere Scipio Africanus nach seinem Sieg über Hannibal darauf gedrängt, mit den Karthagern einen Friedensvertrag zu schließen und nicht auf ihre vollständige Vernichtung hinzuarbeiten. Einer der Gründe für diese Präferenz sei gewesen, dass er das Feindbild Karthago auf ewig habe bewahren wollen, um die römische Disziplin aufrechtzuerhalten und ganz allgemein einem Tugendverfall aufgrund konkurrenzloser Vormachtstellung und verbreiteten Wohlstands vorzubeugen.⁷ Bekannter ist die Kontroverse Jahrzehnte später

5 Hom., Il., 8, 55–57. Als philosophische Beispiele seien angeführt: Aristot., pol., 1308a, und Plat., leg., 698–699. In historischen Schriften findet sich das Feindtheorem etwa bei Pol., 6, 18, 2–3, und Thuk., 1, 35. Für die Verbreitung des Topos in Rhetorikschulen vgl. Kapust (2008), 357 f. 6 Für einen historischen Überblick über den beschriebenen Zeitraum siehe Bleicken (2004), 40–61. Der antiken Meinung, dass der Untergang der römischen Republik auf moralisches Versagen ihrer Führungsschicht zurückzuführen sei, hat bislang Christian Meier am wirkmächtigsten widersprochen und mit seiner Wendung der „Krise ohne Alternative“ (beispielsweise [1988], 201) auf den politischen, wenn auch schwer zu überwindenden, Charakter der damaligen Problemlage hingewiesen. 7 App., Lib., 65.

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am Vorabend des dritten und letzten Punischen Krieges, die sich zwischen Scipio Nasica und dem älteren Cato abspielte. Letzterer war Teil einer Gesandtschaft nach Karthago gewesen und hatte sich dort vom Wiedererstarken des Gegenspielers überzeugt. Fortan habe er die Meinung vertreten, dass Karthago zerstört werden müsse, weil es die Mittel wiedererlangt habe, um Rom gefährlich zu werden. Dem stellte sich Scipio Nasica entgegen und vertrat die schon bekannte These, dass der Feind zu erhalten sei, um die bereits nachlassende römische Disziplin nicht gänzlich verkommen zu lassen.⁸ Zum wirkmächtigsten Vertreter des Feindtheorems schwang sich jedoch Sallust auf, der nicht nur in jedem seiner überlieferten Werke auf die verheerenden innenpolitischen Entwicklungen im Anschluss an die Zerstörung Karthagos hinwies, sondern zu der immer festeren Überzeugung gelangte, dass in einem Gemeinwesen ohne die Präsenz einer äußeren Bedrohung kein tugendhaftes und gemeinwohlorientiertes Verhalten zu erwarten sei.⁹ Seine herausragende Position verdankt er nicht zuletzt Augustinus, der Sallusts Dekadenztheorie an prominenter Stelle in dem Bestreben wiedergegeben hat, die Verkommenheit römischer Sittlichkeit schon vor Ankunft des Christentums zu beweisen.¹⁰ Derart zugänglich gemacht verbreiteten sich Sallusts Thesen rasch und waren praktisch allen bedeutenden politischen Denkern bis in die Neuzeit hinein geläufig, was ihm gar die Bezeichnung des einigenden Effekts angesichts einer äußeren Bedrohung als „Sallust’s Theorem“ einbrachte, das als eines der „founding principles of early modern political thought“ zu gelten habe.¹¹ Bis heute hat sich an der Prominenz des Feindtheorems nichts geändert, im Gegenteil, gerade der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Beendigung der drauffolgenden ‚feindlosen‘ Dekade durch den transnationalen Terrorismus haben die Thematik wieder ins Zentrum politischer und politiktheoretischer Überlegungen gerückt.¹²

8 Verweise auf die Kontroverse in leicht nuancierten Abwandlungen finden sich bei App., Lib., 69, Plut., Cato, 27, Diod., 34/35, 33, 3–5. Die Frage nach ihrer historischen Faktizität ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von Belang. 9 Für entsprechende Interpretationen siehe etwa Eisenhut (1985), 389 f., Widmer (1983), 140. In Catilinae coniuratio beschreibt Sallust die Verhältnisse in der frühen und mittleren Republik als vorbildlich, bevor die Zerstörung Karthagos die schlechten Leidenschaften entfesselte (Catil., 6–10). Bereits im bellum Iugurthinum fehlt jedoch eine entsprechende Passage zur Vorgeschichte und es wird lediglich darauf hingewiesen, dass es die Furcht vor dem äußeren Feind gewesen sei, welche die Tugendhaftigkeit erhalten habe (Iug., 41). In den historiae schließlich erscheinen nur noch zwei kurze Phasen als frei von moralischer Verwerflichkeit, zuerst aus Furcht vor der Rückkehr der vertriebenen Tarquinier in der Frühzeit, sodann zwischen dem zweiten und dritten Punischen Krieg (hist., 1 fr. 11–12 Maurenbrecher). 10 Die einschlägigen Stellen sind: Aug., civ., 2, 18 und 3, 17. Zu Recht weist Bonamente (1975), 152, darauf hin, dass die pessimistische Weltsicht in den spärlichen Fragmenten von Sallusts historiae der selektiven und eventuell instrumentell motivierten Auswahl Augustinus’ geschuldet sein könnte, welche die Werkinterpretation nachhaltig beeinflusste. 11 Wood (1995), 175. Für Belege zur weitverbreiteten Bezugnahme auf Sallust in der Neuzeit siehe ebenda, 174 Fn. 1. 12 Vgl. dazu die Klage des damaligen Generalstabschefs Colin Powell: „I’m running out of demons, I’m running out of villains, I’m down to Castro and Kim Il Sung“ (zit. in Carpenter [1992], 158), oder einige

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Angesichts der Persistenz über die Zeit hinweg erscheint auf den ersten Blick fraglich, ob es sich in Bezug auf das Feindtheorem überhaupt um eine Transformation eines antiken Topos handelt. Am ehesten käme der Transformationstypus der Appropriation in Frage, insofern der Referenzgegenstand bei der Eingliederung in die Aufnahmekultur erhalten bleibt. Allerdings ist fraglich, ob er dabei „aus seinem ursprünglichen Kontext“ herausgelöst wird, weil trotz je unterschiedlicher Feindkonstellationen die gleiche grundlegende politische Situation vorliegt, in welcher die Wirkung des Feindtheorems wahlweise konstatiert, angemahnt, verurteilt oder ihr Fehlen beklagt wird.¹³ Außerdem fehlt aufgrund der Allgegenwärtigkeit des Feindtheorems in den meisten Fällen ein expliziter Rückgriff auf die antiken Vorgänger, weshalb deren Ahnherrschaft nur implizit über möglichst plausible Zuschreibungen glaubhaft gemacht werden kann, wenn sie sich nicht schon in der langen Reihe der „Transformationsketten“¹⁴ verloren hat. Auf der anderen Seite sind jene Fälle interessant, in denen zwar explizit auf die antiken Vorläufer rekurriert, aber gleichzeitig die tugendstärkende Wirkung der äußeren Bedrohung in Zweifel gezogen wird oder alternative Maßnahmen den Vorzug erhalten. So breitet etwa Augustinus genüsslich das späte Schicksal des älteren Scipio Africanus aus.¹⁵ Obwohl dieser dem Gemeinwesen durch die Bezwingung Hannibals unschätzbare Dienste erwiesen hatte, wurde er bald darauf von innenpolitischen Gegnern angefeindet und wich deren Anklagen schließlich ins freiwillige Exil auf sein Landgut aus. Eine Episode, die sich ausgerechnet in jener Zeit ereignete, welche Sallust aufgrund der äußeren Gefahr als Periode größter Eintracht gekennzeichnet hatte. Mit noch tiefergehender Skepsis begegnet beispielsweise Machiavelli den antiken Lehren des metus hostilis.¹⁶ Zwar erkennt er die grundsätzlich heilsame Wirkung einer äußeren Bedrohung an, rät aber prinzipiell davon ab, sich auf fremde Kräfte anstatt auf die eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Diese Fälle, verbunden mit der oft fehlenden expliziten Auseinandersetzung mit dem antiken Vorbild, sind deswegen interessant, weil sie auf den folgenreichsten Transformationsakt in Zusammenhang mit dem Feindtheorem verweisen: die Ignoranz. Sie wird beschrieben als „Transformation, die Tatsachen oder Sachverhalte nicht beachtet“, und zwar durch „bewussten Verzicht auf eine Auseinandersetzung oder

Zeit später die Sorge des neokonservativen Vordenkers Irving Kristol: „[I]n politics, being deprived of an enemy is a very serious matter. You tend to get relaxed and dispirited“ (zit. in Robin [2004], 133). Die Bedeutung und insbesondere die Persistenz des Feindtheorems in der Politik von der Antike bis zum modernen war on terror hat Evrigenis (2010) nachgezeichnet. 13 Vgl. die Definition der Appropriation als Transformationstypus bei Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 48: „Transformation, die einen Referenzbestand aus seinem ursprünglichen Kontext herauslöst und in die Aufnahmekultur eingliedert, ihn […] dabei aber weitgehend erhält“ (Hervorh. M.W.). 14 Böhme (2011), 11. 15 Aug., civ., 3, 21. 16 Machiavelli, Disc., 3, 1.

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auch die (unbewusste) Unfähigkeit […], etwas zur Kenntnis zu nehmen“.¹⁷ Hier kommt also Nichtwissen ins Spiel, und die Schwierigkeiten, dieses methodisch einzufangen, liegen auf der Hand. Trotzdem hat es in jüngerer Zeit einige Aufrufe gegeben, den wissenschaftlichen Fokus stärker auf das Nichtwissen zu richten und es analytisch fruchtbar zu machen.¹⁸ Im Sinne der hier verwendeten Definition ist für die Ignoranz als Transformationstypus entscheidend, den Begriff weder synonym zu Nichtwissen aufzufassen noch darin einen Oberbegriff für alle möglichen Ausprägungen von Unwissenheit zu sehen.¹⁹ Vielmehr ist zum einen dann von Ignoranz zu sprechen, wenn seitens des Transformationsagenten ein strategisches Interesse daran besteht, bestimmte Wissensbestände willentlich zu unterschlagen. Neben diesem deutlichsten Fall von Ignoranz liegt sie zum anderen auch da vor, wo plausibel gemacht werden kann, dass ein Transformationsagent bestimmte Wissensbestände zwar nicht wissentlich übergangen hat, diese aber in Anbetracht der Umstände hätte zu Kenntnis nehmen müssen oder zumindest können, sein Versäumnis also auf kontingente Ursachen zurückzuführen ist.²⁰ Nichtwissen ist folglich nur in jenen Fällen methodisch fassbar und analytisch verwertbar, in denen es als unterdrücktes oder latent vorhandenes und damit aktualisierbares Wissen mit diesem in einer engen Verbindung steht. In Bezug auf das Feindtheorem liegt solch latentes Wissen in Form eines Gegennarrativs vor. Inhaltlich ist es zweigeteilt und verweist einerseits – eigentlich trivialerweise – auf die Gefahr, dass der äußere Feind die eigene Vernichtung herbeiführen kann, andererseits darauf, dass sich innere Spaltungen angesichts des Feindes ver-

17 Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 51. 18 Beispielsweise von Wehling (2004) und Proctor (2008). Letzterer unternimmt gar den Versuch, unter der Bezeichnung Agnotology einen neuen Forschungszweig zu etablieren, der sich systematisch der Untersuchung verschiedener Formen von Nichtwissen widmet. Formal scheint diesem Unterfangen bislang kein Erfolg beschieden zu sein. Allerdings bleibt das inhaltliche Hauptanliegen Proctors, nämlich die gezielte Produktion von Nichtwissen im Dienste ökonomischer oder politischer Ziele sichtbar zu machen, in vielfältiger Weise virulent. 19 Für eine entsprechende Verwendung in einem anderen Zusammenhang siehe beispielsweise Geisenhanslüke/Rott (2008), 8. 20 Die Bezeichnung als strategische und kontingente Ignoranz verdanke ich Herfried Münkler. Näherungsweise deckt sich diese Unterscheidung mit den von Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 51, genannten Aspekten des „bewussten Verzicht[s]“ (strategisch) einerseits und der „(unbewusste[n]) Unfähigkeit […] etwas zur Kenntnis zu nehmen“ (kontingent) andererseits. Der Sache nach findet sie außerdem ihre Entsprechung in Proctors (2008), 3, Dreiteilung von ignorance als Nichtwissen. Dieser spricht erstens von „native state (or resource)“, womit das dem Menschen natürlicherweise gegebene Nichtwissen bezeichnet wird, das analytisch nicht verwertbar ist, sondern vielmehr die Voraussetzung für Erkenntnis und damit Wissenschaft bildet, indem es durch Lernen Schritt für Schritt überwunden wird. Der zweite Bereich erfasst Nichtwissen als „lost realm (or selective choice)“, das durch grundsätzlich kontingente Selektionsprozesse entsteht. Schließlich kann Nichtwissen geschaffen werden durch „a deliberately engineered and strategic ploy (or active construct)“ (Hervorh. i. O.), was strategisch handelnde Akteure voraussetzt.

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schärfen können und die innere Einheit gerade aufs Spiel gesetzt wird.²¹ Die Diagnose der Ignoranz ist deshalb zu stellen, weil die Aspekte des Gegennarrativs üblicherweise in den Quellen zum Feindtheorem selbst offen zutage liegen, manchmal sogar in unmittelbarer Nähe dazu. Dies ist insbesondere da der Fall, wo die Kontroverse zwischen Scipio Nasica und dem älteren Cato wiedergegeben wird. Im Gegensatz zu ersterem, der Karthago als nützliches Feindbild erhalten möchte, warnt Cato eindringlich vor der Stärke des Gegners und der Gefahr, die er für die eigene Existenz darstellt, sprich: vor der Vernichtung durch den Feind.²² Für den zweiten Aspekt, die verstärkte Faktionalisierung in Anbetracht einer äußeren Bedrohung, bietet die antike Geschichtsschreibung reichhaltiges Anschauungsmaterial von Thukydides über Polybios bis zu Livius, und selbst Tacitus weiß noch davon zu berichten, obwohl er bloß Zeuge einer langweiligen Zeit des kaum gestörten Friedens war.²³

21 Für eine ausführliche Herleitung des Gegennarrativs aus antiken Quellen siehe Walter (2015), 148– 156. 22 Für die antiken Quellen, welche die Kontroverse dokumentieren, siehe hier Fn. 9. Die unmittelbare Nähe des Feindtheorems zu seinem Gegennarrativ wird beispielsweise bei Plut., Cato, 26–27, deutlich: „Cato war zu den Karthagern und dem Numider Masinissa, die miteinander Krieg führten, geschickt worden, um sich über die Ursachen ihres Zwistes zu unterrichten. […] Als er nun die Stadt nicht, wie die Römer glaubten, gedrückt und demütig vorfand, sondern reich an kräftiger junger Mannschaft, strotzend von Reichtum, voll von mancherlei Waffen und Kriegsmaterial und darum nicht niedrig gesonnen, so meinte er, es sei nicht so sehr an der Zeit, daß die Römer die Sache der Numider und Masinissas regelten und in Ordnung brächten, als zu verhüten, daß sie, wenn sie eine ihnen von alters feindliche, haßerfüllte, nun auf wunderbare Weise neu erstarkte Stadt nicht gänzlich unterwürfen, wieder in dieselbe Gefahr kämen. Er kehrte also eilends nach Rom zurück und trug dem Senat vor, die früheren Niederlagen und Unfälle der Karthager hätten nicht so sehr ihre Macht als ihren Unverstand vermindert und sie augenscheinlich nicht schwächer, sondern kriegserfahrener gemacht, und nun seien die Kämpfe mit den Numidern bereits eine Vorübung für die mit den Römern, und Friede und Vertrag sei nur ein Deckname für Aufschub des Krieges, der auf seine Stunde harre. […] Ein noch stärkeres Druckmittel war, daß er bei jeglicher Sache, über die er seine Meinung abzugeben hatte, den Satz hinzufügte: ‚Ferner stimme ich dafür, daß Karthago nicht bestehen bleiben darf.‘ Umgekehrt pflegte Publius Scipio, mit dem Beinamen Nasica, das Votum abzugeben: ‚Ich stimme dafür, daß Karthago bestehen bleibt.‘ Denn da er offenbar sah, daß das Volk schon aus Übermut über die Stränge schlug, im Stolz auf sein Glück sich nicht mehr vom Senat leiten lassen wollte und durch seine Macht den ganzen Staat, wohin gerade seine Neigung es trieb, gewaltsam mit sich riß, so wollte er, daß wenigstens diese Drohung der Frechheit der Masse als ein heilsamer Zaum angelegt bliebe, da er meinte, daß Karthago nicht stark genug sei, um der Römer Herr zu werden, aber stark genug, um nicht verachtet zu werden“ (übers. v. Konrat Ziegler/Walter Wuhrmann). 23 So Tacitus’ Selbsteinschätzung in annales, 4, 32. Für Beispiele verstärkter Faktionalisierung vgl. etwa Thuk., 3, 82: „Später freilich ergriff das Fieber so ziemlich die ganze hellenistische Welt, da in den zerrissenen Gemeinwesen allerorten die Volksführer sich um Athens Eingreifen bemühten und die Adligen um Spartas“ (Übersetzung Georg Landmann), oder Liv., 24, 2, 8: „Ich möchte sagen, die Städte Italiens waren sämtlich von derselben Krankheit befallen, dass die Bürgerlichen anders dachten als die Vornehmen, der Senat die Römer begünstigte, der Bürgerstand sich auf die Seite der Punier neigte“ (übers. v. Otto Güthling). Des Weiteren siehe auch Pol., 1, 16; 4, 17; 38, 17–18, Tac., ann., 2, 9–10.

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Selbst Sallust als wichtigster Gewährsmann des Feindtheorems liefert in seinem Werk ausreichend Anhaltspunkte, die grundsätzlich einigende Wirkung durch eine äußere Bedrohung zu hinterfragen. Als erstes fällt die theoretische Inkonsistenz seiner Ausführungen auf, die sich darin niederschlägt, dass es bald die Zerstörung Karthagos ist, die den allgemeinen Sittenverfall einläutet, bald die Gracchenzeit, die Regentschaft Sullas oder schlicht fortuna.²⁴ Des Weiteren ist zu beachten, dass der Verweis auf Karthago da erfolgt, wo Sallust die moralische Verworfenheit seiner eigenen Zeit darstellt, die ihm wiederum als Rechtfertigung dafür dient, aus dem aktiven politischen Leben zurückzutreten und sich der Geschichtsschreibung zuzuwenden. Ein solcher Schritt war im damals herrschenden Wertesystem in hohem Maße begründungsbedürftig, weshalb eine instrumentelle Verwendung des bereits geläufigen Karthagomotivs naheliegt. Nicht zuletzt bleibt die Frage unbeantwortet, weshalb der innere Zusammenhalt in der Auseinandersetzung mit Jugurtha offenbar nicht ausreichend gestärkt wurde, obwohl der Krieg angeblich „schwer und schrecklich und der Sieg unsicher war“.²⁵ All die beschriebenen Dissonanzen oder gar expliziten Frontstellungen, die in ausreichender Fülle und an zentralen Stellen der antiken Vorbilder zu finden sind, bleiben in der Rezeption des Feindtheorems weitgehend unbeachtet. Folgerichtig wird dessen Wirkung in den jeweiligen Aufnahmebereichen gemeinhin als gegeben akzeptiert. Darüber hinaus wohnt diesem Transformationsakt der Ignoranz natürlich ein allelopoietisches Moment inne. Das Konzept der Allelopoiese beruht auf der Einsicht, dass im Zuge der Aneignung von Bestandteilen vergangener Referenzkulturen nicht nur die Aufnahmekultur konfiguriert wird, in welche diese Bestandteile eingespeist werden, sondern zugleich der Referenzbereich je nach Art und Weise der Aneignung überhaupt erst seine spezifische Ausgestaltung erfährt. Das Verhältnis von Referenzund Aufnahmekultur ist deshalb nicht als dasjenige einer einseitigen Abhängigkeit zu begreifen, sondern grundsätzlich als eines der „produktive[n] Wechselseitigkeit“.²⁶ Die Ignoranz gegenüber dem Gegennarrativ des Feindtheorems führt deshalb nicht nur dazu, dass seine Gültigkeit heute kaum noch hinterfragt wird. Vielmehr wird durch den Transformationsprozess zugleich der antike Referenzbereich als diejenige Periode konstruiert, in welcher diese universelle Gültigkeit sich etablierte, indem sie praktisch erfahren und theoretisch verarbeitet wurde. Dieses Bild spiegelt sich heute sowohl in wissenschaftlichen Arbeiten wider als auch in alltäglichen Bemerkungen von der höchsten Politikebene bis hinunter zum Stammtisch, wodurch es natürlich performativ weiter zementiert wird.²⁷ Dadurch wird die Gegenposition unterdrückt, wonach eine äußere Bedrohung den inneren Zusammenhalt durchaus

24 Sall., Catil., 10–11, Iug. 42. 25 Sall., Iug., 5, 1, vgl. ebd. 39, 1. 26 Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 43. 27 In wissenschaftlichen Arbeiten zeigt sich dies etwa bei Evrigenis (2010), Kapust (2008) oder Wood (1995). Für Beispiele aus politischen Diskursen siehe hier Fn. 12. Die diagnostizierte Persistenz des

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gefährden und gar zerschlagen kann, was ebenfalls bereits in der Antike praktisch erfahren und theoretisch verarbeitet worden war. Die Vielfalt antiken Bedrohungsund Angsterlebens geht folglich verloren.²⁸ Auf der Suche nach Gründen für diese Einseitigkeit ist mit einer grundsätzlichen methodischen Schwierigkeit umzugehen, die sich bei jeder Analyse eines Transformationsprozesses der Ignoranz stellt: Es muss die verborgene oder nicht realisierte Präsenz von etwas bewiesen werden, das nicht offensichtlich vorhanden ist. Da eindeutige Hinweise auf absichtliches Ignorieren bestimmter Sachverhalte nur in den seltensten Fällen durch Selbstauskünfte gefunden werden dürften, wird man üblicherweise über möglichst plausible Zuschreibungen nicht hinauskommen. Als Anhaltspunkte müssen zunächst die Kenntnis des fraglichen Referenzbereichs sowie der allgemeine Umgang mit diesem Wissen dienen. Unterstützend mag die oben entwickelte Unterscheidung in strategische und kontingente Ignoranz herangezogen werden. Hat ein Transformationsagent – also ein(e) AkteurIn, der oder die einen Transformationsprozess initiiert²⁹ – ein starkes Interesse daran, bestimmte Referenzobjekte zu unterschlagen, weil diese höchstens mit viel Mühe in seinen Interpretationszusammenhang eingefügt werden könnten, ist ein Transformationsakt der Ignoranz am ehesten plausibel zu machen. Dies gilt umso mehr, wenn eine genaue Kenntnis des Referenzbereichs oder im besten Fall gar der übergangenen Referenzobjekte nachgewiesen werden kann. Hingegen trägt ein Nachweis kontingenter Ignoranz sehr viel spekulativere Züge. Hier muss der Kontext des jeweiligen Transformationsagenten möglichst genau bestimmt und anschließend abgeschätzt werden, wie wahrscheinlich in dieser Position die Kenntnis eines Referenzobjekts gewesen sein mochte. Sicherheit lässt sich in diesen Fällen nie erlangen und die Grenze zwischen kontingenter Ignoranz und reinem Nichtwissen – also demjenigen Bereich,

im Feindtheorem formulierten Effekts bedeutet nicht, dass es als politisches Instrument nicht flexibel einsetzbar wäre. Ganz im Gegenteil bietet Veith Selk in diesem Band eine Auswahl, für welch unterschiedliche Ziele es im politischen Diskurs nutzbar gemacht werden kann. Ebenso wenig impliziert die diagnostizierte Persistenz, dass konkurrierende Ansichten vollkommen inexistent wären. Tatsächlich werden diese gelegentlich vorgebracht (beispielsweise Chang [2002], Johnson [2005]), sind aber im herrschenden Diskurs nicht maßgebend. Vielmehr dominiert hier das Feindtheorem in seiner klassischen Ausprägung, ob dessen Effekt nun begrüßt oder kritisiert wird (für letztere Position siehe beispielsweise Robin [2004], 251 f.). 28 Diese Vielfalt beschränkt sich keineswegs auf die zwei Möglichkeiten der Reaktion auf eine äußere Bedrohung, die hier relevant sind. So komplex wie die von einer externen Gefahr ausgelösten Emotionen ist auch ihre Wirkung in der Politik. Wollte man sich trotzdem an ihre Kategorisierung wagen, wären mindestens zwei Kriterien zu berücksichtigen: Zum einen kann eine Bedrohung von außen kommen oder ihren Ursprung im Innern eines Gemeinwesens haben. Zum andern kann sie einigend wirken oder im Gegenteil anomische Tendenzen verstärken (vgl. Walter [2015], 140 f.). 29 Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 44, fassen den Begriff des Agenten sehr weit, indem sie nicht nur Personen, Kollektiven und Institutionen, sondern auch Artefakten diese Rolle potentiell zuweisen. Ein solch expansives Verständnis von agency wird weiter unten kritisch beleuchtet.

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der auch mit dem potentiellen Wissen eines konkreten Transformationsagenten in keinem Zusammenhang mehr steht – ist fließend.³⁰ In einer langen und komplex verwobenen Transformationskette wie derjenigen zum Feindtheorem wäre deshalb für jeden Einzelfall zu prüfen, ob glaubhafterweise die Ignoranzdiagnose gestellt werden kann. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist jedoch nicht die detaillierte Darstellung der einzelnen Transformationszusammenhänge seit der Antike. Vielmehr dient das Feindtheorem lediglich als Beispiel, um strukturelle Eigenheiten der Ignoranz als Transformationsakt zu bestimmen. Daraus lassen sich letztlich Rückschlüsse auf das allelopoietische Verhältnis von Referenz- und Aufnahmebereich ziehen, das neben der materiellen Beschaffenheit des Referenzobjekts entscheidend von der Rolle der Transformationsagenten abhängt, wie im nächsten Abschnitt argumentiert wird. Für den gegebenen Zusammenhang ist deshalb die Herausarbeitung der generellen Anreizstruktur ausreichend, welche die Ignoranz als zentralen Transformationsakt plausibel erscheinen lässt. Zunächst sind zwei Ebenen zu unterscheiden, auf denen sich strukturelle Voraussetzungen identifizieren lassen, welche die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Ignoranz im Hinblick auf das Gegennarrativ erhöhen. Die erste ist die politische Ebene, auf der zusätzlich zwischen Entscheidungseliten auf der einen und Deutungseliten auf der anderen Seite zu differenzieren ist.³¹ Erstere sind dadurch definiert, dass sie einem Gemeinwesen vorstehen oder in einem solchen signifikanten Anteil an der Entscheidungskompetenz haben. In dieser Rolle liegt es in ihrem Interesse, die Einheit des Gemeinwesens zu wahren und in Anbetracht einer Bedrohung deren einigende Wirkung zu beschwören oder gar aktiv ein Feindbild zu konstruieren. Entscheidungseliten unterliegen deshalb einem klaren strategischen Anreiz, die einigende Wirkung einer äußeren Gefahr hervorzuheben und ihr spaltungsförderndes Potential zu unterschlagen.³² Nicht ganz so einheitlich sind die Deutungseliten zu beurteilen. Sie stehen außerhalb der unmittelbaren Entscheidungsprozesse und analysieren diese aus ihrer Beobachterposition heraus. Gleichwohl können sie natürlich strategische Interessen verfolgen und versuchen, mit ihren Interventionen den allgemeinen Zusammenhalt zu stärken, aber auch ihn zu untergraben und verschiedene gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. In diesem Fall werden sie jedoch erst recht auf das

30 Angesichts dieser zwangsläufigen methodischen Unschärfe ist es verständlich, dass sich Proctors Agnotology auf Fälle der strategischen Ignoranz konzentriert (vgl. hier Fn. 18). Als besonders beliebtes Beispiel dienen die jahrzehntelangen Bemühungen der Tabakindustrie, die gesundheitlichen Schäden des Rauchens herunterzuspielen (Proctor [2008], 11–18). 31 Die Unterscheidung von Entscheidungs- und Deutungseliten geht auf Münkler (2006), 134, zurück. 32 Das wahrscheinlich bekannteste und politisch folgenreichste Beispiel in jüngerer Zeit zur Illustrierung dieses Effekts bietet die Reaktion in den USA auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Die innere Einheit wurde allenthalben beschworen und parteipolitische Differenzen verschwanden weitgehend, wenn es etwa darum ging, militärische Vergeltungsschläge zu beschließen oder den sogenannten Patriot act in Kraft zu setzen (vgl. Evrigenis [2010], 197, zum Patriot act Chang [2002]).

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Feindtheorem rekurrieren, um die Einheit der bevorzugten Gruppe in Abgrenzung zu den anderen zu fördern.³³ Die zweite Ebene, auf welcher die bevorzugte Wahrnehmung des Feindtheorems im Vergleich zu dessen Gegennarrativ gefördert wird, ist die historische, wobei der Effekt hier unabhängig von strategischen Absichten eintritt: Walter Benjamin folgend krankt die Geschichtsschreibung an ihrer Konzentration auf die Sieger und Vernachlässigung der Verlierer: „Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen“.³⁴ Nun zeichnen sich die Sieger per definitionem dadurch aus, dass sie im Angesicht des Feindes weder vernichtet wurden noch auseinandergebrochen sind, sondern innerlich gestärkt aus der Konfrontation hervorgingen. Eine solche Siegergeschichte privilegiert deshalb systematisch das Feindtheorem und vernachlässigt zwangsläufig das Gegennarrativ, von dem die unglücklichen Verlierer so fatal betroffen sind. Jenseits von bewusster, strategischer Ignoranz besteht deswegen ein struktureller Bias, der das Auftreten von kontingenter Ignoranz begünstigt. Bestes Beispiel hierfür ist wiederum die Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago, in welcher der im Feindtheorem postulierte Effekt auf punischer Seite offenbar völlig wirkungslos blieb,³⁵ was jedoch in der Folge vom römischen Siegernarrativ weitgehend überlagert wurde. In Bezug auf das Konzept der Allelopoiese lässt die Analyse zur Transformation des antiken metus hostilis-Motivs Rückschlüsse auf die produktive Wechselseitigkeit zwischen Referenz- und Aufnahmebereich zu. Diese kann grundsätzlich von absolut gleichberechtigter Hervorbringung durch beide Seiten fast bis zur rein einseitigen Konfiguration reichen und deshalb zwischen völliger Symmetrie beziehungswei-

33 Gelingt die Abspaltung einer bestimmten Gruppe aus einem bis dato bestehenden politischen Gemeinwesen, so werden die bisherigen Deutungseliten zu den Entscheidungseliten der neu konstituierten Gemeinschaft. Anschaulich lässt sich dies aktuell an der Entwicklung des Islamischen Staates (IS) im Irak beobachten. Seine sunnitischen Gründer betreiben die Abgrenzung zu den schiitischen Bevölkerungsteilen auf besonders grausame Weise, indem sie die innere Einheit durch Massaker an den angeblich vom wahren Glauben Abgefallenen zu festigen suchen (Zelin [2014]). 34 Benjamin (2010), 34, vgl. auch Koselleck (2000), 67. Dass dieser in der Folge den größten historischen Erkenntnisgewinn den Besiegten zuschreibt, verstärkt eher die These der Siegergeschichte, denn gemeint sind die lediglich persönlich Besiegten innerhalb der siegreichen politischen Gemeinschaft, auf welche die Geschichtsschreibung bezogen bleibt ([ebd.], 68 ff.). 35 Diesen Umstand beklagt der karthagische Heerführer Hannibal bitter und sieht in der fehlenden inneren Einheit in Anbetracht der römischen Bedrohung die eigentliche Ursache für die Niederlage: „So rufen sie mich denn schon nicht mehr durch versteckte List, sondern geradezu zurück, sie, die durch Verweigerung der nachzusendenden Truppen und Gelder schon lange mich zurückzerrten! So wurden denn Hannibals Sieger – nicht die Römer, die er so oft zusammenhieb und schlug, sondern der Senat von Karthago durch entgegenarbeitenden Parteienhass! Und über diesen meinen schimpflichen Abzug wird Scipio nicht lauter frohlocken und sich erheben als Hanno, der meine Familie, weil er es durch andere Mittel nicht konnte, unter Karthagos Trümmern begrub“ (Liv., 30, 20, 2–4, übers. v. Otto Güthling).

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se Asymmetrie schwanken. Entscheidend für die Bestimmung des Verhältnisses ist im konkreten Fall einerseits die materielle Beschaffenheit des Referenzobjekts, die je nachdem mehr Widerständigkeit für die Instrumentalisierung in unterschiedlichen Transformationsprozessen impliziert. So ist etwa anzunehmen, dass ein ursprünglich hauptsächlich performativ verfasstes Referenzobjekt wie beispielsweise antike Musik mehr Transformationspotentiale in sich birgt als eine im wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelte Inschrift, die ihr Vetorecht als Quelle eher geltend machen kann. Andererseits kommt den Transformationsagenten eine herausragende Bedeutung zu, weil diese den Prozess überhaupt erst in Gang bringen. Insbesondere ist die Frage zu klären, ob es auch nicht-personale Agenten geben kann, weil diesen je nach Beschaffenheit ein unterschiedliches Maß an agency zuzuschreiben und somit der Einfluss des Referenzbereichs unterschiedlich stark ausgeprägt wäre. Über den Zusammenhang der beiden Aspekte vermag das bearbeitete Fallbeispiel Aufschluss zu geben. Wie gezeigt werden konnte, genießen die antiken Referenzbestände zum Feindtheorem von Anfang an eine gewisse privilegierte Stellung. Sie sind jedoch nicht derart dominant, dass sie die Elemente des Gegennarrativs von sich aus vollständig in den Hintergrund zu drängen vermöchten. Ganz im Gegenteil befinden sich in den antiken Vorlagen beide Seiten des Motivs nicht selten in unmittelbarer Nachbarschaft – wie etwa in der Kontroverse zwischen Scipio Nasica und dem älteren Cato um die Zerstörung Karthagos – und lassen sich selbst bei Sallust mühelos aufdecken. Obwohl also die Zugänglichkeit gleichermaßen gegeben war und keine materiellen Vor- oder Nachteile zu verzeichnen sind, erwiesen sich die Bestände des Gegennarrativs als zu wenig widerständig, um den Siegeszug des Feindtheorems zu verhindern, welches bis heute die Deutungshoheit in einem Maße innehat, das auf diesem Feld einer kulturellen Hegemonie im Sinne Gramscis nahekommt.³⁶ Der Grund liegt darin, dass sich ein Referenzobjekt unabhängig von seiner materiellen Beschaffenheit von sich aus nicht zur Geltung bringen kann, ihm also keine agency in dem Sinne zukommt, dass es den „Zustand eines anderen Gegenstandes oder einer Angelegenheit verändert, indem es einen Unterschied verursacht“.³⁷ Vielmehr ist es für die Aktivierung seiner potentiellen Widerständigkeit darauf angewiesen, dass sich ein personaler Agent seiner annimmt, damit Geltungsansprüche verknüpft und diese in den Aufnahmebereich einspeist. Zwar geschieht dies bisweilen in spezialwissenschaftlichen Einzelarbeiten für das Gegennarrativ zum Feindtheorem, jedoch ohne den hegemonialen Diskurs brechen zu können.³⁸ Daraus ist nun keineswegs der Schluss zu ziehen, dass die Beschaffenheit des Referenzobjekts völlig unerheblich wäre. Zunächst einmal muss es notwendigerweise im weitesten Sinne materiell vorhanden sein (und sei es nur als mündliche Überlieferung oder performa-

36 Zu Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie siehe Deppe (2007). 37 Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 44. 38 Vgl. beispielsweise Simmel (1983), 235 f.

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tiver Akt), damit überhaupt ein Transformationsprozess durch einen Agenten in Gang gesetzt werden kann. Ist dies einmal geschehen, setzt die Beschaffenheit des Referenzobjekts einen Rahmen, der bestimmte Transformationen wahrscheinlicher macht als andere. So sind etwa die Dominanz des Feindtheorems und die Ignoranz gegenüber seiner Kehrseite aufgrund der vielfach bezeugten römischen Geschichte wenig erstaunlich. Umgekehrt bedürfte es beispielsweise eines sehr viel größeren Aufwandes, der Transformation zum Durchbruch zu verhelfen, die Zerstörung Karthagos habe die Einheit des römischen Volkes gestärkt und den republikanischen Institutionen des römischen Stadtstaates Dauer verliehen.³⁹ Grundsätzlich ist anzunehmen, dass Referenzobjekten, bei denen der sprachlich überlieferte Inhalt im Vordergrund steht, aufgrund der ihnen inhärenten Offenheit größeres Transformationspotential innewohnt als materiell greifbaren Artefakten. Ganz besonders gilt dies auf dem Feld des Politischen, das als Tummelplatz der Meinungen jeglichen überzeitlich feststehenden Zuschreibungen gegenüber feindlich gesinnt ist. Die Lektüre von George Orwells 1984 und die Erfahrung der Geschichtspolitik in totalitären Systemen lassen jedoch erahnen, welche Möglichkeiten offenstehen, wenn einseitig über die Quellen verfügt wird.⁴⁰ Es gilt deshalb, dass es ein Vetorecht der Quellen nicht gibt, sondern nur ein Vetopotential derjenigen Quellen, derer sich ein Transformationsagent annimmt. Das allelopoietische Verhältnis zwischen Aufnahme- und Referenzbereich ist deswegen als ein asymmetrisches zugunsten des ersteren zu beschreiben, wenn auch bedingt asymmetrisch, nämlich bedingt durch die Möglichkeit, in einem gegebenen Kontext Geltungsansprüchen mit Bezug auf ein Referenzobjekt zum Durchbruch zu verhelfen. Danksagung: Der vorliegende Beitrag stützt sich auf die allgemeinen Überlegungen zur Angst in der Politik bei Walter (2015), 138–156. Mit dem metus hostilis wird die Entwicklung eines ebenda bereits konkretisierten Teilaspekts des Phänomens unter der Maßgabe allelopoietischer Transformation analysiert. Für wertvolle Hinweise und Anregungen ist den OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen der Tagung Allelopoiese – Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels zu danken, ebenso wie Veith Selk für seine konstruktive Kritik.

39 Dass dieses Beispiel nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist, zeigt die jüngst wieder angestoßene Diskussion um die korrekte Beschreibung des von Augustus eingerichteten Prinzipats. Während es üblicherweise als reine Monarchie eingeordnet wird, schlägt Winterling (2005) vor, in Anlehnung an Mommsens Charakterisierung wieder die Dyarchie als Teilung der Regierungsaufgaben zwischen Senat und princeps in Betracht zu ziehen. Diese Sichtweise betont die Kontinuität der römischen politischen Institutionen über die angebliche Zäsur des Augustus hinweg. 40 Vgl. dazu beispielsweise King (1997), der die Verfälschung von Zeitdokumenten, insbesondere Fotografien, in Stalins Sowjetunion darstellt.

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Veith Selk

Politische Denker als Allelopoeten Allelopoiese in der politischen Ideengeschichte – das Beispiel des Feindtheorems

Einleitung: Das Feindtheorem – eine Siegergeschichte? Das Feindtheorem (metus hostilis) ist ein Topos in der Geschichte des politischen Denkens. Vor allem im antiken römischen Republikanismus geprägt, besagt es in seiner starken Fassung, dass die kollektive Angst vor einem realen oder einem eingebildeten Feind eine politische Gemeinschaft konstituiert. In seiner schwachen Fassung sagt es aus, die kollektive Angst stärke die innere Kohäsion einer schon bestehenden politischen Gemeinschaft. Beide Fassungen sind bis heute in politischen Diskursen präsent. Die Anziehungskraft und die politische Instrumentalisierbarkeit des Theorems sind so stark, dass man, so wie Marco Walter dies in seinem Beitrag für diesen Band tut, von einer strategischen Ignoranz und einem bias im Umgang mit dem Theorem sprechen kann. Wo nämlich die Rede vom kollektiv gefürchteten, die Gemeinschaft zusammenschweißenden Feind aufkomme, da fehle meist die Gegenthese – und damit der Hinweis, dass ein kollektiver Feind auch die Gemeinschaft auseinandertreiben oder andere desintegrative Effekte auslösen kann. Man könnte dies die ‚waltersche Hegemoniethese‘ nennen. Dieser These zufolge ist das Feindtheorem ein scheinbar unbestreitbares Element in politisch-ideologischen Diskursen, das seitens interessierter Deutungs- und Entscheidungseliten in Stellung gebracht wurde, um Privilegien und Positionen zu verteidigen oder politisch Einfluss zu nehmen. Daran hat sich offenkundig seit der Antike nichts verändert. Inhalt, Bedeutung und Funktion des Theorems sind, so scheint es, im Wesentlichen gleich geblieben. Die These ist plausibel. Ein Blick auf die politischen Debatten der Gegenwart lehrt, dass die tatsächliche oder die vorgestellte kollektive Angst im Angesicht eines Feindes beziehungsweise im Angesicht eines Feindbildes nicht selten von (Deutungs-)Eliten instrumentalisiert wird. Beispielsweise empfahl unmittelbar nach der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl Jonathan Haidt – als Professor für business ethics vielleicht ein Fachmann für solche Dinge – in der New York Times vom 07. November 2012 die Anwendung dieses altehrwürdigen Theorems. Mittels kollektiver Angst solle der Gemeinsinn gestärkt und die im Gefolge des Wahlkampfes verhärtete Parteienpolarisierung im US-amerikanischen Gemeinwesen überwunden werden. Seine Losung klingt wie von Sallust, einem der einflussreichsten Proponenten des Feindtheorems, abgekupfert: „We need a little fear“ – so Haidts Empfehlung. Vor dem Hintergrund DOI 10.1515/9783110499261-007

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widerstreitender parteipolitischer Loyalitäten werde sich allein im Angesicht einer kollektiv gefürchteten Bedrohung der republikanische Gemeinsinn wiederbeleben lassen.¹ Haidt gibt damit ein Beispiel für eine affirmative Verwendung des Feindtheorems ab. Er behauptet, die kollektive Angst vor einem Feind oder vor einem Problem, das alle gleichermaßen bedroht, habe einen die Gemeinschaft stärkenden Effekt, und er fordert die Indienstnahme dieses Effekts. Allerdings finden sich ebenso Beispiele für eine kritische Bezugnahme auf das Theorem. Albrecht von Lucke etwa interpretierte jüngst in einem Beitrag namens Terror und Pegida: Gebt uns ein Feindbild! den radikalen Islamismus und den xenophobischen Rechtspopulismus als im Milieu der Modernisierungsverlierer angesiedelte Reaktionen auf Abstiegsängste, auf Sinn- und Orientierungsverluste und auf Zweifel an der eigenen Identität. Letztere würden durch die Einheit stiftende Funktion des kollektiven Feindbildes kompensiert. Lucke: „Was dagegen in jedem Fall verbindet – und Entlastung verschafft –, ist ein gemeinsamer Feind. Wenn das Eigene schon nicht klar ist, dann doch zumindest das Fremde, das Andere, das zum Feind gemacht wird“.² Während Haidt die kollektive Angst als ein nützliches Mittel der Identitätspolitik preist und es zwecks Stärkung der Gemeinschaft im Innern eingesetzt wissen will, weist Lucke kritisch auf die Kompensationsfunktion des kollektiven Feindbildes für die prekär gewordene Identität der im Modernisierungsprozess Abgehängten hin. Ihm zufolge handelt es sich um ein Krisensymptom der Postdemokratie: Wo Integration nicht mehr durch die demokratischen Institutionen geleistet werden kann – denn diese laufen aufgrund postdemokratischer Erosionserscheinungen und neoliberaler Modernisierungseffekte mehr und mehr ins Leere – entsteht Angst und es springt die Integration mittels eines kollektiven Feindbildes ein. Beide Verwendungsweisen des Feindtheorems unterscheiden sich merklich voneinander. Der entscheidende Punkt für einen Verfechter der Hegemoniethese ist an dieser Stelle aber: ob nun kritisch oder affirmativ – wo das Feindtheorem zur Sprache kommt, dort scheint es hegemonial im obigen Sinne zu sein. Das Eintreten des vermeintlichen Effekts der kollektiven Angst, die Vergemeinschaftung, wird weder in der affirmativen noch in der kritischen Verwendungsweise infrage gestellt. Sowohl Haidt als auch Lucke haben keine Zweifel daran, dass die kollektive Angst vor einem Feind tatsächlich vergemeinschaftend wirkt. Sieht man sich nun die Geschichte des Theorems etwas genauer an, wird jedoch klar, dass das Feindtheorem unterschiedlich interpretiert und genutzt wurde. Die Rede von „dem“ Feindtheorem scheint wenig Sinn zu machen, zumindest dann nicht, wenn damit nicht nur die Persistenz des Theorems über die Epochen hinweg unterstellt wird, sondern auch die Persistenz von dessen Bedeutung. Eher muss man davon 1 Haidt (2012). Zur politischen Renaissance der Angst und des Feindtheorems nach dem 11. September und dem war on terror siehe Greiner (2011), Altheide (2006), Sarasin (2004) und Nacos/BlochElkon/Shapiro (2011). 2 Lucke (2015), 8.

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sprechen, dass die Persistenz des Theorems in der Geschichte des politischen Denkens mit einer recht heterogenen Einsetz- und Ausdeutbarkeit einhergeht.³ Das Feindtheorem wurde und wird nämlich im politischen Denken nicht nur reproduziert, sondern es wird dort selbst transformiert und erhält im Rahmen begriffs- und ideenpolitischer Auseinandersetzungen unterschiedliche Bedeutungen. Im Folgenden möchte ich mit Blick auf das Feindtheorem zwei Dinge tun. Erstens will ich Transformationen des Feindtheorems anhand dreier Stationen aus der Geschichte des politischen Denkens aufzeigen und dabei deutlich machen, dass die Bedeutungen des Theorems je nach dem politischen und theoretischen Kontext erheblich voneinander abweichen. Zweitens geht es mir um eine Anwendung des Begriffs der Allelopoiese in der politischen Ideengeschichte und eine darauf aufbauende Einschätzung seines heuristischen Potentials für die ideengeschichtliche Forschung. In der politischen Ideengeschichte ist seit einiger Zeit eine Methodendiskussion im Gange und es setzt allmählich eine Kanonisierung der ideengeschichtlichen Methoden und Ansätze ein.⁴ Soweit ich sehen kann, wurden aber weder das Transformationskonzept des Sonderforschungsbereiches „Transformationen der Antike“ noch der Begriff der Allelopoiese bisher in diese Diskussion einbezogen. Da das Transformationskonzept aber ein allgemeines Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels darstellt beziehungsweise darstellen soll⁵ und da der Begriff der Allelopoiese den Schlüsselbegriff dieses Konzepts bildet, stellt sich die Frage, ob der Begriff der Allelopoiese nicht auch für die Geschichtsschreibung des politischen Denkens taugt.

Transformation und Allelopoiese in der Erforschung politischen Denkens Gegenstand meiner Überlegungen ist die Geschichtsschreibung des politischen Denkens als Teilbereich der ideengeschichtlichen Forschung. Was ist politisches Denken? Politisches Denken ist Denken im Handgemenge. Es hat eine begriffspolitische Dimension. Sie betrifft den Bedeutungsraum der Politik, also die begrifflichen und ideellen Strukturen, die das politische Handeln orientieren und reflektieren. Klassische politische Denker sind Seismographen und Begriffspolitiker des politischen Bedeutungsraums. Sie reflektieren und diagnostizieren politische, soziale und kulturelle Veränderungen im Handlungsraum der Politik. Sie handeln selbst politisch, denn sie greifen performativ mittels ihrer Texte und Äußerungen in den Bedeutungsraum der Po-

3 Darauf weist auch Walter in seinem Beitrag hin; siehe zur Geschichte des Theorems zudem Evrigenis (2010), Kapust (2008), Robin (2004) und Wood (1995). 4 Asbach (2002), Bluhm/Gebhardt (2006), Busen/Weiß (2013), Dorschel (2010), Mahler/Mulsow (2014), Stollberg-Rilinger (2010), Weber/Beckstein (2014). 5 Böhme (2011), 8.

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litik ein. Mittels der Lancierung eines neuen Begriffs oder im Zuge der Umdeutung gebräuchlicher Begriffe können sie eine Veränderung der Wahrnehmung in Gang setzen und dergestalt das politische Handeln beeinflussen.⁶ Das Transformationskonzept und der Begriff der Allelopoiese, das Herzstück des Konzepts, eignen sich für die Erforschung der Geschichte des politischen Denkens. Viele mittelalterliche, neuzeitliche und moderne politische Begriffe entstammen dem antiken politischen Denken, und sie wurden und werden in einem permanenten Prozess der Aneignung und Neubeschreibung im politischen Denken transformiert. Die Geschichtsschreibung des politischen Denkens ist an solchen Transformationsprozessen interessiert, ihr geht es unter anderem um die historische Veränderung und den Wandel von Ideen, Argumentationsfiguren, Begriffen, Ideologien, Theorien und Diskursen. In dieser Hinsicht kann das Transformationskonzept eine Bereicherung darstellen, denn mit dem Begriff der Allelopoiese wird eine Dimension in die Analyse eingeführt, die in der ideengeschichtlichen Forschung häufig nicht behandelt wird, nämlich die Dimension der wechselseitigen Beeinflussung. Eine Grundidee des Transformationskonzepts ist, dass sich historischer Wandel gewissermaßen zwischen einer Referenzkultur und einer Aufnahmekultur abspielt. Der Begriff der Allelopoiese bezeichnet die Prozesse der wechselseitigen Erzeugung und Transformation, die, zunächst auf der Ebene symbolischer Repräsentation, sowohl den Referenzbereich als auch den Aufnahmebereich verändern. Überträgt man diese Idee auf die politische Ideengeschichte, lassen sich politische Denker, um einen weiteren Begriff des Transformationskonzepts aufzunehmen, als „Agenten“ der Transformation begreifen. Sie initiieren die wechselseitige Konstruktion der symbolischen Repräsentation von Referenz- und Aufnahmekultur.⁷ Sie sind damit gewissermaßen Allelopoeten der Allelopoiese. Meine These ist, dass die Konstruktion einer Aufnahmekultur mittels der Aneignung von einer dadurch mitkonstruierten Referenzkultur im politischen Denken auch unter Rückgriff auf das Feindtheorem erfolgt. Dabei wird das Feindtheorem umgedeutet, anders situiert und polemisch in Stellung gebracht. Ich möchte diese These im

6 Die Formel von der „Veränderung der Wahrnehmung durch Lancierung eines Begriffs“ verdanke ich einer Bemerkung Herfried Münklers. Auf je eigene Weise wurde die politische Bedeutung von Begriffstransformationen besonders durch Quentin Skinner und Reinhart Koselleck herausgearbeitet, vgl. Palonen 2003. Das generische Maskulinum „politische Denker“ ist an dieser Stelle wohl der Beidnennung oder ähnlichen egalisierenden Formen vorzuziehen, da andernfalls die Suggestion entstünde, die Geschichte des politischen Denkens sei einigermaßen gleichgewichtig von Frauen und Männern geschrieben worden. 7 Sickern ihre begriffspolitischen Interventionen sowohl in den Bedeutungs-, als auch in den Handlungsraum der Politik ein, verbleibt die Transformation nicht mehr nur auf der symbolischen und der semantischen Ebene. Zum Begriff des Agenten siehe Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), 44 f. Ich folge der Darstellung des Transformationskonzepts und des Begriffs der Allelopoiese bei Böhme (2011) und Bergemann/Dönike/Schirrmeister/ Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011).

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Folgenden anhand dreier Stationen und Autoren aus der Geschichte des politischen Denkens begründen. Bei allen ist ein Rekurs auf das Feindtheorem beobachtbar: in der Spätantike bei Augustinus, in der Frühen Neuzeit bei Spinoza und in der Neuzeit bei Adam Ferguson. Bei allen drei Autoren, die paradigmatische politische Denker sind, lässt sich die Kenntnis des antiken Topos metus hostilis unterstellen. Und bei allen lässt sich eine kulturelle Transformationsleistung beobachten. Genauer gesagt: sie versuchen, einen vor sich gehenden allgemeineren kulturellen Transformationsprozess zu reflektieren und zu beeinflussen.

Augustinus: Kritik der heroischen Kultur Roms mithilfe des Feindtheorems Augustinus setzt sich bekanntlich in seinem Gottesstaat (413/427) mit dem Vorwurf auseinander, das Christentum sei für den Niedergang und die Plünderung Roms im Jahr 410 verantwortlich. Er tat dies vor dem Hintergrund der langsam wachsenden Sakralmacht der Kirche und der sich ausbreitenden christlichen Lebensform. Also in einer Situation des Übergangs, in der unterschiedliche Kulturen nebeneinander existierten und im Konflikt lagen: die antike heroische Kultur und die spätantike christliche Kultur. Um den besagten Vorwurf zu entkräften, rekurriert Augustinus unter anderem auf Sallust und dessen Formulierung des Feindtheorems. Sallust habe überzeugend nachgewiesen, dass Rom nicht aufgrund der Ausbreitung des Christentums, sondern aufgrund der Sittenlosigkeit, der Gottlosigkeit und der moralischen Dekadenz niedergegangen sei – infolge des Wegfalles der Angst vor einem kollektiven Feind. Nur unter dem „Druck der Furcht“ vor einem kollektiven Feind, der die Dekadenz, die Sitten- und Gottlosigkeit vorübergehend neutralisierte, habe Rom es vermocht seine Identität zu konstituieren und seine Einheit zu bewahren.⁸ Die Botschaft dieser Interpretation von Sallust durch Augustinus lautet nicht nur, dass Rom auch ohne die christliche Religion niedergegangen wäre. Augustinus betont zudem: Das römische Gemeinwesen ist – wie alle irdischen Gemeinwesen – kein echtes Gemeinwesen. Bei Augustinus dient das Feindtheorem einerseits zur Kritik der Kultur, der es entstammt: die heroische Kultur des antiken Roms sei dermaßen durch Egoismus und Eigensinn (amor sui) geprägt, dass in ihm Einheit durchweg fragil und nur durch den Rekurs auf ein negatives, gefürchtetes Äußeres möglich sei. Andererseits interpretiert Augustinus das Feindtheorem im Sinne seiner figurativen Methode auch symbolisch. Die Tatsache, dass Identität und Einheit nur durch die negative Abgrenzung gelinge,

8 Aug., civ., 3, 16 sowie 2, 18 und 1, 31.

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deutet er als ein Zeichen für den heillosen Zustand der Welt. Dem setzt er das Bild eines Jenseits bei Gott entgegen, das als Ort ohne Angst figuriert.⁹ Stoßkraft erhält Augustinus’ Gottesstaat durch die Schärfe, mit der in dem Werk die zentralen Begriffe und Ideen der antiken Tradition des politischen Denkens – Tugend, Bürger, Staat (d. h. Gemeinwesen), Frieden, Gerechtigkeit, Glückseligkeit – destruiert oder zu Transzendenzbegriffen umgedeutet werden. Die wirkliche Tugend, die wirklichen Bürger, das wirkliche Gemeinwesen, den wirklichen Frieden, die wirkliche Gerechtigkeit und Glückseligkeit, die wirklich Einheit – sie alle gibt es Augustinus zufolge nur bei Gott. Zur wahren Entfaltung kommen sie erst dort, auf Erden kann es höchstens einen Vorschein von ihnen geben. Augustinus formuliert damit eine radikale Kulturkritik unter theologischen Vorzeichen. Die Werte der antik-heroischen Kultur wertet er ab, die Werte der christlichen Kultur auf – und bringt das Feindtheorem dabei auf ganz spezifische Weise in Stellung. Mit Blick auf die Transformationstypologie von Bergemann et al. kann Augustinus’ Umgang mit dem Feindtheorem als eine „Ausblendung“ charakterisiert werden.¹⁰ Denn Augustinus behandelt in seiner Auseinandersetzung offenkundig nur einige bestimmte Aspekte der römischen Kultur und blendet andere aus. Zugleich nimmt er aber auch eine „Umdeutung“ beziehungsweise eine „Inversion“ vor, da die von ihm ausgewählten Aspekte des Referenzbereichs zwar deutlich als Elemente des Referenzbereichs erkennbar bleiben, sie werden aber im Zuge semantischer Transformationen umgedeutet und neu bewertet. In der republikanischen Theorie galt die kollektive Angst vor einem Feind als ein heilsamer Affekt, der dem Gemeinwesen wieder Gemeingeist einhauchen und die für kollektive Anstrengungen nötige Kraft zurückgeben könne. In Augustinus’ Darstellung bleibt dieser vergemeinschaftende Effekt kollektiver Angst vor einem Feind erhalten – Rom habe tatsächlich im Angesicht eines kollektiven Feindes seine Einheit bewahrt – aber dessen Bedeutung wird transformiert und anders bewertet: dass Rom nur in Angesicht eines kollektiven Feindes seine Gemeinschaft habe erhalten können, sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass Rom gar kein echtes Gemeinwesen ist. Die römische Republik stelle bloß eine defizitäre, weltliche Form von Gemeinschaft dar, die auf negativer Abgrenzung nach Außen beruhe. Falle die Möglichkeit der Abgrenzung nach außen weg, breche die Sittenlosigkeit wieder hervor – und das Reich sehe dem Niedergang entgegen (wie es in Rom ja tatsächlich der Fall gewesen ist). Unter Rückgriff auf das umgedeutete Feindtheorem sucht Augustinus damit nicht nur die Kritik am Christentum abzuwehren, sondern er will auch die Behauptung des antiken Republikanismus zurückweisen, auf Erden könne es hervorragende Formen politischer Gemeinschaft geben.

9 Die Hölle wiederum ist der Ort ewiger Feindschaft und ewiger Angst. 10 Vgl. Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), 47 ff.

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Spinoza: Bürgerliche Vergemeinschaftung durch kollektive Affekte Spinozas Politischer Traktat (1677) sowie vor allem sein Theologisch-politischer Traktat (1670) enthalten eine ideenhistorisch frühe Aufwertung des Demokratiebegriffs. Spinoza ist einer der ersten neuzeitlichen Demokratietheoretiker.¹¹ Er war ein Zeitgenosse der Entstehung des neuzeitlichen Staates und nahm Teil an der frühbürgerlichen Stadtkultur Amsterdams. Seine politischen Texte gehören zur Gattung der politischen Reflexionstheorien dieser Zeit. Bekanntlich ist der neuzeitliche Staat durch seinen Anspruch auf Souveränität charakterisiert. Spinoza argumentiert nun aber, unzeitgemäß, für eine Demokratisierung der Souveränität. Wesentlich hierbei ist, dass Spinozas Theorie die Existenz der politischen Gemeinschaft nicht voraussetzt, sondern more geometrico und im Sinne der neuzeitlichen Vertragstheorie vom bindungslosen, freien Individuum im Naturzustand ausgeht. Wie in der hobbesschen Theorie ist der Naturzustand ein latenter Kriegszustand, denn die Individuen sind aufgrund ihres Selbsterhaltungsinteresses und ihrer Leidenschaften von Natur aus, d. h. ohne politische Zwangsgewalt, Feinde. Die politische Vergemeinschaftung von eigeninteressierten, leidenschaftlichen Individuen allgemein und die Demokratisierung insbesondere können Spinoza zufolge nur gelingen, wenn sie nicht nur vernünftig begründet, sondern faktisch über die Affekte vermittelt werden. Spinoza plädiert für eine Verbürgerlichung mittels affektiver Vergemeinschaftung.¹² Zu diesem Zweck ersinnt er eine ganze Reihe von Sozialisationsmechanismen und Institutionen, die nicht nur die Rationalität, sondern auch die Affektivität der Individuen vergemeinschaften sollen. In diesem Kontext greift er indirekt auf das Feindtheorem zurück. Die kollektive Angst vor einem Feind ist für Spinoza nämlich ein Mittel, das zur politischen Vergemeinschaftung und Demokratisierung beitragen kann, da es den Gemeinsinn stärke. Zugleich gilt ihm zufolge aber auch: Je egalitärer die sozialen Strukturen und je demokratischer die politischen Institutionen, desto besser gelingt die Vergemeinschaftung. Damit greift Spinoza scheinbar recht bruchlos auf das Feindtheorem zurück. Aber sowohl der kulturelle als auch der theoretische Kontext, in dem er dies tut, haben sich verändert. Spinoza argumentiert gegen die oligarchische und klerikale Kultur – ein großer Teil des theologisch-politischen Traktats ist der Religionskritik gewidmet – und er streitet für eine bürgerlich-demokratische Kultur. Es geht ihm bei seinem Plädoyer für eine affektive Vergemeinschaftung nicht nur um die Erzeugung von einem Gemeinsinn per se, der auch ohne sakral-theologische Ideologie auskommt, sondern um die

11 Vgl. Saage (2005), 86. Spinoza, Theol.-Polit. Traktat und Spinoza, Polit. Traktat. 12 Vgl. Saar 2013 und Lembcke 2012. Spinoza, Polit. Traktat II, §14; III, §3 und §8 sowie IV, §4.

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Konstitution eines Gemeinsinns, der die Grundlage für eine egalitäre Demokratie bilden soll. Auch der theoretische Sinn ist bei Spinoza gegenüber der Tradition ein anderer: Spinoza buchstabiert den für das politische Denken der Aufklärung konstitutiven Zusammenhang von Autonomie und politischer Herrschaft aus.¹³ Im Unterschied zum antiken politischen Denken und dessen Behandlung des Feindtheorems geht es Spinoza um die Bestimmung derjenigen allgemeinen Bedingungen, die die gleichzeitige Realisierung partikularer Zwecke, pluraler Werte und Interessen der in einer politischen Ordnung unter einem gemeinsamen Gesetz vereinten Individuen ermöglichen. Die affektive Vergemeinschaftung mittels kollektiver Angst ist eine dieser Bedingungen. Bedeutsam ist, dass es Spinoza auf die Kollektivität der Angst und die damit verbundene Funktion der Gemeinschaftsbildung ankommt, aber nicht auf das Objekt der Angst. Für Spinoza ist es, mit Blick auf die ihn interessierende Funktion, letztlich einerlei, ob sich die Angst nun auf einen realen Feind, auf einen symbolischen Feind oder auf etwas ganz anderes richtet (Verarmung, kulturellen Niedergang, Naturkatastrophen, Missernten o. ä.), solange es sich nur um eine kollektive Form der Angst handelt. Zur Vergemeinschaftung im Zuge kollektiver Feindschaft stehen insofern für Spinoza eine ganze Reihe funktionaler Äquivalente bereit. Überdies müssen ihm zufolge die kollektiven Affekte, die zur Gemeinschaftsbildung beitragen, keineswegs nur negativ sein: Wenn eine Menge natürlicherweise übereinstimmt und meint, von gleichsam einem Geist geleitet zu werden, dann nicht deshalb, weil sie von der Vernunft, sondern weil sie von irgendeinem gemeinsamen Affekt geleitet wird, nämlich […] von gemeinsamer Hoffnung oder gemeinsamer Furcht oder von dem Verlangen, irgendeine gemeinsam erlittene Schlappe zu rächen.¹⁴

Anstelle von gemeinsamer Furcht oder gemeinsamer Rachgier kann Spinoza zufolge auch gemeinsame Hoffnung Gemeinsinn stiften. Gerade die Demokratie zeichnet sich in Spinozas Augen dadurch aus, dass in ihr die Vergemeinschaftung mittels kollektiv empfundener positiver Affekte einen großen Stellenwert einnimmt. Zu diesen zählt er etwa die Hoffnung auf den Nutzen gemeinsamer Kooperation und die Liebe zum Gemeinwesen. Transformationstypologisch betrachtet nimmt Spinoza damit eine „Assimilation“ vor.¹⁵ Er bedient sich des Feindtheorems und fügt es in seine politische Theorie ein, dabei verschmilzt er es mit den anderen Elementen seiner Theorie. Im Zuge dessen kommt es auch zu einer „Umdeutung“ des Theorems. In der antiken Fassung des Feindtheorems galt die Angst vor einem kollektiven Feind als etwas, das den Zusammenhalt stärkte, den Gemeingeist revitalisierte oder zumindest die desintegrativen,

13 Vgl. zu diesem Zusammenhang Asbach (2013). 14 Spinoza, Polit. Traktat, VI, §1. 15 Vgl. Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 48.

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dekadenten Tendenzen innerhalb der Gemeinschaft neutralisierte. Bei Spinoza wird das Feindtheorem nun funktionalistisch relativiert. Kollektive Affekte sind ihm zufolge notwendig, damit sich eine Gemeinschaft konstituieren kann, aber die Angst vor einem kollektiven Feind ist nur eine mögliche Form kollektiv empfundener Affekte. Sie ist überflüssig, sobald funktionale Äquivalente hierfür zur Verfügung stehen.

Adam Ferguson: Kollektive Identität in der neuzeitlichen commercial society Ferguson reflektiert in seinem Essay on the History of Civil Society (1767) die entstehende wirtschaftsbürgerliche Gesellschaft der Neuzeit; er bezeichnet sie im Essay als „commercial society“. Ferguson will indes nicht nur die Eigenart dieser historisch neuen Form sozialer Ordnung begreifen, sondern auch unter den Bedingungen des Frühkapitalismus der „commercial society“ die Realisierungsmöglichkeiten einer gelungenen, der Antike entstammenden republikanischen Form politischer Gemeinschaft ausloten. Sie firmiert bei ihm als „civil society“.¹⁶ Die „commercial society“ ist, so Ferguson 1767 weitsichtig, in Europa auf dem Vormarsch. Er charakterisiert sie in Abgrenzung zu den historisch vorgängigen Gesellschaftsformen durch eine hohe soziale Differenzierung und politische Hierarchiebildung. Die „commercial society“ zeichne sich durch soziale, ökonomische, politische und militärische Arbeitsteilung, die Herausbildung von Regierungsinstitutionen und Verwaltungsapparaten, das Privateigentum und den Marktverkehr, die Verfeinerung der Sitten, das Dominantwerden der instrumentellen Rationalität und die Ausbreitung wirtschaftsbürgerlicher, besitzindividualistischer Wertemuster aus. Im Zuge der Entstehung dieser neuartigen Form des Zusammenlebens differenzieren sich Ferguson zufolge drei Sphären aus: erstens die Gesellschaft, zweitens der Staat und drittens die internationale Sphäre. Mit ihnen sind in seinen Augen Gefahren verbunden.¹⁷ In der Gesellschaft drohen Ferguson zufolge die Erosion von Sinn und die Ausbreitung einer ‚würdelosen‘, rein am Profit und am Eigennutz orientierten Lebensweise. Ferguson befürchtet, dass infolge der Ausweitung des Marktverkehrs die überlieferten ethischen und moralischen Maßstäbe entwertet werden und dass sich aufgrund der auseinandergerissenen Lebensbezüge im Zuge fortschreitender Arbeitsteilung die Substanz der menschlichen Persönlichkeit auflöst. Bei dieser Diagnose greift er einerseits auf das antike Dekadenzmotiv zurück. Andererseits bereitet er durch seine In-

16 Ferguson, Essay 17 Ebd., IV-VI.

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terpretation der Arbeitsteilung den Topos der Entfremdung vor.¹⁸ Im Staat wiederum droht Ferguson zufolge die Entstehung einer moderner Tyrannis infolge der Verselbständigung der Regierungsinstitutionen und des sich mehr und mehr aufrüstenden Staatsapparats. Der Übermacht der Exekutive können, so nimmt er an, die privatistisch und ohne Gemeinsinn nur ihre eigenen Zwecke verfolgenden Wirtschaftsbürger nichts entgegensetzen. Für Ferguson ist mit der Entstehung nach Dominanz strebender Exekutivapparate schließlich noch eine weitere Gefährdung verbunden, die des Imperialismus in der internationalen Sphäre. Ferguson begreift die Freisetzung von Subjektivität und die arbeitsteilige Ausdifferenzierung von Handlungssphären sowie die ‚Kommerzialisierung‘ von Wertemustern in der „commercial society“ damit als Ursachen für die Auflösung von Gemeinsinn und als potentiell selbstnegatorisch. Das mögliche Resultat der selbstzerstörerischen Tendenz der europäischen „commercial society“ ist Ferguson zufolge eine kulturell erschlaffte, unfreie und imperiale Militärdespotie. Sein Rückgriff auf das Feindtheorem erfolgt nun in der Absicht, diesen Entwicklungstendenzen etwas entgegenzusetzen. Als Heilmittel propagiert er Rechtstaatlichkeit, eine Bürgermiliz, gleichgewichtige Machtverteilung zwischen einer Vielzahl von kleinräumigen Staaten, politische Partizipation und eine lebendige Öffentlichkeit – und den kollektiven Kampf und die Feindschaft der politischen Gemeinschaften nach außen. Die Feindschaft und die Angst vor kollektiven Feinden sollen zu einer affektiven Vergemeinschaftung, einem robusten Selbstbehauptungswillen und einem bürgerlichen Gemeinsinn im Innern der Staaten beitragen; die gleichgewichtige Machtverteilung zwischen den Staaten soll imperialen Tendenzen vorbeugen. Ferguson zielt damit auf eine ,fiktionale‘ Herstellung von Gemeinsinn ab. Er soll mittels kollektiver Kampferfahrung in einer Bürgermiliz und infolge der Imagination eines Feindes realisiert werden, ohne sich auf eine substantielle geteilte Vorstellung vom guten Leben oder von kollektiver Identität gründen zu müssen. Kollektive politische Identität als Grundlage politischer Gemeinschaft kann, so lässt sich Ferguson interpretieren, in der modernen Gesellschaft nur mehr negativ entstehen, durch die Abgrenzung gegenüber anderen.¹⁹ Wie schon erwähnt will Ferguson mit seinem Essay nicht nur die „commercial society“ begreifen, sondern auch den in seinen Augen normativ vorzüglichen republikanischen Gemeingeist der Antike in die „commercial society“ retten. Die „civil society“ und die „commercial society“ sollen soweit wie möglich miteinander versöhnt werden. Das Feindtheorem hat hierbei eine Doppelstellung: Es dient einerseits der Kritik der aufkommenden liberal-kommerziellen Kultur, andererseits weist es für Ferguson den Weg, wie die selbstnegatorischen Tendenzen der kommerziellen Kultur

18 Vgl. Pocock (2003), 502. 19 Vgl. Kalyvas/Katznelson (1998), 182f. sowie Ferguson, Essay, 1, 4 und 2, 5. Hier trifft sich der Ferguson des Essay mit Augustinus.

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eingedämmt werden können. Damit scheint Ferguson recht nahe bei Sallust und dem antiken Republikanismus zu sein. Beim genaueren Hinsehen wird allerdings deutlich, dass die antik-heroische Referenzkultur in Fergusons Essay als historisch überlebt dargestellt wird. In seinen Augen ist sie nämlich mit dem neuzeitlichen Pluralismus der Werte und Interessen unvereinbar. Überdies haben die schon eingewöhnten Praktiken der „commercial society“ aus jedem Bürger in einem nicht zu vernachlässigenden Ausmaß einen Wirtschaft- und Konsumbürger gemacht. In Fergusons Augen können dessen Ansprüche auf Konsum und Lebensart nur durch die arbeitsteilige Organisation des Zusammenlebens und mittels einer prosperierenden Marktökonomie befriedigt werden. Der heroische Republikanismus der Antike ist für Ferguson nicht nur mit der modernen Idee negativer Freiheit unvereinbar, sondern auch mit der neuzeitlichen Lebensform des Wirtschaftsbürgers und seinem Anspruch auf Luxus und Konsum. Trotz dieser skeptischen Einschätzung übernimmt Ferguson mit der Forderung nach einer Bürgermiliz und nach aktiver, streitlustiger Partizipation aber auch Elemente des antiken Republikanismus, um auf diesem Wege die Aufnahmekultur, die „commercial society“, zu transformieren und die kommerzielle Kultur soweit wie möglich zu „republikanisieren“.²⁰ Transformationstypologisch findet bei Ferguson damit eine „Hybridisierung“ statt.²¹ Eine neue kulturelle Konstellation – eine liberalrepublikanische Kultur – soll auf dem Wege einer synkretistischen Verschmelzung geschaffen werden.

Vom Nutzen des Begriffs der Allelopoiese für die Ideengeschichte Augustinus, Spinoza und Ferguson waren Beobachter und Agenten kulturellen Wandels. Als politische Denker registrierten und interpretierten sie Veränderungen ihrer Umwelt, mittels ihrer Texte griffen sie in diese Veränderungsprozesse ein. Das Feindtheorem nutzten sie dabei jeweils auf spezifische Weise als ein Vehikel für politische Deutungskämpfe, die zugleich Kulturkämpfe waren. Die Unterscheidung zwischen Aufnahme- und Referenzkultur kann dabei helfen, diese Tätigkeit des eingreifenden Beobachtens zu verstehen. Alle drei Denker lebten und schrieben in Phasen historischen Wandels, die sowohl durch tiefgreifende Transformationsprozesse als auch durch die Gleichzeitigkeit zweier oder mehrerer widersprüchlicher Kulturen gekennzeichnet waren. Augustinus war Zeuge des Konflikts der heroisch-antiken Kultur mit der spätantik christlichen Kultur. Spinoza schrieb vor dem Hintergrund der langen

20 Siehe Bohlender (1999) und Münkler (1998). 21 Vgl. Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), 50 f.

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mittelalterlichen christlich-klerikalen Kultur und der langsam anhebenden Säkularisierung in der frühbürgerlichen Stadtkultur. Ferguson schließlich war Zeuge des epochalen Wandels hin zur Kultur der neuzeitlichen Marktgesellschaft. Als einem Schotten wurde ihm die Bedeutung dieser Veränderung anhand des Kontrasts zwischen den vormodern-feudalen Highlands und Edinburgh als dem kommerziell-urbanen Zentrum Schottlands besonders augenfällig. Der Vorteil des Begriffs der Allelopoiese für die Ideengeschichte beziehungsweise für die Erforschung des politischen Denkens liegt darin, dass er die Aufmerksamkeit auf diese kulturelle Dimension politischen Denkens richtet. Danksagung: Ich danke den Organisatorinnen und Teilnehmerinnen der Tagung Allelopoiese – Konzepte zur Beschreibung kulturellen Wandels. Herzlicher Dank geht ebenfalls an Marco Walter für seinen Vortrag und die Einladung zum Kommentar.

Primärliteratur Augustinus, Der Gottesstaat, übers. v. Carl Johann Perl, 3 Bde., Salzburg 1966. Ferguson, Adam, An Essay on the History of Civil Society, hg. v. Fania Oz-Salzberger, Cambridge 1996. Spinoza, Benedictus, de, Theologisch-politischer Traktat, in: Werke, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2006. Spinoza, Benedictus, de, Politischer Traktat, in: Werke Bd. 3, hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2006.

Sekundärliteratur Asbach, Olaf, „Von der Geschichte politischer Ideen zur ,History of Political Discourse’? Skinner, Pocock und die ,Cambridge School’“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 12 (2002), 637–67. Asbach, Olaf, „Politische Herrschaft und Autonomie. Souveränität bei Bodin, Hobbes und Rousseau“, in: Demokratie und Volkssouveränität bei Jean-Jacques Rousseau, hg. v. Oliver Hidalgo, Wiesbaden 2013, 69–99. Altheide, David L., Terrorism and the Politics of Fear, Lanham 2006. Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/Schirrmeister, Albert/Toepfer, Georg/Walter, Marco/Weitbrecht, Julia, „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. v. dens./Hartmut Böhme, München 2011, 39–56. Bluhm, Harald/Gebhardt, Jürgen (Hg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006. Bohlender, Matthias, „Die Poetik der Schlacht und die Prosa des Krieges. Nationalverteidigung und Bürgermiliz im moralphilosophischen Diskurs der Aufklärung“, in: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, hg. v. Johannes Kunisch und Herfried Münkler, Berlin 1999, 17–41.

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Eva Marlene Hausteiner

Leerstellen des Bundes Über konföderale Ausblendungen in föderalen Denktraditionen

1 Leerstellen des Föderalen Zur Jahrtausendwende warf der damalige Außenminister Joseph Fischer an der Humboldt-Universität zu Berlin sein politisches Gewicht für den europäischen Verfassungsvertrag in den Ring: In seinem Vortrag Vom Staatenbund zur Föderation schlug Fischer eine „schlanke und zugleich handlungsfähige Europäische Föderation, voll souverän und doch auf selbstbewußten Nationalstaaten als Glieder dieser Föderation beruhend“ vor. „Zudem“ – so Fischer – wäre dies auch eine Föderation, die von den Bürgern durchschaut und verstanden würde, weil sie ihr Demokratiedefizit überwunden hätte. Dies alles wird aber nicht die Abschaffung des Nationalstaates bedeuten. […] Dies sage ich gerade mit Blick auf unsere Freunde in Großbritannien, denn ich weiß, daß der Begriff ‚Föderation‘ für viele Briten ein Reizwort ist. Aber mir fällt bis heute kein anderer Begriff ein.¹

Aus Fischers Perspektive müsste mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages fünf Jahre später auch die Föderalisierung Europas als Prozess immer engerer Integration an ihr Ende gekommen sein. Wie aber lässt sich dann die EU begrifflich fassen: Als Staatenbund, als im Entstehen begriffener Vielvölkerstaat oder – so eine verbreitete, wenngleich wenig klärende Formel – als Ordnung sui generis? Wie lassen sich Föderationen beschreiben, die sich nicht in das Schema des demokratischen, klar umgrenzten Verfassungsstaates fügen? Die Frage nach der Entwicklungsrichtung der EU, aber auch danach, was die Union im gegenwärtigen Moment sei wenn nicht föderal, ist vielleicht die bekannteste und meistdiskutierte Aktualisierung jenes Problems, das den Anlass für die folgenden Überlegungen bildet: Was ist eine Föderation, was ein Bund, und was können und sollen diese Begriffe für das Verstehen politischer Realität leisten? Ist der bisherige normative, staatsbasierte, auf die Moderne fokussierte und damit eher enge Föderationsbegriff plausibel und nützlich für die Erfassung dieser politischen Realität? Und welchen Traditionsbildungen und Verengungen entspringt dieser Begriff des Föderalen? Die also durchaus politisch relevante Frage nach dem historischen Zustandekommen unseres gegenwärtigen Begriffsinstrumentariums soll im Weiteren transformationsgeschichtlich verfolgt werden.

1 Fischer (2000). DOI 10.1515/9783110499261-008

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Die in Teilen der Politikwissenschaft und der Verfassungstheorie gängige Zuspitzung des Föderationsbegriffes auf einen durch feste Grenzen umrissenen, föderal kodifizierten, womöglich demokratischen Verfassungsstaat verstellt den Blick auf ein weites Spektrum föderaler Phänomene, die auch mit anderen Ordnungsmodellen wie Staat und Imperium heuristisch nicht eindeutig erfasst werden können.² Durch derartige restriktive Definitionen wird eine beträchtliche Menge politischer Ordnungen in der politikwissenschaftlichen Debatte marginalisiert, obwohl sie mit einem weiteren Begriff beschreibbar wären: Ein zu enger Föderationsbegriff verengt den Blick auf die politische Realität. Dies trifft für das von Christoph Schönberger prominent behandelte Beispiel der Europäischen Union als hybrides und dynamisches Gebilde zu, das er mit der Carl Schmitt entlehnten Alternativkategorie des Bundes beschreibt,³ doch Vergleichbares gilt auch für andere Phänomene wie etwa für das fundamental asymmetrisch und hegemonial angelegte Deutsche Reich nach 1871, für Staaten wie den Irak, die auf zwangsbewehrten Druck von außen hin entstanden sind oder transformiert wurden, oder auch für lose und asymmetrische Bünde und Konföderationen wie die griechischen Städtebünde, in denen die kollektiven Einzelglieder ein hohes Maß an Eigenständigkeit genießen und – anstelle der Einzelbürger – Hauptsubjekte gegenüber dem Zentralstaat sind. Sie alle können eher noch mit dem breiten Bundbegriff, nicht aber mit einem eng gefassten Föderationsbegriff beschrieben werden. Insbesondere die Rolle der Konföderation, also des loseren, kompetenzmäßig weniger zentralisierten, potentiell hegemonial arrangierten Bundes muss in eine leistungsfähige föderale Heuristik einbezogen werden. Der breite Bundbegriff nach Schönberger – der einer „auf freier Vereinbarung beruhende[n], dem gemeinsamen Zweck der politischen Selbsterhaltung aller Bundesmitglieder dienende[n], dauernde[n] Vereinigung“⁴ – öffnet den Blick für ein größeres Spektrum föderaler Phänomene, das möglicherweise noch zu entdecken und zu beschreiben ist. Um die Notwendigkeit dieser Öffnung und die Kontingenz bisheriger, enger Begrifflichkeiten herauszustellen, ist wiederum begriffsgeschichtliche Forschung notwendig: Obgleich die historische Semantik nach Koselleck die Frage nach in der politischen Gegenwart leistungsfähigen Konzepten nicht beantworten kann,⁵ bietet sie für die folgenden Überlegungen, die sich auf das Zustandekommen der konzeptionellen 2 Zur Diagnose und Kritik dieser Verengung siehe Hausteiner (2015b) sowie, in Bezug auf die Problematik hegemonialer Föderativität, Hausteiner/Huhnholz (2015). 3 Schönberger (2010); Schönberger (2004); vgl. Beaud (2004). Beide Autoren schließen mit ihrem Vorschlag an die verfassungstheoretische Tradition Carl Schmitts an, der in seiner Verfassungslehre ein umfangreiches Kapitel dem systematischen Entwurf des Ordnungstyps Bund als dauerhafte politische Vereinigung widmet (Schmitt [1993]). 4 Schönberger (2004), 100. 5 Die sprachfokussierte historische Semantik nach Reinhart Koselleck – der sich selbst der Transformation des Bundbegriffes seit dem Mittelalter gewidmet hat – kann keine hinreichenden Antworten auf die Herausforderungen von Idealtypenbildung und transhistorisch-komparativer Systematisierung geben, vor denen Disziplinen wie die Historische Soziologie oder Politische Theorie und

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Verengung des Föderationsbegriffs und seine Kapitulation vor dem Formenschatz des Föderalen konzentrieren, eine zentrale Grundlage: Begriffsgeschichte als Transformationsgeschichte kann komplexe allelopoietische Prozesse im Raum politischer Konzepte erhellen. Im Mittelpunkt steht im Folgenden exemplarisch die Frage nach dem Verbleib einer möglichen antiken Präzedenz föderaler Arrangements in der Transformation föderaler Konzeptionen. Die feste Bindung des gegenwärtigen Föderationsbegriffes an den Staatsbegriff – und die damit einhergehende normative Verknüpfung mit der Idee der Demokratie – ist, so die These, das Ergebnis langwelliger Traditionsbildungen, die bereits in der Antike selbst ihren transformatorischen Anfang nehmen und aus ebendieser ihre bemerkenswerte Stabilität beziehen. Entscheidend in diesen Prozessen ist die Appropriation und Stigmatisierung früherer Begriffe kollektiver Ordnung als nachahmbare Präzedenzen durch politische Akteure. Spezifische historische Ausformungen des Föderalen und Bündischen haben sich als kanonische Modelle durchgesetzt, wobei diese traditionsbildende Durchsetzungskraft nicht zuletzt auf die allelopoietisierende Tauglichmachung historischer Föderationen in diskursiven Deutungskämpfen zurückzuführen ist. Die das Föderale bestimmenden langfristigen Transformationsprozesse sind nicht allein bedingt durch die bündischen Phänomene und ihre inhärente Transformationstauglichkeit selbst, sondern durch Prozesse der ständigen Erzeugung dieser Phänomene durch transformierende Akteure in allelopoietisierenden Verfahren – Prozesse, die durchaus bewusst von den zeitgenössischen politischen Interessen der Akteure bedingt sein können. In derartigen Transformationsprozessen ist die Suche nach „richtigen“ oder „falschen“ Dynamiken nur sehr bedingt hilfreich, da historische Rezeption wiederum auf den historischen Gegenstand interpretativ zurückwirkt.⁶ Es lässt sich im Gegenteil feststellen, dass durch die Kanonisierung und Priorisierung des Bundesstaates andere föderale Konzepte und politische Modelle in ihrem durchaus historisch untermauerbaren Bedeutungspotential in den Hintergrund treten und sogar ausgeblendet werden: Die Tranformationsgeschichte föderaler Begriffe, die hier in Ausschnitten verfolgt wird, ist von tief eingreifenden allelopoietischen Effekten der Stigmatisierung und sogar Ignoranz gekennzeichnet.

Verfassungstheorie heute stehen. Wenn Koselleck in seinen Untersuchungen zum Bundbegriff den breiten Begriffshorizont für detaillierte historische Schattierungen wie auch semantische Transformationen in der longue durée wie etwa die zunehmende Formalisierung und Bindung an den Staatsbegriff durchmisst, so steht dies letztlich eben nicht im Interesse einer übertragbaren Typologisierung, die zur Heuristik historisch-konkreter Bundphänomene beitrüge. So kann auch eine historisch grundierte Auffächerung der Begriffe des Föderalen oder eben, breiter gefasst, des Bündischen das Problem einer erforderlichen komplexitätsreduzierenden Definition nicht lösen. Dennoch lässt sich aus dem von Koselleck und anderen erarbeiteten breiten Panorama historischer und auch gegenwärtiger Begriffe und Konzepte des Föderalen durchaus die Begrenztheit einzelner Föderationsbegriffe wie etwa des erwähnten verfassungsstaatlichen Begriffes ablesen. Vgl. Koselleck (2006); ders. (1972). 6 Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011).

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Im Weiteren soll mit der Analyse der Hintanstellung des konföderalen Bundes auf vor-, zwischen- und überstaatlicher Ebene dieser stigmatisierende Transformationseffekt analysiert werden. Die Erforschung einer Leerstelle bestehender föderalismustheoretischer Konventionen bietet eine Grundlage für einen breiteren, heuristisch nützlicheren Föderationsbegriff, der freilich an dieser Stelle nicht voll entwickelt werden kann.⁷ Die folgenden beiden Abschnitte behandeln zunächst den Topos der antiken griechischen Bünde in der Theoretisierung des Föderalen im späten 18. und im 19. Jahrhundert, bevor ich in einem letzten Schritt einen Blick auf die antiken Wurzeln transformierender Ausblendung werfe.

2 Ein Bund ohne Griechen? In der modernen westlichen Theorietradition des Föderalen existiert eine bemerkenswerte Leerstelle bei der Analyse und Anerkennung der griechischen Bünde als föderale politische Ordnungen mit potentiellem Modellcharakter.⁸ Auf die historische Bedingtheit dieser Engführung wurde bereits verschiedentlich hingewiesen, also auf die nahezu fehlende Analyse und Anerkennung der griechischen Bünde als bündische politische Ordnungen mit Modellpotential, allerdings ohne diese Lücke in der Rezeption des politischen Phänomens antiker Föderalität erfolgreich zu schließen. Diese Tendenz äußert sich in zwei Formen: Entweder wird die Absenz griechischer Bünde lediglich en passant konstatiert,⁹ oder die koine¹⁰ werden zwar in historischen Überblickswerken erwähnt,¹¹ ohne aber hieraus eine historische Perspektiverweiterung auf die Antike zu gewinnen.¹²

7 Dies ist Gegenstand eines laufenden Forschungsvorhabens zu Konzeptionen und Traditionen des Föderalen. Evident ist, dass ein produktiver Föderationsbegriff weder übermäßig eng und normativ determiniert noch beliebig erweitert werden darf. 8 Selbst Kosellecks Perspektiverweiterung auf vorstaatliche Bünde vollzieht eine räumlich wie periodisch eingegrenzte Entgrenzung des etablierten Bundesbegriffs und verfolgt so die spezifisch deutschsprachig fokussierte Historisierung seiner Bindung an den Staatsbegriff. 9 Deuerlein (1972), 307; Lehmann (1985), 171 ff.; Baltrusch (2008), 54. 10 Zur Problematik eines griechischen Sammelbegriffs für Bünde siehe Walbank (1985), 22. 11 Insbesondere der Aitolische und der Achäische Bund des vierten und dritten Jahrhundert vor Christus werden aufgrund ihrer engen Integration und des entsprechenden Institutionengefüges gelegentlich als Annäherungen an moderne Ideen von Föderalität präsentiert. Vgl. neben Baltrusch (2008) auch Deuerlein (1972), 15. 12 Forsyth (1971); Davis (1978). Gerade Davis’ Schlussfolgerungen sind ernüchternd und helfen kaum weiter. Am Ende seiner tour de force durch die Geschichte des Föderalen seit der Antike schreibt er, dass „the informational, explanatory, and descriptive value of the federal symbol is very much less than it was once thought to be; second, that the language of traditional analysis offers us little security; and third, that the structure of a federal system is simply the designation of the visible, never the invisible.“ Und Davis weiter: „This is where the federal idea stands after 2,500 years. Its future rests

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Was sind die Gründe für die Leerstelle antiker Föderalität in der modernen Theoriebildung? Die durch die spärliche Quellenlage über lange Zeit behinderte althistorische Erforschung der unterschiedlichen Bundformationen im antiken Griechenland zwischen dem achten und dem dritten vorchristlichen Jahrhundert hat seit dem späten 19. Jahrhundert massive Fortschritte gemacht.¹³ Üblicherweise wird mittlerweile zwischen Amphyktionien, Symmachien, Sympolitien und Friedensbünden (koine eirene) als Ausformungen griechischer Bünde unterschieden; ihre Institutionen und ihre politischen Dynamiken sind detailliert erforscht.¹⁴ Es kann also kaum die Rede davon sein, dass die griechischen Bünde nicht ausreichend genug bezeugt seien, um transformativen Anverwandlungen in der politischen Theorie überhaupt eine Grundlage zu bieten. Neben überlieferten Inschriften und Textfragmenten haben griechische Dichter und Geschichtsschreiber von Xenophon über Polybios bis hin zu Strabo insbesondere über den Lykischen und den Achäischen Bund informiert, so dass der Berücksichtigung konföderaler Bünde in der späteren politischen und politiktheoretischen Anverwandlung durchaus Spielräume offen stünden. Demnach ließen sich verschiedene griechische Bundformationen durchaus gemäß einer Reihe von Kriterien mit anderen föderalen Ordnungen vergleichen. Die Kenntnis von „Ausbildung von Föderalstaaten sowie proportional-repräsentativer Ordnungen in der griechischen Welt während der spätarchaischen und klassischen Epoche“¹⁵ – inklusive ihrer institutioneller Errungenschaften – gehört zum etablierten althistorischen Wissensstand: Kompetenzen wurden nach konsistenten Kriterien zwischen Regierungsebenen geteilt wie etwa hinsichtlich der Bundeskompetenz für Krieg und Frieden in Lykien; es existierten repräsentative Mechanismen wie ein proportional zusammengesetzter Bundesrat im arkadischen Bundesstaat ab dem späten vierten Jahrhundert und im späteren Lykischen Bund wie auch im Achäischen Bund¹⁶, und die Bünde waren zumindest intentional auf Dauer angelegt, um nur einige Charakteristika zu nennen. Das Verdienst, Erfinder des Föderalen zu sein, wird dennoch nicht den Griechen zugestanden. In die Theoriebildung über bündische Ordnungsmodelle haben die Frühformen des Bundes seit der frühen Neuzeit¹⁷ kaum Eingang gefunden. In gegenwärtigen Systematisierungen werden sie bestenfalls in Einleitungen einschlägiger Werke als wenig relevante Vorformen präsentiert. Exemplarisch sei auf die Schwerpunktsetzung dreier Überblickswerke hingewiesen: Im Ashgate Companion zur Föderalismusforschung aus dem Jahr 2009 firmiert der griechische Bund lediglich in

with those who can resist the urge to tidy the matter, while continuing to play out the limitless potentialities of its diverse history, its diverse progeny, its diverse practices, and its diverse purposes.“ (Davis [1978], 208). 13 Zur Forschung und Quellenlage Baltrusch (2008), 145 ff.; siehe auch Lehmann (2001). 14 So die klassische Unterscheidung von Larsen (1944), 145; vgl. Baltrusch (2008). Lehmann (2001). 15 Lehmann (1985), 171. 16 Ebd., 171 ff.; Baltrusch (2008), 54 ff. 17 Meyer-Zwiffelhoffer 2014.

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einem Aufsatz – der sich überdies kaum mit Bundstrukturen befasst – als gescheitertes Intermezzo.¹⁸ Das von Ines Härtel herausgegebene, mit vier Bänden durchaus Umfassendheit beanspruchende Handbuch Föderalismus aus dem Jahr 2012 spricht zwar von „alten und neuen Föderalismuswelten“, diskutiert aber tatsächlich nur den neuzeitlichen verfassungsstaatlichen Föderalismus.¹⁹ Schließlich widmet sich auch ein englischsprachiger vielrezipierter Föderalismus-Reader aus dem Jahr 2005 lediglich dem neuzeitlichen und modernen Föderalismus: Die „Geburt föderaler Theorie“ veranschlagen Dimitrios Karmis und Wayne Norman bei Johannes Althusius, frühere Bemerkungen und Praktiken des Föderalen bleiben unberücksichtigt.²⁰ Wo also ist der Grund für die nahezu ausbleibende Transformation griechischer Bundarrangements zu suchen? Noch in der Skizzierung des Konföderalen im Esprit des Lois von Montesquieu figurieren antike Exempla (insbesondere die Amphyktionien und der Lykische Bund) prominent und positiv;²¹ spätestens seit dem 19. Jahrhundert aber und bis heute fungiert die US-amerikanische Verfassung als der nahezu unangefochtene Referenzpunkt föderaler Pläne und Plädoyers. Ein Schlüsselmoment liegt in der nachhaltigen diskursiven Intervention im transformatorischen Möglichkeitsraum des Föderalen im späten 18. Jahrhundert durch die amerikanischen Verfassungsväter und insbesondere die Autoren der Federalist Papers: Ihnen ist es gelungen, die eigene politische Positionsformulierung – also die Verteidigung des Verfassungsentwurfes von 1788/1789 – als Moment veritabler „Erfindung“ des Föderalen zu etablieren. In den New Yorker Zeitungsartikeln zur Verteidigung des Verfassungsentwurfs, der dem bestehenden und in den Articles of Confederation kodifizierten Bundarrangement eine zentralisiertere Ordnung entgegensetzt, verfechten James Madison, Alexander Hamilton und John Jay in den Jahren 1788 und 1789 einen Kurs enger, machtkonzentrierender, repräsentativ-republikanischer „Verbündung“ der Kolonien in einem System, das wiederum in einem gewagten begrifflichen Manöver zur Abgrenzung von der Konföderation hauptsächlich als föderale union bezeichnet wird.²² Negativbeispiele für das mangelhafte Funktionieren übermäßig loser Vereinigungen spielen eine essentielle Rolle in der Argumentation und werden insbesondere in den Artikeln 18, 19 und 20 behandelt. Die Behauptung der Autoren um das Pseudonym „Publius“ selbst, es handele sich bei dem Verfassungsentwurf um eine innovative Unternehmung, ist also alles andere als geschichtsvergessen: Insbesondere James Madison widmet sich

18 Ward/Ward (2009). 19 Härtel (2012). 20 Karmis/Norman (2005), 23. Dieses Überblickswerk bietet auch eine Untermauerung der im Folgenden ausgeführten These, dass die Federalist Papers erfolgreich einen Alleinanspruch auf die Erfindung föderaler Praxis erhoben haben: Zumindest föderale Theorie vor ihnen wird nämlich offenbar, in Gestalt etwa von Althusius, anerkannt. 21 Montesquieu, Esprit des Lois, Buch IX, Kap. 1–3. 22 Jörke (2010); Ball/Pocock (1988); Pocock (1988); Hampsher-Monk (2010), Burgess/Gagnon (2010).

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ausführlich den griechischen Bünden, wenngleich diese hohe Aufmerksamkeit vor allem für antike Konföderationen in ein weitgehend negatives Urteil mündet: Gerade die Amphyktionien, aber auch der Achäische Bund werden als instabil, schwach und übermäßig lose dargestellt. Die griechischen Bünde werden so für die opportune Analogisierung mit den amerikanischen Konföderationsartikeln und als Kontrastfolie zur vorgeschlagenen Verfassung tauglich gemacht. Es handelt sich um eine durchweg stigmatisierende Transformation griechischer Bundpraktiken. Im 18. Artikel, der ganz den griechischen Bundarrangements als politische Vergleichsgröße gewidmet ist und sie am ausführlichsten behandelt, dominiert der Fokus auf den Amphyktionischen Rat von Delphi als „very instructive analogy to the present Confederation of the American States.“ Die Befugnisse des Bundesrates seien „amply sufficient for all general purposes“ gewesen, mehr noch als dies in der amerikanischen Konföderation der Fall sei – jedenfalls „in theory and upon paper“, denn in der nüchternen politischen Realität seien die zentrifugalen Kräfte zu stark gewesen.²³ „The more powerful members“, allen voran Athen und in der Folge Sparta und Theben, „instead of being kept in awe and subordination, tyrannized successively over all the rest“, „weakness, the disorders, and finally the destruction of the confederacy“ seien das Resultat gewesen.²⁴ Selbst im Angesicht des persischen Feindes habe nicht die Eintracht obsiegt, sondern Ineffizienz und Machthunger. In Ermangelung einer „closer union“ sei der Amphyktionische Bund schließlich dem Einfluss Philipps von Makedonien erlegen. Die allzu lose Konföderation habe sich aber noch aus einem weiteren Grund als Fehler geradezu weltgeschichtlichen Ausmaßes erwiesen: „Had Greece […] been united by a stricter confederation, and persevered in her union, she would never have worn the chains of Macedon; and might have proved a barrier to the vast projects of Rome.“²⁵ Die schwache Konföderation vermochte es nicht, die römische Expansion zu verhindern – ein schwacher Bund trage die bleibende Schuld am Verlust der Freiheit in der Antike, so die alarmistische Warnung und moralische Schlussfolgerung, die sich in ein historisches Urteil gekleidet. Der Achäische Bund in seiner Blütephase erntet dagegen zunächst Lob: Er sei eben „far more intimate, and its organization much wiser“ gewesen, seine Demokratie „tempered by the general authority and laws of the confederacy“, die Katastrophe des Untergangs darum auch „by no means equally deserved“.²⁶ Der Mangel an Quellen und Überresten, auf den Madison verweist, macht jedoch auch diesen angeblich überlegeneren Bund zum letztlich ungeeigneten Vorbild. Am allerschwersten wiegt

23 Hamilton/Madison/Jay, Federalist Papers, 81. 24 Ebd., 82. 25 Ebd., 83. 26 Ebd., 83 f. Die Hervorhebungen, auch im Weiteren, entstammen dem Original. Zur Transformation antiker Begrifflichkeiten – der Demokratie, aber auch der Rede vom „Senat“ im Fall der Achäer, die die relative Sympathie für deren Unterfangen andeuten mag – siehe Sehlmeyer (2002).

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aber der letztliche Zerfall, der den durchaus gravierenden „vices of the Constitution“²⁷ zuzuschreiben sei. Auch in diesem Falle sei nämlich der griechische Bund nicht in der Lage gewesen, Feinde und Spaltungsversuche abzuwehren – ein Versagen, das auch der neuen amerikanischen Konföderation drohe²⁸ und unter den Bedingungen äußerer Bedrohung durch die Briten (gleichsam als Nachfolger der Perser oder Römer) nur durch eine Neuformung und engere Integration der union vermieden werden könne. Das Erfolgs- bzw. Misserfolgsprinzip entscheidet in Madisons Argumentation gegen den Bund konföderaler Ausprägung. Im Federalist Paper 45, das ebenfalls aus seiner Feder stammt, wird schließlich der Vergleich mit den antiken Bünden nochmals reaktiviert, um Nutzen und Notwendigkeit einer bündischen Zentralgewalt zu veranschaulichen. Erneut hebt Madison grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen den engeren Konföderationen der Antike und modernen Staatsformen – diesmal aber dem Verfassungsentwurf von 1787! – hervor: „In the Achaean league it is probable that the Federal head had a degree and species of power, which gave it a considerable likeness to the Government framed by the Convention. The Lycian Confederacy, as far as its principles and form are transmitted, must have borne a still greater analogy to it.“²⁹ Diese Systeme hätten aber nie eine unitarische Herrschaft hervorgebracht, sondern seien schlicht zerfallen, denn we know that the ruin of one of them proceeded from the incapacity of the Fœderal authority to prevent the dissensions, and finally the disunion, of the subordinate authorities. These cases are the more worthy of our attention, as the external causes by which the component parts were pressed together were much more numerous and powerful than in our case; and consequently less powerful ligaments within would be sufficient to bind the members to the head, and to each other.³⁰

Den Stellenwert und die Gültigkeit der Analogie zwischen den defizitären Articles of Confederation und Griechenland, aber auch den gleichfalls erwähnten schwachen Bünden des deutschen Reiches, jenen auf dem Gebiet des heutigen Belgiens und den Schweizer Bünden affirmiert Madison im Übrigen sehr nachdrücklich: I make no apology for having dwelt so long on the contemplation of these federal precedents. Experience is the oracle of truth; […] The important truth, which it unequivocally pronounces in the present case, is that a sovereignty over sovereigns, a government over governments, a legis-

27 So Madison in seinen Notes on Ancient and Modern Confederacies aus dem Frühjahr 1786. Diese Notizen wie auch jene ein Jahr später unter dem Titel Additional Memorandums on Ancient and Modern Confederacies veröffentlichten Texte sind eine aufschlussreiche Materialsammlung von „examples shewing defect of mere confederacies“ (ebd.). 28 In der neueren Forschung ist freilich umstritten, ob diese Rhetorik drohender Instabilität sachlich fundiert war, ob also die Konföderation von 1781 tatsächlich aufgrund mangelnder Zentralisierung gefährdet war. 29 Hamilton/Madison/Jay, Federalist Papers, 225. 30 Ebd.

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lation for communities, as contradistinguished from individuals, as it is a solecism in theory, so in practice it is subversive of the order and ends of civil polity, by substituting violence in place of the mild and salutary coercion of the magistracy.³¹

Dieses Plädoyer für eine Zentralgewalt, die mit ungeteilter Souveränität Individuen und nicht Kollektive regiert, bezieht seinen Nachdruck also aus den Fehlschlägen föderaler Vorgeschichte. Die Aufmerksamkeit, die Madison dem Delphischen und dem Achäischen Bund widmet, dient somit der Disqualifizierung dieser Ordnungen als nachzuahmende Vorbilder – und im Zuge dessen partes pro toto der Disqualifizierung des konföderativen Modells insgesamt, um wiederum totum in parte die Articles of Confederation zu diskreditieren. In einem politisch geleiteten allelopoietischen Verfahren werden die griechischen Bünde neu erzählt: als hochgradig instabil, zerstritten, asymmetrisch und in ihren Folgen fatal, und nicht als eigenständige, erfolgreiche und lange bestehende Ordnungen eigenen Ranges mit passabel funktionierenden Streitschlichtungsund sogar Repräsentationsinstitutionen. Mit dieser Intervention, also der Disqualifizierung des antiken Bundmodells und damit – entsprechend der politischen Zielsetzung – des Modells der Konföderation insgesamt, scheinen sich die Federalist Papers förderalismustheoretisch durchgesetzt zu haben: Selbst Michael Burgess, der diese Stigmatisierung des Konföderalen durch die amerikanischen Gründerväter klar benannt hat, setzt in seinem historisch-komparativen Überblickswerk zum Comparative Federalism erst mit dem amerikanischen, verfassungsstaatlichen Föderalismus ein. Die transformatorische Intervention der Federalist Papers, Föderalismus als Erfindung nicht der ancients, sondern der moderns zu präsentieren, scheint von nachhaltigem Erfolg getragen – allerdings erst nach gescheiterten diskursiven Gegeninterventionen.

3 Gescheiterte Rehabilitation: Imperiale Federalists Im 19. Jahrhundert, das von einer Reihe föderaler Experimente geprägt ist – von den deutschen Übergangsbünden von 1815 und der Reichsgründung 1871 über die Neukonfiguration der USA im Rahmen des Bürgerkrieges bis hin zur Neuverfassung der Schweiz 1848 –, nimmt das amerikanische Beispiel von 1789 in der Folge einen prominenten Platz ein. Nicht zuletzt in der deutschen Reichs- und Verfassungsdiskussion kommt dem amerikanischen Vorbild – vermittelt durch die Schriften Alexis de Tocquevilles und Robert von Mohls, und im Unterschied zu den griechischen Sympolitien und koine – eine überragende Rolle zu. Allenfalls die Schweiz figuriert noch als

31 Ebd., 94.

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sekundäre föderale Präzedenz.³² Das Narrativ des US-Föderalismus als Erfindung des Föderalen verdrängt das erste historisch nachweisbare bündische Politikmodell der Antike. Eine von wenigen Ausnahmen stellen dagegen die britischen Debatten des späten 19. Jahrhunderts dar. Im Umfeld der Überlegungen einer Föderalisierung des Empires ab zirka 1870 werden immer wieder griechische politische Praktiken abseits der autonomen Polis herangezogen, also Modelle der Kolonisierung und Pflanzstadtbildung wie auch Bünde und Ligen. Stellenwert und Funktionalisierung der griechischen Exempla unterscheiden sich hierbei deutlich von den Referentialisierungen durch die amerikanischen Autoren der Federalist Papers. Ein einflussreicher Standpunkt, der hier exemplarisch vorgestellt werden soll,³³ stammt von Edward Augustus Freeman, Professor für Modern History in Oxford und engagierter Politiker, dessen wegweisende (wenngleich unvollendete) History of Federal Government die vielleicht in der Anlage umfänglichste und historisch umfassendste föderalismustheoretische Untersuchung des 19. Jahrhunderts darstellt.³⁴ Freeman – ein Bewunderer föderaler Arrangements – durchmisst die Geschichte zunächst mit einem breiten Bundbegriff: The name of Federal Government may, in this wider sense, be applied to any union of component members, where the degree of union between the members surpasses that of mere alliance, however intimate, and where the degree of independence possessed by each member surpasses anything which can fairly come under the head of merely municipal freedom.³⁵

Doch sein engeres Föderationskritierium – „a complete division of sovereignty“ – sei ein Ideal „so refined and artificial, that it seems not to have been attained more than four or five times in the history of the world.“³⁶ Trotz dieses anspruchsvollen Verständnisses, das der politischen Geschichte nur wenige föderale Momente zugesteht, blei32 In den deutschen Debatten zur nationalen Einigung und später zur Reichsgründung kommt griechischen Symmachien, Sympolitien oder Amphyktionien kein großer Stellenwert zu. Betonen Carl Theodor Welcker und Friedrich Schleiermacher in den 1820er und 1830er Jahren noch die griechische Herkunft bundesstaatlicher Modelle, so verschwinden diese Referentialisierungen sukzessive. Die über Jahrzehnte einflussreiche Schrift Das Wesen des Bundesstaates (1853) des Staatsrechtlers und Mediävisten Georg Waitz, erneut erschienen in Grundzüge der Politik (1862), erwähnt zwar den Achäischen Bund noch am Rande – ähnlich wie dies gegenwärtige Überblickswerke tun –, die daran anschließende Debatte aber fokussiert allein die tocquevillesche Evaluation der amerikanischen Verfassung, in der Waitz ein „neues Prinzip großartig durchgeführt“ sieht (Waitz, Bundesstaat, 217). Ähnlich verfahren spätere Schriften, wie jene von Julius Fröbel und Constantin Frantz. Zum Stellenwert des amerikanischen Exemplums vgl. Dreyer (1993) sowie, auch unter Erwähnung der griechischen Beispiele, Neuhaus (1990), 25 f. 33 Berücksichtigt werden könnte ebenso der breite und inklusive föderalismustheoretische Ansatz Henry Sidgwicks (Sidgwick, Elements of Politics). Aufgrund der Prominenz des griechischen Exemplums soll hier aber das Werk Edward Freemans im Vordergrund stehen. 34 Biographisch zu Freeman vgl. Barlow (2004). 35 Freeman, History, 2. 36 Ebd., 3.

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ben die griechischen Bünde überraschenderweise bei Freemans Genealogie großer Föderationen jedoch keineswegs außen vor. Ganz im Gegenteil – sie stehen im Zentrum: „The Achaian League, and the United States since the adoption of the present Constitution, are indeed the most perfect developments of the Federal principle which the world has ever seen“.³⁷ Hebt Freeman den exzeptionellen Stellenwert der Achäischen Liga hervor, die als einzige dem amerikanischen Experiment an Bedeutung gleichkomme, indem sie die Freiheit seiner Mitglieder garantiert habe, so ist er nicht der einzige unter seinen britischen Zeitgenossen, der die Griechen – nicht zwangsläufig auf Kosten des Stellenwerts des US-Föderalismus, sondern mit ihm auf Augenhöhe – in die föderalismustheoretische Diskussion zurückholen will. Auch in politikpraktischen Debatten sind griechische Modelle en vogue, allerdings unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Funktionalitäten. Dies ist auf Seiten der Imperial Federation League der Fall, einer in den 1870er Jahren institutionalisierten und prominenten Bewegung zur Umwandlung von Teilen des Empire – der white settlement colonies,³⁸ des britischen Zentrums und je nach Vorschlag auch der USA – in eine globale Föderation imperialen Charakters.³⁹ Die griechischen Bünde, hier allerdings vor allem die durch Kolonisierung entstandenen Pflanzstadtkonglomerate im Mittelmeerraum, bilden für die Befürworter imperialer Föderation ein liberales, demokratisches und maritimes Gegenmodell zum dominanten Deutungsmuster der Epoche, dem Imperium Romanum. Die Imperial Federation – so unterschiedlich die Vorschläge zu Umfang und institutioneller Ausgestaltung auch ausfallen – finde in Griechenland insofern ein leistungsfähiges Vorbild, als die Assoziation freiheitsbasiert und gemeinschaftsstiftend sei; nur hierdurch und nicht durch Zwang seien imperialer Zusammenhalt und möglicherweise auch eine brüderliche Wiedervereinigung mit den Vereinigten Staaten zu erreichen. So historisch willkürlich und invasiv diese Transformation hinsichtlich der Funktionalisierung der Präzedenz ausfällt, so auffällig ist doch der Versuch, sich am Exemplum Griechenland unter dem Stichwort des Föderalismus abzuarbeiten und es für in diesem Falle klar politische Zwecke produktiv zu machen. Die politische Zwecksetzung ist imperial, ja imperialistisch, indem die Stabilisierung des bestehenden British Empire im Vordergrund steht. Um ein reines Label handelt es sich bei der federalization dennoch nicht, denn angestrebt wird eine föderal-imperiale Variante: Das Beispiel griechischer Bünde erfüllt genau jenen Zweck, das Element der Freiheitlichkeit und der relativen Selbständigkeit (nicht aber der Gleichheit) der einzelnen Glieder – in diesem Fall: der britischen Kolonien – zu markieren und mit einer rein hierarchischen Idee von Imperialität zu kontrastieren.

37 Ebd., 5. 38 Zur Unterscheidung von Kolonietypen, die in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielt, siehe Osterhammel (2009), 11 ff. 39 Ausführlich hierzu Bell (2007), Burgess (1995), 50–80.

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Ähnliches gilt schließlich auch für die vielleicht jüngste umfänglichere Produktivmachung des griechischen Beispiels in föderalem Zusammenhang, also für die Diskussionen im Rahmen des Round Table Movement im Umfeld des Ersten Weltkrieges zur Umwandlung des Empire in ein föderal inspiriertes Commonwealth.⁴⁰ Insbesondere Lionel Curtis, der inmitten des Krieges in The Commonwealth of Nations (1916) für ein föderal rearrangiertes Empire plädiert, zieht das Beispiel des antiken Griechenlands und insbesondere Athens und des Attischen Seebundes heran. Sie konstituieren für ihn eine verpasste föderale Chance – die Delian League habe in sich den Nukleus eines Commonwealth als inkrementell expandierendes, demokratisches Empire getragen, sei aber hierin nicht weit genug vorangetrieben worden. Diese Vision demokratischer Imperialität könne das British Empire aber nun nachholen und so die „reconcilability of universal citizenship and deep inequality“⁴¹ in einer Ordnung nachweisen, die Commonwealth und Empire zugleich wäre.

4 Ursachen der Ausblendung – diachron und synchron Solche Versuche einer politisch produktiven, affirmativen Transformation verschiedener griechischer Bundformationen laufen freilich insofern ins Leere, als sie nicht nur politisch weitgehend folgenlos bleiben,⁴² sondern wie exemplarisch gezeigt auch nicht traditionsbildend wirken und das griechische Bundphänomen – zumindest als genuin föderale Präzedenz – nicht zu rehabilitieren vermögen. Aus der Bedeutung der Federalist-Innovation ergibt sich das dominante Verständnis des Föderalen als staatsförmig, stabil, individuenorientiert, demokratisch und modern. Antike Bünde, eher konföderal als staatlich, stellen keine Bundesstaaten nach diesem Modell dar und gelten als, in einer Wendung Karl Löwensteins, allenfalls „föderationsartig“.⁴³ Die Theoretisierung und Analyse föderaler Systeme hat durch einen allelopoietischen Eingriff der Verfasser der Federalist Papers eine nachhaltige transformatorische Schließung erfahren.⁴⁴

40 Morefield (2007). 41 Ebd., 346. 42 Eine Ausnahme stellt freilich der Einfluss des Round Table Movement auf die Entwicklung des postimperialen Commonwealth dar. 43 Löwenstein (1959), 297. 44 Von manchen Beobachtern wird diese Schließung freilich verkannt: Lehmann untermauert seine Einschätzung, wonach die Federalist Papers die antiken Bünde nicht stigmatisieren, sondern vielmehr adeln, mit Arendts Aussage in On Revolution, wonach „[w]ithout the classical example none of the men of the revolutions on either side of the Atlantic would have possessed the courage for what then turned out to be unprecedented action.“ (zit. in Lehmann [1986], 177) Dabei vermengt er aber die „politische

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Dies kann zwei Gründe haben. Zum einen ist dies die angesprochene Varianz der Transformationsprozesse; es werden unter dem Schlagwort der griechischen federation zu viele unterschiedliche Phänomene – von Achaia über den Attischen Seebund bis hin zu den Amphyktionien – in zu vielen unterschiedlichen Modi und politischen Kontexten appropriiert, also zu viele unterschiedliche griechische Bünde in der historischen Deutung erzeugt, um der Dominanz des amerikanischen Exempels ein nachhaltig wirksames, kohärentes und eindeutig anschlussfähiges Deutungsmuster entgegenzusetzen, zumal ja die USA als permanent konkurrierendes, relativ konsistentes föderales Vorbild wirken. Das Argument griechischer Bedeutung in der föderalen Theorie diffundiert also in der Mannigfaltigkeit der Transformation. Zum anderen kann es aus normengeschichtlicher Perspektive nicht verwundern, dass zumindest die Griechenlandverweise der Imperial Federation League langfristig folgenlos blieben: Sie sind durch den imperialistischen Kontext – das Anliegen, das Imperium durch Föderalisierung weiter zu festigen und in seinem Bestand wie auch seiner Dominanz zu sichern – für weite Teile des normativen Umfeldes im 20. Jahrhundert disqualifiziert. Resultat ist die relative Ausblendung einer bündischen Frühgeschichte zugunsten der These, beim Föderalismus handele es sich um eine genuin und umfassend moderne Innovation, die vor allem Hand in Hand mit der Erfindung des repräsentativen gewaltenteiligen Verfassungsstaates gehe.⁴⁵ Evidenterweise ist diese Transformationskette, durch die sich eine Tendenz zur Hegemonie des Föderalen auf Kosten des Konföderalen formiert hat, langfristiger und diachroner Art. Es geht hier also um den diskurs- und theoriehistorischen Prozess der Herausbildung eines föderalen Modellkanons, den ich bislang anhand von zwei Gliedern der Transformationskette – einer erfolgreichen Diskursintervention im 18. Jahrhundert und eines missglückten Umdeutungsversuchs im 19. Jahrhundert – demonstriert habe. Zwar werden gerade antike, also: besonders weit zurückliegende Phänomene scheinbar über lange historische Zeiträume und geographische Raumbewegungen oft so radikal umgedeutet, dass das ursprüngliche historische Phänomen über wenig lenkenden Einfluss auf seine späteren Interpretationen zu verfügen scheint. Es stellt sich aber die Frage, worauf die scheinbare Begrenzung möglicher Anverwandlungen – im vorliegenden Falle: der antiken Bünde für die modernen Modellbildungen des Föderalen – zurückzuführen ist, wenn weder die mangelnde Quellenlage noch eine angeblich wesenhaft mangelnde Eignung der Bünde selbst hierzu ausreichend ist.

Rückbeziehung auf die republikanische Antike“ (ebd.) – also die poleis und vor allem das republikanische Rom – mit dem instrumentellen Umgang der Federalist Papers mit den griechischen Bünden, die offensichtlich wenig Inspirationskraft entfalten und vielmehr als politische Abgrenzungsfolie gebraucht werden. Eine Differenzierung innerhalb der „Wertschätzung der antiken politischen Theorie und [der] Vertrautheit mit ihren klassischen Autoren“ wäre hier angebracht. 45 So auch bei Wheare (1963).

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Aus der Perspektive föderaler Konzeptformierung und Traditionsbildung darf hierbei die Bedeutung des historischen Referenzbereiches nicht unterschätzt werden – und zwar nicht nur als mehr oder weniger „widerständiges“ oder formbares Repertoire für spätere Transformationen, sondern als deren erster Abschnitt diskursiver Verarbeitung. Abschließend soll diese Perspektive als dritter möglicher Grund ins Spiel gebracht werden, der von diversen Beobachtern bereits angedeutet, aber nicht weiter verfolgt wurde. Eine erste, synchrone, also innerantike Stufe der Transformation hat möglicherweise die nicht streng determinierenden, aber doch lenkenden Weichen für die weiteren Etappen gestellt, indem die mangelnde diskursive, also politikphilosophische Verarbeitung der Bundpraxis durch griechische Zeitgenossen selbst insbesondere im Vergleich zum Prinzip der Polis das Bundprinzip in der darauffolgenden theoretischen Reflexion geschwächt hat.⁴⁶ Die Disqualifizierung des griechischen Bundes als selbstständiges, möglicherweise vorbildhaftes politisches Modell beginnt somit möglicherweise bereits in der diskursiven Verarbeitung in der griechischen Antike selbst. Zwar werden Bünde in ihrer ganzen phänomenologischen Breite oft beiläufig in den großen Werken der griechischen und auch römischen Geschichtsschreiber erwähnt – bei Herodot, Thukydides, Strabo, Polybios, Xenophon, Plutarch, Livius und anderen –, doch die „Klassiker“ der politischen Philosophie haben politische Probleme und Errungenschaften, so scheint es, als ausschließlich poli-tisch, also auf die Polis zentriert konturiert.⁴⁷ Positiv bewertete Politik ist bei den schulbildenden Theoretikern der Antike, allen voran Platon⁴⁸ und Aristoteles,⁴⁹ durchweg im autonomen, kleinräumigen Stadtstaat situiert und als das Unterfangen von Kollektiven konzipiert, die sich aus Individuen – nicht aber aus weiteren politischen Kollektiven – zusammensetzen, gemäß für die gesamte Gemeinschaft geltenden Gesetzen funktionieren, von persönlicher Präsenz und Partizipation geprägt sind, nicht im Innern segmentiert sind und ihrerseits auch nicht von anderen Kollektiven abhängen. Föderale Machtteilung und komplexe repräsentative Arrangements sind in diesen normativen Modellen nicht enthalten, und entsprechend ist auch ihr deskriptiver Stellenwert gering. Ein Effekt der antiken politiktheoretischen Fokussierung ist nicht nur in der Stigmatisierung des Bündischen zu verorten, sondern auch in der Art und Weise, in der 46 Wie erwähnt würdigt Gustav Adolf Lehmann zwar den Mangel antiker Theoretisierung des Föderalen, erachtet aber offenbar die nur sporadischen modernen Würdigungen antiker koine etwa durch die Federalist Papers nicht als Folge, sondern gerade als Kompensation dieser Leerstelle. Deuerlein (1972) dagegen erkennt die Konsequenzen des Theoretisierungsmangels an, führt ihn aber nicht weiter aus. 47 So bereits die bedauernde Feststellung bei Larsen (1944). 48 Lehmann (2001), 20. 49 Wie Lehmann gezeigt hat, figuriert der Bund bei Aristoteles von vorneherein als archaische und defizitäre Ordnungsform, da er aufgrund seiner Größe keine adäquate Möglichkeit zur Partizipation eröffnet (ebd., 34 ff. und insbes. 37). Aloys Winterling hat besonders plausibel gezeigt, dass die Priorität der Polis bei Aristoteles nicht mangelnder Kenntnis der polisübergreifenden Politik geschuldet ist, sondern ihrer normativen Einordnung (Winterling 1995).

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antike Bünde in den wenigen affirmativen Darstellungen anzutreffen sind, nämlich als Maske und Ausformung der Polis: Nicht selten werden sie zur Projektionsfläche der anhaltenden politischen Orientierung an Normen von Demokratie und unteilbarer Gemeinschaftlichkeit – eine Deutung, die bereits Polybios für den Peloponnesischen Bund anstößt, wenn er diesen als letztlich polis-zentriert konturiert.⁵⁰ Es ist ein auffälliges Indiz, dass die in der jüngeren Vergangenheit vermehrten historischen Befunde ebenfalls häufig in einer Weise ausfallen, dass der antike Bund lediglich als außenpolitisches Beiwerk oder Approximation der Polis erscheint. Der Jurist Georges Tenekides etwa präsentiert den antiken Bund als Kooperationsfeld demokratischer Poleis und somit als unausgereifte Vorform der modernen, demokratischen Föderation. Und auch in den erwähnten britischen Positionen des Round Table Movement des frühen 20. Jahrhunderts, vor allem in den einflussreichen, aber romantisierenden Darstellungen Alfred Zimmerns über das athenische Greek Commonwealth (1911), folgt das Bündische der Teleologie der Polis: Die athenische Expansion – imperial und bündisch zugleich – wird als Produkt gradueller, nicht intendierter Expansion des Polis-Prinzips dargestellt⁵¹ und ist damit ihre sekundäre Ausformung anstelle eines eigenständigen Ordnungsmodells. Die griechische politische Welt bleibt in diesen Darstellungen – selbst dann, wenn die Rede vom Bund ist – städtisch-demokratisch und kleinräumig, die „Entstehung des Politischen bei den Griechen“⁵² spielt sich einzig auf der Agora ab. Die mangelnde Theoretisierung des konföderalen Modells durch die griechische zeitgenössische polis-orientierte Theoriebildung hätte demzufolge – und dies ist ein Vorschlag zu einer möglichen Erweiterung des Begriffs von Transformation, also der variablen, oft interessengeleiteten Deutung historischer Muster und Konzepte – die Ausgangsposition des Bundes für nachantike Transformation ganz entscheidend geschwächt und für spätere, tendenziell verunglimpfende Appropriationen wie jene James Madisons besonders angreifbar gemacht. Die von Stigmatisierung und Entwertung geprägte Traditionskette des Konföderalen fände somit die erste Station der Ausblendung synchron in der griechischen Antike selbst – die mangelnde frühzeitige Theoretisierung des Bundes wäre ein erstes Glied in der Kette späterer Transformation. Die historisch hieraus resultierende Weigerung, Konföderationen als föderal anzuerkennen, wäre also als Produkt einer besonders langfristigen Transformation zu deuten, die bis in die Gegenwart wirkt, ihren Anfang aber in einem Fall diskursiver Leerstellen findet.⁵³

50 Pol., Geschichte, Buch 2, Kap. 37; vgl. Lehmann (2001), 59. 51 Morefield (2007), 23 ff. 52 So die These des gleichnamigen Buches von Christian Meier (1983). 53 Dies ließe sich an weiteren Debatten, wie etwa jenen um den häufig negierten föderalen Charakter der EU oder die Möglichkeit einer globalen Föderation, darstellen: Hier handelt es sich um Debatten, die mehrheitlich Föderalität weiterhin an konstitutionalisierter Bundesstaatlichkeit orientieren und

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Wie eingangs festgestellt: Der Begriff des Föderalen kann und muss konstruktiv erweitert werden, um seine analytische Kraft angesichts einer breiten Palette machtteilender Phänomene in der Vergangenheit, aber auch der sich entstaatlichenden Gegenwart und Zukunft aufrecht zu erhalten. Ein entscheidender Schritt in der Evaluation von Konzepten ist dabei die Untersuchung der langfristigen Genese solcher oft durch historische Kontingenzen und Interventionen verengter Konzepte. Wie im Fall des Formens- und Möglichkeitsschatzes des Föderalen gilt es auch in der Analyse seiner Theoretisierung (oder deren Ermangelung), den Fokus von exklusiver Orientierung an der politischen Moderne auf Vorformen und frühe Diskurse und deren Folgen auszuweiten.

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Thomas O. Hueglin

Allelopoietische Wechselwirkungen bündischer Föderalität: Eine Erwiderung Mit ihrem Beitrag zu „konföderalen Ausblendungen in föderalen Denktraditionen“ gibt Eva Marlene Hausteiner einen wichtigen Denkanstoß zu einer Erneuerung des Föderalismusbegriffs in der politischen Ideengeschichte und auch in der politischen Praxis. Mindestens seit der Erfindung moderner Bundesstaatlichkeit durch die Amerikaner im späten 18. Jahrhundert ist dieser Föderalismusbegriff durch die Ausklammerung historischer Traditionsbestände des Konföderalen verengt worden. Hausteiner will die föderale Begrifflichkeit aus ihrer bundesstaatlichen Begrenztheit herauslösen und verweist dabei auf die antiken Bünde Griechenlands, welchen sie Kriterien der Föderalität attestiert. Nun basiert der zugrundegelegte allelopoietische Ansatz auf der Behauptung einer „Wechselwirkung von Referenzbereich und Aufnahmebereich“.¹ Aus dieser Behauptung ergibt sich demzufolge eine Doppelvermutung, einerseits die transformatorische Verengung des modernen Föderalismusbegriffs durch „Ignoranz“ oder sogar „Negation“² konföderaler Traditionsbestände, und anderseits eine durch diese Ignoranz rückwirkend konstruierte Umdeutung oder sogar „Verfemung“³ dieser Traditionsbestände, die damit vom engeren Begriff des Föderalen ausgeschlossen werden. Hausteiner zeigt schlüssig, dass griechische Bundespraktiken bei der Entwicklung des modernen Bundesstaates entweder keine Rolle gespielt haben oder sogar als mögliche Vorbilder explizit abgelehnt wurden. Weniger offensichtlich ist dabei allerdings das Ausmaß der behaupteten Wechselwirkung. Eine solche läßt sich noch am ehesten bei der Verengung des Föderalismusbegriffs in der amerikanischen Verfassungsdiskussion zeigen, verliert aber dort an Aussagekraft, wo sich wie zum Beispiel bei der deutschen Reichsgründung 1871 konföderale Praktiken durchaus erhalten haben, diese aber eher aus einer eigenständigen Föderalismustradition stammen, sodass die Behauptung „langwelliger Traditionsbildungen“⁴ problematisch erscheinen muß. Diese Problematik ergibt sich auch rückwirkend in Bezug auf die als Referenzbereich vorgeführten antiken griechischen Bünde selbst. Hier ist zu fragen, ob die Gleichsetzung des unterlegten Bundesbegriffs mit einem konföderal erweiterten Föderalismusbegriff überhaupt angemessen ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist eine genauere Bestimmung von Föderalität erforderlich. Es ist wenig gewonnen, wenn der

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Böhme (2011), 9. Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), 51 f. Böhme (2011), 18. Hausteiner in diesem Band, S. 111.

DOI 10.1515/9783110499261-009

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bundesstaatlich verengte Föderalismusbegriff beliebig ausgedehnt wird. Selbst der große amerikanische Föderalismusforscher Daniel Elazar tat seinem föderalistischen Sendungsbewußtsein keinen Gefallen, als er sogar die Partnerschaft von Cowboys im amerikanischen Wilden Westen als föderal bezeichnete.⁵ Es stellt sich dann die weitere Frage, warum und wozu genau man den Föderalismusbegriff überhaupt braucht, um die historische Vielfalt bündischer Gemengelagen darzustellen. Meine Grundthese in dieser Erwiderung auf Hausteiners Diskussionsvorschlag ist daher, dass der Föderalismusbegriff seinen ordnungspolitischen Sinn nur dann erfüllt, wenn er einerseits aus seiner bundesstaatlichen Verkürzung befreit wird, aber andererseits von dem Begriff des Bundes abgegrenzt bleibt. Der Föderalismusbegriff ist mit anderen Worten weiter gefasst als der des modernen Bundesstaates, aber enger als der einer jeden gewaltenteiligen Bündnishaftigkeit schlechthin.

1 Konföderale Disqualifizierung bei den Amerikanern Die amerikanischen Federalists haben in der Tat die moderne bundesstaatliche Ordnung begründet, oder vielmehr dem Verfassungsentwurf von 1787 mit einer bestimmten und in propagandistischer Absicht verfälschten Interpretation den Weg zur Ratifizierung bereitet.⁶ Diesem Zweck diente auch die von Hausteiner richtig ins Zentrum der Argumenation gerückte „Disqualifizierung des konföderativen Modells insgesamt“,⁷ nicht nur in Bezug auf die eigene amerikanische Erfahrung unter den Articles of Confederation, sondern auch auf die gesamte „konföderale“ Vorgeschichte von den alten Griechen bis zum deutschen Reich, den Niederlanden und der Schweiz.⁸ Dieser Rundumschlag diente einem einzigen Zweck: der Begründung einer starken Zentralregierung mit unmittelbarer Gewalt. Eine Bundesregierung welche dem Allgemeinwohl dienen und für Ruhe und Ordnung sorgen soll, so argumentierte Alexander Hamilton, muss die einzelnen Bürger direkt verpflichten können („must carry its agency to the persons of the citizens“).⁹ Alles andere, wenn nämlich diese Bundesregierung auf die Bürger nur indirekt über die Gliedstaaten einwirken kann, ist konföderale Imbezilität („imbecility“).¹⁰ Die Bundesregierung sollte mit anderen Worten in der Ausübung ihrer gewaltenteiligen Kompetenzen nicht konföderal an einzelstaatliche Zustimmung gebunden

5 Elazar (1987), 193. 6 Rodden (2006), 43. 7 Hausteiner in diesem Band, S. 122. 8 The Federalist (1787–88), No 15–22. 9 Ebd., No 16. 10 Ebd., No 15.

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bleiben. Als Entschädigung für diese Entäußerung gliedstaatlicher Souveränität offerierten die Federalists, was James Madison als eine Mischung von föderalen und nationalen Verfassungselementen ausgab: gliedstaatliche Ratifizierung des Verfassungsentwurfs (sowie etwaiger späterer Verfassungsänderungen), und insbesondere das kongressionelle Zweikammersystem, in dem das Repräsentantenhaus Bürgergleichheit und der Senat gliedstaatliche Gleichheit vertritt.¹¹ Wie sich zeigen würde, vertraten die zunächst von den gliedstaatlichen Legislaturen entsandten Senatoren aber nur selten kollektiv-gliedstaatliche Interessen, und nach der Einführung der Direktwahl der Senatoren 1913 ging dieses „kon-föderale“ Verfassungselement vollends verloren.¹² Mit ihrer Disqualifizierung des Konföderalen haben die Federalists die föderale Begrifflichkeit zweifellos transformatorisch verengt.¹³ Weniger einsichtig ist, ob sie dabei das Verständnis der griechischen Bünde wechselwirksam verändert oder sogar verfälscht haben. Wie schon Madison anmerkt, ist es angesichts der unzureichenden Quellenlage nicht möglich, ein abschließendes Urteil über den konföderalen Charakter dieser Bünde über das Postulat formaler Mitgliedergleicheit hinaus zu fällen.¹⁴ Im Vergleich muß Freemans idealisierende Darstellung der Achäischen Liga als perfektes und den Vereinigten Staaten von Amerika ebenbürtiges Beispiel von Föderalität¹⁵ eher als klassizistisch-romantisierende Übertreibung erscheinen. Eine Umdeutung oder gar Verfemung bei den Federalists besteht allenfalls darin, dass sie einfach davon ausgingen, oder ihren Lesern suggerieren wollten, innere Spaltung und äußere Schwäche dieser Bünde seien allein die Folge ihrer konföderalen Organisierung gewesen.

2 Föderale Verfassung und konföderale Verhandlungspraxis im Bismarckreich Eher am Rande vermerkt Hausteiner, dass griechische Bundespraktiken auch bei Bismarcks quasi-föderaler Reichsgründung 1871 keine nennenswerte Rolle gespielt haben.¹⁶ Dies heißt aber keineswegs, dass die Deutschen den verengten Föderalismusbegriff der Amerikaner unterschiedslos übernommen hätten. Im Gegenteil, soweit das neue amerikanische Modell bei der zweiten deutschen Reichsgründung im Vordergrund stand, war die Diskussion wie in Kanada 1867 von den Ereignissen des gerade zu Ende gegangenen Bürgerkriegs überschattet. Die Verfassungskonstruktion

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The Federalist (1787–88), No. 39. Riker (1955), 469. Hueglin (2003), 275–94. The Federalist (1787–88), No. 18. Zit. bei Hausteiner in diesem Band, S. 119. Ebd.

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selbst entlehnte weit mehr von einer eigenständigen europäischen Föderalismustradition als vom amerikanischen Unmittelbarkeitsprinzip.¹⁷ Es entstand das sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Europäischen Union fortwirkende Modell eines integrierten Verwaltungsföderalismus: einerseits wurde den gliedstaatlichen Regierungen – im Fall der Bismarckverfassung waren das die Territorialfürsten – ein direktes Mitspracherecht in der zentralen Gesetzgebung eingeräumt, andererseits wurde ihnen nahezu der gesamte Bereich der Gesetzesanwendung und Verwaltung überlassen. Das Reich wirkte also zumeist nur mittelbar auf die Bürger ein. Wie Gerhard Lehmbruch eindrücklich dargestellt hat, waren die Meinungen über den föderalen Charakter der Bismarckverfassung geteilt: Während sich in der Staatsrechtslehre nach und nach die Auffassung durchsetzte, wonach das Reich den Ländern bundesstaatlich-föderal übergeordnet sei, machte der Bayer Max von Seydel geltend – nicht zuletzt unter Berufung auf John Calhoun, den Verfassungstheoretiker der amerikanischen Südstaatensezession –, dass es sich bei dem neuen Reich um ein staatenbündisch-konföderales Vertragsverhältnis unter souveränen Gliedstaaten handele. In seiner Auseinandersetzung mit Seydel war es schließlich Rudolf Smend, der die ambivalente Natur der Reichskonstruktion auf den Punkt brachte: „Staatsrechtlich kann das Verhältnis (von Reich und Ländern) nicht unrichtiger, tatsächlichpolitisch nicht zutreffender geschildert werden“.¹⁸ Tatsächlich-politisch war vor allem die quasi-diplomatische Aushandlung von Bundesgesetzen, bevor sie im stimmgewichteten Bundesrat abgesegnet wurden. An der Spitze der preußischen Hegemonialmacht vermied Bismarck majoritäre Konfrontationen und suchte vielmehr durch bilaterale Aushandlung – vor allem mit Bayern – Übereinstimmung zu erzielen. So gab es sowohl Vorabbesprechungen der Bundesratsbevollmächtigten als auch Ministerkonferenzen. Nicht zuletzt weil das Reich mindestens anfänglich auf die Finanzzuweisungen der Länder angewiesen war, sind auf diese Weise vor allem Steuergesetze von den Finanzministern ausgehandelt worden.¹⁹ Man kann also sagen, dass schon im Bismarckschen Bundesstaat eine Kombination von föderalen Verfassungselementen und konföderalen Aushandlungspraktiken angelegt war, wie sie trotz aller Unitarisierungstendenzen – oder gerade im Vollzug dieser Tendenzen – auch in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich bleiben würde, aber vor allem in der Europäischen Union trotz aller unbestreitbaren Supranationalität vorherrschend geblieben ist. Es stellt sich also wiederum die Frage nach Wechselwirkung entweder durch Ignoranz oder durch Umdeutung. Wenn es richtig ist, dass das Konföderale als Aushandlungspraxis auf Konsensbasis in der deutsch-europäischen Föderalismustradition einer eigenen Transformationskette folgt, läßt sich schwerlich argumentieren,

17 Hueglin/Fenna (2006), 85–86. 18 Lehmbruch (2000), 62 f. 19 Ebd., 62–64.

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dass Ignoranz in Bezug auf die griechischen Bünde zu deren Umdeutung geführt hat. Der folgende Abschnitt soll diese Eigenständigkeit aufhellen.

3 Frühneuzeitliche Traditionsbestände einer konföderal erweiterten Föderalität Anders als die amerikanischen Federalists wollten Bismarck und die deutschen Territorialfürsten keinen radikalen Traditionsbruch herbeiführen. Die konföderalen Merkmale des Bismarckschen zweiten deutschen Reiches folgten vielmehr den Traditionsbeständen des ersten. Die Oberhohheit dieses ersten Reiches, Heiliges Römisches Reich genannt und später mit dem Zusatz „deutscher Nation“ versehen, war eine mittelbare. Das wusste schon der Stauferkaiser Friedrich II, als er 1244 die Reichsfürsten nach Verona zur konziliaren Beratung einlud und sich dabei – möglicherweise im weltlichen Bereich erstmals – der alten römisch-rechtlichen Formel bediente, wonach quod omnes tangit, ab omnibus approbetur: Was alle angeht, muß auch von allen beschlossen werden.²⁰ Bereits hier zeigt sich also die Imbezilität, oder auch das Pufendorfsche Monstrum:²¹ nicht bundesstaatliche Machtteilung, sondern konföderale Machtverschränkung auf Konsensbasis. Es ist dieser Satz, welcher 450 Jahre später eine zentrale Rolle in dem großen Lehrbuch der Politik des Johannes Althusius spielen würde.²² Hier ist nicht der Ort, neuerlich auf den „von der Sohle bis zum Scheitel durchwaltende[n] Geist des Foederalismus“ der althusischen Politik einzugehen.²³ Im Zusammenhang mit den in die Bismarckzeit hineinreichenden konföderalen Traditionsbeständen des ersten Reiches deutscher Nation kommt hingegen der althusischen Darstellung der Versammlungen des zusammengesetzt-universalen Gemeinwesens besondere Bedeutung zu.²⁴ Friedrich Hermann Schubert hat von dieser Darstellung gesagt, sie vermittle ein bemerkenswert übersichtliches und vollständiges Bild von Institutionen und Verfahrensweisen der deutschen Reichstage.²⁵ Daher Althusius folgend, lassen sich die wesentlichen Elemente wie folgt zusammenfassen: getrennte Beratung der Kollegien von Kurfürsten, Reichsfürsten und Reichsstädten solange bis „alle der gleichen Ansicht sind oder sich die Minderheit der Mehrheit beugt“; „Konsens und Ausgleich der Kollegien untereinander“, wobei dem Kollegium der Reichsstädte nach Sicht des Althusius eine Art Schiedsrichterrolle

20 Quaritsch (1970), 162. 21 In Bezug auf das Reich: Pufendorf, Verfassung, caput VI, para. 9. 22 Althusius, Politica. 23 Gierke (1880), 226. 24 Althusius, Politica, Kap. XXXIII. 25 Schubert (1966), 417 f.

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im Falle unterschiedlicher Voten der beiden anderen Kollegien zukommt; Bericht des gemeinsamen oder mehrheitlichen Votums an den Kaiser, welcher dieses Votum nicht überstimmen kann.²⁶ An anderer Stelle präzisiert Althusius in theoretischer Absicht: „Die Autorität und Herrschaftsgewalt vieler ist größer als die eines Einzigen“.²⁷ Er grenzt auch prinzipiell ein, was überhaupt Gegenstand mehrheitlicher Beschlußfassung sein kann: nur was alle „in der gleichen Weise“ angeht, nicht aber was nur Einzelne „je für sich“ betrifft.²⁸ Und schließlich bringt er den konföderalen Grundcharakter seiner Reichsrekonstruktion auf den Punkt: omnis constituens prior & superior est a se constituto: jede konstituierende Macht ist vorrangig und steht höher als die konstituierte.²⁹ In dieser theoretischen Verdichtung wird ein Föderalitätsbegriff erkennbar, welcher noch nicht durch Ignoranz des Konföderalen verengt ist. Föderal ist dabei modern gesprochen die Überstaatlichkeit, welche sich aus der Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen ergibt, wenn diese alle Beteiligten in der gleichen Weise betreffen. Konföderal ist hingegen das Festhalten an einvernehmlichen Aushandlungspraktiken, wenn Einheitlichkeit nicht akzeptabel oder wünschenswert erscheint. Althusius schließt beispielsweise Religionsfragen ausdrücklich von mehrheitlicher Regelung aus.³⁰ Wie am Beispiel des Bismarckreichs schon verdeutlicht, hatte die Tradition konföderaler Aushandlungspraktiken durchaus weiter Bestand. Der althusische Föderalismusbegriff aber geriet im Zuge moderner Verstaatlichung in Vergessenheit. Die westfälisch genannte moderne Staatenwelt nach 1648 war ja durch den Anspruch exklusiver Souveränitätszuweisung gekennzeichnet. Daher rührt die moderne Unterscheidung von Staatenbund, wo die Souveränität bei den Gliedstaaten verbleibt, und Bundesstaat, wo sie auf die von der Zentralregierung verkörperten Unionsgesamheit übergeht. Diese dichotome Sichtweise war immer einigermaßen realitätsfern, und in einer nunmehr post-westfälisch genannten Welt wird sie im Zuge von Globalisierung und transnationaler Integration vollends obsolet. So kommt es nicht von ungefähr, dass der konföderal-föderale Althusius nun plötzlich als konzeptueller Kronzeuge dafür heraufbeschworen wird, dass es sich bei der – mittlerweile gescheiterten – europäischen Verfassungsabsicht nach Meinung des Vizepräsidenten des Verfassungskonvents, Giuliano Amato, keinesfalls um einen Versuch „exklusiver Autoritätszuweisung“ handeln sollte.³¹ Althusius hat in seiner frühmodernen Föderalismustheorie die aristotelische Lehre von gemeinschaftsbildenden Bürgern in der Polis als Ausgangspunkt für die Orga-

26 Althusius, Politica, Kap. XXXIII: 70–81. 27 Ebd., Kap. XXXIII 20. 28 Ebd., Kap. VIII: 70. 29 Ebd., Kap. XVIII: 8. 30 Ebd., Kap. VIII: 70 31 Amato (2002).

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nisierung eines vielstufig gegliederten Gemeinwesens genommen.³² Die griechischen Bünde hat er nicht erwähnt. Als Aristoteliker kam ihm das auch gar nicht in den Sinn, weil die griechischen Vordenker des Politischen dieses Politische eben gerade nicht so verstanden haben, wie es erst Althusius erweitert hat: als gewaltenteilige Gemeinschaftsordung nicht nur von Individuen, sondern auch von zusammengesetzten Kollektiven. Hausteiner stellt daher folgerichtig die abschließende Frage, ob die diachronische Verengung des Föderalen durch die Ignoranz des Konföderalen schon bei den Griechen selbst ihren synchronen Anfang genommen hat.³³

4 Die allelopoietische Gretchenfrage: Wie hielten es die Griechen mit der Föderalität? Die Frage nach der Relevanz der griechischen Bünde als frühzeitlichem Referenzbereich für die behauptete langwellige Transformationskette von Föderalitätsumdeutungen bis hin zum modernen Bundestaat läßt sich letztlich nur aus der griechischen Primärliteratur beantworten. Hausteiner argumentiert vorsichtig, indem sie sowohl auf die „spärliche Quellenlage“ als auch auf eine möglicherweise „mangelnde Eignung“ dieser Bünde für moderne Modellbildungen des Föderalen verweist. Im Kern aber bleibt sie hart: Den griechischen Bünden können Kriterien der Föderalität zugeschrieben werden: „Kompetenzen wurden demnach nach konsistenten Kriterien zwischen Regierungsebenen geteilt“ und „die Bünde waren zumindest intentional auf Dauer angelegt, um nur einige Charakteristika zu nennen“.³⁴ Das Problem liegt in den weiteren und ungenannten Charakteristika: So verweist Hausteiner beispielsweise auch auf die „föderale Präzedenz“ griechischer Modelle für Ideen einer britischen „Föderation imperialen Charakters“.³⁵ Präzedenz aber wofür? China wird derzeit auch bisweilen als ein Fall von „de facto federalism“ gehandelt.³⁶ In Hongkong oder der Region der Uiguren sind die protestierenden Bürger wohl anderer Meinung. Damit kommen wir auf das Grundproblem zu sprechen: Eine langwellige Transformationskette der Deutung und Umdeutung bündischer Praktiken lässt sich durchaus überzeugend nachzeichnen, und in diesem Zusammenhang ist es auch ganz richtig, auf die „mangelnde frühzeitige Theoretisierung des Bundes“ bei den Griechen selbst als Mitursache für spätere „Stigmatisierung und Entwertung“ hinzuweisen.³⁷ Unklar ist hingegen, ob man das Bündische schlechthin mit dem Konföderalen gleich-

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Althusius, Politica, Kap. I. Hausteiner in diesem Band, S. 121f. Ebd. Ebd. Zheng (2007). Hausteiner in diesem Band, S. 123.

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setzen kann, und vor allem dann, wenn dieses Konföderale ja als Erweiterung bundesstaatlicher Föderalität in Betracht gezogen werden soll. Bei Koselleck beispielsweise, dessen kategoriengeschichtliche Untersuchungen zu Bund, Föderalismus und Bundestaat erst mit dem Mittelalter ansetzen, wird der Bundesbegriff zum historischen Sammelbecken von Einungen, welche von einseitiger Unterwerfung bis zu gegenseitiger Übereinkunft reichen.³⁸ Auf diese Weise kann man durchaus gewinnbringend eine allelopoietische Transformationskette bündnishafter Begrifflichkeiten nachzeichnen. Auch läßt sich darstellen, wie sich im diachronen Verlauf von bündnishafter Begriffsbildung und Praxis Föderalität als eine auf prinzipieller Gleicheit von Bundesmitgliedern auf der Basis gegenseitiger Übereinkunft entwickelt hat. Für den Umkehrschluss hingegen, wonach diese Begriffsentwicklung rückwirkend eine Umdeutung altgriechicher Föderalität im Sinne von Ignoranz oder gar Verfemung zur Folge hatte, wäre der Nachweis erforderlich, dass es sich bei den griechischen Bünden in der Tat um Föderalität im Sinne einer solchen Gleichheit und Gegenseitigkeit gehandelt hat. Dies kann aber bezweifelt werden. Die griechischen Bünde waren im wesentlichen Verteidigungsligen, und trotz formal gleicher oder gewichteter Stimmverteilung waren sie auch fast immer von Kämpfen um innere Vormachtstellung gekennzeichnet. Möglicherweise beruht auch diese Sichtweise auf transformatorischer Verfemung, doch zumindest fehlt eine plausible Gegenvorstellung. So schreibt Riklin in seiner meisterhaften Darstellung der Geschichte von der Machtteilung, es habe in der Antike wohl staatenbündische und sogar bundesstaatliche „Phänomene“ gegeben, wobei vor allem die schon von Freeman hervorgehobene Achäische Liga „einem Bundesstaat sehr nahegekommen“ zu sein scheint.³⁹ Aber auch bei ihm bleibt es bei Vermutungen. Riklin verweist auf Siegfrid Brie, welcher sich einerseits ebenfalls auf Freeman bezieht, andererseits aber anmerkt, dass die Quellenlage eine genauere Bestimmung des Verhältnisses „der Gliederstaaten zur Gesammtheit“ nicht zulässt.⁴⁰ Bei Thukydides kann man hingegen nachlesen, was für eine Bundesvorstellung mindestens die Athener gehabt haben mochten, als sich die Melier ihrem Bundesangebot verweigerten: „Während Recht nur unter Gleichen besteht, machen die Starken was sie können, und erleiden die Schwachen was sie müssen“.⁴¹ Von daher liegt die Annahme nahe, dass sich die griechischen Vordenker des Politischen deswegen nicht mit der Theoretisierung von Bundesvorstellungen beschäftigt haben, weil dieses Politische nach innen auf die Polis gerichtet mit dem normativen Begriff der Isonomie besetzt war, während im nach außen gerichteten Bündischen eher der realpolitische Begriff der Paranomie vorherrschte.⁴² 38 Koselleck (1972). 39 Riklin (2006), 218. 40 Brie (1874), 9–10. 41 Thuk., V: 89. 42 Munn (2000), 120.

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5 Zur Begriffsbestimmung einer konföderal erweiterten Föderalität Im Föderalismus als einem vertikal gewaltenteiligen Regierungssystem bezieht sich die von Amato verworfene exklusive Autoritätszuweisung⁴³ vor allem auf die sogenannte „Kompetenzkompetenz“,⁴⁴ also darauf, welche Regierungsebene autoritativ eine Gewaltenverschiebung oder -umverteilung vornehmen kann. Im Staatenbund kommt diese Kompetenz zur Kompetenzänderung allein und einvernehmlich den Gliedstaaten zu. Im Bundesstaat gelten typischerweise qualifizierte Mehrheitsregeln für Verfassungsänderung. In der Praxis läßt sich die idealtypische Unterscheidung von Bundesstaat und Staatenbund kaum durchhalten. Die meisten föderalen Systeme zeichnen sich durch eine Mischung föderaler und konföderaler Gestaltungs- und Verfahrenselemente aus. In Kanada zum Beispiel hat sich der moderne Wohlfahrtsstaat überwiegend nicht durch verfassungsändernde Kompetenzverschiebungen zugunsten des Zentralstaats, sondern durch intergouvernementale Übereinkunft entwickelt. Das föderale System Kanadas ist daher zutreffend als „federal-provincial diplomcay“ beschrieben worden.⁴⁵ Ähnlich kann man im Fall der Europäischen Union von einem „Vertragsföderalismus“ sprechen,⁴⁶ weil nicht nur der Integrationsprozess einvernehmlich in Europäischen Rat ausgehandelt werden muss, sondern auch im Ministerrat legislative Mehrheitsentscheidungen – wie schon bei Bismarck – grundsätzlich vermieden werden,⁴⁷ aber aus beiden Prozessen dennoch unmittelbar supranationales – i. e. bundesstaatliches – Recht entsteht. In der Tat bleibt der Blick auf diese föderalkonföderalen Mischungen verstellt, wenn man zur Beurteilung nur den klassischen amerikanischen Bundesstaat heranzieht, welcher in vieler Hinsicht nicht das Modell, sondern den Ausnahmefall für eine vergleichende Bestimmung von Föderalität darstellt.⁴⁸ Für eine solche Bestimmung kommt es also darauf an, die Bestimmungskriterien so zu wählen, dass sich föderale und konföderale Gestaltungs- und Verfahrenselemente nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ergänzen. Als wesentliche Kriterien ergeben sich aus den vorausgegangenen Überlegungen in diesem Sinne vor allem die grundsätzliche gliedstaatliche Gleichheit, eine verfassungs- oder vertragsmäßig bestimmte Gewaltenteilung, der Wille zum „deliberativen“ Zusammenhalt⁴⁹

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Vgl. Fn. 29. Riklin (1972), 119–21. Simeon (1973). Hueglin (2013a), 37–39. Lewis (2013), 150 f. Hueglin (2013b), 187. Neyer (2003).

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durch einvernehmliche Kompromissaushandlung und, gewissermaßen als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Gleichheitsgebots, eine Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfe und zum sozialen Ausgleich.⁵⁰ Es gibt nur spärliche Anhaltspunkte, wonach die antiken Bünde Griechenlands in dieses Bestimmungsbild passen. Das heißt aber nicht, dass sie als Vorgeschichte bündischer Einungen vernachlässigt werden sollten. Ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass sie der engeren Bestimmung von Föderalität, wie sie sich wohl doch erst zeitspezifisch aus der mittelalterlichen Reichspraxis entwickelt hat, einen weiteren Rahmen des Bündischen vorausgestellt haben, der auf die Universalität des Bundesgedankens als zeitlosem Gegenstück zum unitarisch-imperialen Herrschaftsgedanken verweist.

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Allelopoietische Wechselwirkungen bündischer Föderalität: Eine Erwiderung

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Alexander Klaudies

Transformative Dynamik und Kontinuität Zum Theorem der notitiae communes in der Philosophie Herberts von Cherbury

Weil nämlich die Tätigkeit des Verstandes im weitesten Sinne in der deduktiven Ableitung aus Allgemeinbegriffen (notitiae communes) besteht, hat er nichts außer jenen [Allgemeinbegriffen], an die er appellieren kann. Allgemeinbegriffe sind demnach jene Prinzipien, gegen die zu streiten Frevel ist; oder jener Teil des Wissens, den uns die Natur ihrem uranfänglichen Plan gemäß einflößen wollte.¹

Dieser Passus aus De veritate, dem 1624 in Paris erschienenen Hauptwerk des englischen Philosophen, Diplomaten, Hofmanns, Soldaten und Dichters Edward Herbert, Lord Cherbury, weist auf die zentrale Rolle hin, die das Theorem der Allgemeinbegriffe in diesem Werk spielt, in dem jene in jedem gesunden und vernünftigen Menschen vorhandene Methode des Suchens nach der Wahrheit offengelegt werden soll, wie es Herbert im Vorwort formuliert.² Die Unzulänglichkeit gängiger Meinungen über die Wahrheit, sowohl erkenntnisoptimistischer wie pessimistisch-skeptischer,³ lassen Herbert auf das Theorem der Allgemeinbegriffe zurückgreifen, um dessen antike Her-

1 „Cum enim Ratio sit quaedam deductio notitiarum communium in suam infimam latitudinem; non habet ultra illas, quo provocet. Sunt igitur Notitiae Communes principia illa, contra quae disputare nefas; sive ea pars scientiae, quam ex sua prima intentione nos imbutos voluit Natura.“ (Herbert, De veritate [im Folgenden: DV], 42 f.). Die Übersetzungen von De veritate stammen vom Verfasser. Der lateinische Text von DV wird nach der dritten Auflage von 1645 zitiert und zwar nach der FaksimileAusgabe von Günter Gawlick (1966). Alle Kursivierungen Herberts wurden beibehalten, die vielfältigen Abbreviaturen hingegen aufgelöst. 2 „[…] illa in omni homine sano et integro veritatem investigandi ratio“ (DV, o. S., „Lectori ingenuo“). In der an den aufrichtigen Leser („Lectori ingenuo“) gerichteten Vorrede ist das Verhältnis von kursivund recte-Schrift umgedreht: recte-Schrift zeigt hier also eine Hervorhebung an. 3 Gleich zu Beginn von De veritate werden die zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Positionen (Skeptizismus, Rationalismus, Empirismus) aufgerufen und zurückgewiesen, da sie zu gegensätzlichen und sich einander ausschließenden Auffassungen von Wahrheit und der Methode der Wahrheitsfindung führen. Siehe DV, o. S., „Lectori ingenuo“ sowie DV, 2. Das Scheitern seiner Vorgänger sei in erster Linie darin begründet, dass sie ihr Denken nicht „aus den Dingen/Tatsachen selbst“ (e rebus ipsis), sondern aus den Meinungen anderer (aliorum opinionibus) entwickelt hätten. Siehe DV, o. S., „Lectori ingenuo“. Ein Neubeginn ist Herbert zufolge also nötig – und dieser Neubeginn wird bezeichnenderweise in eine Metaphorik gefasst, die in bester platonischer Tradition steht: „Diejenigen, die im Begriff sind, das Allerheiligste [im Tempel] der Wahrheit zu betreten, mögen vor dem Vorhof (um nicht zu sagen an der Garderobe) den Plunder, d. h. ihre Meinungen, ablegen.“ – „Ante vestibulum igitur (ne dicam in Apodyterio) scruta, scilicet opiniones, exuant Adyta Veritatis ingressuri.“ (DV, o. S., „Lectori ingenuo“). Siehe zur (neu)platonischen Tradition dieser Metapher: Clark (2008). DOI 10.1515/9783110499261-010

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kunft er weiß: „Communes Notitiae (veteribus κοῖναι [sic] ἔννοιαι)“⁴ – „communes notitiae (bei den Alten κοιναὶ ἔννοιαι [genannt])“. Der Gedanke, dass der Mensch in welcher Form auch immer über ein bestimmtes Vorwissen verfügt, auf dessen Basis Erkenntnis überhaupt erst möglich ist, wird in den hier folgenden Ausführungen als ein thematisches Kontinuum aufgefasst, das seinen Ausgang in den erkenntnistheoretischen Diskussionen der Antike nimmt und an das die Denker der Frühen Neuzeit auf je unterschiedliche Weise anschließen, indem sie aus jeweils zu erwägenden Gründen bestimmte Merkmale auswählten, andere aus- oder abblendeten und wiederum andere hinzufügten. Im Folgenden wird dieser Vorgang als ‚Allelopoiese‘ beschrieben, als „Wechselwirkung zwischen Referenz- und Aufnahmebereich“⁵. Unter der Wirkung des Referenzbereichs auf den Aufnahmebereich wird hier die Eröffnung eines Interpretationsraumes verstanden. Auf diesen Interpretationsraum beziehen sich ihrerseits die Akteure des jeweiligen Aufnahmebereichs und zwar tun sie dies selektierend, ausblendend, kombinierend, kurz gesagt: transformierend.⁶ An der Transformationsgeschichte des Philosophems der Allgemeinbegriffe lässt sich anschaulich zeigen, wie Elemente einer Kultur – hier das eng umrissene Element eines bestimmten philosophischen Konzepts – im Rahmen späterer Kulturen aufgenommen und im Zuge dieser Aufnahme verändert werden. Die diachrone Dimension dieser transformativen Vorgänge ist mit der Metapher der ‚Transformationskette‘⁷ umschrieben worden. Die Metapher der Kette suggeriert allerdings, dass lediglich benachbarte ‚Glieder‘ unmittelbar miteinander verbunden sind oder in Interaktion stehen, während es aber durchaus zum Rückgriff auf frühere ‚Glieder‘ kommen kann – so auch in dem hier betrachteten Fall. Um die Komplexität diachron verlaufender Transformationen genauer zu erfassen, sollte vielleicht eher von Transformationsgeflecht als von Transformationskette gesprochen werden. Ob ‚Kette‘ oder ‚Geflecht‘ – beide Metaphern fangen jedenfalls auf prägnante Weise das Changieren zwischen Veränderung und Kontinuität in Prozessen kulturellen Wandels ein.

4 DV, 47. 5 Böhme (2011), 9. 6 Diese modifizierende Transformation im Horizont des Aufnahmebereichs, wird mithilfe der Transformationstypen, wie sie in Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Walter/Weitbrecht (2011), 47–54, dargestellt worden sind, beschrieben. 7 Siehe Böhme (2011), 11.

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1 Antiker Referenzbereich 1.1 Das Menon-Paradox und die Prolepsis-Lehre Epikurs und der Stoa Der Begriff κοινὴ ἔννοια, den Herbert nennt und den er gleichsetzt mit seinem Begriff notitia communis, entstammt der stoischen Erkenntnistheorie und kam auf im Kontext der Auseinandersetzung der hellenistischen Schulen mit Platons Menon-Paradox.⁸ Im Dialog Menon (80d–e) formulierte Sokrates den „streitsüchtigen Satz“ (ἐριστικὸς λόγος) des Menon, dass „ein Mensch unmöglich suchen kann, weder was er weiß, noch was er nicht weiß. Nämlich weder was er weiß, kann er suchen, denn er weiß es ja, und es bedarf dafür keines Suchens weiter; noch was er nicht weiß, denn er weiß ja dann auch nicht, was er suchen soll“⁹. Sokrates setzt diesem „streitsüchtigen Satz“ bekanntlich seine Anamnesis-Lehre entgegen: Wir verfügen schon immer über Wissen, weil unsere Seele in ihrer pränatalen Existenz die Ideen (εἶδη) geschaut habe. Letztlich sei Lernen nur Erinnern – und Sokrates erscheint als „Kundiger in der Hebammenkunst“ (μαιευτικός)¹⁰, der durch sein dialogisches Verfahren dem Wissen, mit dem sein Gegenüber schon immer schwanger geht, zur Geburt verhilft (Maieutik). Epikur fand eine ganz anders gelagerte Antwort auf den „streitsüchtigen Satz“ des Menon. Ihm zufolge bilden wir aus wiederholten Wahrnehmungen eines äußeren Gegenstandes einen Vor-Begriff, πρόληψις (prolēpsis, von προλαμβάνειν – vorgreifen), den wir im Geist speichern. Haben wir z. B. häufig Menschen gesehen, formen wir eine Prolepsis ‚Mensch‘ und „sobald das Wort ‚Mensch‘ geäußert wird, kommt sofort (εὐθὺς) mittels eines Vorbegriffs auch sein Umriss (κατὰ πρόληψιν καὶ ὁ τύπος αὐτοῦ) in unseren Geist, weil die Sinne die Führung haben“¹¹. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Unser Vorbegriff des Menschen, der laut Epikur als Wahrheitskriterium fungiert, da er uns erlaubt zwischen Mensch und Nicht-Mensch zu unterscheiden, ist also eine mentale Abstraktion aus Sinnesmaterial und basiert damit letztlich auf Sinneswahrnehmungen.¹²

8 Für die These, dass Epikur seine Prolepsis-Lehre als „an alternative response to Meno’s paradox“ entworfen habe, siehe Long/Sedley (1987a), 89. In jüngster Zeit: Dyson (2009), XXXIII. 9 „῾Ορᾷς τοῦτον ὡς ἐριστικὸν λόγον κατάγεις, ὡς οὐκ ἄρα ἔστιν ζητεῖν ἀνθρώπῳ οὒτε ὅ οἶδεν οὒτε ὅ μὴ οἶδεν; Οὒτε γὰρ ἂν ὅ γε οἶδεν ζητοῖ· οἶδεν γάρ, καὶ οὐδὲν δεῖ τῷ γε τοιούτῳ ζητήσεως· οὒτε ὅ μὴ οἶδεν· οὐδὲ γὰρ οἶδεν ὅ τι ζητήσει.“ (Plat., Men., 80e). Die Übersetzung stammt von Friedrich Schleiermacher. 10 Plat., Tht., 151c. 11 „ἅμα γὰρ τῷ ῥηθῆναι ἄνθρωπος εὐθὺς κατὰ πρόληψιν καὶ ὁ τύπος αὐτοῦ νοεῖται προηγουμένων τῶν αἰσθήσεων.“ (Diogenes Laërtios, 10.33). Griechischer Text aus Long/Sedley (1987b), 92. Deutsche Übersetzung von Karlheinz Hülser aus Long/Sedley (2000), 102. 12 Lukrez übersetzt πρόληψις mit notitia: „Invenies primis ab sensibus esse creatam / notitiem veri, neque sensus posse refelli.“ (Lucr., 4.478–79) – „Du wirst finden, dass zuvorderst von den Sinnen die notitia des Wahren geschaffen worden ist, und dass die Sinne nicht widerlegt werden können.“

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Auch die Stoiker setzten sich kritisch mit dem „streitsüchtigen Satz“ und Platons Antwort auseinander und stellten ihr eine an Epikur angelehnte empiristische Theorie des Wissens entgegen.¹³ Einem der umfangreichsten Textzeugnisse zur ProlepsisLehre der älteren Stoa zufolge, gleicht die menschliche Seele bei der Geburt einem leeren Blatt Papier, das im Laufe der Entwicklung des Menschen mit Begriffen (ἔννοιαι) beschrieben wird.¹⁴ Dieses Beschreiben erfolgt durch die Sinne und zwar derart, dass die Wahrnehmung eines Objekts eine mentale Repräsentation (φαντασία) dieses Objekts in der Seele bewirkt.¹⁵ Diese φαντασία wird in der Erinnerung abgelegt, so dass sie auch wieder aufgerufen werden kann, wenn das ursprüngliche Objekt nicht mehr Objekt der Wahrnehmung ist. Die in der Erinnerung gespeicherten φαντασίαι werden aufgrund von Ähnlichkeit organisiert und zusammengefasst – und aus diesen Synthesen entstehen Prolepsen, das heißt Vor-Begriffe der Dinge, die deren allgemeinste Charakteristika beinhalten.¹⁶ Diese Prolepsen werden dann im Laufe der Entwicklung der Vernunft weiter entfaltet (ἔννοιαι – als Artbezeichnung).

(Übersetzung v. Verf.). Aus De rerum natura, ein Text, der dem 17. Jahrhundert wohlbekannt war, ließ sich also durchaus auch eine sensualistisch-empiristische Interpretation des Zustandekommens von notitiae entnehmen. Siehe auch den größeren Kontext: Lucr., 4.469–485. 13 Von Epikur übernahmen die Stoiker auch den Begriff der Prolepsis. Dass Epikur diesen Begriff geprägt und in die philosophische Diskussion eingeführt hat, bezeugt Cicero (nat. deor., 1.44). 14 „Die Stoiker sagen: Wenn der Mensch geboren wird, dann hat er den führenden Teil seiner Seele wie ein Blatt Papier, das bereit ist, darauf zu schreiben [ἔχει τὸ ἡγεμονικὸν μέρος τῆς ψυχῆς ὥσπερ χάρτην εὒεργον εἰς ἀπογραφήν]. Darauf trägt er sich jeden einzelnen seiner Begriffe [μίαν ἑκάστην τῶν ἐννοιῶν] ein. Die erste Art der Eintragung ist die durch die Sinneswahrnehmungen [διὰ τῶν αἰσθήσεων]. Denn wenn man beispielsweise etwas Weißes wahrnimmt, hat man, wenn es verschwunden ist, eine Erinnerung davon [μνήμην ἔχουσιν]; und wenn viele gleichartige Erinnerungen vorgekommen sind, sagen wir, wir hätten eine Erfahrung; Erfahrung ist nämlich die Vielzahl der gleichartigen Vorstellungen. Von den Begriffen [ἐννοιῶν] entstehen die einen auf die dargestellten Arten natürlich und ohne absichtliche Gestaltung [φυσικῶς καὶ ἀνεπιτεχνήτως], die anderen dagegen durch unseren Unterricht und unsere Sorgfalt [δι‘ ἡμετέρας διδασκαλίας καὶ ἐπιμελείας]. Diese werden also nur ‚Begriffe‘ [ἔννοιαι] genannt, erstere dagegen auch ‚Vorbegriffe‘ [προλήψεις]. Von der Vernunft, deretwegen wir als vernunftbegabt bezeichnet werden, wird erklärt, daß sie von den Vorbegriffen während der ersten sieben Lebensjahre vervollständigt wird.“ (Aet. 4.11.1–4). Deutsche Übersetzung aus: Long/Sedley (2000), 282 f.; griechischer Text aus: Long/Sedley (1987b), 240 f.). Ennoia bezeichnet demnach die Gattung Begriff/Vorstellung – unter die als Arten prolēpsis und ennoia fallen. Siehe van Sijl (2000), 39 f. Prolēpseis kommen auf spontan-natürliche Weise zustande, während ennoiai (als Art) erlernt oder durch eigene Denkleistung erworben werden. Dyson zufolge sind prolēpseis und ennoiai identisch in Bezug auf ihren propositionalen Gehalt, aber verschieden insofern, dass prolēpseis implizit und ennoiai explizit sind (Dyson [2009], XXIX). Den Prozess der Entfaltung des in den Prolepsen implizit Enthaltenen wird in der Stoa mit dem Begriff διάρθρωσις (von διαρθρόειν – zergliedern, zerlegen) bezeichnet. 15 „Chrysipp sagt, daß […] die Vorstellung [φαντασία] ein Affekt [πάθος] [ist], der in der Seele entsteht und der sowohl sich selbst als auch das aufweist, was ihn bewirkt hat.“ (Aet. 4.12.1–2). Deutsche Übersetzung: Long/Sedley [2000], 281; griechischer Text: Long/Sedley [1987b], 239. 16 „ἔστι δ‘ ἡ πρόληψις ἔννοια φυσικὴ τῶν καθόλου“ (Diogenes Laërtios, 7.54) – „Preconception is a natural conception of the general characteristics of a thing.” (Übersetzung von Sandbach [1971], 25;

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Es stellt sich allerdings die Frage, ob in Bezug auf das Verhältnis von Epikur/Stoa und Platon überhaupt von Transformation gesprochen werden kann. Die Problemstellung Platons (Menon-Paradox) wirkt zwar auf den Aufnahmebereich Epikur/Stoa, aber nicht der e¯ıdos-Begriff mit all seinen Implikationen (Anamnesis, Maieutik, Methexis). Die epikureisch-stoische Prolepsis kann schwerlich als Transformation der platonischen ‚Idee‘ gesehen werden – sie ist ganz und gar anders gelagert. Sie ist vielleicht eine Antwort auf dieselbe Frage, aber von Platons Antwort völlig verschieden. An keines der Merkmale des ‚Referenzbereichs‘ Platon wird angeschlossen, so dass nicht im eigentlichen Sinne von Transformation als allelo-poietischem Akt gesprochen werden kann, da die poiēsis des Referenzbereichs auf den Aufnahmebereich nicht gegeben ist.

1.2 Ciceros notitiae innatae Eindeutig um eine Transformation im Sinne eines allelopoietischen Akts handelt es sich bei Ciceros Umdeutung der epikureisch-stoischen Prolepsis-Lehre. Diese Umdeutung findet sich an prominenter Stelle in Ciceros De natura deorum. Wie Cicero dort in der Darstellung der epikureischen Götterlehre ausführt, sei Epikur zufolge eine Prolepsis „eine bestimmte, in der Seele vorauserfaßte Vorstellung von einer Sache, ohne die man etwas weder erfassen noch untersuchen, noch diskutieren kann“¹⁷. Diese Vorstellung habe die Natur selbst in die Seelen aller Menschen eingeprägt.¹⁸ Solche „eingepflanzten oder besser: eingeborenen Vorstellungen“ (insitae vel potius innatae cognitiones)¹⁹ sind allen Menschen gemein: „Worin aber alle von Natur aus übereinstimmen, das muss zwangsläufig wahr sein“²⁰. Dieses Argumentum e consensu omnium als Beweis für die Existenz solcher eingeborenen Vorstellungen und damit als Garant für deren Wahrheit führt auch die Figur des Balbus ins Feld, der in De natura deorum die Theologie der Stoa darlegt: Bei allen Menschen aller Völker (inter omnis

griechischer Text: Long/Sedley [1987b], 243). Siehe auch Dyson (2009), 64, zum Zustandekommen von prolēpseis. 17 „quam appellat πρόλημψιν Epicurus, id est anteceptam animo rei quandam informationem, sine qua nec intellegi quicquam nec quaeri nec disputari potest“ (Cic., nat. deor., 1.43). 18 „in omnium animis […] notionem impressisset ipsa natura“ (Cic., nat. deor., 1.43). Cicero behandelt πρόληψις und ἔννοια als Synonyme und übersetzt beide meist mit notio oder notitia: „notitiae rerum, quas Graeci tum ἐννοίας tum προλήψεις vocant“ (ac, 2.30). Neben notio/notitia, die am häufigsten gebraucht werden, finden sich als Übersetzungen für πρόληψις und ἔννοια bei Cicero – neben den hier schon erschienenen Begriffen (cognitio, informatio) – auch die Ausdrücke: anticipatio (nat. deor., 1.43–4, 1.76), praenotio (nat. deor., 1.44), praesensio (nat. deor. 2.9, 2.13) u. a. Siehe die Tabelle bei Dyson (2009), 156–7. 19 Cic., nat. deor., 1.44. 20 „de quo autem omnium natura consentit, id verum esse necesse est“ (Ebd., 1.44).

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omnium gentium)²¹ gebe es einen „angeborenen und gleichsam in die Seele eingemeißelten Glauben an die Existenz von Göttern“²². In der Darstellung Ciceros wird die Lehre von den Vorbegriffen, die bei Epikureern wie Stoikern sensualistisch-empiristisch gegründet war, also zu einer erfahrungsunabhängig innatistischen umgedeutet.²³ Die notiones insitae oder innatae enthalten ein seminales Wissen um die Dinge, das in der Folge „entfaltet“ werden muss (enodationis indigens) – wie es in Ciceros Topica heißt.²⁴ Die notiones gehören sozusagen zur natürlichen Grundausstattung des Menschen und fungieren als Startpunkte oder – wie es in anderen Texten Ciceros, metaphorisch gewendet, heißt – als „Samen“ (semina) oder „Funken“ (scintillae), aus denen die Frucht bzw. das Feuer der Erkenntnis gewonnen werden kann.²⁵ Der Gedanke, dass im Menschen schon immer ein Wissen vorfindlich ist, das zur Entfaltung gebracht werden muss, weist darauf hin, dass es sich bei Cicero um eine Montage platonischer und epikureisch-stoischer Motive handelt. Cicero deutet das epikureisch-stoische Theorem platonisierend um, indem er ein Element des platonischen e¯ıdos-Begriffs, nämlich den Aspekt der Teilhabe (Methexis) aktiviert. Allerdings fokussiert Cicero dabei das Inne-haben (met-e¯ınai), eben das Eingeborensein des Vorwissens auf Seiten der Seele – während die Pointe Platons beim Gedanken der Teilhabe (Methexis, met-eche¯ın) war, dass die inkorporierte Seele an etwas, das explizit unabhängig von ihr ist, teilhat, nämlich an den Ideen mittels pränataler ‚Schau‘. An-

21 Ebd., 2.12. 22 „omnibus enim innatum est et in animo quasi insculptum esse deos“ (Ebd., 2.12). 23 Siehe hierzu Stiening (1999), 773: „[Cicero] begründet auch den erfahrungsunabhängigen Innatismus dieser Begriffe (zunächst in bezug auf den Gottesbegriff und die Unterscheidung von Gut und Böse), verbindet deren Gültigkeitsbeweis aber weiterhin [wie die ältere Stoa, A.K.] einzig mit dem consensus omnium.“ Stiening führt diese innatistische Umdeutung auf „platonische Einflüsse“ zurück (773, Anm. 89). Zur Rolle des platonischen Einflusses siehe unten Anm. 26. Es gibt eine breite Debatte um das Für und Wider eines Innatismus in der Erkenntnistheorie der älteren Stoa. Die wichtigsten Fürsprecher und Gegner führt van Sijl auf (van Sijl 2010, 13, Anm. 30). Letztlich ist aber die Frage, ob die ältere Stoa tatsächlich einen Innatismus der prolēpseis/ennoiai vertreten hat, und die damit einhergehende Frage, ob Cicero die Lehren der Stoa ‚richtig‘ oder ‚verfälschend‘ wiedergibt, aus transformationstheoretischer Perspektive irrelevant. 24 „Als ‚Begriff‘ bezeichne ich hierbei das, was die Griechen bald ‚ennoia‘, bald ‚prolepsis‘ nennen. Dies ist eine eingepflanzte und von der Seele eines jeden im Voraus erfasste Vorstellung, die der Entfaltung harrt.“ (top., 31) – „notionem appello quod Graeci tum ἔννοιαν tum πρόληψιν. ea est insita et ante percepta cuiusque cognitio enodationis indigens.“ Wir erkennen hier den Prozess der διάρθρωσις wieder, in dem – in der Theorie der älteren Stoa – die spontan-natürlich aus Sinneswahrnehmungen gebildeten prolēpseis entfaltet und so zu dem diskursiven Denken verfügbaren ennoiai wurden. Siehe oben, Anm. 14. 25 Siehe Cic., fin., 5.43 und 5.59–60: In letzterer Passage werden zwar nicht die Begriffe semina oder scintilla gebraucht, doch wird der Sachverhalt eines zu explizierenden seminalen Wissens deutlich ausgedrückt. Geradezu aphoristisch bringt Seneca diesen Gedanken auf den Punkt: „Hoc nos natura docere non potuit; semina nobis scientiae dedit, scientiam non dedit.“ (epist., 120.4).

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ders gesagt: Cicero ebnet die ontologische Differenz zwischen Seele und Ideen, die bei Platon im Fokus stand, ein. Somit wird nicht nur das epikureisch-stoische Theorem platonisiert, sondern auch der platonische e¯ıdos-Begriff stoisiert, weil mit Epikur und Stoa die metaphysische Pointe ausgeblendet wird. Beide Begriffe e¯ıdos und ennoia werden bei Cicero mit notio insita übersetzt und somit ineins gesetzt.²⁶ Im ‚Aufnahmebereich‘ Cicero entsteht also eine Synthese oder genauer gesagt: eine Montage von Elementen verschiedener Referenzbereiche, die zuvor unvermittelt nebeneinander standen und ganz unterschiedliche erkenntnistheoretische Positionen markierten. Die Folge ist, dass das Theorem der notitia insita oder innata nunmehr anschlussfähig wird für Denker, die in der platonischen Tradition stehen, – und darüber dann auch für solche, deren Philosophieren sich innerhalb eines christlichen Horizonts bewegt.

1.3 Zusammenfassung Wie aus dieser knappen Darstellung deutlich werden sollte, eröffnet der antike Referenzbereich eines Theorems der Vorbegriffe einen Interpretationsraum, der heterogene, sich in gewissem Maße gegenseitig ausschließende Anknüpfungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten bietet: mal handelt es sich um rein sensualistisch-empiristisch gewonnene Kenntnisse oder Vorstellungen, die durch Sinneswahrnehmungen in die „leere Tafel“ des menschlichen Geistes geschrieben werden; mal erscheinen sie als natürliche angeborene Dispositionen, die sich im Laufe des Lebens entfalten. Als Agenten, die diese Kenntnisse dem menschlichen Geist eingepflanzt haben, werden zumeist die Natur, vereinzelt auch ein „höchster Gott“ (supremus deus) oder die

26 Dies geschieht im Zuge von Ciceros Darstellung der Anamnesis-Lehre Platons, wie sie Sokrates im Menon und Phaidon entwickelt: „Da [d. h. im Phaidon, A.K.] zeigt er [d. i. Sokrates, A.K.], daß jeder beliebige, der vollkommen ungebildet zu sein scheint, auf geschickte Fragen so antwortet, daß sich zeige, er lerne nicht in jenem Augenblick, sondern erkenne es wieder durch Erinnerung; es sei überhaupt undenkbar, daß wir von Kindheit an in unserer Seele die Vorstellungen von so vielen und so bedeutenden Dingen in uns innewohnend und sozusagen versiegelt besäßen [ut a pueris tot rerum atque tantarum insitas et quasi consignatas in animis notiones, quas ἐννοίας vocant, haberemus], wenn nicht die Seele der Erkenntnis dieser Dinge mächtig gewesen wäre, bevor sie in den Körper eintrat“ (Tusc., 1.57). Als Vorbilder für Ciceros platonisierende, innatistische Interpretation der epikureischstoischen Theorie der Vorbegriffe vermutet Dyson entweder „platonisierende Stoiker“ wie Panaitios und Poseidonios oder „stoisierende Akademiker“ wie Antiochos von Askalon. Dyson findet auch beim Mittelplatoniker Alkinoos Hinweise auf eine solche Kombination stoischer prolēpsis und platonischer Anamnesis: „These passages [im Werk des Alkinoos, A.K.] make it clear that some combination of Stoic prolepsis and Platonic recollection did occur in the first century B.C.E; and since Cicero’s source for Tusc. 1.57 is most likely either Antiochus or Posidonius this process must have begun at least in the first century, if not earlier.“ (Dyson [2009], XXII). Siehe zum Einfluss der Mittelplatoniker auf Cicero ebenso Reinhardt in seiner Topica-Edition ([2003], 258 f.) mit Bezug auf die in Anm. 24 zitierte Passage und ihren größeren Kontext.

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Philosophie selbst genannt.²⁷ Als schlagendes Indiz für die Notwendigkeit der Annahme von Vorkenntnissen wird der Umstand, dass gewisse Begriffe und Vorstellungen allen Menschen gemeinsam sind (Argumentum e consensu omnium), angeführt. Teilweise garantiert die Übereinstimmung aller die Wahrheit dieser Begriffe und Vorstellungen;²⁸ dann gilt der consensus omnium wieder nicht als Garant der Wahrheit²⁹. Jede dieser Ausformungen des Theorems bringt eigene Konnotationen mit sich und bewirkt bestimmte systematische Weichenstellungen oder kann für solche Weichenstellungen in Dienst genommen werden. Die jeweils andere konzeptuelle Dimension muss dann wiederum ausgeblendet werden. Und zuweilen schwingen in der gewählten Form dennoch Konnotationen mit, die den eigenen Intentionen zuwiderlaufen können und gegen die man sich immunisieren muss – die andererseits aber wieder anknüpfungsfähig sind für weitere Transformationen.

2 Frühneuzeitlicher Aufnahmebereich 2.1 Melanchthons Theologisierung des Theorems Das dargestellte Transformationsgeflecht ist natürlich weit davon entfernt vollständig zu sein. Ein Knotenpunkt dieses Geflechts darf aber nicht unerwähnt bleiben, bevor wir uns Herbert von Cherbury zuwenden: nämlich Philipp Melanchthon.³⁰ Melanchthons Transformation des Theorems lässt sich am prägnantesten als Theologisierung beschreiben.³¹ Er stellt es – beispielsweise in seiner Seelenlehre – ganz in den Dienst seines Beweisziels einer „Unhintergehbarkeit der Theologie“³². Sein Bezugspunkt ist eindeutig Cicero und dessen innatistische Umdeutung des Theorems, die es anschlussfähig für christliches Denken gemacht hatte.³³ Melanchthon argumen-

27 Cic., leg., 1.22 f.; Cic., Tusc., 5.5. Siehe hierzu Mundt (2012), 158. 28 So bei Epikur laut Cicero (nat. deor. 1.44). 29 Cic., nat. deor., 1.62–64. 30 Melanchthons Bedeutung für unseren Zusammenhang kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Ob Herbert die Schriften Melanchthons gekannt hat, ist zweifelhaft. Dies tut Melanchthons Bedeutung für unser Thema aber keinen Abbruch, weil seine ‚theologisierte‘ notitia-Lehre durch Calvins Vermittlung die protestantische, v. a. die niederländische reformierte Philosophie und Theologie nachhaltig geprägt hat. Siehe Frank (2003), 224–232. 31 Siehe Stiening (1999), 776; Salatowsky (2006), 120 f. 32 Stiening (1999), 778. Daher sieht Stiening Melanchthons Psychologie als „Teil jener Philosophia perennis-Tradition, die Wilhelm Schmidt-Biggemann jüngst [d. i. 1998, A.K.] der Autonomie- und Subjektivitätstradition der Neuzeit entgegenstellte“, da in ihr „weder Grund noch Zweck der mens als potentia rationalis mit ihren zentralen Elementen, den notitiae naturales, im Menschen selbst liegen, sondern einzig in ihrem göttlichen Anderen, was den Menschen zum Mittel, Medium, Zeichen Gottes bestimmt“ (777). 33 Siehe Mundt (2012), 158.

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tiert explizit gegen einen sensualistischen Ursprung der notitiae naturales/innatae,³⁴ denn diese Begriffe können der menschlichen Erkenntnis nur von Gott „als der einzig ausschließlichen Instanz der Wahrheit […] eingegeben worden sein“³⁵. Die notitiae naturales/innatae erscheinen daher bei Melanchthon als „unmittelbare Einwirkungen des transzendenten Gottes in den Erkenntnisapparat des Menschen“³⁶. In diesem theologischen Begründungszusammenhang wird also zum einen der Sensualismus der älteren Stoa negiert und zum anderen das ciceronische Argument des consensus omnium als Beweis für die Wahrheit der notitiae ausgeblendet.³⁷

2.2 Herbert von Cherbury Bei Herbert von Cherbury fehlt dieser theologisch-orthodoxe Argumentations- und Begründungszusammenhang. Herberts Fokus liegt auf Erkenntnistheorie, auf dem Menschen und seinen Vermögen.³⁸ Dennoch wird seine Appropriation des Theorems der Vorbegriffe erhebliche Auswirkungen haben auf das, was unter Glaube, ja unter Religion überhaupt zu verstehen ist. Herberts Erkenntnistheorie basiert auf einer Fakultätenlehre und einem relationalen Wahrheitsbegriff. Herbert unterscheidet vier Erkenntnisvermögen (facultates): das diskursive Denken (discursus), den inneren Sinn (sensus internus), den äußeren Sinn (sensus externus) und den natürlichen Instinkt (instinctus naturalis). Wahrheit 34 „Lassen wir uns nicht von dem allgemeinen Satz verwirren: Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen war. Dies wäre nämlich, sofern man es recht versteht, sehr abwegig. Denn die allgemeinen Begriffe und die Urteilsentscheidung waren nicht zuvor in den Sinnen.“ (CR 13, 144, übers. v. Salatowsky [2006], 119) – „Nec turbemur vulgari dicto: Nihil est in intellectu, quin prius fuerit in sensu. Id enim nisi dextre intelligeretur, valde absurdum esset. Nam universales noticiae et diiudicatio non prius fuerunt in sensu.“ 35 Stiening (1999), 775. Melanchthon zufolge sind die notitiae naturales/innatae dem göttlichen Geist entnommen und dem Menschen von Gott eingeprägt: „Impressit igitur homini noticias certas, veras, immutabiles, sumptas ex sua mente aeterna“ (CR 11, 639). Die ciceronische notitia insita wird also umgedeutet und erhält als von Gott eingeschriebene eine transzendente Dimension. Eine ganz ähnliche theologisierende Umdeutung nimmt Melanchthon mit Ciceros Beschreibung der notitiae als „Funken“ (scintillae) vor: Der Funken-Charakter der notitiae erscheint bei Melanchthon nunmehr als Ausdruck des eingeschränkten Erkenntnisvermögens des Menschen infolge des Sündenfalls: „Esset autem haec lux in nobis multo clarior, si natura hominum non languefacta esset, sed tamen adhuc reliquae sunt scintillae tantae, ut, de numeris nulla est dubitatio.“ (CR 13, 138, Hervorh. A. K.). Vgl. Salatowsky (2006), 119 f. 36 Stiening (1999), 775. 37 Ebd. 38 Gleich zu Beginn des Vorworts von De veritate stellt Herbert in diesem Sinne fest, dass es ihm um die Wahrheiten der Vernunft, nicht des Glaubens gehe: „veritates Intellectus, non Fidei“ (DV, o. S., „Lectori ingenuo“). Dementsprechend diskutierten Herberts Zeitgenossen De veritate in erster Linie als einen Beitrag zur Erkenntnistheorie – und nicht als „manifesto for natural religion that it later became“ (Serjeantson [2001], 229).

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besteht, Herbert zufolge, nun in der conformitas, der Gleichförmigkeit oder Übereinstimmung, also einer Beziehung, zwischen einem Objekt und dem ihm korrespondierenden Vermögen unter richtigen Bedingungen.³⁹ Das Objekt aktiviert das Vermögen und das Vermögen ist auf das Objekt hin ‚ansprechbar‘ und daher zu seiner Erfassung disponiert.⁴⁰ Diese Redeweise suggeriert allerdings eine zeitliche und kausale Abfolge, wohingegen Herbert die Beziehung zwischen Vermögen und Objekt als eine expressis verbis wechselseitige denkt, wobei beide Aktivitäten im selben Moment auftreten, so dass eine Differenz zwischen ihnen nicht wahrnehmbar ist.⁴¹ Warum ist das Vermögen aber überhaupt ‚ansprechbar‘ für die Objekte und warum können sich wiederum Vermögen auf Objekte erkennend beziehen? Was ermöglicht also die „Übereinstimmung“ (conformitas) von Objekt und Vermögen? Es sind die notitiae communes, welche die Bestimmtheit der Beziehung zwischen Objekt und Vermögen herstellen und die weder auf das subjektive Vermögen noch auf die (äußeren) Objekte reduzierbar sind, sondern deren Erkenntnisgrund und so die Bedingung der Möglichkeit der conformitas beider darstellen. Das Vermögen erkennt dann wahrheitsgemäß, wenn es das innere Prinzip oder, wie Herbert sagt, die innere Analogie der Dinge, d. h. die notitia, auf die sich die Dinge beziehen und aufgrund derer sie einander ähnlich sind, erkennt. Das Vermögen des Subjekts kann dies wiederum leisten, weil es selbst mittels des natürlichen Instinkts von dieser notitia ein

39 „Wir erkennen, dass jedes Vermögen mit seinem passenden Objekt unter gewissen Bedingungen in Konformität gebracht werden kann.“ – „[…] omnem facultatem cum objecto suo proprio conformari posse, sub quibusdam conditionibus deprehendimus; […].“ (DV, 4). Noch klarer bringt Herbert seine Wahrheitslehre in der folgenden Passage auf den Punkt: „Unsere gesamte Lehre von der Wahrheit wird also verkürzt auf die richtige Übereinstimmung der Vermögen, die in ihrer Vielfältigkeit jeder einzelne in sich selbst (entsprechend der Verschiedenheiten der Objekte) erfahren wird. Was auch immer indessen wahr ist, wird bereitwillig geglaubt (auf harmonische Weise antworten nämlich Objekte auf die Vermögen und umgekehrt).“ – „Universa igitur Veritatis nostrae doctrina, ad probam facultatum conformationem reducitur, quas varias in se ipso (juxta objectorum differentias) unusquisque comperiet. Quodcunque interea verum est, lubenter creditur (Harmonice enim objecta facultatibus, et vice versa respondent)“ (DV, 6). Zur Konformität und damit zur Wahrheit als Relation schreibt Herbert: „Es ist also – gemäß unserer Lehre – die gesamte Wahrheit Übereinstimmung. Weil aber jede Übereinstimmung eine Beziehung ist, werden alle Wahrheiten Beziehungen sein.“ – „Est igitur omnis veritas nostra, conformitas. Cum autem omnis conformitas sit relatio; veritates quaecunque erunt relationes […]“ (DV, 13). 40 Herbert benutzt zur Bezeichnung dieses Verhältnisses oft das Verb respondere, siehe z. B. DV, 6 (oben zitiert in Anm. 39). 41 „Du kannst eine doppelte und zwar wechselseitige Bewegung bei den Dingen beobachten. Die Objekte sind nämlich uns gegenüber aktiv und auch wir sind gegenüber den Objekten aktiv [dies könnte geradezu als ‚Motto‘ der Allelopoiese fungieren, A.K.]; diese [sc. Bewegungen] werden dennoch in ein und demselben Moment so ausgeführt, dass ein Unterschied zwischen ihnen sozusagen überhaupt nicht wahrnehmbar ist.“ – „[…] duplicem, eamque mutuam actionem in rebus observare potes. Objecta enim agunt in nos; Nos etiam agimus in objecta; quae tamen ita uno eodemque temporis momento perficiuntur, ut quasi omnino insensilis sit differentia.“ (DV, 68). In diesem Sinne spricht Herbert auch davon, dass Erkenntnis „in der Mitte“ zwischen Vermögen und Objekt stattfinde, siehe DV, 73.

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unmittelbares Vorwissen hat.⁴² Die notitiae communes besetzen demnach in Herberts erkenntnistheoretischem Modell die Funktionsstelle der Platonischen Idee.⁴³ Ciceros gleichsetzende Übersetzung von εἶδος und ἔννοια als notio insita hatte das Theorem für diese platonisierende Lesart geöffnet, die von Herbert aktiviert wird. Zugleich erfährt der Ideen-Begriff eine Umdeutung, indem Herbert die notitiae communes als Gehalte des natürlichen Instinkts fasst. Damit ist die zentrale Rolle, die der instinctus naturalis in Herberts erkenntnistheoretischem Modell spielt, schon angedeutet, denn er ist dasjenige subjektive Vermögen, das die Allgemeinbegriffe für uns zugänglich macht.⁴⁴ Im instinctus sind Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt noch nicht in die epistemologische Differenz auseinander getreten: der Instinkt kennt seine Gegenstände, also die notitiae, unmittelbar.⁴⁵ Der instinctus bildet daher mittels der notitiae den Grund aller anderen Vermögen-Objekt-Beziehungen und der zu vollziehenden conformitas zwischen subjektivem Vermögen und äußerem Objekt. Anders gesagt: Dank der notitiae stellt der instinctus ein unmittelbares, instinktives, implizites Vorwissen dar; er „durchdringt und

42 Dieser Sachverhalt der Bezogenheit von res und facultas auf die notitia als Möglichkeitsbedingung für conformitas zwischen res und facultas wird deutlich, wenn Herbert etwa die inneren Sinne folgendermaßen definiert: „Die inneren Sinne sind Aktionen der Übereinstimmung von Objekten mit jenen Vermögen, die in jedem gesunden und vernünftigen Menschen existieren und die sich, vom natürlichen Instinkt ausgehend, im Rahmen jener inneren Analogie der Dinge, die sich auf das Gute, Schlechte, Angenehme, Unangenehme usw. bezieht, auf eine besondere, sekundäre Weise und nach den Maßgaben des natürlichen Instinkts bewegen.“ – „Sensus Interni sunt actus conformitatum objectorum cum facultatibus illis in omni homine sano et integro existentibus; quae ab instinctu naturali expositae, circa Analogiam illam rerum internam quae bonum, malum, gratum et ingratum, etc. spectat, particulariter, secundario, et ratione instinctus naturalis versantur.“ (DV, 66). 43 Dem Verfasser ist durchaus bewusst, dass dies eine simplifizierende Aussage ist, die den gesamten Bereich scholastischer Debatten um universalia ante rem und analogia entis ausblendet. Es geht an dieser Stelle allerdings nur um die Feststellung, dass Herbert das notitia-Theorem um ein Motiv, um nicht zu sagen: eine Dimension erweitert, die diesem zuvor nicht (oder: nur latent via Cicero) gegeben war. 44 Dies meint Herberts Definition des natürlichen Instinkts als „jenes Vermögen, das die Allgemeinbegriffe gleichformt“ („de Instinctu Naturali, sive facultate illa quacunque, quae Communes Notitias conformat“ [DV, 38]). Es ist jenes Vermögen, das für die Allgemeinbegriffe ‚ansprechbar‘ ist. Daraus folgt, dass es auch das „spezifische Vermögen für die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe“ (Stroppel [2000], 110) ist. Damit ist auch gesagt, dass die notitiae communes nicht im natürlichen Instinkt enthalten sind; sie sind dort nur für uns, d. h. aus der Perspektive des subjektiven Vermögens des natürlichen Instinkts. An sich sind die notitiae das, was sie sind, unabhängig von unserem subjektiven Vermögen und trans-subjektiv. 45 Außer dem Instinkt sind deshalb auch alle Vermögen irrtumsanfällig, weil sie keine unmittelbare Kenntnis von der Wahrheit ihrer Gegenstände haben, sondern nur mittelbare, d. h. mittels ihrer Bezogenheit auf äußere Objekte (sozusagen auf Umwegen), die nicht die notitiae sind, sondern diese in ihrer (d. i. der äußeren Objekte) analogen Struktur ausdrücken.

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durchleuchtet“⁴⁶ die anderen Vermögen und leistet ihre Rückbindung an die Allgemeinbegriffe, so dass sie sachgemäß funktionieren, d. h. eine conformitas-Beziehung zu einem passenden Objekt herstellen können. Das Funktionieren der anderen Vermögen gründet also auf den Allgemeinbegriffen des natürlichen Instinkts: Es gäbe kein Hören und Sehen (sensus externus), kein Hoffen und Begehren (sensus internus) ohne die notitiae von „Was – Wie – Wieviel“ des Hörens, Sehens, Hoffens und Begehrens⁴⁷. Mit anderen Worten: wir würden gar nichts wahrnehmen, wenn unsere äußere und innere Wahrnehmung nicht schon vorstrukturiert wäre durch den Bezug auf die notitiae communes. Somit ist es für Herbert offensichtlich, dass die Allgemeinbegriffe nicht so sehr die Ergebnisse von Erfahrung (experimenta) als vielmehr die Grundlage für Erfahrung sind:⁴⁸ Schluss also mit diesen Lehren, die besagen, dass unser Geist eine leere Tafel (tabula rasa sive abrasa) sei, als ob wir von den Objekten hätten, wie wir mit ihnen umgehen können [wörtlich: wie wir in jenen wiederum wirken können]. Der Geist wird zurecht als geschlossenes Buch (liber clausus) bezeichnet, insofern er selbst nicht für Objekte offensteht [wörtlich: sich nicht zu den Objekten hin entfaltet], – zu Unrecht aber als eine leere Tafel.⁴⁹

Herbert appropriiert also das Theorem der Vorbegriffe in seiner nicht-sensualistischen, ciceronischen Form und macht es zum zentralen Theorem einer rationalistischen, vermögenstheoretisch gegründeten Epistemologie.⁵⁰

46 „Omnia enim permeat et lustrat Facultas ista, Providentiae Divinae universalis instrumentum proximum.“ (DV, 65). 47 Siehe DV, 54. 48 Siehe ebd. 49 „Apage igitur istos qui Mentem nostram, tabulam rasam, sive abrasam esse praedicant; quasi ab objectis haberemus, ut in illa denuo agere possimus. Liber igitur ut sit clausus, sese nonnisi ad objecta explicans, […] tabula rasa non sine injuria dicitur.“ (DV, 54). 50 An dieser Stelle muss hinzugefügt werden, dass der Verstand (ratio; bei Herbert: discursus) in Herberts Hierarchie der Vermögen klar unter dem natürlichen Instinkt steht und als von diesem abhängig gedacht wird: „Der natürliche Instinkt ist das erste der Vermögen im Menschen und im Universum; der Verstand möge das letzte der Vermögen sein, während alle Sinne – innere wie äußere – zwischen diesen beiden liegen.“ – „Instinctus naturalis prima in homine, et in universo; Discursus ultima sit Facultatum, totis sensibus sive internis sive externis intercedentibus.“ (DV, 58). Das verstandesmäßige schrittweise Durchdenken eines Sachverhaltes läuft nämlich stets Gefahr, zu falschen Urteilen zu kommen, wenn es nicht an die Allgemeinbegriffe des Instinkts rückgebunden wird. Im schlimmsten Fall kommt der Mensch durch den voreiligen und unbedachten Gebrauch des Verstandes („quod discursui praecipiti et temerariae illi credulitati tribuimus“ [DV, 54]) zu Schlussfolgerungen, die im genauen Gegensatz zu den Allgemeinbegriffen stehen. So werde der Glauben an die „Wahrheiten der Natur“ (veritates naturae) selbst zerstört und durch bloße „Erdichtungen“ (figmenta) ersetzt (DV, 55). Bei Herbert erfüllt der instinctus naturalis zwei Funktionen: zum einen ist er das Vermögen, das unmittelbar-präreflexiv weiß; zum anderen ist er aber auch dasjenige Vermögen, das die unmittelbar-transreflexive Einsicht in seine Gegenstände, d. h. die Allgemeinbegriffe, leistet – also die Explikation des vorher nur Impliziten als Endpunkt des Erkenntnisprozesses. Letzteres ist aber traditionell die Leistung des intellectus/νοῦς.

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Auch den innatistischen Aspekt der ciceronischen Form des Theorems appropriiert Herbert. Die Metaphorik des Einflößens, Einpflanzens und Einschreibens durch die Natur findet sich bei ihm allerorten, wenn er den Ursprung der notitiae beschreiben will.⁵¹ Darüber hinaus heißt es, dass die Allgemeinbegriffe der „universalen Weisheit entnommen“,⁵² „von Gott ausgehen und in uns eingeschrieben“⁵³ seien. Durch sie werde unser Geist, als ob er vom Himmel „getränkt/benetzt“ (coelitus imbuta) worden wäre, in die Lage versetzt, Urteile über die Objekte in diesem theatrum mundi zu fällen.⁵⁴ Wenn die notitiae von allen verwirrenden Hinzufügungen befreit und systematisch geordnet worden sind, werden sie hervorleuchten als ein Abbild göttlicher Weisheit,⁵⁵ denn mit den notitiae communes hat Gott dem Menschen einen Teil seiner Weisheit zugeteilt⁵⁶. Herbert will also – mit Melanchthon und der sich auf ihn beziehenden protestantischen Theologie und Philosophie – den transzendenten Bezug bei der Erklärung des menschlichen Erkenntnisvermögens sichern und deutet die ciceronische Form des Theorems dementsprechend um. Zugleich blendet er die empiristischnaturalistischen Konnotationen aus, die das Theorem mit einer Form der Erkenntnis verbanden, die rein weltimmanent gegründet und erklärbar war. So wird die von Cicero entlehnte Redeweise des „Eingepflanztseins der notitiae durch die Natur“ gegen immanentistische Deutungen immunisiert, indem Herbert schon im „Begriffsregister“ (Elenchus verborum) des Vorworts eine entscheidende Weichenstellung in Bezug auf den Naturbegriff vornimmt: „Natur, d. i. die göttliche universale Providenz“⁵⁷. Die

Beides fällt bei Herbert unter dem Aspekt des Unmittelbar-‚Instinktiven‘ zusammen. Dies zeigt sich auch im auffallenden Fehlen des Vermögens der Vernunft (intellectus) in Herberts Fakultätenlehre. Unter Herberts Wahrheitstypen erscheint zwar der Gehalt des intellectus, d. i. die veritas intellectus (die wiederum in den notitiae communes besteht), aber das noetische Vermögen wird als instinctus naturalis, nicht selbst als intellectus begriffen. 51 Z. B. „Notitiae quaedam Communes nobis inditae“ (DV, 28); „in nobis a natura […] insitae“ (DV, 54); „Sunt igitur Notitiae Communes principia illa, contra quae disputare nefas; sive ea pars scientiae, quam ex sua prima intentione nos imbutos voluit Natura“ (DV, 42 f.). 52 „[…] ab ipsa Universali Sapientia depromptae, in foro interiore ex dictamine Naturae describuntur“ (DV, 29). Auf ganz ähnliche Weise wird der natürliche Instinkt als „jene ewige Weisheit, die in uns eingeschrieben worden ist“, bezeichnet: „Instinctum …Naturalem, sive sapientiam illam aeternam in nobis descriptam“ (DV, 66). 53 Mit Bezug auf die fünf Allgemeinbegriffe der Religion: „a Deo profectas et in nobis descriptas Notitias Communes“ (DV, 221). 54 „Sunt autem veritates istae, Notitiae quaedam Communes in omni homine sano et integro existentes, quibus tanquam coelitus imbuta mens nostra de objectis hoc in theatro prodeuntibus decernit“ (DV, 27). 55 „Quae si ab impuro opinionum coetu vindicatae, in methodum denique et ordinem componantur, specimen aliquod sapientiae divinae in illis elucescere non semel monuimus“ (DV, 43). 56 „Sapientiae suae Divinae …partem nobis impertiisse credatur Deus Opt. Max.“ (DV, 48). 57 „Natura heic est Providentia divina universalis“ (DV, o. S., „Lectori ingenuo [Elenchus verborum]“).

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notitiae communes fungieren als „Mittel der göttlichen Vorsehung“⁵⁸, d. h. sie sorgen dafür, dass der Mensch dem göttlichen Heilsplan folgen kann – nicht zuletzt indem er instinktiv nach der ewigen Glückseligkeit auch jenseits seines irdischen Lebens strebt⁵⁹. In entscheidender Hinsicht deutet Herbert aber Melanchthons „theologisierte“ Version des Theorems um. In theologischer Hinsicht hatte Melanchthon die notitiae naturales ganz dem Bereich der theologia naturalis zugeordnet, also jener Form der Gotteserkenntnis, die allen Menschen – auch außerhalb der Kirche und ihrer Offenbarungstheologie – möglich ist.⁶⁰ Für Melanchthon und die protestantische Tradition war diese Form der Gotteserkenntnis aber heilsinsuffizient und in keiner Weise hinreichend zur Beschreibung der wahren christlichen Religion.⁶¹ Zu dieser ‚natürlichen‘ Form der Gotteserkenntnis muss als der sie übersteigende Abschluss die theologia revelata, die in den Heiligen Schriften offenbarte Wahrheit, treten.⁶² Diesen Schritt vollzieht Herbert nicht mehr: Die fünf „Allgemeinbegriffe der Religion“ (notitiae communes circa religionem), die er in De veritate entwickelt,⁶³ bedürfen nicht mehr der Ergänzung bzw. Überbietung durch eine geoffenbarte Glaubenswahrheit.⁶⁴ An die-

58 „[Deus Opt. Max.], qui Notiones Communes tanquam media providentae suae divinae universalis, nullo non saeculo hominibus impertivit“ (DV, 40). 59 Das Objekt des natürlichen Instinkts ist ein zweifaches: die ewige Glückseligkeit (Beatitudo aeterna [DV, 63]) und die Tätigkeit der anderen Erkenntnisvermögen. Jeder Allgemeinbegriff, jede rechtmäßige natürliche Handlung und alle unsere Neigungen sind auf die ewige Glückseligkeit gerichtet (DV, 63). Das Streben nach ewiger Glückseligkeit wird von Herbert verstanden als Selbsterhaltungstrieb, der die Perpetuierung der Glückseligkeit über den rein physischen Rahmen hinaus anstrebt: ein natürlicher Trieb nach Überschreitung des Natürlichen (im Sinne des rein Kreatürlichen). 60 Siehe Frank (2003), 66. 61 Siehe ebd., 234. 62 Frank legt die drei Möglichkeiten dar, die sich der protestantischen Theologie und Philosophie hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von theologia naturalis und theologia revelata, von Philosophie und Theologie im Anschluss an die mehrdeutige Grundlegung durch Luther (Betonung der Autonomie und Superiorität der Theologie) und Melanchthon (unvermitteltes Nebeneinander von Philosophie und Theologie) boten: 1. Dominanz der Offenbarungswahrheit (Daniel Hoffmann); 2. Gleichgewicht bzw. Nebeneinander von theologia naturalis und revelata (Balthasar Meisner); 3. „Offenbarungsreduktionismus“. Als Beispiel für letztere Realisierungsform nennt Frank Herbert von Cherbury. Ebd., 79–87. 63 1. Es gibt ein höchstes göttliches Wesen („Esse Supremum aliquod Numen“ [DV, 210]); 2. Dieses höchste göttliche Wesen muss verehrt werden („Supremum istud Numen debere coli“ [DV, 212]); 3. Die mit Frömmigkeit verbundene Tugend wird und wurde immer als vorzüglichster Teil der Verehrung Gottes angesehen („Virtutem cum pietate conjunctam […] praecipuam partem Cultus Divini habitam esse et semper fuisse“ [DV, 215]); 4. Jedwede Laster und Vergehen müssen durch Reue gesühnt werden („[…] Vitia et scelera quaecunque expiari debere ex poenitentia“ [DV, 217]); 5. Es gibt Lohn oder Strafe nach diesem Leben („Esse praemium, vel poenam post hanc vitam“ [DV, 220]). 64 Frank (2003), 85, spricht in Bezug auf Herberts Religionsphilosophie von einer „völligen Entdramatisierung der heils- und offenbarungstheologischen Perspektive“. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass Herbert dem Sündenfall – ganz im Gegensatz zu Melanchthon – kaum

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sen fünf Vernunftprinzipien, die allen Menschen gemein und die durch den instinctus naturalis zugänglich sind, muss sich jede empirische Religion messen lassen und diejenige Religion, die am meisten diesen Prinzipien entspricht, ist die beste.⁶⁵ Die ‚fünf-notitiae-Religion‘ stellt – Herbert zufolge – die „wahre katholische oder universale Kirche“ (vera Ecclesia Catholica sive universalis)⁶⁶ dar, „die nicht schwindet und niemals schwinden wird und in der allein die universale göttliche Providenz triumphiert“⁶⁷. Diese Universalreligion sei eine kreisförmige Religion (religio rotunda), und diesem Kreis, Symbol der Perfektion und Ewigkeit, dürfe nichts entnommen und vor allem dürfe ihm nichts hinzugefügt werden, da sonst seine Reinheit verderben würde.⁶⁸ Herbert negiert allerdings nicht, dass es göttliche Offenbarung gibt und man durch sie zu Wahrheiten kommen kann⁶⁹ – zum Beispiel konnten laut Herberts posthum erschienener Autobiographie seine Zweifel hinsichtlich der Publikation von De veritate erst durch ein göttliches Zeichen ausgeräumt werden.⁷⁰ Dieser Aspekt wird aber eindeutig ausgeblendet – oder treffender: abgeblendet. Herbert zufolge genügt einen Stellenwert einräumt. Der unvorsichtige und inadäquate Gebrauch des Verstandes, die widersprüchlichen Erkenntnistheorien der verschiedenen philosophischen Schulen sowie die Irrlehren der Priester (siehe hierzu unten, Anm. 79) sind für Herbert die eigentlichen Gründe dafür, dass dem Menschen der Weg zu Wahrheit, Glück und öffentlichem Frieden verstellt ist. 65 „Communes Notitias […], quas adeo magni facimus, ut qui proxime ad earum observantiam accesserit, optimum librum, Religionem, Prophetam dixerim“ (DV, 209). 67 „[…] doctrina Notitiarum Communium, sive Ecclesia vere Catholica quae neque deficit, neque deficiet unquam, illa demum in qua sola Providentia Divina Universalis triumphat“ (Ebd., 210). 68 „Quidni igitur juxta Communis saltem Rationis normam de rotunda Dei Religione (uti alibi diximus) ac de circulo existmari possit; ut qui aliquid addiderit vel dempserit, ejus formam vitiaverit, integritatemque corruperit?“ (DV, 224 f.). 69 Schon 1966 stellte Günter Gawlick klar: „Daß das Wesen des Deismus in der Leugnung aller Offenbarung bestehe, ist eins von jenen negativen Vorurteilen, die im Laufe der Jahrhunderte in den Rang von Definitionen erhoben worden sind und den Zugang zu den Phänomenen verstellt haben. Denn für den philosophisch reflektierten Deismus ist es nicht charakteristisch, daß er die Offenbarung leugnet, und für Herbert wie für die meisten englischen Deisten trifft es schlechterdings nicht zu. Die Idee des Deismus schließt nämlich nicht die Offenbarung aus, sondern nur die Meinung, daß der Glaube an eine Offenbarung objektiv heilsnotwendig, d. h. eine von Gott geforderte Bedingung für den Eintritt in sein Reich sei. Daher trifft auch die Meinung, daß der Deist keinen persönlichen Gott, sondern nur ein abstraktes Weltprinzip anerkenne, nicht allgemein zu, insbesondere nicht für Herbert.“ (Gawlick [1966], XV). 70 Siehe die berühmte ‚Offenbarungsszene‘, in der ein „Loud though yet Gentle noise“ im wolkenlosen Himmel Herberts flehendes Bitten: „I beseech thee give me some Signe from Heaven, if not I shall suppress it [i. e. De veritate]“ beanwortet (Herbert, Life, 120 f.). In De veritate folgt auf das Kapitel „Notitiae communes circa Religionem“ (208–226) unmittelbar ein Kapitel „De Revelatione“ (226–231), in dem Herbert vier Bedingungen aufstellt, mit deren Hilfe wahre von falscher Offenbarung unterschieden werden kann. Herbert denkt Offenbarung allerdings ganz im Sinne direkt-‚persönlicher‘ Offenbarung und nicht im Sinne einer Offenbarung, die durch Tradition über- und damit vermittelt ist: „Die zweite Bedingung ist, dass dir selbst (tibi ipsi) geoffenbart wurde; was nämlich von anderen als Offenbarung angesehen wird, darf nicht schon als Offenbarung, sondern muss als Überlieferung oder

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die religio rotunda der fünf Allgemeinbegriffe, wie sie von der Natur jedem Menschen eingeschrieben worden ist, zur Erlangung ewiger Glückseligkeit.⁷¹ Herberts Umdeutung der theologisierten Form des Theorems, lässt das Modell einer Religion erstehen, die der christlichen Offenbarung nicht mehr bedarf. Ein weiteres Element des ciceronischen Theorems wird in De veritate aktiviert und in besonders ausgeprägter, ja auf geradezu emphatische Weise fokussiert und zwar der consensus omnium. Bei Cicero erschien er in De natura deorum sowohl bei Epikureern⁷² als auch bei Stoikern⁷³ als der Beweis der Wahrheit der eingepflanzten Begriffe schlechthin: „Worin […] alle von Natur aus übereinstimmen, das muss zwangsläufig wahr sein“.⁷⁴ In De veritate firmiert der universale Konsens zu den veränderten Bedingungen der herbertschen Transformation ebenso als höchstes Wahrheitskriterium:⁷⁵ Das, was universal (also überall und jederzeit) geglaubt wird, muss wahr sein, weil es mit einem Erkenntnisvermögen in Konformität gebracht worden ist⁷⁶ – d. h. weil es der Ausdruck einer notitia communis ist. Im Umgang mit der empirischen Welt erhalten wir somit einen Zugang zum normativen Wertpotential, das von Gott in Form von notitiae communes dem Menschen mitgegeben worden ist. Die herbertsche Erkenntnistheorie impliziert somit zugleich eine ethisch-praktische Dimension: Die empirisch-geschichtlichen Ausdrücke der notitiae, die wir aufgrund unserer Vermögensstruktur erkennen können, sollen den Menschen auf die notitiae zurückverweisen und so zu normativen Maßstäben für die Lebenspraxis werden.⁷⁷ Dies wird besonders deutlich in Herberts religionsgeschichtlichem Werk De reli-

Geschichte betrachtet werden (non jam revelatio, sed traditio, sive historia habenda est); und weil die Wahrheit der Geschichte oder Überlieferung vom Erzähler abhängt, liegt das Fundament des Berichts außerhalb von uns (extra nos) und ist demnach – was uns angeht – nur wahrscheinlich (verisimilis).“ (DV, 226). 71 „Neu [in Herberts Religionsphilosophie, A. K.] ist allerdings – und hierin besteht der entscheidende Schritt einer Restriktion des Gottesgedankens unter das Forum der Vernunft – die Reduktion jeglicher Offenbarungstheologie auf diesen naturhaften Gottesgedanken“ (Frank [2003], 232). 72 Cic., nat. deor., 1.44. 73 Ebd., 2.12. 74 Ebd., 1.44. 75 „Summa igitur veritatis norma, erit Consensus Universalis“ (DV, 39). 76 „[…] ea quae ex Consensu Universali fidem obtinent, et vera esse oportet, et ab aliqua Facultate interna conformari“ (DV, 38). 77 Aufgrund der aggressiven Rhetorik der mit konkurrierenden Absolutheitsansprüchen auftretenden Kirchen und philosophischen Strömungen seien die Menschen völlig verwirrt und verängstigt „wenn nicht unerschütterliche Fundamente der Wahrheit auf der Grundlage des universalen Konsenses gelegt werden, die im Falle jedweden theologischen oder philosophischen Zweifels befragt werden können“ („nisi Immota quaedam veritatis fundamenta ex Consensu Universali jaciantur, quae in dubio quocunque sive Theologico, sive Philosophico consuli possint“ [DV, 39]).

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gione gentilium⁷⁸, in dem Herbert dieses praxisbezogene Programm, das in De veritate nur angedeutet ist, entfaltet. Im Durchgang durch die Religionsgeschichte sucht Herbert dort nachzuweisen, dass alle heidnischen Kulte und Glaubensformen, insbesondere der griechisch-römischen Antike, auf den fünf Allgemeinbegriffen der Religion basierten – diese somit in der Tat universal sind.⁷⁹ Haben alle Menschen die fünf Allgemeinbegriffe der Religion erst einmal erkannt, also die theoretische Konformität zwischen Objekt und Vermögen hergestellt, ergibt sich eine praktische conformitas zwischen den einzelnen Subjekten: Die theoretische conformitas zwischen Vermögen und Objekt mündet innerweltlich in die soziale conformitas des consensus omnium. Der universale Konsens würde dann – so die mit der herbertschen Philosophie verbundene Hoffnung – die Grundlage des öffentlichen Friedens (Pax publica)⁸⁰ bilden.

78 De religione gentilium entstand vermutlich in der ersten Hälfte der 1640er Jahre, wurde aber erst 1663 posthum in Amsterdam veröffentlicht. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte siehe Gawlick (1967), XI–XVI. 79 Die Allgemeinbegriffe sind allerdings durch Aberglauben und teilweise abstoßende Kultpraktiken verdeckt worden. Analog zu den „bloßen Erfindungen“, die im Zuge diskursiven Denkens entstehen können, wenn es nicht auf Allgemeinbegriffe bezogen ist (siehe Anm. 50), erklärt Herbert schon in De veritate den Umstand, dass die empirisch in der Welt vorfindlichen Religionen von diesen fünf Prinzipien abweichen, mit den Hinzudichtungen und Verfälschungen der „tückischen und hinterlistigen Sippe“ („gens […] vafra et subdola“) der Geistlichen („Sacerdoti, Vati, Mystae, Pontifici“), die aus Gier und Eigennutz vieles unter dem Namen der Religion eingeführt haben, das nichts mit Religion, im Sinne der religio rotunda, zu tun hat („plurima sub Religionis nomine, quae Religionem minime sapiunt, invexit“). Dadurch haben sie die reine Religion verdorben, beschmutzt, ja sie zur Prostituierten gemacht (DV, 213). Dieser Gedanke bestimmt die gesamte Argumentationsführung in De religione gentilium. Siehe z. B. De religione gentilium, 2: „Ich meine, dass es unzweifelhaft ist, dass die Priester ebenso sehr Aberglauben und Götzendienst eingeführt haben, wie sie überall unter den Heiden Zank und Streit gesät haben.“ – „Sacerdotes autem non minus superstitiones Idololatriamque invexisse, quam rixas contentionesque ubique Gentium seruisse, nulli dubium esse arbitror.“ 80 Siehe die abschließenden Worte von De religione gentilium in der Übersetzung von J.A. Butler (1996): „The Five Articles which I have extracted from pagan religion and laws ought to provide the best means for attaining a better life. The mistakes of the pagans, which sowed dissension and which consisted of myths and fictions invented by the priests, must be rejected. And as I come at last to the end of this volume, I condemn all those who oppose the implementation of Universal Peace and Divine Providence, and I submit myself to the censure or judgment of the Catholic and Orthodox Church.“ (352) – „Quinque Articulos nostros ex Religionibus legibusque Gentilium elicitos, tanquam optima ad meliorem vitam comparandam, haberi media debere. Errorum denique et rixarum causas in fabulas et figmenta quaedam, quibus fidem adhiberi suadent Sacerdotes, et in Rituum Gentilium ineptias, quae ex eadem officina prodierunt, rejici oportere. Ut tandem finem primi hujus Voluminis faciam, Censuram hanc nostram censurae et judicio Catholicae et Orthodoxae Ecclesiae, non utique impetuosorum illorum Providentiae Divinae Universalis Pacisque publicae hostium, submitto.“ (Herbert, De religione gentilium, 231).

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3 Schluss Wie Herbert zu Beginn von De veritate klarstellte, sei es nicht Sinn und Zweck dieser Schrift, Kontroversen zu entfachen, sondern sie zu lösen, wenn nicht gar zu beseitigen.⁸¹ Die Kontroversen seiner Zeit sieht Herbert in erster Linie darin begründet, dass es mannigfaltige konkurrierende und zudem falsche Vorstellungen davon gibt, was Wahrheit ist und wie sie zu erreichen ist – und zwar sowohl auf erkenntnistheoretischem als auch auf religiösem bzw. religionsphilosophischem Gebiet. Beides, Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie, gehören – über den Wahrheitsbegriff und den damit verbundenen Wahrheitsansprüchen – für Herbert untrennbar zusammen und auf beiden Gebieten sucht er eine Alternative zu den vorhandenen, Streit säenden Gegensatzpaaren von Rationalismus–Empirismus, ErkenntnisoptimismusSkeptizismus, Vernunft-Glauben, Protestantismus-Katholizismus. Diese Alternative gründet auf seiner Lehre von den notitiae communes, die das Ergebnis einer komplexen Transformation darstellt – deren Tragweite erst in ihrer allelopoietischen Struktur zum Vorschein kommt: Herbert schließt zum einen explizit an den antiken Referenzbereich an, wodurch auf systematischer Ebene Kontinuität erzeugt wird und auf textueller Ebene erzeugt werden soll, denn sicherlich handelt es sich dabei auch um eine Strategie, das eigene Werk mit dem autoritativen Nimbus der ‚Alten‘ auszustatten: „Communes Notitiae (veteribus κοῖναι ἔννοιαι)“. Zum anderen kombiniert Herbert erkennbar Versatzstücke der antiken und post-antiken Tradition dieses Theorems zu seinen theoretischen Prämissen und übergreifenden religionspolitischen Zielen und schafft im Zuge dessen ein notitia-Theorem sui generis. Aus der Kombination der Merkmale emergiert etwas Neues, das nicht unmittelbar aus den einzelnen Merkmalen ableitbar ist: die Idee einer heilssuffizienten ‚natürlichen‘ Religion.

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81 DV, o. S., „Lectori ingenuo“: „cum non ad controversias excitandas, sed solvendas, vel saltem eliminandas editus sit liber hic, quod te scire volui Lector“.

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Cicero, M. Tullius, Topica, lateinisch-englisch, hg., übers. und komm. v. Tobias Reinhardt, Oxford 2003. Cicero, M. Tullius, Tusculanae Disputationes/Gespräche in Tusculum, lateinisch-deutsch, hg., übers. u. erl. v. Olof Gigon, München/Zürich 1992. Herbert, Edward, De veritate, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Herbert, Edward, De religione gentilium errorumque apud eos causis, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967. Herbert, Edward, Pagan Religion. A Translation of De religione gentilium, ed. and transl. by John Anthony Butler, Ottawa 1996. Herbert, Edward, The Life of Edward, First Lord Herbert of Cherbury Written by Himself, ed. by Jack M. Shuttleworth, London 1976. Long, Anthony A./Sedley, David N., (eds.), The Hellenistic Philosophers, vol. 1: Translations of the Principal Sources with Philosophical Commentary, Cambridge 1987a. Long, Anthony A./Sedley, David N., (eds.), The Hellenistic Philosophers, vol. 2: Greek and Latin Texts with Notes and Bibliography, Cambridge 1987b. Long, Anthony A./Sedley, David N., (Hg.), Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, übers. v. Karlheinz Hülser, Stuttgart/Weimar 2000. Lukrez, Von der Natur, lateinisch-deutsch, hg. u. übers. v. Hermann Diels, eingel. u. mit Anm. vers. v. Günther Schmidt, München/Zürich 1993. Melanchthon, Philipp, „De iure possidendi“, in: Philipp Melanchthon, Opera quae supersunt omnia, in: Corpus Reformatorum, Bd. 11, hg. v. Karl Gottlieb Bretschneider, Halle 1843, Sp. 636–641, Reprint New York 1963. Melanchthon, Philipp, „Liber de anima“, in: Philipp Melanchthon, Opera quae supersunt omnia, in: Corpus Reformatorum, hg. v. Karl Gottlieb Bretschneider, Bd. 13, Halle 1843, Sp. 5–178, Reprint New York 1963. Platon, „Menon“, in: ders., Werke in acht Bänden, griechisch-deutsch, Bd. 2, hg. v. Gunther Eigler mit der Übers. v. Friedrich Schleiermacher, 6. unveränd. Aufl. Darmstadt 2011. Platon, „Theaitetos“, in: ders., Werke in acht Bänden griechisch-deutsch, Bd. 6., hg. v. Gunther Eigler mit der Übers. v. Friedrich Schleiermacher, 6. unveränd. Aufl. Darmstadt 2011. Seneca, Lucius Annaeus. Epistulae morales ad Lucilium / Briefe an Lucilius, lateinisch-deutsch, Bd. II, hg. v. Rainer Nickel. Berlin 2011.

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Anne Eusterschulte

Erkenntnis- und Religionskritik bei Herbert von Cherbury „Solam unius Dei adorationem Communis Notitia sive Consensus Universalis docet […].“¹

Die folgenden Überlegungen verstehen sich als Versuch, die Erschließungsfunktionen des Allelopoiesis-Konzeptes in Hinsicht auf die Modi einer transformativen Aneignung und produktiven Neukonstitution antiker Denkansätze an einem Fallbeispiel zur Diskussion zu stellen. Wie der Beitrag von Alexander Klaudies zeigt, rekurriert Lord Herbert von Cherbury (1583–1648) gezielt auf antike Voraussetzungen, um in epistemologischer Perspektivierung die natürliche Vernunftfähigkeit des Menschen als Instanz auszuweisen, die in Zugriff auf allgemeine Begriffe (notitiae communes) über universale Erkenntnisprinzipien verfügt. Damit wird eine wechselseitige Veränderung theoretischer Konzeptualisierungen zwischen dem „Aufnahmebereich“, der Philosophie des englischen Gelehrten, und einem „Referenzbereich“, den antiken Gewährsquellen, rekonstruierbar, die sich als allelopoietische Transformation beschreiben lässt, d. h. als Dynamik, die auf einer reziproken Interaktion und konstitutiven Modifikation von Begründungsansätzen basiert. Erweitert man den begriffs- und problemgeschichtlichen Fokus universaler Wahrheitsbedingungen auf die religions- bzw. moralphilosophische Problematisierung des notitiae communes-Konzeptes, dann ist damit eine mögliche Antwort auf die Frage gegeben, in welcher Absicht Herbert von Cherbury auf antike Voraussetzungen zurückgreift. Halten wir zunächst fest, dass die freigelegte Transformationskette antiker Philosopheme bzw. deren Verflechtung in den Schriften Ciceros die allelopoietisch bestimmbare Entwicklung eines epistemologischen Konzepts und dessen Ausformung bei Herbert von Cherbury überhaupt erst erkennbar werden lässt. Der Autor von De veritate weist nicht aus, auf welche philosophischen Voraussetzungen er sich beruft, wenn er notitiae communes als die allen Menschen von Natur eingeflößten Gemeinbegriffe einführt, gegen die sich das Disputieren verbiete („principia illa, contra quae disputare nefas, sive ea pars scientiae, qua ex sua prima intentione nos imbuit Natura“).² Auch benennt Herbert von Cherbury nicht, welche antiken Denker („veteres“) er her-

1 Herbert, De veritate, (im Folgenden: DV) 212: „Allein die Anbetung des einen Gottes lehrt der Allgemeine Begriff oder der Universale Konsens.“ (übers. v. A. E.) Passus aus den Notitae Communes circa Religionem (DV, 208 ff.), den unmittelbar aus den Allgemeinbegriffen abgeleiteten fünf Glaubensgrundsätzen. 2 DV, 3. So weist bereits diese Rede von einer Einflößung durch die Natur, das heißt der Rekurs auf die durch Cicero vermittelte und transformierte stoische Naturrechtslehre, eine brisante Parallele zu einer Formulierung in Jean Bodins Colloquium heptaplomeres auf, einem literarisch inszenierten Gespräch DOI 10.1515/9783110499261-011

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anzieht, um einen universalen Wahrheitsbegriff auf allgemeine Begriffe zu gründen, mag auch für die gelehrten zeitgenössischen Leser/innen angesichts der immer wieder aufgerufenen lateinischen Zentralbegriffe (consensus universalis, providentia divina universalis) erkennbar gewesen sein, dass es sich hier um einen spezifischen Rekurs auf die stoische Philosophie handelt, insbesondere die Naturrechtslehre³ und vermittelt über diese auf Konzeptualisierungen einer natürlichen Religion der Vernunft.⁴ Herbert von Cherbury geht von einem allgemeinen, allen Menschen kraft der göttlichen Vorsehung verliehenen prärationalen Instinkt (instinctus naturalis) aus, über

über Religionsauffassungen zwischen Repräsentanten der katholischen, calvinistischen, lutheranischen, jüdischen und islamischen Religion sowie zwei Stimmen paganer Religionsauffassung, einem Repräsentanten der antiken Skepsis und der stoischen natürlichen Religion. Eben dieser stoische Gesprächsteilnehmer greift die Vorstellung von der Einflößung einer natürlichen, heilssuffizienten Religion auf, um rituelle wie institutionelle Religionspraktiken in Frage zu stellen: „Nec aliam religionem habuisse videmus antiquissimos humani generis principes ac parentes, qui aurei seculi memoriam posteritati relinquerunt, non docti, sed facti, non instituti sed imbuti ab ipsa natura, a qua pietatis, religionis, integritatis ac virtutum omnium rivulos hauserunt et expresserunt…“ (Bodin, Colloquium, 172; Hervorh. A. E.) Sofern den ältesten Fürsten beziehungsweise Eltern des menschlichen Geschlechtes nicht durch Institutionen sondern durch die Natur selbst eine naturalis religio beziehungsweise lex naturalis eingeflößt ist, wird eine vor allen kultischen beziehungsweise kulturhistorischen Entstellungen anzusetzende ursprüngliche Religiosität exponiert, gleichsam der Quellgrund von Religiosität, Frömmigkeit, vor allem aber Moralität beziehungsweise moralischer Urteilsfähigkeit im Sinne der Einsicht in die Gesetze der Vorsehung. Und in eben diesem Sinne kann Herbert von Cherbury an anderer Stelle formulieren: „Communes Notitiae (veteribus κοῖναι ἔννοιαι) fuerunt principia illa sacrosancta contra quae disputare nefas“; DV 47; das heißt geradezu heilige, unantastbare Prinzipien einer natürlichen, vor-institutionellen Religion. 3 In De veritate weist Herbert von Cherbury auf ein unmittelbar gegenwärtiges Gesetz („Insuper Lex est Notitia Communis“; DV, 43), das Maßstab aller Gesetzgebungen sein muss. 4 Etwa wenn sich Herbert von Cherbury, so in De religione gentilium, 186 (im Folgenden: RG), auf die Instanz der recta ratio, die natürliche Vernunft, beruft, die von einigen der ‚Alten‘ mit dem Geist gleichgesetzt worden sei („Mens, quae haud aliud veteribus quam recta ratio fuit“), um zu begründen, dass die fünf Prinzipien der natürlichen Religion „ex mente sive recta ratio“ abgeleitet sind. Im Unterschied zu De veritate führt Herbert von Cherbury in De religione gentilium eine Fülle von antiken, insbesondere römischen beziehungsweise christlich-spätantiken Quellen an (Livius, Varro, Laktanz, Augustin), um die ethische Dimension dieser Vernunft (mens bona; vgl. Seneca, Ep. Mor 16,1) als natürlichen Keimgrund der Tugendfähigkeit zu belegen. Cicero wird hier wiederholt aufgerufen. Die Schrift RG, die parallel zur dritten Auflage von DV entstanden ist, stützt sich vor allem auf die breite Aufarbeitung antiker Quellenbestände des calvinistischen Philologen Johann Gerhard Vossius (De theologia gentili et physiologia Christiana sive de Origine ac Progressu Idolatriae 1641), einem Freund von Hugo Grotius, der mit seiner für Herbert von Cherbury anstoßgebenden Schrift De veritate religionis christianae (1622) eine Grundlegung von Moralität und Religion in einer natürlichen Vernunft postuliert, allerdings am Primat des Christentums festhält. Auch Grotius beruft sich auf einer natürliche Vernunftreligion beziehungsweise die recta ratio; aus ihr begründet sich die Kongruenz aller religiösen Konfessionsbildungen paganer wie christlicher Provenienz („…congruere rectae rationi; puta Deum esse, & quidem unicum, perfectissimum, immensae virtutis, vitae, sapientiae, bonitatis…“; Grotius, De veritate Religionis Christianae, 168) beziehungsweise sie ist der Prüfstein der Abweichung von einer allgemeinen Vernunftreligion. Mit beiden Gelehrten stand Herbert von Cherbury in Kontakt.

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den allgemeine Wahrheitsprinzipien allen zugänglich sind. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit philosophischer wie theologischer oder moralisch-praktischer Lehrmeinungen über die Wahrheit, die sich interkulturell wie interreligiös darbietet, wird dem englischen Gelehrten geradezu zum Beleg einer im historischen Prozess durch doktrinäre Rationalisierungen und Kanonisierungen, Schulbildungen und Dogmatisierungen verstellten universalen Konsenstheorie der Wahrheit – bis hin zur harschen Verurteilung von Priesterbetrug, philosophischer Indoktrination und poetischer Fiktionalisierung.⁵ Seine Kritik trifft ebenso die zeitgenössischen Repräsentanten fideistischer wie skeptischer Positionen,⁶ die im Zuge des Wiederauflebens der Lehren der antiken Skepsis in die Religionsstreitigkeiten eingreifen. Während die Religionsskeptiker den Anhängern der jeweils anderen Konfession vorwerfen können, über kein belastbares Wahrheitskriterium zu verfügen, um den Anspruch der Rechtgläubigkeit überhaupt geltend machen zu können, entziehen die Fideisten der Wahrheitsfrage den Boden, indem sie eine rationale Beweisbarkeit grundsätzlich in Zweifel ziehen und allein auf den Glauben setzen. „Fideism could not resolve the overall ‚sceptical crisis‘ that was the dominant fact of intellectual affairs in the seventeenth century. A ‚quest for certainty‘ to resolve this crises underlies much of the philosophical activity of the period.“⁷ Im Kontext dieses Streites um die Wahrheitsfrage, die nicht nur religiöse, sondern – und darauf kommt es hier an – sittlich-praktische, d. h. moralphilosophische wie politische Konsequenzen hat, entwickelt Herbert von Cherbury einen sowohl kulturhistorisch fundierten wie systematisch begründenden Ansatz. Sofern die Analyse der Überlieferungen und Traditionen zeigt, dass die historische Entwicklung den natürlichen, konsensuell allen zugänglichen Wahrheitsbegriff in streitbare Lehren zersetzt hat, während dessen ungeachtet jedoch allen Kulturen, Religionen, Sprachen, Kirchen wie moralischen Institutionen die Wahrheitssuche als gemeinsame Triebfeder zugrunde liegt, ist die Auseinandersetzung mit diesen Kontroversen ein Weg, die

5 Wiederholt weist Herbert von Cherbury in kultur- und religionshistorischer Perspektive darauf hin, dass es die Priesterkaste gewesen ist, die in unterschiedlichen Kulturen durch die Einführung von fingierten Unter- und Nebengottheiten, entsprechenden Kulthandlungen und Zeremonialordnungen sowie durch religiöse Vorschriften beziehungsweise Institutionalisierungen ihre eigene Machposition befestigt habe, damit aber das gefügig gemachte Volk der Gläubigen, nunmehr zersplittert in Religionsgemeinschaften, von der Erkenntnis einer allen Menschen gemeinsamen natürlichen, eben aus den notitiae communes unmittelbar einsehbaren Vernunftreligion listig abgeführt habe (vgl. RG, cap. XIV). Aber auch philosophische Lehrmeinungen und nicht zuletzt die Fabulierkünste der Poeten (vgl. RG, 210) haben aus dieser Sicht die Ausbreitung von Aberglauben, Polytheismus, Idolatrie und Glaubensstreitigkeiten evoziert und so eine Abkehr von der wahren Religion forciert, das heißt die recta ratio, „quae vitae norma optima est“ (RG, 211) verdunkelt und so moralischen Depravation und Unfrieden gesät. Vgl. auch den Appendix ad Sacerdotes in De religione laici. Hierzu Hill (1987), 42 ff. 6 Vgl. ebd., 20f. in Rekurs auf Popkins (1968), 1,12. 7 Hill (1987), 20 f.

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unverstellte Wahrheit als dasjenige zu demonstrieren, was selbst in den Abirrungen erkennbar wird: gemeinsame, natürliche Erkenntnisprinzipien.⁸ Nun lässt sich zwar einwenden, dass bereits in der Vorrede an den Leser ein klares Votum für eine Untersuchung der Wahrheit der Vernunfterkenntnis („veritates Intellectus“) und nicht des Glaubens („Fidei“) angekündigt wird und es sich in De veritate um eine Studie zur Erkenntnistheorie handelt und nicht um eine Grundlegung natürlicher Religion.⁹ Doch gerade die dezidierte Distinktion der Vernunftwahrheit von einem Glauben, der sich aus anderen Quellen speist, d. h. auf Gnade, Schrift und Offenbarung, Christologie etc., weist darauf hin, dass es hier um eine Begründung universaler Vernunftmaßstäbe auch in Hinsicht auf die religiöse Wahrheit geht. Dass aber dieser vernunftreligiöse Ansatz, der weder die Christologie einbezieht noch eine Gnaden- oder Rechtfertigungslehre und so den heilsgeschichtlichen Rahmen christlicher Erlösungslehren suspendiert, um an dieser Stelle übereinstimmungsfähige Vernunftprinzipien zu postulieren, von den Zeitgenossen sehr wohl als Affront gegen christliche Auffassungen wahrgenommen und so auch diskutiert wurde, zeigt etwa die Tatsache, dass die Schrift, die erst mit der zweiten Auflage 1633 breitere Resonanz gefunden hat, im Jahr des Erscheinens bereits auf den katholischen Index verbotener Bücher gesetzt wurde. Angesichts der akuten Konflikte zwischen den wie innerhalb der Konfessionen, der Glaubenskriege und -spaltungen wie Sektiererbewegungen aber ebenso im Blick auf die lange Geschichte der Kollisionen von Religionsgemeinschaften ist die unmittelbare Vergegenwärtigung allgemeiner Begriffe kraft des instinctus naturalis und damit die Übereinstimmung mit einer universalen Vorsehung ein Befriedungsangebot.¹⁰ In Hinsicht auf die natürliche Fähigkeit, vermöge dieser allgemeinen Begriffe einen universalen Konsens zu aktualisieren, gesteht der Lord von Cherbury allen Religionen, auch den paganen Götterlehren oder den als Atheismus verurteilten Lehren, ein und denselben Wahrheitskern zu, handelt es sich doch um eine prä-rationale, anthropologisch kraft eines natürlichen Instinktes verbürgte Fähigkeit, universal gültige Wahrheitsprinzipien zu erkennen und – nicht weniger wichtig – mittels dieser die Geltungsansprüche von divergierenden Doktrinen überprüfbar zu machen. Erkenntnistheorie und ‚Religion‘ in den Grenzen einer natürlichen Vernunft sowie 8 „Deinde etiam Auctores evolvimus, ut quid fuerit ista Veritas, ex communi sententia, exploratum haberemus; Hunc interea librum verum Philosophiam, illum veram Theologiam, illum verae Ecclesiae doctrinam, illum verum salutis mysterium, in diversis Philosophiis, religionibus, linguis, regionibus, saeculis comperimus. Cum igitur Veritatem, tanquam commune praedicatum, omnis doctrinae scopus esse advertimus, definitiones Veritatis, undique ex auctoribus conquisivimus; sed vel nulla, vel mutilas, vel contradictorias, vel quae rem circumloquuntur, invenimus. De hinc abjectis libris, Veritates nostras (quas tanquam naturae & gratia opus commune, publici juris facimus) in ordinem digessimus.“ DV, 3. 9 So von Klaudies in Rekurs auf Serjeantson (2001), 220 unterstrichen; vgl. Anm. 41. 10 „[U]t ideò Notitiarum Communium ordo & dispositio ad pacis universae complementum imprimis facere videatur.“ DV, 43.

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Urteilsfähigkeit – die aufklärerische Dimension ist hier offenkundig – greifen direkt ineinander,¹¹ entziehen damit aber zugleich der christlichen Religion eine Vorrangstellung. „Religio est Notitia Communis; nulla enim sine Religione natio, saeculum.“¹² Über den Begriff einer Religion der Vernunft, die sich aus den notitiae communes unmittelbar ableitet, wird nicht zuletzt die universale Geltung moralischer Kategorien behauptet. Dies ist die entscheidende Bedingung und einzig mögliche Garantie von Frieden und zugleich Kritik an hiervon abweichenden konfessionellen wie kultischreligiösen Institutionen inklusive eines fehlleitenden Rationalismus schulbildender Lehrmeinungen. Folgen wir den Ausführungen von Klaudies, dann sind die systematischen Interessen, die durch die Heranziehung antiker Philosopheme für Herbert von Cherbury maßgebend werden und die Weise, wie dadurch argumentatives Potential gewonnen wird, zunächst offenkundiger und einer detaillierten, begriffsgeschichtlichen Analyse zugänglicher als die Veränderungen, die reziprok für den Referenzbereich in Anschlag gebracht werden können. Fraglos bewirkt bereits der selektive Zugriff auf antike Theoreme eine Modifikation: Indem Herbert von Cherbury die auf ungesicherten Meinungen basierenden zeitgenössischen Erkenntnistheorien zurückweist und zur Fundierung seiner Konzeptualisierung der communes notitiae in transformierender Weise Bestimmungen der κοιναὶ aus antiken Diskussionskontexten aufgreift, werden Ansätze der antiken Philosophie als kritisches Korrektiv aufgerufen. Erst über eine Rückbesinnung auf untrügliche Prinzipien von Wissen lässt sich für Herbert von Cherbury eine wahrheitsfähige Erkenntnistheorie garantieren. Diese epistemologische Herausforderung beansprucht unabhängig von konfessionsgebundenen dogmatischen Kontroversen oder autoritativen Setzungen aber ebenso gegen skeptische Infragestellungen oder erkenntnispessimistische Restriktionen universale Geltung. Sie lässt sich als ‚Transformationskette‘ rekonstruieren, anhand derer markante systematische ‚Umdeutungen‘ antiker Begriffsbildungen und Lösungsansätze verfolgbar werden. Cicero, der sich als ein zentraler Referenzautor für Herbert von Cherbury erweist, etabliert eine Bestimmung allgemeiner Begriffe

11 Es gilt daher die Kennzeichen („specimen“) der göttlichen Weisheit („sapientiae diviniae“), die notitiae communes, in Absonderung von irrtümlichen Meinungen und Beimischungen, erstrahlen zu lassen. Sie hängen für Herbert von Cherbury eng miteinander zusammen, und zwar insbesondere die göttlichen und moralischen („ex quibus que maxim. connectuntur, sunt Divinae & Morales.“) Aber auch die natürlichen Kennzeichen der göttlichen Weisheit fügen sich hier ein. („Naturales enim paulò distare videntur; sed & ipsae Naturales […] in unum cum reliquis optim. compingi possunt, ut ideò Notitiarum Communium ordo & dispositio ad pacis universae complementum imprimis facere videntur. Ista igitur ut praestetis (quantum in vobis est) hortamur, donec magnum Providentia Divinae Universalis absolvatur opus.“ DV, 43). Das Zusammenspiel und die angemessene Entfaltung der natürlichen Potentiale, angelegt in der Einsicht in allgemeine Begriffe und ihrer Abstimmung (conformitas) mit den objektiven Gegebenheiten, ist zugleich Verwirklichung der göttlichen Vorsehung und Bedingung eines allgemeinen Friedens. 12 DV, 43.

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(notitiae), die, gespeist aus der Auseinandersetzung mit stoischen und epikureischen Ansätzen, als natürliche Vernunftprinzipien definiert werden. Doch die Begründung der Erkenntnisvollzüge in Rekurs auf einen instinctus naturalis bzw. Gemeinsinn als Vergegenwärtigungsinstanz der allgemeinen Begriffe ist im Kontext der zeitgenössischen Diskussion nicht allein epistemologisch relevant sondern vielmehr praktisch von großer Brisanz. Gilt doch Herbert von Cherbury nicht nur als großer Dichter, Gelehrter und Diplomat sondern vor allem als eine zentrale Figur der deistischen Bewegung in England, die ihm von Seiten der Gegner den Rang eines zu verurteilenden, gottlosen Betrügers (neben Hobbes und Spinoza) eingetragen hat,¹³ während er von anderer Seite als der Begründer des Deismus apostrophiert wurde, gar als einer ihrer wichtigsten Federführer im Kontext des von Konfessionskriegen politisch aufgewühlten Zeitalters, das durch die Verwerfungen und Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges gezeichnet ist. Die Verteidigung und Begründung einer Religion der natürlichen Vernunft, die den Lord von Cherbury mit seinen Schriften zu einer äußerst streitbaren Denkergestalt avancieren lässt, greift in diese konfessionspolitischen Machtkämpfe ein.¹⁴

1 Transformative Verkettungen Die ‚Transformationskette‘ erweist sich als eine Möglichkeit, die Aneignungs- und Konstitutionsweisen antiken Denkens in Hinsicht auf reziproke Veränderungsdynamiken zu befragen. Sie schließt eine begriffs- bzw. problemgeschichtliche Entwicklung von Transformationsprozessen in Fokussierung auf das zur Verhandlung stehende epistemologische Begründungsinteresse auf und legt über die Verkettung von ineinander überführten, begrifflichen Konzepten Umdeutungen frei. Nun impliziert das Modell der Kette allerdings eine monodirektionale Entwicklungsbewegung bzw. distinkte Glieder oder Schritte einer sukzessiven Transformation. Auch wenn dabei allelopoietisch stets die Rückwirkungen in den Blick genommen werden, ist die Rekonstruktion durch eine gewisse Konsequentialität geleitet. Sprechen wir dagegen von einem Transformationsgeflecht, wie Klaudies es alternativ für die Verschränkung von Theorieansätzen bei Cicero anklingen lässt, dann nehmen wir Verdichtungspunkte multipler, sich überkreuzender Stränge, d. h. Problemkonzentrationen in den Blick. Dieses Modell erlaubt es, die Reaktionsrichtungen aus einer Vielsträngigkeit und -maschigkeit – inklusive der offenen Stellen – des Geflechts zu beschreiben.

13 So in Christian Korholts Buch De tribus impostoribus magnis liber von 1680, worin Herbert von Cherbury als Leugner der christlichen Offenbarungsreligion dargestellt wird. 14 Vgl. Lehmann (2013), 74 ff. zur Rolle von Herbert von Cherbury beziehungsweise des englischen Deismus in Bezug auf vernunftreligiöse und naturrechtliche Entwicklungen der Aufklärung.

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Damit sei das Modell der Transformationskette keineswegs kritisch zurückgewiesen. Im Gegenteil legt es Wirk- und Rückwirkungsbewegungen über eine pointierte Analyse einer Entwicklungslinie von Transformationsprozessen frei. Eine solche problemgeleitete Rekonstruktion einer Genealogie¹⁵ zeugt von einem Interpretationsinteresse und impliziert eine Reflexion auf unterschiedliche mögliche Beobachterperspektiven. Aus einer vergleichenden Beobachterperspektive kann gerade eine genealogische Betrachtung von Folgen, insbesondere wenn sie eine bis dato nicht gesehene Umdeutungsbewegung in einem zeitlichen Verlauf aufzeigt oder von bekannten Perspektivierungen abweicht, produktiv gemacht werden. Sie exponiert, dass sich verschiedene mögliche Linienführungen einer Deutung geschichtlicher Prozesse entwerfen lassen – nicht beliebig, aber doch unter Rekurs auf ausgewählte Stationen eines problemgeschichtlichen Verlaufs.¹⁶ Der so konstituierte Wirkzusammenhang verhilft dazu, scheinbar eingängige oder selbstverständliche Interpretationsansätze zu befragen, sie mit anderen möglichen Gliederungen und Akzentsetzungen von Transformationsketten zu konfrontieren. Gerade in der vom modernen Beobachter angelegten Bestimmung zentraler begriffs- und problemgeschichtlicher Scharnierstellen einer historischen Umdeutungsbewegung (Cicero – Melanchthon – Herbert von Cherbury) liegt so je auch ein eminent kritisches Reflexionspotential. Gleichwohl stellt sich in Hinblick auf das Modell der Transformationskette die Frage, ob sich hinreichend erschließen lässt, wie sich ein systematischer wie semantischer Bedeutungs- und Begründungsrahmen verschiebt, ohne zugleich Transformationsbedingungen, und das heißt hier sowohl das Debattenumfeld als auch Funktionen und Interessenkontexte zu berücksichtigen. Beziehen wir weitere Kontextfaktoren ein, dann wird erkennbar, dass hier von ‚Agenten‘ im Sinne aktivierender Bewegkräfte dynamischer Prozesse kulturellen Wandels nicht allein in Bezug auf einzelne Gelehrte, deren erkenntnistheoretische Agenda bzw. distinkte Theoriebildungen die Rede sein kann. Vielmehr zeigt gerade die gewählte Fallstudie, wie Begründungsansätze selbst als agierende Konzepte aufgefasst werden können, sofern sie auf ein je zeitgenössisches Problemlösungsinteresse bzw. eine historisch fortwährend virulente und doch situationsspezifische Begründungsherausforderung reagieren.

15 Genealogie im Sinne der genealogischen Untersuchungsmethodik Nietzsches beziehungsweise Foucaults. 16 So ließe sich in Rekurs auf das stoische, von Cicero transformierte Konzept der notitiae ebenso auf die theologische Indienstnahme der göttlich eingeschriebenen Begriffe beziehungsweise seminalen Wahrheitsprinzipien in der mittelalterlichen Diskussion (etwa bei Laktanz, Augustinus bis hin zur Scholastik) in Reaktion auf das Menon-Paradox verweisen sowie auf neuplatonische wie arabische Traditionsbildungen unter dem Einfluss aristotelischer Theoreme. Vgl. Goris (2013).

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2 Kontextuelle Fragen und transformative Umbesetzungen Setzen wir also bei einem systematischen Fragehorizont an, der – unter Einnahme einer veränderten Beobachterposition – als Auslöser einer sich kontextuell verändernden Problematik betrachtet werden kann. Aufgerufen ist die Frage nach dem Verhältnis des Göttlichen bzw. einer als göttliche Vorsehung adressierten Instanz zu Ansätzen einer epistemologischen Bestimmung allgemeiner Erkenntnisprinzipien. Wie stellt sich die Transformationsdynamik dar, wenn wir eine religionsphilosophische und gleichermaßen sozialhistorisch folgenreiche Frage als Ausgangspunkt wählen oder genauer: Welchen systematischen Status und welche Funktion nimmt die Rekonzeptualisierung der notitiae communes ein, wenn sie im Kontext einer Substitution offenbarungsreligiöser Geltungsansprüche durch das Konzept einer natürlichen Vernunft betrachtet wird?¹⁷ Worin stimmen alle (Vernunft-)Religionen überein (consensus) oder, kritischer gefragt, woran erweisen sich Religionen als vernünftig? Und inwiefern wird nach Maßgabe einer allelopoietischen Dynamik ein Konzept natürlicher Religion auf die antike Philosophie appliziert? Die Aushandlung des Status der (natürlichen) Religion im Kontext des englischen Deismus und die Agenda, die sich damit artikuliert, d. h. eine Emanzipation von klerikaler wie schriftdogmatischer Vereinnahmung sowie die Etablierung eines Konsens- und Friedensmodells fernab offenbarungstheologischer Voraussetzungen weist auf die antiken Voraussetzungen bzw. Geltungszuweisungen an eine natürliche Vernunft. Verstehen wir die Begründung allgemeiner Begriffe vor diesem Hintergrund, dann wird deutlich, dass Herbert von Cherbury auf antike Ansätze rekurriert, um diese als Wegbereiter einer zeitgenössischen Auseinandersetzung ins Feld zu führen. Diese Strategie verändert die Auffassung dessen, was die antiken Philosophen begründungstheoretisch formuliert haben, maßgeblich. Adressiert ist damit nicht nur ein epistemologisch tragfähiges Konzept sondern insbesondere eine im antiken Denken je schon angelegte, im Zuge der Überwindung doktrinärer Einschränkungen erst noch freizusetzende, konsensermöglichende Bedeutung allgemeiner Begriffe. Die Providenzlehre nimmt dabei eine Schlüsselstellung ein. Wenn nicht nur Personen oder Personenkonstellationen als ‚Agenten’ einer allelopoietischen Transformation gefasst werden können, sondern ebenso Konzepte, Lösungsansätze, Begründungsstrategien und, so ließe es sich in Anknüpfung an Blumenberg hinzufügen, ebenso offene Fragen, die in philosophische Auseinanderset-

17 Das heißt nicht, dass Lord Herbert von Cherbury ein göttliches Offenbarungswirken grundsätzlich bestreitet, wohl aber negiert seine deistische Position die Heilsnotwendigkeit. Offenbarung ist keine Bedingung zur Erlangung von Glückseligkeit. Vgl. hierzu DV, Einleitung G. Gawlick, XV.

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zungen intervenieren und diese transformativ restrukturieren,¹⁸ dann ist das erkenntnistheoretische Problem im Kontext seiner avisierten Begründungsleistung zu sehen. In unserem Falle: die moral- und religionsphilosophische aber auch politische Strategie, die sich in der Anbindung an antike Diskurse artikuliert und vor dem Hintergrund des konfessionellen, krisengeschüttelten Zeitalters einer genealogischen Geschichtskonstruktion natürlicher Religion bedient. Auch wird über eine modifizierte Perspektivierung der Voraussetzungen einer unanzweifelbar begründeten Urteilsinstanz menschlicher Vernunft erkennbar, dass die ‚Agenten‘ keinesfalls vor allem auf der Seite der Aufnahmekultur zu suchen sind, sondern gleichermaßen im Sinne virulenter, sei es auch latent, beziehungsweise subversiver Leitideen oder -fragen in der Referenzkultur ausweisbar werden. Das führt auf den meines Erachtens systematisch außerordentlich weitreichenden Erschließungsbegriff der ‚Widerständigkeit‘, der hier auf eine sperrige, sich der beunruhigenden Stillstellung verweigernde Frage appliziert werden kann, wie sie sich im „streitsüchtigen Satz“ des platonischen Menon-Dialoges konzentriert und eine geistesgeschichtlich fortwährende Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Bedingungen der Erlangung unanzweifelbaren Wissens provoziert.¹⁹ Dass aber Möglichkeit wie Scheitern der Beantwortung dieser Frage weitreichende Konsequenzen haben und über eine erkenntniskritische Diskussion hinausweisen, manifestiert sich bei Herbert von Cherbury und führt zugleich auf ein brisantes Problemfeld in der antiken Diskussion zurück: Zur Verhandlung steht nicht zuletzt die Begründung der vernünftig ausweisbaren Kriterien von Tugendwissen, die Frage der Lehrbarkeit von Tugend und die hiermit verknüpfte Problematik, welche Rolle die Religion in diesem Zusammenhang spielt.

18 Blumenberg (1966), 42 f. wonach die Neuzeit nicht als Säkularisierung im Sinne einer ‚Umsetzung‘ theologischer Gehalte in säkulare Erklärungsmodelle von Geschichte, Fortschritt etc. gefasst werden kann, sondern vielmehr als eine „Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten, die sich hinsichtlich der ihnen korrespondierenden Fragen nicht eliminieren ließen oder zu deren kritischer Aushebung als anstehender Probleme die Voraussetzungen und der Mut des Eingeständnisses der Insuffizienz fehlten“, was auf unseren Fall übertragen heißen kann, dass die theologischen Wahrheitsmodelle qua Offenbarung, Glauben, eschatologischer Heilsverkündigung an Kredit verlieren, nicht zuletzt, sofern die Glaubenskrisen und -kriege die Glaubwürdigkeit erschüttern beziehungsweise eine andere Antwort fordern. Die nicht zu eliminierende Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis unbezweifelbarer Wahrheiten, so bereits in ihrer antiken, Aporie provozierenden Streitbarkeit, provoziert ein universales Wahrheitsmodell fernab kultureller wie religiöser Disseminationen, eine Ermöglichung von Konsens. 19 Vgl. Scott (1995).

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3 Paradoxien des Lernens: Tugendwissen Ciceros transformativer Verflechtung antiker Theoriebildungen liegt das berühmte Lern-Paradox aus Platons Menon zugrunde: Markiert ist ein Problemkomplex, der erkenntnistheoretisch nach den Bedingungen der Möglichkeit fragt, wie Lernprozesse als Wissenserwerb oder Weise der Wissensaneignung verstanden werden können, ohne in eine zirkuläre Voraussetzungslogik zu verfallen. Wie gelangt die Seele zu Wissen und wodurch lässt sich dieses als täuschungsfrei, unanzweifelbar, gegenstandsadäquat und als wahr im Sinne einer rechenschaftsfähigen, begründbaren universalen Geltung ausweisen? In den nachplatonischen Schulen (Aristoteliker, Epikureer, Stoiker, Mittel- und Neuplatoniker) hat diese Problematik zu unterschiedlich gelagerten Modellierungen des Verhältnisses von sinnlicher Erfahrung und erfahrungsunabhängiger Wissensvoraussetzungen geführt – so etwa bei den Epikureern und Stoikern zu Konzeptionen von Vorbegriffen oder eines begrifflichen Vorwissens auf der Grundlage von Sinneswahrnehmungen.²⁰ Zu Recht betont Klaudies, dass hiermit keine Anknüpfung an die platonische Ideenlehre oder das Konzept von Lernen als Wiedererinnerung stattfindet, sondern vielmehr Alternativkonzepte entwickelt werden, so dass nicht von einer ‚Umdeutung‘ als Verfahren einer modifizierenden Appropriation die Rede sein kann bzw. nicht von einer Transformation im Sinne einer allelopoietischen Dynamik, wenngleich sowohl die Epikureische Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie als auch die hieran anknüpfende stoische Variation der Prolepsis-Lehre auf denselben, von Sokrates aufgeworfenen ‚streitsüchtigen Satz‘ reagieren.²¹ Zwei Erwägungen seien diesbezüglich zur Diskussion gestellt, zunächst im engeren, sodann im weiteren Sinne. Wenn der platonische Sokrates mit der Definition von Lernen als Wiedererinnerung argumentiert, dann heißt dies in der Konsequenz, dass äußere, extramentale Wahrnehmungen oder empirisch fundierte Einsichten keinen Wahrheitswert sondern allenfalls einen Anstoßcharakter besitzen, um das, was der Seele als ehedem schon geschautes Ideenwissen innewohnt, wieder aufzuwecken.²² Sinnliche Wahrnehmung hat unter dieser Maßgabe keinen erkenntniserweiternden Wert. Dagegen behaupten sich aber Wissenskonzepte, die die Funktion sinnlicher Wahrnehmung bei gleichzeitiger Zurückweisung vorgeburtlich geschauter, seelenimmanenter Begriffe exponieren. Betrachten wir die Lösungsangebote der epikureischen

20 Vgl. zum Spektrum der Lösungsansätze Plutarchs Moralia, Fr. 215 f. 21 An dieser Stelle ließe sich fragen, ob sich der Transformationsansatz inklusive der allelopoietischen Reziprozität von Veränderungsdynamiken sinnvoll auf den Merkmalskatalog eines Lösungsansatzes (hier der Anamnesislehre) und dessen Umdeutung beschränkt oder ob nicht die Perseveranz eines Problems und der mit diesem emergenten Fragen ebenso als Bezugspunkt einer allelopoietischen Transformation in den Blick genommen werden können. 22 Eine Zuschärfung erfährt diese Bestreitung, dass sinnliche Wahrnehmungen etwas ‚Wissenswertes‘ beitragen, sie also für das Lernen einen Wissenswert besitzen, bei Augustinus, De magistro und in der hieran anknüpfenden Tradition mittelalterlicher Illuminationstheorien.

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wie stoischen Theoriebildung vor diesem Problemhintergrund, dann ließen sich diese als ‚revidierende Substitution‘ mit Ignoranzelementen, d. h. als Neubesetzung einer Systemstelle der Referenzkultur durch Erklärungsmodelle der Aufnahmekultur mit Mitteln der Aus- und Überblendung bestimmen. Wenngleich also von den platonischen Antwortangeboten kein direkter Gebrauch für eine Umdeutung gemacht wird, erweisen sich allerdings die Gegenmodelle nicht als hiervon völlig unabhängige, eigenständigen Ansätze, sofern sie auf eine strittige Frage reagieren und zugleich die platonische Lösung negieren.²³ Dass ein Problem bzw. eine Fragestellung Gegenstand einer transformierenden Reziprozität sein kann, lässt sich auch noch in anderer Hinsicht an diesem Fallbeispiel vorbringen. Zieht man in Betracht, in welchem Zusammenhang sich für Platon überhaupt die Herausforderung stellt, die paradoxale Lernproblematik über die Anamnesislehre zu bewältigen, dann zeigt sich die Einbettung in eine moralphilosophische Fragestellung, die in der Tat nachhaltige Wirkung entfaltet. Wir haben es hier mit einer Produktivität und Widerständigkeit des Referenzobjektes – der im platonischen Dialog aufgeworfenen Frage – zu tun, die Lösungsalternativen geradezu provoziert. Geht es im Dialog Menon doch nicht lediglich um eine epistemologische Bewahrheitung angeborener Idee bzw. der Ideenlehre im Hinblick auf die Bedingung der Möglichkeit von ‚Lernen‘, sondern um die Lehr- und Lernbarkeit von Tugend (ἀρετή) und damit um Tugendwissen und das heißt um den Ausweis allgemeiner ethischer Begriffe als Ermöglichungsprinzipien tugendhaften Verhaltens. Die Bestimmung von Lernen als (Wieder-)Erinnerung eingeborener Ideen ist eingefasst durch die Frage, in welcher Weise wir überhaupt zu Tugend gelangen. Drei Optionen stehen zur Diskussion: Tugenderwerb durch Einübung (Askesis), durch Lernen (Didaxis) oder kraft einer natürlichen Anlage (Physis).²⁴ Ohne nun die Klippen und Umwege dieser letztendlich scheiternden Definitionsversuche und ihres aporetischen Ausgangs hier rekonstruieren zu wollen sei doch so viel festgehalten: Scheint bei Platon durch die Lehre der Unsterblichkeit der Seele und deren Einsicht in unveränderliche Ideen ein Wissen (ἐπιστήμη) begründet – so auch von Tugend und allen anderen Dingen²⁵ –, an das alle richtigen Vorstellungen rückgebunden werden und so eine Klärung gewonnen, wie Lernen zu verstehen ist, sofern gewissermaßen ein latentes, von Vergessenheit überlagertes innerseelisches Wissenspotential wieder aufgeweckt werden kann, so erweist sich der Dialog Menon als zutiefst problematisch, weil dieses Modell in Hinsicht auf die Begründung der Tugend gar nicht greift, sofern sich keine über epistemische Sachkompetenz verfügenden Tu-

23 So lässt sich ein Negationsmodus konstatieren, der hier nicht in demonstrativer Ablehnung unter Nennung des Zurückgewiesenen greift, sondern als implizite Negation kraft der Umbesetzung einer Systemstelle mit einem Gegenmodell, das den wissenskonstitutiven Charakter der Sinneswahrnehmungen affirmiert. 24 Plat., Men., 70a. 25 Ebd. 81d, 87b.

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gendlehrer auffinden lassen.²⁶ Das aber führt zum Abschluss des Dialoges auf eine eigentümliche Konsequenz, die nicht resultative Klärung ist, sondern vielmehr das Problem wieder aufbrechen lässt: „So entstände die Tugend weder von Natur noch wäre sie lehrbar, sondern durch göttliche Schickung (θείᾳ μοίρᾳ) wohnte sie denen bei und ohne Vernunft (νοῦς)“?²⁷ Kehren wir mit dieser selbstredend indiskutablen Option in den Debattenkontext des 17. Jahrhunderts zurück, dann zeigt sich, dass die (sokratische) Forderung nach einem begründungstheoretisch ausweisbaren Tugendwissen ein Weg ist, um Tugendkataloge, die unter je religions- wie konfessionsspezifischen Rahmungen an Konzeptionen einer überzeitlichen Heilserwartung bzw. Glückseligkeit gebunden sind – so etwa an eine christliche Eschatologie bzw. anthropologische Konzepte des postlapsarischen, erlösungsbedürftigen Menschen –, auf ihre epistemische Grundlegung zu befragen. Betrachten wir vor diesem Hintergrund das notitiae-communes-Konzept Herberts von Cherbury und seine Ausklammerung einer Vermittlerposititon zwischen göttlicher Vorsehung und menschlicher Moralitätsbefähigung, Freiheit, Gottebenbildlichkeit, das heißt der Verzicht auf eine Christologie sowie die Distanznahme zu Konfessionalisierungen des Erlösungsgeschehens, der Gnadenbedürftigkeit oder gar Rechtfertigungslehre, dann tritt umso deutlicher hervor, dass die Verschränkung von Religion und Moralität beziehungsweise Tugendwissen mit einem natürlichen Vernunftvermögen, wie sie mit den notitiae communes angelegt wird, auf eine über- oder außerkonfessionelle, auf unmittelbar evidente Vernunftgründe gestützte, unanzweifelbare Grundlegung von Moralität führt. In uns selbst sind kraft der Analogie zu Gott, der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die allgemeinen Begriffe als erste Gründe und Normen des Guten zu suchen, so Herbert von Cherbury. Ein postlapsarischer Defizienzmodus beziehungsweise eine Erlösungsbedürftigkeit des Menschen greifen hier nicht. Weil dem Menschen die meisten allgemeinen Begriffe in Hinsicht auf das Gute eingeschrieben sind, herrscht in der Moralphilosophie die größte Übereinstimmung, sofern sie ganz auf allgemeinen Begriffen beruht, was in anderen Wissenschaften, einzig die Mathematik ist hier ausgenommen, nicht der Fall ist. Während also Herbert in den anderen Disziplinen Streit und Zank um sich greifen sieht – und das hat stets mit der Verselbständigung von Rationalisierungen und Diskursen zu tun – gründet sich die Moralphilosophie auf allgemeine Begriffe, die in ungeteilter Zusammenstimmung auf das Gute weisen, gleichsam eine unmittelbar gegenwärtige Orientierungsnorm. Unter dieser gottgegebenen Voraussetzung lehren Religion, Gesetz und das Gewissen gut zu sein, gottesfürchtig, gerecht, tapfer etc., das heißt Tugendpflichten. Dieses unmittelbare Gewahr-

26 Ebd. 96a ff. 27 Ebd. 99e–100a, Staatsmänner rücken damit an die Seite von Orakelsprechern, Wahrsagern, Dichtern.

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sein normativer Prinzipien kraft einer sittlichen Urteilsfähigkeit ist nicht auf Erfahrung gegründet, sondern vielmehr ein Geschenk der Natur.²⁸ Die Umdeutung hellenistischer Theorien eines ‚Vorwissens‘ und die transformierende Rekonzeptualisierung der platonischen Ideenlehre, die Cicero vorgenommen hat, wird nun zur Begründungsbasis einer Naturgegebenheit moralischer Urteilsfähigkeit: Glückseligkeit ist ein notwendiges Objekt beziehungsweise Ziel des natürlichen Instinktes.²⁹ Sind es doch gemäß Cicero nicht die natürlichen Sinneskräfte, über deren perzeptiven Zugang zur empirischen Wirklichkeit sich allgemeine, erkenntniskonstituierende Begriffe ableiten lassen, sondern vielmehr natürliche Vernunftbegriffe, das heißt von Natur gegebene, eingepflanzte Ideen, die als Voraussetzung schlechthin jeglichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvollzugs angenommen werden müssen und die Zusammenstimmung der objektiv erfahrbaren Wirklichkeit mit den qua Natur prädisponierten Erkenntnisgründen garantieren, vor allem aber einen Konsens in Bezug auf moralische Kategorien, Sozialität, politische Kommunität.³⁰ Der mögliche consensus aller Menschen mit dem Gesetz der Natur ist geradezu Ausweis der erkenntniskonstitutiven Voraussetzungen vice versa, insbesondere in Hinsicht auf die Existenz der Götter.³¹ An diese Argumentationsfigur knüpft Herbert von Cherbury mit einer ausdifferenzierten Konformitätstheorie an, um eine Kongruenz der innerseelischen, nach Fakultäten differenzierbaren Erkenntnisvermögen mit den empirischen Wahrnehmungsleistungen zu begründen, vor allem aber eine universale Instanz sittlicher Vernünftigkeit zu postulieren. So erweist sich die veränderte Deutung des systematische Status der Kategorien ‚Natur‘ bzw. ‚natürlich‘ in Verschränkung mit der Instanz einer göttlichen Weisheit bzw. Vorsehung als ‚Gelenkstelle‘ der allelopoietisch beschreibbaren Veränderungsdynamik. Die von Cicero innatistisch gewendeten stoisch-epikureischen Argumentati-

28 „In nostrâ enim Analogia ad Deum, Notitiae commmunes primae Bonorum rationes & normae habendae sunt. Plurimae igitur circa Bonum Notitiae communes in nobis describuntur. Ideò de Morali Philosophia summus consensus; tota enim est Notitia Communis; quod in reliquis scientiis (nisi fortasse Mathematicas excipias) non datur. […] idcircò altissimam communionem observare potes. In Notitiis igitur Communibus […] persiste, rectâ enim ad foelicitatem ducunt. […] Te peccare debere nulla docebit Religio, Lex, Conscientia; sed contrâ, te debere esse bonum, pium, justum, fortem etc. nullo non ad sensum sancitum est. Totum interea illud, quod Bonum à malo in nobis distinguit, ipsa est dos Naturae.“ DV, 112 f. 29 „Beatitudo aeterna est objectum necessarium Instinctus naturalis.“ DV, 110. 30 Zur natürlichen Veranlagung auf die eigenständige Entwicklung des sittlich Guten beziehungsweise tugendhaften Handelns vgl. Cic., fin., V 43 und 59; zur sittlichen beziehungsweise politischen Vergesellschaftung ebd. V 65 f. 31 Cic., Tusc., I 30: „omnes tamen esse vim et naturam divinam arbitrantur […] omni autem in re consensio omnium gentium lex naturae putanda est“.; Cic., nat. deor. I, 44: „ad unum omnium firma consensio, intelligi necesse est esse deos“; II, 2: „omnibus enim innatum est et in animo quasi insculptum esse deos.“

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onsfiguren zur Begründung einer natürlichen Genese allgemeiner Begriffe weisen nun auf eine göttliche Vernunft bzw. natürliche göttliche Vorsehung, die der menschlichen Seele kraft der natürlichen Vernunft (recta ratio) gegenwärtig ist.³² Mit diesem Konzept eines von der göttlichen Natur allen Menschen eingeflößten seminalen Wissens, gleichsam potentieller apriorischer Erkenntnisgründe, wird eine Naturrechtsidee³³ etabliert, die der Begründung einer kulturinvarianten natürlichen Vernunft bzw. (Vernunft-)Religion den Weg bereitet. Um diese Entwicklungen genauer zu zeigen, wäre die Transformation antiker Voraussetzungen in einem größeren bedeutungskonstituierenden Rahmen zu betrachten und zu zeigen, dass die Auseinandersetzung mit antiken Voraussetzungen allgemeiner Erkenntnisprinzipien und die moral- und religionsphilosophischen bzw. sozialphilosophischen Begründungsinteressen des Lords von Cherbury in einer umfassenderen allelopoietischen Dynamik stehen. Das kann hier nur in großen Zügen geschehen. Bereits mit der Bestimmung des instinctus naturalis als Instanz unmittelbarer Einsicht in natürliche Erkenntnisvoraussetzungen, gleichsam seminaler Gründe eines potentiell wahrheitsfähigen, konsensuellen Wissens, ruft Herbert von Cherbury einen Kontext auf, der sich nicht erst bei Melanchthon als theologische Einfassung ciceronisch transformierter Philosopheme zeigt. Die stoisch fundierten, von Cicero bestimmten Keimgründe (semina, scintilla) gehen als von Gott gegebene Wissenskeime bereits bei den Kirchenvätern (z. B. Laktanz, Augustinus) in die christliche Theologie ein. Im lateinischen Mittelalter ist es vor allem Thomas von Aquin, der eine rationale Grundlegung der Moralphilosophie in Verschränkung stoischer und aristotelischer Philosopheme unternimmt und ein „desiderium naturale visionis beatificae“,³⁴ ein natürliches Verlangen in Hinsicht auf die Erlangung der höchsten Glückseligkeit definiert.³⁵ Ist dieses Begehren ganz auf die kontemplative Gottesschau gerichtet, d. h. die höchste Wahrheit als letztes Ziel, so bestimmt Thomas hiervon ausgehend ein zweites, der Lebenswelt zugewandtes „desiderium hominis inquantum intellectualis“, ein Verlangen des rational handlungsfähigen Menschen in Hinsicht auf das tätige Leben (vita activa bzw. civilis): „Dieses Verlangen richtet sich hauptsächlich darauf, daß das ganze Leben des Menschen vernunftgemäß geordnet wird (secundum rationem disponatur), d. h.: tugendhaft zu leben (vivere secundum virtutem)“.³⁶ Entscheidend ist hier die stoische Implementierung einer den Menschen im tätigen Leben leitenden natürlichen Vernunft (ratio) in Verbindung mit einer christlich re-interpretierten Vorsehung

32 „recta ratio – quae cum sit lex, lege consociati homines cum diis putandi sumus“ Cic., leg., I, 7, 22–23; vgl. ebd. I, 6, 18–19. vgl. zur „divina providentia“ ebd. II 7. 33 „Es gibt ein Naturrecht, eine natürliche Moral und eine natürliche Gotteserkenntnis, die allen Menschen gleichermaßen und unmittelbar aufgrund ihrer Vernunftnatur zugänglich ist.“ Cancik (2014), 55 in Bezug auf die einschlägigen Stellen bei Cicero sowie Sen. Ep. Mor. 117, 6. 34 Thomas, STH I 12; vgl. in Bezug auf Herbert von Cherbury Feil 2012, 196. 35 Thomas, CG III 62, vgl. ebd. 51. 36 Ebd., 63, ed. Allgaier, 258/259.

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(providentia), eine auf das höchste Gut und die höchste Glückseligkeit in Gott finalisierte Bewegung, vermöge derer Gott als höchstes Vernunftprinzip alle Bereiche der kreatürlichen Welt lenkt und auf dieses Ziel hinordnet. „Die ganze Tätigkeit der Natur wird also notwendig von einer Erkenntnis (auf ihr Ziel) hingeordnet. Und notwendig führt dies mittelbar oder unmittelbar zurück auf Gott: denn jede untergeordnete Kunst und Erkenntnis empfängt notwendig von einer höheren ihre Prinzipien, wie es ja auch in den theoretischen und praktischen Wissenschaften ersichtlich ist. Also lenkt Gott durch seine Vorsehung die Welt.“³⁷ Die von Lord Herbert von Cherbury formulierten Bedingungen einer möglichen Konformität bzw. eines moralischen Konsensus eingedenk eines gemeinsamen höchsten Zieles bzw. einer durch die menschliche Natur wirkenden göttlichen Vorsehung, die zugleich höchste Vernunft ist, findet in Thomas’, für die scholastischen Debatten grundlegenden Appropriation stoischer wie aristotelischer und nicht zuletzt neuplatonischer Philosopheme einen Hintergrund. Thomas’ Rationalisierung der moralischen Vernunftfähigkeit des Menschen gründet sich auf ein von Gott gegebenes seminales Wissen, ein Licht der natürlichen Vernunft: „Huiusmodi autem rationis lumen, quo principia huiusmodi nobis sunt nota, est nobis a Deo inditum, quasi similitudo quaedam increatae veritatis in nobis resultans.³⁸ Es sind selbstevidente Prinzipien, gewissermaßen ein Widerhall der ungeschaffenen göttlichen Wahrheit, die dem menschlichen Verlangen nach Glückseligkeit eine rationale Grundlage moralischer Urteils- und Handlungsfähigkeit verleihen, oder, wie es an anderer Stelle in deutlicher Adaption stoischer Elemente heißt, präexistierende „scientiarum semina, scilicet primae conceptiones intellectus“. Kraft dieser universalen Prinzipien,³⁹ der „semina quaedam omnium sequentium cognitiorum“,⁴⁰ kann Thomas in theologisch transformierter Aufnahme stoischer Konzepte einer natürlichen Fähigkeit des Wissenserwerbs begründen sowie eine über die seminalen Rationalgründe des Wissens gegebenen Einsicht in die lex naturae, die natürlichen Vernunftgesetze, womit Gott die Menschen an der göttlichen Vorsehung (lex aeterna) teilhaben lässt.⁴¹ Der moralischen Vernunft wird eine eigenständige Einsichts- und Handlungsfähigkeit zugewie-

37 Ebd., 64, ed. Allgaier, 264/265. 38 Thomas, De ver. q. 11 a 1; Goris (2013), 445: „It is essential to Aquinas’s understanding of the relation between nature and creation that natural reason be, in principle, sufficiently equipped to reach its goal, the knowledge of truth, by its own means.“ 39 Thomas, De ver. q. 11, a. 1 sowie q. 11, a. 1, ad 5: „principiis universalibus omnia sequentia includuntur […] sicut in quibusdam rationibus seminalibus“. Siehe insgesamt Goris (2013), 445–451. 40 De ver. q. 11, a. 1, ad 5c. „Principiorum autem naturaliter notorum cognitio [die Erkenntnis der von Natur aus bekannten Prinzipien] nobis divinitius indita“ (CG I 7. ed. Allgaier 24/25; Hervorh. A. E.) ist gottgegeben; sie enthält die göttliche Weisheit, was zur Konsequenz hat: „Das nun, was auf Grund göttlicher Offenbarung durch den Glauben festgehalten wird, kann nicht der natürlichen Erkenntnis (cognitio naturalis) entgegengesetzt sein.“ Ebd. vgl. zu der Rolle der präexistenten „scientiarum semina, scilicet primae conceptiones intellectus“ (De ver., q. 11, a. 1). 41 Thomas, STH I–II, q. 91, a. 2 und q. 94, 1.

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sen, zumindest was die kraft der seminalen Vernunftprinzipien mögliche Realisierung eines tugendhaften Lebens im Diesseits aufgrund der Einsicht in Tugendpflichten angeht und das heißt, unabhängig von einem Offenbarungswirken, das allerdings für die Erlangung der überzeitlichen Glückseligkeit als Bedingung der Vergegenwärtigung der Glaubensgeheimnisse unerlässlich ist. Wenngleich also Thomas der sittlichen Vernunftfähigkeit keine Heilssuffizienz zuweist, emanzipiert sich hier ein Konzept menschlichen Tugendwissens beziehungsweise moralischer Rechenschaftsund Verantwortungsfähigkeit vor dem Hintergrund aristotelisch-stoischer Voraussetzungen.⁴² Betont sei dies an dieser Stelle lediglich, um den von Thomas angestoßenen scholastischen Diskurs einer rationalen Grundlegung der menschlichen Sittlichkeit zu pointieren, deren Erfüllung geradezu zum Beweis des Wirkens eines göttlichen Vorsehung beziehungsweise der göttlichen Güte und Weisheit wird. Es wäre an dieser Stelle ein langer Exkurs zu leisten, um zu zeigen, wie die stoische Naturrechtslehre ciceronischer Prägung in die christliche Theologie und Rechtslehre eingeht beziehungsweise diffizile illuminationstheoretische und offenbarungstheologische Kontroversen auslöst und welche Rolle hierbei Modellierungen des Status allgemeiner Begriffe erfahren. Das kann an dieser Stelle nicht geschehen. Auch kann es nicht darum gehen, eine philosophiegeschichtlich weit ausgreifende Transformationsdynamik des notitiae communes-Konzepts einzuholen. Doch mag diese Hindeutung auf den scholastischen Zusammenhang dazu anregen, im Sinne einer vielschichtigen allelopoietischen Verflechtung und transformativen Konzeptualisierung von Traditionslinien, die christlichen Reinterpretationen der ciceronischen Lehre einer natürlichen Vernunftfähigkeit, insbesondere in Hinsicht auf die menschliche Tugendfähigkeit bzw. sittliche Urteilsfähigkeit, eingehender zu verfolgen und Transformationsgeflechte über eine strikte terminologische Kongruenz hinaus an Begriffskonstellationen miteinander in Reibung zu bringen, so beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem desiderium naturale als natürlicher Fähigkeit einer allgemeinen Prinzipienerkenntnis sowie einer Rückbindung (religio) an Gott⁴³ in Verbindung mit der Grundlegungen seminaler Erkenntnisprinzipien und insbesondere der jeweiligen Konzeption einer vernünftigen, divinen Vorsehung. Der mit den seminalen Wissensgründen adressierte Status einer natürlichen Erkenntnispotentialität der menschlichen Seele beziehungsweise deren Wissensverlangen fügen sich aber insofern in den an Herbert von Cherbury

42 Es wäre nun detailliert zu zeigen, wie diese rationale, unter anderem stoisch fundierte aber ebenso mit aristotelischen Philosophemen operierende Grundlegung der menschlichen Erkenntnis in der Theologie des Thomas von Aquin im Kontext der lutherischen Reformation zurückgedrängt wird, um erst mit Melanchthons humanistischer Invektive in veränderter Form als moralphilosophisches Konzept zu erstarken. 43 Wie dieser „instinctus naturalis“ in Berufung auf Thomas von Aquin etwa bei Campanella beziehungsweise Ficino mit stoischen Elementen eines ius naturalis zusammengeht und im Renaissancehumanismus diskutiert wird sowie was das für den Religionsbegriff heißen kann, zeigt Feil (2012), 177 f.

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ausgewiesenen allelopoietischen Prozess einer Transformation antiker Lehren, als auch Thomas von Aquin auf das sogenannte Menon-Paradox, das heißt auf die Frage nach den erkenntnistheoretischen Bedingungen von Lernen reagiert und mit seinem Modell natürlicher, also von Gott verliehener Vernunftprinzipien ausdrücklich auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissens- und Tugenderwerb antwortet.

4 Allelopoietische Transformationen eines moralphilosophischen Paradoxons Die problemgeschichtlichen Verflechtungen antiker Naturrechtskonzeptionen beziehungsweise die nachhaltigen philosophisch-theologischen Auseinandersetzungen um die Zugeständnisse an die natürlichen Vernunftpotentiale der menschliche Erkenntnisfähigkeit sowie die Begründung dieser Wahrheitsbedingungen in Hinsicht auf die Möglichkeit eines moralischen Konsens führen, betrachten wir abermals die allelopoietische Dimension des Zugriffs auf antike Konzepte, auf geschichtsphilosophisch interpretierbare Implikationen. Es ist diese hier nur angedeutete Reichweite der Konzeption von notiones communes, die für eine rationale, theologische wie moralphilosophische Kritik ungesicherter Auffassungen entscheidend wird und dem Rekurs auf antike Denkmodelle lebensweltlich-politische Brisanz verleiht. Die epistemologische Grundlegung wahrheitsfähigen Wissens zeigt sich stets verbunden mit der Frage nach den rational ausweisbaren, von allen Menschen geteilten Grundlagen richtigen Handelns, das heißt nach allgemeinen Prinzipien tugendhaften Lebens. Dies zeigt auch die theologisierende Aneignung und Umdeutung der allgemeinen Begriffe bei Thomas und in protestantischer Diktion bei Melanchthon – wenngleich beide eine Heilssuffizienz bestreiten und je spezifisch begründet das Residium des Glaubens bzw. des göttlichen Heilswirkens wahren. Entscheidend ist die Einbindung in theologisch-moralphilosophische Konzeptualisierungen eines natürlichen Tugendwissens beziehungsweise einer Tugendfähigkeit qua Teilhabe an der göttlichen Vernunft, um verfolgen zu können, wie diese in der Aneignungsweise Herberts von Cherbury wiederum eine Umdeutung erfahren, das heißt in eine deistische, offenbarungsunabhängige religio rotunda transformiert werden, die zur Erlangung der Glückseligkeit keiner supernaturalen Gnadenwirkungen bedarf. Betrachten wir die allelopoietische Dynamisierung der Antike im Horizont religions- bzw. moralphilosophischer Strategien, so gibt gerade der Kontext deistischer, religionskritischer Debatten, innerhalb derer Lord von Cherbury sich behauptet, darüber Aufschluss, wie sich die Sicht auf den Referenzbereich Antike verändert. Aus dem Begründungsinteresse des 17. Jahrhunderts kann für die antiken Auseinandersetzungen eine protentive, zukunftsweisende Entwicklung geltend gemacht werden.

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Denn wenn die Grundlegung natürlicher (nicht auf Offenbarung angewiesener) Prinzipien eine ‚apriorische‘ Erkenntnis Gottes wie ethischer Kategorien sittlichen Handelns impliziert und wenn dieses gegen dogmatische Religionsansprüche und auf interreligiöse Verständigung gerichtete Begründungsinteresse bereits auf die Lehren antiker Philosophie applizierbar ist, dann lassen sich die herangezogenen Denker der Antike in eine Geschichtskonstruktion eingemeinden, innerhalb derer sie geradezu als Vordenker der aufgeklärten, natürlichen Religion beziehungsweise Vernunft aufrufbar werden. Der naturrechtlich fundierte Ansatz einer aus unmittelbaren Erkenntnisprinzipien begründbaren Religion, deren Anerkenntnis und Einlösung (aus der Sichtweise deistischer Positionen) durch die Indienstnahmen christlich-theologischer Dogmatiken verhindert bzw. indoktrinierend blockiert wurde und erst im Kontext der deistischen Debatte um die natürliche Vernunft bzw. natürliche Religion aus der latenten Präsenz in eine historische Aktualisierung überführt werden konnte, prägt ein Bild antiker Philosophie als Geburtsstunde einer auf Vernunftprinzipien gegründeten und insofern ‚natürlichen‘ Moralität wie Religion. Rückprojizierend auf das Denken der Antike wird so eine religionsphilosophische Strategie der Kritik an christlichen Indoktrinationen und Entmündigungen der natürlichen Vernunft nicht nur durch den Ausweis der antiken Voraussetzungen qua Anciennität nobilitiert, sondern das antike Denken erscheint als religions- und vor allem christentumskritische Triebfeder, sei es avant la lettre, sei es faktisch in Rekurs auf spätantike Platoniker.⁴⁴ In jedem Falle aber konstituiert die selektive Appropriation antiker Gewährsquellen eine interessengeleitete Konturierung des Referenzbereiches. Die antiken Debatten um die allgemeinen Begriffe präsentieren sich als Aushandlung religionskritischer Fragen bis hin zur Rückapplikation polyreligiöser Toleranzforderungen als postulierte Agenda der antiken Gewährsquellen. Rücken wir die Auseinandersetzung um allgemeine Begriffe in diesen religionskritischen Problemkontext, dann artikuliert sich unter Berücksichtigung der jeweiligen Raum-Zeit-Bedingungen von allelopoietischen Dynamiken in der deistisch imprägnierten Auseinandersetzung mit der Antike, wie sie Herbert von Cherbury führt, nicht nur ein Geschichtsmodell sondern mit diesem eine traditions- und sozialkritische Perspektivierung. So formuliert Herbert von Cherbury einen Ansatz,

44 „Herbert von Cherbury selbst galt schon seinen frühen Gegnern als Erbe der paganen Christentumkritik. Nicht nur in seiner Kritik am blinden Glauben der Christen, sondern auch in seinem konstruktiven Entwurf einer deistischen Religionsphilosophie war er ihnen verpflichtet. […] Als religiöse Universalien sind sie [die notiones communes] empirisch ausgewiesen, denn es sind die Sätze, die im Gegensatz zu den Lehren der ‚particulares Religiones‘ tatsächlich ‚von allen als wahr anerkannt werden‘. Auch die Heiden teilten die ‚Vorstellung eines höchsten Gottes [Dei summi notitia]‘. Und wie bei Themistios und den anderen Pluralisten ist die Einsicht, dass der in den κοιαὶ ἔννοιαι allen Menschen zugängliche Katalog von wahren Aussagen über die Gottheit alles umfasst, was wir wissen müssen, die Bedingung dafür, dass ein allgemeiner Religionsfriede herbeigeführt und vollendet werden kann‘. Denn aus ihr ist das Recht abzuleiten, sich zu jedem Glauben zu bekennen, der dem in den fünf Artikeln zusammengefassten Minimalkonsens nicht widerspricht, und frei über religiöse Fragen zu urteilen“ (Schröder [2011], 134 ff.).

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um fernab zeitgenössischer konfessioneller Kontroversen und lebensweltlicher, politischer Konflikte einen unangreifbaren, konsensermöglichenden Wahrheitsbegriff zu begründen. Begründungsstrategisch kann er sich auf die Behauptung einer göttlichen Providenz, die keimhaft in den allgemeinen Begriffen liegt und sich durch das Denken und Handeln der Menschen verwirklicht, berufen und seine Wahrheitssuche selbst als einen Modus providentieller Wahrheitsgeschichte begreifen.

Primärliteratur Bodin, Jean, Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis, hg. von Ludwig Noack, Schwerin 1857, ND Hildesheim 1970. Cicero, M. Tullius, De natura deorum/Vom Wesen der Götter, lateinisch-deutsch, hg., übers. u. erl. v. Wolfgang Gerlach/Karl Bayer, München/Zürich 1990. Cicero, M. Tullius, De finibus bonorum et malorum/Über die Ziele des menschlichen Handelns, lateinisch-deutsch, hg., übers. u. komm. v. Olof Gigon/Laila Straume-Zimmermann, München/Zürich 1988. Cicero, M. Tullius, Tusculanae Disputationes/Gespräche in Tusculum, lateinisch-deutsch, hg., übers. u. erl. v. Olof Gigon, München/Zürich 1992. Grotius, Hugo, De veritate Religionis Christianae. Cui Accessere Joannis Clerici, secundum tertiam ejus recensionem, notae, et libri duo, Oxford 1827. Herbert, Edward, De veritate, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick, Stuttgart/Bad Cannstatt 1966. Herbert, Edward, De religione gentilium errorumque apud eos causis, hg. u. eingel. v. Günter Gawlick, Stuttgart-Bad Cannstatt 1967. Korholt, Christian, De tribus impostoribus magnis liber, Kiel 1680. Platon, „Menon“, in: ders., Werke in acht Bänden griechisch-deutsch, Bd. 2., hg. v. Gunther Eigler mit der Übers. v. Friedrich Schleiermacher, 6. unveränd. Aufl. Darmstadt 2011. Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden [S. Thomae Aquinatis Summa contra gentiles libri quattuor], Bd. 3, Teil 1 und 2, hg. u. übers. v. Karl Allgaier, lat. Text. besorgt und mit Anm. versehen v. Leo Gerken, Darmstadt 1990. Thomas von Aquin, „Quaestiones disputate de veritate“, in: S. Thomae de Aquino Opera Omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, Tomus XXII, Rom 1970. Thomas von Aquin, Thomae Aquinatis Doctoris Angelici Summa Theologiae, cura et studio Petri Caramello, cum textu ex recensione Leonina, 3 Bde, Turin/Rom 1952–1956 (= Marietti Ausgabe). Vossius, Gerardus Joannis, De theologia gentili, et physiologia christiana, sive de origine ac progressu idolatriae, Amsterdam 1641.

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Christoph Lehner und Helge Wendt

Mechanik in der Querelle des Anciens et des Modernes Einleitung Since the Ancients (according to Pappus) considered mechanics to be of the greatest importance in the investigation of nature and science and since the moderns – rejecting substantial forms and occult qualities – have undertaken to reduce the phenomena of nature to mathematical laws, it has seemed best in this treatise to concentrate on mathematics as it relates to natural philosophy.¹

Dies ist der erste Satz des Vorworts, den Issac Newton 1687 seinem Hauptwerk, den Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, voranstellte. Es mag überraschen, dass die Revolution in Mathematik und Physik mit einer Anleihe an den antiken Mathematiker Pappos von Alexandria begann. Newtons Beiträge zur reinen und angewandten Mathematik, in der Optik und Chemie, und insbesondere seine Mechanik und Kosmologie wurden bereits von seinen Zeitgenossen als revolutionär wahrgenommen.² Im Gegensatz zu der durch die Revolutions-Metapher hervorgerufenen Erwartung einer allumfassenden Neuheit, die Gegenstand, Methode und Darstellungsweise umfasste, betont Newton in den Principia gleich zwei Kontinuitäten mit antiken Vorläufern: Erstens definiert Newton sein Werk mit dem vorangestellten Pappos-Bezug als eine Fortschreibung antiker Mathematik. Und zweitens gibt Newton seine durchaus bahnbrechenden physikalischen Erkenntnisse in einer, von ihm (und vielen anderen) als antik definierten und idealisierten Formsprache wieder. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, welche Rolle Newtons Wahrnehmung und Bewertung der antiken Wissenschaft für sein Projekt einer neuen rationalen Mechanik und für den Formalismus spielten, den er in den Principia verwendete. Für das Thema dieses Bandes ist insbesondere interessant, dass diese Berufung auf die Antike eine allelopoietische Konstruktion impliziert, die sich grundsätzlich von dem modernen Bild der antiken Wissenschaft unterscheidet. Newtons Bild der Antike wird kontrastiert mit einem ganz anderen Bild von antiker Wissenschaft, das sich mit der Rezeption der Principia und ihrer Umdeutung in den neuen Formalismus des Differentialkalküls herausbildete. Die Transformation der Mechanik impliziert daher eine Transformation der Wahrnehmung der antiken Wissenschaft im Zeitalter Newtons.

1 Newton, Principia, 381. 2 So schreibt Clairaut: „Le fameux livre des Principes mathématiques de la Philosophie naturelle, a été l’époche d’une grande révolution dans la Physique“ (Clairaut, Du suprème, 329). Eine detaillierte Darstellung der Verwendung des Revolutionsbegriffs und seines Bedeutungswandels in den Wissenschaften findet sich bei Cohen (1980, 3–51) in seinem Standardwerk zur Rezeptionsgeschichte Newtons. DOI 10.1515/9783110499261-012

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Der Kontext für Newtons Verknüpfung seines Werks mit der Antike ist die Querelle des anciens et des modernes, die explizit seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ein zentraler Topos intellektueller Debatten war. Der weit ins Folgejahrhundert hineinreichende Streit über die kulturelle Überlegenheit der Antike oder der Moderne ist in der heutigen Wahrnehmung vornehmlich ein Thema der Literaturgeschichte über die Notwendigkeit – oder gerade deren Fehlen – einer Neuausrichtung und Neuerfindung von literarischen Narrationsmustern.³ Diesen „Kampf“ darüber, wie denn die Beziehungen zwischen zwei Epochen zu bewerten seien, lässt sich nicht klar in zwei Lager einteilen, also in jene, die der Antike positiv gegenüber stehen, und in jene, die Antike ablehnen.⁴ Den allelopoietischen Charakter der Querelle hat Dietrich Hardt hervorgehoben: Ich möchte […] zeigen, welche Bilder der Antike und welche Konstruktionsmechanismen im Untersuchungszeitraum zwischen etwa 1650 und 1810 aus diesen Kämpfen hervorgegangen sind, wie sie schließlich das Alte in jene Alterität transformierten, an der die Epoche der Moderne einerseits ihren eigenen, dauernd fortschreitenden und permanent sich verändernden offenen Prozeßcharakter, andererseits aber so etwas wie die Orientierungspunkte in einem Fluß permanenten Wandels ablesen konnte.⁵

Dieser Streit ist für die Herausbildung von kritischen Methoden in der Literaturwissenschaft grundlegend, jedoch bezieht er eben auch die sich herausbildenden mathematischen Methoden in der Naturphilosophie ein.⁶ Hier war umstritten, inwiefern antike Methoden und Argumentationsformen für die moderne Wissenschaft verbindlich seien. Zugleich beinhaltet die Debatte auch radikal verschiedene Vorstellungen von der Reichweite und Form antiker Wissenschaft. Newtons Konstruktion einer inhaltlich und formal überlegenen antiken Wissenschaft, die auch für moderne Bemühungen einen verbindlichen Rahmen bildet, steht dabei in scharfem Kontrast mit dem Geschichtsbild seiner Rezipienten, der mathematischen Physiker des 18. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent, wie wir im abschließenden Teil des Artikels sehen werden. Um den historischen Kontext dieses Bruches zwischen Newtons Idealen und seiner Rezeption zu verstehen, muss genau dieser Zusammenhang der Kontroverse der Alten und der Modernen um 1700 beleuchtet werden. In den Jahrhunderten zuvor wurden bereits ähnliche Fragen um die Gültigkeit antiker Lehren, in Teilen auch kontrovers behandelt, wie zum Beispiel in Galileos berühmter Attacke auf die aristotelische Physik im Dialogo, jedoch weniger vor dem Hintergrund eines historischen Bruches zwischen Antike und Moderne, der besonders in der Querelle des anciens et des modernes thematisiert wurde.

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Vgl. Warnick (1982), Rigault (1859). Levine (1981). Hardt (1994), 92. Vgl. u. a. Tadié (2013).

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Die Querelle des anciens et des modernes und die Wissenschaften Zwei Orte, zum einen Paris und zum anderen London, sind die Hauptschauplätze dieser Auseinandersetzung. An der Pariser Académie entwickelte sich ab der Mitte des 17. Jahrhunderts eine lang andauernde Debatte darüber, ob die literarischen Sujets und Formen antiker Autoren nicht denen moderner Autoren überlegen seien. Klassizisten wie Jean Racine oder Jean de La Fontaine betonten die Vorbildlichkeit der antiken Kunst und Dichtung. Diese besonders als Kritik an Konkurrenten im Zirkus der Dichtung und der Literaturkritik gemeinte Überhöhung antiker Dichtkunst entwickelte verschiedene Gegenströmungen. Eine von ihnen setzte eine „gallische Antike“⁷ der griechisch-römischen entgegen, womit es zu einer Pluralisierung der Antike kam und wodurch die Verflechtung beider Antiken zu einem bis weit in 18. Jahrhundert hineinreichenden eigenen Streitpunkt avancierte.⁸ Eine andere Strömung um Charles Perrault rechtfertigte die als neu, modern und fortschrittlich gesehenen literarischen Formen und Themen nicht nur mit ästhetischen Argumenten, sondern auch mit dem Hinweis auf die Überlegenheit der Gegenwart über die Antike in Religion, gesellschaftlicher Ordnung und Wissenschaft.⁹ Auf lange Sicht gab die Querelle den Blick frei auf das, was letztendlich beide Seiten von der jeweils anderen einforderten: nämlich eine historische Kontextualisierung der Gegenstände, für die sie Partei ergriffen. In diesem historistischen Sinne entstand ein neuer Streitherd, diesmal jenseits des Kanals, in England. Diese zweite Querelle war eine gezielte Provokation, die zuerst von William Temple in seinem Essay upon ancient and modern learning 1690 lanciert wurde. Diese entstand in einem eher lokalen Zusammenhang von intellektuellem Wettstreit und wissenschaftlichen Kontroversen. Sie bezog sich darüber hinaus auf französische Autoren, Texte und Kontroversen, und fand gleichzeitig eigenständige Antworten und Themenfelder.¹⁰ Dabei legte Temple sein Verständnis von der Bedeutung der Antike für die Moderne anders an, als dies die meisten französischen Autoren getan hatten. Er plädierte weniger für ein Studium der antiken Literatur als Vorlage für eine moderne Literatur, sondern stellte fest, dass die antiken Werke einen ganz autonomen Wert besaßen. Zudem erweiterte Temple das Feld der Querelle – so wie dies auch vorher schon in Frankreich geschehen war – und schloss die Leistungen antiker Autoren auf dem Feld der Naturphilosophie und Mathematik in seine Betrachtungen ein. Temple argumentierte, dass das Wissen der Alten in einer „république des lettres“ der Antike entstanden sei, die sich nicht allein auf einen abgeschlossenen griechisch-römischen Kulturraum beschränkte, sondern ih7 Vgl. zu den Konjunkturen dieser Geschichtsinterpretation Duval (1989), 177–185. 8 Nicolet (2001), 1627–1637. 9 Rigault (1859). 10 Vgl. Tadié (2013).

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rerseits auf ägyptischen, phönizischen, kretischen und babylonisch-chaldäischen Vorläufern aufbaute.¹¹ Das antike Wissen, so Temple in pythagoreischem Duktus, sei „transmigriert“ in die moderne Zeit und fordere nun die Philosophen und Literaten heraus, die Ende des 17. Jahrhunderts die Neuheit ihres Schaffens unterstrichen, wie beispielsweise Descartes oder Hobbes.¹² Beiden räumte Temple durchaus ein, Erklärungen anzubieten, die der aktuellen Lage der Menschheit gemäßer waren. Doch könnten sich beide Autoren nicht von den Alten losmachen, denn zu häufig bezögen sie sich auf diese, zitierten, paraphrasierten und verwendeten deren Kategorien und Begriffssysteme. Zudem seien Aristoteles, Plato oder Epikur für die Ausbildung in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen durch zeitgenössische wissenschaftliche und literarische Werke keineswegs obsolet geworden¹³ – und darin findet sich der im Titel deutliche pädagogische Anspruch der Schrift. 1704 veröffentlichte Temples Sekretär Jonathan Swift An Account of a Battle between the Antient and Modern Books. Hier treten in einer Schlacht antike Philosophen und Dichter gegen moderne Philosophen an. Auf der Seite von Homer, Euklid, Plato, Aristoteles, Herodot und Hippokrates stehen als Alliierte noch der niederländische Theologe Gerardus Vossius – der auch eine Abhandlung zur antiken Dichtkunst geschrieben hatte – und der Apologet der Antike, William Temple. Auf der Seite der Modernen stehen hingegen Descartes, Gassendi, Hobbes, aber auch Bacon.¹⁴ In dieser dichotomisch angelegten Konstellation kommt es nun zu Kampfhandlungen, in denen zum Beispiel ein von Aristoteles abgeschossener Pfeil das eigentliche Ziel, nämlich Bacon, verpasst und stattdessen Descartes tödlich in den Kopf trifft.¹⁵ Die Metapher der Schlacht bei Swift spitzte die von Temple geschaffene direkte Konfrontation von antikem mit modernem Schaffen zu. Was bei Temple die Gegenüberstellung als Relativierung der Leistung der Zeitgenossen war, konzipierte Swift als direkte Auseinandersetzung mit dem Ziel, Leistungen und Personen seiner Zeit als unterlegen darzustellen. Diese Überzeichnung war eine Reaktion auf das Gegenlager, das als Erwiderung auf William Temple lange Traktate über die selbstständige Bedeutung neuer Leistungen in Dichtung, Philosophie, Physik und Naturphilosophie veröffentlicht hatte. Akribisch hatte sich schon 1694, also vier Jahre nach William Temples Essay und zehn Jahre vor Jonathan Swift, William Wotton zu Temple geäußert. Im Traktat Reflections Upon Ancient and Modern Learning verteidigte der englische Pfarrer, der in seinem breiten Betätigungsfeld auch klassische Literatur übersetzte, die Bedeutung der Modernen.¹⁶ Er griff Temple direkt an, indem er beispielsweise nach den Möglichkeiten

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Vgl. den Beitrag von M. Weichenhan und G. Graßhoff in diesem Band. Temple, Essay, 457. Ebd., 468. Swift, Tale, 173 f. Ebd., 179. Vgl. Jones (1961), z. B. 267.

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fragte, überhaupt eine Antike zu definieren, wenn doch die Leistungen der Griechen in der Mathematik auf noch älteren und kulturell andersartigen ‚antiken’ Vorläufern aufbauten. Zudem unterstrich Wotton, dass es in Feldern wie der Naturphilosophie und der Mathematik echte Neuerungen und tatsächlichen Fortschritt gebe. Gegenüber der antiken Geometrie beispielsweise zeigte er, dass in der modernen analytischen Geometrie ganz neue Berechnungsmethoden möglich seien. But all this is nothing, in comparison of that boundless extent which the modern mathematicians have carried geometry on to: Which consists in their receiving into it all the curve lines in nature, together with the areas and solids that result from them [...] Add to all this the general methods that have been invented of late for finding the properties of a great number of these curves, for the advancement of opticks, mechanicks, and other parts of philosophy: And let any man of sense give the preference to the ancient geometry if he can.¹⁷

Diese Verbindung von Geometrie und Algebra, die uns im Folgenden noch beschäftigen wird, umfasste auch das Rechnen mit Infinitesimalen, was in der Tat weit die Möglichkeiten überstieg, die beispielsweise Archimedes zur Verfügung standen.¹⁸ Es gab, anders als bei Swift, im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von Autoren eines „dritten Wegs“ die mit Berufung auf Vorläufer wie Jean Bodin und Francis Bacon eine historisch-kontextualisierende Argumentationslinie herausstellten, wie sie auch von Thomas Sprat, Bernard de Fontenelle, Charles de Saint-Évremond, John Dryden und John Dennis vertreten wurde.¹⁹ Obwohl sich der Literaturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker Richard Foster Jones insbesondere mit der harten Auseinandersetzung im Umfeld der Royal Society beschäftigt, zeigt er auch, dass verschiedene Autoren selbst auf dem Feld der Naturwissenschaften eine große Bandbreite von Meinungen vertraten. Hier fokussierte sich der Streit hauptsächlich auf die Frage, ob die (aristotelische) Philosophie oder die Experimentalphilosophie à la Francis Bacon wirkliche Erkenntnis bringen könnte. Jones stellt auch die Zwischentöne dar, die sich eben nicht reduzieren lassen auf eine alte Strömung metaphysischen Philosophierens und einer neuen harten Wissenschaftspraxis, obwohl er seine eigene Sympathien für die baconsche Tradition nicht verhehlt. Am Beispiel des englischen Platonikers des 17. Jahrhunderts Henry More zeigt Jones, wie ein Philosoph mit modernen wissenschaftlichen Methoden eine verbesserte Erklärung von traditionellen metaphysischen Fragestellungen erreichen wollte. Aus diesem Grund verließ More die Royal Society und betrieb seine Experimente in Cambridge weiter, das sich metaphysischen Fragen gegenüber aufgeschlossener zeigte.²⁰

17 Wotton, Reflections, 162. 18 Ebd., 164 ff. 19 Spingarn (1908), cii. Den Schwerpunkt auf William Temple legend, argumentiert Fritz Wagner (1978) ähnlich. 20 Jones (1961), 250.

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Um 1700 war es demnach keineswegs ausgemacht, dass die Historisierung der Antike sich methodisch und hermeneutisch durchsetzen würde. Vielmehr war die Durchdringung der Gegenwart durch die Antike, also die Unmittelbarkeit beider Epochen, häufig noch Gegenstand des Denkens in Literatur und in Wissenschaft.

Newtons Transformation der Antike Der Kontext der Querelle hilft zu verstehen, welche Rolle die antike Wissenschaft in Newtons Mechanik gespielt hat. An dem anfangs zitierten Verweis auf Pappos lassen sich die verschiedenen Aspekte dieses Einflusses bestimmen. Wir werden hervorheben, dass das Studium antiker Autoren Newtons wissenschaftlichem Werdegang grundsätzliche Impulse gab. Auch werden wir mit einigen Stellen seiner Publikationen und Korrespondenz verdeutlichen, dass Newton sein Projekt einer rationalen Mechanik mittels antiker Vorbilder zu legitimieren suchte – hier lässt sich die transformatorische Fortentwicklung in Newtons Werk erkennen. Schließlich werden wir Newtons Anspruch untersuchen, dass der Formalismus seiner Mechanik more geometrico antiken Normen von Reinheit und Exaktheit entsprach. Newtons antike Autorität Pappos war ein ingeniöser Mathematiker, wohl in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts nach Christus. Er wirkte in Alexandria, dem zentralen spätantiken Ort der Gelehrsamkeit und des Aufeinandertreffens ganz unterschiedlicher Wissenskulturen und mathematischer Strömungen. Pappos’ Mathematische Sammlungen waren Zusammenfassung und Kommentar des spätantiken Wissens. Die erhaltenen Teile wurden durch Federico Commandino ins Lateinische übersetzt und 1588 postum von Guidobaldo del Monte veröffentlicht.²¹ Der späthellenistische Mathematiker übte einen starken und langanhaltenden Einfluss auf die Geometrie der Renaissance aus. In dieser Tradition sieht Niccolò Guicciardini einen wichtigen Hintergrund für Newtons Auffassung von der Rolle der Geometrie und für die Unterscheidung zwischen synthetischer und analytischer Methode, die für das ganze 17. und 18. Jahrhundert zentral war.²² Die Geschichte des Begriffspaares Synthese/Analyse sowohl in der Antike als auch in nachantiken Transformationsprozessen ist äußerst komplex und kann hier nur in den für die newtonsche Mechanik relevanten Aspekten betrachtet werden.²³ In der Antike bezeichnete „Analyse“ unter anderem den Schluss vom Unbekannten auf das Bekannte und damit die Rückführung einer zu beweisenden These auf bekannte Sätze. Im siebten Buch der Sammlungen macht Pappos Andeutungen auf eine

21 Pappos, Mathematicae Collectiones. 22 Guicciardini (2002). 23 Otte/Panza (1997) bringen eine Sammlung von historischen und philosophischen Arbeiten zur Bedeutung des Begriffspaares in der Geschichte der Mathematik.

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allgemeine Methode der Analyse zur systematischen Auffindung von Beweisen für geometrische Sätze. Schon in der Renaissance beschäftigten diese Andeutungen die Geometer, die darin den Hinweis auf ein allgemeines Verfahren sahen, das Pappos bekannt war, aber entweder in den verlorengegangen Teilen des Textes enthalten oder von ihm absichtlich verborgen gehalten war. Die Vertreter der neuen Algebra seit François Viète, die die moderne kompakte symbolische Notation in die Mathematik einführten, beriefen sich explizit auf die Tradition einer solchen analytischen Methode. Descartes betonte in seiner Géométrie die Überlegenheit der modernen analytischen Methode, die er am Beispiel eines allgemeinen Beweises für ein Problem zeigte, das Pappos nur in einzelnen Fällen geometrisch beweisen konnte.²⁴ Newtons erste mathematischen Arbeiten schlossen sowohl an die moderne symbolische Algebra von Viète als auch an die cartesische analytische Geometrie an. Auch Newtons Fluxionskalkül, seine bahnbrechende Formulierung der Infinitesimalrechnung, war in diesem formalen Rahmen konzipiert.²⁵ Seit den 1670er Jahren nahm Newton unter dem Einfluss seines Lehrers und Vorgängers auf dem Lucasischen Lehrstuhl der Universität Cambridge, Isaac Barrow, eine zunehmend kritische Position in Bezug auf die symbolischen Methoden der modernen Algebra und analytischen Geometrie ein. Guicciardini sieht hier einen Zusammenhang mit Newtons Beschäftigung mit Theologie und biblischer Chronologie seit 1670, in denen Newton ebenfalls die Auffassung vertrat, dass die ursprüngliche und wahre Religion der Menschheit im Laufe der Geschichte zunehmend korrumpiert worden sei.²⁶ Auch Descartes wurde von ihm nach 1670 sowohl in seiner Naturphilosophie als auch seiner Mathematik grundsätzlich kritisiert. In dieser Kritik an Descartes wurde die Gegenüberstellung der Klarheit und Knappheit antiker geometrischer Methoden mit der Obskurität und Langwierigkeit moderner analytischer Methoden zum zentralen Topos. So kritisierte Newton Descartes’ Lösung von Pappos’ Problem: To be sure, their [the ancients’] method is more elegant by far than the Cartesian one. For he achieved the result by an algebraic calculus, which, when transposed into words (following the practice of the Ancients in their writings), would prove to be so tedious and entangled as to provoke nausea, nor might it be understood. But they accomplished it by certain simple propositions, judging that nothing written in a different style was worthy to be read, and in consequence concealing the analysis by which they found their constructions.²⁷

Newton bewunderte in der Formsprache eines Pappos oder Euklid ein Ideal, das von dem Symbolismus der modernen Algebra nicht erreicht wurde. Denn die mathematische Sprache sollte nicht nur formalen Regeln der Korrektheit folgen, sondern eine Übersetzung von Formeln in Schriftsprache ermöglichen, die sich durch Klarheit

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Descartes, Discours, 377–387. Guicciardini (2002), 311–15. Ebd., 316 f. Siehe auch Buchwald/Feingold (2013). Newton, Mathematical Papers, 276 f., zitiert nach Guicciardini (2002), 317.

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und Anschaulichkeit auszeichnen musste. Newton war der Meinung, dass die Alten genau auf diese Weise ihre mathematischen Schriften veröffentlicht hatten, ohne die komplexen Wege zu zeigen, auf denen sie zu ihren Erkenntnissen gekommen waren. Diese Übersetzungsfähigkeit fand Newton jedoch nicht in der Notationsmethode René Descartes’, dem er vorwarf, unverständlich und obskur zu sein. Er versuchte, das Fluxionskalkül in eine den Idealen der antiken Geometrie entsprechende Form zu bringen und entwickelte dazu einen Formalismus der first and last ratios, das ist ein Verständnis von Differentialquotienten als Grenzwerten von geometrischen Proportionen. Nur in dieser Form traten Differentialquotienten in den Principia auf. Newton berief sich explizit auf die Autorität der euklidischen Geometrie als Begründung für die Form der Beweise, in denen er so weit als möglich einen Rückgriff auf analytische Geometrie und Infinitesimalrechnung vermied. Dahingegen kritisierte er in seinen späteren Jahren das Infinitesimalkalkül in der leibnizschen Form heftig als Korruption der klassischen Geometrie. Newton und seine Anhänger behaupteten nicht nur, dass Leibniz die Ideen seiner Infinitesimalrechnung von Newton plagiiert habe, sondern auch, dass seine Darstellung, die auf der expliziten Verwendung der Differentiale als unendlich kleine Größen beruhte, widersprüchlich sei und zu falschen Resultaten führe.²⁸ In dieser Hinsicht wird auch der berühmte Streit über die Priorität in der Entdeckung der Infinitesimalrechnung und über ihre korrekte Formulierung zu einer Fortsetzung der Querelle. In der eingangs zitierten Vorrede zur ersten Auflage der Principia bezog sich Newton auf Pappos in der Unterscheidung zwischen rationaler Mechanik und praktischer Mechanik und in der Behauptung, dass sie fundamental für die Naturerkenntnis sei. Damit reagierte er auch auf den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs und insbesondere auf die untergeordnete Stellung, die angewandte gegenüber reiner Mathematik besaß. Diese recht kurze Allusion an die Antike war tatsächlich nur die Spitze des Eisbergs einer lang andauernden Reflexion Newtons über antike Wissenschaft. Privat nämlich äußerte er sich ausführlicher zu Plänen, in einer Zweitauflage, das antike Fundament der zeitgenössischen Astronomie, Mathematik und Physik eingehend darzulegen. Er wolle, so berichtete er seinem Kollegen David Gregory, zeigen, wie sehr die Mathematik und Physik der Principia mit der ursprünglichen Naturphilosophie übereinstimmten, von der in Thales oder Pythagoras nur noch die letzten Reste einer viel älteren Überlieferung überlebten.²⁹ By far the greatest changes will be made to Book III. [...] He will show that the most ancient philosophy is in agreement with this hypothesis of his [universal gravitation] as much because the Egyptians and others taught the Copernican system, as he shows from their religion and hiero-

28 Hall (2002), 446–447. 29 McGuire/Rattansi (1966).

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glyphics and images of the Gods, as because Plato and others—Plutarch and Galileo refer to it— observed the gravitation of all bodies towards all.³⁰

Paolo Casini bemerkt insbesondere zu den Scholien des dritten Buchs, die für eine Überarbeitung der Principia gedacht waren, Newtons oftmals sehr kreativen Umgang mit physikalischen Annahmen antiker Autoren.³¹ Casini ist der Meinung, dass Newton das Ziel verfolgt habe, seine Erkenntnisse – beispielsweise in der Lehre von der Schwerkraft – als Wiederentdeckung eines Wissens darzustellen, das in der Antike bereits in vorwissenschaftlicher Form existierte.³² Casinis Arbeit zeigt die Traditionslinien und wissenschaftlichen Übertragungswege auf, denen Newton zu folgen gewillt war. So zitierte der Professor aus Cambridge im Scholium IV über die Schwerkraft des Mondes und seines Orbits neben Plutarch und Diogenes Laertius etwa die Renaissance-Wissenschaftler Natale Conti und Galilei. Sein Abstandsgesetz begründete Newton demnach mit Diogenes Laertius’ Darstellung von Thales, mit Aristoteles’ Darstellung von Pythagoras und mit Macrobius als antiken Autoritäten. Newtons wissenschaftliches Arbeiten, oder zumindest seine Darstellungen, orientierten sich demnach in Teilen an seinem Wissen über antike Mathematik und Mechanik. Darüber hinaus versuchte Netwon geradezu alleoleopoietisch sein Wissen und seine Erkenntnisse als Teile einer antiken Wissenskultur darzustellen. Unter den zeitgenössischen Mathematikern kann Newtons emphatische Betonung der Autorität der Antike wohl als Extremfall gelten, der wohl eher in seinen theologischen und geschichtsphilosophischen als in mathematischen oder naturphilosophischen Überzeugungen begründet liegt. Im Vergleich zu Newton kritisierte beispielsweise Leibniz Euklids axiomatische Methode: Daher musste Euklid, da er keine distinkt ausgedrückte Idee, d. h. keine Definition der Geraden besaß (denn die, die er vorläufig aufstellt , ist dunkel und hilft ihm bei seinen Beweisen nicht), auf zwei Axiome zurückgreifen, die ihm an Stelle von Definitionen gedient haben und die er in seinen Beweisen verwendet [...].³³

Im Gegensatz zu Newton sah Leibniz also keineswegs eine unhinterfragbare Autorität in Euklid, er arbeitete vielmehr in seiner Analysis Situs jahrelang an einer Neubegründung der Lehre vom Raum, da er die euklidische Geometrie nicht für hinreichend hielt.

30 Memorandum von David Gregory, 1694, übersetzt von Turnbull (1961), 384. Zitiert nach McGuire/ Rattansi (1966), 110. 31 Casini (1984), 7. Siehe auch Morrison (2011), 22 ff. 32 Guicciardini weist darauf hin (private Korrespondenz), dass dies nicht so verstanden werden sollte, als ob sich Newton nicht der Fortschritte bewusst gewesen sei, die er gegenüber der antiken Mechanik und Mathematik gemacht hatte. 33 Leibniz, Nouveaux essais, 487.

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Die Querelle blieb auch nach dem Tode Newtons im intellektuellen Leben Englands präsent. Im Umfeld der von Bischof Francis Atterbury geprägten royalistischen und absolutistischen High-Church-Bewegung in der Anglikanischen Kirche etablierte sich eine Gruppe von Intellektuellen am Christ Church College, die den Standpunkt vertrat, dass aus antiken Schriften eine höher stehende Moral zu lernen sei.³⁴ Mathematiker aus dieser Gruppe, wie John Keill und John Colson, und Mediziner wie John Friend werteten Newton als Zeitgenossen, der diese Weltsicht in seinen Schriften ebenfalls geteilt habe. Dabei ignorierten sie, wie vielschichtig und widersprüchlich Newtons Leben und Werk war. Die Mathematiker verfassten Abhandlungen, die das Ideal einer Erhöhung der Antike in der Nachfolge Newtons bewahren wollten. So veröffentlichte John Keill 1733 einen scheinbar ganz aus dem Geist Newtons inspirierten Kommentar zu Euklids Elementen, dem klassischen Werk zur Geometrie. Darin klagte er diejenigen an, die die euklidische Geometrie für obsolet hielten und legte ihr intensives Studium allen Studenten und Schülern ans Herzen. Denn Keill argumentierte, dass entgegen der verbreiteten Annahme eines Fortschritts der Geometrie in letzter Zeit, in den neuen Werken nicht weniger viele Fehler zu finden seien, als dies die Adepten neuer Geometrie den Arbeiten Euklids vorwarfen. Nay, I dare venture to say, there is not one of these New Systems, wherein there are not more Faults, nay, grosser Paralogisms, than they have been able even to imagine in Euclid.³⁵

Ein weiteres interessantes Beispiel der Querelle im Bereich der Naturphilosophie ist die Debatte über newtonsche Medizin in England im frühen 18. Jahrhundert. Im Gefolge von Archibald Pitcairne, einem schottischen Arzt und Altertumskundigen, bildete sich eine Gegenbewegung zur cartesischen Medizin, die deren mechanistischen Hypothesen ablehnte und sich auf Newtons Mechanik als Vorbild einer empirischen Wissenschaft berief. Sowohl Pitcairne als auch insbesondere sein oben schon erwähnter Anhänger John Freind sahen in der newtonschen Medizin eine Rückkehr zu antiken hippokratischen Vorbildern, die sie gegen die „moderne“ Medizin ihrer Gegner verteidigten.³⁶

Die Transformation der Principia Andererseits wurde Newton von zahlreichen Philosophen und Naturforschern des 18. Jahrhunderts als Erneuerer der Physik und als Vorreiter der Aufklärung gesehen.

34 Friesen (2006), 33–66. 35 Keill, Euclid’s Elements, A2 verso. 36 Guerrini (1986) rechnet beide einem Kreis royalistischer Newtonianer zu, zu der neben David Gregory auch andere Mitglieder der Christ-Church-Gruppe gehörten. Siehe auch Friesen (2003); De Angelis (2003).

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Während wir hier auf die Rolle Newtons als intellektuelle Autorität für Vordenker der Aufklärung wie Voltaire³⁷ nicht eingehen können, interessiert uns die zweite Gruppe, eine relativ kleine Anzahl von Mathematikern auf dem europäischen Kontinent, die von Newtons Werk ausgehend die Mechanik auf konsequent mathematischer Grundlage neu formulierten. Mit der Transformation der newtonschen Mechanik zur analytischen Mechanik des 18. Jahrhunderts, die zugleich eine grundsätzliche Transformation seines Werkes bedeutete, befasst sich der letzte Teil dieses Beitrags. Charakteristisch für diese Rezeptionsgeschichte Newtons sind die Übersetzungen und Kommentierungen der Principia, die im frühen 18. Jahrhundert in Frankreich entstanden. In den Jahren 1739–1742 erschien eine ausführlich kommentierte lateinische Ausgabe der Principia, in deren Einleitung es heißt: Alle, die auch nur den Namen des hochberühmten Autors gehört hatten, wussten, wie geheimnisvoll und zugleich nützlich die Lehren sind, die in den Philosophiae Naturalis Principia Mathematica dargestellt werden. So groß waren die Würde und Erhabenheit des Subjekts, so groß die mehr als geometrische Kürze der Sprache, dass jenes hervorragende Werk für die wenigsten Geometer geschrieben scheint.³⁸

Die Ausgabe, häufig – aber unkorrekt – Jesuitenausgabe genannt, wurde von zwei französischen Franziskanern, Thomas Le Seur und François Jacquier, unter Beteiligung des Schweizer Gelehrten und Mäzens Jean-Louis Calandrini besorgt.³⁹ Basierend auf den Arbeiten verschiedener Mathematiker, die sich mit Newtons Mechanik beschäftigt hatten,⁴⁰ vollführte diese Edition konsequent die Übersetzung von Newtons Werk in das Infinitesimalkalkül seines Widersachers Leibniz, das sich inzwischen als Standardformulierung der Infinitesimalrechnung etabliert hatte. Es führte damit jene analytischen Methoden wieder in die Principia ein, die Newton so sorgfältig vermieden hatte. Newtons geometrischen Beweisen wurden Satz für Satz Herleitungen im leibnizschen Infinitesimalkalkül gegenübergestellt, die komplexen diagrammatischen und geometrischen Beweise Newtons durch kompakte analytische Rechnungen ergänzt. Auch als Émilie du Châtelet in den 1740er Jahren die Principia ins Französische übersetzte, beschränkte sie sich dabei keineswegs auf eine Übersetzung aus der einen

37 Voltaire, Élements. 38 Le Seur/Jacquier, Philosophiae naturalis, vii. 39 Siehe Guicciardini (2015) zu den Autoren und der Entstehungsgeschichte des Werks und Bussotti/Pisano (2014) für Bemerkungen zur Struktur des Werks und die Analyse einzelner Passagen. 40 Guicciardini (1999, 248) diskutiert im Detail die Arbeiten, auf denen die „Jesuiten Edition“ beruhte; so zum Beispiel David Gregory, John Keill, Pierre de Varignon, Johann und Jakob Bernoulli und Leonhard Euler. Guicciardini weist darauf hin (persönliche Korrespondenz), dass die Ausgabe zur Zeit ihrer Publikation in ihren mathematischen Mitteln nicht mehr auf dem neuesten Stand war, so z. B. finden sich keine partiellen Differentialgleichungen. Es ist jedoch anzumerken, dass das einzige vor der Jesuiten-Edition erschienene Werk, in dem wesentlich fortgeschrittenere mathematische Methoden verwendet wurden, die Mechanica von Euler (1736) war.

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in die andere Sprache. Aus Latein wird bei Châtelet Französisch; doch obendrein ergänzte die universell gebildete Philosophin, die mit führenden Mathematikern der Académie in Verbindung stand, Newtons euklidische geometrische Formsprache durch Rechnungen im Infinitesimalkalkül.⁴¹ Diese beiden Ausgaben der Principia repräsentieren die Grundlage der analytischen Mechanik, die Jean d’Alembert, Leonhard Euler und Joseph-Louis Lagrange in den Jahren zwischen 1740 und 1790 zu einem umfassenden Formalismus entwickeln sollten. Diese Neuformulierung der Mechanik zeigt drei charakteristische Züge: 1. Die Verwendung neuer mathematischer Mittel, wie zum Beispiel von Differentialgleichungen, des Variationskalküls und eines abstrakten Funktionsbegriffs. Dieser neue Formalismus wurde durchgängig auf dem leibnizschen Infinitesimalkalkül aufgebaut, unter weitgehender Missachtung der von Newton nicht zu Unrecht kritisierten Probleme seiner Grundlegung. Diese wurden erst im 19. Jahrhundert durch die Grundlegung der Analysis auf exakten Begriffen von Stetigkeit und Grenzwerten ernsthaft adressiert. 2. Das methodologische Ziel einer allgemein anwendbaren Methode zur Lösung mechanischer Probleme, die nicht wie die synthetisch-geometrische von der besonderen Intuition des Geometers abhängt. Ein markantes Beispiel ist das programmatische Vorwort von Lagranges Mécanique analytique, in der er die Vorzüge einer allgemeinen analytischen Methode mit den berühmten Sätzen anpreist: „Man wird in diesem Werke keine Abbildungen finden. Die Methoden, die ich darstelle, erfordern weder Konstruktionen, noch geometrische oder mechanische Betrachtungen, sondern nur algebraische, einem regelmäßigen und gleichförmigen Gange unterworfene Operationen.“⁴² Newtons Ideale der Anschaulichkeit und Eleganz sind durch Universalität und Regelmäßigkeit ersetzt. 3. Die epistemologische Restriktion einer möglichst phänomenologischen Beschreibung mechanischer Systeme, unter Vermeidung von Newtons problematischem Kraftbegriff, der von verschiedenen Seiten als metaphysisch unzulässig und empirisch unbegründet kritisiert wurde.⁴³ Diese folgenschwere und fruchtbare Verbindung der newtonschen Mechanik mit dem leibnizschen Infinitesimalkalkül war es, die zur Grundlage der Physik der nächsten 150 Jahre werden sollte und die den Ruhm des englischen Genies prägte. Denn als der uns heute geläufige Ursprung der klassischen Physik konnten Newtons Principia nur deswegen gelten, weil die europäische Rezeption sie in der Formsprache modernisierte.

41 Marquise du Châtelet, Principes. 42 Lagrange, Mécanique analytique, i. 43 Die Kritik am newtonschen Kraftbegriff im 18. Jahrhundert ist in der Literatur schon ausführlich behandelt worden. Siehe als neuere Monographie Boudri (2002).

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Die Konstruktion der antiken Mechanik Wo blieb in dieser europäischen Rezeption Mitte des 18. Jahrhunderts die Querelle des Anciens et Modernes? Zunächst einmal ist offensichtlich, dass die bei Newton so prominenten Verweise auf die Autorität antiker Wissenschaft in den Texten von d’Alembert, Euler und Lagrange fehlen. Stattdessen beginnt Lagrange seine Mécanique analytique mit einem programmatischen Vorwort, das die innovativen Elemente seiner Mechanik hervorhebt: die Formulierung der Mechanik in der Sprache des analytischen Infinitesimalkalküls und die Suche nach den allgemeinsten Prinzipien, die der Mechanik zugrunde liegen. Die Antike interessiert Lagrange nur noch dann, wenn sie Probleme gestellt hat, die in der neuen Physik und Mathematik in einer einfacher zu verstehenden Sprache gelöst wurden. Die Antike ist nun nicht mehr, wie im eingangs zitierten Vorwort zu Newtons Principia, das Vorbild für Formsprache und mathematische Methodik. Dies ist nur ein Beispiel für eine allgemeine Tendenz: In den historischen Bemerkungen von Autoren wie Châtelet, d’Alembert oder Lagrange ist die Frage nach der Überlegenheit der modernen Mechanik nicht einmal mehr erwähnt. Stattdessen wird die antike Mechanik eingeordnet in eine nun als selbstverständlich vorausgesetzte Fortschrittsgeschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis. Dies ist eines der erstaunlicheren Phänomene der Newton-Rezeption auf dem europäischen Kontinent: Newton selbst wurde zum Kronzeugen eines nicht mehr bezweifelten Fortschrittsparadigmas der europäischen Aufklärung, das an die Stelle seiner Überzeugung von der Korruption des ursprünglichen Wissens der Menschheit tritt. Dieser Wechsel des historischepistemologischen master narrative ist möglicherweise der entscheidendste Paradigmenwechsel im Übergang von der Wissenschaft der Spätrenaissance zur Wissenschaft der Aufklärung. Es ist hier jedoch nicht der Platz, für eine so allgemeine These zu argumentieren – unser Interesse gilt der fundamentalen Veränderung der Rolle der antiken Wissenschaft für den zeitgenössischen Diskurs. Die antike Mechanik war für die Renaissance eine auctoritas, die, ob sie als Begründung eigener Argumente oder als Angriffspunkt für Kritik genützt wurde, immer zugleich als zeitgenössisches Wissen verstanden wurde. Sie stand für das von ihr Bezeichnete genauso wie es das experimentelle Phänomen oder der theoretische Begriff taten. Die archimedische Maschine war die Maschine der Baustelle, des Bergwerks oder der Werkstatt. Wie Joyce van Leeuwen in ihrem Beitrag in diesem Band detailliert belegt, entspricht dem eine allelopoietische Konstruktion antiker Wissenschaft, die aus der Sicht der Zeitgenossen direkt die Probleme ihrer Praxis lösen könne, wenn sie nur von den Verfälschungen der Überlieferung befreit werde. Newton trieb diese Tradition auf die Spitze: Genauso wie er überzeugt war, dass die wahre Religion durch Jahrtausende der Verfälschung bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden sei, sei auch die wahre Wissenschaft des Altertums fast gänzlich für die Nachwelt verborgen. Sie müsse genauso aus verstreuten Hinweisen durch akribische Schlussfolgerungen

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rekonstruiert werden wie die wahre Religion. So entstand ein Antikenbild, das einerseits die Andersartigkeit der Antike betonte, sich aber auch radikal von unseren heutigen Antikekonzeptionen unterschied. Von diesem Glauben an die Überlegenheit der Antike findet sich in den historischen Abrissen von d’Alembert oder Lagrange nichts mehr. Die Reste der antiken Mechanik erscheinen nur mehr als isolierte Lehrsätze, die zwar wie die Hebelgesetze in der Zuschreibung an Archimedes historisch verortet werden, dabei jedoch stets von der Frage begleitet sind, wie sie sich allgemeiner als in der Antike begründen lassen. So beschreibt Lagrange die Rezeption von Archimedes’ Begründung des Hebelgesetzes bei Stevin, Galileo und Huyghens nahezu ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, wie diese Autoren den archimedischen Beweis zu verbessern versucht haben, und kritisiert diese Verbesserungsversuche. Diese Rezeptionsgeschichte kann Lagrange nun für sein Anliegen nutzen, seine eigene Erklärung und mathematische Darstellung als verbesserte Lösung zu präsentieren.⁴⁴ Was vom traditionellen Wissen der Mechanik bleibt wird in einer neuen Sprache, dem analytischen Infinitesimalkalkül, formuliert und in einen völlig neuen Begründungszusammenhang, der Suche nach einheitlichen Fundamentalprinzipien, eingeordnet. Diese Transformation ist in der im Kontext des SFB Transformationen der Antike entwickelten Terminologie sowohl eine Disjunktion, eine Einkleidung des traditionellen empirischen Gehaltes der praktischen Mechanik in einen neuen zeitgenössischen Formalismus, als auch eine Umdeutung, die Neuinterpretation traditioneller physikalischer Grundbegriffe im Zusammenhang eines mathematischen Theoriengebäudes.⁴⁵ Beide Transformationsformen sind im Falle von Lagrange wesentlich miteinander verbunden, da für ihn die Einheit des analytischen Formalismus eine notwendige Voraussetzung für die Einheit der analytischen Methode als Lösungsverfahren mechanischer Probleme ist. Dadurch entsteht erstmals eine historische Distanz zur antiken Wissenschaft, die nicht mehr einfach Wissenschaft per se ist, sondern ein historisches Phänomen und vom modernen Wissen über die Natur klar geschieden. Genauso wie die klassische Physik erst in der Reflexion über die Relativitäts- und die Quantentheorie entstand, ist die „antike Mechanik“ ein Produkt der Formalisierung und Kanonisierung der newtonschen Mechanik. Auch dies ist ein Prozess der Allelopoiese, der zumindest die Grundlage dafür legt, die antike Wissenschaft überhaupt als historisches Kulturphänomen wahrzunehmen. Man kann hier durchaus eine Parallele erkennen zur Entstehung des Bewusstseins von der Eigenart antiker Kunst durch den Beginn wissenschaftlicher Ausgrabungskampagnen im 18. Jahrhundert. Andererseits wird die Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert noch nicht wie andere antike Kulturphänomene selbst zum Objekt einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Dadurch unterscheidet sich der Ausgang der Querelle in der Mechanik von dem in der Literatur-

44 Lagrange, Mécanique analytique, 4–5. 45 Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011), siehe bes. 49 und 53–54.

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und Altertumswissenschaft. Die erste konsequente historische Beschreibung der Naturwissenschaft wird erst im folgenden Jahrhundert William Whewell geben.⁴⁶ Bis dahin bleibt das Interesse an antiker Wissenschaft weitgehend reduziert auf eine „Lehrbuchhistoriographie“, die sich darauf beschränkt, einzelne Phänomene oder Theoreme bestimmten Entdeckern zuzuschreiben, wie dies in Lagranges gerade besprochener Einleitung zur Analytischen Mechanik oder auch in d’Alemberts Discours préliminaire de l’Encyclopédie geschieht. Während also die Wissensbestände der vorklassischen und antiken Mechanik in einer transformierten Form in der analytischen Mechanik fortexistieren, verlieren sie in dieser transformierten Form gerade ihre historische und lokale Charakteristik. Die antike Wissenschaft ist in eine universelle Fortschrittsgeschichte eingebettet, in der die Antike vom Vorbild zum Vorläufer wird.

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46 Whewell (1837).

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Joyce van Leeuwen

Antike Mechanik im 16. Jahrhundert Die Querelle des anciens et des modernes, welche sich ab der Mitte des 17. Jahrhunderts als Debatte über die kulturelle Überlegenheit der Antike oder der Moderne in Frankreich entwickelte, kann als Phänomen auch durchaus früher angesetzt werden.¹ Ihre Vorgänger in der Literaturgeschichte befinden sich im breiteren Rahmen der Rezeption der Antike. Wie August Buck in einem Beitrag zur Querelle im Mittelalter und der Renaissance argumentiert hat, ist die Möglichkeit zu einer Auseinandersetzung dann gegeben, „sobald man auf die Antike bewusst zurückgreift und dabei die Antike in Beziehung zur eigenen Zeit setzt, Vergangenheit und Gegenwart miteinander vergleicht.“² Für die Mechanik ist die Frühe Neuzeit besonders bedeutungsvoll für einen solchen Austausch, in dem antikes und zeitgenössisches Wissen aufeinander treffen. Ziel dieses Beitrags ist es, die Transformationen antiker Mechanik im 17. und 18. Jahrhundert, welche von Christoph Lehner und Helge Wendt beschrieben wurden, zu komplementieren und anhand eines konkreten Fallbeispiels zu analysieren, inwieweit sich die Prozesse im 16. Jahrhundert als Allelopoiese interpretieren lassen. Die Transformationsprozesse der antiken Mechanik in der Frühen Neuzeit können mit Hilfe der Rezeption des pseudo-aristotelischen Traktats der Mechanik effektiv verdeutlicht werden. Die Mechanik ist das älteste überlieferte Werk, das die theoretischen Grundlagen von Maschinen erörtert und ein konzeptionelles Modell erstellt, in dem die mechanischen Phänomene – über Hebel und Waage – letztendlich auf den Kreis zurückgeführt werden können.³ Nachdem der Text im Mittelalter anscheinend unbekannt war, wurde er in der Frühen Neuzeit wiederentdeckt und in einer Reihe von Übersetzungen, Paraphrasen und Kommentaren intensiv rezipiert. Die lateinische Übersetzung des Textes durch Niccolò Leonico Tomeo aus dem Jahr 1525 und die lateinische Paraphrase des Alessandro Piccolomini (1547) haben vorrangig eine Rolle in der Verbreitung des Wissens der Mechanik gespielt. Obwohl die beiden Humanisten in erster Linie ein philologisches Interesse am Kopieren und Kollationieren von griechischen Manuskripten hatten, haben sie durch ihre Erläuterungen auch zu einem inhaltlichen Verständnis des Textes beigetragen. Ihre Kommentare leiten eine Reihe von Umwandlungen des mechanischen Inhalts ein und bilden die Grundlage für spätere

1 Ich danke Christoph Lehner und Helge Wendt für die Einladung zu einem Beitrag beim Dialog des SFB 644 Transformationen der Antike zum Konzept der Allelopoiese. Einige Überlegungen dieses Aufsatzes resultieren aus meiner Forschung zur Text- und Diagrammüberlieferung der Mechanik, welche 2016 bei Springer in der Reihe Boston Studies in the Philosophy and History of Science erschienen ist. 2 Buck (1958), 527. 3 Der Text der Mechanik besteht aus einer Einleitung, in der der Autor die Struktur des Textes darlegt. Anschließend folgen 35 verschiedene Probleme, von denen viele das Funktionieren von einfachen Maschinen erklären. DOI 10.1515/9783110499261-013

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Auseinandersetzungen bei Mathematikern, Ingenieuren und Praktikern. Diese Vielfältigkeit der Beschäftigung ist charakteristisch für die Rezeption dieses Textes, welche sich hauptsächlich im 16. Jahrhundert konzentrierte.⁴ Die mechanische Disziplin in der Frühen Neuzeit ist durch eine enge Verknüpfung von theoretischem und praktischem Wissen gekennzeichnet, in der sowohl die Antike von den Kommentatoren neu konstruiert als auch das zeitgenössische Wissen zur Mechanik überarbeitet wird. Wie in diesem Beitrag gezeigt wird, stellt sich die vom SFB 644 entwickelte Definition der Allelopoiese als produktive Wechselseitigkeit – wobei nicht nur die Aufnahmekultur, sondern auch die Referenzkultur transformiert werden – als ein hervorragendes Konzept heraus, um diese Wandlungsprozesse zu beschreiben.⁵ Für ein besseres Verständnis der Transformationen der Mechanik in der Frühen Neuzeit schauen wir uns zunächst an, wie die mechanische Disziplin von verschiedenen Kommentatoren betrachtet wurde. Anlass zu dieser Diskussion bildet ein Satz in der Einleitung der Mechanik, der die mechanischen Probleme genauer definiert: „Diese fallen weder mit solchen der Physik ganz und gar zusammen, noch liegen sie allzu weit davon entfernt, sondern stellen eine Verbindung zwischen mathematischer und physikalischer Erkenntnis dar: die Gesetze ergeben sich aus der Mathematik, die Gegenstände aus der Physik.“⁶ Eine ausführliche Besprechung des Verhältnisses vom physikalischen und mathematischen Teil der Mechanik ist in Alessandro Piccolominis Paraphrase zu finden. Wie andere Gelehrten der Renaissance, vertritt Piccolomini die Ansicht, dass die Mechanik eine Mittelposition zwischen der Mathematik und der Naturphilosophie einnimmt. Der Gegenstand der mechanischen Probleme ist ein natürlicher, während die zugrundeliegenden Prinzipien der mechanischen Geräte durch die Mathematik, oder genauer gesagt durch die Geometrie, bewiesen werden. Diese Verbindung der Mechanik zur Mathematik steht im Einklang mit der Einteilung der Wissenschaften im Corpus Aristotelicum. In der Physik umschreibt Aristoteles die Optik, Harmonik und Astronomie als „die natürlicheren der mathematischen Wissenschaften.“⁷ Obwohl die Mechanik in diesem Zusammenhang nicht aufgelistet wird, legen andere Textstellen zu den Parallelen zwischen Optik, Harmonik und Mechanik nahe, dass Aristoteles die Mechanik sehr wahrscheinlich auch als eine mathematische Wissenschaft bezeichnet hätte.⁸ Die Bedeutung der Mathematik für die Mechanik wird auch von Piccolomini hervorgehoben, indem er sagt, dass die mathematische Beweisführung der mechanischen Fragestellungen ausschlaggebend sei.⁹ Das genaue Verhältnis zur Mathematik lässt sich als eines der Unterordnung umschreiben, wo-

4 Siehe Rose/Drake (1971), 65–104 und Laird (1986), 43–68 für eine ausführliche Darstellung der mechanischen Disziplin in der Frühen Neuzeit. 5 Siehe Böhme (2011), 9. 6 Aristot., mech. 847a24–28, übers. v. Gohlke (1957), 21. 7 Aristot., phys. 194a7–8. 8 Siehe u. a. Aristot., metaph. 1078a14–17 und ders., an. post. 76a22–25. 9 Siehe Piccolomini (1565), 8r.

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bei die Fragen aus der Mechanik oder einer anderen untergeordneten Wissenschaft herrühren, während die übergeordnete Wissenschaft der Mathematik für die Beweise zuständig ist.¹⁰ Piccolomini erwähnt auch, dass die Mechanik als untergeordnete Wissenschaft in den Werken des Aristoteles mit der Optik, Harmonik und Astronomie gleichgesetzt wird.¹¹ In diesem Fall bemüht Piccolomini sich also zu zeigen, dass die Darstellung der Mechanik in der Einleitung des Textes mit deren Status in Aristoteles’ Einteilung der Wissenschaften kompatibel ist. Daraus kann man wiederum schließen, dass für ihn die Autorität des Aristoteles unanfechtbar war. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage diskutiert, ob die Mechanik eine theoretische Wissenschaft (epistēmē) oder eine praktische Kunst (technē) sei. In der Einleitung des Textes ist sie als Kunst definiert worden, sofern sie sich mit praktischen Anwendungen beschäftigt. Wir haben allerdings gesehen, dass neben dem natürlichen Gegenstand der Mechanik auch die Mathematik eine Rolle in der Begründung der Arbeitsweise von Maschinen spielt. Dies folgt aus der argumentativen Struktur des Textes, in der alle mechanischen Erscheinungen letzten Endes auf die geometrischen Eigenschaften des Kreises zurückgeführt werden können. Dieses theoretische Verständnis verdeutlicht, dass die Mechanik gleichzeitig als eine Wissenschaft aufgefasst werden kann. In seiner Paraphrase erkennt Piccolomini also die antike Unterteilung der Mechanik in eine theoretische und eine praktische Seite an und erläutert, dass sie einerseits eine Kunst sei, soweit sie die Konstruktion von Maschinen und anderen mechanischen Geräten umfasst, andererseits aber eine Wissenschaft, welche die Ursachen und Prinzipien des Handwerks darlegt. Es ist wiederum die mathematische Methode, die entscheidend dafür sei, dass die Mechanik überwiegend als Wissenschaft zu betrachten ist.¹² Diese Sicht auf die Mechanik in der Frühen Neuzeit beinhaltet eine Höherstufung im Vergleich zu deren Status im Mittelalter, wo sie mit anderen artes mechanicae nur als niedriges Handwerk betrachtet wurde.¹³ Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Status der Mechanik in der Frühen Neuzeit und der Stellungnahme zur Autorschaft des Mechanik-Traktats. Die heute gängige Interpretation ist, dass der Traktat vermutlich nicht von Aristoteles selbst, sondern von einem seiner Schüler verfasst wurde. Diese Idee ist allerdings erst im 19. Jahrhundert entstanden, zu Piccolominis Zeiten wurde noch nicht ernsthaft an der Echtheit der Autorschaft des Aristoteles gezweifelt. Aus dem Grund sehen wir auch, dass Piccolomini stets die Parallelen zwischen der Mechanik und den anderen Werken des Aristoteles aufdeckt. An manchen Stellen in der Mechanik hat er jedoch erkannt, dass diese für Aristoteles problematisch sein könnten, wie zum Beispiel in der Umschreibung der mechanischen Disziplin als epistēmē und technē zugleich. In seinem Bestreben, auch diese Passage mit Aristoteles’ Texten in Einklang zu bringen, 10 Siehe Aristot., an. post. 79a2–3. 11 Siehe Piccolomini (1565), 5r. 12 Siehe ebd., 8rv. 13 Siehe Laird (1986), 46–47.

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weist Piccolomini auf die Doppeldeutigkeit der Begriffe bei Aristoteles selbst hin. Er behauptet, dass Aristoteles nicht nur in der Mechanik, sondern auch in De Generatione Animalium, in der Metaphysik und an vielen anderen Stellen das Wort ars benutzt, obwohl er von einer scientia spricht.¹⁴ Mit dieser Aussage, dass für Aristoteles die beiden Begriffe oft austauschbar sind, zeigt Piccolomini die Vereinbarkeit der Mechanik mit den anderen Werken des Aristoteles. In diesem Fall festigt er die Autorität des Aristoteles als Autor der Mechanik und beteiligt sich gleichzeitig an einer kritischen Konstruktion der Antike. Die Kommentare zur Mechanik, die im 16. Jahrhundert verfasst wurden, weisen ein Interesse an einer Zusammenführung der theoretischen und der praktischen Seite der Mechanik auf. Die Beweisführungen des griechischen Textes werden von den Kommentatoren mathematisch und empirisch ergänzt und zum Teil auch korrigiert, indem sie sowohl auf die zugrundeliegenden mathematischen Prinzipien als auch auf den physikalischen Gegenstand der Mechanik verweisen. Als der Text der Mechanik in der Frühen Neuzeit wiederentdeckt wurde, übernahmen die Kommentatoren die Aufgabe, die vorhandenen mechanischen Traditionen der Antike und des Mittelalters miteinander zu vereinen. Im 16. Jahrhundert kursierten im Allgemeinen drei Ansätze zur Mechanik: die mittelalterliche Tradition der scientia de ponderibus, die aristotelische und die archimedische Tradition.¹⁵ Während die ersten beiden Traditionen von dynamischen Grundlagen ausgehen, beruht letztere auf statischen Prinzipien. Für den Text der Mechanik bedeutet dies, dass die Gelehrten entweder eine Verbindung mit den dynamischen Fragen der scientia de ponderibus und die Werke des Jordanus de Nemore aus dem 13. Jahrhundert erzielten, oder den Text hinsichtlich der archimedischen Statik interpretierten. Bernardino Baldi zum Beispiel war an einer mathematischen Analyse der Mechanik interessiert und wandte in seinem 1621 veröffentlichten Kommentar zur Mechanik die Prinzipien des Archimedes auf unseren Text an. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Interpretation war der Schwerpunkt – ein Konzept, das dem Autor der Mechanik noch nicht bekannt war. Anstatt die mechanischen Phänomene letztlich auf den Kreis und dessen einzigartige Merkmale zurückzuführen, wie es der Autor unseres Textes tut, erklärt Baldi möglichst viele Probleme anhand des Schwerpunkts. In diesem Zusammenhang stellt er keinen inneren Widerspruch zwischen den Werken des Aristoteles und des Archimedes fest, sondern ist der Meinung, dass Archimedes vielmehr Aristoteles weiterführte, indem er die physikalischen Grundlagen mathematisch bewiesen hat.¹⁶ Die Kontinuität zwischen den beiden Denkern tritt dabei in den Vordergrund, und Baldi kann problemlos schließen, dass die mechanischen Prinzipien durch die mathematische Analyse des Archimedes adäquater zum Ausdruck gebracht werden, ohne zugleich die Autorität des Aristoteles zu beeinträchtigen.

14 Siehe Piccolomini (1565), 8r. 15 Siehe Drake/Drabkin (1969), 5–10. 16 Siehe Rose/Drake (1971), 90–91.

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Aus Baldis Behandlung von Fragen zu Waagen wird deutlich, wie er seine Interpretation anhand des Konzepts des Schwerpunkts mathematisch vollzogen hat. Das zweite Problem der Mechanik beschäftigt sich nämlich mit den verschiedenen Aufhängepunkten von gleicharmigen Waagen und fragt sich, weshalb eine Waage, die von oben aufgehängt ist, zu ihrer Ausgangsposition zurückkehrt, nachdem das Gewicht entfernt wurde, während dies nicht der Fall ist, wenn die Waage von unten befestigt wurde. Diese Frage wird vom Autor des Textes beantwortet, indem er erklärt, dass im ersten Fall der schwerere Teil des Waagebalkens sich oberhalb der Halbierungslinie des Balkens befindet, aus welchem Grund er sich nach Entfernung des Gewichts zurückbewegen wird. Im zweiten Fall einer Befestigung von unten tritt das Gegenteil ein, wobei der schwerere Teil unterhalb der Halbierungslinie des Balkens ist und dadurch verhindert, dass die Waage zu ihrer ursprünglichen Position zurückkehrt. Baldi unterstreicht in diesem Kontext die Bedeutung einer Befestigung der Waage ober- oder unterhalb ihres Schwerpunkts. Wenn der Aufhängepunkt oben ist, steigt der Schwerpunkt mit dem Platzieren des Gewichts empor und bewegt sich nach dessen Entfernung wieder automatisch zurück, während dies nicht eintritt, wenn der Schwerpunkt sich zu einer niedrigen Position bewegt hat. Neben den beiden Fällen, die vom Autor der Mechanik beschrieben werden, fügt Baldi noch einen dritten hinzu, nämlich den Fall, dass die Waage nicht ober- oder unterhalb ihres Schwerpunkts aufgehängt wird, sondern genau im Schwerpunkt.¹⁷ Im Anschluss an seine Diskussion des Schwerpunkts fügt Baldi originelle praktische Anwendungen des Gleichgewichts ein, wie zum Beispiel den Seiltänzer (Abb. 30). Seine Erklärung erfolgt auf gleiche Art und Weise, indem jetzt der Schwerpunkt der Figur sich stets hoch und runter bewegt – von instabilem zurück zu stabilem Gleichgewicht – während die Figur sich über das Seil bewegt. Durch Baldis Behandlung des zweiten Problems der Waage erkennen wir, dass er die Frage zu der Aufhängung von Waagen mathematisch analysiert und gleichzeitig neue Themen einschließt, die anhand des gleichen Prinzips verdeutlicht werden können. In diesem Sinne erweitert er das Wissen, das im pseudoaristotelischen Text vorhanden ist. Eine ähnliche Mathematisierung des Textes kann in seinem Kommentar zum „Problem 20“ der Mechanik gefunden werden. Diese Frage beschäftigt sich mit der ungleicharmigen Waage und bringt die Arbeitsweise dieses Geräts sowohl auf die gleicharmige Waage als auch auf den Hebel zurück. Baldi folgt dem Text des Originals, fügt jedoch hinzu, dass das ganze System des Gleichgewichts mit dem jeweiligen Schwerpunkt zusammenhängt.¹⁸ Wenn die Befestigung der Waage nicht mit dem Schwerpunkt zusammenfällt, ergibt sich ein instabiles System, was dazu führt, dass die Waage sich in die eine oder andere Richtung neigt. Darüber hinaus verweist Baldi auf die praktische Anwendung dieser Art von Waage. Der Autor der Mechanik beschreibt eine ungleicharmige Waage mit einem beweglichen Aufhänge-

17 Siehe Baldi (1621), 32–34. 18 Siehe ebd., 134.

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punkt und einem festen Gegengewicht. Es gibt aber auch noch eine andere Variante der ungleicharmigen Waage, nämlich mit einem festen Aufhängepunkt und einem beweglichen Gegengewicht. Letztere, die Laufgewichtswaage, war, wie Baldi erwähnt, zu seinen Zeiten viel geläufiger.¹⁹ Die Verbindung zu praktischen Tätigkeiten ist charakteristisch für die Kommentare der Mechanik im 16. Jahrhundert. Auf theoretischer Ebene haben wir bei Baldi gesehen, dass er auf vorhandenes Wissen der Antike zurückgreift und sich zum Ziel gesetzt hat, die aristotelische Tradition mit der Statik des Archimedes zu vereinen. In diesem Fall bestehen die Innovationen in einer neuen Zusammensetzung bekannter Elemente. Tatsächliche Neuerungen haben sich in der Frühen Neuzeit jedoch im Bereich des praktischen Wissens zur Mechanik durchaus ergeben, insbesondere in der Architektur und im Bauwesen.²⁰ Die Übersetzer und Kommentatoren der Mechanik legen auch fast alle ein Interesse für Praxisbezogenheit an den Tag. Vittore Fausto zum Beispiel, ein Humanist, der im Jahre 1517 den Mechanik-Traktat erstmals ins Lateinische übersetzte, hat sich im Arsenal von Venedig aktiv mit Schiffsbau auseinandergesetzt.²¹ Piccolomini knüpft in seiner Paraphrase auch an die praktische Seite der Mechanik an, indem er auf zeitgenössische Technologien und Maschinen im Bauwesen verweist.²² Baldi bezieht in seinen Kommentar außerdem viele praktische mechanische Anwendungen ein, wie wir schon in seinen Bemerkungen zur ungleicharmigen Waage gesehen haben. In all diesen Fällen dient der pseudo-aristotelische Text dazu, die mechanischen Geräte der Frühen Neuzeit in eine Theorie einzubinden, mit deren Hilfe ihre Arbeitsweise erklärt werden kann. Piccolomini fasst in seinem Vorwort diese Funktion des Traktats treffend in Worte, indem er erläutert, dass das Werk des Aristoteles die wahren Ursachen von bewundernswerten Maschinen untersucht, nicht nur von denen, die schon erfunden worden sind, sondern auch von solchen, die künftig noch erfunden würden.²³ Der Text der Mechanik verschafft also dem fortgeschrittenen praktischen Wissen der Frühen Neuzeit einen theoretischen Hintergrund. Indem die Kommentatoren den griechischen Text und zeitgenössische Technologien zusammenbringen, transformieren die beiden Wissensbereiche sich in einem Prozess der Allelopoiese. Die Diagramme, die in den verschiedenen Kommentaren enthalten sind, spiegeln die Transformationen der Mechanik im 16. Jahrhundert wider. Einerseits finden wir in den Diagrammen die zunehmende Mathematisierung des Textes wieder, andererseits auch das Interesse für praktisches Wissen und innovative Technologien. Baldis Kom-

19 Siehe ebd., 135. 20 Siehe Valleriani (2009), 184. 21 Siehe Rose/Drake (1971), 77–78. 22 Siehe z. B. Piccolomini (1565), 40r–42r, wo er in seiner Beschreibung des 18. Problems der Mechanik über Umlenkrollen einen Exkurs zu einer Maschine im Bauwesen, die auf einem ähnlichen Prinzip beruht, einschließt. 23 Siehe ebd., 6r.

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mentar zum zweiten Problem des Textes ist in diesem Zusammenhang einleuchtend. Baldis Diagramme der unterschiedlichen Aufhängepunkte von Waagen sind denen aus der Manuskript-Tradition sehr ähnlich. Es sind auch geometrische Diagramme, sie zeigen jetzt aber Baldis Umdeutung, indem er das Problem aufgrund des Konzepts des Schwerpunkts analysiert hat. Wir sehen in diesem Fall also, dass nahezu die gleichen Diagramme wie in den griechischen Manuskripten mit einer neuen Interpretation verbunden werden. Neben diesen geometrischen Diagrammen gibt es in der Frühen Neuzeit noch eine andere Art von Darstellungen, wie aus Baldis erfindungsreichen Beispielen des Gleichgewichts deutlich wird. Abbildung 30, der Seiltänzer, welche eine Anwendung des Konzepts des Schwerpunkts illustriert, ist kein geometrisches Diagramm, sondern ein richtiges „Bild“. Obwohl bestimmte diagrammatische Praxen wie die Benutzung von Buchstaben, um auf die entsprechenden Teile der Figur zu verweisen, an die geometrischen Diagramme der Antike erinnern, ist es im strikten Sinne kein mathematisches Diagramm. Lediglich die Praxis der Buchstabenbenutzung wurde übernommen, aber ohne dass sie noch eine Rolle im mathematischen Beweis erfüllt. Diese rein illustrative Funktion tritt deutlich in den ganzseitigen Zeichnungen von Maschinen hervor, die in manchen frühneuzeitlichen Editionen vorhanden sind. Da die Diagramme in den Übersetzungen und Kommentaren zur Mechanik bestimmte Aspekte der antiken Tradition aufrechterhalten, gleichzeitig aber eine Umdeutung dieses Wissens beinhalten, sind sie ein perfektes Objekt allelopoietischer Betrachtung. Es gibt immer eine Konstante, sei es das ganze geometrische Diagramm oder bestimmte diagrammatische Praxen, die mit einer neuen Sichtweise oder mit praktischen Tätigkeiten verbunden werden. In diesem Beitrag wird im Folgenden eine bestimmte Frage der pseudo-aristotelischen Mechanik als konkretes Fallbeispiel herausgenommen, um anhand der Vielfalt der Diagramme in den frühneuzeitlichen Kommentaren die wechselseitigen Transformationsprozesse der Mechanik zu beleuchten. „Problem 25“ hat wegen seiner Komplexität und seines teilweise korrumpierten Textes eine Reihe von Interpretationen und Lösungsvorschlägen eröffnet. Es nimmt ausnahmsweise keinen Bezug auf das konzeptuelle Modell des Textes, in dem die mechanischen Erscheinungen entweder auf Hebel, Waage oder Kreis zurückgeführt werden können. Stattdessen beschäftigt es sich mit einem Aspekt des Alltagslebens und stellt zwei Fragen zu der Konstruktion von Betten: Weshalb werden Betten so gebaut, dass sie zweimal so lang wie breit sind? Und wieso werden sie nicht diagonal bespannt, sondern kreuzweise? Die erste Frage lässt sich gleich vom Autor beantworten, da es einen direkten Zusammenhang zwischen der Größe eines Bettes und des menschlichen Körpers gibt. Die zweite Frage hingegen ist komplizierter und es wird eine dreifache Antwort formuliert: das Holz des Bettrahmens wird auf diese Weise weniger beansprucht; das Seil wird weniger strapaziert; und insgesamt wird bei der Querbespannung weniger Seil benötigt als bei der Bespannung entlang der Diagonale. Im Folgenden geht der Autor nicht näher auf seine Begründungen der drei Antworten ein, sondern beschreibt die Einzelheiten der beiden Arten der Bespannung, wobei er auf zwei Diagramme verweist. Die Manuskript-Tradition der Mechanik enthält jedoch drei

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statt zwei Diagramme: zwei Diagramme, in denen das Bett kreuzweise bespannt wurde, und ein Diagramm, das die Diagonalbespannung illustriert (Abb. 31).²⁴ Diese Diagramme stellen lediglich das Prinzip der Bespannung dar und sind keineswegs ausreichend, um antiquarisch herauszufinden, wie Betten in der Antike genau bespannt wurden. Am deutlichsten noch ist das Diagramm mit vier Seilen von einer Seite zur anderen, das der ebenfalls unvollständigen Beschreibung des Autors entspricht: Das Bett sei AZHI und die Seite ZH sei in B halbiert. ZB habe ebenso viele Löcher wie ZA; denn diese Seiten sind ja gleich lang, da die ganze Seite ZH das Doppelte von ZA ist. Man spannt nun, wie eingezeichnet, von A nach B, weiter nach Γ, weiter nach Δ, weiter nach Θ, weiter nach E, und so immer weiter, bis man in eine andere Ecke eindreht. Denn zwei Ecken halten die Enden des Spannseiles.²⁵

Das Diagramm, das in den Manuskripten enthalten ist, stimmt mit dem Text überein, in dem auch nur diese vier Seile vom Autor definiert werden. Abweichend vom Text jedoch fällt auf, dass im Diagramm der Buchstabe B nicht mittig von der Seite ZH eingezeichnet ist, wie es vom Autor vorgeschrieben wurde. Diese metrische Ungenauigkeit im Diagramm ist ein typisches Merkmal der antiken und mittelalterlichen Diagramm-Traditionen.²⁶ Ein Beispiel dafür wäre, dass gerade Linien als gebogen dargestellt werden oder ungleiche Linien durch gleiche repräsentiert werden können. Die Tatsache, dass der Buchstabe B im Diagramm nicht präzise platziert wurde, sollte also nicht als Fehler betrachtet werden, denn die Diagramme in den Manuskripten stellen die Objekte grundsätzlich nicht metrisch genau dar. Die Übersetzer und Kommentatoren der Renaissance hatten erkennbare Schwierigkeiten mit dem lückenhaften Zustand des Textes und haben sehr unterschiedliche Lösungen des Bettproblems vorgeschlagen. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist die lateinische Übersetzung der Mechanik des Niccolò Leonico Tomeo aus dem Jahre 1525, da wir von seiner Hand neben der gedruckten Übersetzung auch ein älteres griechisches Manuskript besitzen.²⁷ Dieses Manuskript in der Burgerbibliothek Bern, Cod. 402, wurde am Ende des 15. Jahrhunderts von Leonico Tomeo kopiert und enthält zusätzliche Korrekturen und Diagramme von seiner Hand, welche nach Fertigstellung des Manuskripts von ihm hinzugefügt wurden. Die Diagramme im Kodex Bern. 402 haben die Figuren in der lateinischen Übersetzung beeinflusst. Dieser glückliche Umstand ermöglicht es, die einzelnen Interpretationsschritte im Prozess von handgeschriebenem Manuskript bis zum gedruckten Buch genauer zu beobachten. Die Diagramme zum „Problem 25“ die in Bern. 402 enthalten sind, stimmen mit den drei oben dargestellten der Manuskript-Tradition überein. Zwei dieser Diagramme zur

24 Siehe van Leeuwen (2016), 114–119 für eine kritische Edition der Diagramme in den Manuskripten der Mechanik. 25 Aristot., mech. 856b11–18, übers. v. Gohlke (1957), 54. 26 Siehe u. a. Netz (2004), 46 und Saito und Sidoli (2012), 143. 27 Siehe van Leeuwen (2016), Kap. 6, für einen Vergleich einiger Diagramme in diesen beiden Texten.

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Querbespannung des Bettes wurden in Leonico Tomeos Übersetzung kopiert. Darüber hinaus wurden in der lateinischen Edition zwei Diagramme hinzugefügt, welche die Seile vollständig kreuzweise und diagonal bespannt abbilden, wie man sie aufgrund der Beschreibung im Text konstruieren kann. Anscheinend wurden die Diagramme im Kodex Bern. 402 nicht für ausreichend befunden, um die Prinzipien darzustellen, und wurde aus diesem Grund die Übersetzung noch um zwei Visualisierungen ergänzt. Hier treffen also die Diagramme aus der byzantinischen Tradition und frühneuzeitliche Neubildungen zusammen, wie Abbildung 32 zeigt: das obere Diagramm zeigt die Neukonstruktion aufgrund des Textes, während das untere aus den Manuskripten übernommen wurde. Die metrische Ungenauigkeit der Diagramme in den Manuskripten ist im unteren Diagramm noch vorhanden, wo der Buchstabe B nicht genau in der Mitte von ZH dargestellt wurde. Es ist im Gegenteil im oberen Diagramm geändert worden, das jetzt den Sachverhalt metrisch präzise veranschaulicht. Abbildung 32 stellt den einzigartigen Fall dar, in dem zwei unterschiedliche Diagramm-Traditionen nebeneinander enthalten sind. Dieses Zusammengehen konfrontiert jedoch den Leser mit einem Problem, da ihm die Entscheidung überlassen wird, welches der Diagramme das Prinzip der Querbespannung am besten darstellt. Leonico Tomeo hat in den Notizen zu seiner Übersetzung leider nichts zu dieser spezifischen Frage oder zur Klärung der sonstigen textuellen Probleme beigetragen. Eine solche Auseinandersetzung findet sich beim nächsten Kommentator des Textes, Piccolomini, dessen lateinische Paraphrase der Mechanik im Jahre 1547 erschien. In seinen Bemerkungen zum Bettproblem erwähnt Piccolomini den korrupten Zustand des Textes und fügt hinzu, dass er in seiner Suche nach einem guten Manuskript schließlich einen alten Kodex in der Biblioteca Marciana in Venedig gefunden habe.²⁸ Dieses Manuskript habe zur Klärung der schwierigen Passagen beigetragen und es ihm wenigstens ermöglicht, den wahren Sinn des Aristoteles herauszufinden, obwohl es nicht alle textuellen Probleme lösen konnte. Aus dieser Bemerkung zeigt sich wiederum das philologische Bemühen des Piccolomini, den Text möglichst genau zu rekonstruieren. Wo ihm aufgrund des allzu korrumpierten Textes keine Rekonstruktion gelingt, versucht er den Inhalt im Sinne des Aristoteles zu deuten. Piccolominis Kommentar enthält insgesamt zwei Diagramme zu „Problem 25“, welche die Seile der Betten vollständig kreuzweise und diagonal bespannt darstellen (Abb. 33). Diese Diagramme sind denen in der Übersetzung des Leonico Tomeo sehr ähnlich, mit der Ausnahme, dass Piccolomini alle Öffnungen im Bettrahmen mit einer Aufschrift versehen hat. Er benötigt diese zusätzlichen Buchstaben um Berechnungen zu den Seillängen in beiden Betten anzustellen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Seil im Bett, das kreuzweise bespannt wurde, deutlich kürzer ist als jenes in der Diagonalbespannung. Piccolomini geht dabei nicht auf eine rätselhafte Bemerkung des Autors der Mechanik am Ende des 25. Problems ein, die zu dem Unterschied der Seillängen sagt, dass

28 Siehe Piccolomini (1565), 53v.

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die Querbespannung so viel weniger Seil benötigt wie die beiden Seiten zusammen größer sind als die Diagonale.²⁹ Er schließt aus seinen Berechnungen einfach, dass Aristoteles Recht hatte in diesem Problem und die Bespannung entlang der Diagonale mehr Seil verbraucht.³⁰ In seinen Berechnungen hat Piccolomini aber etwas übersehen, das die benötigte Seillänge beeinflusst. Baldi, der nächste Kommentator der Mechanik, wird darauf hinweisen und den Fehler beheben. In Bernardino Baldis im Jahre 1621 veröffentlichtem Kommentar zur Mechanik sehen wir, dass sich ein großer Wandel in der Deutung des Bettproblems vollzogen hat. Baldi erwähnt auch die Obskurität des Textes und lobt seinen Vorgänger Piccolomini für seine Behandlung dieser komplexen Frage.³¹ Baldis Kommentar enthält die ausführlichste Auseinandersetzung mit diesem Problem und behandelt der Reihe nach die einzelnen Begründungen, unter anderem die Beanspruchung des Bettrahmens bei unterschiedlicher Bespannung. Anhand eines Diagramms zeigt Baldi, dass der Holzrahmen stärker beansprucht wird, wenn die Seile diagonal befestigt sind. Er vergleicht die Bespannung entlang der Diagonale mit einer senkrechten Anordnung der Seile und demonstriert, dass in ersterem Fall die Seile so viel Druck ausüben, dass der Rahmen brechen würde. In Bezug auf die Frage nach der Beanspruchung der Seile wird Baldi nicht vor ein großes Problem gestellt und erklärt, dass je länger das Seil ist, desto schwächer es auch sein wird; im Fall einer Bespannung entlang der Diagonale seien die Seile eindeutig am längsten. Von besonderer Bedeutung für die Transformationen der Mechanik in der Frühen Neuzeit sind Baldis Ausführungen zu den verschiedenen Seillängen. In diesem Zusammenhang bemerkt er, dass Piccolomini übersehen habe, die Stücke des Seils an der langen Seite des Bettrahmens von einer Öffnung zur nächsten mit einzurechnen. Wenn man diese Stücke für beide Arten der Bespannung dazu zählen würde, ergebe sich, dass die Gesamtlänge der Diagonalbespannung weitaus größer sei als im ersten Fall. Baldi ist der erste Kommentator, der sich zu der Bemerkung des Autors zu dem Unterschied in den Seillängen äußert – und er zeigt sich deutlich frustriert über dieses Rätsel. Er hält die Berechnung des Philosophen für kompliziert und obskur und die Hilfe eines delischen Schwimmers für nötig.³² Er beschließt dann auch, sich nicht länger an diesem schwer lösbaren Problem aufzuhalten und wartet mit einem unkonventionellen Gegenvorschlag auf. Auf den Mythos des Gordischen Knotens hinweisend wählt er wie Alexander der Große in der Sage eine Radikallösung – und wundert sich, weshalb man in der Antike Betten nicht senkrecht bespannt hat. Diese alternative Art der Bettbespannung wird von Baldi mittels eines Diagramms erläutert (Abb. 34). Die Länge des benötigten Seils ist in diesem Fall geringer als in den beiden vom Autor der Mechanik beschriebenen Betten. Darüber hinaus wird der Holzrahmen auch weniger beansprucht, wenn das Bett eine 29 Siehe Aristot., mech. 857a3–4. 30 Siehe Piccolomini (1565), 56v. 31 Siehe Baldi (1621), 151. 32 Siehe Baldi (1621), 153.

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senkrechte Bespannung hat. Mit diesem radikalen Gegenvorschlag hat Baldi sich von seinen Vorgängern gelöst und gleichzeitig einen bedeutenden Schritt in der Transformation des Bettproblems vollzogen. Die frühneuzeitlichen Kommentare zum Bettproblem illustrieren die Wandlung der Diagramme. Während sich die Diagramme in Leonico Tomeos lateinischer Übersetzung der pseudo-aristotelischen Mechanik noch stark an die Manuskript-Tradition anlehnen, finden wir in Baldis Kommentar komplett neue Visualisierungen, die nicht mehr den Lösungsansätzen des Autors entsprechen. Der antike Text diente aber für alle Übersetzer und Kommentatoren der Frühen Neuzeit als Ausgangspunkt, um sich mit solchen Problemen auseinanderzusetzen. Indem sie den Inhalt des Traktats als zeitgenössisches Wissen verstehen, das beliebig erweitert werden kann, beteiligen sie sich aktiv an einer Konstruktion der Antike. Ihr Bemühen, den authentischen Text der Mechanik zu rekonstruieren und die einzelnen Aspekte des Textes mit der Philosophie des Aristoteles in Einklang zu bringen, bringt unumgänglich einen Wandel der Referenzkultur mit sich. Im Umgang mit dem mechanischen Wissen des Textes im 16. Jahrhundert sehen wir, dass die Wandlungsprozesse sich fortsetzen. Dabei werden die Transformationen von zeitgenössischen Technologien und einem erweiterten praktischen Wissen der Agenten gesteuert. Indem die mechanischen Theorien der Antike und die praktischen Tätigkeiten der Frühen Neuzeit zusammengebracht werden, findet zugleich ein Wandel der Aufnahmekultur statt. Der Text der Mechanik fungiert in diesem Fall als theoretischer Rahmen, um die fortgeschrittenen Technologien zu erklären. Das Konzept der Allelopoiese eignet sich besonders, um die bildliche Rezeption der Antike zu studieren. Die produktive Wechselseitigkeit zwischen der Antike und der Frühen Neuzeit äußert sich darin, dass einerseits bestimmte diagrammatische Praxen über die Jahrhunderte konstant geblieben sind, während andererseits auch völlig neue bildliche Darstellungsmethoden entwickelt wurden.

Literatur Baldi, Bernardino, In Mechanica Aristotelis Problemata Exercitationes, Mainz 1621. Barnes, Jonathan, The Complete Works of Aristotle, 2 Bde., Princeton 1984. Böhme, Harmut, „Einladung zur Transformation“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. v. dems./Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, München 2011, 7–37. Buck, August, „Aus der Vorgeschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Mittelalter und Renaissance“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, 20.3 (1958), 527–541. Drake, Stillman/Drabkin, Israel E., Mechanics in Sixteenth-Century Italy. Selections from Tartaglia, Benedetti, Guido Ubaldo, & Galileo, Madison 1969. Gohlke, Paul, Aristoteles. Kleine Schriften zur Physik und Metaphysik, Paderborn 1957. Laird, Walter Roy, „The Scope of Renaissance Mechanics“ in: Osiris 2.2 (1986), 43–68. Leonico Tomeo, Niccolò, Nicolai Leonici Thomaei Opuscula nuper in lucem aedita quorum nomina proxima habentur pagella, Venedig 1525.

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Netz, Reviel, The Works of Archimedes. Translated into English, together with Eutocius’ Commentaries, with Commentary, and Critical Edition of the Diagrams, Cambridge 2004. Piccolomini, Alessandro, In Mechanicas Quaestiones Aristotelis. Paraphrasis paulo quidem plenior [1547], Venedig 1565. Rose, Paul L./Drake, Stillman „The Pseudo-Aristotelian Questions of Mechanics in Renaissance Culture“, in: Studies in the Renaissance 18 (1971), 65–104. Saito, Ken/Sidoli, Nathan, „Diagrams and Arguments in Ancient Greek Mathematics. Lessons Drawn from Comparisons of the Manuscript Diagrams with those in Modern Critical Editions“, in: History and Historiography of Mathematical Proof in Ancient Traditions, hg. v. K. Chemla, Cambridge 2012, 135–162. Valleriani, Matteo, The Transformation of Aristotle’s Mechanical Questions. A Bridge Between the Italian Renaissance Architects and Galileo’s First New Science’, in: Annals of Science 66.2 (2009), 183–208. Van Leeuwen, Joyce, The Aristotelian Mechanics. Text and Diagrams, Dordrecht 2016.

Josefine Kitzbichler

Übersetzung als Allelopoiese: „um so abweichender […], je mühsamer sie nach Treue strebt“ (Humboldt)¹ Ad fontes – Die Intention auf das Original

1 Seit je wurde darüber gestritten, wie „treu“ Übersetzungen sein müssen oder überhaupt können, wie „frei“ sie sein dürfen; ob sie als „äquivalente“ oder wenigstens „adäquate“ Substitute ihrer Ausgangstexte aufzufassen sind oder aber als eigenständige Texte innerhalb der jeweiligen Aufnahmekultur; ob das Übersetzen eher als eine Abbild- oder als eine Transfertechnik zu konzipieren ist. Hier zeichnet sich die Polarität ab, in der das Übersetzungsproblem stets verhandelt wurde und aus der es nicht herauszulösen ist; die angedeuteten Pole bezeichnen zugleich die doppelte Anbindung von Übersetzungen an den Referenz- und den Aufnahmebereich. Es liegt auf der Hand, dass das Allelopoiese-Konzept helfen kann, diese Doppelbindung zu verstehen und zu beschreiben; und es ist zu hoffen, dass umgekehrt anhand des Übersetzungsproblems auch das Konzept der Allelopoiese geschärft werden kann. Vorliegender Beitrag befasst sich mit jenem Prinzip, das seit Horaz und – ungeachtet aller später hinzugekommenen anderen Termini – letztlich bis heute dem Begriff der „Treue“ zugeordnet wird (der aus praktischen Gründen auch in diesem Beitrag verwendet werden soll),² und das auf die Unerlässlichkeit der Anbindung einer jeden Übersetzung an den jeweils zugrundeliegenden Ausgangstext weist; dieses Prinzip 1 Humboldt, [Vorrede], 102. – Dieser Doppelbeitrag fiel insofern aus dem Rahmen der „Allelopoiese“Tagung, als wir, Josefine Kitzbichler und Thomas Poiss, beide dem SFB Transformationen der Antike (Projekt B7 „Übersetzung der Antike“) angehören. Anstatt also einen Beitrag aus den Reihen des SFB durch einen kritischen Kommentar von außen zu ergänzen, sind wir in einen internen Dialog, ein spielerisch-heuristisches Streitgespräch getreten: eine Form, die uns perfekt geeignet schien, um das Problem des Übersetzens (speziell des Übersetzens antiker Autoren) mit all seinen Paradoxien und – echten oder scheinbaren – Aporien zu beschreiben, und Übersetzung zugleich als ein allelopoietisches Textverfahren par excellence auszuweisen. 2 Vgl. Horaz, Ars, 133 f., wo vom fidus interpres die Rede ist. – In den Fachsprachen der mit Übersetzungen befassten Wissenschaftsdisziplinen ist der Begriff heute kaum mehr anzutreffen; unterhalb und jenseits fester Terminologien ist er aber nach wie vor in Gebrauch. – Interessant ist, dass Hermans/Koller (2004), 26, sich dort auf den Begriff berufen, wo sie die Übersetzung pragmatisch aus der Leserperspektive als Substitut für ein sonst unzugängliches „Original“ beschreiben – nicht ohne Hinweis darauf, dass es sich um einen „traditionellen“ Begriff handelt: „[…] when faced with a text regarded as a translation, recipients expect this text to meet certain prototypical conditions. TradiDOI 10.1515/9783110499261-014

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der Anbindung ist konstitutiv für das Textverfahren des Übersetzens, und sie ist nicht anders als normativ zu denken. Obwohl aber dieses normativ regulierte Verhältnis zwischen Ausgangstext und Übersetzung textkonstitutiv ist, wird es doch oft – jedenfalls in der literaturwissenschaftlichen Übersetzungsforschung – eher stillschweigend als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, als dass seine Beschaffenheit und Funktionsweise untersucht und reflektiert würden.³ Nach meiner Auffassung spricht jedoch vieles dafür, dass in Übersetzungen nicht die „Treue“, sondern im Gegenteil die Eigenständigkeit gegenüber dem Ausgangstext, der konstruktive Charakter des Textverfahrens Übersetzung, die Differenz zwischen „Original“ und Übersetzung als selbstverständlich anzusehen sind.⁴ Leichter greifbar und beschreibbar sind sie allemal, wohingegen sich das, was hier als „Treue“, normativ regulierte Anbindung der Übersetzung an den Ausgangstext, gefasst wird, einem methodischen Zugriff sowohl unter systematischtheoretischen als auch unter historischen Prämissen hartnäckig zu entziehen scheint. Es geht also um nichts Geringeres als die Frage, was eine Übersetzung überhaupt ist. Was unterscheidet sie etwa von einer Adaption, einer Nachdichtung? Woran bemisst sich ihre „Richtigkeit“? Dass Übersetzungen „richtig“ sein müssen, ist ja keine Erfindung der modernen Hermeneutik oder Philologie, sondern entspricht einem epochenübergreifenden Konsens. Horaz nannte den Übersetzer einen „fidus“, Cicero wies ihm das „Wort-für-Wort“-Verfahren zu.⁵ Und als der Bibelübersetzer Hieronymus im Brief an seinen Jugendfreund Pammachius seine Auffassung des Übersetzens erläuterte, geschah dies in Reaktion auf Vorwürfe, er habe fehlerhaft und untreu übersetzt.⁶ An der schon hier zum Ausdruck kommenden normativen Grundierung des

tionally these conditions have been encapsulated in the idea of ‚faithfulness‘, enabling recipients to imagine that although they are being presented with a vicarious object, it is to all practical intents and purposes ‚as good as‘ the utterance it is taken to represent.“ 3 Dies hängt sicher nicht zuletzt damit zusammen, dass in der Literaturwissenschaft die Traditionen normkritischer Ästhetik seit dem Sturm und Drang ihr Seitenstück in einem Theoriedefizit haben, was die Funktionen des Normativen betrifft; vgl. dazu Anz (2007), 722. Anders die Translatologie: Hier gab es außerordentlich umfangreiche und intensive Diskussionen zu Begriffen wie „Invarianz“, „Äquivalenz“, „Adäquatheit“, die in je unterschiedlicher Weise als Weiterentwicklungen des Treue-Begriffs verstanden werden können; einen Einblick geben u. a. Neubert (2004) und Koller (2004). – Ausführlicher zum ontologischen Status von Übersetzungen Hermans/Koller (2004) und – in literaturwissenschaftlicher Perspektive – Greiner (2004). 4 Diese Ansicht korreliert natürlich mit Friedrich Schleiermachers in der Hermeneutik-Vorlesung 1819 formulierten Auffassung, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“; Schleiermacher, Vorlesungen, 127. 5 Vgl. Cicero, opt. gen., §14. Zu Horaz siehe oben, Anm. 2. – Beide Stellen werden mitunter irrtümlich als Plädoyer für das „freie“, sinngemäß verfahrende Übersetzen gelesen. Tatsächlich ist es aber so, dass in beiden Fällen die Treue des Übersetzers als Kontrastfolie dient, vor der die Freiheit des poeta (Horaz) bzw. des orator (Cicero) postuliert wird. 6 Hieronymus hatte für einen Freund einen Brief des Papstes Epiphanius an den Jerusalemer Bischof aus dem Lateinischen übersetzt; diese eigentlich gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehene Über-

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Übersetzungsbegriffs hat sich de facto bis heute nichts geändert. Selbst die von aemulatio-Vorstellungen geleiteten, aus heutiger Perspektive unzulässig weit von ihren Textvorlagen abweichenden Übersetzungen der Frühen Neuzeit sind letztlich überall darauf rückführbar. Allerdings hatten „treue“ Übersetzungen bis ins 18. Jahrhundert im literarischen System häufig keinen sehr hohen Status, sondern dienten eher präliminarischen bzw. didaktischen Funktionen; dies heißt aber nicht, dass man in der „Treue“ nicht Nukleus und Ausgangspunkt alles Übersetzens gesehen hätte.⁷ Wenn wiederum in der jüngeren Forschung Übersetzungen bisweilen in erster Linie als zielkulturelle Konstruktionen betrachtet werden, wobei das Identitätsversprechen, dass eben doch mit jeder Übersetzung einhergeht, aus der Betrachtung weitgehend ausgeblendet werden muss,⁸ dann ist dies schon deshalb unbefriedigend, weil im Literaturbetrieb, aber beispielsweise auch in der Schule eben dieses Versprechen, „quasi dasselbe mit anderen Worten“⁹ (Umberto Eco) zu sagen, unerlässlich bleibt. Es entspricht also seit der Antike der communis opinio, dass Übersetzungen durch eine besondere, oft durch den ethischen Begriff der „Treue“ bestimmte Relation zum jeweiligen Ausgangstext gekennzeichnet sind. Mit der hermeneutischen Wende zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückte diese Relation verstärkt und in neuer, durchaus bis heute richtungsweisender Weise in den Fokus theoretischer Bemühungen. Die einschlägige Stelle in Wilhelm von Humboldts Vorrede zur Übersetzung des aischyleischen Agamemnon (1816) lautet: Soll aber das Uebersetzen der Sprache und dem Geist der Nation dasjenige aneignen, was sie nicht, oder was sie doch anders besitzt, so ist die erste Forderung einfache Treue. Diese Treue muß auf den wahren Charakter des Originals, nicht, mit Verlassung jenes, auf seine Zufälligkeiten gerichtet seyn, so wie überhaupt jede gute Uebersetzung von einfacher und anspruchloser Liebe zum Original, und daraus entspringendem Studium ausgehen, und in sie zurückkehren muß.¹⁰

Noch einmal: Das Treue-Postulat an sich war keine Neuerung der Sattelzeit. Neu war aber, dass „Treue“ im Verständnis der hermeneutischen Übersetzungstheorien auf die

setzung war es, die ihm heftige Kritik eintrug. Hieronymus reagierte im Brief an Pammachius mit der Unterscheidung zwischen Übersetzungen profaner Texte und der Bibelübersetzung. Vgl. Bartelink (1980). 7 Ein gutes Beispiel bietet Georg Philipp Harsdörffers aufsteigendes Dreistufen-Modell, das von der interpretatio (I.) über die imitatio (II.) zur höchsten Form, der aemulatio (III.), führt: „I. Wann man etwas von Wort zu Wort übersetzet / wie die Knaben in den Schulen. II. Wann man die Meinung der Wort fasset / und selbe fahren lässet. III. Wann man die Meinung oder den Verstand nach der Teutschen Mundart richtet / und mit dem Dolmetschen die Sache erkläret.“ Harsdörffer, Schutzschrift, 50. Zu Harsdörffer vgl. auch Hess (1992). 8 Vgl. zu solchen Forschungsansätzen Greiner (2004), 54–84. 9 So der Titel eines Buchs von Umberto Eco, italienisch 2003: Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione; deutsch 2006: Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. 10 Humboldt, [Vorrede], 103.

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„Erfindung des Originals“¹¹ reagieren musste, die im 18. Jahrhundert stattgefunden hatte, wodurch das Übersetzen einerseits eine epochale Aufwertung erfuhr, andererseits aber stets in die Aporie zu führen drohte. So heißt es bei Humboldt weiter: „Ein solches Gedicht [sc. Aischylos’ Agamemnon] ist, seiner eigenthümlichen Natur nach […] unübersetzbar.“¹² Dieser theoretischen Unmöglichkeit stand freilich jederzeit die Pragmatik des Übersetzens zur Seite: Der zitierte Satz findet sich ja paradoxerweise im Vorwort von Humboldts eigener Aischylos-Übersetzung. Die Folgen dieses aporetischen TreueBegriffs reichen allerdings bis in die Gegenwart und sind beispielsweise noch greifbar in den schier uferlosen Debatten, die in der Translatologie um „Äquivalenz“ und andere Nachfolge-Termini der „Treue“ geführt wurden.¹³ Dass hier nicht so sehr das Übersetzen selbst, sondern die terminologische Debatte durch Aporie bedroht war, haben etwa Theo Hermans und Werner Koller in ihren grundlegenden Überlegungen zum ontologischen Status von Übersetzungen (2004) dargelegt: There is general agreement today that a strong notion of equivalence, which would imply identity and reversibility, is untenable as a descriptor of the relation between translations and their parent texts.¹⁴

Dagegen ist in der literaturwissenschaftlichen Übersetzungsforschung, die überwiegend auf Fragen der Literatur-Rezeption, des Literatur-Transfers und auf die Funktion von Übersetzungen innerhalb der Zielkultur gerichtet war und ist,¹⁵ in Bezug auf die für Übersetzungen eigentlich konstitutive Ausgangstext-Zieltext-Relation ein Forschungs- und Theoriedefizit festzustellen. Die Differenz zwischen Übersetzungen und ihren Textvorlagen, das auf die Zielkultur gerichtete konstruktive Potenzial des Übersetzens werden erörtert, nicht aber das jeder Übersetzung inhärente TreueVersprechen. Fritz Senn soll, so berichtet Harry Rowohlt, einmal gesagt habe: „Was nutzt einem die beste Übersetzung, wenn in ihr dasselbe steht wie im Original?“¹⁶ Woran aber bemisst sich, ob in einer Übersetzung „dasselbe“ steht wie im Original? Wo liegt der Nullpunkt, von dem aus die Differenz erst beschreibbar wird? Diese Fragen können hier nicht beantwortet, dieses Theoriedefizit nicht behoben werden; jedoch soll im Folgenden anhand zweier Beispiele der Frage nachgegangen werden, wie die Relationen zwischen Ausgangs- und Zieltext in einer konkreten literaturgeschichtlichen Situation, innerhalb spezifischer historischer Konstellationen beschaffen waren, wo im konkreten Fall die Grenze zwischen „treuer“ Übersetzung und „freier“ Adaption verläuft und welchen Normen das Textverfahren der Übersetzung 11 12 13 14 15 16

Vgl. den Aufsatz dieses Titels von Poltermann (1987). Humboldt, [Vorrede], 101. Vgl. oben Anm. 3. Hermans/Koller (2004), 27. Zur literaturwissenschaftlichen Übersetzungsforschung vgl. generell Greiner (2004). Rowohlt, Poohs Corner.

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dabei unterlag. Bei den Beispielen handelt es sich um die zwei frühesten deutschen Versionen von Sophokles’ König Oedipus, entstanden in der Mitte des 18. Jahrhunderts: in einer literaturgeschichtlich dichten Gemengelage, im Spannungsfeld vielfältiger Funktionalisierungen und in einer Phase ausgesprochen instabiler, im Umbruch begriffener Übersetzungsnormen.

2 Der erste deutsche König Oedipus erschien 1746 im Braunschweig-Lüneburgischen Celle unter dem Titel Oedipus, ein Trauerspiel in Versen nach den [sic!] Sophocles eingerichtet; Verfasser war Johann Heinrich Steffens (1711–1784), Konrektor der Celler Lateinschule.¹⁷ Als Beispiel sollen hier die Verse 222–240 dienen: ein Ausschnitt aus dem Monolog, in dem Oedipus den Mörder des Laios zur Fahndung ausschreibt, ohne zu wissen, dass er selbst dieser Mörder ist.¹⁸ Bei Steffens lautet die Stelle:¹⁹ Da aber die Gefahr Auch meiner Scheitel droht, seitdem ihr mir die Krone Und Zepter anvertraut, so widme ich dem Trone Auch diese Schuldigkeit. Drum sei euch kund getahn,

17 Zu Steffens vgl. Brandes (1893) sowie Meid (2008), 77–90. 18 Der griechische Text (ed. Lloyd-Jones) lautet: νῦν δ’ ὕστερος γὰρ ἀστὸς εἰς ἀστοὺς τελῶ, ὑμῖν προφωνῶ πᾶσι Καδμείοις τάδε· ὅστις ποθ’ ὑμῶν Λάιον τὸν Λαβδάκου κάτοιδεν ἀνδρὸς ἐκ τίνος διώλετο, 225 τοῦτον κελεύω πάντα σημαίνειν ἐμοί· κεἰ μὲν φοβεῖται τοὐπίκλημ’ ὑπεξελεῖν αὐτὸς καθ’ αὑτοῦ· πείσεται γὰρ ἄλλο μὲν ἀστεργὲς οὐδέν, γῆς δ’ ἄπεισιν ἀβλαβής – εἰ δ’ αὖ τις ἄλλον οἶδεν ἢ ’ξ ἄλλης χθονὸς 230 τὸν αὐτόχειρα, μὴ σιωπάτω· τὸ γὰρ κέρδος τελῶ ’γῲ χἠ χάρις προσκείσεται. εἰ δ’ αὖ σιωπήσεσθε, καί τις ἢ φίλου δείσας ἀπώσει τοὒπος ἢ χαὐτοῦ τόδε, ᾃκ τῶνδε δράσω, ταῦτα χρὴ κλύειν ἐμοῦ· 235 τὸν ἄνδρ’ ἀπαυδῶ τοῦτον, ὅστις ἐστί, γῆς τῆσδ’, ῇς ἐγῲ κράτη τε καὶ θρόνους νέμω, μήτ’ εἰσδέχεσθαι μήτε προσφωνεῖν τινα, μήτ’ ἐν θεῶν εὐχαῖσι μήτε θύμασιν κοινὸν ποεῖσθαι μήτε χέρνιβος νέμειν· 240 19 Steffens, Oedipus, 11–13. Die eigenwillige Orthographie von Steffens wurde hier und in allen weiteren Zitaten übernommen.

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Und dieser mein Befehl geht würklich alle an. Weiß iemand unter euch die Mörder anzuzeigen, Durch die dort Lajus fiel, so wird er nichts verschweigen. Und sollte iemand seyn, wie sich dies oft zu trägt, Dem nach so langer Zeit nun sein Gewissen schlägt, Dem geb ich hier mein Wort und sicheres Geleite. Sein Hals bleibt unverwürkt, wie wol ich ihm bedeute, Dis soll sein Urteil seyn; es soll ihm nichts geschehn, Er soll nur alsobald aus unsern Grenzen gehen. Ja soltet ihr noch wen in fremden Ländern kennen, Der euch verdächtig scheint, so sollt ihr mir ihn nennen, Ich setze einen Lohn auf diese Schuldigkeit. Hingegen wisset auch, wofern sich iemand scheut, Der Wahrheit diese Pflicht und uns den Dienst zu leisten, Den treffe der Verdruß, den er besorgt, am meisten! Sein Leben sei sein Tod, sein Bleiben seine Flucht; Er müsse hülfloß seyn, wo er nur Hülfe sucht. Kein einzger Untertahn der meinen Zepter ehret, Verstatt ihm einen Plaz. Nichts, was er sonst begehret, Nichts, was man keinem wehrt, kein Wasser, kein Gebeht, Kein Opfer, kein Gespräch, nichts was zu denken steht, Sei ihm bei euch vergönnt. Dreizehn Jahre nach Steffens’ Oedipus, im Jahr 1759, erschien in Zürich die Übersetzung des schweizerischen Theologen und Philologen Johann Jacob Steinbrüchel (1729–1796);²⁰ diese Version ging 1763 in Steinbrüchels (hier verwendete) Sammlung Das tragische Theater der Griechen ein. Hier lauten V. 222–240 so:²¹ Allein so gebiete ich, nunmehr euer Mitbürger, euch allen Cadmeern, daß, wer da weiß, durch wen der Sohn des Labdakus ist ermordet worden, eile und alles mir offenbare[.] Fürchtet der Schuldige sich selbst anzugeben, so lasse er alle Furcht fahren! Er soll keine andre Strafe, als die Verbannung leiden. – – – Hat ein Ausländer diesen Mord begangen, so verhelet es auch nicht. Wer ihn anzeiget der soll Belohnung; noch mehr, der soll meine Gnade haben! – – – Wofern aber, meiner Sorge ungeachtet, Furcht oder Freundschaft dieses unglüksvolle Geheimniß verbergen sollten; so höre in diesem Falle jeglicher meine Befehle, und meine Flüche. Wo immer mein Scepter gefürchtet wird, da verbiete ich mit diesem Elenden, wer er sey, zu reden, ihn aufzunehmen, ihm an den öffentlichen Gebeten, an den Opfern der Götter, an dem geweyhten [1] Wasser, Antheil zu lassen.

20 Zu Steinbrüchel vgl. Hunziker (1893); zu Steinbrüchel als Pindar-Übersetzer Vöhler (2005), 127–131. 21 Steinbrüchel, Das tragische Theater, Bd. 1, 129 f. Lessing besprach Steinbrüchels Übersetzung im 21. Teil der Briefe, die Neueste Litteratur betreffend (304. Brief, 1765) außerordentlich kritisch.

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Zum letzten Satz gibt Steinbrüchel folgende Fußnote: [1] Alle diejenigen, welche Theil an einem Opfer nehmen wollten, wuschen vorher ihre Hände mit einander in einem Weyhwasser; und wann das Opfer vollendet war, so löschte man einen glühenden Brand, der von dem Altar genommen ward, in eben diesem Wasser ab, und besprengte damit die ganze Versammlung, welche durch dieses Mittel vollends gereiniget ward. Davon ausgeschlossen zu seyn, war bey den Griechen eine grausame Excommunication.

Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Oedipus-Versionen ist evident; dass dieser Unterschied auch vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Wandels des Übersetzungsbegriffs, der sich damals vollzog, und, damit im Zusammenhang, einer Instabilität in den Übersetzungsnormen zu verstehen ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Zuerst zur Übersetzung von Johann Heinrich Steffens. Sie ist in gereimte Alexandriner gefasst, den Vers des deutschen Barockdramas und der französischen klassizistischen tragédie, aber das ist für die hier behandelten Fragen ohne Belang.²² Bedeutend sind dagegen die folgenden drei Beobachtungen im vorliegenden Textausschnitt: (1) Eine Nachbildung sprachlicher Mikrostrukturen („Wörtlichkeit“) hatte Steffens selbstverständlich nicht im Sinn. Seine Übersetzung richtet sich – was hier nicht im Einzelnen gezeigt werden muss – nicht auf einzelne Wörter und ihre syntaktische Verknüpfung, sondern auf die Wiedergabe von größeren Sinneinheiten, von Sätzen, Abschnitten oder sogar ganzen Szenen. Dies stand mit den vorherrschenden Übersetzungskonzepten und -normen der Zeit ganz und gar im Einklang, seien es die immer noch einflussreichen Grundsätze der belles infidèles der französischen Klassik²³ oder die neueren Prinzipien der deutschen Aufklärung und besonders der Gottschedianer, die das Übersetzen in rationalistischem und universalistischem Sprachverständnis verankern wollten²⁴. Dass Steffens – in moderner Terminologie – makrostrukturell

22 In der Übersetzungsgeschichte, zumal des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, haben Fragen des Versmaßes allerdings keine geringe Bedeutung. Der Weg führte, stark vereinfacht gesprochen, vom klassizistischen Alexandriner zur Prosa der Aufklärung, und von der Prosa einerseits zum fünfhebigen Blankvers, andererseits zum sechshebigen deutschen Trimeter, der um 1800 als nächstmögliches Substitut des griechischen Trimeters entwickelt wurde. Es darf bezweifelt werden, ob hinter Steffens’ Entscheidung für den Alexandriner ein substanzielles ästhetisches oder übersetzerisches Konzept stand. Immerhin verweist Steffens in seiner Vorrede (ohne Paginierung) einmal auf Gottscheds Ausführungen zur Versgeschichte; dieser hatte in der Critischen Dichtkunst innerhalb eines Abrisses zur Tragödie zwischen griechischem Trimeter und deutschem Alexandriner historische Analogien gefunden: „Vor Alters hatte man [sc. auf der griechischen Bühne] die vierfüßigen jambischen Verse, die sehr bequem zum Singen waren, und, so zu reden, recht zum Sprunge giengen, gebraucht; nachmals aber wurden die sechsfüßigen jambischen eingeführt: ebenso, wie es bey uns Deutschen gegangen, wo man vor Opitzen lauter vierfüßige Verse zu Schauspielen gebraucht hat“; Gottsched, Critische Dichtkunst, 605. 23 Einen Überblick zu den belles infidèles gibt Graeber (2004). 24 Zu verweisen ist besonders auf Das Bild eines geschickten Übersetzers von Georg Venzky, 1734 erschienen in Gottscheds Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit.

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und zielsprachenorientiert verfuhr, spricht also nicht gegen die Kategorisierung seines Oedipus als Übersetzung. (2) Auffällig sind allerdings einige Umdeutungen, die Steffens gegenüber dem griechischen Text vornahm. So gleich zu Beginn des vorliegenden Ausschnitts, wo Sophokles aus der ebenso nachdrücklichen wie irrigen Entgegensetzung von „ich, Oedipus, der ich erst später Thebanischer Bürger wurde“ und „ihr, alle Kadmeier“, tragische Ironie entfaltet – Oedipus weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er selbst Kadmeier ist (V. 222 f.): νῦν δ’ ὕστερος γὰρ ἀστὸς εἰς ἀστοὺς τελῶ, ὑμῖν προφωνῶ πᾶσι Καδμείοις τάδε·²⁵ Bei Steffens lautet die Stelle: Da aber die Gefahr Auch meiner Scheitel droht, seitdem ihr mir die Krone Und Zepter anvertraut, so widme ich dem Trone Auch diese Schuldigkeit. Drum sei euch kund getahn […] Die seither von den Kommentatoren herausgearbeiteten juristischen Aspekte dieser Stelle konnte Steffens noch nicht kennen und daher auch nicht übersetzen;²⁶ dass er aber das subtile Spiel mit Vorausdeutungen und überhaupt die tragische Analysis der sophokleischen Tragödie tilgt, dass er Oedipus ganz als neuzeitlichen Herrscher sprechen lässt, ist als entschieden moderne Umdeutung²⁷ der antiken Textvorlage zu betrachten: Bei Steffens steht Oedipus nicht als Neubürger den alten Bürgern, sondern als König seinen Untertanen gegenüber; er verspricht, sich als fähiger Herrscher zu erweisen, der seinen eigenen Interessen und zugleich dem Gemeinwohl dient, ein Versprechen, das in Steffens’ Interpretation letztlich vor allem an Oedipus’ Jähzorn und Melancholie scheitern wird.²⁸ Steffens nimmt also punktuell eine semantische Verschiebung vor. Jedoch: Auch wenn solche punktuellen Eingriffe am Ende das gesamte Sinngefüge der Tragödie verschieben können, liegen sie doch immer noch im Rahmen geltender Übersetzungsnormen, insofern nämlich, als Steffens in allem der Makrostruktur des griechischen Textes verpflichtet bleibt; jeder griechischen Sinneinheit lässt sich jeweils eine deutsche zuordnen, die ungeachtet der semantischen Verschiebungen immer noch als Korrelat erkennbar ist.

25 Manuwald (2012), 96, übersetzt: „Jetzt aber – denn erst seit späterer Zeit zähle ich als Bürger zu euch / Bürgern – verkünde ich euch, allen Kadmeern, Folgendes […]“. 26 Dazu (mit weiteren Literaturangaben) Manuwald (2012), 97–99. 27 Im Sinne der im SFB 644 erprobten Typologie von Transformationen, vgl. Bergemann/Dönike/ Schirrmeister/Walter/Weitbrecht (2011), 53 f. („Umdeutung/Inversion“). 28 Vgl. Meid (2008), 84 f.

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(3) Genau dieses Prinzip aber wird weiter unten von Steffens gebrochen. Den Fluch des Oedipus gegen jeden, der etwas über Laios’ Mörder weiß, aber sein Wissen verschweigt, leitet Steffens durch drei Verse ein, die keinerlei Korrelat im griechischen Text haben. Wer die Aufklärung des Mordes nicht befördert, so heißt es, […] Den treffe der Verdruß, den er besorgt am meisten! Sein Leben sei sein Tod, sein Bleiben seine Flucht; Er müsse hülfloß seyn, wo er nur Hülfe sucht. Zweierlei wird mit dieser eigenmächtigen Hinzufügung Steffens’ erreicht: Zum einen wird der Ausdruck verstärkt, was Oedipus’ Fluch kräftiger und nachdrücklicher macht, und zum anderen klingt in der barock-antithetischen Formulierung das bei Sophokles nicht gegebene Motiv der unstetigen Fortuna an, wobei der Fall aus dem Leben in den Tod und aus der Heimat in die Fremde hier als selbstverschuldet dargestellt werden. Indem Steffens allerdings nicht nur eine semantische Verschiebung, sondern eine Erweiterung gegenüber dem griechischen Text vornimmt, verletzt er das Prinzip des Quid pro quo und überschreitet nun tatsächlich die Grenzen der Übersetzung. Dass es sich nicht nur nach unseren Begriffen, sondern auch nach denen des 18. Jahrhunderts um einen Regelbruch handelt und dass Steffens dies wohl bewusst war, wird in seiner Vorrede deutlich, wo er in apologetischer Absicht die Genese seines „Trauerspiels“ skizziert. Am Anfang stand demnach reines Studieninteresse (Steffens hatte gehofft, bei den „Alten“ Argumente gegen Gottscheds Forderung nach Regelmäßigkeit des Dramas zu finden). Es folgte der Entschluss, Sophokles zu übersetzen (und nicht die ebenfalls rezipierten Oedipus-Dramen von Seneca oder Corneille): „Mein Vorsatz war anfangs blos die Pflichten eines Uebersetzers zu übernehmen.“²⁹ Dass die treue Übersetzung noch bis weit ins 18. Jahrhunderts hinein eine ziemlich geringe literarische Reputation hatte, zeigt sich am Adverb „blos“. Für den Schulmann Steffens wogen daher letztlich die pragmatischen Erfordernisse der (Schul-)Bühne schwerer als das niedrig veranschlagte Postulat der „Treue“: Ich hatte mehr Personen, die etwas reden wolten, als ich bei dem Sophocles antraf. Es blieb mir also nichts übrig, als daß das Trauerspiel des Sophocles mit etlichen Personen vermehret werden muste. Sophocles lässet einen ziemlichen Teil seiner Tragoedien singen. Dis erlauben unsere Zeiten ohnedem nicht und daher war es natürlich, daß ich aufhören muste blos einen Uebersetzer abzugeben. Ich fing nun an, mich nicht so genau an meinen Text zu binden; ich beobachtete nur seine Ordnung in der Haupt-Sache; ich übersetzte, was ich brauchen muste; ich veränderte, was nicht bleiben konte; ich taht hinzu, wo etwas nötig schien; ich lies weg, was nach meiner Einrichtung überflüßig war.³⁰

29 Steffens, Oedipus, ohne Paginierung [S. V der Vorrede]. 30 Ebd., [S. V f. der Vorrede].

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Tatsächlich verändert sich der Charakter von Steffens Oedipus im Verlauf des Stückes. Während die ersten Szenen, wie im vorliegenden Auszug gezeigt, auch ungeachtet einzelner Grenzüberschreitungen noch weitgehend als Übersetzung bezeichnet werden können, gerät die Textvorlage später immer weiter aus dem Blick. Steffens eliminiert die Chöre, gibt Personen der sophokleischen Tragödie zusätzliche Szenen (der Hirt, der hier den Namen Phorbas hat, tritt zuerst – nach V. 1116 des griechischen Textes – mit einem idyllisch-pastoral getönten Monolog auf), fügt weitere Rollen hinzu (u. a. Cleantes und Dymas, zwei „Vorsteher des Volkes“) und ändert den Schluss so, dass im Dialog zwischen Oedipus, Creon, Tiresias und Oedipus’ Kindern Eteocles, Polynices und Antigone auf die Handlung von Oedipus auf Kolonos vorausgewiesen wird. Resultat ist eine Hybridform, die Eigenschaften der „treuen“ Übersetzung und der „freien“ Dramenbearbeitung miteinander verbindet.³¹ Für dieses hybride Verfahren lassen sich im Wesentlichen drei Gründe anführen: (1) Steffens wirkte, wie gesagt, als Lehrer (seit 1756 auch als Rektor) an der Lateinschule in Celle, wo die Tradition des protestantischen Schultheaters auch im 18. Jahrhundert noch lebendig war. Auch Oedipus wurde wiederholt und mit großer Resonanz im Celler Rathaus aufgeführt.³² Einige Deviationen Steffens’ vom griechischen Text sind deshalb unmittelbar aus den Bedingungen und Erfordernissen des Schultheaters heraus zu verstehen, in dem sich Unterhaltung und moralischer Nutzen wesentlich aus der aktiven Beteiligung der Schüler ergaben.³³ Daher der Wunsch nach einer möglichst großen Zahl an Sprechrollen, daher auch die (Um-)Deutung des sophokleischen Textes im Hinblick auf virulente Themen und Fragen der Gegenwart (etwa nach dem guten Herrscher) und generell auf protestantische Moral. Die Verstärkung der Affektsprache wiederum, die in vorliegendem Auszug in der Erweiterung von Oedipus’ Fluchrede greifbar ist und die im weiteren Verlauf dem Stück manchmal fast derbdrastischen Charakter verleiht,³⁴ war sicherlich geeignet, der mythologischen Handlung für die Laiendarsteller größere Attraktivität zu verleihen. 31 Meid (2008) behandelt Steffens’ Stück als „Originaltrauerspiel“, weist allerdings auch auf den hybriden Charakter hin; vgl. Meid (2008), 78 f.: „Auch wenn Steffens’ Drama zum Teil eher wie eine Übersetzung denn als eigenständige Bearbeitung erscheint, so ist es jedoch – legt man den Maßstab von Gottscheds Sterbendem Cato an – ohne weiteres zu rechtfertigen, den Oedipus als Originaltrauerspiel zu behandeln.“ In Anm. 262 (S. 79) ergänzt er: „Für die Literatur einer Epoche, die gerade erst den Originalbegriff ausbildet, wäre es kleinlich, einen hohen Grad von Intertextualität mit mangelnder Schöpfungskraft gleichzusetzen.“ 32 Zur Theatersituation in Celle und zu den Aufführungen des Oedipus vgl. Meid (2008), v. a. 77–81 (mit weiteren Literaturhinweisen). 33 Vgl. dazu die Abhandlung Von der Moralität der Schauspiele, die Steffens der Einladung zur Oedipus-Aufführung beigab (Nach einer vorangesetzten kurtzen Abhandlung von der Moralität der Schauspiele wolte hierdurch […] zur gnädigen, hochgeneigten und gütigen Anhörung eines Trauerspieles Oedipus genannt […] untertänigst, gehorsamst und ergebenst einladen, Celle 1746). 34 Nur ein Beispiel: Als Tiresias den Vorwurf der Inzucht Oedipus’ mit seiner eigenen Mutter ausspricht, antwortet Oedipus mit der Androhung von Prügel: „Dir ist der Kopf verrückt. Was sprichst du da für Sachen? / Du wirst der Raserei wol eh kein Ende machen, / Bevor du nichts gefühlt.“ Steffens,

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(2) Daneben haben sich verschiedene Elemente älterer und zeitgenössischer Theatergeschichte in Steffens’ Oedipus eingeschrieben: Steffens bekennt sich in der Vorrede seiner Übersetzung als Anhänger der alten „Haupt- und Staats-Actionen“; er hat Seneca ebenso wie das deutsche barocke Trauerspiel und die französischklassizistische tragédie rezipiert (namentlich bezieht er sich auf Corneilles Œdipe von 1659; das Stück gleichen Titels von Voltaire hatte er sich nicht beschaffen können); er hat sich mit den Theaterschriften Gottscheds auseinandergesetzt.³⁵ Zu all dem lassen sich in Steffens’ Oedipus motivisch und formal vielfältige Verbindungslinien aufzeigen (so weist, wie gezeigt, die antithesenhafte Sprache auf das barocke Trauerspiel); dass diese Verbindungslinien einigermaßen inkonsequent, widerstrebend und kontingent erscheinen, mag mit Steffens’ beschränktem poetischen Vermögen, aber auch mit seiner provinziellen Perspektive weitab der Literatur- und Theater-Zentren der Zeit zu tun haben. (3) Schließlich ist im Blick zu behalten, dass Steffens zwar mit der Praxis der Umarbeitung antiker Dramen, der Neufassung antiker Stoffe, etwa im Theater der französischen Klassik, vertraut war, dass es aber für eigentliche Übersetzungen antiker Tragödien in der deutschen Literatur noch kaum Vorbilder und keine gültigen Normen gab. Die einzigen deutschen Übersetzungen griechischer Tragödien, die (nach meiner Kenntnis) bis dahin erschienen waren, die Euripides-Übersetzung des Straßburgers Wolfhart Spangenberg (Alcestis [1604]; Hecuba [1605]; Ajax Lorarius [1608]) und die Antigone von Martin Opitz (1626), lagen über hundert Jahre zurück und waren in Sprache und Ästhetik überholt. Vor diesem Hintergrund ist Steffens’ Oedipus als Produkt einer Umbruchssituation zu verstehen: In der Intention, grundsätzlich ad fontes zu gehen, bahnt sich – wie vorläufig und unzulänglich auch immer – ein neuer Übersetzungsbegriff an; in der Geringschätzung des „Bloß-Übersetzens“ aber persistieren noch ältere Auffassungen; und in der hybriden Verfahrensunsicherheit wird eine erhebliche Destabilisierung der Übersetzungsnormen greifbar. Nur wenig jünger als Steffens’ Oedipus ist die Übersetzung von Johann Jacob Steinbrüchel, der ein Schüler Breitingers und dessen Nachfolger als Professor der Alten Sprachen und biblischen Hermeneutik am theologischen Collegium Carolinum in Zürich war, wo er durch sein „vortreffliches Lehrgeschick“ großes Ansehen genoss.³⁶ Den spätbarock-klassizistischen Alexandrinern von Steffens steht in Steinbrüchels Version die sachliche Prosa der Zürcher Aufklärung gegenüber. Wichtiger als diese Forment-

Oedipus, 20. Bei Sophokles umfasst Oedipus’ Antwort nur einen Vers (V. 368): ἦ καὶ γεγηθῲς ταῦτ’ ἀεί λέξειν δοκεῖς; (In der Übersetzung von Manuwald [2012], 118: „Glaubst du wirklich, du könntest unbehelligt so immer weiter reden?“). 35 Vgl. Steffens, Oedipus, ohne Paginierung [Vorrede], passim. 36 Hunziker (1893), 393. Nach dem ADB-Artikel von Hunziker war Steinbrüchel „weniger zu selbständiger und originaler Production als zu lichtvoller Darstellung und Abwägung der Gedanken Anderer befähigt“ – in der Perspektive des 19. Jahrhunderts klingt hier auch der Topos vom dienenden, sich dem „Original“ unterordnenden Übersetzer an.

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scheidung ist aber, dass sich bei Steinbrüchel ein grundlegend neuer, normativ geregelter, konsistenter Übersetzungsbegriff zeigt. Leitend ist dabei in erster Linie das Prinzip der perspicuitas: Im Interesse eines klaren, verständlichen deutschen Textes strafft und expliziert Steinbrüchel, wo immer es ihm nötig scheint, beispielsweise in V. 227–229. Der griechische Text lautet: κεἰ μὲν φοβεῖται τοὐπίκλημ’ ὑπεξελεῖν αὐτὸς καθ’ αὑτοῦ· πείσεται γὰρ ἄλλο μὲν ἀστεργὲς οὐδέν, γῆς δ’ ἄπεισιν ἀβλαβής³⁷ Steinbrüchel schreibt: „Fürchtet der Schuldige sich selbst anzugeben, so lasse er alle Furcht fahren! Er soll keine andre Strafe, als die Verbannung leiden.“ Eine derartige Verknappung und Simplifizierung der Syntax wäre nach heutigen Maßgaben in einer Übersetzung, die sich „Treue“ zum Ziel setzt, kaum zulässig; nach dem Übersetzungsverständnis der Aufklärung ist dies aber regulär. Dasselbe gilt für punktuelle semantische Verschiebungen und Assimilationen an die Vorstellungswelt der Gegenwart, wenn Steinbrüchel beispielsweise κέρδος und χάρις (V. 232; „Lohn“ und „Dank“, die Oedipus für die Aufklärung des Mordes verspricht) zusammenfassend als „Gnade“ übersetzt, wobei er auch verkennt, dass hier nicht vom Mörder des Laios die Rede ist, der der Herrschergnade bedürftig wäre, sondern nur von einem Mitwisser des Mordes. Trotz solcher Differenzen gegenüber der Vorlage in Einzelheiten beruht Steinbrüchels Übersetzung auf klaren semantischen Korrelationen mit dem griechischen Text und auf strikter Anerkennung von dessen Integrität. Dass sich überhaupt erst aus diesem Prinzip strikter interpretatio historica, aus dem Treue-Postulat das allelopoietische Potenzial von Übersetzungen ergibt, machen die Paratexte in Steinbrüchels Übersetzung deutlich: seine Vorrede in der 1763er Sammelausgabe und die ebenda enthaltenen, teils ausführlichen Stellenkommentare. Die Kommentare bezeugen Steinbrüchels Anspruch, dass hier die griechische Tragödie dem Leser unverfälscht, echt, fehlerfrei zugänglich gemacht werden soll. Dem dienen historische Erläuterungen wie die Fußnote zum „geweyhten Wasser“ im oben zitierten Textbeispiel; für die allelopoietische Funktionsweise spielt dabei keine Rolle, dass Steinbrüchels Erklärungen teils überholt sind,³⁸ wohl aber, dass zur Rekonstruktion einer antiken Wirklichkeit hier Analogien aus der christlichen Welt – Weihwasser, Exkommunikation – verwendet werden. Generell ist bemerkenswert, dass Steinbrüchel auch mythologische Sachverhalte historisch zu deuten versucht. So wird in

37 In der Übersetzung von Manuwald (2012), 98: „Und wenn er sich fürchtet, die Beschuldigung aus seinem Inneren hervorzubringen, / selbst gegen sich selbst (so muss er das nicht fürchten) – denn nichts anderes Unliebsames / wird er erleiden, sondern aus dem Lande gehen ungeschädigt“. 38 V. 240, χέρνιψ. Vgl. Manuwald (2012), 101, unter Verweis auf Stellen bei Athenaios und Euripides: „‚Opferwasser‘: Man nahm ein brennendes Stück Holz vom Altar (wo das Brandopfer stattfand), tauchte es in Wasser, besprengte mit dem so geweihten Wasser die Umstehenden und reinigte sie“.

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seiner Anmerkung zu V. 36 die Sphinx historisiert durch die Geschichte einer Piratenkönigin, einer „grausamen Frauensperson“, die zusammen mit einem „Hauffen Seeräuber“ die Einwohner Thebens terrorisiert habe, bis sie von Oedipus getötet wurde.³⁹ Solche rationalistisch-historischen Mythen-Erklärungen sind bei Steinbrüchel nicht zuletzt Teil der zu dieser Zeit noch notwendigen Sophokles-Apologie: Steinbrüchel will nachweisen, dass Sophokles (fast) nicht gegen das Gebot der Wahrscheinlichkeit verstößt, das die Aufklärungspoetik mit Verweis auf Aristoteles aufgestellt hatte.⁴⁰ Hier ist die Funktionalisierung der griechischen Tragödie für moderne Diskurse unmittelbar an das Treue-Versprechen der Übersetzung gebunden. Noch deutlicher wird dies in Steinbrüchels Vorrede. Steinbrüchel benennt hier zwei Ziele, die er mit seiner Übersetzung verfolgt habe. Zum einen sei es ihm um Rehabilitation der griechischen Tragödie gegangen: Sollte dieses Unternehmen, wie man hoffet, etwas beytragen, den Lauf dieser dem guten Geschmake so nachtheiliger Vorurtheile zu hemmen; so würde der Uebersezer für seine Arbeit sich reichlich belohnt halten […].⁴¹

Steinbrüchel widerspricht herrschenden Vorurteilen und stellt das griechische Theater als aufklärerisch-vorbildhaft dar: Es sei „zum Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft“ und lehre „Liebe der Tugend und des Vaterlandes, Haß des Lasters und der Tyrannie“⁴². Alles übrige, insbesondere die Belustigung des Publikums, sei diesem Zweck nachgeordnet. Zum anderen installiert Steinbrüchel die griechische Tragödie als eigentliches Muster für die deutsche Bühne (in Abgrenzung gegen Shakespeare, den er sehr ambivalent beurteilt⁴³) und hofft, mit seiner Übersetzung Anlass zu geben, daß, vom wahren Geiste der Freyheit beseelt, ein Genie […] auf den Fußstapfen der Griechen, durch die glorreichen Beyspiele der Stifter und Wolthäter unsers Staates, uns zur Liebe des Vaterlands und der Geseze, zur Aufopferung, zum Muthe, zum Haß des Partey-Geistes und der Unterdrükung, entflammte.⁴⁴

Steinbrüchel wollte dem deutschen Publikum also einen vorurteilsfreien, unverfälschten, „richtigen“ Blick auf Sophokles ermöglichen und gerade dadurch in die

39 Steinbrüchel, Das tragische Theater, Bd. 1, 115 (Anm. 8). 40 Die Rehabilitierung des Sophokles geht übrigens einher mit scharfer Polemik gegen Voltaire, der eben den Vorwurf der dramaturgischen Unwahrscheinlichkeit gegen die griechische Tragödie erhoben hatte. Ganz kann freilich auch Steinbrüchel die Vorwürfe gegen Sophokles nicht ausräumen; so sieht er in der „Unwissenheit des Oedipus“ eine „Unvollkommenheit“ des Dramas; Steinbrüchel, Das tragische Theater, Bd. 1, 121 (Anm. 3). 41 Ebd., XI. 42 Ebd, VI. 43 Vgl. ebd., X f. 44 Ebd., XI f.

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Aufnahmekultur hineinwirken: Darin kann man die übersetzungsspezifische Wirkungsweise von Allelopoiese sehen. Seine Oedipus-Übersetzung, zuerst separat gedruckt, ging ein in das Sammelwerk Das tragische Theater der Griechen. Seine Absicht war, eine enzyklopädische Gesamtdarstellung vorzulegen, die neben Übersetzungen der Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides auch „theils eigne, theils von andern verfertigte, Abhandlungen“⁴⁵ über die griechische Tragödie enthalten sollte – offenkundig ein deutsches Gegenstück zu der auch im deutschen Sprachraum wirkmächtigen französischen Sammlung Le Théâtre des Grecs von Pierre Brumoy (zuerst 1730). Auch wenn der Plan nach Erscheinen eines Sophokles- und eines Euripides-Bandes aufgegeben wurde,⁴⁶ ist doch deutlich, dass Steinbrüchel der Pioniercharakter seiner Arbeit bewusst war: Er hatte erkannt, dass ein Bedarf bestand an Tragödien-Übersetzungen, die den sich just erneuernden Übersetzungsnormen gerecht wurden.

3 Die beiden hier vorgestellten König Oedipus-Versionen, die beiden frühesten deutschen Ausgaben überhaupt, folgen denkbar verschiedenen Prämissen: Hier die Schultheater-Praxis, dort der enzyklopädische Plan, hier noch starke Anbindung an französische Theater- und Übersetzungstraditionen, dort dezidierte Abkopplung von diesen Traditionen zugunsten einer deutsch-griechischen Achse, hier Alexandriner, dort Prosa. Wichtiger als diese medialen, traditionsbezogenen oder formalen Differenzen ist aber der Sprung von der zwischen Übersetzung und Bearbeitung changierenden Hybridform des Johann Heinrich Steffens hin zur eigentlichen Übersetzung bei Johann Jacob Steinbrüchel. Steffens geht zwar vom griechischen Text aus, richtet seine Poiesis aber weitgehend eindirektional auf die Gegenwart, auf die Bedürfnisse des Schultheaters. Steinbrüchels Arbeit ist dagegen primär auf die fehlerfreie Rekonstruktion des griechischen Texts mit den Mitteln der deutschen Sprache orientiert, will damit aber sekundär auch Impulse für das moderne, deutschsprachige Theater geben. Auf seine Weise hat auch Steffens (Steinbrüchel sowieso) Anteil an jenen Entwicklungen, die Andreas Poltermann unter dem Stichwort der „Erfindung des Originals“⁴⁷ im 18. Jahrhundert fasste und die mit dem schnellen Wechsel verschiedener Übersetzungskonzepte, mit deren vielfältigen wechselseitigen Überlagerungen, mit uneindeutigen Grenzziehungen zwischen „Übersetzung“ und „Bearbeitung“ und

45 Ebd., X. 46 Am Ende des Euripides-Bandes findet sich noch der Verweis „Ende des ersten Theils [der Euripides-Übersetzung]“; ebd., Bd. 2, 470. Hunziker (1893) schreibt: „Durch äußere Umstände ließ sich St. bewegen, diese Uebersetzerthätigkeit abzubrechen und nicht wieder aufzunehmen.“ 47 Vgl. Poltermann (1987).

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generell mit einer beträchtlichen Instabilität der Übersetzungsnormen einherging. Transformationstheoretisch ist bemerkenswert, dass im Zuge der „Erfindung des Originals“ das Übersetzen zugleich abgewertet und aufgewertet wurde: Abgewertet, weil durch die strenger werdenden Normen, die engere Anbindung von Übersetzungen an die jeweiligen Ausgangstexte Übersetzungen stärker als zuvor als sekundäre, uneigenständige, abhängige Produkte erschienen; aufgewertet, weil Übersetzungen nun die Einmaligkeit und Individualität der zugrunde liegenden „Originale“ erfahrbar machen sollten und so an dieser Einmaligkeit teilhaben konnten und (jedenfalls zeitweise) als Textverfahren ein hohes Prestige erlangten. Mit dem Allelopoiese-Konzept lässt sich, so mein Vorschlag, die für Übersetzungen konstitutive, jeweils normativ regulierte Anbindung an die Ausgangstexte auf eine dynamische Weise beschreiben, weil hier die „korrekte“ Re-Konstruktion der Ausgangstexte immer dynamisch an die Konstruktion des Aufnahmebereichs gebunden bleibt.⁴⁸ Damit werden Begriffsbestimmungen aufgegeben, die die Relation zwischen Ausgangstext und Übersetzung als abbildlich oder gar als umkehrbar beschreiben; die Aporien, die seit dem späten 18. Jahrhundert die Diskussion des Übersetzungsproblems geprägt haben, werden vermieden. Bedingung bleibt, dass in der Re-Konstruktion des Ausgangstextes das Streben nach „Treue“ textkonstitutiv, prioritär sein muss. Übersetzungen können so im Aufnahmebereich durchaus weiterhin als Substitute ihrer „Originale“ fungieren; aber sie werden zugleich als doppelseitig gebundenes, vom Aufnahmebereich (immer neu) normativ geregeltes transformatives Textverfahren greifbar.

Primärliteratur Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4. Aufl. Leipzig 1751. Harsdörffer, Georg Philipp, „Schutzschrift für Die Teutsche Spracharbeit und Derselben Beflissene“, in: Frauenzimmer Gesprechsspiele, 1. Teil, Nürnberg 1644 (Zugabe mit separater Paginierung). Humboldt, Wilhelm von, „[Vorrede zur Agamemnon-Übersetzung]“ [1816], in: Dokumente zur Theorie der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800, hg. v. Josefine Kitzbichler/Katja Lubitz/Nina Mindt, Berlin 2009, 95–113. Rowohlt, Harry, „Poohs Corner“, in: Die Zeit, 31.1.2008, http://www.zeit.de/2008/06/Poohs_ Corner]. Schleiermacher, Friedrich, Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik (Krit. Gesamtausgabe, Abt. II, Bd. 4), hg. v. Wolfgang Virmond, Berlin/Boston 2012. Sophokles, Fabulae, ed. by Hugh Lloyd-Jones, Oxford 1992. Steffens, Johann Heinrich, Oedipus, ein Trauerspiel in Versen nach den [!] Sophocles eingerichtet, von Johann Heinrich Steffens, des Zellischen Lyc. Conrect, Zelle 1746.

48 In ähnliche Richtung gehen Hermans/Koller (2004), 28, wenn sie von der „double linkage“ sprechen, die die Relation zwischen Ausgangstext und Übersetzung prägt.

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[Steinbrüchel, Johann Jacob], Oedipus. König von Thebe. Ein Trauerspiel des Sophokles. Nebst Pindars zweiter Ode, Zürich 1759. [Steinbrüchel, Johann Jacob], Das tragische Theater der Griechen, Bd. 1: Des Sophocles Erster Band Electra, Oedipus, Philoctetes, Antigone); Bd. 2: Des Euripides Erster Band (Hecuba, Iphigenia in Aulis, Phönicierinnen, Hippolytus), Zürich 1763.

Sekundärliteratur Anz, Thomas, Art. „Norm“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Neubearbeitung), hg. v. Georg Braungart/Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Jan-Dirk Müller/Friedrich Vollhardt/Klaus Weimar, Bd. 2, Berlin 2007, 720–723. Bartelink, Gerhard J. M., Hieronymus. Liber de Optimo Genere Interpretandi (Epistula 57). Ein Kommentar, Leiden 1980 (= Mnemosyne Suppl. 61). Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/Schirrmeister, Albert/Toepfer, Georg/Walter, Marco/Weitbrecht, Julia, „Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. v. dens./Hartmut Böhme, München 2011, 39–56. Brandes, Friedrich, Art. „Steffens, Johann Heinrich“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 35 (1893), 558 f. Graeber, Wilhelm, „Blüte und Niedergang der belles infidéles“, in: Übersetzung Translation Traduction. Ein internationales Handbuch, hg. v. Harald Kittel/Armin Paul Frank/Norbert Greiner/Theo Hermans, Theo/Werner Koller/José Lambert/Fritz Paul, Bd. 2, Berlin 2008, 1520–1531. Greiner, Norbert, Übersetzung und Literaturwissenschaft, Tübingen 2004. Hermans, Theo/Koller, Werner, „The relation between translations and their sources, and the ontological status of translations“, in: Übersetzung Translation Traduction. Ein internationales Handbuch, hg. v. Harald Kittel/Armin Paul Frank/Norbert Greiner/Theo Hermans, Theo/Werner Koller/José Lambert/Fritz Paul, Bd. 1, Berlin 2004, 11–23. Hess, Peter, „Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie bei Georg Philipp Harsdörffer“, in: Daphnis 21 (1992), 9–26. Hunziker, Otto, Art. „Steinbrüchel, Joh. Jak.“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 35 (1893), 693–696. Koller, Werner, „Der Begriff der Äquivalenz in der Übersetzungswissenschaft“, in: Übersetzung Translation Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. v. Harald Kittel/Armin Paul Frank/Norbert Greiner/Theo Hermans, Theo/Werner Koller/José Lambert/Fritz Paul, Bd. 1, Berlin 2004, 343–354. Manuwald, Bernd, König Ödipus. Sophokles, hg., übers. u. komm. v. Bernd Manuwald, Berlin 2012. Meid, Christopher, Transformationen der griechischen Tragödie im Drama der Aufklärung. „Bei den Alten in die Schule gehen“, Tübingen 2008. Neubert, Albrecht, „Equivalence in translation“, in: Übersetzung Translation Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. v. Harald Kittel/Armin Paul Frank/Norbert Greiner/Theo Hermans, Theo/Werner Koller/José Lambert/Fritz Paul, Bd. 1, Berlin 2004, 329– 432. Poltermann, Andreas, „Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert“, in: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. v. Brigitte Schultze, Berlin 1987, 14–52. Vöhler, Martin, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005.

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Übersetzen als Konstruktion Reconnaitre un objet, c’est toujours le transformer. Paul Valéry

Als Josefine Kitzbichlers Respondent muss ich ihr – bei aller Nähe – widersprechen, und ich habe mir dazu als Ansatzpunkt die Aussage ausgesucht, es spreche „vieles dafür, dass in Übersetzungen nicht die ‚Treue‘, sondern im Gegenteil die Eigenständigkeit gegenüber dem Ausgangstext, der konstruktive Charakter des Textverfahrens Übersetzung, die Differenz zwischen ‚Original‘ und Übersetzung als selbstverständlich anzusehen sind.“ (s. oben Kitzbichler, S. 210). Der konstruktive Charakter des Übersetzens versteht sich meines Erachtens keineswegs von selbst. Die kulturelle Voreinstellung geht ganz im Gegenteil immer noch dahin, dass der Übersetzer möglichst unsichtbar zu sein hat, worauf der Titel des einflussreichen Buches The Translator’s Invisibility¹ verweist. Es ist auch unübersehbare Verlagspolitik, auf Umschlag und Buchrücken von übersetzten Werken groß den Namen der Autorin oder des Autors des Originals zu drucken, den Namen des Übersetzers oder der Übersetzerin aber bloß klein gedruckt im Buchinneren zu nennen, ja, zu verstecken. Auch die geläufige Redewendung, „einen Text in Übersetzung lesen“ suggeriert, dass es sich beim Übersetzen um einen akzidentellen Vorgang handelte, der auf das Werk keine wesentlichen Rückwirkungen ausübte, als hieße es „in Großdruck“ oder „als Taschenbuch“. Nur im Falle rivalisierender Übersetzungen oder anzupreisender Neuübersetzungen wird überhaupt der Übersetzer als Person herausgestellt. Nur wenn Autoren von Rang wie Goethe oder Paul Celan übersetzen oder wenn Autoren wie Emmanuel Geibel oder Stefan George selbst über ihre Werkausgaben bestimmen können, werden Übersetzungen in Gesammelte Werke aufgenommen – ganz offensichtlich als Ausdruck der sprachschöpferischen Leistung des Dichter-Übersetzers, der die Übersetzung eben als sein Werk reklamiert.² Doch selbst wenn das konstruktive Moment des Übersetzens einmal auch verstanden und anerkannt sein sollte, wie es gerade durch Schleiermacher als Übersetzer und Hermeneutiker geschah,³ so ist es doch so schwer zu ertragen, dass es in der Folgezeit gerne erneut überspielt, verdrängt und im Alltag praktisch vergessen wird. Ich möchte diese Problematik an denjenigen Positionen erläutern, die

1 Venuti (2008). 2 Den Ausnahme-Coup auf diesem Gebiet landete wohl Raoul Schrott, dem es gelang, ein Buch mit dem Umschlag-Titel Gilgamesch. Raoul Schrott erscheinen zu lassen, als ob das Gilgamesch-Epos von ihm selbst verfasst worden wäre; zum Sachgehalt von Schrotts Verfahren s. Straeck (2007). 3 S. das Zitat in Fußnote 3 von Josefine Kitzbichlers Beitrag (S. 210), und dazu Schleiermacher (1813), 62, zur „Irrationalität“ zweier Sprachen; ebd. 64 über das Verstehen im Prozess des Übersetzens. DOI 10.1515/9783110499261-015

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drei berühmte an der Berliner Universität Unter den Linden tätige Philologen gegenüber dem Übersetzen jeweils eingenommen haben: Moriz Haupt (1808–1874), Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) und Wolfgang Schadewaldt (1900–1975): Haupt hat Wilamowitz im Doktorexamen geprüft, Wilamowitz hat Haupts Opuscula ediert, und Schadewaldt hat sich 1928 noch unter den Auspizien von Wilamowitz habilitiert. Die Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein. „Man soll nicht übersetzen“ lautete eine der zentralen Maximen über philologische Erkenntnis, die Moriz Haupt, der Nachfolger auf Eduard Lachmanns philologischem Lehrstuhl in Berlin, seinen Studenten nachdrücklich einzuprägen pflegte, galt ihm doch als ausgemacht: „Das Uebersetzen ist der Tod des Verständnisses.“⁴ Obwohl dieses Verdikt „nicht eine allgemeine Geltung beansprucht“ und Sprachunkundigen durchaus zugestanden wird, sich mittels Übersetzung einen Einblick in fremde Literaturen zu verschaffen, und obwohl es also nur gegen Verwendung von Übersetzungen im Bereich der Wissenschaft gerichtet ist,⁵ erstaunt doch der Rigorismus, mit dem Haupt sich selbst an diese Maximen hielt. Denn Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff berichtet über sein eigenes Doktorexamen: Als er Haupt aus Lachmanns LukrezAusgabe eine lange Versreihe vorgelesen hatte und zu übersetzen beginnen wollte, habe ihn Haupt mit den Worten unterbrochen: „Es ist gut; verstehen tun wir’s beide und übersetzen können wir’s beide nicht.“⁶ Man könnte in Haupts Diktum einen Beleg für die Weltferne des Philologen sehen, der gerne still seine Texte genießt und sie am liebsten mit niemandem teilt, oder man kann sich über die – scheinbare – erkenntnistheoretische Naivität Haupts wundern, die das Verständnis, im genannten Fall sogar: das einvernehmlich geteilte Verständnis eines sprachlichen Gebildes voraussetzt, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, dieses Verständnis sprachlich zu artikulieren und dadurch überhaupt erst überprüfbar zu machen. Viel interessanter ist es aber, Haupts an der „Bedeutungsgeschichte“⁷ von Worten orientierte Position unter dem Aspekt der darin verborgenen transformationstheoretischen Paradoxie zu deuten: Es äußert sich darin der hellsichtige Einblick in die Unvermeidlichkeit einer Transformation durch jegliche Übersetzung bei gleichzeitiger Angst vor eben dieser Transformation durch Übersetzung. Haupt artikulierte dabei aber nur besonders scharf eine schon vor ihm bestehende Reserve der Philologen gegen das Übersetzen.⁸ In der Geschichte der Klassischen Philologie entsprang daraus ein bis weit ins 20. Jahrhundert fortwirkender Vorbehalt

4 Haupt in Belger (1879), 144 f. Zu Haupts Übersetzungstheorie s. Katja Lubitz in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009a), 182–185. 5 Belger (1879), 145 (Referat von Haupts Ansichten). 6 Wilamowitz (1925), 329; vgl. Wilamowitz (1929), 98, Anm.1. 7 Belger (1879), 146. 8 Zu Recht verweist Belger (1879), 145 f. auf Gottfried Hermann (1772–1848), Haupts Schwiegervater, der sich dezidiert gegen das Übersetzen durch Philologen ausgesprochen hatte. Ähnlich August Boeckh (1877), 161: „Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein.“

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gegen Übersetzungen: Noch als der Verleger Ernst Heimeran in den 1920er Jahren die zweisprachige Tusculum-Reihe begründete, fand er anfangs nur mit Mühe Übersetzer unter den Philologen.⁹ Wer sich allerdings nicht von dieser Angst anstecken ließ, war Haupts Prüfungskandidat Wilamowitz, der zwischen 1899 und 1923 vier Bände Griechische Tragödien mit seinen Übersetzungen publizierte¹⁰ und der mit der ab dem Jahre 1900 in seiner Übersetzung und der Inszenierung Hans Oberländers zur Aufführung gelangenden Orestie – nach vereinzelten Vorläufern wie Adolf Wilbrandt – dem antiken Drama definitiv die deutsche Bühne eröffnet hat.¹¹ Wilamowitz, der unbestrittene Kenner der gesamten Antike, der Meister auf den Gebieten der Überlieferungs- und Philologiegeschichte, hatte keine Scheu, Chorlieder des Aischylos in die Form evangelischer Choräle umzugestalten, die griechische Interjektion „ἰού ἰού“ mit preußischem „Hurrah, hurrah!“ (Agamemnon, Vers 25) zu übersetzen oder den vieldeutigen griechischen Laut „ἆ“, mit dem Dionysos in den Bakchen (Vers 810) den widerstrebenden Pentheus umdreht, mit einem „Nun?“ zu übersetzen, hinter dem Goethes Mephistopheles schön grüßen lässt. Dies alles ist Wilamowitz auch keineswegs unterlaufen, sondern er wusste, was er tat, denn er hat seine Überlegungen im Text Was ist Übersetzen? zusammengefasst. Die endgültige Fassung dieses Textes stammt aus dem Jahr 1925, bietet aber in der Substanz die Erweiterung einer ersten Fassung aus dem Jahre 1891, umspannt also de facto fast die gesamte Übersetzertätigkeit von Wilamowitz. Für diese fixierte er 1925, also mit aller Erfahrung, die nur er haben konnte, folgende Maßgaben: „Die Übersetzung eines griechischen Gedichtes kann nur ein Philologe machen. […] Nur wenn wir Philologen sie machen, können Übersetzungen der hellenischen Poesie, die existenzberechtigt sind, entstehen.“¹² Und ganz im Gegensatz zu Haupt stellt Wilamowiz fest: Übersetzen heißt zunächst, das Werk „zu verstehen“. In einem zweiten Schritt spricht er aber unverhüllt davon, dass es darum gehe, das Werk „in einer anderen bestimmten Sprache neu zu schaffen.“¹³ Und Wilamowitz ist sich auch vorweg der letzten Konsequenz daraus bewusst: „Jede rechte Übersetzung ist Travestie.“¹⁴ Transformationstheoretisch gesprochen: Das philologische Textverständnis garantiert exklusiv den strengen Bezug zum Referenzbereich; allen anderen als philologischen Übersetzungen wird peremptorisch die Existenzberechtigung abgesprochen. Auf der anderen Seite wirkt das neu geschaffene Werk machtvoll in den Aufnahmebereich.

9 Mündliche Information durch Friedhelm Kemp (1914–2011), der Heimeran (1902–1955) noch persönlich gekannt hatte. 10 Wilamowitz (1899–1923). 11 Flashar (2009), 108–118. 12 Wilamowitz (1925), 326. Noch restriktiver Wilamowitz (1891), 1: „Es ist eben die übersetzung selbst etwas, was zwar nur ein philologe machen kann, was aber doch nichts philologisches ist.“ 13 Beide Zitate Wilamowitz (1925), 332. 14 Ebd., 329.

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„Die Philologie für die Philologen; das Hellenentum, das, was darin unsterblich ist, für jedermann, der kommen, sehen, erfassen will.“¹⁵ Es entsteht dadurch aber eine beträchtliche Kluft, praktisch und theoretisch, zwischen dem antiken Dichter und dem modernen Philologen, die Wilamowitz aber ebenfalls nicht leugnet, sondern energisch schließt bzw. schließen lässt: „Der Geist des Dichters muß über uns kommen und mit unseren Worten reden.“¹⁶ Der Bezug zur Antike (dem Referenzbereich der Transformation) ist in diesem Modell letztlich nur gewährleistet, wenn es zu einem rational schwer fassbaren Transfer kommt, und Wilamowitz redet auch diesmal nicht herum: „Es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.“¹⁷ Man kann lächeln über diesen konsequenten Eigensinn eines über siebzig Jahre alten bekennenden Preußen¹⁸ und sich kurz fragen, wie ernst Wilamowitz den Begriff Metempsychose tatsächlich genommen haben mag, aber er hat wenigstens das Problem so klar erkannt und so ehrlich benannt wie keiner: Übersetzen heißt „in einer anderen bestimmten Sprache neu schaffen“. Wilamowitz ist also, zumindest partiell, Konstruktivist. Wohl um sich dies aber nicht selbst eingestehen zu müssen, greift er zum (para)religiösen Konzept der Metempsychose, damit die Identität des Geistes in so offensichtlich – materiell und kulturell – verschiedenen „Körpern“ postuliert werden kann. Dass Wilamowitz sich aber auch dieser Spannung selbst bewusst gewesen sein muss, belegt er in seinem Text, wenn auch unausgesprochen, durch die Tat: Wenn Goethe, Schiller und die anderen großen Dichter den Deutschen Sprache und Formen geschaffen haben, in die hinein der Philologe am Ende des 19. Jahrhunderts problemlos übersetzen kann,¹⁹ so zeigt sich die Legitimität dieses Verfahrens nicht so sehr durch die auch für Wilamowitz eher schwierige Beweisführung stattgehabter Metempsychose, als durch die virtuose Umkehr des propagierten Verfahrens. Wilamowitz begründet 1925 seine Auffassung nicht eingehender²⁰ und gibt in seinem Aufsatz Was ist Übersetzen? auch keine Belege für besonders gelungene Übersetzungen antiker Texte ins Deutsche, sondern stattdessen reichlich Proben von eigenen Übersetzungen deutscher Klassiker in antike Verse. Wilamowitz bietet damit eine wohl singuläre allelopoietische Pointe, indem er andeutet: Im Ernstfall könnte er, der philologische Vir-

15 Wilamowitz (1925), 327. 16 Ebd., 328; vgl. Wilamowitz (1891), 2: „diener sind wir (…), diener aber unsterblicher geister, denen wir den sterblichen mund leihen: was wunder, dass unsere herren stärker sind als wir?“ 17 Wilamowitz (1925), 330. 18 Wilamowitz (1929), 57: „Schwarzweiß bis in die Knochen.“ 19 Wilamowitz (1925), 332: „Eine Anzahl großer Männer schuf uns Sprache und Stil.“ 20 Wilamowitz (1891), 11, verwies noch auf Lachmanns Übersetzung von Teilen der Ilias ins Mittelhochdeutsche als sein Vorbild und nannte, S. 22, Gottfried Hermann als eigentlichen Urheber der Forderung, Philologen müssten auch griechische Verse schreiben können, um griechische Dichter erklären zu dürfen.

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tuose, die gesamte deutsche Literatur ins Griechische übertragen, und er bietet unter anderem auch gleichsam als den ultimativen Beweis Goethes „über allen Wipfeln“ – so Wilamowitz’ Ausdruck – auf Griechisch an. Freilich gibt er nicht bloß eine, sondern zwei Versionen, sowohl eine Übersetzung in ein hellenistisches Epigramm als auch in äolische Strophen.²¹ Dies könnte sich nun als zu viel des Guten erweisen, denn Wilamowitz setzt sich durch die offenbarwerdende Beliebigkeit der gewählten Form dem Verdacht aus, letztlich ein rhetorisches Konzept von Übersetzung zu propagieren. Aber das hat Wilamowitz eigentlich ja schon selbst eingestanden: Übersetzen ist „Travestie“! Wilamowitz erweist sich somit als schwer zu fassender Proteus der Theorie und Herakles der Praxis, der sich nicht so sehr an preußische Rationalität hält, sondern ein Prinzip verwirklicht, das der Volksmund eher dem bayerischen Pragmatismus zuzuschreiben pflegt: Wer kann, der kann! Aber wohl wenige werden Wilamowitz’ erzielte Lösungen des Übersetzungsproblems heute zustimmen, und auch schon zu seiner Zeit war Wilamowitz Ziel von Kritik wie etwa von Seiten des abtrünnigen Philologen und Dichters Rudolf Borchardt,²² der in Wilamowitz den allzu selbstgewissen Repräsentanten des wilhelminischen Zeitgeistes sah. Und in der Tat kippte mit dem Ersten Weltkrieg die sprachlich-kulturelle Orientierung in Literatur und Philologie: Das frühe Griechentum, die Vorsokratik, die Archaik wurden in der klassischen Philologie neu bewertet, Nietzsche begann allenthalben seine Wirkung zu entfalten, die Neuentdeckung Hölderlins durch Hellingraths Edition ab 1910 veränderte die deutsche Sprache – nach dem Zeugnis Heideggers, der ja selbst diese Entwicklung mitprägte – „wie ein Erdbeben“.²³ In unmittelbarem Zusammenhang damit stehen Walter Benjamins Überlegungen zum Übersetzen und die kühnen Versuche von Buber-Rosenzweigs Verdeutschung der Bibel und Rudolf Borchardts Dante-Übersetzung in ein fiktives Oberdeutsch des 14. Jahrhunderts. Die Suche nach der Idiomatik und nach dem „Originalklang“ der Ausgangstexte, das alte Projekt Schleiermachers und Wilhelm von Humboldts, wurde wieder aufgenommen.²⁴ Wilamowitz’ Übersetzungen wurden dadurch sehr rasch obsolet: Während die ersten drei Bände seiner Tragödien-Übersetzungen zahlreiche Neuauflagen erfuhren, ist der 1923 erschienene vierte Band nicht mehr nachgedruckt worden. In unmittelbarer, wenn auch zeitlich verschobener Verbindung mit dieser kulturellen Umwälzung zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht aber auch das übersetzerische Werk Wolfgang Schadewaldts,²⁵ der sich 1928 noch unter den Augen von Wilamowitz in Berlin mit einer Arbeit über Pindar habilitierte und fast sein ganzes Philologenleben

21 Wilamowitz (1925), 336 f. 22 Borchardt (1987 [1905]), 28–30. Umfassend zur Kritik an Wilamowitz: Katja Lubitz in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009a), 211–235. 23 Zum Epochenbild Most (1995); das Heideggerzitat in: Heidegger (1957), 182. 24 Knapp zur Übersetzungstheorie am Beginn des 20. Jahrhunderts Apel/Kopetzki (2003), 96–101. 25 Zu Schadewaldt als Übersetzer s. Mindt in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009a), 277–297.

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der frühen griechischen Dichtung gewidmet hat. 1952 wurde Schadewaldts Übersetzung von Sophokles’ König Ödipus durch Gustav Rudolf Sellner am Darmstädter Theater aufgeführt, weitere Stücke des Sophokles folgten.²⁶ Es gab bis vor kurzem noch eine komplette Sophokles-Übersetzung von Schadewaldt zu kaufen,²⁷ 1958 erschien Schadewaldts Prosaübersetzung der Odyssee, 1975 die der Ilias; beide Übersetzungen werden bis heute nachgedruckt. Vorweg und ehe es um die Problematik der Übersetzungstheorie Schadewaldts unter allelopoietischem Aspekt geht, sei ein eindeutiges Lob auf Schadewaldts Übersetzungspraxis vorgebracht, damit jegliches Missverständnis der folgenden Kritik ausgeschlossen wird. Ich habe mehrfach im Rahmen des Studiengangs „Europäische Literaturen“ in Seminaren zu Sophokles und Homer auch mit Schadewaldts Homer- und Sophokles-Übersetzungen gearbeitet, und sie haben sich als die einzigen erwiesen, an denen man auch in der Übersetzung gültige Beobachtungen machen kann. Das liegt sicher zu einem Gutteil an der Konsequenz, mit der sich Schadewaldt an seine eingängigen Prinzipen des „dokumentarischen“ Übersetzens gehalten hat: Erstens: im Übersetzen das wiederzugeben, was dasteht und so wie es dasteht, nämlich vollständig, ohne Verkürzungen, Hinzufügungen. Zweitens: die originalen Vorstellungen, Begriffe wie Bilder, in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne Übermalungen auch im deutschen Wortlaut zu bewahren. Und drittens: die Folge dieser Vorstellungen, ihre ‚Syntax‘ – als Abfolge, wie die Dinge und Kräfte der Welt im Nacheinander dem Dichter vor die Augen kommen – bis zur Stellung des einzelnen Wortes in Satz und Vers, soweit irgend möglich, auch im Deutschen einzuhalten.²⁸

Vollständigkeit, Bildlichkeit, Beibehaltung der Wortfolge, das sind die oft zitierten Kriterien, die als Minimalbedingungen große Zustimmung finden – die aber auch noch weiter zu durchdenken sein werden. Denn Schadewaldt hat mit diesen drei Kriterien sicher viel zu wenig über seine Übersetzungen gesagt, die im Ergebnis weit mehr als das Geforderte leisten. Zunächst ein Beispiel solcher Übererfüllung selbstgesetzter Pflichten als Übersetzer, das aus der Ilias stammt. Bedingt durch das Kriegsgeschehen, gibt es in der Ilias sehr viele Lanzen, aber eine bestimmte, einprägsame Formel zur Beschreibung ganz besonderer Lanzen kommt darin nur vier (bzw. fünf) Mal,²⁹ und zwar jedes Mal genau zu Versbeginn vor: „ἔγχος (…) / βριθὺ μέγα στιβαρόν // énchos / br¯ıthy méga stibarón“

26 Siehe Flashar (2009), 196 f. 27 Sophokles, Tragödien. 28 Schadewaldt (1977), 77. 29 Die fünfte Stelle Il. 19.387–389 ἔγχος / βριθὺ μέγα στιβαρόν· τὸ μὲν οὐ δύνατ’ ἄλλος Α ᾿ χαιῶν / πάλλειν, ἀλλά μιν οἶος ἐπίστατο πῆλαι Α ᾿ χιλλεύς· wiederholt bekräftigend den Ausnahmecharakter der Lanze Achills und bestätigt das zu Zeigende.

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Die Präzision und Konstanz von Schadewaldts Übersetzung fällt besonders dann ins Auge, wenn man sie vergleicht. Zunächst Schadewaldt (1975; erläuternde Ergänzungen T. P.): Il. 5,746 „(Athene) ergriff die Lanze/Die große, schwere, wuchtige“ Il. 8,390 „(Athene) ergriff die Lanze/Die große, schwere, wuchtige“ Il. 16,140 „Die Lanze allein aber nahm er (Patroklos) nicht (…) / Die große, schwere, wuchtige“ Il. 16,802 „Und ganz zerbrach ihm (…) die Lanze/ Die große, schwere, wuchtige“ Denn übersetzt man die Formel wie Raoul Schrott (2008) jedes Mal anders,³⁰ dann geht viel, wenn nicht alles verloren (erläuternde Ergänzungen T. P.): Il. 5,746 „(athene) einen langen schweren speer/ in der faust“ Il. 8,390 „(athene) griff sich einen dicken langen und schweren Speer“ Il. 16,140 „nahm er (patroklos) nur eine einzige (sc. waffe) nicht: den schweren langen starken speer“ Il. 16,802 „der große schwere dicke speer (…) brach in seiner hand“ Verloren geht die Präzision der Erzählkunst Homers, die verlässliche Wiedererkennbarkeit und Interpretierbarkeit der vierten Stelle: An den ersten beiden Stellen wird die Lanze der Göttin Athene durch genau dieselben drei Adjektive bezeichnet und damit die Wortformel „geeicht“; dann wird an der dritten Stelle mit exakt denselben Worten jene von seinem Vater Peleus ererbte Eschenlanze Achills charakterisiert, die Patroklos nicht handhaben kann – und dann werden an der vierten Stelle ausgerechnet dieselben drei Adjektive für die explizit nicht dem göttlich-übermenschlichen Standard entsprechende Lanze des Patroklos verwendet. Im 19. Jahrhundert, als man zumeist nach der Urfassung der Epen suchte, konnte man die letzte Stelle als sekundär abtun nach dem Kriterium, dass da die Formel schlechter oder gar nicht passe.³¹ Heute, da wir die Formelökonomie der oral poetry besser einschätzen können und auch Klassische Philologen die Ilias narratologisch durchgearbeitet haben, wissen wir, dass die letzte Stelle höchstwahrscheinlich keinen Fehler darstellt, sondern in raffinierter sekundärer Fokalisierung die subjektive Einschätzung der Lanze aus der Sicht des ver-

30 Schrott steht nur als besonders deutliches Exempel für viele Übersetzer. Auch Hampe (1979) hält nicht ganz die Spur: 5,745 f. und 8,390: „die Lanze,/ wuchtig und groß und gediegen“; 16,140 f.: „die Lanze, …/ …die schwere, wuchtige, große“; 16,801 f.: „zerbrach ihm die Lanze, wuchtig und groß und fest“. 31 Ameis/Hentze, Homers Ilias, zur Stelle: „von dem Speer Achills, den Patroklos nicht nahm“; Ameis/Hentze athetieren deswegen auch – wie schon in der Antike Zenodot – die ganze Passage 16,792–804; vgl. Ameis/Hentze, Anhang zu Homer, 63 f. mit reicher älterer Literatur zur Stelle; vgl. Bannert (1988), 159–167: „Ein Formelproblem: Die Lanze des Patroklos“; Iliasscholion T zu Vers 16,801 (ed. H. Erbse 4,302): „εἰ δὲ ἡ Πελιὰς ἦν, οὐκ ἐκλάσθη.“

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blendeten Patroklos wiedergibt. Schadewaldt, der solche moderne Erzähltheorie noch gar nicht kennen konnte, hat alles richtig gemacht, indem er bloß den griechischen Dativ „οἱ“ durch ein funktional analoges „ihm“ an derselben syntaktischen Position im Deutschen wiedergegeben hat: So hat Schadewaldt nicht nur einen dativus possessoris („seine Lanze“) oder dativus incommodi („ihm zu Schaden“), sondern auch einen dativus iudicantis („die für ihn große, schwere, wuchtige Lanze“) als Träger der sekundären Fokalisierung in den deutschen Text eingebaut. Man muss Homer so sorgfältig wie Flaubert und Proust übersetzen, wie eben bislang nur Schadewaldt es getan hat. Womit aber noch nichts für die allelopoietische Plausibilität der Theorie der dokumentarischen Übersetzung gewonnen ist. Schaut man sich etwa die ersten Zeilen der Ilias-Übersetzung an, so wird sofort erkennbar, wie genau Schadewaldt auch hier die Wörter an ihrem Platz belassen, genauer: die deutschen Wörter ziemlich genau an analoge Stellen gesetzt hat, an der die griechischen im griechischen Text stehen: „Μῆνιν ἄειδε θεὰ Πηληϊάδεω Α ᾿ χιλῆος οὐλομένην, ἣ μυρί’ Α ᾿ χαιοῖς ἄλγε’ ἔθηκε, πολλὰς δ’ ἰφθίμους ψυχὰς ῎Αϊδι προΐαψεν ἡρώων, αὐτοὺς δὲ ἑλώρια τεῦχε κύνεσσιν οἰωνοῖσί τε δαῖτα (v. l. πᾶσι), (…)“ Schadewaldt (1975, Kursive T. P.): „Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohnes Achilleus, Den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte Und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf Von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden Und den Vögeln zum Mahl, (…)“ Und zum Vergleich wieder Raoul Schrott (2008, Kursive T. P.): „von der bitternis sing, göttin – von achilleús, dem sohn des peleús seinem verfluchten groll, der den griechen unsägliche leiden brachte und die seelen zahlloser krieger hinab in das haus des hades sandte die blutvollen leben dann nur noch fleisch an dem die hunde fraßen den vögeln ein festmahl, (…)“ Lassen wir das mēnis-Problem beiseite³², so erweist sich schon in Vers 3 das als Übersetzung für „ψυχή/psyché“ in Vers 3 unvermeidliche Wort „Seele“ auf den ersten Blick 32 Damit ist gemeint, dass das Wort μῆνις/mēnis keine spezifische deutsche Entsprechung hat, denn das griechische Wort wird sonst nur für den Zorn oder Groll von Göttern verwendet und ausnahmsweise von Achills Regung; s. Lexikon des frühgriechischen Epos, Bd. 3, Göttingen 2004, Sp. 187– 189 s. v. μῆνις. Auch ein Übersetzer wie Schadewaldt hat kein anderes deutsches Wort als „Zorn“

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als bloßer Platzhalter für psyché: Dazwischen liegen 2700 Jahre Geistes-, Kultur-, Religions-, Wissenschafts- und Ideengeschichte, und wer über das Wort „Seelen“ rasch und gedankenlos hinweg liest, begeht genau denjenigen Fehler, der einst Moriz Haupt zum Verbot des Übersetzens bewogen hatte: Es führt kein unmittelbarer Weg von den im homerischen Griechisch mit dem Wort psyché verbundenen Vorstellungen zu denjenigen, die mit dem Wort „Seele“ verbunden sind. Übersetzen heißt eben mit Wilamowitz’ Worten, etwas „in einer anderen bestimmten Sprache neu schaffen“. Und deshalb muss man meines Erachtens vor allem die zweite Maxime Schadewaldts, „die originalen Vorstellungen, Begriffe wie Bilder, in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne Übermalungen auch im deutschen Wortlaut zu bewahren“ gründlich revidieren, um überhaupt an die transformatorische Differenz im Übersetzen heranzukommen. Schadewaldt selbst ist ja an anderen Orten sehr hellhörig für die Begriffs- und Übersetzungsgeschichte, etwa in seinem Versuch,³³ in der Aristotelischen Poetik die Begriffe „ἔλεος/éleos“ und „φόβος/phóbos“ nicht mehr durch „Mitleid“ und „Furcht“, sondern durch „Jammer“ und „Schaudern“ zu übersetzen. Allenfalls durch die strukturelle Genauigkeit von Schadewaldts Übersetzung des korrespondierenden, auch im Griechischen³⁴ irritierenden Ausdrucks „sie selbst“ (in Vers 4) wird der hellhörige Leser (ganz im Gegensatz zu Schrotts „blutvoller“ Surrogatlösung) darauf hingewiesen, dass er selbst im Verlauf des Werks darauf wird achten müssen, was an einem Menschen für den Dichter der Ilias als „Selbst“ bedeutsam ist und wie die Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Körper und Seele im Epos gezogen werden. Der griechische Wortgebrauch bei Homer erlaubt es eben nicht, den „Seelen“ einfach „σώματα/sómata“ als „Körper“ gegenüberzustellen.³⁵ Wenn es um Tote geht, so steht tatsächlich meist der Name der Lebendigen für deren Leichname, aber es werden auch das Wort „νέκυς /nékys“ und dessen Nebenform „νεκρός/nekrós“ für den Leichnam eines Menschen gebraucht.³⁶ Die Wörter vom Anfang der Ilias sind also im Griechischen und im Deutschen weitgehend unbestimmt – und auch ganz unabhängig von den prinzipiellen kulturellen Unterschieden weiß man erst am Ende der Ilias, nach dem Kampf um Patroklos’ Leichnam (Buch 17) und dessen Bestattung (Buch 23) bzw. nach der durch Achill erfolgten Misshandlung und letztlichen Heraus-

zur Verfügung, mit dem sonst auch die ganz geläufige menschliche Zornesregungen ὀργή/orgé oder χόλος/chólos im Deutschen bezeichnet werden. Raoul Schrott hat jüngst eine noch bizarrere Deutung und Übersetzung des Ilias-Eingangs vorgelegt (Schrott 2015): „Groll verkünde, Themis, über Peleus’ Sohn Achilleus und seinen Zorn.“ 33 Schadewaldt (1970a). 34 Das Lexikon des frühgriechischen Epos, Bd. 1, Göttingen 1955, Sp. 1632 s. v. αὐτός, ἑαυτοῦ bietet Il. 1,4 als einzigen Beleg mit der – gerade nicht dem homerischen Sprachgebrauch entsprechenden – Bedeutungsangabe „= σῶμα“; s. folgende Anmerkung. 35 Lexikon des frühgriechischen Epos, Bd. 3, Göttingen 2010, Sp. 284 s. v. σῶμα bietet für die Ilias nur einen vereinzelten Beleg für σῶμα in der Bedeutung „menschlicher Leichnam“: Il. 7,79 (= 22,342). 36 Lexikon des frühgriechischen Epos, Bd. 3, Göttingen 2004, Sp.315 s. v. νέκυς I, 1: „Toter, Leichnam meist abwechselnd (u. ohne Unterschied) mit Namen des Toten“ (mit zahlreichen Stellen).

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gabe von Hektors sterblichen Überresten (Buch 24) mehr über die wirkliche Bedeutung der Wörter. Man muss die Wörter jeweils erst interpretierend mit Sinn erfüllen – als etwas Gegebenes bewahren kann man ihn nicht: Es gibt auch keine semantische Metempsychose. Die Vorzüge von Schadewaldts Konzept des dokumentarischen Übersetzens liegen also auf der Hand, solange es nicht um Semantik, sondern um die Struktur des Verses, des Satzes³⁷ oder des Kunstwerks insgesamt als eines komplexen Signifikanten geht, und ich bekenne mich als Philologe gerne zum Verfahren des „wörtlich dokumentarischen Übersetzen(s)“, für das auch niemand Geringerer als Vladimir Nabokov bürgt: „The term ‚literal translation’ is tautological since anything but that is not truly a translation but an imitation, an adaptation or a parody.“³⁸ Aber die Probleme sind auch durch keinen noch so gewichtigen Zeugen aus der Welt zu schaffen: Was soll, was kann man tun angesichts des semantischen Abgrunds zwischen den Sprachen, Kulturen und Zeiten, zwischen Vorstellungen und Begriffen in Antike und Gegenwart? Dazu wollen wir einen Blick auf den König Ödipus von Schadewaldt werfen. Und schon haben wir die erste konstruktive Fehlübersetzung überlesen bzw. nachvollziehend begangen. Das Stück, von dem die Rede ist, hat zu Lebzeiten des Sophokles nie „König Ödipus/Οἰδίπους βασιλεύς/Oidípous basileús“ geheißen. Noch Aristoteles zitiert bloß nach dem Muster „im Ödipus des Sophokles“;³⁹ wohl erst später entstanden ist der vollständigere Titel zur Unterscheidung von dem postum aufgeführten „Ödipus ¯ o(i)/Οἰδίπους ¯ auf Kolonos /Oidipous epi Kolon ὁ ἐπὶ τῷ Κολωνῷ“.⁴⁰ Griechisch wird das Stück allenfalls zitiert als „Οἰδίπους τύραννος/Oidípous týrannos“ nach der im Text gebräuchlichsten Bezeichnung für Ödipus’ politische Funktion, für die freilich auch mehrmals das Wort „basileús/König“ gesetzt wird. In vielen Kommentaren bis zum jüngst erschienenen von Manuwald⁴¹ kann man lesen, dass das Wort týrannos im Ödipus-Stück neutral im Sinne von „Monarch, Alleinherrscher“ verwendet werde. Das ist richtig,⁴² aber nur bedingt. Auch außerhalb des König Ödipus finden sich Belege für

37 Schadewaldts Modell ist, ohne dass es ausgesprochen wird, nur geeignet für strukturähnliche Sprachen wie diejenigen der indoeuropäischen Sprachfamilie, die zudem auch viele grammatische Eigenschaften teilen. Zudem ist erst in den letzten Jahrzehnten die Informationsverteilung innerhalb der Sätze in den einzelnen Sprachen Griechisch, Latein und Deutsch intensiver untersucht worden. Hinweise dazu in Poiss/Kitzbichler/Fantino (2015) 368 / Anm. 37. 38 Nabokov (2012 [1955]), 119. 39 Arist. Poet. 1454b7 f. ἐν τῷ Οἰδιπόδι τοῦ Σοφοκλέους; 1452a24: ἐν τῷ Οἰδιπόδι. 40 So die Hypotheseis II und III, die sich in der alten Sophokles-Ausgabe (ohne Paginierung) von Pearson (1928) dem Stück vorangestellt finden. – Sommerstein (2010), 14 f., denkt zudem nach einem Vorschlag von M. L. West auch schon an den Athener Buchhandel, vertritt aber ebd., 23, die Ansicht, dass beide Ödipus-Stücke von Sophokles zunächst nur den Namen der Hauptfigur erhielten. 41 Manuwald (2012), 125 (Zeilenkommentar zu Vers 408). 42 Dreimal verwendet Ödipus ja von sich selbst den Ausdruck týrannos: 380, 535, 540; Knox (1998 [1957]), 212 / Anm. 1.

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die neutrale Bedeutung von týrannos, aber diese sind zumindest für Aischylos und Sophokles nicht sehr häufig, obwohl es in fast allen Stücken der beiden Tragiker Könige gibt. Bei Euripides liegen die Dinge anders⁴³ und auch im wohl pseudo-aischyleischen Gefesselten Prometheus kommt das Wort mehrfach (6x) und zudem in Verbindung mit der Herrschaftsform τυραννίς/tyrannís vor, d. h. nicht nur mit aller Ambivalenz, die das Wort nun einmal hat, sondern mit explizit negativen Konnotationen. Ein Athener des fünften Jahrhunderts v. Chr. musste beinahe so aktiv wie wir den negativen Bezug des Wortes týrannos wegdenken, denn auf der Agora von Athen stand die Statuengruppe der Tyrannenmörder zur Erinnerung an das Gründungsideologem der athenischen Demokratie.⁴⁴ Mag sich auch der Athener Zuschauer gedacht haben: Ich bin jetzt im Theater und hier heißt týrannos neutral „Herrscher“, das Wort týrannos behält trotzdem immer einen Hof von Bedeutungen und Nebentönen, der dem Wort „König“ definitiv abgeht, vor allem die Konnotation der stets fragwürdigen Legitimität eines týrannos. Schadewaldt bewahrt den durch Konvention geschützten Titel des Stücks, doch im Text selbst wählt er mit dem Wort „Herrscher“ als Übersetzung für týrannos treffsicher den Terminus, der tatsächlich neutral im Sinn einer Offenheit zum Guten wie zum Schlechten ist. Nur vor der Abänderung des Titels in Herrscher Ödipus schreckt er zurück. Schadewaldts Übersetzung kann daher auch nicht den direkten terminologischen Bezug herstellen zu einer dunklen und äußerst umstrittenen Stelle im zweiten Chorlied. Dort bittet der Chor, nachdem er soeben von Ödipus im Gespräch mit Iokaste das Geschehen am Dreiweg, also die Tötung des Laios, gehört hat, um eigene religiöse Reinheit und fängt daraufhin an, nachzudenken mit den Worten (König Ödipus, V. 873):⁴⁵ „ὕβρις φυτεύει τύραννον.“ „Anmaßung bringt einen tyrannischen Herrn hervor.“ Aber das scheint so wenig zum Stück zu passen, dass man noch vor kurzem konjizierte:⁴⁶ „ὕβριν φυτεύει τυραννίς.“ / „Tyranny begets Hybris.“ Doch wieder liegt Schadewaldts Übersetzung deutlich vor allen anderen, denn seine Übersetzung lautet: „Unmaß pflanzt den Tyrannen.“ Das stellt zwar nicht direkt den Bezug zu týrannos als Funktionstitel des Ödipus her, der sich ja durch den bisheri43 Knox (1998 [1957]), 212/ adn. 3 44 Zusammenfassend zur zentralen Bedeutung des Tyrannenbegriffs im demokratischen Athen Raaflaub (2003). 45 So der Text in den Handschriften und in der führenden Text-Ausgabe von Lloyd-Jones/Wilson (1990); die Übersetzung aus Manuwald (2012). 46 Dawe (2006), 147 (nach einer Konjektur von Blaydes); so auch schon Dawe in der von ihm 1984 besorgten Teubner-Ausgabe des Sophokles.

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gen Sprachgebrauch des Stücks unabweislich aufdrängt. Aber durch den von Schadewaldt feinfühlig gegen seine eigene Regel hinzugefügten bestimmten Artikel („den Tyrannen“ – der Artikel ist nicht nur als klassenbildend, sondern auch als individuierend lesbar⁴⁷) wird der Bezug auf den Herrscher zumindest angedeutet oder ermöglicht.⁴⁸ Noch glücklicher gewählt ist die Übersetzung „Unmaß“ für hýbris, was Manuwaldt und viele andere mit „Anmaßung“ oder ähnlichem übersetzen. Denn „Unmaß“ kann nicht nur eine Gesinnung, sondern auch ein Verhalten bezeichnen, ja, es gibt sogar einen Tatbestand des athenischen Rechts mit dem Namen „ὕβρις/hýbris“: „jegliche Form von Gewalt […] bei gleichzeitigem Angriff auf die soziale Position des Opfers“⁴⁹. Und das ist zumindest eine mögliche juristische Beschreibung des Gewaltexzesses zwischen Ödipus und Laios, den Schadewaldt folgendermaßen (König Ödipus, V. 803–813) wiedergibt: „[…] Da kamen mir ein Herold und, Auf einem Pferdewagen aufgestiegen, Ein Mann entgegen, wie du ihn beschreibst. Und aus dem Wege wollten mich der Vormann Und er, der Alte, mit Gewalt vertreiben, Und ich versetzte dem, der mich wegdrängte, Dem Treiber, einen Hieb im Ärger. Und der Alte, Wie er es sieht, hat acht, wie ich vorbeigeh, Und von dem Wagen mitten übers Haupt Fuhr er herab mir mit dem Doppelstachel! Nun! Nicht mit Gleichem büßte er es, sondern, kurz! Vom Stab aus dieser meiner Hand getroffen, rollt Er rücklings mitten aus dem Wagen augenblicklich, Und ich erschlage allesamt.“ Schadewaldts Übersetzung bietet eine überaus präzise Beschreibung eskalierender Gewalt, die nach athenischem Recht wohl kaum einem (vorsätzlichen) Mord entsprochen hätte, sondern höchstwahrscheinlich sogar eine legale Selbstverteidigung des Ödipus darstellte, da ja König Laios durch seinen Diener als seinen Handlanger die Tätlichkeiten begonnen und dann selbst vorsätzlich und gezielt („hat acht“/τηρήσας) fortgesetzt hatte. Allenfalls liegt der Tatbestand „aeikía/Gewalttätigkeit“ oder eben

47 Schadewaldt (1978), 157–161, hat diese Funktionen des Artikel selbst eingehend durchdacht. 48 Die durch Schadewaldt offengehaltene Ambivalenz von týrannos an dieser Stelle (Wenn der König=Tyrann [neutral] durch einen Gewaltakt zur Herrschaft gekommen ist, wird er zum Tyrann im negativen Sinn), wird von Manuwald (2012), 195 (Zeilenkommentar zu Vers 873) im negativen Sinn vereindeutigt. 49 Todd (1993), 270: „any form of violence (…) an attack on the timé of the victim“.

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hýbris vor.⁵⁰ Das Seltsame ist nun, dass Schadewaldt, obwohl er so anschaulich übersetzt, trotzdem die Relevanz von juristischen und intellektuellen Schuldfragen und von psychologischen oder politischen Deutungen des Ödipus in Aufsätzen mehrfach und mit Nachdruck negiert hat, und den König Ödipus als ein rein existenziellreligiöses Kunstwerk verstanden wissen wollte.⁵¹ Schadewaldt entrückt den Ödipus in die Zeitlosigkeit und macht Sophokles zu einem allgemeinen Mahner gegen eine gottlose Zeit – nicht ganz unähnlich der Situation in jenem Nachkriegsdeutschland, für die der erklärte Humanist Schadewaldt seine Dramenübersetzungen schuf. Schadewaldt übersetzt jedoch viel besser, als seine Übersetzungsmaximen es begründen können, und auch besser als seine eigenen Lesehinweise es nahelegen. Da Schadewaldt auch keine Erläuterungen beigegeben hat, sondern allenfalls interpretierende Nachworte oder interpretierende Aufsätze beigefügt hat (so in der InselTaschenbuch-Ausgabe), hat er auch nichts unternommen, die tiefe Verankerung eines Stückes wie des König Ödipus in der Antike als dem Referenzbereich aufzuzeigen und dabei etwa die juristische Dimension zu erhellen. Josefine Kitzbichler hat in ihrem Referat (s. oben S. 213 ff.) die Fahndungsausschreibung aus dem Beginn des König Ödipus (224–254) erwähnt. Seit 1966⁵² wurde mehrfach gezeigt, wie nahe das uns etwas seltsam anmutende Verhalten des Ödipus der tatsächlichen Einleitung des athenischen Rechtsverfahrens im Tötungsfall ist: Der nächste, auch bloß angeheiratete Verwandte des Getöteten hat vor dem zuständigen Beamten, dem árchon basileús, – Ödipus ist im Stück beides gleichsam in Personalunion – die Proklamierung der Tat vorzunehmen, die zugleich eine Verfluchung des Täters und die Bindung von Zeugen beinhaltet, also einerseits zur Rache für den Getöteten, andererseits zur Befreiung der Gemeinschaft von der rituellen Befleckung, dem míasma, auffordert.⁵³ Erst dann leitet der árchon basileús das formelle Rechtsverfahren ein.⁵⁴ Ein zeitgenössischer Zuschauer konnte Ödipus also zu Beginn des Stücks sofort als einen – nach athenischen Standards – rechtskonform Handelnden wahrnehmen, was moderne Zuschauer ohne weitere Informationen höchstens vermuten können. Der Zuschauer der Neuzeit sieht nun einmal unter seinen Voraussetzungen ein anderes Stück als der zeitgenössische Athener.

50 Anders Harris (2010), 135–139, der meines Erachtens die Gezieltheit des Angriffs durch Laios auf Ödipus’ Kopf und Ödipus’ Verteidigung bloß mit seinem Wanderstab nicht richtig gewichtet. 51 So Schadewaldt (1970b); ders. (1970c), insbes. 475: „das Mysterium des Menschen“. – Anders in: Schadewaldt (1970d), insbes. 648: „Im ‚König Ödipus‘ etwa ist die ganze Handlung als Folge solcher im Leben vorgeprägter sakraler, staatlich-rechtlicher Akte entwickelt.“ 52 Greiffenhagen (1966). 53 Greiffenhagen (1966), 156 f. 54 Arist. Ath. Pol. 57, 2–4 (mit dem Kommentar von Rhodes zur Stelle; die Rollen von Verwandtem und Archon bei der Verrufung des Täters sind nicht ganz klar); MacDowell (1978), 109–113; die einschlägigen Diskussionen zusammenfassend Phillips (2008), 72–74: „Proclamations“.

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Doch nun noch ein letzter Hinweis darauf, wie selbst Schadewaldt durch manche Vorannahmen Dinge verfehlt hat – gleichsam zur Warnung für minder sorgfältige Übersetzer. In der Schilderung des Tathergangs am Dreiweg spricht Ödipus von einem „Mann […], wie du ihn beschreibst“ (s. oben, V. 805). Das Wort „beschreibst“ bezieht sich auf die wenige Verse vor der Erzählung der Tat in folgender Dialogpassage zwischen Ödipus und Iokaste (740–743, Schadewaldt; Kursive T. P.) gegebene Charakterisierung: „OID: […] Doch, dieser Laios, sage: Welche Gestalt er hatte, welches Alter! IOK: Groß. Eben blütenweiß das Haar umflaumt. Im Aussehen stand er deinem nicht sehr fern.“ Auf Griechisch lautet das so (Kursive T. P.): „ΟΙ. […]· τὸν δὲ Λάϊον φύσιν τίν’ εἶχε φράζε, τίνα δ’ ἀκμὴν ᾕβης ἔχων. ΙΟ. Μέγας, χνοάζων ἄρτι λευκανθὲς κάρα, μορφῆς δὲ τῆς σῆς οὐκ ἀπεστάτει πολύ. “ Ödipus fragt nach der „φύσις/phýsis“ des Laios, was signifikant mehr beinhaltet als bloß die Frage nach der „Gestalt“, wenn auch Iokaste naheliegender Weise die Frage als Frage nach dem „Aussehen“ (μορφή/morpheˉˊ“) versteht und beantwortet. Der Zuschauer bzw. Rezipient bekommt also kurz vor der Erzählung einen expliziten Hinweis, im Folgenden auf die Ähnlichkeit von Vater und Sohn zu achten. Er kann diese dabei aber – es handelt sich ja um ein sprachliches Referat des Tathergangs – nicht als handelnde Personen sehen und also auch nicht ihr Aussehen vergleichen, sondern bloß ihre im Handeln sich manifestierende Natur oder Wesensart, ihre „φύσις/phýsis“ – ein Prinzip, das Schadewaldt als Kenner des frühen Griechentums höchst vertraut war. Weil aber Schadewaldt den König Ödipus vor allem als Begegnungsgeschehen zwischen Gott und Mensch verstanden wissen will, achtet er ausnahmsweise nicht auf ein Schlüsselwort wie phýsis, das er selbst als „die wohl genialste Seinsvision“ bezeichnet hat.⁵⁵ Durch die Konzentration auf das religiöse Geschehen sieht Schadewaldt nicht, dass der König Ödipus auch als eine intellektuelle Studie gelesen werden kann, in der alle Erklärungsmodelle für menschliches Handeln durchgespielt werden: Zufall, Notwendigkeit, göttliches Schicksal, Erkenntnisvermögen, Charakter, soziale Geltungsansprüche und Rollenzuschreibungen, und eben auch die menschliche „Natur“ – Begriffe, an denen wir uns noch heute abarbeiten, wenn wir versuchen, menschliches Handeln zu analysieren und zu verstehen.

55 Schadewaldt (1978), 201–209, zum phýsis-Begriff; das Zitat: 201.

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Womit wir eigentlich wieder bei Moriz Haupts Position angelangt wären, der aus Einsicht in die „Bedeutungsgeschichte“ von Wörtern und Begriffen das Übersetzen im Bereich der Wissenschaft untersagen wollte. Das ist nun eine nicht sehr nützliche und letztlich unhaltbare Position – wie Haupt selbst zeigt. Eine Fügung der Überlieferungsgeschichte⁵⁶ hat uns eine einzige größere Übersetzung aus Haupts Feder erhalten, und zwar nichts Geringeres als die ersten sechzehn Kapitel von Tacitus’ Germania. Davon der Beginn (1,1–3; Kursive T. P.):⁵⁷ Germanien insgesamt wird von den Galliern und den Rätern und Pannoniern durch die Flüsse Rhenus und Danuvius, von den Sarmaten und Dakern durch wechselseitige Furcht oder Berge getrennt. Das übrige umgiebt der Oceanus, breite Krümmungen und unermeßliche Räume von Eilanden umfassend, indem jüngst bekannt worden sind einige Völker und Könige, die Krieg offenbarte. Der Rhenus, auf der rätischen Alpen unerstiegenem und schroffem Gipfel entsprungen, fällt, in mäßiger Beugung gegen Abend gewandt, in den nördlichen Oceanus. Der Danuvius, dem sanft und gemach ansteigenden Rücken des Gebirges Abnoba entströmt, geht zu mehreren Völkern, bis er in das pontische Meer in sechs Gängen hervorbricht; die siebente Mündung wird von Sümpfen verschlungen.

Und im Original (Tac. Germania 1,1–3; Kursive T. P.): Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio fluminibus, a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur: cetera Oceanus ambit, latos sinus et insularum immensa spatia complectens, nuper cognitis quibusdam gentibus ac regibus, quos bellum aperuit. Rhenus, Raeticarum Alpium inaccesso ac praecipiti vertice ortus, modico flexu in occidentem versus septentrionali Oceano miscetur. Danuvius molli et clementer edito montis Abnobae iugo effusus plures populos adit, donec in Ponticum mare sex meatibus erumpat; septimum os paludibus hauritur.

Bis auf die vereinzelte antiquierte Verbform „worden“ und die Wiedergabe von „miscetur“ mit „fällt“ hat Haupt einen schwer und allenfalls in minimalen Details zu übertreffenden Nachbau der taciteischen Diktion erreicht, der kognitiv ebenso erhellend wie ästhetisch-deklamatorisch erfreulich ist. Haupt hat also in seiner Praxis der Übersetzung so genau, wie nur irgend möglich, die Prinzipien seines Enkelschülers Schadewaldt (Vollständigkeit, Bildlichkeit, Beibehaltung der Reihenfolge) vorweggenommen und beachtet, – nur maß er dem Ergebnis keinerlei Bedeutung zu.

56 Haupts Tacitus-Übersetzung wurde ohne Nennung eines Herausgebers aus dem Nachlass ediert; Katja Lubitz in: Kitzbichler/Lubitz/Mindt (2009a), 184/Anm. 354, vermutet plausibel, dass es wohl Christian Belger gewesen sein dürfte, Haupts Biograph, der zusammen mit Oskar Seyffert auch die Berliner Philologische Wochenschrift herausgab, in der Haupts Übersetzung schließlich erschien. – Vgl. Wilamowitz (1891), 2: „denn halb aus stolz, halb aus bescheidenheit pflegen die philologen solche übersetzungen kaum zu erwähnen, geschweige zu veröffentlichen. Das tun dann andere an ihrer statt, die es nicht verstehn.“ 57 Haupt (1886), 1033.

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Was folgt daraus für das Übersetzen? Rebus sic stantibus würde ich daraus den Schluss ziehen: Es gibt keinen seriöseren und besseren Weg des Übersetzens als geschliffene und reflektierte Wörtlichkeit, sofern wir uns immer wieder bewusst machen, wie interpretationsbedürftig die daraus hervorgehenden Konstruktionen gerade auch im besten Fall noch bleiben. Was folgt daraus für das Konzept der Allelopoiese? Jeder der drei Berliner Philologen gehörte zu seiner Zeit unbestritten zu den besten seines Faches und verfügte über bestmögliche Kenntnis der Antike als Referenzkultur, über Einsicht in die historische Bedingtheit seines eigenen wissenschaftlichen Tuns und zugleich über höchste sprachliche Fähigkeiten; trotzdem tritt in der übersetzerischen Praxis die Problematik des Bezuges, den Wissenschaft zwischen Referenz- und Aufnahmekultur herzustellen vermag, verschärft zu Tage. Blickt man auf die skizzierten Positionen zurück, so sollte klar geworden sein, „dass die Differenz der Übersetzung, ihr konstruktiver Charakter, ihre Eigenständigkeit innerhalb der Aufnahmekultur“ – bei allen Fortschritten in den letzten 200 Jahren – überhaupt noch nicht auf befriedigende Weise berücksichtigt, sondern entweder radikal überbewertet (Haupt), oder zugleich anerkannt und übersprungen (Wilamowitz) oder auf kunstvolle Weise verdrängt (Schadewaldt) worden ist. Moriz Haupt bereichert die allelopoietische Typenlehre um den Grenzfall des Verstummens: Lieber keine Übersetzung als eine Verfälschung (Transformation). Wilamowitz erklärt sich im Vollbesitz seiner Kenntnisse und seiner sprachmimetischen Fähigkeiten zum philologischen Mittler der antiken Geister, der das Unsterbliche am Hellenentum den Wissbegierigen seiner Zeit durch Neuschöpfung weiterzureichen und den Beweis der Gültigkeit seines Tuns durch die Rückübersetzung deutscher Klassik ins Griechische anzutreten vermag. Er hätte wohl aufgrund seines beinahe religiösen Glaubens an die Wissenschaft⁵⁸ größte Vorbehalte gegen das Konzept der Allelopoiese gehabt, – obwohl er es verkörperte: Wer hätte die Antike stärker verändert als er? Schadewaldt, der mit dem Insistieren auf den Prinzipien dokumentarischen Übersetzens große Leistungen als Übersetzer vollbracht hat und auch die Bahn für modernes re-konstruierendes Übersetzen in der deutschen Klassischen Philologie bereitet hat, bleibt mit dem letztlich defensiv-konservativen Konzept des „Dokumentarischen“ weit hinter dem subtilen sprachschöpferischen Potential seines eigenen Vorgehens zurück und verschleiert mit seiner zweiten Forderung der „die originalen […] Begriffe […] im deutschen Wortlaut zu bewahren“ die geschichtliche Dynamik des Übersetzens, die dem Neuschaffen in einer anderen Sprache notwendigerweise zukommt. Zugespitzt: Der poietische Aspekt der Wissenschaft wie des Übersetzens erscheint unbewältigt – oder lebendig wie nur je.

58 Wilamowitz (1929), 317: „Das sind die echten Männer der Wissenschaft, denn ihnen ist der Dienst der Wahrheit Gottesdienst.“

Übersetzen als Konstruktion | 241

Primärliteratur Gilgamesch. Epos, Raoul Schrott, München/Wien 2001. Ameis, Karl Friedrich/Hentze, Carl, Homers Ilias für den Schulgebrauch erklärt, 2,2, Gesang xvi– xviii, 4. Aufl. Leipzig/Berlin 1929. Ameis, Karl Friedrich/Hentze, Carl, Anhang zur Ilias, 2. zum Teil umgearb. Aufl. Leipzig 1900. Homer, Ilias, neue Übers., Nachwort und Register v. Roland Hampe, Stuttgart 1979. Homer, Ilias, neue Übers. v. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975. Homer, Odyssee, dt. v. Wolfgang Schadewaldt, Hamburg 1958. Homer, Ilias, übers. v. Raoul Schrott, München 2008. Sophoclis fabulae, recognovit brevique adnotatione instruxit A. C. Pearson, Oxford 1928. Sophocles, Tragoediae, I, edidit R. D. Dawe, Leipzig 1984. Sophoclis fabulae, recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt H. Lloyd-Jones et N. G. Wilson, Oxford 1990. Sophokles, König Ödipus, hg. u. übertr. v. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1978. Sophokles, Tragödien, übers. v. Wolfgang Schadewaldt, hg., erl. u. eingel. v. Bernhard Zimmermann, Düsseldorf/Zürich 2002. Euripides, Hippolytos, griechisch-deutsch von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Berlin 1891. Griechische Tragödien, übers. v. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Bd. 1–4, Berlin 1899–1923. Sophokles, König Ödipus, hg., übers. u. komm. von Bernd Manuwald, Berlin/Boston 2012. Sophocles, Oedipus Rex, ed. by R. D. Dawe, 2. Aufl. Cambridge 2006. „Die ersten 16 Kapitel von Tacitus’ Germania übersetzt von Moriz Haupt“, in: Berliner Philologische Wochenschrift 33 u. 34 (1886), 1033–1036, 1066–1068.

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Sach- und Begrifsverzeichnis aemulatio 211 Alexandriner 215, 222 Allelopoiese, allelopoietisch 1, 2, 5–13, 17, 18, 32, 39, 67, 87, 90, 92, 95, 97, 98, 105, 106, 140, 148, 159, 164, 171, 192, 197, 198, 202, 207, 209, 222, 223, 240 Allgemeinbegriffe 139, 140, 149–152, 154, 155 Angst, kollektive 95, 96, 100, 101 Antikeimagination 48 Antikekonzeption 9, 53 Appropriation 3, 4, 8, 84, 111, 123, 147, 168, 173, 176 Äquivalenz (Übersetzung) 210, 212 Assimilation 3, 8, 59, 66, 102 Astrologie 16, 24, 31 Astronomie 2, 9, 16, 22–25, 27, 28, 30, 31, 41–44, 186, 198 Aufnahmebereich/-kultur 3–5, 10, 11, 32, 40, 54, 82, 84, 87, 89–91, 98, 105, 127, 140, 143, 145, 146, 159, 167, 169, 198, 207, 209, 222, 223, 227, 240 Ausblendung 11, 100, 112, 120, 121, 123 Babylon 5, 9, 15–21, 23, 24, 29, 30, 32, 33, 39–44, 61, 65 Bedeutungsgeschichte 226, 239 belles infidèles 215 (Bett-)Bespannung 203, 206, 265 Bund, Bundbegriff 109–115, 117, 118, 122, 123, 134 Capriccio 56, 62, 64, 66 Diagramm 203–205 Erkenntnis 11, 23, 25, 27, 85, 140, 144, 145, 147–149, 151, 159, 161, 167, 173, 174, 176, 183, 191, 198, 226 – Erkenntnistheorie 141, 144, 147, 154, 156, 162, 163, 168 – Erkenntnisvermögen 147, 152, 154, 171, 238 Federalists 117, 128, 129, 131 Feindtheorem 10, 81, 82, 84, 85, 88–91, 95–101, 103–105 Fluxionskalkül 185, 186 Formalismus 179, 184, 186, 190, 192 DOI 10.1515/9783110499261-016

Formsprache 179, 185, 190, 191 Föderalismus 114, 117–119, 121, 134, 135 Föderation 109, 119, 123, 133 Gegennarrativ 86, 87, 89–91 Geometrie 183–188, 198 Gewicht 109, 201 Glauben 17, 49, 90, 144, 150, 156, 161, 162, 167, 173, 176, 192 Harmonik 198 Hebel 197, 201, 203 Historienmalerei 10, 57–59 Historismus 9, 52, 53, 63 Ignoranz 3, 5, 7, 11, 82, 84–90, 92, 95, 111, 127, 130, 132–134 Infinitesimalrechnung 185, 186, 189 Inversion 4, 100, 216 Judenfrage 20, 23 Karthago 82, 86, 87, 90 Konföderation 110, 114–117 Konstruktion (konstruktiv, Konstruktivist) 4, 12, 15, 98, 124, 179, 180, 191, 199, 203, 207, 223, 225, 228 Korruption 186, 191 Maschine 191, 202 Mathematik 22, 170, 179, 181, 183–187, 191, 198, 199 Mechanik 12, 179, 184, 186–192, 197–207, 263 Medizin 188 Metempsychose 228, 234 Naturphilosophie 180–182, 185, 186, 188, 198 Objekt 4, 102, 142, 148, 149, 152, 155, 171, 192, 203 Optik 179, 198 Original (Übersetzung) 12, 115, 209–212, 219, 225, 239 Ost-West-Antagonismus 59 Panbabylonismus 9, 16, 17, 24, 26, 28, 29, 31, 33, 39–42, 44, 45 Philologe (d. h. Klassischer Philologe) 227, 228, 234

244 | Sach- und Begrifsverzeichnis

Physik 179, 180, 182, 186, 188, 190–192, 198 Prolepsis-Lehre 141–143, 168 Referenzbereich 3, 5, 6, 12, 18, 87, 92, 98, 127, 133, 141, 145, 156, 159, 163, 175, 227, 237 Referenzobjekt/-kultur 8, 9, 23, 32, 39, 54, 59, 82, 91, 92, 98, 105, 167, 169, 198, 207, 240 Rekonstruktionszeichnung 52–54 Religionsphilosophie 152, 154, 156, 176 Rezeption 5, 17, 32, 87, 111, 112, 179, 180, 190–192, 197, 207, 212 Schriftsprache 185 Schultheater 222 Schwerpunkt 183, 200, 201 Seele 141–145, 168, 169, 172, 174, 228, 232, 233 Seil, Seiltänze 201, 203, 205, 206 Semantik 110, 234 Stoa 141–145, 147 Säule 47, 49, 60 Transformation 1, 3–8, 10–13, 18, 24, 43, 81, 82, 84, 90, 92, 97, 98, 110, 111, 114, 115, 119–123, 140, 143, 146, 154, 156, 159, 164–166, 168, 172, 175, 179, 184, 188, 189, 192, 207, 226, 228, 240 – Transformationsagent 85, 88, 92 – Transformationsakt 84, 87–89 – Transformationsketten 4, 59, 65, 84, 165 – Transformationsprozess 7, 44, 87, 88, 92, 99 – Transformationstauglichkeit 111

– Transformationstypus 82, 84, 85 Travestie 227, 229 Tugenderwerb 169, 175 – Tugendwissen 167–170 Tyrann 236 Übersetzen 12, 209–212, 215, 223, 225–230, 233, 234, 239, 240 Übersetzungstheorie 8, 13, 226, 229, 230 Umdeutung 3, 98, 100, 102, 127, 129, 130, 133, 134, 143, 144, 146, 147, 149, 154, 168, 169, 171, 175, 179, 192, 203, 216 Verfälschung 92, 191, 240 Vernunft 102, 142, 147, 151, 154, 156, 160, 162, 164, 166, 167, 170, 172, 173, 175, 176 – Vernunftprinzip 173 – Vernunftwahrheit 162 Vetorecht 91, 92 Vorwissen 140, 149 Wahrheit 27, 31, 139, 143, 146–149, 152–154, 156, 161, 162, 172, 173, 214, 240 Wahrheitsbegriff 11, 147, 156, 160, 161, 177 Wahrnehmung 64, 90, 98, 142, 150, 168, 179, 180 Weltanschauung 15, 16, 18, 26–31, 39 Wiedererinnerung 168 Wissenskultur 3, 187 Zentralperspektive 53

Personenverzeichnis Althusius, Johannes 114, 131–133 Aristoteles 43, 122, 182, 187, 198–200, 202, 205–207, 221, 234 Augustinus 10, 83, 84, 99, 100, 104, 105, 165, 168, 172 Baldi, Bernardino 200–202, 206, 263, 265 Bann, Stephan 72 Bartholdi, Auguste 77, 260 Baudelaire, Charles 74 Bismarck, Otto von 130, 131, 135 Borchardt, Rudolf 229 Brumoy, Pierre 222 Cato der Ältere 83, 86, 91, 218 Chamberlain, Houston Stewart 21–23, 30 Châtelet, Émilie du 189–191, 193 Cicero 142–146, 149, 151, 154, 159, 160, 163–165, 171, 172, 210 Commodus 47, 49, 50, 52, 56, 58, 60, 63, 77, 248, 256 Corneille, Pierre 217 Delaroche, Paul 73, 257 Delitzsch, Friedrich 18, 19, 22, 23, 39, 41, 42 Descartes, René 182, 185, 186, 193 Epikur 141–143, 145, 146, 182 Epping, Joseph 24, 41 Euklid 182, 185, 187

Herbert, Edward 11, 139, 141, 146–153, 155, 156, 159–161, 163–167, 170–173, 176, 195 Hieronymus 210 Homer 21, 182, 230–233 Horaz 12, 209, 210 Huizinga, Johan 73 Humboldt, Wilhelm von 1, 109, 209, 211, 212 Jordanus de Nemore 200 Koselleck, Reinhart 90, 98, 110, 134 Kugler, Franz Xaver 24–26, 41–44 Lagrange, Joseph-Louis 190–193 Leibniz, Gottfried Wilhelm 186, 187, 189, 193, 194 Lenoir, Alexandre 72 Leonico Tomeo, Niccolò 197, 204, 205, 207, 264 Lessing, Gotthold Ephraim 214 Livius 47, 52, 56–59, 61, 63, 64, 72, 86, 122, 160, 252, 256 Lucilla 47, 57–59, 63, 64, 72, 252 Machiavelli, Niccolò 84 Madison, James 114–117, 129 Melanchthon, Philipp 146, 147, 151, 152, 165, 172, 175 Nabokov, Vladimir 234 Newton, Isaac 12, 179, 184–191, 193, 194 Opitz, Martin 219

Fausto, Vittore 202 Ferguson, Adam 10, 99, 103–105 Freeman, Edward Augustus 118, 119, 134 Gautier, Théophile 74 Goethe, Johann Wolfgang von 225, 228 Gottsched, Johann Christoph 215 Guazzoni, Enrico 75 Guizot, François 72 Gérôme, Jean-Léon 71, 73–78, 257–259, 261, 262 Harsdörffer, Georg Philipp 211 Hartmann, Eduard von 28, 29, 58, 194 Haupt, Moriz 22, 217, 219, 226, 227, 233, 236, 239, 240 DOI 10.1515/9783110499261-017

Pappos 179, 184–186 Piccolomini, Alessandro 197–200, 202, 205, 206 Platon 122, 143, 145, 169 Rowohlt, Harry 212 Sallust 83, 84, 87, 91, 95, 99, 105 Schadewaldt, Wolfgang 226, 229–234, 236–240 Schmitt, Carl 110 Schneider, Herrmann 15, 16 Schrott, Raoul 225, 231–233 Scipio Africanus 82, 84 Scipio Nasica 83, 86, 91 Scott, Ridley 75, 167

246 | Personenverzeichnis

Sellner, Gustav Rudolf 230 Seneca 144, 160, 217, 219 Senn, Fritz 212 Shakespeare, William 221 Sokrates 141, 145, 168 Sophokles 12, 213, 216, 217, 219, 221, 230, 234, 235, 237 Spangenberg, Wolfhart 219 Spinoza, Baruch de 10, 99, 101, 102, 105, 164 Steffens, Johann Heinrich 213–219, 222 Steinbrüchel, Johann Jacob 214, 215, 219–222

Strassmaier, Johann Nepomuk 24, 41 Swift, Jonathan 182, 183, 193 Temple, William 54, 62, 181–183, 193 Thukydides 86, 122, 134 Voltaire 189, 193, 219, 221 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 226 Winckler, Hugo 16, 18, 24, 26–28, 30–33, 39, 41 Wotton, William 182, 183, 193

Tafelteil

Abb. 1: Hauptdarsteller aus dem Film „The Fall of the Roman Empire“, Fotografie, 1963/1964.

Abb. 2: Kulissenbauten in Las Matas, Spanien, Farbfotografie, 1962/1963. DOI 10.1515/9783110499261-018

248 | Tafelteil

Abb. 3: Forum Romanum beim triumphalen Einzug des Commodus, 1964, Screenshot.

Abb. 4: Forum Romanum aus „Scipione l’Africano“, 1937.

Tafelteil |

Abb. 5: Forum Romanum im Modell der Stadt Rom von Paul Bigot, nach 1908.

Abb. 6: Zwischentitel aus „Three Ages“, 1923.

249

250 | Tafelteil

Abb. 7: Rekonstruktion des Forum Romanum von Becchetti aus Lanciani 1910.

Abb. 8: Rekonstruktion des Forum Romanum von Becchetti 1893.

Abb. 9: Rekonstruktion des Forum Romanum von Bühlmann 1882.

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Abb. 10: Rekonstruktion und Fotografie des Forum Romanum bei Gatteschi 1905.

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Abb. 11: Lucilla empfängt Livius in ihrem Zelt, Screenshot.

Abb. 12: Lucilla nach dem vereitelten Vergewaltigungsversuch, Screenshot.

Abb. 13: Lucilla und Livius auf der Rückreise nach Rom, Screenshot.

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Abb. 14: Der Osten des Römischen Reiches, drei Screenshots.

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Abb. 15: Landkarte des Mittelmeerraums, zwei Screenshots.

Abb. 16: Irakische Briefmarke mit dem Taq-e Kisra in Ktesiphon, Entwurf 1921.

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Abb. 17: Robin Macartney: Schutzumschlag für die britische Erstausgabe von Agatha Christies Appointment with Death mit dem Schatzhaus des Pharao in Petra, 1938.

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Abb. 18: Karte des antiken Vorderen Orients mit der Herkunft der Monumente für den Osten in The Fall of the Roman Empire.

Abb. 19: Livius und die Legaten des Commodus, Screenshot.

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Fig. 20: Paul Delaroche, The Execution of Lady Jane Grey, 1833, London, National Gallery.

Fig. 21: Jean-Léon Gérôme, Ave Caesar! Morituri Te Salutant, 1859, New Haven, Yale University Art Gallery.

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Fig. 22: Jean-Léon Gérôme, The Death of Caesar, 1859–67, Baltimore, Walters Art Museum.

Fig. 23: Jean-Léon Gérôme, The Christian Martyrs’ Last Prayer, 1863–83, Baltimore, The Walters Art Museum.

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Fig. 24: Jean-Léon Gérôme, Cairene Horse Dealer (The Horse Market), c. 1867, Stockton, CA., The Haggin Museum.

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Fig. 25: Auguste Bartholdi, Mashrabita Moka (Yemen), 1856, Colmar, Musée Bartholdi.

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Fig. 26: Jean-Léon Gérôme, The Prisoner, 1861, Nantes, Musée des Beaux-Arts.

Fig. 27: Jean-Léon Gérôme, Excursion of the Harem, 1869, Norfolk, VA., Chrysler Museum of Art.

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Fig. 28: Jean-Léon Gérôme, The Serpent Charmer, 1880, Williamstown, MA., The Sterling and Francine Clark Art Institute.

Fig. 29: Abdullah frères, Interior of Topkapi Palace, 1865, Private collection.

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Abb. 30: Bernardino Baldi In Mechanica Aristotelis Problemata Exercitationes (1621), 28. Mit freundlicher Genehmigung von der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte zu Berlin.

Abb. 31: Rekonstruktion der Diagramme zum Problem 25 im Archetyp der Mechanik.

264 | Tafelteil

Abb. 32: Niccolò Leonico Tomeos Quaestiones Mechanicae (1525), 48. Mit freundlicher Genehmigung von der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.

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Abb. 33: Die kreuzweise und diagonale Bespannung von Betten in Alessandro Piccolominis In Mechanicas Quaestiones Aristotelis (1565).

Abb. 34: Die alternative Bettbespannung wie von Bernardino Baldi in seinem In Mechanica Aristotelis Problemata Exercitationes (1621) vorgeschlagen.