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German Pages [196] Year 2016
Hamann-Studien
Band 2
Herausgegeben von Eric Achermann, Johann Kreuzer und Johannes von Lüpke
Anja Kalkbrenner
Anthropologie und Naturrecht bei Johann Georg Hamann
V&R unipress
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2366-3561 ISBN 978-3-8471-0493-3 ISBN 978-3-8470-0493-6 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0493-0 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. Anthropologie bei Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freiheit und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstliebe und Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstgesetzgebung, Erstgeburt und Nächstenliebe . . . . . 4. Hamanns Auseinandersetzung mit materialistischen Thesen 4.1 Imbecillitas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Erziehung und Gewohnheit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Sensus Communis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Körper, Leib und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Sexualität und Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Unschuld und Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Geschlechtlichkeit und Gottesbegriff . . . . . . . . . . . 6.4 Hamanns sensualistische Begründung von Ethik . . . . 7. Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit . . . . . . . . . . . 7.1 Abhängigkeit von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Augustinische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Hamanns Verhältnis zur Theologie des ›pur amour‹ . . 7.4 ›Inhabitatio dei‹ bei Hamann . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die Leidenschaften in Hamanns Theologie . . . . . . . 7.6 Hamann und Francois de Sales . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.3 Das Gute und der Wille . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.4 Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Deutungen des Sündenfalls bei Hamann . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13 14 18 25 32 33 38 45 56 58 65 68 72 75 77 78 80 81 83 84 86 87 89 90 92 93
6
Inhalt
7.8 Hamanns Verhältnis zur protestantischen Orthodoxie . . . . . 7.9 Glaube und Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 101
. . . .
. . . .
105 106 108 108
. . . . . . . . . . . . . . . . .
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110 117 124 124 127 128 129 133 135 137 137 140 143 149 150 161 178
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 185 189
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
II. Hamanns Verhältnis zum Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Stand der naturrechtlichen Diskussion um 1785 . . . . . . 2. Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini . . . . . . 2.1 Kritik an spekulativer Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 2.2 Exkurs: Sprache, Schrift und Wissen bei Mendelssohn und Hamann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Naturzustand und Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . 4. Hamanns Auseinandersetzung mit Mendelssohns Jerusalem . . 4.1 Pflicht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Hamanns sprachphilosophische Kritik . . . . . . . . . . . . 4.3 Macht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Probleme der Gleichberechtigungsthese . . . . . . . . . . . 4.5 Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie . . . 5.1 Natur und Naturvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Natur als Verpflichtungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Naturrecht und Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Funktion des ›status integritatis‹ . . . . . . . . . . . . . 5.5 Naturrecht und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Individuell und Allgemein bei Hamann . . . . . . . . . . . . . 7. Religion und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde am 27. 01. 2014 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Für den Druck habe ich sie geringfügig überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich mich bei all den Menschen bedanken, die mich während der Promotionszeit unterstützt haben. Zuallererst danke ich meinen Eltern Norbert und Petra Kalkbrenner, die mich stets dazu ermutigt haben, meine Forschungsinteressen zu verfolgen und mir gerade auch in schwierigen Zeiten eine unersetzliche Hilfe gewesen sind. Ihnen ist daher dieses Buch gewidmet. Ebenfalls bedanke ich mich bei meinen Großeltern Adolf und Gisela Wiercke, die immer großen Anteil an meinem Studium genommen und mich dabei unterstützt haben. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Eric Achermann habe ich für vieles zu danken: Seine Lehrveranstaltungen und sein umfangreiches Wissen haben es mir überhaupt erst ermöglicht, mich mit einem so schwierigen Autor, wie es Hamann ist, zu befassen. Während der Promotionsphase hat er mir stets wichtige Hinweise und hilfreiche Tipps gegeben. Prof. Dr. Peter Heßelmann danke ich für das Zweitgutachten. Für wertvolle Hinweise zu den philosophischen Aspekten danke ich Prof. Dr. Thomas Leinkauf. Prof. Dr. Johannes von Lüpke danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Hamann-Studien«. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes hat es mir mit ihrem Promotionsstipendium ermöglicht, meiner Forschungstätigkeit ungestört nachzugehen. Elvira Protte danke ich für Diskussionen und für Hinweise zu den religionsgeschichtlichen Themen. Nadine Lenuweit danke ich für Lektorat und Korrektur.
Einleitung
In einem Brief an Lavater bemerkt Hamann: »Auch mir ist es bald wie ein Traum, bald ein Geheimniß oder trait de génie, wodurch ich […] so tief verborgen meinen συμψύχοις bleibe.«1 Hamann ist sich der Schwierigkeiten, mit denen er seine Leser konfrontiert, durchaus bewusst, wenngleich er sie nicht erklären kann. Zwar ist er für Lavater »offenbar« geworden, wird von ihm verstanden; doch gerade seinen συμψύχοις, den Gleichgesinnten, die Überzeugungen mit ihm teilen, bleibt er »verborgen«. Zu Recht nennt Goethe ihn rückblickend »einen tiefdenkenden gründlichen Mann«, der seinen Zeitgenossen »damals ein eben so großes Geheimnis war, als er es immer seinem Vaterlande geblieben ist.«2 Was hier über die zeitgenössischen Hamannleser gesagt wird, muss verstärkt für heutige Leser gelten. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, gerade das ›Verborgene‹ für einen Aspekt des Hamannschen Denkens ans Licht zu bringen. Hamann ist als religiöser Denker bekannt, setzt sich selbst aber auch – gerade weil sein Religionsverständnis vom Sinnlichen ausgeht – ins Spannungsfeld naturrechtlicher und anthropologischer Fragen, wie sie während der Zeit der Aufklärung diskutiert werden. Von ›Aufklärungsgegner‹ und ›Irrationalist‹3 bis ›radikaler Aufklärer‹4 reichen die Urteile heutiger Hamann-Leser; verborgen geblieben ist bisher noch, wie Hamann seine 1 An Johann Caspar Lavater am 18. 01. 1778. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. 7 Bde. Hg. von Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. Bd. IV. Wiesbaden 1959, S. 4. Im Folgenden mit ZH abgekürzt zitiert. Mit dem griechischen ›συμψύχος‹ (einmütig, gleichgesinnt, harmonisch) spielt Hamann auf eine Stelle aus dem Philipperbrief (Phil. 2,2) an. Paulus ermahnt die Philipper dazu, angesichts ihrer gemeinsamen Liebe zu Christus einmütig zu sein und demgemäß zu handeln. 2 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 2007, S. 558. 3 Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hg. v. Henry Hardy. Aus dem Englischen übers. von Jens Hagestedt. Berlin 1995, S. 22–26. 4 Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München: Pieper 1988.
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Einleitung
religiöse Grundintuition mit seinem Interesse an zeitgenössischer Wissenschaft vermittelt. In der Vermittlung – und dies will die vorliegende Arbeit zeigen – liegt auch ein hohes Potenzial neuer Betrachtungsweisen für die Wissenschaften vom Menschen. Hamanns Denken stellt gerade in seiner religiösen Grundorientierung den Menschen in den Mittelpunkt. Nicht zufällig zitiert er im Zusammenhang seiner Analyse des Sprachursprungs den homo mensura-Satz des Protagoras.5 Den Menschen ins Zentrum seines philosophisch-theologischen Denkens zu stellen, heißt jedoch für Hamann gerade nicht, ihn zum alleinigen Bezugspunkt seiner Welt- und Selbstauslegung zu machen, weder als Individuum noch als Gattungswesen. Ganz im Gegenteil geht es Hamann darum, den Menschen im Spannungsverhältnis der verschiedensten Strukturen der Freiheit und Abhängigkeit, nämlich im Bezug zu Gott, zu seinen Mitmenschen und seinen seelischen und körperlichen Anlagen zu verstehen. Wenn sich Hamann nun intensiv mit der Frage auseinandersetzt, wie die komplexe Natur des Menschen beschaffen ist, über welche seelischen Fähigkeiten er verfügt und in welchen Beziehungen er zu Seinesgleichen und zu seinem Schöpfer steht, dann ist es nicht bloß naheliegend, sondern auch geboten, zu fragen, wie der so beschaffene Mensch als ein soziales Wesen leben soll und kann. Nach Hamanns Haltung zum Naturrecht zu fragen, muss daher auf die Analyse seiner anthropologischen Überzeugungen und Einsichten folgen. Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit den verschiedenen Facetten von Hamanns anthropologischem Denken. Den Ausgangspunkt bildet dabei Hamanns Intuition der menschlichen Freiheit als etwas, das der Mensch potentialiter immer (schon) hat und das er in seine Beziehungen zu Gott und zu seinem Nächsten einbringt. Die Kapitel eins bis drei analysieren Hamanns Begriff der Freiheit, seine Überlegungen zur Selbst- und Nächstenliebe und sein Verständnis des Privilegs der Erstgeburt. Hamann ist sich im Klaren darüber, dass der Mensch in Strukturen lebt, die seine Freiheit einschränken, wenn nicht gar überhaupt in Frage stellen. Das vierte Kapitel thematisiert deshalb Hamanns Perspektive auf soziologische, psychologische und körperliche Formen des Bestimmtseins und der Abhängigkeit des Menschen. Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung mit Vertretern des französischen Materialismus, vor allem La Mettrie, d’Holbach und Helvétius. Gezeigt werden soll, wie Hamann sich materialistische Thesen aneignet und umdeutet, z. B. indem er in der ›imbecillitas‹ des Menschen nicht vorwiegend einen Mangel, sondern eine Befähigung zum Lernen und zum Genuss sieht. 5 Johann Georg Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. III. Historisch-kritisch hg. von Joseph Nadler. Wien 1951, S. 27. Im Folgenden mit N abgekürzt zitiert.
Einleitung
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Wie es nun um die intellektive Konstitution des Menschen steht, soll das fünfte Kapitel klären. Hamanns bekannte Vernunftkritik6 wirft die Frage auf, was er unter dem Begriff versteht und wie er argumentiert, um einerseits der sinnlichen und sozialen Bedingtheit der Vernunft gerecht zu werden, sie aber zugleich auch als die Instanz zu setzen, die den Menschen zur Kritik an seiner Lebenswelt befähigt. Das Kapitel sechs widmet sich der sinnlichen Verfasstheit des Menschen, speziell der Bedeutung der erotischen Liebe und der Sexualität in ihrem Verhältnis zur Geselligkeit und zum Gottesbezug des Menschen. Innovativ und provokant zugleich wertet Hamann die Erotik als Kern und Motor gesellschaftlicher Ausprägungen. Der Frage wie sich demgegenüber Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit verhält, geht das siebte Kapitel intensiv nach. Ziel ist es, vor allem unter Bezugnahme auf Briefstellen, seine oft unsystematischen, verstreuten Bemerkungen zu kontextualisieren und so ihre Besonderheit herauszuarbeiten. Hamanns ausgeprägte Vorstellung einer Abhängigkeit des Menschen von und Hinordnung zu Gott ähnelt der augustinischen Vorstellung der ›fruitio dei‹, nur unter anderen Vorzeichen, da Hamann Gott bewusst in der sinnlich-emotionalen Ebene des Seelischen verortet. Entsprechend weist sein Begriff der Gottesliebe durchaus ein Moment der Unbedingtheit auf, schließt aber weltlichen und sinnlichen Genuss mit ein. Um Hamanns Position hier zu konturieren, wird ein Vergleich mit Theoretikern des ›pur amour‹ und mit Francois de Sales vorgenommen. Abschließend wird gefragt, wie Hamanns Position, vor allem im Hinblick auf das Verhätnis von Glaube, Wissen und Philosophie, sich zur protestantischen Orthodoxie verhält. Im zweiten Teil der Arbeit Hamanns Verhältnis zum Naturrecht geht es darum, seine auf den ersten Blick ablehnende Haltung genauer zu betrachten: Er lehnt nicht ›das‹ Naturrecht schlechthin ab, sondern nur, wenn damit ein spekulativer Denkansatz verbunden ist. Zentrale Theoreme des klassischen Naturrechts, Naturzustand und Gesellschaftsvertrag, werden durch metaphysikkritische und anthropologische Argumente neu perspektiviert. Hierfür wird im ersten Kapitel zunächst eine historische Situierung vorgenommen. Ausgehend von Hufeland, einem Rezensenten von Hamanns Golgotha und Scheblimini, wird der Stand der naturrechtlichen Debatte um 1785 skizziert. Daran anschließend geht es im zweiten und dritten Kapitel um den grundlegenden Denkansatz Hamanns in Golgotha und Scheblimini, also um die Frage, wie er sich dem Thema Naturrecht in methodischer und inhaltlicher Hinsicht nähert. Der Exkurs Sprache, Schrift und Wissen verdeutlicht, dass Hamanns Kritik am spekulativen Denken gegenüber Mendelssohn durchaus polemische 6 Vgl. N II, S. 63.
12
Einleitung
Funktion hat. Denn bei der Frage, wie der Mensch Vorstellungen von Religion und Moral erwirbt, stehen sich beide Denker näher, als es Hamanns harsche Kritik vermuten lässt. Das vierte Kapitel nimmt daran anschließend einen detaillierten Vergleich zwischen Hamanns Argumenten und denjenigen Mendelssohns in Jerusalem vor. Ziel ist es, basale Übereinstimmungen zwischen beiden Denkern herauszuarbeiten und davon ausgehend, Hamanns inhaltliche Abgrenzung von bloßer Polemik zu differenzieren. Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie, die mit Hilfe von sprachphilosophischen und ethischen Argumenten entwickelt wird, steht im Fokus des fünften Kapitels. Im Begriff der ›Natur‹ findet Hamann eine verpflichtende, normbegründende Instanz, welche zugleich auch für menschliche Entfaltungsmöglichkeiten und Freiheit einstehen soll. Zu fragen ist zum einen, wie Hamann mit dem Naturbegriff die Möglichkeit von Moralität und Recht verbindet und zum anderen, wie sich sein Naturbegriff zu seiner Vorstellung von Offenbarung verhält. Denn als religiös motivierter Autor muss es Hamann daran gelegen sein, in seinem naturrechtlichen Denken so zu verfahren, dass eine Offenbarung nicht überflüssig wird. Das sechste Kapitel beleuchtet ein wesentliches Spannungsverhältnis in Hamanns Denken, das sich aus der Betonung des Individuums, seinen Rechten und Möglichkeiten einerseits und der Einsicht in die unhintergehbare Abhängigkeit von vorgegebenen Ordnungen andererseits ergibt. Abschließend werden im siebten Kapitel folgende Fragen angerissen: Wie verhalten sich für Hamann Religion und Staat zueinander, vor allem im Hinblick auf das Problem der religiösen Toleranz? Wie können Menschen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen miteinander leben und wie können sie sich der Verträglichkeit untereinander gewiss sein? Können Religionen ihre Spezifika behalten oder müssen sie zu einer ›allgemeinen‹ Ethik vereinheitlicht werden?
I.
Anthropologie bei Hamann
Von Anthropologie bei Hamann zu sprechen, scheint zunächst einer Begründung zu bedürfen. Hamann verwendet diesen Ausdruck nicht, um damit seine Überlegungen zur ›natura hominum‹ zu benennen noch hat er sich Herders Enthusiasmus angesichts der Entstehung dieser neuen Wissenschaft angeschlossen,7 indem er sie wie jener als eine neue Grundlage der Philosophie bezeichnet hätte. Dennoch ist es sinnvoll und perspektivenreich, von ›Anthropologie‹ anstelle bloß von einem ›Menschenbild‹ zu sprechen: Wie Manfred Beetz gezeigt hat, gibt es bei Hamann nicht nur eine breite Kenntnis zeitgenössischer anthropologischer Literatur, sondern auch eine »anthropologische[] Episteme,«8 welche bezeichnenderweise die Grundlage für seine Kantkritik bildet.9 Ganz im Sinne einer solchen Episteme stellt Hamann bereits in den Brocken die Untersuchung über das eigene Selbst in den Horizont spezifisch anthropologischer Fragestellungen: Es ist die Frage nicht allein, wenn ich mein eigen Selbst ergründen will, zu wissen, was der Mensch ist? sondern auch was der Stand desselben ist? Bist du frey oder ein Sclave? Bist du ein unmündiger, ein Wayse, eine Wittwe, und in welcher Art stehst du in Ansehung höherer Wesen, die ein Ansehen sich über dich anmaaßen, die dich unter-
7 Herder hat 1765 die Hoffnung geäußert, dass »unsre ganze Philosophie Anthropologie wird.« ( Johann Gottfried Herder: Frühe Schriften 1764–72. Werke Bd. 1. Hg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 134). 8 Manfred Beetz: Hamanns Interesse an Anthropologie. In: Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-LutherUniversität Halle Wittenberg 2002. Frankfurt a. M., Berlin 2005, S. 111–132, hier S. 126. 9 Kants Verhältnis zur Anthropologie wird unterschiedlich bewertet. Marquard spricht von einer Wende in Kants Denken, die mit seiner Metaphysikkritik zusammenhänge, wobei die Anthropologie letztlich aber »nur Parergon« bleibe (Odo Marquard: Art. »Anthropologie.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel, Stuttgart 1971, Sp. 362–374, hier Sp. 365–366). Riedel hingegen argumentiert, dass Kant die körperlich-leibliche Seite des Menschen in seiner Anthropologie zu wenig berücksichtige (Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1994), S. 93–157, hier S. 104).
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Anthropologie bei Hamann
drücken, die dich übervortheilen, und durch deine Unwissenheit, Schwäche Thorheit zu gewinnen suchen.10
Um also zu wissen, wer ich bin, ist die klassisch metaphysische Frage ›was ist x?‹ nicht hinreichend; sie muss vielmehr durch lebensweltliche Bezüge11 ergänzt werden. Ausgehend davon, dass bei einem anthropologischen Ansatz das Insistieren auf der unauflöslichen Verbundenheit von Sinnlichkeit und Verstand maßgeblich ist,12 kann ein Fragen nach Anthropologie bei Hamann hilfreich sein, seine Stellung zu präzisieren innerhalb jenes wissensgeschichtlichen Prozesses, in dessen Verlauf »die Natur Bezugspunkt für die genuin anthropologische Definition des Menschen«13 wird. Bezieht man nämlich an dieser Stelle die These von Panajotis Kondylis ein, der zufolge sich im 18. Jahrhundert ein Primat der Anthropologie gegenüber der Theologie konstituiere,14 so muss man die Position Hamanns als quer stehend zu diesem Trend beschreiben. Dies allerdings nicht in Form einer defensiven oder gar traditionalistischen Haltung, sondern als eine produktive Rezeption und Aneignung, als Vermittlung von beiden, Anthropologie und Theologie.
1.
Freiheit und Gesetz
Um einen Zugang zu Hamanns anthropologischem Denken zu bekommen, empfiehlt es sich, mit seinem Freiheitsbegriff zu beginnen und zwar aus mehreren Gründen: Erstens, weil Hamann in der oben zitierten Passage aus den Brocken die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit eines Menschen als zentral zur Bestimmung seiner lebensweltlichen Situation und mithin seines Selbst beschreibt. Zweitens, weil Hamann in den Philologischen Einfällen und Zweifeln seine These von der Freiheit an den Anfang seiner anthropologischen Überle10 Johann Georg Hamann: Brocken. In: Ders.: Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer u. Bernd Weißenborn. München 1993, S. 409. 11 Zur Bedeutung der Lebenswelt für Hamanns Begriff des menschlichen Selbst siehe Oswald Bayer: Wahrheit oder Methode? Hamann und die neuzeitliche Wissenschaft. In: Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen HamannKolloquiums in Münster i.W. 1988. Hg. von Bernhard Gajek u. Albert Meier. Frankfurt a. M. 1990, S. 162–163. 12 Vgl. dazu Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung, S. 95. 13 Marquard: Art. »Anthropologie,« Sp. 363. 14 Panajotis Kondylis: Die Neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, S. 277: »[D]ie Durchsetzung der Erkenntnistheorie gegenüber der traditionellen Metaphysik und Ontologie stellte ihrerseits die Folge einer umfangreichen weltanschaulichen Verschiebung dar, die kurz als Ersetzung Gottes und der Theologie durch den Menschen und die Anthropologie bezeichnet werden könnte.«
Freiheit und Gesetz
15
gungen stellt.15 Der Freiheit als Charakteristikum des Menschen, welche ihrerseits zugleich αρχή und τέλος, Voraussetzung und Zweck menschlichen Daseins ist, wird also schon durch die ›dispositio‹ der Schrift Priorität zugewiesen.16 Diese herausragende Bedeutung bestätigt sich auch auf inhaltlicher Ebene, nämlich dort, wo Hamann psychische, intellektive und moralische Fähigkeiten des Menschen auf seine Freiheit zurückführt: »Das Bewußtseyn, die Aufmerksamkeit, die Abstraction und selbst das moralische Gewissen scheinen größtentheils Energien unsrer Freiheit zu seyn.«17 Liest man hier die Bezeichnung ›Energien‹ als ενέργεια, ergibt sich folgendes Verhältnis zwischen Freiheit und spezifisch menschlichen Vermögen: Freiheit ist einerseits – als δύναμις – dasjenige, was es dem Menschen ermöglicht, seine Fähigkeiten, durch die er allererst zu dem wird, was er ist, zu entfalten. Andererseits ist sie auch dasjenige, was durch diese Fähigkeiten selbst verwirklicht wird. Wenn nun die Freiheit derart am Ausgangspunkt und im Zentrum der anthropologischen Überlegungen situiert ist, entstehen einige Fragen: Wie verhält sich Hamanns Freiheitsbegriff zu sowohl theologischen als auch anthropologischen Formen des Bestimmt- bzw. Gebundenseins? In welchem Verhältnis steht er zu Hamanns Begriffen von menschlichem Selbst, dessen Begründung im Schöpfungswort18 und nicht zuletzt auch zur Körperlichkeit? Ich möchte im Folgenden zu begründen versuchen, erstens, dass Freiheit bei Hamann nicht in völligem Gegensatz zur Gebundenheit verstanden, sondern als ein sich selbst Binden und Verpflichten aufgefasst wird und zweitens, dass sich in 15 Vgl.:«Die Freiheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr.« ( N III, S. 38). 16 Aufschlussreich für die Zentralstellung von Freiheit im Denken Hamanns ist fernerhin, dass er einen Artikel aus der Encyclopédie, welche er ansonsten bekanntlich nicht schätzte (vgl. N III, S. 72–73), für übersetzenswert hielt: »Es ist […] Eitelkeit und Fluch hingegen einen Theil der Encyclopedie durchzublättern. […] Bliebe also noch einziger übrig, der würklich eine Übersetzung verdiente. Er handelt von dem Schaarwerk und Gehorcharbeitern. Jeder verständige Leser […] wird […] auch das Mitleiden mit allen Gehorcharbeitern haben, was der Verfaßer meines Artikels mit ihnen hat, und die Missbräuche zu verbessern suchen, wodurch es ihnen unmöglich gemacht wird gute Gehorcharbeiter zu seyn.« (An Immanuel Kant, 27. Juli 1759. ZH I, S. 374). Gemeint ist der Artikel »Corvée,« in dem eine Milderung der Fronarbeit gefordert wird: »Le peuple est si misérable, dit-on; je conviens à la vérité de sa misere […] Ainsi ce ne doit point être quant à l’exactitude & à la précision du service, qu’il faut modérer la corvée; c’est seulement à sa durée.« (Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences des Arts et des Métiers. Nouvelle impression en facsimile de la première edition de 1751–1780. Bd. 4. Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, S. 288. Das Volk ist so elend, sagt man; ich stimme der Wahrheit seines Elends zu. So muss man die Fronarbeit nicht so sehr hinsichtlich der Genauigkeit und der Präzision des Dienstes mildern, sondern nur hinsichtlich ihrer Dauer. Übers. A.K.). 17 N III, S. 38. 18 Siehe dazu: Johannes von Lüpke: Anthropologische Einfälle. Zum Verständnis der ›ganzen Existenz‹ bei Johann Georg Hamann. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 3 (1988), S. 225–268, hier S. 231.
16
Anthropologie bei Hamann
Hamann Denken ideengeschichtlich heterogene Quellen, konkret hier lutherisches, stoisches und aristotelisches Gedankengut zu etwas Neuem, Eigenständigen verbinden. Um den Horizont von Fragen und Problemen zu skizzieren, lohnt es sich, nochmals mit einer Passage aus den Philologischen Einfällen und Zweifeln zu beginnen: Ohne die Freyheit böse zu seyn findt kein Verdienst und ohne die Freyheit gut zu seyn keine Zurechnung einiger Schuld, ja selbst keine Erkenntniß des Guten und Bösen statt. Die Freiheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr.19
Freiheit meint hier ›Freiheit zu etwas‹, wird also als eine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit verstanden und als solche implizit schon mit der Frage nach der praktischen Möglichkeit und Anwendbarkeit rechtlicher und moralischer Kriterien auf menschliches Tun verbunden, wobei Moral und Recht hier noch nicht klar differenziert sind. Wenn wir nicht zumindest annehmen, dass der Mensch frei ist – ohne noch die Frage nach der Faktizität von Freiheit zu stellen – ist es unmöglich, einen Menschen zu loben oder zu tadeln. Ohne zumindest vorauszusetzen, dass jemand frei ist, entfällt mithin die Möglichkeit, jemanden als Urheber einer Handlung anzusehen.20 Hamann geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er Freiheit mit der Möglichkeit von Erkenntnis verbindet. Sie besagt nämlich: Ist der Mensch nicht in der Lage, handlungsmäßig zwischen zwei Alternativen zu wählen, ist er auch nicht fähig dazu, den wertmäßigen Unterschied zwischen Handlungen zu erfassen. ›Freiheit‹ ist also nicht nur etwas, das wir Anderen unterstellen müssen, um sie als verantwortlich Handlende wahrnehmen zu können, sondern auch etwas, das wir selbst besitzen müssen, um überhaupt urteilen zu können. Hamann vertritt hier eine Auffassung, die derjenigen des frühen Augustinus in De libero arbitrio verwandt und möglicherweise sogar direkt auf sie bezogen ist.21 Augustinus hatte dargelegt, dass moralische Urteile Verantwortung voraussetzen, was aber ohne freien Willen gar nicht möglich wäre, so dass »die Grundlage der moralischen Unterscheidung von ›gut‹
19 N III, S. 38. 20 Vgl. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Bd. VI. Berlin1968, S. 227: »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird.« 21 Die Biga verzeichnet folgende Ausgabe: »Augustine opera ex ed. Er. Roterodami, Tom. I–IV. VII–X. Bas. 529. Tom. V. VI. Fehlen.« (N V, S. 16).
Freiheit und Gesetz
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und ›böse‹ im Ansatz […] von einer Seinsordnung […] auf den Willen verlagert [ist].«22 Daran schließt sich eine weitere Begründung der Freiheit an, die anthropologisch-pragmatischer Natur ist: »Ohne das vollkommene Gesetz der Freyheit würde der Mensch gar keiner Nachahmung fähig seyn, auf die gleichwol alle Erziehung und Erfindung beruht, denn der Mensch ist von Natur unter allen Thieren der größte Pantomim.«23 Hamann erläutert das Zitat aus der lutherischen Bibelübersetzung mit einer Fußnote, in welcher er die griechische Passage aus dem Jacobusbrief zitiert. Von ›Freiheit‹ ist dort die Rede im Zusammenhang mit Ausführungen über die Bewährung des Glaubens. Kriterium dafür ist die Unterscheidung zwischen Hörern (ακροαται λόγου) und Tätern (ποιηταί λόγου) des Wortes. Letztere unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zum Wort durch verschiedene Arten des Sehens. Während der Hörer bloß sich beschaut im Spiegel und, sich abwendend, das Gesehene wieder vergisst, tut der Täter etwas ganz anderes: ὁ δὲ παρακύψας ει᾿ς νόμον τέλειον τὸν τῆς ἐλευθερίας καὶ παραμείνας, οὐκ ἀκροατὴς ἐπιλησμονῆς γενόμενος ἀλλὰ ποιητὴς ἔργου, οὗτος μακάριος ἐν τῇ ποιήσει αὐτοῦ ἔσται.24 Wichtig ist die Bedeutung von παρακύβω, was einmal ›sich bücken, um nach etwas zu schauen‹ und zugleich ›hingucken, hineinschauen‹ heißt. Es handelt sich dabei um ein mit Aufmerksamkeit verbundenes Sehen, das intentional auf etwas gerichtet ist, welches nicht das bloße Spiegelbild ist, sondern über die sichtbare Oberfläche hinausgeht. Anders gesagt, der ποιητής sieht ausgehend vom Spiegelbild über die äußere Gestalt hinaus oder genauer gesagt hinein, er sieht ins Innere, um zur Erkenntnis des Eigentümlichen und Charakteristischen für den (gläubigen) Menschen fortzuschreiten. Und dieses Eigentümliche liegt in der Freiheit. Der ποιητής verbleibt nicht beim Sich anschauen, sondern verwirklicht und bewährt sein Selbst im Handeln. Dadurch wird das Sehen, das sinnliche Wahrnehmen zum Verstehen und diese Selbsterkenntnis zeigt sich im Handeln. Hörer und Täter fassen so ihr πρόσωπον, das sie εν εσόπτρω erblicken, je unterschiedlich auf: der Hörer als sein Antlitz, seine äußere Gestalt, der Täter hingegen auch als seine soziale und moralische Person. Bemerkenswert dabei ist vor allem das Verhältnis, in dem Hamann Freiheit zur Natur sieht. Er geht nämlich nicht von der Entgegensetzung einer geistigen Freiheit und einer naturhaften Notwendigkeit aus, sondern versteht Freiheit als 22 Karl-Heinz Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien. Stuttgart 1983, S. 164. 23 N III, S. 38. 24 Novum testamentum Graece. Hg. v. Eberhard Nestle u. Barbara Aland. 27. rev. Auflage. Stuttgart 2007: Jac. I, 25. [Wer aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineinschaut und dabei bleibt, und kein vergesslicher Hörer wird, sondern ein Täter, derjenige wird in seinem Tun selig sein. Übers. A.K.].
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Anthropologie bei Hamann
diejenige anthropologische Komponente, welche erst die Entwicklung der ›Naturkräfte‹, also der vitalen Anlagen im Menschen ermöglicht. Damit liegt ein, wenn man so will, zweistufiger Freiheitsbegriff vor. In ihrer ursprünglichen Form als ›Gnadengeschenk des großen Allgebers‹ ist Freiheit dasjenige, was als αρχή Anfang und Prinzip menschlicher Entwicklung ist. Zugleich aber ist sie auch dasjenige, was durch diese Entwicklung erreicht werden soll. Auffällig ist dabei der dreigliedrige Ausdruck ›Richtung, Entwicklung und Rückkehr‹, evoziert dieser doch die neuplatonische Denkstruktur von μονή, πρόοδος, επιστροφή,25 welche den Übergang vom einfachen, sich jenseits des Seins befindenden Ursprungs zur Vielheit des Seins erklärt. Entscheidend dabei ist, dass diese Vielheit sich nicht beim Hervortreten aus dem Einen verliert, sondern indem sie sich an dieses zurückbindet, zugleich ihr Selbst, ihr Sein konstituiert. Bei Plotin und Augustinus wendet sich der Geist zu seinem Ursprung hin und nur erst in dieser Rückwendung konstituiert er sich als er selbst.26 Für den Begriff von ›Selbst‹ heißt dies, dass zwar ein Hervortreten, ein sich Entwickeln und Ablösen stattfindet, aber dann auch wieder eine Rückkehr zum Ursprung, um dort das spezifisch Eigene zu finden.27 Hamann nun scheint mit Hilfe des Ausdrucks ›Rückkehr‹ eine analoge Beschaffenheit der menschlichen Freiheit in ihrem Verhältnis zum göttlichen Ursprung anzunehmen, wenngleich ohne dabei die neoplatonischen metaphysischen Voraussetzungen anzunehmen.
2.
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Interessant ist, dass Hamanns Auffassung von Freiheit auf psychologischer Ebene mit einer Vorstellung von Gesetz verknüpft ist, nämlich in Verbindung mit der Selbstliebe als demjenigen psychologischen Moment, was Freiheit allererst ermöglicht.28 Der Vorstellung von Selbstliebe kommt aus zwei Gründen eine zentrale Bedeutung für das anthropologische Denken Hamanns zu. Zum einen, weil Hamann innerhalb der moralphilosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts mit seiner positiven Bewertung der Selbstliebe hinsichtlich Sozialität und Gottesbezug des Menschen, wie unten gezeigt werden soll, eine Pionierposition einnimmt. 25 Vgl. Plotinus: Ennead V. 4: Πως απο του πρωτου το μετα το πρωτον και περι του ενος. In: Plotinus. With an English translation by A.H. Armstrong. Bd. V. London 1984, S. 137–149. 26 Zu Augustinus siehe Edward Booth: St. Augustine’s ›notitia sui‹ related to Aristotle and the Early Neoplatonists. In: Augustiniana 28 (1978), S. 183–221, 29 (1979), S. 97–124. 27 Zum Begriff der Rückwendung siehe Paul Aubin: Le Problème de la ›Conversion.‹ Étude sur un terme commun a l’Hellénisme et au christianisme des trois premiers siècles. Paris 1963. 28 Vgl. Hamann: Brocken, S. 416: »Wo diese [die Selbstliebe] nicht ist, kann auch keine Freyheit sein.«
Selbstliebe und Selbsterkenntnis
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Zum anderen, weil Konzeptionen von Selbstliebe einen wichtigen Aspekt der anthropologischen Voraussetzungen sowohl des säkularen als auch des christlichen Naturrechts des 17. Jahrhunderts darstellen und dabei – im ersteren Fall – eine nicht unerhebliche theologische Brisanz beinhalten.29 Hamanns Begriff von Selbstliebe zu untersuchen hat zum Ziel, die Individualität seines Menschenbildes in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu konkurrierenden zeitgenössischen Positionen herauszuarbeiten. Zu Beginn seiner Überlegungen zum Thema Selbstliebe in den Brocken äußert Hamann Skepsis bezüglich der Ursprünglichkeit von Freiheit als menschlicher Selbsterfahrung. So fragt er: »Sind es nicht die bloßen Erscheinungen der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freyheit belegt?«30 Von Freiheit ist hier die Rede im Sinne eines sozialen Dafürhaltens. Handeln Menschen entsprechend der Bejahung ihres Selbst, so nehmen sie dies als ihre Freiheit wahr. Insofern, als Menschen die ihnen je nach kulturellem und sozialem Umfeld vermittelten Güter mit sich selbst identifizieren, ist es für sie eine Bestätigung ihrer Freiheit, sich für eben diese einzusetzen: »Der Abergläubische, der Sclave und der Republikaner streiten daher mit gleicher Wuth, und Verdienst für den Gegenstand ihrer Selbstliebe, und aus einem gleichen Grunde der Freyheit, und Eyfer für selbige.«31 Hamann kann daher als psychologischen Grundsatz formulieren: »Wir lieben was uns eigen gehört. Hier ist also die Freyheit nichts als Eigennutz, und ein Ast der Selbstliebe gegen unsere Güter.«32 Die Selbstliebe ist hier ein affektives Prinzip, welches das menschliche Streben organisiert und auf Ziele hin ausrichtet: »Diese Selbstliebe ist das Herz unseres Willens, aus dem alle Neigungen und Begierden gleich den Blut= und Pulsadern entspringen und zusammen laufen.«33 Was Hamann ›Selbstliebe gegen unsere Güter‹ nennt, erinnert an die vor allem in der französischen Sozialphilosophie des 17. Jahrhunderts konzeptuell von der Selbstliebe abgegrenzte, negativ konnotierte Eigenliebe oder ›amour propre‹, bei der es dem Menschen vor allem um seinen eigenen Vorteil zu tun ist, unter Umständen auch auf Kosten anderer. So findet sich bei La Rochefoucauld folgende Definition: L’amour.propre est l’amour de soi-même, et de toutes choses pour soi; il rend les hommes idolâtres d’eux mêmes, et les rendrait les tyrans des autres si la fortune leur en
29 Vgl. dazu Friedrich Vollhardt: Die Grundregel des Naturrechts. In: Aufklärung als praktische Philosophie, Werner Schneiders zum 65. Geburtstag. Hg. von Frank Grunert u. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1998, S. 139–140. 30 Hamann: Brocken, S. 407. 31 Hamann: Brocken, S. 407. 32 Hamann: Brocken, S. 407. 33 Hamann: Brocken, S. 407.
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Anthropologie bei Hamann
donnait les moyens; il ne se repose jamais hors de soi, et ne s’arrête dans les sujets étrangers que comme les abeilles sur les fleurs, pour en tirer ce qui lui est propre.34 Die Eigenliebe ist die Liebe zu sich selbst und aller Dinge für sich; sie macht die Menschen zu Götzendienern ihrer selbst und würde sie zu Tyrannen der anderen machen, wenn das Glück ihnen dazu die Mittel gäbe; außerhalb ihrer selbst ruht sie nie, und hält bei fremden Gegenständen nur wie die Bienen in den Blumen inne, um daraus das ihr Eigene zu ziehen.35
In diesem Sinn einer allgemein menschlichen psychologischen Grunddisposition, den eigenen Vorteil zu suchen, wird diese Konzeption der Eigenliebe von Friedrich II aufgegriffen und in Betracht gezogen als eine mögliche Quelle, um den Menschen zu moralischem Handeln zu veranlassen: Larochefoucauld hat in seinen Untersuchungen über das menschliche Herz die Triebfeder der Eigenliebe sehr glücklich aufgedeckt, aber leider nur, um unsre Tugenden zu lästern und zu zeigen, dass sie nur Schein sind. Ich wünschte, man benutzte diese Triebfeder, um den Menschen zu beweisen, dass es ihr eigner Vorteil erheischt, gute Staatsbürger, gute Väter, gute Freunde zu sein, kurz, alle moralischen Tugenden zu besitzen.36
Hamanns Überlegungen im fünften Paragraphen der Brocken zeigen, dass er eine vergleichbare Auffassung in politischer Hinsicht durchaus teilt. Gesetze haben »ihre Kraft bloß durch den Grundtrieb der Selbstliebe, der Belohnungen v Strafen als Bewegungsgründe würksam macht.«37 Menschen werden dadurch zu gesetzmäßigem Tun veranlasst, dass ihnen die Vor- oder Nachteile für sie selbst als Konsequenzen ihrer Handlungen durch Gesetze bekannt sind. Weil Gesetze sich auf die ›triebhafte‹, also vorreflexive psychische Veranlagung des Menschen gründen, werden sie nicht als Einschränkung wahrgenommen, sondern als »eine Stütze meiner Selbsterhaltung und Selbstliebe«38 eben befolgt. Indem Hamann von Selbsterhaltung in unmittelbarem Zusammenhang mit Selbstliebe spricht, macht er deutlich, worauf es ihm hier ankommt. Es geht noch nicht um ein Selbstverhältnis, das sich mit der Frage, wer ich als Mensch bin, auseinandersetzt, sondern, dem stoischen Begriff der οικείωσις ähnlich, um einen »primären natürlichen Impuls«39 des Menschen als Lebewesen, seine eigene Existenz zu er-
34 Francois de La Rochefoucauld: Réflexions ou Sentences et Maximes morales. Edition présentée, établie et annotée par Jean Lafond. Paris 1976, S. 129. 35 Übers. A.K. 36 Friedrich der Große: Eigenliebe als moralische Triebfeder. In: Friedrich der Große und die Philosophie. Texte u. Dokumente. Mit einem einleitenden Essay hg. von Bernhard Taureck. Stuttgart 1986, S. 90–110, hier S. 106. 37 Hamann: Brocken, S. 415. 38 Hamann: Brocken, S. 416. 39 Christoph Horn: Art. »Zueignung (Oikeiosis).« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie.
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halten. Vor allem im Vergleich zu der zitierten Passage bei La Rochefoucauld lässt sich bei Hamann eine Verschiebung in der Bewertung ausmachen: In Hamanns Beschreibung nimmt sich das menschliche Streben, etwas für sich zu besitzen, als etwas ganz Natürliches und an sich nicht zwangsläufig Antisoziales oder gar Verwerfliches aus, sondern ist bereits ein Indiz für die menschliche Fähigkeit, zu wählen. Der Mensch mag zwar in seinen weltanschaulichen und politischen Grundhaltungen durch seine Sozialisation bestimmt sein; nichtsdestoweniger aber ist es dem »Grund der Freiheit«, also eines psychologisch nicht festgelegten Seins zu verdanken, dass er sich für das kulturell vermittelte aus freier Entscheidung einsetzen kann. Im Unterschied zu dieser unwillkürlichen, vorreflexiven Form von Selbstbejahung spricht Hamann aber auch von Selbstliebe als etwas Gesolltem, dem Menschen erst noch Aufgegebenem. Dabei wird besonders deutlich, wie er rezipierte Vorstellungen eigenständig neu bedenkt und auf Probleme neue Antworten findet. Durch seine Übersetzung von Shaftesburys Essay Sensus Communis musste ihm die Verknüpfung des Themas Selbstliebe mit dem moralphilosophischen Problem der Glückseligkeit bekannt sein. Für Shaftesbury steht außer Frage, dass Glückseligkeit ein ethisches Desiderat ist. Unklarheit bestehe nur hinsichtlich der Mittel, sie zu erreichen. Er erwägt drei Alternativen. Der Mensch kann entweder »der Natur folgen und einer gemeinschaftlichen Neigung [sich] überlassen« oder »selbige unterdrücken und jede Leidenschaft zu [seinem] privaten Vortheil« nutzen oder aber sie »zum Erhaltungs Mittel des bloßen Lebens«40 machen. Sich sozial akzeptabel zu verhalten ist demnach nicht bloß ein pflichtmäßiges Sollen, sondern etwas, das schon in der emotionalen Natur des Menschen verortet wird. Entsprechend erscheint aus dieser Perspektive ein rein egoistisches Verhalten als unnatürlich, wenngleich auch dies zur Glückseligkeit führen könnte. Shaftesbury unterscheidet resümierend zwischen ›richtiger‹ und ›falscher‹ Selbstliebe, wobei das Kriterium für Richtigkeit in der positiven Frage einer Handlung für den Einzelnen besteht: »Es ist nicht die Frage: wer sich selbst liebt oder nicht; sondern: wer sich selbst am richtigsten liebt und auf die sicherste Art dient.«41 Hamanns ›Antwort‹ auf die hier skizzierte Problematik wird, wie jetzt gezeigt werden soll, darin bestehen, die Glückseligkeit als Gut für das Individuum in seiner Beziehung zum Anderen zu verorten und die Möglichkeit eines solchen Verhaltens bereits in der psychischen Disposition des Menschen anzusetzen.
Bd. 12. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 2004, Sp. 1403– 1408, hier Sp. 1403. 40 N IV, S. 179. 41 N IV, S. 179.
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Anthropologie bei Hamann
In den Brocken wird deutlich, dass die Selbstliebe erst in der zweiten Bedeutung, als etwas noch zu Verwirklichendes, moralphilosophisch als Tugend gelten kann:42 So wie alle unsere Erkenntniskräfte die Selbsterkenntnis zum Gegenstand haben, so unsere Neigungen v Begierden die Selbstliebe. Das erste ist unsere Weisheit, das letzte unsere Tugend. So lange es den Menschen nicht mögl. ist, sich selbst zu kennen; so lange bleibt es eine Unmöglichkeit für ihn sich selbst zu lieben.43
Selbstliebe in diesem moralphilosophischen Sinn setzt Selbsterkenntnis voraus. Gemeint ist damit bei Hamann jedoch keine vorwiegend intellektive oder introspektive Leistung, sondern eine Aufforderung an den Menschen, sich von der Fixierung auf die eigene Person und ihre Interessen zu lösen. Wenn der Mensch zu seiner Selbsterkenntnis sowohl die »erste Ursache aller Dinge« als auch alle »Mittelwesen, die mit uns in Verbindung stehen«44 benötigt, wird er dazu genötigt, sich selbst als etwas zu begreifen, das nur in einem Zusammenhang existiert. Die geeignete ›Methode‹ einzusehen, wer und was er ist, besteht anders gesagt nicht darin, zu versuchen, sich abzugrenzen, sondern umgekehrt sich in den Zusammenhang, die »Reyhe der erschaffenen Dinge«45 einzuordnen. Besonders hebt Hamann dabei das Sich-im-Andern-Erkennen, also den Bezug zum Nächsten hervor. Hatte er zuvor noch von einer »Unmöglichkeit uns selbst zu kennen«46 gesprochen, erwägt er nun die für das menschliche Selbst konstitutive Beziehung zum Anderen: Um die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar. Wie das Bild meines Gesichts im Wasser wiederscheint; so ist mein Ich in jedem Nebenmenschen zurückgeworfen. Um mir dieses Ich so lieb als mein eigenes zu machen, hat die Vorsehung so viele Vortheile und Annehmlichkeiten in der Gesellschaft der Menschen zu vereinigen gesucht.47
Aufschlussreich für Hamanns Neubewertung der Selbstliebe ist die Metaphorik von Spiegel und Wasser. Wie in Umkehrung zu derjenigen emblematischen Tradition, welche die tadelnswerte, weil auf das bloße Eigeninteresse gerichtete 42 In diesem Punkt zeigt sich die Differenz zu Friedrich II. Während dieser für seinen Begriff von Tugend nur die Handlungen als solche, nicht aber deren Motive als ausschlaggebend ansieht, also Handlungen, die jemand um seines eigenen Interesses willen vollzieht, durchaus moralisch nennen kann, spricht Hamann in diesem Kontext eben nicht von Moral. Vgl.: Friedrich der Große: Eigenliebe als moralische Triebfeder, S. 107: »Wie viele Züge von Tugend, wie viele unsterbliche Ruhmestaten hat man nicht tatsächlich dem Instinkt der Selbstliebe zu verdanken?« 43 Hamann: Brocken, S. 408. 44 Hamann: Brocken, S. 409. 45 Hamann: Brocken, S. 413. 46 Hamann: Brocken, S. 408. 47 Hamann: Brocken, S. 410.
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Selbstliebe, als Narziss darstellt,48 macht Hamann die Selbstliebe zur positiven Voraussetzung für die Liebe des Menschen zu seinem Nächsten – gemäß dem Gebot »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Selbstliebe wird nicht in Opposition zu und als potentielle Gefährdung für Gottes- und Nächstenliebe gesehen, sondern als dasjenige, was Nächstenliebe als Gebot ermöglicht und darüber hinausgehend zur Selbsterkenntnis verhilft. Dass mir ›mein Ich in jedem Nebenmenschen zurückgeworfen‹ ist, kann ja zwei Bedeutungen haben: Einmal bedeutet es, dass der Mensch, indem er Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen sich und Anderen wahrnimmt, diesen eben dieselbe Wertschätzung und Anerkennung entgegenbringt wie auch seiner eigenen Person. Zum zweiten heißt es, dass er mit Hilfe des Anderen allererst in Erfahrung bringt, was sein Selbst ausmacht. Die primär affektive, auf das eigene Interesse zielende Selbstliebe wird zur Grundlage für die moralische Ausübung der Nächstenliebe: Aufgrund der ersteren sucht der Mensch die Nähe Seinesgleichen. Die Vorteile, welche er dadurch erfährt, haben dann – in Hamanns teleologischer Interpretation – den Zweck, ihn über bloßen Eigennutz hinaus zur Liebe des Anderen hin zu führen. An diesem Punkt zeigt sich deutlich der Unterschied Hamanns zu derjenigen theologischen Tradition, welche in der Selbstliebe eine Quelle von Sünde und Abwendung von Gott sieht. Ludwig Prasch spricht zwar von einem inneren Naturrecht, welches ein Recht der Selbstliebe beinhalte,49 spricht aber letztlich in direkter Bezugnahme auf Luther50 der Beziehung zum Anderen Priorität zu51 und zwar solchermaßen, dass ein Aufgeben des eigenen Selbst als moralisches Desiderat erscheint.52 Hamann vertritt demgegenüber eine entgegengesetzte Position, indem er den Selbstbezug des Menschen sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht zum Maßstab seiner Bezugnahme auf Äußeres macht. So notiert er 1776 in einer Anmerkung zu seiner Buffon-Übersetzung: »Die einheimische Selbsterkenntniß scheint die Einheit zu seyn, welche das Maß und Gehalt aller äußerlichen Erkenntniß bestimmt; so wie die Selbstliebe der Grundtrieb aller unserer Wirksamkeit ist.«53 Darin zeigt sich ideengeschichtlich betrachtet zwar 48 Ulrich Dierse: Art. »Selbstliebe I.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1995, Sp. 465–476, hier Sp. 471. 49 Vgl. dazu: Hans-Peter Schneider: Justitia Universalis. Quellenstudien zur Geschichte des christlichen Naturrechts bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt a.M. 1967, S. 303–304. 50 Zu Luthers Verurteilung der Selbstliebe vgl.: Susanne Knoche. Art. »Selbstliebe II.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Sp. 465–487, hier Sp. 476. 51 Friedrich Vollhardt: Die christliche Liebe und das Naturrecht der Sozialität: Problembezüge im Werk von Ludwig Prasch (1637–1690). In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam Bd. I. Wiesbaden 1997 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 28), S. 275–287, hier S. 282. 52 Vgl.: »In Theologiâ Teitonicâ à Luthero & Arndio editâ, saepe legitur, daß die Ichheit/ Meinheit/ Selbstheit muß zu nichte warden.« (zitiert nach: Vollhardt: Problembezüge, S. 282). 53 N IV, S. 424 (Über den Styl).
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gewiss eine Aufwertung des Individuums, jedoch nicht so, dass diese in einen Solipsismus führen würde: nicht nur, weil Hamann die Angewiesenheit des Menschen auf Seinesgleichen betont, sondern auch weil er in der liebenden Bezugnahme auf den Anderen nicht so sehr eine Pflicht sieht, als vielmehr etwas, das der Mensch gerne tut. Dies veranschaulichen insbesondere zwei Äußerungen Hamanns. Zum einen folgende enthusiastisch formulierte Passage aus den Brocken: »Was für ein Gesetz, was für ein entzückender Gesetzgeber, der uns befiehlt ihn selbst mit ganzem Herzen zu lieben und unseren Nächsten als uns selbst.«54 Durch die Konjunktion ›und‹ werden die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe (5. Mose 6,5 und 3. Mose 19,18) gemäß der Auslegung Jesu in Math. 22,37–40 einander gleich geordnet. Dadurch wird letztlich die Beziehung des einzelnen Menschen zu einem anderen konstitutiv für seinen Bezug zu Gott. Zum anderen hat Hamann in einem Brief an Herder von 1776 das Gebot der Nächstenliebe in einem entscheidenden Detail umformuliert: Ich hoffe, liebster Gevatter, sie werden aus meiner Selbstliebe die beste Ahndung auf die Liebe meines Nächsten ziehen. Vielleicht ist dies der höchste Grad, höher als das wie, seine Freunde in sich selbst zu lieben, als die wahren Glieder unsers Glückssystems, als die Eingeweide seines Lebens.55
Indem Hamann das vergleichende ›wie‹ durch ›in‹ ersetzt, intensiviert er die Beziehung zwischen Selbst und Gegenüber. Der Andere ist nicht nur jemand, zu dem ich in Beziehung treten kann oder soll, sondern jemand, der auf eine unmittelbar praktische und vor allem vitale Weise mit mir verbunden ist, was vor allem die Metapher der Eingeweide nahe legt. Die oben zitierten drei Alternativen Shaftesburys, Glückseligkeit zu erlangen, werden von Hamann klar zugunsten der ersten entschieden. Ohne andere Menschen zu lieben, ist es für den Menschen unmöglich, glücklich zu sein. In ihren Ergebnissen, vor allem dadurch, dass Hamann die soziale Qualität der primären Selbstliebe hervorhebt, zeigt sich, dass seine Konzeption durchaus mit der innerhalb der Naturrechtsdiskussion entwickelten Anthropologie konkurrieren kann. Friedrich Vollhardt hat gezeigt, dass im 17. Jahrhundert, vor allem bei Pufendorf, Paradigmen christlicher Anthropologie, nämlich Sündhaftigkeit und Gottesebenbildlichkeit, »Konkurrenz durch eine ›ex origine‹ erwiesene Sozialisationstheorie« erhielten, deren besondere Leistung darin bestand, der »als verderbt gedachten (Trieb)natur des Menschen soziale Züge und eine Sphäre subjektiver Rechte«56 abzugewinnen. Hamanns Theorie leistet im Wesentlichen 54 Hamann: Brocken, S. 410. 55 An Johann Gottfried Herder, 09. 08. 1776. ZH III, S. 241. 56 Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2001, S. 68.
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dasselbe: Sie erklärt aus dem Umstand, dass der Mensch nach ›Vorteilen und Annehmlichkeiten‹ für sich strebt, die Möglichkeit geselligen und moralischen Handelns. Allerdings unterläuft Hamanns Begriff von Selbstliebe die im Naturrechtsdiskurs getroffenen Unterscheidungen und Annahmen an zwei Stellen. Wenn erstens mein Selbst auf vitale Art und Weise mit dem eines Anderen verbunden ist und ich ohne Bezugnahme auf einen Anderen keinen Begriff von meinem Ich bekommen kann, dann scheint es nicht mehr sinnvoll zu sein, Selbst- und Fremdwahrnehmung nach Priorität voneinander zu unterscheiden.57 Und wenn zweitens meine Beziehung zum anderen schon affektiv bestimmt ist, dann lassen sich Selbstliebe und Sozialität nicht einer Unterscheidung von Sinnlichem und Vernünftigem entsprechend zuordnen.58
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Selbstgesetzgebung, Erstgeburt und Nächstenliebe
Die Problematik folgender Passage lässt sich nun näher erschließen und explizieren: »Jeder ist sein eigener Gesetzgeber, aber zugleich der Erstgeborne und der Nächste seiner Unterthanen.«59 Ich vertrete hier die These, dass Hamanns Behauptung von einer prima facie widersprüchlich anmutenden Gleichzeitigkeit von Rechten und Pflichten des Individuums sich aus der Verschiedenheit des hier in komprimierter Form zusammengeführten Gedankenguts ergibt. Zum Privileg der Erstgeburt ist ein Blick in Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen aufschlussreich. Dort findet sich eine Deutung des Konzepts der Erstgeburt, welche diese mit einer auf der Christusgleichheit des Gläubigen basierenden Teilhabe an Rechten verbindet: Um weiter zu sehen, was wir an Christus haben und was für ein großes Gut ein rechter Glaube ist, muß man wissen, dass im Alten Bunde […] Gott sich alle männliche Erstgeburt von Menschen und von Tieren aussonderte und vorbehielt […]. Die Erstgeburt war etwas Kostbares und hatte zwei große Vorzüge vor allen andern Kindern, nämlich die Herrschaft und die Priesterschaft (oder das Königtum und das Priestertum), so dass auf Erden das erstgeborene Knäblein ein Herr über alle seine Brüder und vor Gott ein Priester oder Papst war. Damit ist gleichnishaft auf Jesus Christus hingedeutet, der in
57 Nach Pufendorf nimmt der Mensch natürlicherweise zunächst sich selbst und erst dann die Existenz Anderer wahr: »naturaliter prius est sentire sui quam aliorum existemtiam.« (zitiert nach: Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 80, Anm. 82). 58 Vgl. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S.84. 59 N III, S. 38.
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eigentlichem Sinn diese männliche Erstgeburt ist (nämlich Gottes des Vaters von der Jungfrau Maria).60
Hamann nimmt dieser Erklärung Luthers gegenüber eine andere Position ein: Er individualisiert das Recht der Erstgeburt, indem er dieses Vorrecht jedem Menschen zuspricht und löst so die hierarchische Rechtsordnung unter Kindern zugunsten eines egalitären Prinzips auf. Das Individuum ist als Individuum unabhängig von seiner konkreten Stellung innerhalb einer Familie mit zwei Privilegien ausgestattet. Diese kommen ihm also ganz unabhängig von seinem jeweiligen Sosein, seiner spezifischen Existenz zu. Worum geht es nun dabei? Für Hamann hat so jeder das Recht und die Fähigkeit, priesterliche Funktionen auszuüben, nämlich selbst in Beziehung zu Gott zu treten, dies Anderen zu vermitteln und dabei geistliche Verantwortung zu übernehmen. Der Einzelne ist christusgleich, indem er für die ihm Anvertrauten sorgt: »es [i. e. das Priestertum] besteht unsichtbar im Geiste so, dass er vor Gottes Augen ohne Unterlaß für die Seinen einsteht und sich selbst opfert und alles tut, was ein rechtschaffener Priester tun soll.«61 Interessant ist aber nun, dass Hamann sich dort, wo er die Vorstellung eines Priestertums des Einzelnen in Anspruch nimmt – nämlich in seiner Polemik gegen Herders Preisschrift – gar nicht direkt auf Luther beruft. Es handelt sich um Hamanns Aneignung der bei Epiktet beschriebenen Figur des Hierophanten. Luthers Erläuterungen zu den Konstituenten der priesterlichen Würde können zwar für Hamanns Position, seine Abgrenzung gegen Epiktet, erläuternd herangezogen werden. Wichtiger scheint mir jedoch, dass Hamann seine Aneignung unter Berufung auf andere Quellen begründet, nämlich einmal im Bezug zu – seinem Verständnis – des Sokrates und auf zeichentheoretische Art und Weise. Auf dem Titelblatt des Ritters von Rosencreuz erscheint die Persona eines Hierophanten, welche die Fiktion einer Übersetzung konstituiert. Unter der Bemerkung »übersetzt vom Handlanger des Hierophanten« findet sich dekontextualisiert ein kurzes Zitat aus den Diskursen von Epiktet: »και εγω ποιήσω ιεροφάντην«62. Schaut man sich den Kontext an, in dem dieser Satz bei Epiktet auftaucht, wird deutlich, dass es sich um eine freie Aneignung und Verfremdung handelt. Hamann zitiert Epiktet nämlich bewusst gegen den Strich. In den Diskursen ist der Satz Teil der zitierten direkten Rede eines fiktiven argumentativen Gegners, konkret einer Person, die sich illegitimer Weise die Position des Hierophanten aneignen will. Entsprechend wendet sich das gesamte Kapitel »πρὸς
60 Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Fünf Schriften aus den Anfängen der Reformation. Gütersloh 1982, S. 170–171. 61 Luther: Freiheit eines Christenmenschen, S. 170. 62 N III, S. 25.
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τοὺς εὐκόλως ἐπὶ τὸ σοφιστεύειν ἐρχομένους«,63 also an diejenigen, die es leichthin und gedankenlos unternehmen, Philosophie zu lehren. Auffällig, weil im Text selbst nicht explizit begründet, ist die Verbindung, die Epiktet zwischen dem Lehren der Philosophie und den Mysterienkulten herstellt. Offensichtlich handelt es sich um eine stillschweigend anerkannte, selbstverständliche Assoziation, die nicht erst erklärt werden muss. Die Philosophie wird dabei als ›ars vitae‹ verstanden, zu deren Lehre man sich durch eine entsprechende Lebensführung erst qualifizieren muss: τοιοῦτόν τι καὶ σὺ ποίησον: φάγε ὡς ἄνθρωπος, πίε ὡς ἄνθρωπος, κοσμήθητι, γάμησον, παιδοποίησον, πολίτευσαι: ἀνάσχου λοιδορίας, ἔνεγκε ἀδελφὸν ἀγνώμονα, ἔνεγκε πατέρα, ἔνεγκε υι῾όν, γείτονα, σύνοδον. ταῦτα ἡμῖν δεῖξον, ἵν᾽ ἴδωμεν, ὅτι μεμάθηκας ταῖς ἀληθείαις τι τῶν φιλοσόφων. Do something of the same sort yourself too; eat as a man, drink as a man, adorn yourself, marry, get children, be active as a citizen; endure revilings, bear with an unreasonable brother, father, son, neighbour, fellow-traveller. Show us that you can do these things, for us to see that in all truth you have learned something of the philosophers.64
Zentrale Vorbedingungen sind die mit dem Alter gewonnene Lebenserfahrung und der Bezug zu einer göttlichen Instanz. Werden diese nicht beachtet, zieht sich der jeweilige Mensch den Vorwurf der Profanierung der Mysterien zu. Darauf deutet in gewisser Weise schon die Formulierung ›αληθείαι των φιλοσόφων‹ hin. Wörtlich bedeutet ›αλήθεια‹ ja ›das nicht Verborgene‹, im Hinblick auf die Verknüpfung von Philosophie und Geheimkult also dasjenige, was dem Eingeweihten erst Schritt für Schritt enthüllt wird. Wird dieses Wissen hingegen von einer beliebigen Person angeeignet und verbreitet, sieht Epiktet Gefahren: τί ἄλλο ποιεῖς, ἄνθρωπε, ἢ τὰ μυστήρια ἐξορχῇ καὶ λέγεις ›οἴκημά ἐστι καὶ ἐν Ἐλευσῖνι, ᾿ιδοὺ καὶ ἐνθάδε. ἐκεῖ ῾ιεροφάντης: καὶ ἐγὼ ποιήσω ῾ιεροφάντην. ἐκεῖ κήρυξ: κἀγὼ κήρυκα καταστήσω. ἐκεῖ δᾳδοῦχος: κἀγὼ δᾳδοῦχον. ἐκεῖ δᾷδες: καὶ ἐνθάδε. αι῾ φωναὶ αι῾ αὐταί: τὰ γινόμενα τί διαφέρει ταῦτα ἐκείνων;‹ ἀσεβέστατε ἄνθρωπε, οὐδὲν διαφέρει; καὶ παρὰ τόπον ταῦτα ὠφελεῖ καὶ παρὰ καιρόν: καὶ μετὰ θυσίας δὲ καὶ μετ᾽ εὐχῶν καὶ προηγνευκότα καὶ προδιακείμενον τῇγνώμῃ, ὅτι ῾ιεροῖς προσελεύσεται καὶ ῾ιεροῖς παλαιοῖς. οὕτως ὠφέλιμα γίνεται τὰ μυστήρια, οὕτως ει᾿ς φαντασίαν ἐρχόμεθα, ὅτι ἐπὶ παιδείᾳ καὶ ἐπανορθώσει τοῦ βίου κατεστάθη πάντα ταῦτα ὑπὸ τῶν παλαιῶν. σὺ δ᾽ ἐξαγγέλλεις αὐτὰ καὶ ἐξορχῇ παρὰ καιρόν, παρὰ τόπον, ἄνευ θυμάτων, ἄνευ ἁγνείας: οὐκ ἐσθῆτα ἔχεις ἣν δεῖ τὸν ῾ιεροφάντην, οὐ κόμην, οὐ στρόφιον οἷον δεῖ, οὐ φωνήν, οὐχ ἡλικίαν, οὐχ ἥγνευκας ὡς ἐκεῖνος, ἀλλ᾽ αὐτὰς μόνας τὰς φωνὰς ἀνειληφὼς λέγεις. ῾ιεραί ει᾿σιν αι῾ φωναὶ αὐταὶ καθ᾽ αὑτάς;
63 Epictetus: The Discourses as Reported by Arrian, the Manual, the Fragments. Übers. von W. A. Oldfather. Bd. II. Cambridge 1966, S. 122. 64 Epictetus: The Discourses, S. 124–125.
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What else are you doing, man, but vulgarizing the Mysteries, and saying, »There is a chapel at Eleusis; see, there is one here too. There is a hierophant there; I too will make a hierophant. There is a herald there; I too will appoint a herald. There is a torch-bearer there; I too will have a torch-bearer. There are torches there; and here too. The words said are the same; and what is the difference between what is done here and what is done there?«? Most impious man, is there no difference? Are the same acts helpful, if they are performed at the wrong place and at the wrong time? Nay, but a man ought to come also with a sacrifice, and with prayers, and after a preliminary purification, and with his mind predisposed to the idea that he will be approaching holy rites, and holy rites of great antiquity. Only thus do the Mysteries become helpful, only thus do we arrive at the impression that all these things were established by men of old time for the purpose of education and for the amendment of our life. But you are publishing the Mysteries abroad and vulgarizing them […] you do not have the dress which the hierophant ought to wear, you do not have the proper head of hair, nor head-band, nor voice, nor age; you have not kept yourself pure as he has, but you have picked up only the words which he utters, and recite them. Have the words a sacred force all by themselves? 65
Der Begriff Hierophant wird hier von Epiktet ohne weitere Erklärung in die Argumentation eingefügt. Wer also ohne die notwendigen Vorbedingungen Philosophie lehrt, tut damit nichts anderes, als die Mysterien zu entweihen, indem er sich eine Position aneignet, die mit heiligem Wissen verbunden ist. Die Wirkkraft des Heiligen kommt nämlich weder dem Individuum noch den Worten zu, sondern ist an spezifische Ort- und Zeitbedingungen sowie an die genannten Insignien – Kleider, Stimme, Alter – gebunden. Indem Hamann nun Epiktet gegen den Strich zitiert, behauptet er das Gegenteil. Denn Epiktet vertritt eine der Hamannschen genau entgegengesetzte Vorstellung über die Konstitution von Bedeutung. Hamann spricht ja ausdrücklich vom ›Vermögen‹ der Wörter, Wirkungen entweder passiv entgegenzunehmen oder aber aktiv zu konstituieren,66 was wiederum auf der Befähigung des Individuums beruht, »durch Einsetzung selbst spontan und von sich aus Werte zu schaffen.«67 Das ›και εγω ποιήσω ιεροφάντην‹ – auch ich werde einen Hierophanten machen – schafft so eine Erwartungshaltung, dass nämlich im Text, entsprechend der Bedeutung von ›ιεροφάντης‹ ( jemand, der das Heilige zeigt), eben heilige Gegenstände verhandelt und enthüllt werden. Das sagt aber noch nicht viel darüber aus, was Hamann unter einem Hierophanten verstehen könnte. Diesbezüglich erhellend ist seine Kritik an Johann August Starck, der in seiner Apologie des Ordens der Freymaurer (1770) behauptet, ein Wissen über die Arkandisziplinen zu besitzen.68 Hamann hatte nämlich bereits in der Aesthetica in nuce eine eigene 65 Epictetus: The Discourses, S. 127–129. 66 Vgl. Eric Achermann: Natur und Freiheit. Hamanns ›Metakritik‹ in naturrechtlicher Hinsicht. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 46.2 (2004), S. 79–80. 67 Achermann: Natur und Freiheit, S. 90. 68 Vgl.: »und dass er in der alten Apologie des eleutheroteichopoetischen Geheimnisses und
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Deutung vorgelegt, die an die Funktion des Hierophanten als Cerespriester anknüpft wie sie in der Encyclopédie beschrieben wird: L’hiérophante étoit à Athènes un prêtre d’un ordre très-distingué; car il étoit préposé pour enseigner les choses sacrées & les mysteres de Cérès, à ceux qui voiloient y être initiés; & c’est de-là qu’il prénoit son nom. On lui donnoit aussi le titre de prophete; il faisoit les sacrifices de Cérès, ou uniquement par rapport à elle; il étoit encore le maître d’orner les statues des autres dieux, & de les porter dans les ceremonies religieuses. Il avoit sous lui plusieurs officiers qui l’aidoient dans son ministere; & qu’on nommoit exegetes, c’est-à-dire, explicateurs des choses sacrées.69 Der Hierophant war in Athen ein Priester von einem sehr angesehenen Rang; denn er war beauftragt, denen, die eingeweiht werden wollten, die heiligen Dinge und die Mysterien der Ceres zu lehren; und daher hat er seinen Namen. Man gab ihm auch den Titel Prophet; er brachte der Ceres Opfer dar, oder einzig im Bezug auf sie; er war zudem der Leiter beim Schmücken und Tragen der Statuen der anderen Götter bei religiösen Zeremonien. Er hatte unter sich mehrere Sakraldiener, die ihm in seinem Amt halfen, und die man Exegeten, d. h. Ausleger heiliger Dinge, nannte.
Der als Übersetzer bezeichnete ›Handlanger des Hierophanten‹ koinzidiert so mit Hamanns Rolle als ›Magus‹, der eine Person ist, die Heilige Dinge auslegt und mit ihnen Umgang hat. Über die antiken Gottheiten heißt es nun: Wagt euch also nicht in die Metaphysick der schönen Künste, ohne in den Orgien und Eleusinischen Geheimnissen vollendet zu seyn. Die Sinne aber sind Ceres, und Bacchus die Leidenschaften; – alte Pflegeeltern der schönen Natur.70
Der entscheidende Unterschied zwischen Hamanns Verständnis der Mysterien und demjenigen Epiktets und Starcks besteht darin, dass ersterer den Sinnlichkeitsbezug der antiken Rituale ernst nimmt, während letztere gleichsam hinter einer sinnlichen Oberfläche einen verborgenen, intelligiblen Gehalt vermuten. Hamanns Hierophant wäre demnach als ein Priester der Sinnlichkeit zu verstehen oder eben als jemand, der den heiligen Charakter des Sinnlichen enthüllt. Entsprechend verbirgt sich für Hamann hinter den mythologischen Figuren keine »[g]öttliche[] Weisheit, die als philosophisches Wissen gedacht war«, sondern die Mythologie ist »als Poesie Repräsentanz des poetischen, des schaffenden Wortes.«71 Indem der Sinnlichkeitsbezug als das entscheidende Moment der Mythologie gilt, wird diese ästhetisiert, als eine Form von Kunst verstanden.
dem neuesten semi-libello famoso, […], auf Einsichten in der Disciplina arcana des Heidentums Ansprüche mach[t], […] alles das sticht mir in meinen Nieren.« (N III, S. 127). 69 Art. «Hierophante.» In: Encyclopédie Bd. 8, S. 207. Übers. A.K. 70 Hamann: Aesthetica in Nuce, S. 97. 71 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Christologische Poesie. Bemerkungen an Hamanns ›Aesthetica in nuce.‹ In: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiösität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift für Alois Maria Haas zum 65. Ge-
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Anthropologie bei Hamann
Zudem scheint mir die Auffassung Hamanns historischer als diejenige Starcks zu sein. Die heidnischen Rituale werden als eigenständige religiöse Praktiken einer besonderen Kultur verstanden und nicht in das Ideal einer großen, das Besondere umgreifenden Traditionslinie eingeordnet. Wenngleich das Christentum sich historisch aus antiken Praktiken entwickelt hat, so beginnt mit ihm etwas eigentlich Neues. Dementsprechend ist Hamann daran gelegen nachzuweisen, dass die Kirchenväter ihrerseits nicht in die Mysterien eingeweiht waren: »Denn war es nicht eine derbe Unverschämtheit, in den Tag hinein zu schreiben, dass wir nicht die geringste Spur in den alten Kirchenvätern von ihrer Einweihung finden?«72 Dies wiederum schließt eine Beeinflussung durch heidnisches Gedankengut nicht aus: Wenn man alle jüdische und heidnische Bestandtheile vom Christentum mit pharisäischer Kritik absondern wollte: so bliebe eben so viel als von unserm Leibe durch eine ähnliche metaphysische Scheidekunst übrig – nemlich: ein materielles Nichts oder ein geistiges Etwas, das im Grunde für den Mechanismus des Sensus communis auf einerley hinaus läuft.73
Ausgehend von der historischen Verwurzlung der christlichen Religion ist es ihr Offenbarungscharakter, der das ihr Eigentümliche konstituiert. Um dieses zu erkennen und zu schätzen bedarf es einer besonderen Kenntnis, wie Hamann durch den Vergleich mit der Malerei betont.74 Dennoch insistiert er auf der Befähigung des Individuums, einen Zugang zum Heiligen zu gewinnen. Bezeichnenderweise schreibt Hamann die im Ritter von Rosencreuz zitierte Passage aus Epiktet später in den Hierophantischen Briefen Sokrates zu: »Wie kann man über Hierophanten schreiben, ohne selbst zu hierophantisieren? και εγω ποιησω ιεροφαντην, sagt Sokrates in Arrians Epiktet.«75 Damit entzieht er Epiktet eine wichtige Referenzfigur, die dieser als Beleg für seine Auffassung, der zufolge man nicht eigenmächtig über heilige Gegenstände sprechen dürfe, angeführt hatte: ἀλλ᾽ οὐδὲ σοφὸν εἶναι τυχὸν ἐξαρκεῖ πρὸς τὸ ἐπιμεληθῆναι νέων: δεῖ δὲ καὶ προχειρότητά τινα εἶναι καὶ ἐπιτηδειότητα πρὸς τοῦτο, νὴ τὸν Δία, καὶ σῶμα ποιὸν καὶ πρὸ πάντων τὸν θεὸν συμβουλεύειν ταύτην τὴν χώραν κατασχεῖν, ὡς Σωκράτει συνεβούλευεν τὴν ἐλεγ-
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burtstag. Hg. v. Claudia Brinker-von der Heyde u. Niklaus Largier. Bern, Berlin u. a. 1999, S. 489. N III, S. 217. N III, S. 142. »Was will der Unterscheid zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion sagen? Wenn ich ihn recht verstehe, so ist zwischen beyden nicht mehr als der Unterscheid zwischen dem Auge eines Menschen, der ein Gemälde sieht, ohne das Geringste von der Malerey und Zeichnung oder der Geschichte, die vorgestellt wird, zu verstehen, und dem Auge eines Malers; zwischen dem natürlichen Gehör und dem musikalischen Ohr.« (Hamann: Brocken, S. 411). N III, S. 141.
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κτικὴν χώραν ἔχειν, ὡς Διογένει τὴν βασιλικὴν καὶ ἐπιπληκτικήν, ὡς Ζήνωνι τὴν διδασκαλικὴν καὶ δογματικήν. Nay, it may be that not even wisdom is all that is needed for the care of the young; one ought also to have a certain readiness and special fitness for this task, by Zeus, and a particular physique, and above all the counsel of God advising him to occupy this office, as God counselled Socrates to take the office of examining and confuting men, Diogenes the office of rebuking men in a kingly manner, and Zeno that of instructing men and laying down doctrines.76
Offensichtlich beruft Epiktet sich auf das sokratische ›δαιμόνιον‹, durch welches Sokrates der Überlieferung nach göttliche Aufträge – nämlich zum dialogischen Überprüfen der Meinungen seiner Zeitgenossen – erhalten haben soll.77 Die Autorisierung zu eben diesem Handeln geht insofern nicht von Sokrates als Individuum aus. Nun spricht Hamann selbst aber vom ›δαιμόνιον‹ des Sokrates als einer Macht, die durch ihn wirke und mithin ohne oder jedenfalls nicht nur durch sein eigenes bewusstes Wollen agiert. Sokrates habe Fragen an andere gestellt »ohne dass er, noch seine Zuhörer das Geringste von dem wahrnahmen, was Gottes Geist durch ihn redete.«78 Demgegenüber behauptet Hamann, indem er das Epiktetzitat Sokrates in den Mund legt, das genaue Gegenteil. Sokrates wird zum Paradigma eines durch sein eigenes freies Wollen zum Verkünden des Heiligen autorisierten Individuum. Es bedarf weder der beruflichen Position – der Profession – noch des Status eines Gottesgelehrten. Entsprechend charakterisiert Hamann sich selbst in einem Brief an Johann August Eberhardt vom 07. 10. 1772: »Ich bin weder Prediger noch θεοδοξος von Profession, sondern sokratisch.«79 Hamann identifiziert sich nicht mit institutionellen Trägern der Religion, sondern sieht sich wie Sokrates als Laie. Diese Zurückweisung institutionell vermittelter Autorität verbindet sich mit einer Auflösung von Subordinationsverhältnissen zu Gunsten egalitärer Strukturen und zwar solchermaßen, dass sowohl Rechte als auch vor allem Verpflichtungen auf jeden Einzelnen verteilt werden. Priester- und Königtum, zwei Ausdrücke, die ein Verhältnis von Subordination vermuten lassen, werden als eine Form von Verantwortlichkeit und Pflicht zur Fürsorge verstanden. 76 Epictetus: The Discourses, S. 128–129. 77 Vgl. dazu die Darstellung bei Xenophon: Memorabilien. Auswahl aus den vier Büchern eingeleitet u. kommentiert von Armin Müller. Münster 1990, S. 50: Σωκράτης δ᾽ ὥσπερ ἐγίγνωσκεν, οὕτως ἔλεγε: τὸ δαιμόνιον γὰρ ἔφη σημαίνειν. καὶ πολλοῖς τῶν συνόντων προηγόρευε τὰ μὲν ποιεῖν, τὰ δὲ μὴ ποιεῖν, ὡς τοῦ δαιμονίου προσημαίνοντος. [Sokrates aber pflegte seiner Erkenntnis gemäß zu reden: denn die Gottheit, behauptete er, befehle es. Und vielen der Anwesenden riet er dazu, das eine zu tun, das andere nicht zu tun, da es von der Gottheit befohlen sei]. 78 Hamann: Brocken, S. 412. 79 ZH III, S. 19.
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Anthropologie bei Hamann
Noch weiter radikalisiert wird dieser Gedanke dadurch, dass Hamann ›jeden‹ als den ›Nächsten seiner Unterthanen‹ versteht. Damit wird das hierarchische Verhältnis zwischen Menschen zugunsten eines Konzepts von Gleichordnung aufgehoben, ja es wird sogar im Hinblick auf den mit Herrschaftsfunktionen ausgestatteten Einzelnen umgekehrt. Ist jemand nämlich der Nächste seiner Untertanen, so ist er gehalten, diese nicht etwa zu beherrschen in dem Sinne, dass er ihnen Befehle erteilen und sie in ihrem Handeln einschränken würde, sondern im Gegenteil ihnen seinerseits zu dienen, sich in ihre Position zu versetzen und so, wiederum Christusgleich, sich ihnen gegenüber aufzuopfern. Es findet sich also bei Hamann eine Vorstellung von Gesellschaft christusgleicher und gleichberechtigter Individuen, die mit Privilegien ausgestattet, wechselseitig füreinander Verantwortung und Fürsorge tragen. ›Autorität‹ wird so dezentralisiert. ›Jeder‹ ist gehalten, dem Anderen als seinem Nächsten zu dienen, als Priester ihn zu lehren und zu leiten und dies schließlich aus eigenem Willen, aus einem Akt der Selbstverpflichtung heraus zu tun. Der Gedanke, dass jeder ›sein eigener Gesetzgeber‹ ist, speist sich aus einem republikanischem Denkansatz, der hier aber von Hamann in die Anthropologie übertragen wird. Hamann entwickelt so eine Vorstellung von ›Gesetz‹, die nicht als Restriktivität, sondern als Selbstbestimmung zu verstehen ist. So schreibt er in den Brocken: »Man kommt überein, dass es keine Freyheit ohne Gesetze geben könne; und man erklärt diejenige für freye Staaten, wo die Unterthanen sowohl als der Fürst von Gesetzen abhängen.«80 Analog kann man sagen, ein freier Mensch ist derjenige, der sich selbst Gesetze gibt.
4.
Hamanns Auseinandersetzung mit materialistischen Thesen
In der Forschung ist bereits gezeigt worden, dass Hamann materialistischen Thesen nicht einfach widerspricht, sondern sich diese produktiv aneignet, sowohl zur Stützung eigener Thesen, wie derer von der umfassenden Kondeszendenz Gottes in alle Ebenen des Körperlich-Naturhaften hinein,81 als auch zur Kritik an seinen Gegnern: So hält er zeitgenössischen Thesen von einer autonomen Vernunft mit Helvétius die »Einsicht in die Bedingtheit der menschlichen Erkenntniskräfte«82 entgegen, äußert jedoch Zweifel bezüglich dessen Anspruch darauf, ohne metaphysische Annahmen auskommen zu können83 und kritisiert letztlich Helvétius’ Vernunftbegriff als dem Menschen nicht angemessen, weil zu 80 81 82 83
Hamann: Brocken, S. 415. Beetz: Hamanns Interesse an Anthropologie, S. 116. Von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 250. Von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 248.
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einem bloßen Instinkt verringert.84 Offen bleiben dabei folgende Fragen: Wie kann Hamann auf dem individual- und gattungsgeschichtlichen Gewordensein (einiger) menschlicher Fähigkeiten insistieren, also mit Helvétius den Menschen als »Produkt seiner Erziehung«85 verstehen, und dabei trotzdem die für ihn so zentrale Willensfreiheit nicht aufgeben? Welche Konzeptionen von Körperlichkeit gibt es bei Hamann, die es ihm erlauben, bei allem Interesse für die Erforschung leiblicher Vorgänge den Gedanken der Würde des Menschlichen beizubehalten? Worauf gründet sich seine Kritik am ›sensus communis‹ und was für einen Begriff von Vernunft hat er?
4.1
Imbecillitas
Hamanns Position zum Topos der ›imbecillitas‹ zu untersuchen, ist aus zwei Gründen wichtig: Zum einen, weil durchaus analoge Vorstellungen vom Menschen als einem ›Mängelwesen‹ in so verschiedenen Konzeptionen der menschlichen Natur wie derjenigen materialistisch orientierter Denker auf der einen und Herders auf der anderen Seite eine Rolle spielen. Zum anderen, weil der Gedanke der ›imbecillitas‹ als ein anthropologisches Denkmodell innerhalb des Naturrechtsdiskurs verwendet wird, um die Entwicklungsmöglichkeiten eines Menschen auszuloten, der lediglich über seine Vernunft und seine natürlichen Anlagen verfügt.86 Das Spannende bei Hamann besteht nun darin, dass er – genau betrachtet – eine positive von einer negativen Wertung der ›imbecillitas‹ des Menschen wenngleich nicht begrifflich, so doch sachlich unterscheidet. Zu einem positiven Verständnis der ›imbecillitas‹ gelangt Hamann, indem er eine materialistische Radikalisierung des empiristischen Diktums ›nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu‹ aufgreift, um eine dezidiert hedonistische Vorstellung von menschlicher Entwicklung zu entwerfen: Gesetzt also auch, dass der Mensch wie ein leerer Schlauch auf die Welt käme: so macht doch eben dieser Mangel ihn zum Genuß der Natur durch Erfahrungen und zur Gemeinschaft seines Geschlechts durch Überlieferungen desto fähiger.87
Der Gedanke der ›imbecillitas‹ wird hier nicht als Mangel im Sinne einer Privation, als etwas Beklagenswertes verstanden, sondern genau umgekehrt als Chance. Gerade weil der Mensch über keine angeborenen Fähigkeiten verfügt, ist er in der Lage sich zur Schöpfung zu verhalten, wie er sollte, sie »ganzheitlich [zu] 84 85 86 87
Von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 252. Beetz: Hamanns Interesse an Anthropologie, S. 117. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 68. N III, S. 39.
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Anthropologie bei Hamann
erfahren«88, indem er sie genießt und sie nicht allein aus rationaler Distanz heraus analysiert. Weil Hamann so die Gotteserfahrung auf der Ebene der (psychischen) Sinnlichkeit ansiedelt, kann er d’Holbachs atheistischen Schlussfolgerungen widersprechen unter Übereinstimmung mit dessen sensualistischen Voraussetzungen. In Le Bon Sens hatte d’Holbach aus der These, dass Kinder über keine angeborene Vorstellung von Gott verfügen, gefolgert, dass ihnen diese als ein falsches, irrationales Vorurteil – oder als eine unklare Vorstellung – von den Ammen vermittelt werde: Tous les enfans sont des athées; ils n’ont aucune idée de Dieu […] Nos nourrices sont nos premieres Théologiennes; elles parlent aux enfans de Dieu, comme elles leur parlent de loups garoux […] les nourrices ont-elles donc des notions plus claires de Dieu que les enfans qu’elles obligent de le prier? 89 Alle Kinder sind Atheisten; sie haben keinen Begriff von Gott […] Unsere Ammen sind unsere ersten Theologinnen; sie erzählen den Kindern von Gott wie sie ihnen von Werwölfen erzählen […] Haben die Ammen selbst also deutlichere Begriffe von Gott als die Kinder, die sie zwingen zu beten?
Hamann erwidert darauf ironisch: Alle Kinder kommen ohne den geringsten Begrif auf die Welt; unsere ersten Gotteslehrerinnen sind – - Ihr Männer dieses Aeons! seyd keine alte Weiber; sondern werdet wie die Kinder. Durch diese Widergeburt der reinen Vernunft sind Gesetz und Propheten erfüllt.90
Da Gott für Hamann nicht primär Gegenstand einer begrifflichen Erkenntnis ist, kann er das biblische Gebot, wie die Kinder zu werden,91 gegen seine Zeitgenossen wenden. So schreibt er an Jacobi, möglicherweise in direkter Reminiszenz an d’Holbach: »Werdet wie die Kinder, um glücklich zu seyn, heißt schwerlich so viel als: habt Vernunft, deutliche Begriffe.«92 Bestand für d’Holbach der Weg zur Glückseligkeit für den Menschen darin, ihn durch Wissenschaft und Vernunft von seinen Vorurteilen zu befreien,93 fordert Hamann dazu auf, sich auf die unmittelbar jedem Menschen gegebene sinnliche Erfahrungsebene einzulassen.
88 Von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 233. 89 Holbach, Paul Henri Thiry, baron de: Le bon-sens ou idées naturelles apposes aux idées surnaturelles. Londres [i. e. Amsterdam: printed by Marc-Michel Rey] 1772, §30, S. 18, Übers. A.K. 90 N IV, S. 413. 91 Math. 18,3. 92 An Jacobi 02. 11. 1783. ZH V, S. 95. 93 Vgl. d’Holbach: Le bon-sens: »La science, la raison, la liberté peuvent seules les corriger, & les rendre plus heureux.« (Préface, unpaginiert).
Hamanns Auseinandersetzung mit materialistischen Thesen
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In dieser positiven Deutung der ›imbecillitas‹ unterscheidet Hamann sich deutlich von zeitgenössischen anthropologischen Forschern. Ersichtlich wird das in seiner Haltung zur Kontroverse um den aufrechten Gang. Hier zeigen sich aber auch die Grenzen seiner Bereitschaft, sich auf die Wege der neuen Wissenschaft einzulassen. Er ist, anders gesagt, nicht bereit, die These, dass der Mensch nicht ›ab ovo‹ über alle seine Fähigkeiten verfüge dahingehend zu erweitern, dass man ihn in größere Nähe zum Tier rücken müsste. Werfen wir zur Klärung einen Blick auf die Abhandlung Moscatis: Er geht davon aus, dass der aufrechte Gang das Produkt einer über Nachahmung vermittelten einmaligen Erfindung weniger Menschen ist. Es handelt sich mit anderen Worten um das Ergebnis einer Vorteilserwägung, die jedoch in einem entscheidenden Punkt zu kurz greift. Der Mensch ist sich nicht über die langfristigen Nachteile des aufrechten Gehens im Klaren, weshalb Moscati diese seine Entwicklung als einen eigentlichen Degenerationsprozess von einem zwar alles andere als paradiesischen, aber natürlichen und insofern vorzuziehenden Zustand beschreibt. So fordert er das Publikum auf, zu erwägen, dass dieser gröste körperliche Unterscheid, anstatt ein Geschenk der wohlthätigen Natur […] vielleicht nichts, als die erlernte Nachahmung der Kunst einiger Menschen sey, die davon den gegenwärtigen Nutzen, ohne die entfernten Nachtheile, einsahen, und zuerst anfiengen, aufrecht zu gehen, hernach solches ihre Kinder lehrten, und es endlich bis auf die entfernten Jahrhunderte erblich machten.94
Innerhalb dieser Naturkonzeption finden sich einige widersprüchliche Annahmen. Der Naturbegriff beinhaltet für Moscati nämlich sowohl einen kausalen als auch einen normativen Aspekt. Den ersteren, insofern er als ›Naturforscher‹ den Anspruch besitzt, deskriptiv und analytisch vorzugehen und in dieser Hinsicht sich polemisch sowohl gegen teleologische Denkmuster95 als auch gegen die Auffassung von einer benevolenten Natur abgrenzt,96 auch insofern als diese 94 Pietro Moscati: Von dem wesentlichen körperlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen. Eine akademische Rede gehalten auf dem anatomischen Theater zu Pavia von Doct. Peter Moscati. Aus dem Italienischen übersetzt von Johann Beckmann. Göttingen 1771, S. 15. 95 Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 85. 96 Moscati zitiert an dieser Stelle aus Ovids Metamorphosen. Die Annahme, die Natur bevorzuge den Menschen, indem sie ihn mit zweckmäßigen körperlichen Eigenschaften versehe, wird so als dichterische Phantasie, die wenig mit den realen Gegebenheiten zu tun hat, charakterisiert. Vgl. Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 46–47: »Nun komme […] die poetische Beredsamkeit, und singe uns, so oft sie wolle, dass die weise wohlthätige Natur Pronaque cum spectent animalia caetera terram/ Os homini sublime dedit, caelumque tueri/ iussit, & erectos ad sidera tollere vultus [Ovid: Met. I. V. 84] es komme der unsterbliche Vater der römischen Beredsamkeit, der witzige akademische Philosoph uns zu überreden, dass – eadem natura – figuram corporis habilem, 6 aptam ingenio humano dedit – und dass – cum caeteras animantes abiecisset ad pastum, solum hominem erexit, ad caelique quasi cognationis, domiciliique pristini conspectum excitavit [Cic. Lib. I. de lebibus].«
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Anthropologie bei Hamann
unverkennbar religiöse Züge trägt. Der zweite, normative Aspekt, wird hingegen deutlich, wenn Moscati die Opposition zwischen Natur und Kunst dazu verwendet, um das aufrechte Gehen als ›Ausartung‹ zu bewerten.97 Der so verstandene Naturzustand des Menschen ist zwar nichts an sich Positives oder gar Bewunderungswürdiges, aber in jedem Fall, angesichts der Folgeschäden wie Herzfehlern, Verlangsamung des Blutkreislauf und Schmerzen während der Schwangerschaft,98 der Bessere. So nimmt Moscati an, dass die Menschen in einem Stadium ihrer Entwicklung Neid gegenüber den Tieren empfinden: [I]ch sehe es Ihnen an, dass Sie über die nachtheilige Mode, zweyfüßig zu seyn, unwillig werden, und dass sie die wahre Glückseligkeit der starken vierfüßigen Thiere in den Wäldern zu schätzen anfangen; der Thiere, die, wenn ihnen nicht der böse Mensch, gleichsam aus Neid, ihr Unglück vermehrte, den Tod natürlicher weise als einen gleichgültigen Uebergang vom Daseyn zum Nichtdaseyn, ansehen würden.99
Demgegenüber gibt es allerdings einen von Anfang an feststehenden anatomischen Unterschied zwischen Mensch und Tier, den Moscati jedoch charakteristischerweise als einen Mangel auffasst. Der Mensch ist im Wesentlichen ein Mängelwesen. Während die Tiere über eine sichere, durch Instinkte vermittelte Verhaltensleitung verfügen, die es ihnen ermöglicht, das für sie selbst Nützliche und Schädliche zu erkennen, entbehrt der Mensch jeglicher Instinktsicherheit. Letzteres liegt an seinem Gehirnbau als dem Ausgangspunkt zur Herausbildung diverser kognitiver Fähigkeiten, welche wiederum durch eine anfängliche Distanzierung von den ›sensationes‹ ermöglicht werden. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, das Bilden allgemeiner Begriffe und schließlich die Formulierung von Schlüssen sind genau deshalb möglich, weil der Mensch anatomisch dazu in der Lage ist, die Intensität des sinnlichen Eindrucks von sich zu distanzieren.100 97 Vgl. Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 4: »Wenn ich alle Theile des menschlichen Körpers überhaupt werde durchgegangen seyn, so wird alsdann jedweder sehr leicht erkennen, welches der würkliche Unterscheid ist, den die vorsichtige Natur zwischen uns und den übrigen Thieren festsetzen wollen, und welches hingegen derjenige Unterscheid ist, den die alte erbliche Gewohnheit bey dem Menschen als Bürger, verursachen können den die mannigfaltige Ausartung von dem natürlichen Zustande, den die unbestimmlichen theils nothwendigen theils zufälligen Ursachen, die jedoch alle außer uns sind, in einer langen Reihe von Jahrhunderten […] bewürkt haben.« 98 Vgl. Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 34–38; S. 41; S. 33. 99 Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 41. 100 Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 78–81: [V]ielmehr im Gegentheil verleihet die organische Bildung des menschlichen Gehirns dem erwachsenen, gesunden und wohlgebaueten Menschen, ganz wohl und fast jederzeit die körperliche Fähigkeit, die äusserliche Würkung seiner Empfindungen aufzuhalten, und diese untereinander zu vergleichen, zu trennen, und abzuwägen. Von dieser unserer körperlichen Fähigkeit entsteht denn […] die glückliche eigenthümliche Fähigkeit des Menschen, zusammengesetzte Gegenstände zu zergliedern, vielfache Unähnlichkeiten und Ähnlichkeiten […] zu erkennen. Von unterschiedenen körperlichen Wesen verschiedene Eigenschaften zu abstrahiren, sie nach
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Diese Beschaffenheit des Menschen ist ihrerseits kein Ergebnis einer ›creatio‹ – die Moscati als die Ansicht »von Vorurtheilen eingenommene[r] Finalisten«101 zurückweist –, sondern lediglich ein willkommenes Mittel zum Ausgleich eines organischen Mangels, eben der fehlenden Instinktverbundenheit. Der Mensch, »wenn er nur Vernunft gehabt, wenn er in Gesellschaft gelebt hätte, und vermögend gewesen wäre, seine eigene Gedanken andern mitzutheilen« hätte »dennoch die Kunst [gefunden], diesen organischen Mangel zu ergänzen.«102 Der pessimistische Charakter dieser Anthropologie zeigt sich insbesondere an der Transformation von einer Stelle aus Aristoteles Politik. Moscati schreibt nämlich eine entscheidende Erkenntnisleistung, die Aristoteles für den mit dem ›λόγος‹ begabten Menschen reserviert, auch den Tieren zu. Letztere sind in der Lage, »einen solchen Begriff, als sie haben können, von dem was schadet und nützt«103, zu erlangen, auch ohne spezifische kognitive Fähigkeiten, wohingegen der Mensch mit Entscheidung zum aufrechten Gang sich gerade in diesem Punkt irrt.104 Besteht für Moscati das ›humanum‹ zwar in der ›ratio‹, so ist gleichzeitig dessen Leistungsfähigkeit in praktischer Hinsicht erheblich eingeschränkt. Sie ermöglicht zwar die Entwicklung des ›ingeniums‹, also der Fähigkeit, Ähnlichkeiten wahrzunehmen und von dort aus zum logischen Denken fortzuschreiten, ist aber zugleich auch Ursache von Übeln wie Krankheiten. Gerade indem der Mensch sich in einem notwendigen Schritt seiner Entwicklung – welcher aufgrund der Gehirnstruktur, nicht frei gewählt ist – vom Tier distanziert, zieht er sich die größten denkbaren Übel zu, degeneriert von der Natur.
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Willkühr zusammen zu setzen, sie allgemeiner zu machen, und sich […] nach seinem Willen […] zu den entferntesten erhabensten Folgerungen zu erheben. Und diese wunderbare Fähigkeit, die der Menschenart nur allein eigen ist, und die gemeiniglich Talent genannt wird, erhält insbesondere den Namen des philosophischen Talentes, wenn sie glücklich angewendet wird, jedweden kleinen Unterschied […] zu bestimmen […] [h]ingegen wird dieses Talent das poetische […] genannt, wenn es ihm vorzüglich und leicht glückt, die ähnlichen Eigenschaften an Dingen verschiedener Art auf einmal zu bemerken, und ein schönes Ganzes […] zierlich zusammen zu setzen.« Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 85. Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 9. Moscati: Von dem wesentlichen Unterscheide, S. 54. Bei Aristoteles ermöglicht es nur der λόγος, das Zuträgliche (συμφέρον) und Schädliche (βλαβερόν) wahrzunehmen, wohingegen die Stimme allein das Schmerzenverursachende (λυπηρός) und das Angenehme (ηδος) mitzuteilen erlaubt. Vgl. Aristoteles: Politik. Eingeleitet, kritisch hg. und mit Indices versehen v. Alois Dreizehnter. München 1970, 1253 a: »ἡ μὲν οὖν φωνὴ τοῦ λυπηροῦ καὶ ἡδέος ἐστὶ σημεῖον, διὸ καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει ζῴοις μέχρι γὰρ τούτου ἡ φύσις αὐτῶν ἐλήλυθε, τοῦ ἔχειν αἴσθησιν λυπηροῦ καὶ ἡδέος καὶ ταῦτα σημαίνειν ἀλλήλοις , ὁ δὲ λόγος ἐπὶ τῷ δηλοῦν ἐστι τὸ συμφέρον καὶ τὸ βλαβερόν, ὥστε καὶ τὸ δίκαιον καὶ τὸ ἄδικον.« [Die Stimme nun zeigt Schmerz und Lust an, und deshalb steht sie auch den anderen Lebewesen zur Verfügung. Denn ihre Natur ist so weit entwickelt, dass sie Schmerz und Lust empfinden und dies einander mitteilen, die Sprache aber ist offensichtlich dazu da, um Vorteil und Schaden anzuzeigen und deshalb auch das Rechte und das Unrechte. Übers. A.K.].
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Anthropologie bei Hamann
In diesem Punkt besteht eine gemeinsame Grundhaltung zwischen Moscati und Herder, da beide vom Topos der ›imbecillitas‹ des Menschen ausgehen.105 Die Natur habe ihn spärlich ausgestattet, für welchen Mangel seine Vernunftbegabung einen Ersatz darstelle, der dann allerdings verschieden bewertet wird, bei Moscati als unzureichend, bei Herder als das vorzüglich Menschliche. Hamann seinerseits widerspricht beiden. Die Natur hat, ausgehend von der göttlichen Gnade, den Menschen mit allem Notwendigen ausgestattet und ist so selbst Zeichen der göttlichen Liebe und Herunterlassung.106
4.2
Erziehung und Gewohnheit
Die Bejahung der These, dass der Mensch als ›leerer Schlauch‹ auf die Welt käme, birgt genau betrachtet noch eine andere Brisanz in sich. Geht man davon aus, dass nicht nur seine biophysischen Anlagen, sondern auch soziale Faktoren wie kulturell vermittelte Sitten und Erziehung auf den Menschen formend einwirken, kann man sich dann einer sozialdeterministischen Theorie verweigern? Oder müsste man nicht der Position des Helvétius zustimmen, der zufolge der Mensch nichts als das »Produkt seiner Erziehung«107 ist? Hamann hat in den Philologischen Einfällen dieser Position thesenartig widersprochen, indem er als einen Aspekt der Freiheit auch das »republicanische Vorrecht« nennt, zur Bestimmung der für den Menschen spezifischen Kräfte »mitwirken zu können.«108 Frei ist der Mensch nur dann, wenn er realiter dazu in der Lage ist, sich selbst zwar nicht allein zu formen, aber doch an dieser Formung aktiven Anteil zu nehmen. Hamann spricht dem Menschen die Fähigkeit zu, über seine Entwicklung zu entscheiden, mit anderen Worten, sich selbst zu bilden, indem er auswählt, was für ihn prägend sein soll, welche der möglichen Fähigkeiten er entwickeln will. Damit betont Hamann als oberstes anthropologisches Prinzip die ›voluntas‹, die er mit der Königswürde identifiziert: 105 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Texte, Materialien, Kommentar. Hg. von Wolfgang Proß. München 1978, S. 25–26: »Lücken oder Mängel können jedoch nicht der Charakter seiner Gattung seyn: oder die Natur war gegen ihn die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die Liebreichste Mutter war. […] Bei dem Menschen ist Alles in dem grösten Misverhältniß – Sinne und Bedürfnisse, Kräfte und Kreis der Würksamkeit, der auf ihn wartet, seine Organe und seine Sprache – Es muß uns also ein gewisses Mittelglied fehlen, die so abstehende Glieder der Verhältniß zu berechnen. Fänden wirs: so wäre nach aller Analogie der Natur diese Schadloshaltung seine Eigenheit, der Charakter seines Geschlechts: und alle Vernunft und Billigkeit foderte, diesen Fund für das gelten zu laßen, was er ist, für Naturgabe, ihm so wesentlich, als den Thieren der Instinkt.« 106 Vgl. dazu: Karlfried Gründer: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns Biblische Betrachtungen als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg, München 1958, S. 22–23. 107 Zit. nach von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 251. 108 N III, S. 38.
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Der Mensch ist also nicht nur ein lebendiger Acker sondern auch der Sohn des Ackers, und nicht nur Acker und Saame (nach dem System der Materialisten und Idealisten) sondern auch der König des Feldes, guten Saamen und feindseeliges Unkraut auf seinem Acker zu bauen; denn was ist ein Acker ohne Saamen und ein Fürst ohne Land und Einkünfte? Diese Drey in uns sind also Eins, nämlich θεου γεωργιον: so wie drey Larven an der Wand der natürliche Schatten eines einzigen Körpers sind, der ein doppeltes Licht hinter sich hat- – -109
Hamann erläutert die Formulierung ›König des Feldes‹ durch zwei Cicerozitate, die jedoch ihrerseits – wenn man den Kontext bei Cicero berücksichtigt – erklärungsbedürftig sind. Betrachten wir das erste Zitat aus den Tusculanen: »Qui igitur exisse ex potestate dicuntur, idcirco dicuntur, quia non sunt in potestate mentis, cui regnum totius animi a natura tributum est.«110 Prima facie lässt sich sagen, dass es im Menschen eine seelisch-geistige Instanz gibt, deren Relevanz für Hamann in der Fähigkeit zu herrschen besteht, sich also bestimmend zum eigenen Selbst in seiner Naturhaftigkeit zu verhalten. Beachtet man die von Hamann vorgenommenen Hervorhebungen durch Kursivdruck, ergibt sich ein Bezug zur anthropologischen Deutung des aristotelischen Begriffs des Bürgers als jemandem, der an der ›αρχή‹ teilhat.111 Der Mensch zeichnet sich durch das Vermögen und das Recht aus, über sich selbst zu herrschen, in dem Sinne, dass er das, was aus ihm wird, regulieren, bestimmen kann. Cicero nun versteht, folgt man seinen Erörterungen in den Tusculanen, dieses Herrschen anders, als es für Hamann zu vermuten ist. Der zitierte Satz gehört in den Zusammenhang einer Überlegung zu den Kriterien von Gesundheit und Krankheit der Seele. ›Gesundheit‹ liegt dann vor, wenn durch Herrschaft des Geistes (›potestas mentis‹) Ruhe und Ausgeglichenheit hergestellt werden und dadurch das Streben nach Weisheit möglich ist. ›Krankheit‹ hingegen entsteht dann, wenn 109 N III, S. 40. 110 N III, S. 40. »von denen man also sagt, sie hätten die Gewalt über sich verloren, sagt man es deshalb, weil sie nicht mehr unter der Gewalt des Geistes stehen, dem die Herrschaft über die gesamte Seele von Natur aus zugeteilt ist.« (Cicero: Tusculanae Disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch/ Deutsch. Übers. u. hg. von Ernst Alfred Krifel. Stuttgart 1997, III 5, S. 224–226). 111 Zu Anfang der Philologischen Einfälle heißt es: »Ich vermuthe daher, dass der wahre Charakter unsrer Natur in der richterlichen und obrigkeitlichen Würde eines politischen Thiers bestehe« (N III, S. 37). Hinter ›obrigkeitlich‹ ist eine Fußnote gesetzt, in der folgende Stelle aus Aristoteles Politik zitiert wird: πολίτης δ᾽ ἁπλῶς οὐδενὶ τῶν ἄλλων ὁρίζεται μᾶλλον ἢ τῷ μετέχειν κρίσεως καὶ ἀρχῆς (Aristoteles: Politik, 1275 a. Der einfache Bürger wird durch nichts mehr bestimmt als durch die Befugnis, an Rechtsprechung und Herrschaft teilzunehmen. Übers. A.K.). Aristoteles argumentiert, dass sich ein Bürger nicht durch das Wohnen an einem bestimmten Ort definiert (ὁ δὲ πολίτης οὐ τῷ οι᾿κεῖν που πολίτης ἐστίν, 1275 a), sondern durch seine Teilhabe an Entscheidungs- und Urteilsprozessen und daher an Regierung und Herrschaft zum Bürger wird. Hamann überträgt diese beiden Kriterien auf die Ebene der Anthropologie und betont ihren herausragenden Stellenwert, indem er sie als ›Charakter‹ bezeichnet, also als das Bleibende und Kennzeichnende für den Menschen.
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Anthropologie bei Hamann
Jähzorn (›ira‹) und/ oder Begierde (›libido‹) zum Verlust dieser geistigen Herrschaft führen und in der Seele Leidenschaften (›perturbationes‹), also Unruhezustände bestimmend werden.112 In diesem Zusammenhang wirkt das Cicerozitat geradezu unpassend, kennzeichnet das Hamannsche Denken seit den ersten Schriften doch eine emphatische Verteidigung der Leidenschaften sowie damit verbunden eine scharfe Polemik gegen »stoische[…] und abstrakte Kälte.«113 In der Aesthetica in Nuce fragt Hamann gegen Paulus: »Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind, hören sie deshalb auf, Waffen der Mannheit zu sein?«114 und konstatiert: »Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden?«115 Eine mir hier plausibel erscheinende Lösung ist, Hamanns Umgang mit Cicero als eine Aneignung zu verstehen und zwar als implizite Aufforderung an den Leser, die Polysemie von ›mens‹ und ›animus‹ zu berücksichtigen. So nämlich ist es möglich, den hier ausschlaggebenden Aspekt des Herrschens nicht einseitig mit einem intellektiven Prinzip zu verbinden, wobei ›Leidenschaften‹ den auszuschließenden Gegensatz bilden. ›Mens‹ kann ja ›denkender Geist‹, ›Verstand‹, ›Mut‹, ›Leidenschaft‹ und schließlich ›Seele‹, ›Geist‹ und ›inneres Wesen‹ bedeuten; ›animus‹ hingegen ›empfindende oder begehrende Seele‹. Nimmt man also Hamanns affirmatives Verhältnis zu den Leidenschaften ernst, muss ›mens‹ hier schlicht als inneres Wesen gelesen werden, welches dazu fähig ist, das Empfinden und Streben des Menschen zu bestimmen, ihm seine Ausrichtung vorzugeben.116 In anthropologischer Hinsicht aufschlussreich hat Hamann in einem Brief an Lavater das Wechselverhältnis von Leiden und Tun formuliert: 112 Vgl.: »omnis autem perturbationes animi morbos philosophi appellant […] sanitatem […] animorum positam in tranquillitate quadam constantiaque censebant […] ita fit ut sapientia sit sanitas animi, insipientia autem quasi insanitas.« (Cicero: Tusculanae Disputationes, III 4–5, S. 222–224; alle Leidenschaften aber nennen die Philosophen Krankheiten […] Sie meinten nämlich, die Gesundheit der Seele bestehe in einer gewissen Ruhe und Ausgeglichenheit. […] So ergibt sich, daß die Weisheit die Gesundheit der Seele ist, die Torheit aber gleichsam eine Art von Krankheit). 113 N III, S. 213. 114 Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten und Aesthetica in Nuce. Hg. von Sven Aage-Jorgensen. Stuttgart 1998, S. 119. 115 Hamann: Aesthetica in nuce, S. 113. 116 Andererseits findet sich bei Hamann durchaus eine bejahende Deutung stoischer Grundsätze und zwar in dem Sinne, dass er sich keinesfalls für eine unkontrollierte Hingabe an jedwede emotionalen Regungen ausspricht: »Der stoische Grundsatz: der Tugendhafte ist allein frey und jeder Bösewicht ein Sclave, bekommt aus dieser Erklärung gleichfalls sein Licht. Lüste und Laster hindern unsere Erkenntnis; die falsche Urtheile derselben verwirren daher unsere Selbstliebe. Wir glauben zu unserm Besten, zu unserm vergnügen, zu unserer Ehre zu handeln und wählen Mittel, die allen diesen Endzwecken widersprechen. Ist dies Selbstliebe? Wo diese nicht ist, kann auch keine Freyheit seyn.« (Brocken, S. 9).
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Erfahrungen, wie Einsichten, sind neue Prüfungen, geben zu neuen Zweifeln Anlaß. Unsere Passibilität steht immer im Verhältnis mit unserer Actibilität nach der neuesten Theorie über den Menschen – Eμαθεν αφ’ ων επαθε, Hebr. V. 8. gehört zur Nachfolge, die Kinder von Bastarden unterscheidet.117
Etwas zu erfahren oder zu erleiden, bedeutet nicht, diesem Einfluss ausgesetzt zu sein, von ihm determiniert zu werden, sondern ist im Gegenteil dasjenige, was einen Entwicklungs- oder Lernprozess initiiert – der durchaus einen ›kreativen‹, eigenständigen Charakter haben kann, indem Gedanken weitergeführt werden (»neue Zweifel«). Bezeichnenderweise hat Hamann im Zitat aus dem Hebräerbrief ein Detail ausgelassen: Bei Paulus geht es um Christi Errettung vom Tod, die dadurch erfolgte, dass er Gott Bitten und Flehen darbrachte – »δεήσεις τε καὶ ῾ικετηρίας προσενέγκας«118 – und durch seine Frömmigkeit – »ει᾿σακουσθεὶς ἀπὸ τῆς εὐλαβείας«119 – erhört wurde. Paulus folgert daraus, dass Christus, wenngleich er Gottes Sohn war, an seinem Leiden Gehorsam gelernt habe: »ἔμαθεν ἀφ᾽ ὧν ἔπαθεν τὴν ὑπακοήν«.120 Hamann verwendet das dekontextualisierte Zitat, um die These von einer Dialektik von Rezeptivem und Spontanem zu stützen, ruft aber dennoch den paulinischen Kontext in Erinnerung. Diesen kurzen Andeutungen gegenüber findet sich bei Hamann jedoch auch eine umfangreichere und für sein anthropologisches Denken zentralere Begründung dafür, warum die sozialen und kulturellen Prägungen des Menschen seine Selbsttätigkeit keineswegs überflüssig machen. Grundlage ist seine – positive – Rezeption der Humeschen Kausalitätskritik: Ja, Wißt ihr endlich nicht, Philosophen! Dass es kein physisches Band zwischen Ursache und Wirkung, Mittel und Absicht giebt, sondern ein geistiges und idealisches, nämlich des Köhlerglaubens, wie der größte irrdische Geschichtsschreiber seines Vaterlandes und der natürlichen Kirche verkündiget hat! 121
Der Irrtum der ›Philosophen‹ besteht darin, kausale Beziehungen als real-ontologische Gegebenheiten anzusehen, anstelle sie mit Hume als Produkt menschlicher Wahrnehmung und ihrer Gewohnheit anzuerkennen. Worin besteht die Funktion dieser Berufung auf Hume? Hamann geht es darum, nachzuweisen, dass elementare menschliche Handlungen – hier Essen und Trinken, aber auch der aufrechte Gang – zwar kulturell verschiedene Formen annehmen, aber nichtsdestoweniger ›angeborene Einfälle‹ anstelle von ›künstlichen Sitten‹ sind. So steht in der Passage, die sich unmittelbar an den Verweis auf Hume anschließt, ein rückbezügliches ›also‹: 117 118 119 120 121
An Johann Caspar Lavater, 18. 01. 1778. ZH IV, S. 5. Hebr. 5, 7. [Bitten und Flehen darbringend, Übers. A.K.]. Hebr. 5, 7. [und er wurde wegen seiner Gottesfurcht erhört, Übers. A.K.]. Hebr. 5, 8. [Er erlernte an dem, was er erlitt, den Gehorsam, Übers. A.K.]. N III, S. 29.
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Anthropologie bei Hamann
Der glückliche Versuch, Leib und Seele durch Eicheln zusammen zu halten, war also eine Erfindung eurer gelehrigen und witzigen Erzväter, die sich Aborigines oder Autochthones, in einer mehr grunzenden als blöckenden Naturaussprache nannten, und das Glück hatten, in großen Eichenwäldern zur Welt zu kommen, wo sie, unter der güldnen Regierung der theuren Zeit, gewiß alle verhungert wären, wenn sie nicht durch den zufälligen Unterricht ihrer Nebenbuhler und Unterthanen auf der Mast, zur cynischen Diät der Eicheln sich flugs entschlossen hätten.122
Aus der Prämisse, dass kausale Beziehungen nur innerhalb menschlich-subjektiver Wahrnehmung vorhanden seien, folge, so der Schluss, dass die Nahrungsaufnahme eine ›Erfindung‹ sei. Wichtig ist, dass Hamann das allgemeine Problem der Kausalität auf eine spezifische Fragestellung, nämlich die der Beziehung zwischen Leib und Seele, anwendet und damit einen Bereich wählt, in welchem sich ganz besonders dringlich die Frage nach dem Verhältnis von Ursachen und Wirkungen stellt.123 Vorausgesetzt es handele sich um zwei real und nicht bloß begrifflich unterschiedene Substanzen, drängt sich ja die Frage auf, wie beide miteinander interagieren können. Wie ist es etwa zu erklären, dass der Hunger als eine körperliche Empfindung die Ursache für das Essen als psychischer Handlung sein kann? Die Antwort hängt hier ganz entscheidend von der Vorstellung von Kausalität ab, die man zugrunde legt. Geht man von der Realität kausaler Verhältnisse aus, so ist eben die ›sensatio‹ des Hungers dasjenige, was das Essen als ›reactio‹ auslöst oder gleichsam ›necessitiert‹. Hält man hingegen an der Idealität dieses Verhältnisses fest, so bedarf es eines zusätzlichen Schrittes, um zu einer plausiblen Erklärung zu gelangen. Hamanns Vokabular – Ausdrücke wie ›glücklicher Versuch‹ und insbesondere ›sich flugs entschließen‹ – lassen vermuten, dass es um einen im Grunde dezisionistischen Ansatz handelt.124 Demgemäß würde der Mensch den Hunger zunächst einmal physisch empfinden und sich einmalig, unter dem Druck der Notlage und ohne großes Überlegen – wie es für dezisionistisches Denken charakteristisch ist – spontan zum Essen der Ei122 N III, S. 29. 123 Hume selbst stellt sich das Problem, wie Geistiges auf Körperliches einwirken kann insofern, als eine solche Einwirkung zwar als real erfahren, aber nicht erklärt werden kann. Vgl. David Hume: Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals. Reprinted from the posthumous edition of 1777 and edited with introduction, comparative table of contents, and analytical index by L.A. Selby-Bigge. Oxford 1975, S. 74: »The same difficulty occurs in contemplating the operations of mind on body – where we observe the motion of the latter to follow upon the volition of the former, but are not able to observe or conceive the tie which binds together the motion and volition, or the energy by which the mind produces this effect.« 124 Unter Dezisionismus verstehe ich hier mit Lübbe eine Entscheidung, die »in einer Situation unter Zeitdruck und entsprechendem Handlungszwang fällt, bevor noch die ›Gründe‹ […] beieinander waren, die sie […] zur ›richtigen‹, erfolgssicheren Entscheidung hätten machen können« (Zitiert nach: Hasso Hofmann: Art. »Dezision, Dezisionismus.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2, Sp. 159–161, hier Sp. 161).
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cheln entscheiden. Diese Entscheidung wiederum würde sich dann, um nicht fortwährend erneut aktualisiert werden zu müssen, zu einer Verhaltensgewohnheit kristallisieren. Grundlage ist dabei das, was Hamann, sich Humes Konzeption des ›belief‹ aneignend, als ›Köhlerglaube‹ bezeichnet. Damit akzentuiert er den praktischen gegenüber dem theoretischen Aspekt, die »unmittelbar einleuchtende Erkenntnisweise«125 oder Intuition. Für den einfachen Menschen ist es durchaus hinreichend zu empfinden und eben zu glauben, dass sein Wille, zu essen etwas mit der Empfindung des Hungers zu tun hat. Wichtig ist, dass es zu einer Handlung kommt, nicht aber, diese auch noch zu erklären. Die emotionale Intensität, die Hume als Kriterium für die Verlässlichkeit des ›belief‹ in Abgrenzung zu den unter Umständen täuschenden Vorstellungen der Imagination nennt,126 reicht aus, um die lebenspraktisch notwendigen Handlungen ausführen zu können. Man sieht die erheblichen Unterschiede zwischen den beiden möglichen Erklärungen: Im ersten Fall ist die Rede von einem Ablauf, der den Willensakt außer Acht lässt, wohingegen es im zweiten Fall um ein eigenes freies Handeln geht. Entsprechend findet sich bei der Parodierung der Vorstellung von Essen und Trinken als ›geerbter und künstlicher Sitte‹ eine sehr heteronome Darstellung des Menschen. Die Menschen hätten nicht Essen und Trinken gelernt, »wenn ihnen nicht ihre Ammen oder Mütter den Brey ums offene Mäulchen geschmiert und das große Geheimnis der Verdauung treulich abgewartet hätten.«127 Dies lässt die These von einem nicht ursprünglichen aufrechten Gang des Menschen absurd erscheinen, wenn man mit Hamann annimmt, dass beide Fähigkeiten derselben Logik unterliegen. Selbstverständlich bedarf der Mensch der Anderen, um überhaupt überleben zu können, was aber nicht bedeutet, dass das sodann von ihm angenommene Verhalten, in dem konkreten Beispiel das Annehmen des Essens und der Verdauungsprozesse etwas zur Natur des Menschen Gehöriges ist. Es bedarf mithin lediglich eines von außen kommenden Anstoßes, damit dem Menschen eigene Verhaltensweisen auch aktualisiert werden. Eine noch etwas genauere Beschreibung von Hamanns Vorstellung der ›Natürlichkeit‹ elementarer menschlicher Verhaltensweisen lässt sich aus dem 125 Thomas Brose: Johann Georg Hamann und David Hume. Metaphysikkritik und Glaube im Spannungsfeld der Aufklärung. Bd. II. Berlin, New York u. a. 2006, S. 535. 126 Vgl. Hume: Enquiries, S. 48–49: »Whenever any object is presented to the memory or to the senses, it immediately, by the force of custom, carries the imagination to conceive that object, which is usually conjoined to it; and this conception is attended with a feeling or sentiment, different from the loose reveries of the fancy. In this consists the whole nature of belief. […] I say, then, that belief is nothing but a more vivid, lively, forcible, firm, steady conception of an object, than what the imagination alone is ever able to attain.« 127 N III, S. 29.
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Ausdruck ›Erfindung‹ entnehmen. Hamann hatte nämlich, um zu erläutern, in welcher Hinsicht von einem göttlichen Ursprung der Sprache gesprochen werden kann, mittels eines Tertullianzitats eine begriffliche Unterscheidung zwischen ›inventio‹ und ›institutio‹ getroffen: »invenisse dicuntur necessaria istae vitae, non instituisse; quod antea invenitur, fuit, et quod fuit, non eius deputabitur qui invenit, sed eius qui instituit. Erat enim antequam inveniretur.«128 Die ›inventio‹ setzt also die ›institutio‹ voraus. Damit etwas überhaupt ›erfunden‹ werden kann, muss es schon existieren. Im Hinblick auf die Sprache waren die ›Sprachwerkzeuge‹ Zunge (›lingua‹) und Stimme (›vox‹) vorhanden. Im Bezug auf das Essen ist dies natürlich einmal die physiologische Beschaffenheit des Menschen inklusive der körperlichen Signale wie Hunger und Durst. Hinzu kommt aber auch die Nahrung, die ›Eicheln‹. An dieser Stelle tritt zur Vorstellung von einem spontanen Sich-Entscheiden aus der Notlage heraus, diejenige einer Kontingenz hinzu. Es heißt ja, dass die ›Erzväter‹ der Philosophen ›das Glück hatten‹ gerade dort geboren zu sein, wo Eicheln im Überfluss vorhanden sind. Hier ist es dienlich, eine weitere Bedeutung von ›invenire‹ zu berücksichtigen, insofern es auch ›zufällig stoßen auf, finden‹ heißen kann. Es gibt also einen an sich kontingenten externen Umstand, der den Auslöser dafür darstellt, dass der Mensch ihm wesentlich eigene Verhaltenspotentiale aktualisiert und weil dies wie selbstverständlich geschieht, ist es absurd, von einer ›künstlichen Sitte‹ zu sprechen. Recht pointiert formuliert wird diese Konzeption mit dem auf den ersten Blick paradox anmutenden Ausdruck »angeborener Einfall«129, den Hamann zuvor als eine Alternative zur These von der ›künstlichen Sitte‹ verwendet hatte. Was angeboren ist, ist vorhanden und muss einem nicht erst einfallen. Und umgekehrt muss, was Gegenstand eines Einfalls ist, ein Novum darstellen und kann eben deshalb nicht angeboren sein. Gerade das aber widerspricht dem perspektivisch abwägenden Stil von Hamanns Argumentation. Das Essen, das aufrechte Gehen und letztlich das Sprechen sind ›angeborene Einfälle‹ in dem Maße als der Mensch über etwas ihm Anerschaffenes, ein ›concreatum‹ verfügt, welches es ihm ermöglicht, die entsprechenden Handlungen auszuführen. Dies korreliert mit Hamanns Auffassungen zum Lernen: Der Mensch lernt, alle seine Gliedmaßen und Sinne […] brauchen und regieren, weil er lernen kann, lernen muß und eben so gerne lernen will. Folglich ist der Ursprung der Sprache so natürlich und menschlich als der Ursprung aller unserer Handlungen, Fertigkeiten und Künste. Ohngeachtet aber jeder Lehrling zu seinem Unterrichte mitwirkt nach Verhältnis seiner Neigung, Fähigkeit und Gelegenheit zu lernen: so ist doch
128 N III, S. 27. 129 N III, S. 28.
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Lernen im eigentlichen Verstande eben so wenig Erfindung als bloße Wiedererinnerung.130
Dass der Mensch mit anderen Worten lernend Fähigkeiten erwirbt, diese also nicht von Anfang an ›hat‹, heißt nicht, dass sie ihm nicht natürlich wären. Er verfügt über etwas in ihm Angelegtes, das nur noch der ›Gelegenheit‹ bedarf, um als solches hervorzutreten. Es handelt sich hier einerseits nicht um ›Erfindungen‹, weil der Mensch nicht etwas schlechthin Neues hervorbringt, sondern dieses bereits in sich findet und andererseits nicht um ›Wiedererinnerung‹, weil Hamann nicht von einem Zustand der Präexistenz ausgeht, in welchem die Fähigkeiten des Menschen schon voll entwickelt vorhanden gewesen wären.
4.3
Sensus Communis
Zu den Folgerungen, die Hamann aus seinem Freiheitsbegriff zieht, gehört es auch, Instinkt und ›sensus communis‹ als menschliches Verhalten bestimmende Instanzen abzulehnen. Erklärungsbedürftig ist dies bezüglich des ›sensus communis‹, zumal dieser Ausdruck ausgesprochen mehrdeutig ist. Er kann erkenntnistheoretische Bedeutung haben als ›Gemeinsinn‹, welcher die Daten der verschiedenen Sinne zu einem Gesamteindruck zusammenfügt, als Synonym für den gewöhnlichen, jedem Menschen eigenen Verstand verwendet131 oder moralphilosophisch als Urteilsvermögen132 bestimmt werden. Der Ausdruck beinhaltet in seiner Mehrdeutigkeit also einen sinnlichen und einen intellektiven, einen eher normativen und einen eher theoretischen Aspekt. Eine aufschlussreiche Auseinandersetzung Hamanns findet sich in der Schrift Kleiner Versuch über große Probleme von 1775, weil dort Fragen hinsichtlich der theoretischen und praktischen, die menschliche Gesellschaft betreffenden Rolle der ›gesunden Vernunft‹ erörtert werden. Eine detaillierte Analyse hat bereits 130 N III, S. 41. 131 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, S. 293: »Der gemeine Menschenverstand, den man, als bloß gesunden (noch nicht kultivierten) Verstand, für das geringste ansieht, dessen man nur immer sich von dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen kann, hat daher auch die kränkende Ehre, mit dem Namen des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden; und zwar so, daß man unter dem Worte gemein […] so viel als das vulgare, was man allenthalben antrifft, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist.« 132 Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 293: »Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde.«
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Anthropologie bei Hamann
Wolfgang Dieter Baur vorgenommen.133 Im Folgenden soll es daher darum gehen, die anthropologischen Implikate herauszuarbeiten und zwar insbesondere diejenigen, die direkt auf naturrechtliche Fragestellungen hindeuten. Anders gesagt, darum, den Kleinen Versuch als einen Text zu lesen, der gerade in seiner ideologie- und, man kann ergänzen, machtkritischen Intention134 weitere Fragen an das Denken Hamanns nicht so sehr klärt als diese vielmehr aufwirft. Mit dem Eingangszitat aus Petrons Satyricon bestimmt Hamann den Ansatz seiner Kritik, indem er die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Thema des öffentlichen Sprachgebrauchs legt, genauer: auf die Möglichkeit, Sprache als Mittel der Beeinflussung und Machtausübung zu verwenden. Das Stichwort ist hier die Deklamation, bei Petron vertreten durch die ›declamatores‹, welche, wie die Figur des Enkolp ironisch fragt, durch eine andere Art von Furien heimgesucht werden (»alio genere furiarum Declamatores inquietantur«). Hamann greift Deklamation an einer späteren Stelle wieder auf, nämlich im Zusammenhang eines Zitats aus Diderots Erzählung Unterredung eines Vaters mit seinen Kindern,135 in welcher das Problem der Urteilsberechtigung der gesunden Vernunft in moralischrechtlichen Streitfragen verhandelt wird. Vor dem Hintergrund des Petronzitats ist dem Leser bereits eine bestimmte Perspektive auf die Passage aus der Erzählung nahe gelegt. Es geht um die rhetorische Selbstinszenierung der Vertreter einer gesunden Vernunft, die einem hinterfragenden Blick eben dasjenige zeigt, was bei Petron für die ›declamatores‹ festgestellt wird: dass ihnen der Fehler, den sie bei anderen kritisieren, selbst unterläuft: Ein allwissender Encyclopädist […] erschien im Geist ohne Beruff, wie er voraussetzen musste, am Siechbette. Hier declamirte er trotz den Furien eines Theatertyrannen oder hypokritischen Priesters: ›Unglücklicher! Mache geschwind fort, daß du stirbst! – Stirb! Und man sage nicht, daß durch meine Kunst und Bemühungen ein Ungeheuer mehr in der Welt sey.‹ War die ganze Kunst und Bemühung wohl den Götterbißen eines Pfifferlings werth, gesetzt auch, daß sich der Patient über diese Mummerey des neologischen W=doctors von seinem hypochondrischen Seitenstechen ledig und gesund gelacht hätte? 136
Anders als Baur würde ich diese Passage nicht als eine Veranschaulichung der schädlichen, anarchistischen Konsequenzen einer natürlichen Moral lesen.137 Schaut man sich die entsprechende Passage aus der Erzählung Diderots an, wird 133 Wolfgang-Dieter Baur: Johann Georg Hamann als Publizist. Zum Verhältnis von Verkündigung und Öffentlichkeit. Berlin, New York 1991. 134 Baur: Hamann als Publizist, S. 202. 135 Zu Hamanns Stilisierung Diderots als Verfasser von Le Bon Sens und seiner Verwendung der Erzählung als einer Rahmenhandlung vgl. Baur: Hamann als Publizist, S. 192–194 und S. 198–201. 136 N IV, S. 414. 137 Baur: Hamann als Publizist, S. 217–219.
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deutlich, dass es bei der Begründung des Philosophen dafür, einen Straftäter sterben zu lassen, ohne für die eigene Urteilsberechtigung ein Richter sein zu müssen, um andere Konzepte geht. Der Diderotsche Philosoph beruft sich bei seiner Zurückweisung der Argumente des Arztes für eine Heilung des Straftäters nicht auf ein bei allen Menschen gleiches Empfinden. Es geht in seiner Argumentation vielmehr um eine Deutung des Begriffs Beruf in rechts- und gesellschaftstheoretischer Hinsicht. Zuvor hatte Bissei, der Arzt, argumentiert: »Ihn zu heilen ist meine Sache, nicht ihn zu richten. Ich will ihn heilen, weil es mein Handwerk ist; hernach wird ihn die Obrigkeit hängen lassen, weil solches das ihrige ist.«138 Bissei vertritt die Konzeption einer nach spezifischen Funktionen rechtlich differenzierten Gesellschaft. Richtig handelt derjenige, der ausgehend von seiner Teilfunktion innerhalb des Gesellschaftsganzen das Seinige tut, was konkret bedeutet, gemäß der ethischen Vorgaben und Befugnisse der eigenen Profession zu handeln. Das beinhaltet auch, sich nicht die Handlungsbefugnisse derjenigen, die eine andere Profession ausüben, anzueignen. Zum Ethos des Arztes gehört es, einen Kranken zu heilen und zwar ohne Ansehung seines Lebenswandels. Diesem dem Prinzip des ›suum cuique‹ verpflichteten Rechtsverständnis setzt der Philosoph eine Vorstellung der Universalität menschlicher Urteilsberechtigung entgegen: Aber, Herr Doktor, es giebt einen Beruff, der jedem rechtschaffnen Bürger, Ihnen und mir, gemein ist. Nämlich nach allen Kräften zum Nutzen des gemeinen Wesens zu arbeiten. Und die Erhaltung eines Missethäters, von dem die Gesetze es unverzüglich befreien werden, ist, dünkt mich, kein Nutzen für dasselbe.139
Wenig später ergänzt er: »Ich gebe mich also nicht damit ab, den ins Leben zurückzubringen, dessen Ankläger zu seyn mir die natürliche Billigkeit, die Wohlfahrt der Gesellschaft, und die Sicherheit meiner Brüder einschärfen.«140 Indem Hamann von dem Enzyklopädisten schreibt, er erscheine ›ohne Beruf‹ am Bett des Kranken, bezieht er Stellung. Der Enzyklopädist erscheint und urteilt ohne berufen zu sein, also ohne die nötige Autorisierung. Damit verweist Hamann genau auf ein Problem in der zeitgenössischen Diskussion um die natürliche Billigkeit. Es geht nämlich um die Befugnis und Berechtigung zum Urteilen nicht nur für sich selbst, sondern innerhalb eines gesellschaftlich und rechtlich relevanten Zusammenhangs. Wolfram Mauser hat gezeigt, dass dieses Problem paradigmatisch in der Verknüpfung des Konzepts von Billigkeit mit Mündigkeit zum Ausdruck kommt und dabei zugleich auf das emanzipatorische, 138 Denis Diderot: Unterredung eines Vaters mit seinen Kindern. Oder: Von der Gefahr, sich über die Gesetze hinwegzusetzen. In: Moralische Erzählungen und Idyllen. Miteverfasst und übers. von Salomon Gessner. Zurich: bey Orell 1772, S. 181. 139 Diderot: Unterredung; S. 181–182. 140 Diderot: Unterredung, S. 186.
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Anthropologie bei Hamann
auf soziale und politische Verantwortung zielende Anliegen der Diskussion verwiesen: [E]s ging darum, dem Selbstdenken Raum zu geben, und das hieß vor allem, es zu ermöglichen, dass man in Konfliktfällen – unabhängig von Institutionen – aus eigener Kraft Regelungen für das Zusammenleben findet. Mündiges Denken war Denken nach dem Grundsatz der aequitas (Billigkeit).141
Gemäß der Vorstellung einer solchen Mündigkeit argumentiert auch der Philosoph der Erzählung, indem er als verpflichtenden Grund seiner Handlung zwei Argumente anführt, das des ›bonum commune‹ als ein bei rechtlichen Entscheidungen zu beachtendes Ziel und das der Brüderlichkeit. Es geht mithin um zwei Ebenen, eine eher intellektive und eine eher emotional begründete. Indem er sich auf die ›Sicherheit seiner Brüder‹ beruft, positioniert sich der Philosoph nicht als von der sozialen Lebenswirklichkeit getrennt, sondern in erster Linie als Mensch und als Gesellschaftsmitglied, das ausgehend von seiner Empfindung der Verbundenheit mit seinen Mitmenschen versucht, die beste Lösung in einem Konfliktfall zu finden, dabei aber freilich überzeugt ist, »den ›richtigen Blick‹ zu haben.«142 Entsprechend finden sich in der Erzählung eine Reihe von Passagen, in welchen der Philosoph – auch gegen die Entscheidung seines Vaters argumentierend – das Herz als Quelle moralischer Richtlinien und Handlungsmotivationen ausweist.143 Wenn der Philosoph resümierend feststellt, »wie furchtbar das Ansehn der religiösen Vorurtheile auch bey den besten Köpfen sey; und welchen schädlichen Einfluß ungerechte Gesetze und falsche Grundsätze auf die gesunde Vernunft und natürliche Billigkeit haben,«144 dann vertritt er kein Vernunftverständnis, das sich durch ein reines, lediglich der konsequent logischen Argumentation verpflichtetes Denken auszeichnet.145 Es geht ihm im Gegenteil um ein im Begriff des Menschen zusammenfallendes Miteinander von Denken und Fühlen, um das Herz und die ›ratio‹ als Appellinstanz. Andererseits aber stellt die Berufung auf das Prinzip der Billigkeit gerade in diesem Zusammenhang, wo es um die Entscheidung über das Leben eines Menschen geht, sowohl in sozialethischer als auch in rechtspraktischer Perspektive geradezu einen Bruch mit eben diesem Prinzip dar. Waren in sozial141 Wolfram Mauser: Billigkeit. Literatur und Sozialethik der deutschen Aufklärung. Ein Essay. Würzburg: 2007, S. 30. 142 Mauser: Billigkeit, S. 30. 143 Vgl.: »Ihr hättet euerm Herzen Gehör geben sollen, das seither niemals aufgehört hat, dawider zu schreyen.« (Diderot: Unterredung, S. 217). 144 Diderot: Unterredung, S. 216. 145 Auf die Erzählung Diderots lässt sich demnach nicht die Kritik anwenden, die Hamann berechtigterweise an Helvétius übt, dass bei letzterem nämlich die einseitige Betonung des Verstandes zu einer Vernachlässigung des Sinnlichen und Emotiven führe. Vgl.: von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 253.
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ethischer Hinsicht Gewogenheit und eine »humane[…] Grundeinstellung«146 Kennzeichen des billig Handelnden, so wurde Billigkeit in rechtspraktischer Hinsicht mit Milde und Nachsicht verbunden und daher auch in einem Atemzug mit Menschlichkeit genannt.147 In diesem Sinn wird Billigkeit auch in der Encyclopédie definiert, nämlich erstens als Korrektiv gegenüber der Strenge geschriebener Gesetze und zweitens als moralisches Handlungsprinzip zur Regelung der Pflichten der Menschen untereinander.148 Indem Hamann den Philosophen der Erzählung mit Diderot als dem Herausgeber der Encyclopédie identifiziert, lenkt er den Blick des Lesers auf den anmaßenden, zur Unmenschlichkeit führenden Gebrauch bzw. Missbrauch eines ursprünglich auf ein humanes Miteinander zielenden Prinzips. Auf die Unmenschlichkeit des Enzyklopädisten scheint Hamann zudem anzuspielen, wenn er kommentierend fragt, ob dessen Kunst wohl »den Götterbissen eines Pfifferlings« wert sei. Als Erläuterung ist eine Passage bei Dio Cassius angeführt, in der berichtet wird, dass Nero die Pilze als Nahrung der Götter zu bezeichnen pflegte: »Νεροων – - τους γαρ μυκητας θεων βρωμα ελεγον ειναι.« Dieser Satz wiederum steht aber im Zusammenhang mit dem Tod seines Vorgängers Claudius, der, nachdem er durch Pilze vergiftet worden war, unter die Götter versetzt worden sei, dadurch aber natürlich Nero die Herrschaft überließ.149 Hamann vergleicht so implizit den Enzyklopädisten mit Nero, so dass dessen Anspruch, zu wissen, dass der Tod »das beste [sei], was dir, für andere und für dich, begegnen kann«150 als Machtanspruch charakterisiert wird. In Anknüpfung an diese Anekdote beschreibt Hamann seine atheistischen Gegner als die »jüngsten Erdschwämme, deren kleinster Finger dicker ist als des eitelsten Priesters Lenden.«151 Die Funktion dieser Metapher besteht nicht allein darin, eine spontane, überraschend schnelle Verbreitung atheistischen Gedan146 Mauser: Billigkeit, S. 30. 147 Mauser: Billigkeit, S. 73; 79–81. 148 Art. »Equité.« In: Encyclopédie Bd. 5, S. 894: »les Anglois ont une cour de chancellerie ou d’équité, pour tempérer la séverité de la letter de la loi«; sowie S. 895: »elle est de la derniere nécessité […] dans la pratique de tous les devoirs des hommes les uns envers les autres, don’t elle est la regle & le fondement.« [Die Engländer haben einen Gerichtshof des Kanzlers oder der Billigkeit, um die Strenge des Buchstabens des Gesetzes zu mäßigen. Sie [die Billigkeit] ist äußerst notwendig in der Ausübung aller Pflichten der Menschen einander gegenüber, von denen sie die Regel und die Grundlage ist. Übers. A.K.]. 149 Art. »Champignon.« In: Encyclopédie Bd. 3, S. 80: »Néron avoit coûtume d’appeler les champignons le ragout des Dieux, parce que Claude, don’t il fut le successeur, empoisonné par des champignons, fut mit après sa mort au nombre des Dieux.« [Nero bezeichnete die Pilze gewöhnlich als Ragout der Götter, weil Claudius, dessen Nachfolger er war, nach seinem Tod unter die Götter versetzt wurde, nachdem er durch Pilze vergiftet worden war. Übers. A.K.]. 150 Diderot: Unterredung, S. 185. 151 N IV, S. 415.
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kenguts zu suggerieren, sondern kann – im Rekurs auf das zeitgenössische Wissen über Pilze –als eine rhetorische Strategie interpretiert werden, die beiden Hauptmerkmale des Vernunftbegriffs bei d’Holbach und Diderot, nämlich Gesundheit und Reinheit,152 in Zweifel zu ziehen und dabei das Hauptargument, der Atheismus stelle eine Befreiung dar, ad absurdum zu führen. In Zedlers Universal-Lexikon findet sich folgende Definition von Pilzen: Insgemein werden die Schwämme und Biltze für ein Auswurff und eine überflüssige Feuchtigkeit des Erdreichs […] gehalten, dahero sie auch so eine kleine Zeit dauren sollen, masssen sie binnen sieben Tagen wachsen und wieder vergehen: wiewohl ihre Bildung, Structur und Wachsthum zeiget, dass sie ein in ihrer Art vollkommen, vegetabilisches Gewächse seyn, so ein eigenes Agens […] in sich hat.153
Pilze – und übertragen also Atheisten – wären, wie es die Bezeichnung ›Auswurf‹ nahe legt, das Ergebnis eines biologischen Reinigungsvorgangs, bei dem schädliche Materien abgesondert und ausgestoßen würden.154 Zedler rät dazu, vom Genuss der Pilze abzusehen, da diese etwas Unreines an sich hätten.155 Letzteres wird besonders deutlich in einer Anekdote, welche sowohl bei Zedler als auch in der Encyclopédie berichtet wird.156 Für Hamann erscheint sie mir relevant, weil er vom ›Finger‹ der Atheisten spricht und so der biblische Bezug157 durch einen zeitgenössischen, medizingeschichtlichen ergänzt wird. Die Entstehung von Pilzen wird im Zusammenhang mit mangelnder Hygiene bei Kranken thematisiert und durch das neue Wissen über die Fortpflanzung von Pilzen erklärt: Einem unter Rachitis leidenden Kind wurden wegen krummer Schenkel Schienen angelegt. Unter den Verbänden fand man mehrfach Pilze, »die so dicke als ein Finger waren.«158 Eine Erklärung fand man darin, dass die Schienen aus Apfelholz waren, »où les champignons naissent facilement, & dans lequel il y avoit sans doute de la graine de cette plante.«159 Befördert wurde der Pilzwachstum durch die Körperwärme des Kindes und seinen Urin: »Il arrivoit donc que la chaleur de l’enfant, qui étoit emaillotteé, & son urine qui abreuvoit souvent
152 Vgl. N IV, S. 415: »um diese Art des philosophischen Aussatzes […] für rein zu erklären.« 153 Art. »Biltz.« In: Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 3. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1733. Graz 1961, Sp. 1852–1864, hier Sp. 1853. 154 Art. »Speichel.« In: Zedler: Universal-Lexikon. Bd. 38, Sp. 1400–1411, hier Sp. 1400: »in gemeiner Bedeutung verstehet man dadurch einen wässerigen Unflath, so […] durch den Mund ausgeworffen wird, welches man SPUTUM nennet.« 155 Art. »Biltz« Sp. 1858–1859. 156 Vgl. Art. »Biltz«, Sp. 1861–1862; Art. »Champignon«, S. 83. 157 Vgl. dazu Baur: Hamann als Publizist, S. 222–223. 158 Art. »Biltz«, Sp. 1861. 159 Art. »Champignon«, S. 83. [wo die Pilze leicht entstehen, und worin sich zweifelsohne Samenkörner dieser Pflanze befanden].
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les éclisses, développoient les semences de champignon, & les faisoient éclorre en vingt-quatre heures, comme il arrive ordinairement dans la campagne.«160 In Rückübersetzung dieser Implikate auf den ›bon sens‹ bei d’Holbach müsste man sagen, dass der Atheismus nicht dazu dient, die Menschen von ihren Vorurteilen zu heilen – »les guérir de leurs préjugés«161 – sondern genau umgekehrt seinerseits mit krankhaften Erscheinungen einhergeht und diese eher befördert und perpetuiert als beseitigt. Letzteres legt insbesondere Hamanns Gebrauch der Redewendung sich »nach der Schwemme in seinen eigenen Auswürfen zu wälzen«162 nahe. Die Atheisten sind nicht nur in der metaphorischen Bezeichnung als Erdschwämme eine Form des Auswurfs, des Unreinen und Krankhaften, sondern verfestigen in metonymischer Verknüpfung das mit dem Auswurf verbundene Übel, indem sie es wieder in sich aufnehmen. Es findet, wie Baur argumentiert, ein »bloße[r] Austausch der Vormünder«163 statt, nicht hingegen eine wirkliche Befreiung des Menschen. Hamanns Bezugnahmen auf die Figur des Philosophen bei Diderot akzentuieren dies: Hamann spricht vom Philosophen, nicht von einem »rechtschaffen Mann«164 als den Diderot sich beschreibt. In seinem Anspruch über ein Wissen zu verfügen, das andere Menschen nicht haben und das sie auch nicht besitzen sollten,165 setzt der Philosoph dasjenige fort, was er den Priestern vorwirft, nämlich Andere durch ein geschütztes, nur einer Elite vorbehaltenes Wissen lenken zu wollen. Bei diesem Wissen handelt es sich jedoch um etwas, das erst aus einer partikularen Perspektive gewonnen wird. Worauf der Kleine Versuch abhebt ist, als ein Aspekt der Partikularität, die Körpergebundenheit der Vernunft. Wenn diese »ein allgemeines Phänomen jedes gesunden Augapfels«166 ist, ist sie zwar allen gemeinsam, aber eben nicht auf die gleiche Weise. Sie unterscheidet sich je nach der individuellen Perspektive des Sehenden. Hamann greift so eine im Wissenshorizont seiner Zeit durchaus verbreitete Überlegung auf, die er bereits 1764 im Versuch über eine akademische Frage zitiert hatte. Dort heißt es, dass sich »unsere Vorstellungen nach dem Gesichtspunct der Seele richten«, der wiederum 160 Art. »Champignon«, S. 83. [Es geschah also, dass die Körperwärme des Kindes, das verbunden war und sein Urin, der oft die Schienen durchtränkte, zur Entwicklung der Pilzsamen führte und sie in 24 Stunden aufblühen ließen, wie es gewöhnlich auf dem Land geschieht]. 161 D’ Holbach: Le Bon-Sens, Préface (unpaginiert). 162 N IV, S. 415. 163 Baur: Hamann als Publizist, S. 223. 164 Diderot: Unterredung, S. 211. 165 Vgl.: »Ich will sie [d. h. seine moralischen Grundsätze, A.K.] nicht predigen. Es giebt Wahrheiten, die nicht für Narren gemacht sind; aber ich will sie für mich behalten.« (Diderot: Unterredung, S. 212). 166 N IV, S. 416.
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»nach vieler Meynung durch die Lage des Körpers bestimmt wird.«167 Dasjenige, was der Mensch über sich und die Welt weiß – und zwar sowohl in Form eines sozialen Meinungswissen als auch in der Form wissenschaftlicher Theorien –, ist nicht das Ergebnis eines ›reinen‹ von der Sinnlichkeit unabhängigen Denkaktes, sondern durch die individuell und sozial verschiedene Position innerhalb der Sinnlichkeit vermittelt. Ausgehend von dieser Perspektivität der Vernunft betont Hamann die Relevanz anthropologischer Studien. Angesichts der Irrtümer der Vernunft bei naturwissenschaftlichen, kosmologischen Untersuchungen sei es für den Menschen wichtiger über die Bedingungen seines eigenen Erkennens Aufschluss zu erhalten anstelle sich bei den Untersuchungen über die Beschaffenheit der äußeren Wirklichkeit in Irrtümer und Missverständnisse zu verstricken: Ich überlaß es einem meiner jüngsten Freunde, der kein Speculant, sondern ein eben so treuer als schlauer Selbstbeobachter ist, die Sehgesetze unserer Seele zu entwickeln, woran vielleicht bey den ewigen Miverständnissen unserer Bravi orbi und blinden Farbensplitterer mehr gelegen ist, als an dem Newtonismo im Reifrock eines versteinerten Ovids.168
Baur hat darauf hingewiesen, dass Hamann hier Herders Schrift Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele empfiehlt.169 Ein Blick in diese Schrift lohnt sich, weil sich dort eine Erkenntnistheorie findet, die erstens gelesen werden kann als Erwiderung auf die Gefahr eines aus dem Gedanken der Perspektivität erwachsenen Relativismus und die zweitens Argumente liefert gegen den Vorwurf, dass der Mensch bei einer religiösen Orientierung lediglich eigene Empfindungen in die Natur projiziere. Dabei greift Herder Gedanken aus Hamanns Frühschriften auf. Herder argumentiert einleitend, dass der Mensch die Natur als einen Zusammenhang des Lebendigen, als »würkende[…] Kräfte«170 wahrnimmt, ausgehend von einer empfundenen Ähnlichkeit mit sich selbst: »der empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt drauf sein Bild, sein Gepräge.«171 Dadurch, dass der Mensch Ähnlichkeitsrelationen wahrnimmt und sich in Beziehung zum Wahrgenommenen setzt, bringt er ein individuelles Weltbild hervor, das zwar in seiner Individualität richtig ist, aber nicht als objektiv gültige Aussage über die Welt an sich verallgemeinert werden kann. Herder fährt daher fort: »So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Buffon in seiner Kosmogonie, und Leibniz in seiner 167 168 169 170
N II, S. 122. N IV, S. 416. Baur: Hamann als Publizist, S. 240. Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume. Riga: Hartknoch 1778, S. 3. 171 Herder: Vom Erkennen, S. 4.
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prästabilirten Harmonie und Monadenlehre.«172 Richtiger wäre es, die Gebundenheit menschlichen Erkennens und Sprechens an Bilder – also an individuelle sinnliche Anschauungen und an Ähnlichkeitsrelationen als Grundlage der Begriffsbildung – anzuerkennen, anstelle durch ihre Leugnung in Irrtümer zu verfallen: »Die Weltweisen, die gegen die Bildersprache deklamiren, und selbst lauter alten, oft unverstandnen Bildgötzen dienen, sind wenigstens mit sich selbst sehr uneinig.«173 Das Entscheidende dieser Position ist nun aber, dass sie die Möglichkeit zuverlässiger Erkenntnis alles andere als leugnet: Soll ich also dem nicht trauen, der mich in diesen Kreis von Empfindungen und Aehnlichkeiten setzte, mir keinen andern Schlüssel, in das Innere der Dinge einzudringen, gab, als mein Gepräge oder vielmehr das widerglänzende Bild seines in meinem Geiste.174
Die unhintergehbare Subjektbezogenheit menschlichen Erkennens ist kein Anlass zur Skepsis, sondern kann, verstanden als Teil einer göttlichen Ordnung, durchaus zu einer Erkenntnis führen, die nicht ›bloß subjektiv‹ im Sinne von beliebig oder ungültig ist. Der Satz »[w]as wir wissen, wissen wir nur aus Analogie«175 meint nicht, dass der Mensch etwas von ihm als Ähnlichkeit Empfundenes in die Natur hineinprojiziere, sondern ist auf einen realen Zusammenhang von Ähnlichkeiten gegründet. Dennoch gelten die Aussagen, die der Mensch über die Natur und die Welt macht, nur als Aussagen über die ›Welt für ihn‹ und eben deshalb sollte er, bevor er danach trachtet, die Natur zu erklären, Einsicht in die Bedingungen seines Erkennens gewinnen. Anders gesagt: Der Newtonsche »mathematische Beobachtungsgeist«176 sollte sich »aus den ätherischen Sphären« zu seinem eigenen irdischen Horizont »herunterlassen«177, um das zu untersuchen, worüber er ein zuverlässiges Wissen erlangen kann. Angesichts dieser wiederholt vorkommenden Kritik Hamanns an astrologischen Theorien erscheint es mir sinnvoll, neben den von Baur genannten Bezügen auf zwei andere mögliche Quellen zu verweisen, sowohl was den ›schlauen Selbstbeobachter‹ als auch den ›Propheten des Naturlichts‹ angeht. Mit ersterem könnte neben Herder auch Lavater gemeint sein, dessen Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst 1771 erschienen war. Hamann teilt mit Lavater eine Ansicht über die Relevanz der psychologisch-moralischen Selbstbetrachtung im Sinne einer Überzeugung von der Priorität praktischer gegenüber 172 173 174 175 176 177
Herder: Vom Erkennen, S. 4. Herder: Vom Erkennen, S. 5. Herder: Vom Erkennen, S. 5. Herder: Vom Erkennen, S. 5. N III, S. 28. N III, S. 28.
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theoretischen Fragen. Der fiktive Herausgeber von Lavaters Tagebuch begründet die Veröffentlichung dieser Schrift damit, dass zur »Verbesserung des Herzens« eine »getreue und umständliche moralische Lebensbeschreibung des gemeinsten […] Menschen«178 zweckmäßiger sei als das Lesen fiktionaler Literatur: »Wenige sind berufen, Helden auf dem öffentlichen Schaustuhle der Welt, aber alle Helden in der häuslichen Tugend zu werden.«179 Letzteres ist nun etwas, das Hamann zufolge von den Weltweisen vernachlässigt wird. Im Ritter von Rosencreuz schreibt er: »auch läßt es sich kaum zusammenreimen, dass unsre heutige Weisen in himmlischen Entdeckungen so durchdringend und zuverläßig, hingegen in ihren häuslichen Angelegenheiten so benebelt sind.«180 Die Bezeichnung ›Prophet des Naturlichts‹ passt auch auf Buffon, wobei Naturlicht sowohl das ›lumen naturalis‹, also die Vernunft, als auch ihr Gegenstandsbereich sein könnte: Buffons Kosmogonie geht ja nicht von dem durch das Schöpfungswort ›fiat lux‹ geschaffenen Licht aus, sondern handelt von einem physischen Licht, dem der Sonne. Konkret geht es um die Überlegungen zur Entstehung der Planeten aufgrund der Zusammenstöße von Kometen mit der Sonne. Infolge dieser Zusammenstöße könne es, so Buffon, dazu kommen, dass Materiestückchen von der Sonne abgestoßen werden und ihnen dabei ein Stück Impulsionskraft mitgegeben wird. Dadurch würden sie wie auch die Kometen selbst zu Planeten werden, die sich um die Sonne drehen.181 Jedes dieser von der Sonne abgelösten Materieteile würde dann, der Erde ähnlich, zu einer ›Dunstkugel‹.182 Es handelt sich um einen Vorgang, bei dem es, wegen der Wirkung zweier Naturgesetze – dem der Gravitation und dem der Impulsion – einer 178 Johann Kaspar Lavater: Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst. Bd. 1. Leipzig 1771, S. 5. 179 Lavater: Geheimes Tagebuch, S. 6. 180 N III, S. 28. 181 George-Louis Leclerc de Buffon: Oeuvres Philosophiques de Buffon. Tome XLI, 1. Texte établi et présenté par Jean Piveteau. Avec la collaboration de Maurice Fréchet et Charles Bruneau. Paris: 1954, S. 67: »Nous pouvons donc présumer […] qu’il tombe quelquefois des comètes sur le soleil […] si la chute de la comète se fait dans une direction fort oblique […] alors la comète ne fera que raser la surface du soleil […] & dans ce cas elle pourra en sortir & en chaser quelques parties de matière, auxquelles elle communiquera un mouvement commun d’impulsion, & ces parties poussées hors du corp du soleil, & la comète elle-même, pourront devenir alors des planets qui tourneront autour de cet astre dans le meme sens, & dans le meme plan.« [Wir können also annehmen, dass manchmal Kometen auf die Sonne fallen. Wenn die Fallrichtung des Kometen schräg ist, so wird der Komet die Oberfläche der Sonne bloß streifen und in diesem Fall wird er sich entfernen und [von der Sonne, A.K.] ein paar Materieteilchen wegschleudern können, denen er eine gemeinsame Impulsionsbewegung mitteilen wird, und diese vom Körper der Sonne weggestoßenen Teile und der Komet selbst werden also selbst zu Planeten werden können, die sich um diesen Stern drehen werden in dem selben Sinn und auf derselben Bahn. Übers. A.K.]. 182 Hamann bezeichnet im Ritter von Rosencreuz die Erde als »unsere[…] kleine[…] moralische[…] Dunstkugel« (N III, S. 28).
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›ersten Ursache‹ gar nicht bedarf. In diesem Sinn formuliert Hamann 1759 in einem Brief an Johann Gotthelf Lindner: »Anstatt dass Moses schreibt: Am Anfang schuff Gott; beweist Buffon: Am Anfang fiel ein Comet auf die Sonne, dass die Stücke davon flogen.«183 Mit seiner Schlusspassage wirft der Kleine Versuch allerdings auch Fragen auf. Die zitierte Position des Vaters aus Diderots Erzählung – er sagt, dass sein Kopf »auf dem Küssen der Religion und Gesetze noch sanfter ruhe[]«184 – provoziert ja die Frage, ob Hamann ein generelles sich Fügen gegenüber den positiven Gesetzen aufgrund einer Skepsis hinsichtlich der eigenen Befähigung zum Urteilen befürwortet. Worauf er in seiner Rezension nicht eingeht, ist der Streit um den Umgang mit der Testamentsakte, welche auch dem Rechtsgefühl des Vaters entgegen reiche Erben gegenüber den armen Hinterbliebenen bevorzugt. In diesem Fall ist die Berufung des Philosophen auf das Billigkeitsprinzip sinnvoll und zwar im Sinne von Aristoteles’ Definition des Billigen als Berichtigung des Gesetzes, die darauf zielt, dem konkreten Einzelfall gerecht zu werden.185 Zusätzlich ist zu fragen nach Hamanns Position zum Argument des Philosophen, sich nicht an das etablierte Recht zu halten und also die Akte zu verbrennen, wenn er in der Situation seines Vaters gewesen wäre: »Ist denn der Mensch nicht vor dem Richter? Ist die Vernunft des menschlichen Geschlechts nicht ganz anders heilig als die Vernunft eines Gesetzgebers?«186. Diderots Argument führt direkt in naturrechtliche Problemstellungen hinein, da es mit der Vorstellung eines Menschen ›vor dem Richter‹ einen Zustand menschlichen Zusammenlebens postuliert, welcher der Existenz von Institutionen – wo nicht zeitlich und realhistorisch –, so doch logisch vorangeht. Aus diesem Konzept eines Naturzustands wird sowohl die Berechtigung um Widerstand gegenüber dem positiven Gesetz hergeleitet als auch die Möglichkeit zur Erkenntnis des Richtigen und Falschen in Rechtsfällen fundiert. Zu klären sein wird also, wie Hamann zu diesem Naturzustandsargument steht, wie er die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis des rechtlich und moralisch Richtigen sieht bzw. begründet, wie er die Entstehung von Institutionen herleitet und ob es für ihn ein Recht zum Widerstand gibt. 183 An Johann Gotthelf Lindner, 21. 03. 1759. ZH I, S. 307. 184 N IV, S. 416. 185 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übers. von Olof Gigon. Neu hg. von Rainer Nickl. 2. Aufl. Düsseldorf 2007, 1137 b: ποιεῖ δὲ τὴν ἀπορίαν ὅτι τὸ ἐπιεικὲς δίκαιον μέν ἐστιν, οὐ τὸ κατὰ νόμον δέ, ἀλλ᾽ ἐπανόρθωμα νομίμου δικαίου […] καὶ ἔστιν αὕτη ἡ φύσις ἡ τοῦ ἐπιεικοῦς, ἐπανόρθωμα νόμου, ᾗ ἐλλείπει διὰ τὸ καθόλου. [Die Schwierigkeit entsteht aber dadurch, dass das Billige zwar das Gerechte ist, nicht aber das nach dem Gesetz Gerechte, sondern die Berichtigung des gesetzesmäßig Gerechten […] und dies ist das Wesen des Billigen: es ist eine Berichtigung des Gesetzes, wo es wegen seiner Allgemeinheit Mängel aufweist. Übers. A.K.]. 186 Diderot: Unterredung, S. 220.
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Als Grundlage dafür muss aber zuvor erörtert werden, wie Hamanns eigener Vernunftbegriff aussieht. Denn gerade die berechtigte Kritik Hamanns an einem verflachten Begriff des ›bon sens‹187 provoziert ja – vor allem angesichts seines Verständnis des menschlichen Charakters als bestehend in der ›richterlichen und obrigkeitlichen Würde eines politischen Thiers‹ – die Frage, wie er die Fähigkeit des Menschen zur Kritik anthropologisch und psychologisch erklärt.
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Es scheint mir sinnvoll, zur Klärung des Vernunftbegriffs bei Hamann noch einmal auf die Philologischen Einfälle zurückzugreifen, formuliert er in dieser Schrift doch – in Umrissen – die Lösung für das Problem, zwar den Gedanken einer sinnlichen Bedingtheit der Vernunft beizubehalten, sie aber dabei nicht zu einem tierischen Instinkt verkümmern zu lassen:188 Unsere Vernunft wenigstens entspringt aus diesem zwiefachen Unterricht sinnlicher Offenbarungen und menschlicher Zeugnisse, welche sowol durch ähnliche Mittel, nämlich Merkmale, als nach ähnlichen Gesetzen, mitgetheilt werden.189
Mit dem Ausdruck ›entspringen‹ ist eine Spontaneität impliziert, die sich historisch rückblickend wie eine Vorwegnahme von Hamanns Kantkritik liest. Für Kant entspringen ja die Kategorien im Verstand ganz unabhängig von sinnlicher Vermittlung.190 Wenn nun Vernunft zu haben mit zu dem gehört, was den menschlichen Charakter191 ausmacht, so bedeutet Charakter für Hamann nicht das unabhängig von aller Erfahrung immer schon Gegebene, sondern für ihn verbindet sich mit der Vorstellung des Charakters – also desjenigen, was den Menschen als solchen ausmacht und daher bei aller individuellen und ge187 Vgl. dazu: Baur: Hamann als Publizist, S. 195. 188 Zu Hamanns diesbezüglicher Kritik an Helvétius’ Vernunftbegriff vgl. von Lüpke: Anthropologische Einfälle, S. 253. 189 N III, S. 39–40 (Hervorhebung A.K.). 190 Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787. In: Akademie-Textausgabe. Bd. III, S. 92: »Derselbe Verstand also […] bringt auch vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objecte gehen, welches die allgemeine Logik nicht leisten kann. Auf solche Weise entspringen gerade so viele Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel logische Functionen in allen möglichen Urteilen gab […].« 191 Zum Begriff des Charakters bei Hamann im Zusammenhang mit dem Problem der Einheit siehe: von Lüpke: Der zweideutige Charakter der Menschheit. Beiträge Hamanns zur Kritik der modernen Anthropologie. In: Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg 2002. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M., Berlin 2005, S. 133–135.
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schichtlichen Verschiedenheit als eine Konstante angesehen werden kann – der Gedanke einer Entwicklung. Der Mensch wird erst im Laufe seiner individuellen Entwicklung zu dem, was er seiner Gattung gemäßist. Und nicht nur das, denn mit dem Hinweis auf den ›Unterricht‹ insistiert Hamann auf einem kommunikativen Moment. Dies ist deshalb so wichtig, weil es einem solipsistischen Zug im Denken sowohl Kants als auch Herders entgegengesetzt ist, worauf Oswald Bayer verweisen hat. Kant zufolge kann man nur das verstehen, was man selbst ›gemacht‹, selbst konstruiert und konstituiert hat. Nur in solchem Selbstdenken kann man der Wahrheit gewiß, ihr wirklich innegeworden sein und sie in seinem Selbstbesitz haben. […] Da nun aber nur das rein Rationale, nicht aber das Empirische völlig in unserer Gewalt ist, muß das, ›was wir selbst machen können‹, immer schon in uns sein.192
Schaut man sich den Kantschen Gedankengang an, wird deutlich, dass die Verlagerung der Möglichkeit wahrer Erkenntnis in den Bereich reiner Rationalität durch ein spezifisches Problem motiviert ist. Sie kann nämlich als eine Antwort auf die Frage gelesen werden, wie es möglich ist, dass wir mentale Inhalte als etwas uns Eigenes erfahren und über sie verfügen. Hamann widerspricht Kants Argument, dass dies nur dann möglich sei, wenn wir eine Vorstellung selbst in uns hervorbringen oder sie als etwas in uns schon Vorhandenes vorfinden: »Die stamina und menstrua unsrer Vernunft sind […] im eigentlichsten Verstande Offenbarungen und Ueberlieferungen, die wir zu unser Eigenthum aufnehmen, in unsre Säfte und Kräfte verwandeln […].«193 Es geht um einen Vorgang, bei dem dasjenige, was ein Mensch zunächst rezeptiv empfängt, zu etwas ihm Eigenen wird, handelt sich nun um Sinneswahrnehmungen oder um historisch tradierte Vorstellungen. Hamann erklärt freilich nicht, wie dies genau vor sich geht. Annehmen muss man aber, dass ein sich Verhalten des Menschen zu den jeweiligen Wahrnehmungsinhalten stattfindet, wodurch diese eben nicht mehr bloß innerpsychisch vorhanden sind, sondern als ihm zugehörig angesehen werden können. Dem Vokabular Hamanns nach zu urteilen könnte es sich um eine der stoischen ›oikeiosis‹-Lehre verwandte Vorstellung handeln, zielt diese doch darauf ab zu erklären, wie Vorstellungen, die von Gegenständen der Außenwelt verursacht werden, durch einen Prozess der Aneignung zu etwas dem Menschen Eigenen werden können.194 Hamann geht es jedoch nicht vorwiegend darum, zu erfor-
192 Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München Zürich 1988, S. 121. 193 N III, S. 39. 194 Vgl. dazu: Chang-Uh Lee: Oikeiosis. Stoische Ethik in naturphilosophischer Perspektive. München 2002, S. 89.
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schen, wie eine Wahrnehmung zu einer Wahrnehmung für mich wird, sondern dasjenige zu benennen, was die Vernunft konstituiert.195
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Auf eine kurze, aber emphatische Art und Weise hat Hamann seine Vorstellung des Körpers als etwas, das auch an der göttlichen Natur des Menschen teilhat, in einem Brief an Franz Caspar Bucholz formuliert: Nun ist mein größtes und innigstes Anliegen Nachricht von Ihrer Gesundheit, und etwas von der Geschichte Ihrer Krankheit zu haben. Unser Leib ist der Erstgeborne, und verdient als Tempel unsere Pflege und Sorgfalt.196
Bekannt in der theologischen und philosophischen Tradition ist der Topos vom Leib als Tempel der Seele: Insofern, als der Körper letztere als das eigentlich Göttliche im Menschen beherbergt, ist er einer heiligen Stätte gleich zu schätzen und entsprechend zu behandeln. Hamann geht aber darüber hinaus und verbindet den Leib mit dem Privileg der Erstgeburt. Welchen Sinn kann diese Metapher hier haben? Wenn die den Menschen auszeichnenden kognitiven Fähigkeiten erst im Laufe sinnlicher Erfahrungen »entspringen«197, dann ist der Leib in der Tat, nämlich im wörtlichsten Sinn der Erstgeborne und zudem dasjenige, was alles Weitere erst ermöglicht. Es ist daher nur folgerichtig, dass Hamann Widerspruch einlegt gegen die Konzipierung eines körperlichen Ursprungs des Menschen, welche diesen auf rein materielle Vorgänge zurückführt und in der dabei zugrunde gelegten Naturvorstellung das Göttliche aus den Naturvorgängen ausschließt. Ideengeschichtlich prägnant formuliert wird dies in einer Passage aus dem Ritter von Rosencreuz: Unser Jahrhundert ist an großen Seelen fruchtbar, welche die Reliquien des epikurischen Systems in den Oeuvres philosophiques de Mr. De la Mettrie, im Système de la Nature und Evangile du Jour verehren und sich zueignen; unterdessen kommt mir die Hervorbringung des menschlichen Geschlechts aus einem Sumpf oder Schleim noch immer wie eine schöngemalte hirnlose Maske vor. Kein bloßer Töpfer plastischer Formen, sondern ein Vater feuriger Geister und athmender Kräfte zeigt sich im ganzen Werk.198
195 Zur Ähnlichkeit des diesbzgl. Erkenntnisinteresses bei Hamann und Kant vgl. Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 335. 196 An Franz Caspar Bucholz, 23. 01. 1785. ZH V, S. 339. 197 N III, S. 39. 198 N III, S. 27–28.
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Anstoß nimmt Hamann an der Vorstellung vom Ursprung des Menschen ›aus einem Sumpf oder Schleim‹. Dabei handelt es sich zwar um eine seit der Antike geläufige Konzeption, die unter anderem bei Ovid dargelegt ist,199 welche aber innerhalb der zeitgenössischen Biologie zu neuer Aktualität gelangt. So vertreten sowohl LaMettrie als auch d’Holbach eine rein materielle, nur auf den Naturablauf zurückzuführende Formation des Menschen, mithin also eine Auffassung, die eine Schöpfung bewusst ablehnt und in diesem Punkt Mensch und Tier gleichsetzt. So schreibt LaMettrie: Il me semble qu’elle [la nature, A.K.] prend comme eux [les enfants, A.K.], sans y songer, les moyens les plus simples pour opérer. Il est vai qu’elle ne se met pas plus en dépense pour donner a la terre un prince qui doit la faire trembler, que pour faire éclore l’herbe qu’on foule aux pieds. Un peu de boue, une goutte de morve, forme l’homme & l’insecte; & la plus petite portion de movement a suffi pour faire jouer la machine du monde.200 Es scheint mir, dass die Natur wie die Kinder, ohne daran zu denken, zu den einfachsten Mitteln greift, um zu operieren. Es ist wahr, dass sie sich nicht mehr verausgabt, um der Erde einen Prinzen zu geben, der sie erzittern lassen muss, als um eine Blume aufblühen zu lassen, die man mit den Füßen zertritt. Ein bisschen Schlamm, eine Pfütze Schleim formt den Menschen und das Insekt und die kleinste Zugabe an Bewegung hat ausgereicht, um die Weltmaschine in Gang zu setzen.
199 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/ Deutsch. Übers. u. hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart: Reclam 1994, S. 35–37: »Die übrigen Lebewesen in ihrer Vielgestaltigkeit brachte die Erde von selbst hervor, nachdem alte Feuchtigkeit vom Feuer der Sonne durchwärmt, Schlamm und nasse Sümpfe von der Hitze schwanger geworden und die fruchtbaren Samen der Wesen, im lebenskräftigen Boden genährt, wie im Mutterleib gewachsen waren und mit der Zeit ein bestimmtes Aussehen bekommen hatten.« Ovid unterscheidet von dieser Entstehung der Lebewesen allerdings die des Menschen, indem er ihn als ein Geschöpf der Götter beschreibt. Vgl. Ovid: Metamorphosen, S. 11. 200 La Mettrie, Julien Offray de: Systême d’Epicure. In: Oeuvres Philosophiques de Mr. De La Mettrie. Nouvelle Edition, corrigée & augmentée. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1774. Hildesheim 1970, S. 230. Übers. A.K. Vgl. auch S. 232–233: »Si les hommes n’ont pas toujours existé, tells que nous les voyons aujourd’hui […] il faut que la terre ait servi d’uterus à l’homme. […] Pourquoi, je vous le demande, Anti-Epicuriens modernes, pourquoi la terre, cette commune mere & nourice de tous les corps, auroit-elle refuse aux graines animals, ce qu’elle accorde aux végégtaux les plus vils, les plus pernicieux? Ils se trouvent toujours ses entrailles fécondes; & cette matrice n’a rien au fond de plus surprenant que celle de la femme.« [Wenn die Menschen nicht immer existiert haben, so wie wir sie heute sehen, so muss die Erde dem Menschen als Uterus gedient haben. Warum, frage ich Sie, moderne Anti-Epikureer, warum hätte die Erde, diese gemeinsame Mutter und Amme aller Körper, den tierischen Samenkörnern verweigert, was sie den gewöhnlichsten, den schädlichsten Pflanzen zugesteht? Überall finden sich fruchtbare Eingeweide und diese Gebärmutter hat im Grunde nichts Wunderbareres an sich als diejenige der Frau. (Übers. A.K.)].
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Anthropologie bei Hamann
Bei d’Holbach findet sich dieselbe Vorstellung: En humectant de la farine avec de l’eau, et renfermant ce mélange, on trouve au bout de quelque temps, à l’aide du microscope, qu’il a produit des êtres organisés qui jouissent d’une vie dont on croyait la farine et l’eau incapables.201 Wenn man Mehl mit Wasser befeuchtet und diese Mischung einschließt, so findet man nach Ablauf von etwas Zeit, mit der Hilfe des Mikroskops, dass sie lebendige Organismen hervorgebracht hat, wozu man das Mehl und das Wasser für unfähig hielt.
In einer Fußnote dazu heißt es: Voyez les Observations microscopiques de Néedham, qui confirment pleinement ce sentiment. Pour un homme qui réfléchit, la production d’un homme, indépendamment des voies ordinaries, serait-elle donc plus merveilleuse que celle d’un insecte avec de la farine et de l’eau? 202 Sehen sie sich die mikroskopischen Beobachtungen von Needham an, welche diese Vorstellung vollkommen bestätigen. Wäre also für einen Menschen, der nachdenkt, die Hervorbringung eines Menschen, unabhängig von den gewöhnlichen Wegen, erstaunlicher als die eines Insekts mit Mehl und Wasser?
Ist der Anstoßpunkt eine vom göttlichen Wirken losgelöst selbständig agierende Natur, wobei das göttliche Wesen entweder wie bei d’Holbach gar nicht oder, wie im Artikel »Epicurisme« der Encyclopédie formuliert nur in Intermundien existiert,203 so bleibt zu fragen, warum Hamann resümierend von einem ›Töpfer plastischer Formen‹ spricht. Welche Beziehung kann nämlich zwischen einer im Cambridger Neuplatonismus entwickelten Konzeption zu den Ansichten der französischen Materialisten bestehen, zumal bei letzteren von ›plastischen Formen‹ nicht die Rede ist und auch gar nicht sein musste, da bereits andere Erklärungen für die Entstehung organischen Lebens gefunden worden waren? Dass eine direkte philosophiehistorische Beziehung besteht, macht Kondylis deutlich. Mit der Behauptung, die ›plastic nature‹ agiere nach feststehenden Gesetzen, erübrigt sich ein Intervenieren Gottes in den Naturablauf, so dass letztlich »die
201 D’Holbach: Système de la Nature, S. 27, Übers. A.K. 202 D’Holbach: Système de la Nature, S. 27–28, Übers. A.K. 203 Art. »Epicuréisme.« In: Encyclopédie. Bd. 5, S. 783: »Après avoir pose pour principe qu’il n’y a dans la nature que de la matiere & du voide, que penserons-nous des dieux? […] il est suffisamment démontré par les phénomenes du monde physique & du monde moral, qu’ils n’ont eu aucune part à la production des êtres, & qu’ils n’en prennent aucune à leur conservation.« [Nachdem wir es als Prinzip angenommen haben, dass es auf der Welt nichts als Materie und leeren Raum gibt, was sollen wir von den Göttern denken? Es ist durch die Erscheinungen der physischen und moralischen Welt hinreichend bewiesen, dass sie keinen Anteil an der Hervorbringung der Lebewesen haben und dass sie keinen Anteil an ihrer Erhaltung nehmen, Übers. A.K.].
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Platoniker von Cambridge […] dem aufklärerischen Deismus den Weg [ebnen].«204 Hier ist vor allem auf Ralph Cudworth (1617–1688) einzugehen. Cudworth veröffentlichte selbst nur ein philosophisches Werk, das True Intellectual System of the Universe (1678). Darin geht es ihm darum, einerseits Argumente für die Existenz Gottes aufgrund universeller Übereinstimmung (etwa bei antiken Philosophen) zu liefern und so atheistische Philosophien zu widerlegen, und andererseits den »richtigen Gottesbegriff« darzulegen. Gott ist ein Wesen, welches das Universum wohl geordnet hat. Die Naturabläufe unterliegen weder einem rein materiellen Determinismus noch sind sie und ihre Regularität ein Ergebnis des bloßen göttlichen Wollens, weil das ja erstens bedeuten würde, dass Gott sich nicht an rationalen Kriterien orientiert hat und zweitens, dass er beständig in die Natur eingreifen müsste. Um es also plausibel zu machen, dass alles in der Natur von einer rationalen göttlichen Vorsehung bestimmt ist, nimmt Cudworth eine so genannte plastische Natur an, welche die physische Welt nach göttlichen Zwecken ordnet.205 Ihm liegt, anders gesagt, daran, Argumente sowohl gegen eine mechanizistische als auch gegen eine epikuristische Naturauffassung zu finden. Ersteres geschieht mittels der Annahme einer intelligiblen und teleologischen Verfasstheit der ›plastic nature‹, zweiteres durch die Voraussetzung eines gesetzmäßigen Agierens.206 Cudworth versucht nämlich das Problem zu lösen, wie Naturphänomene »by a Divine Law and Command«207 geschehen und dadurch erklärt werden können, ohne dass dabei immer ein direktes Intervenieren Gottes notwendig wäre. Letzteres führt nun dazu, dass Gott allgemein vom Naturgeschehen losgelöst wird und so zu einem Konstrukteur anstelle eines persönlichen Gottes wird. 204 Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg: Meiner 2002, S. 204. 205 Für einen Überblick zu Cudworth siehe Sarah Hutton: Lord Herbert of Cherbury and the Cambridge Platonists. In: The Routledge History of Philosophy. Vol. V. British Philosophy and the Age of Enlightenment. Hg. von Stuart Brown. London, New York: Routledge 1996, S. 25–30. 206 Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe. Faksimileneudruck der Ausgabe von London 1678. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 147: »For unless there be such a thing admitted as a Plastick Nature, that acts ένεκά του, for the sake of something, and in order to Ends, Regularly, Artifically and Methodically, it seems that one or other of these Two Things must be concluded, That Either in the Efformation and Organization of the Bodies of Animals, as well as the other Phenomena, every thing comes to pass Fortuitously, and happens to be as it is, without the Guidance and Direction of any Mind or Understanding; Or else, that God himself doth all Immediately, and as it were with his own Hands […].« Ebd., S. 148: »Now to assert the Former of these Two things, that all the Effects of Nature come to pass by Material and Mechanical Necessity, or the mere Fortuitous Motion of Matter, without any Guidance or Direction, is a thing no less Irrational than it is Impious and Atheistical.« (Hervorhebung A.K). 207 Cudworth: True Intellectual System, S. 147.
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Anthropologie bei Hamann
Hamanns Formulierung zeigt also mit andern Worten auf, dass die Materialisten ihrerseits in einer Denktradition stehen und zwar einer solchen, die eine an den ›ordo‹-Gedanken geknüpfte Gottesvorstellung gebunden ist, selbst dann, wenn sie die Existenz eines Gottes und sein Erscheinen in der Natur leugnet. Dass die Vorstellung einer ›plastic nature‹ in der Tat dazu geeignet ist, atheistische Konzepte zu begünstigen, zeigt die Kritik Pierre Bayles an Cudworth, die er in der Continuation des pensées diverses sur la comète (1704) formuliert: Nimmt man eine Instanz an, die in der Lage dazu ist, Lebewesen zu formen ohne dabei ein Bewusstsein ihres eigenen Tuns zu besitzen, so könnte man daraus schließen, dass die Welt trotz Ordnung das Ergebnis einer blinden Ursache sei.208 Dagegen wiederum wendet sich, so die Dringlichkeit des Problems verdeutlichend, die Antwort Leibniz’, insofern als dieser zweierlei zu vereinbaren sucht. Einmal soll eine Erklärung organischen Lebens gefunden werden, für die ein bloßer Mechanismus unzureichend ist. Zudem soll das Erklärungsmodell die Gewissheit bezüglich der Existenz Gottes nicht gefährden. Das Ergebnis ist eine prekäre Lösung, wird Gott doch einerseits faktisch aus dem Naturgeschehen ausgeschlossen, wenngleich dies als Aspekt seiner Vollkommenheit und Voraussicht gilt: Cependant ceux qui employent des natures plastiques, soit materielles soit immaterielles, n’affoiblissent nullement le preuve de l’existence de Dieu tirée des merveilles de la nature, qui paroissent particulierement dans la structure des animaux, supposé que ces defenseurs des natures plastiques immaterielles y ajoutent une direction particuliere de Dieu et supposé que ceux qui se serviront d’une cause materielle avec moy, en se consentant du mechanisme plastique soutiendrot non seulement une preformation continuelle, mais encore un preétablissement divine originaire.209 Diejenigen, welche sich auf plastische Naturen berufen, seien sie materiell oder immateriell, schwächen indessen keineswegs den Beweis der Existenz Gottes aus den Wundern der Natur, welche sich insbesondere im Bau der Lebewesen zeigen, vorausgesetzt, dass diese Verteidiger der immateriellen plastischen Naturen dort eine besondere Richtung Gottes hinzufügen und angenommen, dass diejenigen, die sich mit mir einer materiellen Ursache bedienen, indem sie einem plastischen Mechanismus zustimmen, nicht nur eine kontinuierliche Präformation, sondern auch eine ursprüngliche göttliche Voreinrichtung behaupten.
208 Jacques Roger: The Life Sciences in Eighteenth-Century French Thought. Hg. von Keith R. Benson. Übers. von Robert Ellrich. Stanford, California 1997, S. 340–343. 209 Gottfried Wilhelm Leibniz: Considerations sur les Principes de Vie, et sur les Natures Plastiques, par l’Auteur du Systeme de l’Harmonie preétablie. In: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. von C.J. Gerhardt. Bd. 6. Hildesheim, New York 1978, S. 544. Übers. A.K.
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Nun lässt sich aber auch genau das Umgekehrte annehmen. So stellt für d’Holbach die Unordnung innerhalb der Natur einen Beweis dafür dar, dass diese Natur keinerlei Verbindung zu einem göttlichen Wesen besitzt: En effet nous voyons des désordres dans ce monde dont le bel ordre oblige, dit-on, de reconnoitre l’ouvrage d’une intelligence souveraine; cependant ces désordres démentent et le plan, et le pouvoir, et la sagesse, et la bonté qu’on lui suppose, et l’ordre merveilleux don’t on lui fait honneur.210 Tatsächlich sehen wir Unordnung in dieser Welt, deren schöne Ordnung, so sagt man, dazu verpflichte, das Werk einer überlegenen Intelligenz anzuerkennen. Indessen widerlegt die Unordnung sowohl den Plan als auch die Macht, die Weisheit und die Güte, die man ihr zuschreibt, und die bewundernswerte Ordnung, für die man sie ehrt.
Hamann seinerseits hat es nicht nötig, eine geordnete Natur anzunehmen, um darauf aufbauend Glauben zu ermöglichen.211 Im Gegenteil bedeutet dies für ihn eine im Grunde anthropomorphistische Grundhaltung, werden doch subjektivmenschliche Vorstellungen des Angemessenen auf Gott übertragen ohne Bewusstsein der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit212 und ihrer Angewiesenheit auf göttliche Gnade. Den Menschen betreffend setzt er der ›origio‹ als ›Sumpf oder Schleim‹ die Kinder eines »Vater[s] feuriger Geister und athmender Kräfte«213 entgegen. Bezeichnend für Hamanns Eigenheit ist ein Geistbegriff, der nicht mit Unkörperlichkeit zusammengedacht wird, erklärt er sich doch in einem Brief an Herder von 1768 für unfähig, »sich einen schöpferischen Geist ohne genitalia vorzustellen.«214 Betont wird hier vielmehr der Aspekt der Vitalität und Selbsttätigkeit. Als Geschöpfe sind die Menschen mit einer ihnen eigenen Kraft ausgestattet. Bei aller Zentralität und theologisch-philosophischer Aufwertung des Körperlich-Sinnlichen bei Hamann gilt es jedoch festzuhalten, dass es für ihn durchaus etwas gibt, welches das Menschsein ausmacht und nicht sinnlicher Natur ist. Mit der bloßen Feststellung, dass Menschsein für Hamann nicht in der Körperlichkeit aufgeht, ist aber nicht viel gewonnen, kann doch die Frage nach seiner Position innerhalb der anthropologischen Diskussion seiner Zeit erst entschieden werden, wenn deutlich wird, welches Verhältnis Sinnliches und nicht Sinnliches im Menschen zueinander haben. Offensichtlich kommt bei Hamann einer von der Sinnlichkeit unterschiedenen Ebene des Menschlichen nicht die 210 D’Holbach: Système de la Nature, S. 81. Übers. A.K. 211 Zur Vorstellung einer ungeordneten Natur bei Hamann in Verbindung mit der mythologischen Figur des Pan vgl. Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen 1997 (=Frühe Neuzeit Bd. 32), S. 153–159. 212 Vgl. Achermann: Natur und Freiheit, S. 74. 213 N III, S. 28. 214 ZH II, S. 415.
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Anthropologie bei Hamann
Funktion zu, die Vorstellung menschlicher Freiheit zu tragen. Das nicht Sinnliche erhält im Denken Hamanns seinen Stellenwert und seine Präsenz also nicht dadurch, dass es als ein intellektiv verstandenes Prinzip einer naturhaften Notwendigkeit entgegen gesetzt werden müsste. Es wird so auch nicht zum vorzüglichen Träger des ›humanum‹ erklärt. Wie und warum spricht Hamann also von dem nicht Sinnlichen und in welcher Beziehung sieht er es zum Körperlichen? In der Aesthetica in Nuce ist die Rede von der »Unsichtbarkeit […], die der Mensch mit Gott gemein hat.«215 Unsichtbarkeit wird also als eine Ebene der Gottesebenbildlichkeit verstanden. In den Philologischen Einfällen heißt es: Die Analogie der thierischen Haushaltung ist die einzige Leiter zur anagogischen Erkenntniß der geistigen Oekonomie, welche sehr wahrscheinlich allein die Phänomenen und qualitates occultas jener sichtbaren verkürzten Hälfte aufzulösen und zu ergänzen vermag.216
Hamann spricht hier von einer wechselseitigen Erkenntnisbeziehung, in der allerdings ein logischer Bedingungszusammenhang eingebettet ist. Wenn der Mensch a priori nicht über Begriffe verfügt, sondern sein Erkennen beim Sinnlichen anfängt, muss er zunächst die Ähnlichkeiten und Proportionen innerhalb der ›thierischen Haushaltung‹, also der Welt des sinnlichen Lebendigen, wahrnehmen, um von dort ausgehend einzusehen, dass es auch eine ›geistige Oekonomie‹ gibt. Das sich Verhalten zum Sinnlichen, sei es das der Außenwelt, sei es das des psychischen Inneren, ist damit bereits komplex strukturiert. Es geht nicht nur darum, zu empfinden, auch nicht, sich seiner Empfindungen bewusst zu werden, sondern in der Fülle und Vielgestaltigkeit des Wahrgenommenen Beziehungen und Strukturen auszumachen. Erst dann ist es möglich, auf anagogischem Weg zur Erkenntnis der ›geistigen Oekonomie‹ aufzusteigen. Durch das Stichwort der Anagogie ist dem Leser ein Hinweis darauf gegeben, wie sich für Hamann das Verhältnis von Thierischem und Geistigem darstellt. In ihrer Grundbedeutung als Hinaufführung ermöglicht die Anagogie ausgehend vom Sinnlichen stufenweise die Erkenntnis des Geistigen. Dass Hamann auf beiden Ebenen von Ökonomie spricht, also ein analoges Geordnetsein annimmt, verweist darauf, dass die Anagogie nicht schlechthin als ein Hintersichlassen, Abstreifen oder gar Vergessen des Sinnlichen zugunsten eines ihm überlegenen Geistigen zu verstehen ist wie etwa innerhalb der neuplatonischen Begriffsverwendung. Anagogie als Erkenntnismethode bedeutet nicht, vom Sinnlichen zu abstrahieren, sich von ihm loszulösen, sondern ist erst durch eine aufmerksame Wahrnehmung der sinnlichen Welt möglich. Nun kann und muss Anagogie aber 215 N II, S. 198. 216 N III, S. 39.
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auch im Sinne der Lehre vom vierfachen Schriftsinn verstanden werden, nämlich als Ebene der eschatologischen Auslegung, welche auf den Bedeutungsgehalt des Zukünftigen, dessen, was man hoffen kann, zielt.217 Das Geistige hat also zwei Bedeutungskomponenten: Geistig ist das, was nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, aber nur ausgehend von einer Wahrnehmung des Sinnlichen zu erschließen ist und dasjenige, was als Zukünftiges – d. h. als ein noch zu Kommendes – im wörtlichen Sinne Gegenstand der Hoffnung sein kann. In beiden Bedeutungen stellt das Geistige wiederum den wahrscheinlich einzigen Weg dar, um das Unverständliche, Verborgene und Inkomplette der tierischen Haushaltung zu verstehen. Indem Hamann als Erläuterung ein Zitat aus den Questions sur l’Encyclopédie anführt, wird deutlich, worauf sein Begriff des Geistigen zielt: Toutes les puissances du corps et de l’entendement ne sont-elles pas de facultés et qui pis est, des facultés très ignorées, des franches qualités occultes à commencer par le mouvement dont personne n’a decouvert l’origine – …Il y a un secret dans tous les premiers ressorts de tous les Etres.218 Sind nicht alle Kräfte des Körpers und des Verstandes Vermögen und, was schlimmer ist, sehr unbekannte Vermögen, ausgemachte okkulte Qualitäten, um bei der Bewegung zu beginnen, deren Ursprung niemand entdeckt hat – … Es liegt ein Geheimnis in allen ersten Triebfedern aller Wesen.
Hamann wendet sich gegen den Anspruch einer vollständigen Erklärbarkeit des Sinnlichen, sei es ontologisch im Hinblick auf den Ursprung der Bewegung und der Lebewesen oder erkenntnistheoretisch im Hinblick auf die Vermögen des Verstandes. Das Sinnliche erschließt sich nicht vollständig dem Zugriff menschlicher Erklärungsbemühungen. Indem das ›entendement‹ von Hamann mit zu der ›verkürzten Hälfte‹ gerechnet wird, spricht er ihm die Befähigung ab, sowohl einen Objektbereich hinreichend zu erklären als auch sich selbst vollständig transparent zu sein.
6.1
Sexualität und Sozialität
Die Bedeutung, die Hamann der erotischen Liebe zuspricht, zeigt sich prägnant darin, dass er vom »Heiligthum der venus physique«219 spricht. Auch wenn es möglich ist, biologische Vorgänge, wie den der Fortpflanzung, zu erklären, muss man sie deswegen nicht mit Geringschätzung betrachten. Im Gegenteil: Gerade in der Sexualität sieht Hamann einen Aspekt der Gottesebenbildlichkeit, nämlich 217 Vgl. Johannes Schildenberger: Art. »Anagoge.« In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 1. Hg. von Josef Höfer u. Karl Rahner. Freiburg 1957, Sp. 465–466, hier Sp. 465–466. 218 N III, S. 39. Übers. A.K. 219 N III, S. 213.
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Anthropologie bei Hamann
teleologisch gedacht in der Bestimmung des Menschen »Schöpfer, Selbsterhalter und Immer=Vermehrer […] seines Geschlechts zu seyn.«220 Unter diesen theologischen Vorgaben erklärt sich Hamanns Kritik an Marc Aurel,221 dessen Grundhaltung er bei seinen Zeitgenossen wieder erkennt: Jene warmen Brüder des menschlichen Geschlechts, die Sophisten zu Sodom-Samaria, welche sich an den Selbstgesprächen des Markantonin Aftokrator Tag und Nacht erbauen, haben zwar im dreizehnten Kapitel seines sechsten Buches gelesen, dass die Cheville vivique, worauf die ganze Erhaltung und Vermehrung der âmes moutonnières, ihrer Schlachtheerden, ankommt in parui intestini affrictione mucique excretione conuulsiua bestehe; aber sie spannen die Pferde hinter den Phaeton – und selbst die Weisheit Salomonis im Frühprediger riecht wie des Demetrius Nardenbalsam (S. den großen Katechismus der Vernunft unter dem Wort: Lamia) nach einer glans regia. –222
Wie die Formulierung ›die Pferde hinter den Phaeton spannen‹ aufzeigt, liegt der hauptsächliche Kritikpunkt in der Einstellung, die Marc Aurel der Sexualität und allgemein den Vorgängen im körperlich-materiellen Bereich entgegenbringt. Er fordert nämlich dazu auf, diese distanziert zu betrachten und zwar, indem man die φαντασίαι, also die über die Sinne vermittelten Vorstellungsbilder, vom eigentlichen, realen Gehalt trennt, zu dem man durch nüchterne Analyse gelangt: καὶ ἐπὶ τῶν κατὰ τὴν συνουσίαν ἐντερίου παράτριψις καὶ μετά τινος σπασμοῦ μυξαρίου ἔκκρισις: οἷαι δὴ αὗταί ει᾿σιν αι῾ φαντασίαι καθικνούμεναι αὐτῶν τῶν πραγμάτων καὶ διεξιοῦσαι δι᾿ αὐτῶν, ὥστε ὁρᾶν οἷά τινά ποτέ ἐστιν: οὕτως δεῖ παῤ ὅλον τὸν βίον ποιεῖν καὶ ὅπου λίαν ἀξιόπιστα τὰ πράγματα φαντάζεται, ἀπογυμνοῦν αὐτὰ καὶ τὴν εὐτέλειαν αὐτῶν καθορᾶν καὶ τὴν ῾ιστορίαν ἐφ’ ᾗ σεμνύνεται περιαιρεῖν. or, of sexual intercourse, that it is merely internal attrition and the spasmodic excretion of mucus – such, I say, as are these impressions that get to grips with the actual things and enter into the heart of them, so as to see them as they really are, thus should it be thy life through, and where things look to be above measure convincing, laying them quite bare, behold their paltriness and strip off their conventional prestige.223
Entscheidend ist der Ausdruck ευτέλεια. Wer die ›Schlichtheit‹ der Dinge erkennt, also einsieht, worin eigentlich der geschlechtliche Verkehr besteht, begreift zugleich auch ihre Wertlosigkeit und ist somit dazu in der Lage, den Traditionszusammenhang, der ihnen einen Wert zuschreibt, abzulehnen bzw. diesen vom eigentlichen Wesen der Dinge abzustreifen. Es geht mit anderen Worten um
220 N III, S. 199. 221 Vgl. N III, 213: »Mit welcher stoischen und abstracten Kälte […] wird das Heiligthum der venus physique zu eine εντερίου παράτριψις και μετά τινος σπασμου μυξαρίου εκκρισις.« 222 N III, S. 29–30. 223 Marcus Aurelius Antoninus: The Communings with Himself. A Revised Text and a Translation into English by C.R. Haines. London 1961, S. 134–135.
Körper, Leib und Seele
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eine Anthropologie, die das ›humanum‹ vom Körperlichen und Emotionalen abzulösen trachtet und diesem gegenüber Verachtung zeigt: Ὅ τί ποτε τοῦτό ει᾿μι, σαρκία ἐστὶ καὶ πνευμάτιον καὶ τὸ ἡγεμονικόν. ἄφες τὰ βιβλία: μηκέτι σπῶ. οὐ δέδοται, ἀλλ’ ὡς ἤδη ἀποθνῄσκων τῶν μὲν σαρκίων καταφρόνησον: λύθρος καὶ ὀστάρια καὶ κροκύφαντος, ἐκ νεύρων, φλεβίων, ἀρτηριῶν πλεγμάτιον. This that I am, whatever it be, is mere flesh and a little breath and the ruling Reason. Away with thy books! Be no longer drawn aside by them: it is not allowed. But as one already dying disdain the flesh: it is nought but gore and bones and a network compact of nerves and veines and arteries.224
Eine ähnlich distanzierte Haltung wird gegenüber den Leidenschaften empfohlen, insofern diese als antisozial wie auch als antireligiös gelten.225 Ausgehend davon, dass der Mensch ein Teil der mit dem universellen »λόγος« identifizierten Natur ist und dieser gemäß leben sollte – »κατά την φύσιν ζην«226 –, so muss er sich ihr entsprechend verhalten: χρὴ δὲ πρὸς ἃ ἡ κοινὴ φύσις ἐπίσης ἔχει ῾οὐ γὰρ ἀμφότερα ἃν ἐποίει, ει᾿ μὴ πρὸς ἀμφότερα ἐπίσης εἶχἐ, πρὸς ταῦτα καὶ τοὺς τῇ φύσει βουλομένους ἕπεσθαι, ὁμογνώμονας ὄντας, ἐπίσης διακεῖσθαι: ὅστις οὖν πρὸς πόνον καὶ ἡδονὴν ἢ θάνατον καὶ ζωὴν ἢ δόξαν καὶ ἀδοξίαν, οἷς ἐπίσης ἡ τῶν ὅλων φύσις χρῆται, αὐτὸς οὐκ ἐπίσης ἔχει, δῆλον ὡς ἀσεβεῖ. But those, who are of one mind with Nature and would walk in her ways, must hold a neutral attitude towards those things towards which the Universal Nature is neutral – for she would not be the Maker of both were she not neutral towards both. So he clearly acts with impiety who is not himself neutral towards pain and pleasure, death and life, good report and ill report, things which the Nature of the Universe treats with neutrality.227
Wenn gilt, dass eine strenge Gesetzmäßigkeit in der Natur vorhanden ist, welche zugleich Sein und Sollen umgreift,228 ist es Aufgabe des Menschen, dieses universelle Gesetz zu erkennen und damit seine eigene Natur zu realisieren. Dasjenige, was die Natur als neutral behandelt, Schmerz und Lust etwa, müsse deshalb auch der Mensch als neutral ansehen.
224 Marcus Aurelius: Communings, S. 26–27. 225 Arthur Bodson: La Morale Sociale Des Derniers Stoiciens, Sénèque, Épictète et Marc Aurel. Paris: 1967, S. 127 und 128. 226 Vgl. dazu: Wilhelm Hasbach: Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von Francois Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie. In: Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen. Hg. von Gustav Schmoller. Bd. 10.2. Leipzig: Duncker und Humblot 1890, S. 4. 227 Marcus Aurelius: Communings, S. 232–233. 228 Hasbach: Allgemeine philosophische Grundlagen, S. 4.
68 6.2
Anthropologie bei Hamann
Unschuld und Scham
Hamanns Betonung der erotischen Liebe für die Entstehung menschlicher Gesellschaft ist eng mit einer Vorstellung natürlicher Unschuld verbunden, welche den biblischen Topos des Sündenfalls zwar weder leugnet noch – wie später Herder und andere – positiv deutet,229 ihn aber doch neu zu verstehen sucht: »Unschuld kennt keinen Unterscheid des Guten und Bösen, weiß daher auch von keiner Schande oder Schaam.«230 Hamanns Neuansatz verbindet den Zustand der Unschuld nicht ausschließlich mit einer vorgeschichtlichen paradiesischen Ebene, sondern sieht ihn als noch in der Geschichte und vor allem der Gegenwart vorhanden an. So heißt es in der Sibylle über die Scham: »Ein angeborner, natürlicher Instinct ist es nicht, wie aus dem Beyspiele der Kinder, Wilden und cynischen Schulen zu ersehen.«231 Hamann assoziiert hier wie selbstverständlich drei Gruppen von Menschen, denen gemeinsam ist – wie Adam und Eva –, über eine »Blöße ohne Scham«232 zu verfügen. Behauptet wird, dass es eine Parallele gibt zwischen der individuellen Entwicklung (Kind), den nicht zivilisierten Völkern (Wilde) und einer antiken Philosophenschule (Cyniker). Die Vorstellung eines natürlichen sich Verhaltens zum eigenen Körper und seiner Geschlechtlichkeit wird so auf zweifache Weise in die historische Gegenwart hineingeholt, nämlich als etwas, das jeder Einzelne in seiner Kindheit erfährt und das wir bei anderen Ethnien beobachten können.233 Die hier implizierte Parallele von Onto- und Phylogenese konnte Hamann aus Isaak Iselins Über die Geschichte der Menschheit bekannt sein.234 Hinzu kommt, dass Hamann mit dem Kind ein Ideal erfüllten Menschseins verbindet. So schreibt er an Jacobi: »Werdet wie die Kinder, um glücklich zu seyn, heißt
229 Zu Herder und Lessing siehe Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt a.M. 1988, 96–99. 230 N III, S. 213. 231 N III, S. 199. 232 Vgl. die Beschreibung des ersten Menschenpaares im Ritter von Rosencreuz: N III, S. 31. 233 Die hier implizierte Parallele von Onto- und Phylogenese konnte Hamann aus Isaak Iselins Über die Geschichte der Menschheit (1768) bekannt sein. Vgl. NV, S. 68. 234 Isaak Iselin (1728–1782) zählt zu den Begründern der Geschichtsphilosophie in der Aufklärung. In seiner Geschichte der Menschheit, die ab 1764 in sieben Auflagen erschien, schildert er die als Fortschritt gedachte Entwicklung des Menschen. Von Bedeutung ist dabei sein methodischer Anspruch, nämlich diese Entwicklung »auf der Basis von Konjekturen, […] ausgehend von anthropologisch-psychologischen Grundannahmen und […] unter Berücksichtigung des ethnologischen Materials seiner Zeit« (Lucas Marco Gisi: Die anthropologische Basis von Iselins Geschichtsphilosophie. In: Isaak Iselin und die Geschichtsphilosophie der europäischen Aufklärung. Hg. von Lucas Marco Gisi u. Wolfgang Rother. Basel 2011, S. 124–152, hier S. 124) zu rekonstruieren. Für einen Überblick zu Iselin siehe: Ulrich Im Hof: Isaak Iselin und die Spätaufklärung. Bern 1967.
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schwerlich so viel als: habt Vernunft, deutliche Begriffe.«235 Sowohl die Kinder als auch die ›Wilden‹ befinden sich aufgrund ihrer lebendigeren Imagination in einer größeren Nähe zur Sinnlichkeit als der durch Vernunftüberlegungen und Wissenschaft von der Sinnlichkeit distanzierte Mensch. Hamann hat sich Iselins Assoziation von Stufen der Individual- und Gattungs- bzw. Völkergeschichte mit psychischen Vermögen236 zu eigen gemacht, ohne dabei jedoch die Annahme eines geschichtlichen Fortschritts hin zu einer Dominanz der Vernunft zu übernehmen. Die »Einfalt und Sinnlichkeit«237, die bei Iselin die Kindheit des Individuums und der Gattung kennzeichnen, ist für Hamann auch das Wünschenswerte, nicht dasjenige, was überwunden werden soll. Ein positives Bild der ›Wilden‹ konnte Hamann über Lafitau238 vermittelt sein. Für Lafitau verfügen die Ureinwohner Amerikas über dieselben intellektiven Fähigkeiten wie zivilisiert lebende Menschen, besitzen aber eine lebendigere Imagination.239 Außerdem haben sie religiöse Vorstellungen, die mit den christlichen im Einklang stehen.240 Aufgrund der Abwesenheit von Scham sind für Hamann Kinder und ›Wilde‹ mit dem ersten Menschenpaar vergleichbar, von dem es im Ritter von Rosencreuz heißt: »Ihre Blöße war ohne Scham, ihr Nabel ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelte.«241 Hinter »Nabel« ist eine Fußnote gesetzt, die auf den ersten Blick paradox wirkt: »N.B. Die ersten Menschen hatten keinen Nabel.«242 Geht man jedoch Hamanns Verweis auf ein Kapitel aus Sir Thomas Brownes Pseudodoxia Epidemica nach ergibt sich eine sinnvolle Lesart.243 Browne argumentiert, dass man sich den Nabel der ersten Menschen vernünftigerweise nur metaphorisch denken kann, weil man ansonsten annehmen müsse, dass Gott die ersten Menschen mit einem überflüssigen Körperteil ausgestattet habe, da der Nabel ja erst durch die Geburt entsteht. Another mistake there may be in the Picture of our first Parens, who after the manner of their posterity are both delineated with a Navell. And this is observable not only in ordinary and stained pieces, but in the Authetick draughts of Urbin Angelo and others. 235 236 237 238 239 240 241 242 243
An Jacobi 02. 11. 1783. ZH V, S. 95. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 341–342. Zit. nach: Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 341. Joseph-Francois Lafitau (1681–1746) war ein französischer Jesuitenmissionar und Ethnologe. Sein Hauptwerk Moeurs des Sauvages Amériquains, Comparées aux Moeurs des Premiers Temps erschien zuerst 1724. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 121–122. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 119–120. N III, S. 31. N III, S. 31. Zur wissensgeschichtlichen Verortung Brownes siehe Kevin Killeen: Biblical Scholarship, Science and Politics in Early Modern England. Thomas Browne and the Thorny Place of Knowledge. Burlington: 2009, S. 10–34; zum Problem des Nabels S. 85–87.
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Anthropologie bei Hamann
Which notwithstanding cannot be allowed, except we impute that unto the first cause which we impose not unto the second, or what we deny unto nature, we impute unto Naturity itself, that is, that the first and most accomplished piece, the Creator affected superfluities, or ordained parts without use or office. […] Now the Navell being a part, not precedent, but subsequent unto generation, nativity or parturition, it cannot be well imagined at the creation or extraordinary formation of Adam, who immediately issued from the Artifice of God, nor also that of Eve, who was not solemnly begotten, but suddenly framed, and anomalously proceeded from Adam. […] And if we be led into conclusions that Adam had also this part, because we behold the same in our selves, the inference is not reasonable. For the formation of things at first was different from their generation after, and although it had nothing to precede it, was aptly contrived for that which should succeed it.244
Ausgehend davon, dass eine Zweckmäßigkeit dem Schöpfungsakt Gottes (the first cause) und den Naturvorgängen (the second cause) zugrunde liegt, fordert Browne eine entsprechende Darstellung des ersten Menschen. Bei der Darstellung von Adam in der Kunst sollen die Vollkommenheit des göttlichen Schöpfungsaktes und der Unterschied zur Geburt hervortreten. Mit Adams Nabel könne sinnvoll nur die enge Verbundenheit Adams mit Gott gemeint sein und zwar nicht bloß im Sinne der Abhängigkeit einer Wirkung von ihrer Ursache, sondern als eine vitale und intime Verbindung: All the Navell therefore and conjunctive part we can suppose in Adam, was his dependency on his Maker, and the connexion he must needs have unto heaven, who was the son of God. For holding no dependence on any preceeding efficient but God, in the act of his Production there may be conceived some connexion, and Adam to have been in a momentall Navell with his Maker. And although from his carnality and corporall existence, the conjunction seemeth no nearer than of causality and effect; yet in his inmostall and diviner part he seemed to hold a nearer coherence, and an umbilicality even with God himself. And so indeed although the propriety of this part be found but in some animals, and many species there are which have no Navel at all; yet is there on link and common connexion, one generall ligament, and necessary obligation of all whatever unto God. Whereby although they act themselves at distance, and seem to be at loose; yet do they hold a continuity with their Maker. Which catenation or conserving union when ever his pleasure shall divide, let go, or separate, they shall fall from their existence, essence and operations: in brief, they must retire unto their primitive nothing, and shrink into their chaos again.245
Wenn Browne nun seinen auf Adam bezogenen Gedanken der »umbilicality« mit Gott auf alle Menschen, ja alle Geschöpfe hin ausdehnt, so ist darin mehr als eine 244 Thomas Browne: Pseudodoxia epidemica, or, Enquiries into very many received tenents and commonly presumed truths. Together with some marginal observations, and a table alphabeticall at the end. The second edition, corrected and much enlarged by the author. London: Printed by A. Miller 1650, V, 5, S. 202. 245 Browne: Pseudodoxia epidemica, V, 5, S. 203, Hervorhebung A.K.
Körper, Leib und Seele
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»embryonic fantasy« zu sehen, welche zugleich »the threat of apocalypse«246 beinhaltet. Denn die Termini, die er verwendet, um eine ständige Abhängigkeit aller Wesen von Gott zu bezeichnen, zeigen, dass er sich in eine literarische und philosophische Tradition einreiht. Das kommt sehr schön in »catenation or conserving union« zum Ausdruck. »Catenation« evoziert den auf Homer zurückgehenden Topos der ›catena aurea‹, der Kette des Seins, welche alle Wesen mit ihrem göttlichen Ursprung verbindet.247 »Conserving union« hingegen ist die philosophische Formulierung desselben Grundgedankens, demzufolge nämlich die Geschöpfe beständig von Gott in ihrem So- und Dasein (existence and essence) erhalten werden müssen, weil sie für sich allein keine ausreichende Kraft besitzen, um ihr Sein zu erhalten.248 Hamann seinerseits deutet mit dem Bild des Nabels als eines runden Bechers, dem nie Getränk mangelt, die von Browne beschriebene »umbilicality« als einen von Gott garantierten Zustand der Fülle frei von jeglicher Sorge um die eigene Existenz. Hamann fragt daher in der Sibylle: »Woher kommt es nur, dass wir uns jener Gleichheit mit Gott als eines Diebstalls oder Raubes schämen?«249 ›Jener‹ verweist auf den vorhergehenden Absatz, welcher die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als seine Geschlechtlichkeit, seine Fähigkeit und Bestimmung zur Fortpflanzung auslegt. Indem Hamann von Gleichheit spricht, radikalisiert er die traditionelle Rede von der Gottesebenbildlichkeit und transponiert sie auf die Ebene des Körperlichen und Sinnlichen. Die Geschlechtlichkeit ist nicht nur per Analogie mit Gottes Schöpferkraft vergleichbar, sondern ihr gleich, identisch. Hamann verweist dazu auf eine Stelle aus dem Philipperbrief. Die Stelle steht im Kontext einer Ermahnung an die Gemeinde, sich in ihrem Leben untereinander an Jesus Christus zu orientieren: τοῦτο φρονεῖτε ἐν ὑμῖν ὃ καὶ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸεἶναι ἴσα θεῷ.250 Gemäß Hamanns Rekontextualisierung der Paulusstelle bedeutet die Aufforderung, wie Christus gesinnt zu sein, die Geschlechtlichkeit als etwas Natürliches und als den vorzüglichen Erscheinungsort des Göttlichen wahrzunehmen anstatt sich ihrer zu schämen.
246 Killeen: Biblical Scholarship, S. 86. 247 Siehe dazu: Arthur Lovejoy: The great chain of being. A study in the history of an idea. Cambridge, Mass. u. a.1948. 248 Vgl. Leo Scheffczyk: Art. »Erhaltung der Welt.« In: Lexikon für Theologie und Kirche. Hg. von Walter Kasper. Bd. 3. Freiburg u. a. 1995, Sp. 762–763. 249 N III, S. 199. 250 Phil. II, 5–6.: Seit unter auch so gesinnt wie auch in Jesus Christus, welcher in göttlicher Gestalt war und es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein. [Übers. A.K.].
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Anthropologie bei Hamann
6.3
Geschlechtlichkeit und Gottesbegriff
Die Geschlechtlichkeit ist für Hamann nicht nur der vorzügliche Erscheinungsort des Göttlichen, sondern geradezu dasjenige, was die göttliche und menschliche Natur miteinander verbindet, ja vereinigt. Das ansonsten so unaufhebbar Verschiedene wird so auf der Ebene des Sinnlichen als eine Einheit gedacht. Dies zeigt eine Stelle aus einem Brief an Herder, in der Hamann Carl Theodor von Dalbergs Betrachtungen über das Universum kommentiert: »Vielleicht lässt sich sein Problem ohne Chymie sinnlicher durch die Pudenda der göttl. und menschl. Natur als den Mittelpunct ihrer Vereinigung lösen.«251 Dieser Kommentar wirft die Frage auf, was denn unter einer Lösung zu verstehen sei, die sinnlicher als die Chemie ist. Oder anders gesagt: Inwiefern hält Hamann die Betrachtungsweise der Chemie für nicht sinnlich genug? Dazu ist ein Blick in von Dalbergs Schrift aufschlussreich. Dieser stellt sich die Frage, was die einzelnen Geschöpfe bei ihrer Verschiedenheit verbindet, um vom Universum als einem Ganzen sprechen zu können: Worin besteht der Zusammenhang aller Wesen? Wohin trachtet, zweckt ihr Bestreben, Wirken, Daysen? Wo liegt der einzige Knoten, der alles, alles, Welten, Körper, Geister, Zeit und Raum, in ein Ganzes zusammenknüpft? 252
Das Problem des einheitsstiftenden Moments ist umso dringlicher, da von Dalberg annimmt, dass Mannigfaltigkeit Zweck der Existenz sei: »Das Gesetz, welches allen und jeden Wesen ihr Daysen bestimmt und umschreibt, hat Mannichfaltigkeit zum unmittelbaren Zwecke.«253 Indem er vom Prinzip größtmöglicher Vielfalt bei gleichzeitiger Autonomie der einzelnen Wesen ausgeht, nähert er sich Gedanken der Leibnizschen Philosophie: Gewiß scheint es mir, dass die Eigenschaften der individuellen Wesen theils lebende Kraft, theils schlafende Fähigkeiten sind. Daß alle künftig in dem individuellen Wesen lebende Kräfte schon in dem Wesen, als Keime […] enthalten sind. Daß das, was wir Einwirkung nennen, im Grund nichts als Gelegenheit zur innern Entwicklung ist.254
Ebenfalls im Sinne Leibniz’ nimmt von Dalberg an, dass es keine Einwirkung im wörtlichen Sinne zwischen den Geschöpfen gibt.255 Das heißt jedoch nicht, dass 251 An Johann Gottfried Herder, 17. 09. 1779. In: ZH IV, S. 113. 252 [Carl Theodor von Dalberg]: Betrachtungen über das Universum. 2. Aufl. Mannheim 1778, S. 1. 253 Von Dalberg: Betrachtungen, S. 8. 254 Von Dalberg: Betrachtungen, S. 10. 255 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de Métaphysique. Édition collationnée avec le texte autographe présentée et annotée par Henri Lestienne. Paris 1967, S. 47: »chaque substance est comme un monde à part, independant de tout autre chose, hors de Dieu.« sowie S. 48: »une substance particuliere n’agit jamais sur une autre substance particuliere et n’en patit
Körper, Leib und Seele
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Relationalität unbedeutend wäre, im Gegenteil: Erst ein Inbeziehungtreten ermöglicht es, dasjenige, was in einem Lebewesen als bloßes Potential angelegt ist, auch zu verwirklichen: Jedes Wesen hat so viele verschiedene Eigenschaften als einzelne Wesen in dem Universum sind. Diese Eigenschaften sind schlafend, bis gewisse Verhältnisse der Coexistenz sie rege machen. Dann werden sie lebende Kraft. […] Daß individuelle Eigenschaften blos durch Annäherung coexistirender Wesen lebend werden, das ist der Punkt, wo individuelles Daseyn und relatives Daseyn ineinander greifen. Das ist der Knoten, der alle Wesen, alle Theile der Schöpfung in ein Ganzes zusammenbindet. So wird eins dem andern unentbehrlich.256
Insofern also ein Inbeziehungtreten nötig ist, um das, was möglich ist, auch wirklich zu machen, bedürfen die Individuen einander, oder wie von Dalberg es formuliert: »jedes Wesen trägt durch sein Daseyn wieder zur Modification aller Wesen bei.«257 Das Kleinste wirkt auf das Ganze. Die Rede von der ›lebenden Kraft‹ ist hingegen nur oberflächlich an Leibniz orientiert. Bei Leibniz ist die ›vis viva‹ das, was im Universum konstant bleibt258 und das, was die Realität der Körper konstituiert,259 da weder Bewegung noch Ausdehnung dies leisten können.260 Sie ist das »Individuationsprinzip einer jeden Sache und eines jeden Lebewesens.«261 Bei von Dalberg meint ›lebende Kraft‹ sowohl Eigenschaften als auch Fähigkeiten von Individuen und zwar im Moment ihrer Aktualisierung. Auch Hamann verwendet in einem ähnlichen Zusammenhang den Ausdruck ›Kraft‹, wenn er etwa davon spricht, dass wir »Offenbarungen und Überlieferungen […] in unsre Säfte und Kräfte verwandeln.«262 Die Individualität ist demnach nicht in einem dem einzelnen Wesen
256 257 258
259
260 261
262
non plus.« [ jede Substanz ist wie eine Welt für sich, unabhängig von allem anderen, außer Gott. Eine besondere Substanz wirkt niemals auf eine andere besondere Substanz ein, noch erleidet sie etwas von ihr. (Übers. A.K.)]. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 13–14. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 14. Carolyn Iltis: Leibniz and the Vis Viva Controversy. In: Isis 62.1 (1971), S. 27: »Like many other natural philosophers, Leibniz was convinced on metaphysical grounds that something was conserved in nature. This conserved entity was taken by him to be living force, vis viva. If living force were not conserved, the world would either lose force and run down or a perpetual motion machine would be possible.« Iltis: Leibniz and the Vis Viva Controversy, S. 34: »What is real in the universe is activity; the esence of substance is action, not extension as Descartes had insisted. This activity is constituted as a primitive force or a striving toward change; it is the innermost nature of a body.« Vgl. Leibniz: Discours de Métaphysique, S. 57–58. Achermann: Im Spiel der Kräfte. Bewegung, Trägheit und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung. In: ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer u. Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010, S. 287–320, hier S. 306. N III, S. 39.
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Anthropologie bei Hamann
inhärierenden Prinzip begründet, sondern wird in Beziehungen, durch Mitteilungen erst geschaffen. Dass nun zwischen den einzelnen Wesen Beziehungen entstehen, überlässt von Dalberg nicht dem Zufall. Er geht von einem sowohl biologischen als auch psychologischen »Trieb, sich ähnlich zu bleiben«263 aus, welcher auf der Ebene der Fortpflanzung und der Gesellschaft verwirklicht wird. Die Verwendung physikalischer Terminologie legt nahe, dass es dabei um einen unbewusst sich vollziehenden Trieb geht, der menschliches Verhalten steuert: »Hang zur Geselligkeit ist Grundtrieb der Seele, Attraktion der Geisterwelt.«264 Zugleich ist das sich Verbinden mit anderen für den Menschen mit einem Lustgewinn verbunden: »Je mehr der Mensch in viele andere Menschen seine Gefühle und Gedanken übertragen, geistige Ähnlichwerdung veranlassen kann, um so lebhafter ist sein Vergnügen.«265 Von Dalberg gelangt so zu einer psychologischen Erklärung des Ursprungs menschlicher Gesellschaft als Verwirklichung des Bedürfnisses nach Ähnlichkeit untereinander: »Seelenähnlichwerdnung ist also die Veranlassung aller menschlichen Gesellschaft; die nicht Mittel des Eigennutzes ist, wie einige träumen; sondern die selbst Hauptzweck unseres Daseyns ist.«266 Entsprechend liegt in dem Streben nach Ähnlichkeit auch die Möglichkeit von Moralität begründet, die sich freilich auf emotionales Mitempfinden, nicht auf Erwägungen von Pflichten gründet: »Aehnlichwerdung ist Quelle der Teilnehmung an Freuden und auch des Mitleidens. Daher auch die Wonne der Wohlthätigkeit! Nicht nur der, so Wohlthaten empfängt, auch der Wohlthäter genießt die Freuden.«267 Letztlich bleibt das Streben nach Ähnlichkeit auf der immanenten, menschlichen Ebene jedoch unvollkommen. An dieser Stelle wird für von Dalberg der Gottesbezug relevant. Gott wird dabei als vollkommene Einheit gedacht, auf die der Mensch sich seelisch beziehen muss, um im Gefühl der Unvollständigkeit und Unbeständigkeit eine Einheitserfahrung zu machen: »Die Geschöpfe sind beschränkt und mannichfaltig, Gott ist unendlich und eins.«268 Die Liebe zu Gott wird bei von Dalberg dabei als einzig vollkommene verstanden: Die Liebe zu Gott ist die reinste Wollust, deren sie [die Seele] fähig ist, und ist die einzige, die im menschlichen Herzen nichts Leeres zurücklässt. […] Gott ist allenthalben bei uns, ist ewig [im Unterschied zum Freund, A.K.]. […] Der Mensch dürstet unaufhörlich nach Glückseligkeit, und Liebe Gottes ist die einzige unerschöpfliche Quelle, die seinen
263 264 265 266 267 268
Von Dalberg: Betrachtungen, S. 26. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 54. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 56. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 56. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 59. Von Dalberg: Betrachtungen, S. 105.
Körper, Leib und Seele
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Durst ewig in voller Maaße sättigen kann. Und so ist die Liebe Gottes der Hauptzweck unseres Daseyns.269
Hamanns Einwand, dass es der Theorie von Dalbergs an sinnlichem Bezug mangle, lässt sich auf zwei Aspekte beziehen, den Gottes- und den Liebesbegriff. Hamann hat im Unterschied zu von Dalbergs philosophischer Vorstellung von Gott als vollkommener Einheit, als reine ›energeia‹ einen biblischen Gottesbegriff, demnach Gott persönlich und handelnd gedacht wird. Hinzu kommt noch, dass Hamann in seiner Rede von den ›pudenda Gottes‹ auch die Sinnlichkeit und Körperlichkeit Gottes betont.270 Entsprechend ist Liebe bei Hamann etwas dezidiert Körperliches und Erotisches, kein geistig-seelisches Bedürfnis nach Einheit wie bei von Dalberg. Im Gegenteil: Indem Hamann in der erotischen Beziehung von Mann und Frau die Gottesebenbildlichkeit des Menschen verortet, die Geschlechtlichkeit als »verum signaculum creatoris«271 denkt, weist er Einheitsideale jeglicher Art zurück.
6.4
Hamanns sensualistische Begründung von Ethik
Oswald Bayer hat treffend davon gesprochen, dass Hamann »sich ins Christentum ein[übt], indem er alles Weltliche einholt, allen voran den Bereich des Geschlechtlichen.«272 Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie lässt sich die Bedeutung beschreiben, die das Geschlechtliche für Hamanns Vorstellung vom Christsein hat, wenn Christ zu sein bedeutet, nach bestimmten ethischen Vorstellungen zu leben und sich auf seine Mitmenschen zu beziehen? Anders gefragt: Wie lässt sich die für Hamann »konstitutive Verbindung der Sinnlichkeit mit dem sittlich-rechtlichen Selbstbewusstsein«273 verstehen? Es gibt Stellen, die auf eine sensualistische und hedonistische Begründung von Ethik hindeuten: Die Heimlichkeiten unserer Natur, in denen aller Geschmack und Genuß des Schönen, Wahren und Guten gegründet ist, beziehen sich, gleich jenem Baum Gottes mitten im Garten auf Erkenntnis und Leben. Beyde sind Ursachen so wol als Wirkungen der Liebe. 269 Von Dalberg: Betrachtungen, S. 112–113. 270 Zu den möglichen kabbalistischen Quellen dieser Auffassung siehe: Larry Vaughan: Johann Georg Hamann und die Kabbala: Das Geschlechtliche und das Geheiligte. In: Morgen-Glantz 6 (1996), S. 155–162. 271 N III, S. 212. 272 Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München 1988, S. 208. 273 Bayer: Zeitgenosse, S. 211.
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Anthropologie bei Hamann
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn; denn Gott ist die Liebe und das Leben ist das Licht der Menschen.274
Erkenntnis, in ästhetischer, theoretischer und moralischer Hinsicht ist demnach etwas, das zuerst durch sinnliche Erfahrung und durch Lust an ihr zustande kommt. Wie die Betonung des Geschmacks anzeigt, handelt es sich dabei um eine unmittelbare körperliche Berührung, nicht etwa um ein Betrachten des Gegenstandes aus der Distanz heraus. In diesem Zusammenhang findet sich im Ritter von Rosencreuz ein interessantes Detail. Hamann beschreibt dort die erste, ursprüngliche Wahrnehmung der Schöpfung durch den Menschen: »Alles schmeckte und sah, aus erster Hand und auf frischer That, die Freundlichkeit des Werkmeisters, der auf seinem Erdboden spielte und seine Lust hatte an den Menschenkindern.«275 Unter den verschiedenen Sinnen kommt der unmittelbarkörperlichen Berührung, dem Schmecken, anscheinend eine gewisse Priorität zu.276 Wenngleich es auch für Hamann ausgehend vom Johannesevangelium einen »heilsgeschichtlichen Bezug zwischen Sprechen und Sehen«277 gibt, so indiziert die syntaktische Vorrangstellung des Schmeckens doch gleichzeitig, dass das Sehen nicht einseitig bevorzugt und vor allem in einer Verbundenheit zu den anderen Sinnen und damit zur Körperwelt verstanden wird. Hamann schließt sich mit anderen Worten nicht der unter anderem von Kant vertretenen Auffassung an, das Sehen weise die größtmögliche Nähe zum rein intellektiven Bereich und die größtmögliche Distanz zum Körperlichen auf.278 Zugleich verändert sich die theologiegeschichtlich geläufige Bedeutung des Schmeckens. Gemeint ist nicht die »innere, geistliche Erfahrung Gottes«279, sondern die sinnliche Erfahrung als die zugleich direkteste und ursprünglichste Art und Weise, auf die sich Gott dem Menschen mitteilt. 274 N III, S. 213. 275 N III, S. 32. 276 Das gilt durchaus nicht für alle Passagen, in denen Hamann vom ›Schmecken‹ in Verbindung mit anderen Sinneswahrnehmungen spricht. So heißt es in der Aesthetica in Nuce, dass der Mensch Gottes »Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen« (Hamann: Aesthetica in Nuce, S. 115) in der Lage ist. 277 Manfred Beetz: Dialogische Rhetorik und Intertextualität in Hamanns ›Aesthetica in nuce.‹ In: Bernhard Gajek (Hg.): Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des 6. Internationalen Hamann Kolloquiums Marburg/ Lahn 1992. Berlin, New York 1996, S. 96. 278 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders.: Werke. AkademieTextausgabe. Bd. VII. Berlin 1968, S. 156: »Der Sinn des Gesichts ist, wenn gleich nicht unentbehrlicher als der des Gehörs, doch der edelste: weil er sich unter allen am meisten von der Betastung, als der eingeschränktesten Bedingung der Wahrnehmung, entfernt und nicht allein die größte Sphäre derselben im Raume enthält, sondern auch sein Organ am wenigsten afficirt fühlt […], hiemit also einer reinen Anschauung (der unmittelbaren Vorstellung des gegebenen Objekts ohne beigemischte merkliche Empfindung) näher kommt.« 279 Peter Heinreich: Art. »Schmecken.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8, Sp. 1313–1314, hier Sp. 1313.
Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit
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Gleichsam beinhaltet Hamanns Rede vom ›Schönen, Wahren und Guten‹ eine Verschiebung der Prioritäten der Wissensbereiche im Vergleich zur scholastischen Ordnung des ›verum- bonum-pulchrum‹. Während letztere das theoretische Erkennen des Gegenstandes an den Anfang setzt und so der Frage, was etwas jeweils an sich ist, Priorität zuweist, geht Hamann umgekehrt vom Aspekt des subjektbezogenen Gefallen aus und macht diesen so zur Grundlage allen weiteren Wissens. Hamann geht aber noch einen Schritt weiter und behauptet die Grundlage für die Wahrnehmung des Schönen, Wahren und Guten liege in den ›Heimlichkeiten‹ der menschlichen Natur. In einem Brief an Johann Friedrich Hartknoch findet sich eine Stelle, die man als psychologische Erklärung dieser These hinzuziehen könnte: »Doch die Pudenda unserer Natur hängen mit den Cammern des Herzens und des Gehirns so genau zusammen; dass eine zu strenge Abstraction eines so natürlichen Bandes unmöglich ist.«280 Hamann spezifiziert nicht weiter, welcher Art der Zusammenhang zwischen der Geschlechtlichkeit des Menschen und dem Herzen als Zentrum des moralischen Empfindens und dem Gehirn als Sitz des Intellekts ist. So ist es möglich, eine je geschlechtsspezifische physische und psychische Disposition anzunehmen, die ausgehend von der Erkenntnis sich vollzöge, ohne dabei einen vollkommenen Determinismus des Menschen zu behaupten. Dabei ist m. E. auch die Doppelbedeutung von ›Heimlichkeiten‹ zu berücksichtigen. ›Heimlich‹ meint ja nicht nur ›verborgen‹, sondern bezieht sich auch auf das ›Heim‹, also auf etwas Vertrautes. Von den ›Heimlichkeiten‹ der menschlichen Natur als Grundlage der Erkenntnis zu sprechen, würde also heißen, dass der Mensch alles, was er als neu wahrnimmt, berührt und zu erkennen versucht, auf etwas ihm schon von sich selbst her Vertrautes bezieht. In einem Brief an Herder spricht Hamann von Vertraulichkeiten als einer notwendigen Bedingung für die seelische Verständigung zwischen zwei Menschen: »Ein wenig Geheimniß gehört zur Freundschaft wie zur Liebe. Ohne die Vertraulichkeit gewisser Blößen und Schwachheiten findet kein Genuß der Geister statt.«281
7.
Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit
Von Dalbergs oben zitierte Vorstellung von der Gottesliebe als der »reinste[n] Wollust«282 ist ein guter Ausgangspunkt für Hamanns Position. Denn »rein« kann ja in verschiedenem Sinn gelesen werden, nämlich erstens bezogen auf eine nicht 280 An Johann Friedrich Hartknoch, 24. 07. 1784. ZH V, S. 167. 281 An Johann Gottfried Herder, 23. 05. 1768. ZH II, S. 415. 282 Von Dalberg: Betrachtungen, S. 112.
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Anthropologie bei Hamann
sinnliche Form der Lust, deren Träger nicht die Emotionen und Leidenschaften, sondern der ›intellectus‹ ist, zweitens als eine vollkommene, vollendete Lust und drittens als eine Lust, an der Erwartungen des eigenen Nutzens oder Vorteils unbeteiligt sind.
7.1
Abhängigkeit von Gott
Zu der zweiten Bedeutung (vollkommene Lust) passt, dass Hamann Gottes Wort »als die Arzney, als den Wein, der allein unser Herz fröhlich machen kann«283 bezeichnet. Die Empfindung einer heilenden und stärkenden Freude ist nur durch Gott möglich. Der Akzent liegt dabei deutlich auf dem ›verbum dei‹. Das, was den Menschen glücklich macht, ist demnach Gott, insofern er sich ihm mitteilt oder, im Hinblick auf die Logostheologie, Jesus Christus als das fleischgewordene ›verbum dei‹.284 So schreibt Hamann: »Christus ist die Thür, und nicht Moral, bürgerl. Gerechtigkeit, freundschaftliche Dienstbeflißenheit, Menschenliebe.«285 Was den Menschen dazu befähigt, gut zu leben, sind nicht innerweltliche Bindungen und Verpflichtungen, seien sie emotional (Menschenliebe), gesellschaftlich (Moral), institutionell oder politisch (bürgerliche Gerechtigkeit) vermittelt, sondern der christliche Glaube.286 Diese Vorstellung ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Hamann scheint nämlich zum einen zu behaupten, der Mensch sei streng genommen noch nicht einmal in der Lage dazu, sich um den Glauben zu bemühen und zum anderen sei alles Gute, was er selbst tut oder von anderen erfährt, die Folge einer göttlichen Einwirkung. So schreibt er an Lindner: »Es heißt nicht: was nach dem Gewißen nicht ist; sondern was nicht aus dem Glauben kommt ist Sünde; und der Glaube ist nicht jedermanns Ding, sondern Gottes Werk.«287 Zu glauben ist nicht etwas, das ich durch einen eigenen Entschluss oder durch konsequentes Handeln, mithin durch meinen Willen erreichen könnte, sondern etwas, das Gott stiftet. Ohne diese göttliche Hilfe ist der Wille dem Guten geradezu entgegengesetzt. Hamann konstatiert daher im selben Brief: »Unser Wille ist verderbt und unser 283 ZH I, S. 243. 284 Vgl. mit folgender Stelle: »Gott will uns nicht anders hören, annehmen und erkennen als in seinem Sohn.« (ZH I, 242). 285 ZH I, 342. 286 Hier wird deutlich, was Hamann meint, wenn er an Lindner schreibt, er »lutherisiere« (ZH I, S. 308). Luther betont ja, dass allein das Wort Gottes die Frömmigkeit befördern kann: »So müssen wir nun gewiß sein, dass die Seele kann alles Dinges entbehren außer dem Worte Gottes, und ohne das Wort Gottes ist ihr mit keinem Ding geholfen.« (Luther: Freiheit eines Christenmenschen. S. 8). 287 ZH I, 306.
Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit
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Gewißen witzig, vernünftig, gelehrt, katholisch, lutherisch – Was geht mir also mein und anderer Gewißen an.«288 Interessant an dieser Passage sind die verschiedenen Bezeichnungen des Gewissens, erlauben sie es doch, Hamanns Skepsis gegenüber einer Theorie der Möglichkeit von Moral, die von den menschlichen Fähigkeiten ausgeht, in ihrem zeitgenössischen Kontext zu lesen. Wenn das menschliche Gewissen »witzig, vernünftig, gelehrt, katholisch, lutherisch« ist, so stellt es eine Instanz dar, die von der jeweiligen besonderen Position und Perspektive eines Menschen abhängt. Sie ist, anders gesagt, niemals neutral oder ›unparteiisch‹. Hamann wendet sich gegen mehrere Positionen, die innerhalb der theologischen Aufklärung vertreten wurden. Wenn für ihn ein ›vernünftiges Gewissen‹ nicht hinreicht, um den Menschen zum guten, gottgefälligen Leben zu veranlassen, so weist er damit die Position Christian Wolffs zurück, für den ein Mensch, der Schlechtes tut – etwa seinem Nächsten Schaden zufügt, indem er ihn bestiehlt oder gar verletzt – einen Denkfehler begeht. Gleichsam zurückgewiesen wird so aber auch die Position Johann Joachim Spaldings. Wenn nämlich, wie hier offensichtlich für Hamann, der Wille verdorben ist, so kann es nicht ausreichen, sich der »Ausbildung dieses ›eigentlichen, inneren Gefühls des Guten und Wahren‹, […] der Pflege der ›Religion im Menschen‹«289 zu widmen, da ein auf sich allein gestelltes Inneres unfähig ist, das Gute wo nicht wahrzunehmen, so doch zu tun. Damit widerspricht Hamann auch der emanzipatorischen Grundintention Spaldings. Indem Spalding die »noch träge und stumpfe Vernunft«290 als das primäre Übel ansieht, was den Menschen vom richtigen und gottgefälligen Handeln abbringt und entsprechend Religion als »zuverläßigste Vernunftlehre«291 beschreibt, versucht er, die Autonomie des Menschen zu stärken. Gut zu sein und entsprechend der Religion gemäß zu leben, ist kein Effekt einer Gnade, die mir unabhängig von meinem Bemühen zuteilwird, sondern etwas, das ich selbst beeinflussen kann und soll. Für Hamann könnte die Alternative darin bestehen, eine ›strenge‹ augustinische Position zu wählen, welche die Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen als Ursache seines eigenen Glücks einschränkt. Gerade im Vergleich zur Theologie eines Spalding scheint Hamann einen stärkeren Akzent auf die menschliche Abhängigkeit von Gott zu legen und mit Religion immer etwas zusammenzudenken, das sich der Beeinflussbarkeit entzieht. Das wird besonders deutlich in seinen brieflichen Stellungnahmen gegenüber Lindner in puncto Nächstenliebe und Freundschaft: 288 ZH I, 305–306. 289 Walter Sparn: Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 18–57, hier S. 39. 290 Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 39. 291 Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 39.
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Anthropologie bei Hamann
Alle Zärtlichkeiten des Bluts, der Natur sind leere Schalen, die denen nichts helfen, die wir lieben. Wir können unserm Nächsten nicht anders als Schaden thun und sind wißende und unwißende Feinde desselben. Durch Gott allein liebt unser Herz die Brüder, durch ihn allein sind wir reich gegen sie.292
Der Mensch verfügt zwar durchaus über biologische und psychologische Dispositionen, die es ihm ermöglichen, andere zu lieben, für sich betrachtet sind diese Anlagen aber nicht ausreichend, um zu einem entsprechenden Handeln zu führen. Es bedarf der göttlichen Hilfe, damit eine in der Natur des Menschen verankerte Möglichkeit auch zur Wirklichkeit wird. Hamann schreibt daher: »Fleisch und Blut sind Hypothesen – der Geist ist Wahrheit.«293 Die natürlichen Anlagen als Hypothesen zu bezeichnen, bedeutet, sie als Voraussetzungen zu betrachten, als dasjenige, was für ein moralisch-religiös gutes Leben notwendig ist, ihm zugrunde liegt, aber eben an sich nicht hinreicht. Umgekehrt gilt für Hamann auch, dass dasjenige Gute, was mir von anderen widerfährt, nicht kausal mit meinem eigenen guten Handeln, mit meinem Verdienst verbunden ist: Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass wir unserm Nächsten um Gottes Willen dienen müssen v dass alle Freundschaft die wir von andern genießen, weder eine Wirkung noch ein Verdienst unserer ist, sondern von ihm kommt.294
7.2
Augustinische Argumente
Hamann nähert sich einer Vorstellung zwischenmenschlicher Gemeinschaft, die dem augustinischen Gedanken der ›civitas dei‹ ähnlich zu sein scheint. Für Augustinus findet die ›fruitio dei‹ in der Gemeinschaft statt, aber nicht in Form von direkten freundschaftlichen Beziehungen, sondern als »eine Verbindung in der gemeinsamen Beziehung auf das Intelligible.«295 Eine derartige ›indirekte Freundschaft‹ wäre ja die Konsequenz der Annahme, dass ich, wenn ich glücklich sein möchte, mich zuallererst Gott zuwenden muss, weil es mir nicht möglich ist, durch mein eigenes Tun den anderen als Freund zu gewinnen. Andere zu lieben müsste so im Sinne der augustinischen Konzeption der ›caritas‹ verstanden werden, bei der nicht der andere Mensch, sondern Gott das unmittelbare Objekt meiner Zuneigung ist. So heißt es bei Augustinus: »Caritas nenne ich das Streben des Geistes, Gott um seiner selbst willen zur Frucht zu haben und sich und den Nächsten Gottes wegen.«296 292 293 294 295
ZH I, 242–243. ZH I, S. 308. ZH I, 264. Rudolf Lorenz: Fruitio Dei bei Augustin. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 63 (1950/51), S. 75–132, hier S. 96. 296 Lorenz: Fruitio dei, S. 101–102.
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Weder die Liebe zu mir selbst noch die zu anderen sind ein Selbstzweck; beide sind der Gottesliebe untergeordnet und zwar nicht bloß als ›sekundäre‹ Formen der Zuneigung, sondern auch als etwas das nicht für sich bestehen kann und soll, sondern eben für Gott erfolgt. Moralität und Glückseligkeit sind so auf zweifache Weise an Gott gebunden: Zum einen, weil nur Gott gute Taten ermöglicht; zum anderen, weil man sich zunächst Gott zuwenden muss. Wenn »alle Freundschaft die wir von andern genießen«297 uns durch Gott zuteilwird, gibt es streng genommen keine selbständige ›fruitio‹ irdischer Güter, weil die Möglichkeit des innerweltlichen Genießens, die Bezugnahme auf und die Hilfe eines überirdischen Wesens voraussetzt: Das Pfund ist von Gott, der Gebrauch desselben von Gott, der Gewinn gehört ihm. Meine Seele in seiner Hand mit allen moralischen Mängeln und Grundkrümmen derselben. Ihre Richtigkeit ist das Werk eines Geistes, eines Schöpfers, eines Erlösers, und sie gerade und gesund zu machen, gehört weder für mich noch für meinen Freund.298
Weder aus eigener Kraft noch mit der Hilfe anderer ist es dem Menschen möglich, die ›rectitudo animi‹ zu erlangen. Er ist ganz und gar von Gott abhängig. Diese Abhängigkeit betonend schreibt Hamann: »Warte dein Amt um Gottes willen ab – diene Deinem Nächsten um Christi willen […] Erkennen wir uns immer als Werkzeuge einer höheren Hand, die ohne Ihn und seinen Geist nichts thun können.«299 Gemäß der augustinischen Lehre, dass die unter Gott stehenden Dinge »zum Gebrauch verordnet und […] dem Ziele des Gottesgenusses dienstbar gemacht werden [sollen]«300, ordnet Hamann das innerweltliche Leben der Gottesliebe unter: »Seinem Nächsten aus Liebe gegen Gott dienen, wenn auch Zeit, Ehre, Geld und Gut darüber untergehen sollte – -das heißt für sich selbst arbeiten; weil unser Lohn alsdenn groß sein wird.«301
7.3
Hamanns Verhältnis zur Theologie des ›pur amour‹
Wichtig an dieser Stelle ist, dass die oben genannte dritte Bedeutungsvariante von einer ›reinen Lust‹ der Gottesliebe von Hamann nicht bejaht wird. Weltliche Güter, seien sie nun materieller oder immaterieller Art, sollen durchaus geopfert werden, nicht aber die Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung. Anders als die französischen Vertreter der Doktrin des ›pur amour‹ meint Hamann nicht, dass 297 298 299 300 301
ZH I, S. 264. ZH I, S. 309. ZH I, S. 300. Lorenz: Fruitio dei, S. 90. ZH I, S. 313.
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Anthropologie bei Hamann
es notwendig sei, wie etwa für Francois Fénelon302, »le désir naturelle de la béatitude éternelle«303 abzulegen, um so zu einer vollkommenen Liebe zu Gott »sans aucun motif de récompense«304 zu gelangen. Die Gottesliebe setzt zwar eine Hierarchie der Güter voraus, die jedoch nicht die Forderung miteinschließt, Gott unabhängig von der Gnade und dem Guten, dass ich mir von ihm erhoffe, zu lieben. Dementsprechend denkt Hamann Gott als wohlwollend und liebend, wenn er an seinen Bruder schreibt: Wir müssen uns nicht, sagt Paulus, als Schaarwerker sondern als Oeconomi des lieben Gottes in unserm Beruf und in unserm Wandel ansehen. Vergiß nicht bei dem Andenken dieser Leidenszeit den, der alle Dinge weiß, und der sich besonders darum bekümmert, ob wir ihn lieb haben und neugierig ist, dies zu wissen.305
Die göttlichen Gebote zu befolgen, heißt also nicht, sich einer reinen Gehorsamspflicht zu unterwerfen, sondern sich einem gütigen Wesen anzuvertrauen, das an dem Einzelnen Interesse nimmt und sich ihm zuwendet. Gott wird hier weniger als eine Instanz gesehen, die mir etwas vorschreibt oder etwas von mir fordert, sondern als ein Wesen, das mir Gutes tut. Weil Hamann Gott als barmherzig und liebend erachtet, kann er seinem so verstandenen Gott ein Grundvertrauen entgegenbringen, das auch die Gewissheit beinhaltet, dass Gottes Handeln Gutes für mich miteinschließt: »Die Welt mag die beste seyn oder nicht – wenn nur Gott darinn regiert, oder in unserm Herzen vielmehr; so werden seine Wege unsern Augen allemal wohlgefallen.«306 Hamann wäre der Gedanke fremd, im Sinne einer ›reinen‹, vollkommenen Gottesliebe eine »séparation de Dieu d’avec la bienfaisance«307 zu fordern. Im Gegenteil: Gott »legt uns alles aus, wenn er uns allein, so allein dass wir uns selbst fehlen, antrift.«308 Ist der Mensch nicht dazu in der Lage, seine Erfahrungen durch Sinngebung zu ordnen und seelisch zu verarbeiten, hilft ihm Gott. Im Zusammenhang mit einer solchen 302 Francois Fénelon (1651–1715) spielt in der französischen Auseinandersetzung um den ›pur amour‹ eine zentrale Rolle, weil er darum ringt, einen sinnvollen spirituellen Umgang mit der Ungewissheit der Gnade einerseits und der psychologischen Tatsache menschlichen Glücksstrebens andererseits zu finden. Der menschliche Egoismus ist für ihn keineswegs unüberwindbar. Es ist für Fénelon möglich, eine Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Interesse zu erreichen, sich gleichsam in Gott aufzugeben und dadurch zu einer reinen Gottesliebe zu gelangen. Auf der spirituellen Ebene ist für ihn der Kontakt mit Madame Guion entscheidend (siehe dazu: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 140–143 und S. 148–244). 303 Michel Terestchenko: Amour et désespoir. De Francois de Sales à Fénelon. Paris 2000, S. 153: [den natürlichen Wunsch nach ewiger Seligkeit, (Übers. A.K.)]. 304 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 153. [ohne irgendein Motiv der Belohnung, (Übers. A. K.)]. 305 ZH II, S. 11; Hervorhebung A.K. 306 ZH I, S. 392. 307 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 128. [Trennung Gottes vom Wohltun, (Übers. A.K.)]. 308 ZH I, S. 292.
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vertrauensvollen Haltung muss die Empfehlung gelesen werden, die Hamann der Fürstin Gallitzin gegenüber ausspricht, sich in den göttlichen Willen zu fügen: Eine willige Ergebung in den Gottlichen Willen der Vorsehung, und eine muthige Verleugnung unserer eigensinnigsten Schoosneigungen bleibt also wohl das kräftigste Universalmittel gegen jeden Wechsellauf der Dinge und menschl. Urtheile, sie mögen für oder wider uns scheinen.309
Hamann formuliert hier sehr deutlich, worin seine Position besteht. Wenn es darum geht, seine »eigensinnigsten Schoosneigungen« aufzugeben, ist damit nicht gefordert, die eigenen Wünsche und Glücksbestrebungen schlechthin aufzugeben – etwa weil im augustinischen Sinn nur Gott ein konstantes Gut darstelle310 oder weil Gott die Selbstliebe nicht wohlgefällig sei.311 Es geht vielmehr darum, zu einigen Dingen, an die wir uns besonders emotional gebunden haben, Distanz zu gewinnen, um dann aber angesichts des »Wechsellauf der Dinge« eine der stoischen ›tranquilitas animae‹ vergleichbare Ruhe zu erlangen.
7.4
›Inhabitatio dei‹ bei Hamann
Das Genusserlebnis, welches dem Menschen durch die Gegenwart Gottes zuteilwerden kann, ist weltlichen Bindungen gegenüber vorzuziehen: In Ihrer jetzigen Einsamkeit werden Sie die Gnade seiner Gemeinschaft […] und den Seegen seiner Einwohnung mehr als jemals schmecken und erfahren können. Wie entbehrlich, wie überlästig ist uns die Welt, selbst dasjenige, was sonst unser Schoos Kind in derselben gewesen, wenn dieser hohe Gast einen Blick der Zufriedenheit mit unserer Bewirthung, so kümmerlich sie auch ist, uns sehen lässt.312
Dass Hamann im Zusammenhang mit der Lehre von der Einwohnung Gottes im Menschen von ›schmecken und erfahren‹ spricht, ist bemerkenswert, weil in der theologiegeschichtlichen Diskussion gerade die Frage gestellt wird, ob es für den Christen überhaupt möglich ist, die Einwohnung zu erfahren, die an sich erst einmal eine »Glaubensaussage [ist], die ihren Grund im Zeugnis der Heiligen Schrift hat«313. So unterscheidet Luther »die Frage der Realität der Einwohnung […] von der nach ihrer Erkennbarkeit.«314 Karsten Lehmkühler resümiert im 309 310 311 312 313
H VII, S. 377. Lorenz: Fruitio dei, S. 78–79. Vgl. dazu: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 155–166. ZH I, S. 265–266. Karsten Lehmkühler: Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen. Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. Hg. von Reinhard Slenczka u. Gunther Wenz. Bd. 104. Göttingen 2004, S. 333. Zur theologischen Diskussion vgl. insbes. S. 101–111, 169– 170. 314 Lehmkühler: Inhabitatio, S. 330.
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Anthropologie bei Hamann
Hinblick auf Luthers Position: »Es ist durchaus denkbar, dass die Einwohnung lediglich geglaubt wird, ohne in der Erfahrung sicher erkannt werden zu können.«315 In der lutherischen Orthodoxie wiederum ist die Einwohnung zwar »Ursache einer erlebbaren Freude«316, was aber nicht bedeutet, dass man sich ihrer gewiss sein kann. Wenn Hamann hier die Einwohnung Gottes als eine durchaus sinnliche Erfahrung schildert, macht er deutlich, dass für ihn die erkenntnistheoretischen und theologischen Probleme, welche die Lehre von der Einwohnung beinhaltet,317 weniger relevant sind. Vor allem grenzt er sich mit seiner Rede vom »Schmecken und Erfahren« von Augustinus’ Vorstellung der ›inhabitatio dei‹ ab, bei der Gott vorwiegend als ein Intelligibles erscheint, welches nur von einem ebenfalls Intelligiblen erkannt werden kann.318 Hamann geht es weniger darum, etwas von Gott zu erkennen, sondern seine Gegenwart positiv zu erleben, was ja auch dann möglich ist, wenn man im Hinblick auf die biblische Rede von der Einwohnung annimmt, dass Gott ›im Dunkeln‹ wohnen wolle.319 Das individuelle Erleben und speziell die nicht visuelle sinnliche Wahrnehmung werden so enorm aufgewertet, um von einer Erfahrung zu sprechen, die gewiss und authentisch ist, dabei aber die Möglichkeiten einer denkerischen Erfassung übersteigt.320 Hamann stellt dabei die Einwohnung klar in den Horizont der Kondeszendenz Gottes. Wenn Gott sich als ›Gast‹ zeigt, der auch mit einer ›kümmerlichen Bewirtung‹ zufrieden ist, dann handelt es sich bei der Einwohnung um eine besondere Form seiner Anwesenheit, die von seiner Allgegenwart verschieden ist.321
7.5
Die Leidenschaften in Hamanns Theologie
Nun könnte Hamanns Rede von einem »Schmecken« der Gegenwart Gottes ja auch eine bloße Metapher sein, die dazu dienen würde, etwas an sich nicht Sinnliches zu veranschaulichen und als etwas darzustellen, das trotz seiner nicht
315 Lehmkühler: Inhabitatio, S. 330. 316 Lehmkühler: Inhabitatio, S. 330. 317 Zum Beispiel die Frage wo im Menschen und auf welche Art und Weise Gott einwohnt. Vgl. dazu Lehmkühler: Inhabitatio, S. 71–72, S. 99–101. 318 Lorenz: Fruitio dei, S. 107. 319 1. Kön. 8, 12. 320 Vgl. dazu auch Luther: »Auf welche Weise er [Christus, A.K.] aber anwesend ist, kann nicht gedacht werden, da es wie gesagt Finsternis ist.« (zit. nach: Lehmkühler: Inhabitatio, S. 330). 321 Hamann spricht von Gott auch als demjenigen, »der bey seinem Abschiede versprochen allenthalben bey uns zu seyn, nicht nur allenthalben sondern auch keinen Tag unsers Lebens biß ans Ende desselben ausgenommen« (ZH I, S. 292).
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sinnlichen Natur auf lebendige Art und Weise empfunden wird.322 Dass dies nicht der Fall ist, zeigen jedoch einige Bemerkungen, die aus derselben Zeit stammen, wie die oben analysierten Passagen, also zwischen 1758 und 1759 entstehen. So schreibt Hamann an Lindner: »Wenn der natürl. Mensch 5 Sinnen hat, so ist der Christ ein Instrument von 10 Sayten. Und ohne Leidenschaften einem klingenden Erz ähnlicher als einem neuen Menschen.«323 Er zitiert hier eine Stelle aus dem paulinischen ›Hohelied der Liebe‹, in dem es zu Anfang heißt: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht (›αγαπην δε με εχω‹), so wäre ich ein tönendes Erz (›γεγονα χαλκος ηχων‹) oder eine klingende Schelle.«324 Dort, wo Paulus von Liebe als christlicher Liebe (›caritas‹ bzw. ›αγαπη‹) spricht, redet Hamann von Leidenschaften, die der Apostel bekanntlich mehrfach verurteilt hat.325 Die sinnlich-psychische Natur des Menschen erfährt so eine enorme Aufwertung. Weit davon entfernt einem christlichen Lebenswandel entgegenzustehen, gehören die Leidenschaften zu seinen Voraussetzungen. Anders als für Paulus gehören für Hamann die Leidenschaften nicht dem Fleisch und den schlechten Begierden an,326 sondern ermöglichen ein intensives, emotional lebendiges Glaubensverständnis. Mit diesem positiven Verständnis einer innerseelischen Sinnlichkeit scheint sich Hamann m. E. auch von Luthers Auffassung zu distanzieren. Denn Luthers Unterscheidung zwischen einem geistlichen und innerlichen Menschen, dem es allein zukommt, frei zu sein, und einem leiblichen und äußerlichen Menschen, der in dieser Hinsicht dienstbar genannt wird, beinhaltet die Forderung, den Leib durch verschiedene Maßnahmen zu zwingen, damit er dem Glauben nicht widerstrebe: Obwohl der Mensch inwendig nach der Seele durch den Glauben genugsam gerechtfertigt ist und alles hat, was er haben soll […] so bleibt er doch noch in diesem leiblichen Leben auf Erden und muß seinen eigenen Leib regieren und mit Leuten umgehen. Da geben sich nun die Werke an. Hier muß er nicht müßig gehen, da muß fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt sein, dass er dem innerlichen Menschen und dem glauben gehorsam und gleichförmig werde, nicht hindere noch widerstrebe, wie seine art ist, wo er nicht gezwungen wird.327
322 Zur Funktion sinnlicher Metaphorik bei Augustinus vgl. Lorenz: Fruitio dei, S. 108–117; 121–122. 323 ZH I, 339. 324 1. Korinth., 13. 325 Vgl. Röm. 6, 13 sowie Röm. 7, 5: »Denn solange wir dem Fleisch verfallen waren, da waren die sündigen Leidenschaften, die durchs Gesetz erregt wurden, kräftiger in unsern Gliedern, so dass wir dem Tode Frucht brachten.« 326 Vgl. Gal. 5, 24: »Die aber Christus Jesus angehören, die haben ihr Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Begierden.« 327 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 18.
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Hamann vertritt demgegenüber eine optimistisch anmutende Theologie, die sich anders als die Theologie der Aufklärung nicht auf die Vernunft gründet und darauf abzielt, durch entsprechende pädagogische Maßnahmen die »Kräfte und Vorzüge, […] den Wert und die Güte der menschlichen Natur«328 so zu stärken, dass ihre prälapsarische Vollkommenheit wiederhergestellt wird.329 Hamann ist es nicht so sehr um eine aufklärerische »Verknüpfung von Religion und Leben«330 zu tun, bei der die Gebote der Religion zunehmend mit denjenigen der Moral identifiziert werden, sondern darum die Gotteserfahrung in den Bereich sinnlichen Erlebens zu transponieren. So wendet er sich gegen ein intellektualistisches Religionsverständnis: »Ein Herz ohne Leidenschaften, ohne Affeckt ist ein Kopf ohne Begriffe, ohne Mark. Ob das Christenthum solche Herzen und Köpfe verlangt, zweifle ich sehr.«331
7.6
Hamann und Francois de Sales
In seiner positiven Einbeziehung der emotional-psychischen Ebene für die Religiosität steht Hamann Francois de Sales näher als denjenigen unter seinen Zeitgenossen, die ihr besonderes Augenmerk auf eine Einschränkung der aus der augustinischen Gnadenlehre resultierenden Schrecken332 richten und dabei die Fähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung betonen.333 Hamann mit Francois de Sale zu vergleichen, bedarf einer Begründung: Es geht nicht darum, einen direkten oder indirekten Einfluss der Theologie de Sales auf Hamanns theologische Überzeugungen zu behaupten. Das wäre schon allein deshalb nicht akzeptabel, weil sich in der Biga keine Werke de Sales finden. Die hier vertretene These ist, dass beide Autoren sich mit einem theologiegeschichtlich relevanten Problem auseinandersetzen und dabei trotz der verschiedenen historischen Kontexte, in denen sie schreiben, zu sehr ähnlichen Lösungen gelangen. Anders gesagt: Es existiert ideengeschichtlich gesehen eine Affinität zwischen Hamann und de Sale, die hier herausgestellt werden soll, um Hamanns theologischen Standpunkt zu spezifizieren.
328 Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 46. 329 Zur aufklärerischen Kritik am Dogma der Erbsünde vgl. Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 44–46. 330 Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 41. 331 ZH I, S. 428. 332 Zur Problematik der augustinischen Prädestinationslehre vgl. Terestchenko: Amour et désespoir, S. 26–36. 333 Sparn: Vernünftiges Christentum, S. 44–47.
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Francois de Sale (1567–1622) war Bischof von Genf und gelangte insbesondere als Beichtvater adliger Damen zu Einfluss.334 Aus seiner seelsorgerischen Tätigkeit entstand sein Traité de l’amour de Dieu, der 1616 in Lyon erschien. De Sale distanziert sich in diesem Werk von der augustinischen Gnadenlehre – der zufolge die göttliche Gnade unabhängig von Verdiensten gleichsam zufällig den einen verliehen und den anderen versagt werde –, die ihn schon als jungen Mann erschreckt hatte. Nicht nur ist die göttliche Gnade jedem Menschen überreichlich angeboten; er besitzt auch die Freiheit, sie zu nutzen. Im Hinblick auf den Liebesbegriff betont de Sale, die Gottesliebe bestehe nicht darin, jegliche Liebe zu sich selbst oder zu anderen abzuweisen. Im Gegenteil, gebe es eine gute, natürliche Selbstliebe, die auch das Gute für sich sucht.335 7.6.1 Liebe Francois de Sales beschreibt die Liebe als wichtigste menschliche Emotion: »l’esprit est la perfection de l’homme; l’amour celle de l’esprit.«336 Das spezifisch Menschliche oder besser gesagt dasjenige, was dem Menschen als Lebewesen seine Würde und Vollkommenheit verleiht, ist nicht der Geist, nicht der Intellekt, sondern die Liebe. Sitôt que l’homme pense un peu attentivement à la Divinité, il sent une certaine douce émotion du coeur, qui témoigne que Dieu est Dieu du coeur humain; et jamais notre entendement n’a tant de plaisir qu’on cette pensée de la Divinité.337 Sobald der Mensch ein bisschen aufmerksam an die Gottheit denkt, so empfindet er ein gewisses süßes Gefühl des Herzens, das bezeugt, dass Gott der Gott des menschlichen Herzens ist; und niemals hat unser Verstand so viel Freude als an diesem Gedanken der Gottheit.
Sich gedanklich Gott zu widmen, bedeutet, ihn im Herzen zu empfinden und zwar solchermaßen, dass dies mit einem Gefühl der Süße (›une douce emotion‹) und mit Vergnügen oder Lust (›plaisir‹) auch für den Verstand einhergeht. Bei Hamann findet sich diese Verknüpfung des Gottesbegriffs mit dem Lustempfinden in der These, dass die gesamte Schöpfung einschließlich des Schöpfers um
334 Zur Biographie siehe Friedrich Wilhelm Bautz: Art. »Franz von Sales.« In: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 2. Hg. von Friedrich-Wilhelm Bautz. Hamm 1990, Sp. 104–108. 335 Siehe detailliert dazu: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 39–53. 336 Saint Francois de Sales: Traité de l’Amour de Dieu. Nouvelle Edition revue et publiée par le P. Marcel Bouix. Paris: Librairie Ve Poussielgue et Fils 1866, I, 1, S. 27. [Der Geist ist die Vollkommenheit des Menschen; die Liebe die des Geistes, Übers. A.K.]. 337 De Sales: Traité, I, 2, S. 30, Übers. AK.
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Anthropologie bei Hamann
der Lust willen existieren: »und alle Dinge folglich auch das ens entium ist zum Genuß da und nicht zur Speculation.«338 Diese Lust, wenngleich sie dem göttlichen Wesen gilt, kann nun für de Sales zugleich auch weltlicher Art sein: »Or jamais aucun amour n’ôte son coeur [das Herz des Menschen, A.K.] à Dieu, sinon celui qui lui est contraire.«339 Dieses theologische Zugeständnis an diesseitige Formen der Liebe steht allerdings in einem merkwürdigen Kontrast zur Ansicht, dass wir »indifférents devant la damnation de ceux que le péche a endurcis«340 bleiben müssen, um uns Tätigkeiten zu widmen, die »plus utiles de la gloire de Dieu«341 seien. Hamann hingegen scheint eine derartige Härte fremd zu sein, wobei das zentrale Motiv nicht das Mitgefühl für den anderen ist, sondern der Gedanke des sich im andern Erkennens: Wir können das Verderben unsers Nächsten nicht sehen ohne an unser eigenes zu denken und diese Rücksicht beugt uns; und diese Demüthigung giebt unserm Geist Kräfte und macht uns zu Wendungen aufgelegt, die ein grad und steif denkender Philosoph nicht nachzumachen im stande ist.342
Um im anderen das eigene Selbst mitzudenken, ist keine Entscheidung notwendig; es ist ein Gedanke, der sich gleichsam instinktiv von selbst einstellt. Das ›Verderben‹ anderer, etwa in Form eines der Frömmigkeit widersprechenden Lebenswandels, ist nicht so sehr etwas, von der der Christ sich zu distanzieren hat,343 sondern eine Erfahrung, die ihm Anlass gibt, über sich selbst nachzudenken.344
338 ZH V, S. 265. 339 De Sales: Traité, I, 4, S. 37. [Aber niemals nimmt irgendeine Liebe das Herz des Menschen von Gott weg, wenn nicht diejenige Liebe, die ihm (Gott) widerspricht, (Übers. A.K.)]. 340 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 58. [gleichgültig gegenüber der Verdammnis derjenigen, die die Sünde verhärtet hat, (Übers. A.K.)]. 341 Zit. nach: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 58. [nützlicher für den Ruhm Gottes, (Übers. A.K.)]. 342 ZH II, S. 8. 343 Für de Sales scheint dies eine im Sinne der Nachahmung Christi geradezu geboten zu sein. Vgl. »il faut imiter Notre-Seigneur et les Apôtres, c’est-à-dire divertir notre esprit de là« (Terestchenko: Amour et désespoir, S. 58). 344 Andererseits meint auch Hamann, dass der Christ keinen Umgang mit Menschen pflegen sollten, die ihn von einer gottgefälligen Lebensführung offenkundig abbringen. So empfiehlt er seinem Bruder folgende Passage des Chrysostomos: »Wenn Du einen Schwelger und Unreinen siehst, einen Menschen voll Bosheit, voll irriger Lehren, der dich zum Fall zu bringen und Dir zu schaden sucht: so weiche von ihm und fliehe zurück. Das verlangt Christus von Dir: Wenn Dich Dein rechtes Auge ärgert; so reiß es aus, und wirf es von Dir. Er befiehlt dir Deine liebsten Freunde, die Dir so theuer als Deine Augen und Dir bey den Geschäften dieses Lebens eben so unentbehrl. Sind, auszureißen und wegzuwerfen, wenn sie Dir an Deiner Seeligkeit hinderlich sind.« (ZH I, S. 436).
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7.6.2 Freiheit Das, was Francois de Sales nun aber m. E. am meisten mit Hamann verbindet ist eine Theologie, bei der Freiheit eine entscheidende Rolle in der Beziehung zwischen Gott und Mensch spielt. Gott ist bei de Sales kein zu fürchtendes Wesen, das danach trachtet, den Menschen mit zwangsähnlichen Mitteln an sich zu binden und ihm gehorsam zu machen, sondern ein liebender Gott, der dem menschlichen Streben nach Glückseligkeit geradezu entgegen kommt: Théotime, nous ne sommes pas tirés de Dieu par des liens de fer, comme les taureaux et les buffles, mais par manière d’allèchements, d’attraits délicieux et de saintes inspirations, qui sont […] proportionnés et convenables au coeur humain, auquel la liberté est naturelle. Le propre lien de la volonté humaine, c’est la volupté et le plaisir.345 Theotime, wir werden von Gott nicht durch Eisenketten gezogen, wie die Stiere und die Büffel, sondern durch Verlockungen, köstliche Reize und heilige Inspirationen, die für das menschliche Herz passend und angemessen sind, für das die Freiheit natürlich ist. Das eigentümliche Band des menschlichen Willens ist die Lust und die Freude.
Freiheit ist auch für Hamann eine Grundintuition, die sein Verständnis von Religion bestimmt. Das Christentum ist ihm deshalb sympathisch, weil es mit seiner Vorstellung von Freiheit zusammenpasst, die er – wenn auch mit anderen Worten – auf eine ähnliche Art und Weise beschreibt wie Francois de Sales. An Lindner schreibt er: Ein natürl. Hang zur Freyheit ist mir gewissermaßen mehr natürlich als Ihnen; ich liebe also auch in dieser Absicht das Christenthum als eine Lehre, die meinen Leidenschaften angemeßen ist, die nicht eine Salzsäule, sondern einen neuen Menschen verlangt, und verspricht. […] Die Gerechtigkeit in Christo ist kein Schnürleib, sondern ein Harnisch; an den sich ein Streitender wie ein Mäcänas an seinen dissoluto habitu, losen Tracht gewöhnt.346
Hamann und de Sales kommen darin überein, dass der Christ von Gott nicht gegängelt, nicht zu einem ihm gefälligen Handeln durch Zwang oder Furchteinflößung bewegt wird; Gott gebraucht weder ›liens de fer‹ noch einen ›Schnürleib‹, sondern passt sein Handeln der menschlichen Natur an. So versteht Hamann die Menschwerdung Gottes als eine liebevolle Aufforderung. Gott »ahmte uns nach, um uns zu seiner Nachahmung aufzumuntern.«347 Die Menschwerdung Gottes richtet sich nicht nur an die wenigen Auserwählten, sondern an alle Menschen. Hamanns Rede von einer göttlichen ›Aufmunterung zur Nachahmung‹ suggeriert, es handle sich dabei um etwas ganz Einfaches, das 345 De Sales: Traité de l’amour de Dieu. Zit. nach: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 44, Hervorhebungen und Übers. A.K. 346 ZH I, S. 431. 347 ZH I, S. 394, Hervorhebung A.K.
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gern und geradezu spielerisch getan wird, etwas, woran der Mensch Freude findet, anstelle sich in Verzicht und Gehorsam zu üben.348 Anders als Augustinus, für den die auf Sinnliches gerichtete Begierde mit der Gottesliebe unvereinbar ist, weil sie den Gläubigen verderbe,349 räumen de Sales und Hamann dem Christen explizit die Freiheit ein, auch die sinnliche Schöpfung zu genießen, wenngleich für de Sales das, was er ›appétit intellectuel‹ nennt, gegenüber dem sinnlichen Streben einen höheren Wert besitzt.350
7.6.3 Das Gute und der Wille Nun lässt es de Sales aber nicht bei der Feststellung bewenden, dass dem Menschen der Gedanke Gottes Vergnügen bereitet und dass er dabei legitimerweise auch an Weltlichem Vergnügen finden darf. Im Gegenteil verbindet er mit der psychischen Empfindung von Lust auch seinen Begriff des Guten: »gut ist, dessen Genuß uns erfreut.«351 Mit ›gut‹ scheint an dieser Stelle zwar in erster Linie ›gut für mich‹ gemeint zu sein, also Genuss und Wohlempfinden. Dennoch hat der Begriff des Guten immer auch eine ethisch-moralische Konnotation, welche zum Tragen kommt, wenn de Sales den Willen als Vermögen beschreibt, das natürlicherweise zum Guten hin strebt: So wesentlich ist der Wille auf das Gute ausgerichtet, dass er sich ihm sofort zuwendet, sobald er seiner gewahr wird, um sein Wohlgefallen an ihm zu finden, das ja sein ihn stets befriedigender Gegenstand ist. Er ist mit ihm so innig verwandt, dass man sogar sein Wesen nur durch diese Bezogenheit auf das Gute erklären kann, wie man auch das Wesen des guten nur erklären kann durch seine Verbundenheit mit dem Willen. […] Wenn also der Wille durch die Vermittlung des Verstandes, der ihm das Gute zeigt, dessen gewahr und bewusst wird, fühlt er sofort Freude und Gefallen an dieser Begegnung. Und dies erregt ihn und zieht ihn, lieblich aber mächtig, zu diesem liebenswerten Gegenstand hin, um sich mit ihm zu vereinigen, und lässt ihn alle dafür geeigneten Mittel suchen, um diese Vereinigung zu vollziehen. Der Wille hat also eine sehr innige Beziehung zum Guten. Dieser Beziehung zum Guten entspringt das Wohlgefal348 Hamann spricht von der »Freymüthigkeit und Freude, die uns in Christo gegeben ist« (ZH I, S. 293). 349 In De trinitate beschreibt Augustinus den Unterschied zwischen ›caritas‹ und ›cupiditas›: »Begehrlichkeit ist es nämlich dann, wenn das Geschöpf um seinetwillen geliebt wird. Dann hilft es nicht dem, der es gebraucht, sondern verdirbt den, der es genießt. Da also das Geschöpf entweder uns gleich oder geringer ist als wir, so müssen wir das Geringere auf Gott hin gebrauchen, das uns gleiche genießen, aber in Gott.« (Aurelius Augustinus: De trinitate. Bücher VIII–XI, XIV–XV, Anhang: Buch V. Lateinisch-deutsch. Neu übers. u. mit Einl. hg. von Johann Kreuzer. Hamburg 2001, S. 70–71). 350 Vgl. Terestchenko: Amour et désespoir, S. 47. 351 Saint Francois de Sales: Traité de l’Amour de Dieu/ Abhandlung über die Gottesliebe. Übers. von P. Franz Reisinger. In: Franz von Sales: Werke. Hg. von den Oblaten des hl. Franz von Sales. Bd. III. Eichstätt 1957, S. 50.
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len, das der Wille empfindet, wenn er das Gute spürt und schaut. Weil es ihm gefällt, wird der Wille zum Guten hin bewegt und gedrängt.352
Aufgrund dieser natürlichen bzw. kreatürlichen Hinordnung auf das Gute ist der Wille auch besonders geeignet dazu, das menschliche Streben und Vermögen zu organisieren und auf Ziele hin auszurichten: So hat Gott auch in jedem Menschen eine natürliche Monarchie errichtet. In jedem Menschen gibt es eine unermeßliche Menge und Mannigfaltigkeit von Handlungen, Regungen, Gefühlen, Neigungen, Gewohnheiten, Leidenschaften, Fähigkeiten und Kräften. Über diese alle hat Gott den Willen als Herrscher gesetzt, der alles lenkt und leitet und allem, was es in dieser kleinen Welt gibt, seine Befehle erteilt.353
Diese von Hamann und de Sales geteilte hedonistische und voluntaristische Anthropologie hat Konsequenzen für Hamanns Vorstellung von Gesellschaft. Er schließt sich einer von Aristoteles ausgehenden Argumentation an, Gesellschaft aus ihrem kleinsten Bestandteil heraus zu erklären,354 verändert aber die Begründung. Menschen verbinden sich zu Paaren nicht aufgrund eines biologisches Triebs zur Fortpflanzung, nicht um der Arterhaltung willen, sondern zunächst einmal, um aneinander als Mann und Frau Genuss zu finden. Die Ehe ist »der köstliche Grund und Eckstein der ganzen Gesellschaft.«355 Als Institution, welche Gesellschaft begründet, entsteht die Ehe demnach aufgrund eines natürlichen Luststrebens, nicht in Folge von Nützlichkeitserwägungen oder von abstrakten Zwecken, die außerhalb des Horizonts des Individuums liegen. Genuss als ›causa efficiens‹ der Ehe schließt es freilich für Hamann nicht aus, diese zugleich auch als eine bewusste und freie Entscheidung zu verstehen: »Die Ehe ist also ein vermöge eines gefassten Rathschlusses aufgerichtetes Bündnis, und auf Vernunft und Treue gegründet.«356 Es scheint berechtigt, hier nach der Vereinbarkeit der beiden Argumente zu fragen: Wie kann etwas zugleich das Ergebnis eines natürlichen Strebens und eine Willensentscheidung sein? Beides lässt sich m. E. miteinander vereinbaren, wenn man de Sales Begriff des Willens hinzuzieht: Für de Sales gibt es im Menschen die verschiedensten Neigungen, also auch diejenige, sich mit einem anderen Menschen in Liebe zu
352 De Sales: Abhandlung, S. 64. 353 De Sales: Abhandlung, S. 51. 354 Aristoteles: Politik. Übers. u. mit erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes. Mit einer Einleitung von Günther Bien. Hamburg 1981, 1252 a, S. 2: »Es ist also notwendig, dass sich zunächst diejenigen Individuen verbinden, die ohne einander nicht sein können, also einmal Weibliches und Männliches der Fortpflanzung wegen – und zwar nicht aus Willkür, sondern nach dem auch den anderen Sinnenwesen und den Pflanzen innewohnenden Triebe, ein anderes, ihnen gleiches Wesen zu hinterlassen […].« 355 N III, S. 200. 356 N III, S. 199.
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Anthropologie bei Hamann
verbinden. Der Wille nun erkennt diese Neigung als ein Gut und beschließt, sie zu verwirklichen.
7.6.4 Gnade Schließlich findet sich sowohl bei Francois de Sales als auch bei Hamann eine positive Konzeption der Gnade als eines Geschenks, das nicht nur einigen wenigen, sondern allen Menschen von einem liebenden Gott gegeben wird. Francois de Sales räumt zwar ein, dass einige Menschen eine außergewöhnliche Gnade erhalten können; an sich aber ist die Gnade »offert à tous en riches et abondantes semences.«357 Hamann geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er von einem überreichlichen Vorhandensein der Gnade spricht, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt, aber in einer Art gütigen Allgegenwart immer da ist: »doch Seine Gnade übertrifft unendlich alles was unser Herz ersinnen und begehren kann. Sie ist über uns Allen und allenthalben jeden Morgen, Mittag und Abend neu und unerschöpflich für jeden, der darauf merkt.«358 Entsprechend nimmt Hamann nicht an, man könnte sich Gottes Wohlwollen durch einen frommen Lebenswandel erwerben. So schreibt er an seinen Bruder: »Suche nicht Gott mit langen Gebeten, andächtigen Uebungen, Kasteyungen und guten Werken zu versöhnen. Er ist schon versöhnt – nicht heute – von Ewigkeit her – und es ist alles für Dich bereitet in diesem und in jenem Leben.«359 Bei dieser Position spielt gewiss die lutherische Vorstellung »allein der Glaube ohne alle Werke [mache] fromm, frei und selig«360 eine Rolle. Die Begründung scheint mir aber bei Luther und Hamann durchaus verschieden zu sein. Ersterer Luther betont, die Gebote seien »dazu geordnet, dass der Mensch darinnen sehe sein Unvermögen zu dem Guten und lerne an sich selbst verzweifeln.«361 Auch die Werke sind für Luther »tote Dinge, können nicht ehren noch loben Gott«362, so dass der Mensch schließlich »recht gedemütigt und zunichte geworden [ist] in seinen Augen«363, weil er es aus eigener Kraft nicht vermag, Gott zu gefallen. Der Mensch verfügt so von sich allein über keine Möglichkeit, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Vielmehr ist es durchaus eine Intention Gottes, ihm gerade durch die Gebote seine Nichtigkeit und Abhängigkeit vor Augen zu führen. In Hamanns Theologie spielt demgegenüber der Aspekt der Demütigung eine vergleichsweise 357 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 42. [allen in reichen und übermäßigen Samen angeboten, Übers. A.K.]. 358 H VII, S. 339. 359 ZH I, S. 401. 360 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 10. 361 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 10. 362 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 14. 363 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen, S. 11.
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geringe Rolle. Wenn Gott die menschliche Seele »mit allen moralischen Mängeln und Grundkrümmen derselben«364 in seiner Hand hält, dann ist ihm die menschliche Unvollkommenheit nicht prinzipiell zuwider sondern im Gegenteil akzeptiert er sie durchaus, ohne deshalb seinen Schutz und seine Anwesenheit zurückzunehmen. So findet sich bei Hamann ein Gottesbegriff, in dem der Gedanke der Liebe Gottes größere Bedeutung hat als derjenige der Gerechtigkeit: »Ist seine Gerechtigkeit nicht eyfersüchtig über die Eingeweide seiner Erbarmung und seiner Lust an den Menschenkindern.«365 Gott ist weniger ein Richter, der menschliche Fehltritte ahndet, sondern ein gütiges Wesen, das selbst Gefallen an seinen Geschöpfen findet. Dies vorausgesetzt, ist es nunmehr eine Sache des menschlichen Willens, die ihm geschenkte Gnade entweder anzunehmen oder aber zurückzuweisen. Der menschlichen Freiheit und damit auch der Verantwortung des Menschen wird so ein hoher Stellenwert zugesprochen, denn die Gnade wird zwar ohne menschliches Dazutun gegeben und empfunden, kann sich aber nur unter Mitwirkung des Menschen entwickeln.366
7.7
Deutungen des Sündenfalls bei Hamann
Beim frühen Hamann findet sich eine Deutung des Sündenfalls, die Zweifel aufkommen lässt bezüglich seiner Vorstellung eines vorwiegend guten und wohlwollenden Gottes. So schreibt er in den Betrachtungen über Newtons Abhandlung von den Weissagungen: Die Blöße Gottes, die Schaam der Schöpfung, ist das Menschliche Geschlecht, der Sündenfall, – - der trunkene Noah ist zugleich ein Sinnbild des Menschlichen Geschlechts; […] Spotten wir nicht noch mit Cham unserer eigenen Natur und der Blöße unsers Vaters in den Barbaren, Wilden p.p. Was war das Verdienst der Juden und weisen Heyden – Sems und Japhets – - Gieng das Gesetz und die Philosophie der beyden so weit, um den Fall Adams wieder gut zu machen. Sie giengen beyde rückwärts. Jsai XLIV. 25. sie kannten beyde nicht das Verderben ihrer Natur – - sie thaten nichts als eine Decke […] darüber ausbreiten […] Die Blöße seines Vaters, worüber Ham spottete und sie
364 ZH I, S. 309. 365 ZH I, S. 352. 366 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 43: »Car Dieu laisse, le plus souvent, à la liberté de chacun le soin de coopérer à l’attrait de la grace, laquelle se fait sentir en nous sans nous, mais ne peut se developer en nous que par nous.« [Denn Gott räumt in den meisten Fällen der Freiheit jedes Einzelnen die tätige Sorge ein, an der Anziehungskraft der Gnade mitzuwirken, welche sich in uns ohne uns bemerkbar macht, sich aber nur durch uns in uns entwickeln kann. Übers. A.K.].
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Anthropologie bei Hamann
dem Weine zuschrieb, war ein Geheimnis Gottes, wie alle Sünde, weil Gott selbige als die Offenbarung seiner Weisheit, Macht und Güte und Gerechtigkeit braucht.367
Hier stellt sich zunächst die Frage, warum Gott sich Hamann zufolge durch den Menschen und seinen Fall eine Blöße gibt und worin denn eigentlich diese Blöße besteht. Mit ›Blöße‹ können mehrere Bedeutungen verbunden werden, nämlich erstens dass jemand etwas intimes, vertrauliches von sich selbst zeigt, dass er zweitens seine Schwäche und/ oder Verletzlichkeit sehen lässt, drittens dass etwas von ihm sichtbar wird, wofür er sich selbst schämt oder viertens dass er etwas von sich zeigt und es gleichsam unverstellt erscheint. Hamann spricht, wenngleich über ein Jahrzehnt später, von der »Vertraulichkeit gewisser Blößen und Schwachheiten«368. Jemand, der sich gegenüber einem anderen entblößt, stellt ein intimes, persönliches Verhältnis her bzw. schafft die Möglichkeit dazu. Die ›Blöße‹ ist demnach die Ermöglichung einer besonderen Nähe. Wenn der Mensch an sich also die ›Schaam der Schöpfung‹ ist, dann bedeutet das nicht, dass er deshalb von Gott nicht oder weniger geliebt wird. Im Gegenteil, wenn ›auch‹ Gott Blößen im Sinne von Schwächen hat, dann existiert eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und dem Menschen. Der Sündenfall würde nicht mehr heißen, dass einem absolut vollkommenen Wesen etwas schlechthin Unvollkommenes ohne Vermittlung gegenübersteht – weil der Mensch durch seinen Fall seine Ebenbildlichkeit mit Gott verloren hat –, sondern dass Gott und Mensch eine gewisse Schwäche teilen. Diese zu der Vorstellung eines guten, liebenden Gottes durchaus passende Lesart wird allerdings wiederum in Frage gestellt durch die These Hamanns, dass Gott die Sünde zur Mitteilung seiner Weisheit brauche. Denn das würde ja heißen, dass Gott die Sünde, verstanden als ein Leiden des Menschen, gewollt hat. Der genaue Sinn dieses Gewolltseins geht aus der zitierten Passage jedoch nicht hervor. Es kann einerseits gemeint sein, dass die göttliche Absicht, seine Weisheit offenkundig zu machen, dem Wollen der Sünde vorhergeht. Die Sünde wäre so nichts anderes als ein Mittel zum Zweck und würde zu der Vorstellung eines ›egozentrischen‹ Gottes führen, dem es mehr als um alles andere um seinen eigenen Ruhm zu tun ist. Derartige Vorstellungen von einer Notwendigkeit der Sünde im Zusammenhang mit einer göttlichen Absicht sind in der Theologiegeschichte auf verschiedene Weise vertreten worden. Für Madame Guion369 ist die 367 N I, S. 316–317. 368 ZH II, S. 415. 369 Jeanne Marie Guyon du Chesnoy (1648–1717) vertritt eine mystisch quietistische Theologie mit dem Ideal einer vollkommen interesselosen Liebe zu Gott. Sie wurde von der katholischen Kirche als Häretikerin verdammt und war von 1695–1703 in Gefangenschaft. Sie hatte großen Einfluss auf Fénelon und den deutschen Pietismus. Siehe dazu: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 122–147 sowie Hans-Jürgen Schrader: Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur. In (Hgg): Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von
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Sünde ein Mittel, durch das Gott sich selbst ein Vergnügen verschafft,370 ein ›Umweg‹, über den er dem Menschen die schlechte Bindung an sich selbst zu nehmen beabsichtigt. Gott bedient sich der Sünde als einer »catharsis ne lavant pas tant l’âme de de ses péchés que le moi de la conscience de soi.«371 Für Malebranche372 ist das Gewolltsein der Sünde sogar notwendig, um den Zweck der Schöpfung zu erklären, der darin bestehe, Jesus Christus zum Oberhaupt seiner Kirche zu machen, was wiederum entbehrlich wäre, wenn der Mensch in seiner ursprünglichen Unschuld hätte verbleiben können.373 Andererseits kann das ›Brauchen‹ der Sünde auch so verstanden werden, dass ein an sich nicht gewolltes Ereignis nachträglich von Gott als Mittel verwendet wird. Diese Ansicht ist allerdings nicht haltbar, wenn man sich Gott als ein allwissendes und allmächtiges Wesen denkt, für das sich alles in einer zeitlosen Gegenwart abspielt. Denn unter dieser Voraussetzung kommt man nicht umhin anzunehmen, dass es ein dem Fall als Ereignis logisch vorhergehendes Wollen desselben gibt. Um hier zu einer Erklärung zu gelangen, muss gezeigt werden, worin denn nun eigentlich für Hamann die ›Blöße Noahs‹ einerseits und das ›Vergehen‹ seines Sohnes andererseits besteht. Eine Andeutung findet sich in der Formulierung, dass Ham die Blöße seines Vaters »dem Weine zuschrieb«374 und in diesem Zusammenhang seinen Vater verspottete. Anlass des Spottes ist demnach nicht der Zustand der Trunkenheit, der dazu führt, dass der Vater von seinem Sohn auf eine Art und Weise gesehen wird, die letzterem sonst nicht erlaubt ist. Der biblischen Erzählung zufolge lag Noah »im Zelt aufgedeckt«375, konnte also von seinem Sohn in seiner naturhaften Körperlichkeit gesehen werden. Was aber stellt bei diesem ›Aufgedeckt sein‹ das Skandalon dar? Es ist aufschlussreich, dass Hamann den Spott Hams mit der zeitgenössischen Geringschätzung der »Barbaren« und »Wilden« vergleicht, ja in der letzteren nichts als eine Fortsetzung des respektlosen Verhaltens Hams sieht. Gegenstand des Spotts ist für Hamann nicht nur der Vater – bzw. die »Barbaren« – als das Fremde, sondern die ›eigene Natur‹, welche der Spötter im anderen erkennt. Das Vergehen würde so hauptsächlich bei
370 371 372 373 374 375
Hartmut Lehmann, Heinz Schilling und Hans-Jürgen Schrader Göttingen 2002 (=Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), S. 189–225. An Fénelon schreibt sie: »Il vous salira quelquefois pour avoir le plaisir de vous purifier« (zit. nach: Terestchenko: Amour et désespoir, S. 126). [Er wird Sie manchmal beschmutzen, um das Vergnügen zu haben, Sie zu reinigen, Übers. A.K.]. Terestchenko: Amour et désespoir, S. 126. [Katharsis, die nicht so sehr die Seele von ihren Sünden rein wäscht als das Ich von dem Bewusstsein seiner selbst]. Zu Malebranche siehe Teil II, Kap. 6. Terestchenko: Amour et désespoir, S. 301. N I, S. 317. 1. Mos. 9, 21.
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Ham liegen, weil er in seinem Vater auch seiner eigenen Natur Verachtung entgegen bringt. Dafür, dass in Hamanns Sichtweise nicht die Trunkenheit Noahs verwerflich ist, spricht auch seine positive Bewertung des Weingenusses bis zum Zustand der Trunkenheit. Wie Oswald Bayer gezeigt hat, steht das Weintrinken im Zusammenhang mit einer »trotz der Skepsis angesichts der Nichtigkeit aller Dinge zugemutete[n] elementare[n] Lebensbejahung«376. Diese ist an sich »keine vitalistisch-naturalistische Selbstverständlichkeit«, sondern durch die von Christus praktizierte Feier der »Gegenwart des kommenden Gottesreiches«377 motiviert. Einer solchen aus der freudigen Erwartung erwachsenden Lebensbejahung entsprechend findet sich eine interessante Beschreibung Hamanns von seinem Aufenthalt in Münster: Ueberall ist meine Weide! – und wir leben hier durcheinander wie die Wilden in einer sehr glücklichen Autonomie oder beynahe künstl. Ungezogenheit. Es ist eine Wohlthat, am gegenwärtigen mehr Geschmack zu haben als an allem übrigen was diesseits oder jenseits liegt […] Wohl mir, dass ich imbecillitatem hominis – und securitatem DeJ mit gl. Intension zu fühlen im stande bin.378
Eine Lebensweise, in der die Ordnungsstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft aufgehoben sind, wird von Hamann sehr positiv bewertet, was im nächsten Kapitel näher geklärt wird. Es stellt sich vorerst dringender die Frage, wie diese Aufwertung eines durchaus sinnlichen ›plaisir‹ bei Hamann mit seiner These von der Verdorbenheit des Willens zusammenpasst. Wenn die menschliche Natur infolge des Falls zu einer Art Unnatur geworden ist, wie ist es dann möglich, die Leidenschaften positiv zu bewerten? Hamanns Antwort besteht unter anderem darin, die ursprünglich gute Natur – die Schöpfung und das Wesen des Menschen – als noch dem Erleben zugänglich anzusehen. In diesem Sinn muss auch folgende Passage aus der Aesthetica in Nuce gelesen werden: »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseeligkeit.«379 Aufgabe des Menschen ist es demnach, sich der »sinnliche[n] Offenbarung«380 zuzuwenden, die Leidenschaften nicht zu kontrollieren oder zu unterdrücken, sondern sie im Gegenteil zu ihm sprechen zu lassen und auf diese Weise die göttliche Mitteilung anzunehmen. Entsprechend mahnt Hamann: »Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, 376 Oswald Bayer: »Geschmack an Zeichen.« Zweifel und Gewissheit im Briefgespräch zwischen Lavater und Hamann. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 53 (2011), S. 1–15, hier S. 10–11. 377 Bayer: Geschmack an Zeichen, S. 11. 378 H VII, S. 339, Hervorhebung A.K. 379 Hamann: Aesthetica in Nuce, S. 83. 380 Haman: Aesthetica in Nuce, S. 83.
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wie mag der empfinden? Sind auch gelähmte Sennadern zur Bewegung aufgelegt?«381 Die sinnlichen Vermögen zu verwerfen und sie als etwas anzusehen, dem der gefallene Mensch aufgrund seiner ›niederen‹ sinnlichen Begierden verfallen ist, bedeutet für Hamann genau den falschen Weg zu einem gottgefälligen Leben einzuschlagen. Ist die gesamte Schöpfung eine Rede Gottes an den Menschen und somit ein Zeichen seines sich mitteilenden und für die Menschen sorgenden Wesens,382 ist es geradezu eine Forderung der Frömmigkeit, sie zu genießen. Weil Gott »Alles in Allem erfüllt, dass man sich vor seiner innigsten Zuthätigkeit nicht zu retten weiß«383, ist der Genuss Gottes mit diesseitigen Freuden vereinbar. Ein weltabgewandtes, asketisches Leben ist kein Zugang zu Gott, weil dieser sich ja gerade auf eine dezidiert sinnliche Art und Weise, nämlich in der geschaffenen Natur und in den emotional-seelischen Vermögen des Menschen zeigt. Gleichzeitig betont Hamann, den genetischen Zusammenhang von Leidenschaften und Vernunft, wobei letztere individualgeschichtlich später entsteht und nicht von den Leidenschaften abgelöst werden kann: Was das für eine ungezogene Moral ist, die die Leidenschaften verwerfen will, und ihrer Tochter die Herrschaft über sie einräumt. Die Leidenschaften müssten schon die Schule ausgelernt haben, wenn sie der zarte Arm der Vernunft regieren soll.384
7.8
Hamanns Verhältnis zur protestantischen Orthodoxie
Die Aufwertung eines diesseitigen ›plaisir‹ im Zusammenhang mit der Gotteserfahrung und das Insistieren auf einer körperlich spürbaren Präsenz hat noch eine weiter Seite: Religiosität findet für Hamann nicht mittels einer ›Rückwendung‹ zum eigenen Inneren statt. Im Gegenteil, seine zum Teil radikalen Thesen von der sinnlichen Mitteilung Gottes beinhalten auch eine Bejahung der ›vita activa‹ und eine kritische Haltung, wo nicht sogar eine Verurteilung mystischer und neuplatonischer Positionen.385 Um die Besonderheit der Hamannschen Haltung in diesen Fragen herauszuarbeiten, ist es sinnvoll, zunächst das Augenmerk auf eine protestantisch381 Haman: Aesthetica in Nuce, S. 113. 382 Vgl. dazu auch folgende Passage aus einem Brief an Lindner: »was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht – und Demuth – dass er die Tiefen seiner Geheimnisse, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt.« (ZH I, S. 393–394). 383 Haman: Aesthetica in Nuce, S. 107. 384 ZH I, S. 442. 385 Zu Hamanns negativem Begriff von Mystik und Platonismus im Zusammenhang mit seiner Kritik an Kant vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache, S. 47–52.
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orthodoxe Kritik an Formen einer mystisch-platonischen Theologie zu richten, wie sie sehr deutlich von Ehregott Daniel Colberg formuliert wird.. Wie auch bei Francois de Sale geht es nicht um einen direkten Einfluss, sondern darum, durch Vergleich das für Hamanns Denken Spezifische hervorzuheben. Colberg (1659–1698) ist ein lutherischer Streittheologe, dem es vor allem darauf ankommt, aus protestantischer Sicht häretische Auffassungen zu widerlegen. In seiner Schrift Das Platonisch-Hermetisches Christenthum (1690/91) argumentiert er, dass schwärmerische christliche Positionen (Mystizismus, Quietismus u. a.) sich aus antiken Philosophien, vor allem dem Platonismus, herleiten lassen.386 Colbergs Argumentation besteht zu einem guten Teil darin, den von ihm so genannten platonischen Christen eine anmaßende Haltung vorzuwerfen, bei der infolge der »schändlichen Vermengung der Philosophischen Lehren und des Worts Gottes«387 das spezifisch Christliche als etwas begrifflich nicht Einholbares verloren gehe. So spricht er vom Evangelium als »eine von Anbeginn verborgene Lehr/ so der menschliche Verstand nicht erkennet noch begreiffet/ sondern vom Sohn Gottes geoffenbart ist.«388 Anstelle diese Ineffabilität religiöser Inhalte zu akzeptieren, streben, so Colberg, die platonischen Christen danach, »die Art und Weise der geoffenbarten Geheimnisse/ die in Gottes Wort verschwiegen wird«389 nicht nur mit Hilfe des eigenen Erkenntnisvermögens zu verstehen, sondern letztlich sogar eine Form der Religiosität zu praktizieren, die unabhängig von der göttlichen Offenbarung, insbesondere der biblischen wäre. Wo es nach Colberg angemessen wäre, sich dem Studium der Heiligen Schrift zu widmen, sprechen die platonischen Christen der Selbsterkenntnis eine höhere Bedeutung zu: Da haben wir die Grundseule und Fundamentalartickel der Platonisch=Fanatischen Theologie […] Die Erkäntniß seiner selbst sey ein Mittel zur Seligkeit/ oder vorigen Stand wieder zugelangen. 10. Der Mensch könne in diesem Leben ohne Sünde seyn/ das ist/ der innere Mensch oder die Seele/ könne Affectloß werden und den Leib verlassen/ wiewohl der Thier=Mensch nicht ohne Sünde sey. 11. Die Einkehrung in sich selbst/ Abgeschiedenheit und Gelassenheit sey ein Mittel die innerliche Erleuchtung zubefördern. 12. Die Seele werde/ indem sie inwendig in sich selbst kehret und in sich das göttliche Licht/ welches ist Christus in uns/ erblicket/ erleuchtet/ dass sie keines äusserlichen geoffenbahrten Worts Gottes bedarff/ sondern alles wisse. 13. Die Seligkeit bestehe in der wesentlichen Vereinigung der Seelen mit Gott […]14. Der leib/ welcher den Menschen zur Strafe der Sünden gegeben/ werde nicht wieder aufferstehen.390 386 Claus Bernet: Art. »Colberg, Daniel (1659–1698).« In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 33. Hg. von Traugott Bautz. Nordhausen 2012, Sp. 239–244. 387 M. Ehregott Daniel Colberg: Das Platonisch=hermetisches Christenthum […] Franckfurt u. Leipzig 1690, Vorrede S. 2. 388 Colberg: Platonisch=hermetisches Christenthum, S. 4. 389 Colberg: Platonisch=hermetisches Christenthum, S. 5. 390 Colberg: Platonisch=hermetisches Christenthum, S. 105–107.
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Wenn, wie für Hamann, die Selbsterkenntnis etwas enorm Problematisches darstellt,391 kann man dem Ziel der eigenen Vervollkommnung nicht über das eigene Innere näher kommen, weil dieses anfällig für Täuschungen ist: »Freylich, Geliebtester Freund, ist unser Herz der gröste Betrüger, und wehe dem, der sich auf selbiges verlässt. Diesem gebornen Lügner zum Trotz bleibt Gott doch treu.«392 Wer sich nur auf die eigenen seelisch-geistigen Instanzen verlässt, läuft also Gefahr, in seinen Bemühungen sich selbst und Gott zu verfehlen. Mehr noch, ein Rückzug in die Innerlichkeit würde bedeuten, sich der Selbstmitteilung und Selbstentäußerung Gottes in Natur und Schrift und damit der vorzüglichen Erscheinungsform seiner Güte zu verschließen, sie gar zurückzuweisen. Umgekehrt ist für Hamann Gott nicht so sehr oder nicht nur in den Tiefen der Seele, sondern in der Welt zu suchen: »Eine Welt ohne Gott ist ein Mensch ohne Kopf – ohne Herz, ohne Eingeweide – ohne pudenda.«393 Demnach ist eine Welt, in der Gott nicht anwesend ist, gar nicht denkbar. Das wiederum heißt, dass es absurd wäre, als vorzügliche Möglichkeit des Zugangs zu Gott eine mystische »voie intérieure où l’âme fait retour à son centre«394 zu empfehlen und zwar deshalb, weil das menschliche Innere eben nicht das Zentrum ist, in dem der Mensch Gott nahe sein, sich gar mit ihm vereinigen könnte. Offenbart sich Gott, wie für Hamann, in der sinnlichen Schöpfung, wird es sinnlos, von der Seele zu fordern, sich zu sammeln und sich »son égarement dans le monde du dehors«395 abzugewöhnen. Gott unter Abstrahierung von allem Sinnlichen, sowohl der geschaffenen Natur als auch der innerpsychischen Sinnlichkeit, zu suchen, würde bedeuten, dem Glauben seine Lebendigkeit zu nehmen. Hamann spottet über einen rein philosophischen Gottesbegriff, weil Verstehensbemühungen doch im Zugeständnis der Unverständlichkeit enden und lediglich zu einer Reihe abstrakter Eigenschaften führen: Die Idee, die sich Schulgelehrte von Gott und seinen Eigenschaften machen, ist vielleicht schlechter als der Athenienser ihr Altar, auf dem sie einem unbekannten Gott dienen. Doch wenn der Philosoph nur weiß, dass Gott das höchste Wesen ist, so flüst aus diesen Begrif seine höchste Weisheit und Güte, das Urtheil über seine Werke, wie eine Zigeunerinn aus den Zügen der Hand den ganzen Lebenslauf eines Menschen, oder ein Moralist aus dem gegebenen Charakter den ganzen Mechanismus sittlicher Handlungen herleiten kann.396
Der philosophische Zugang zu Gott ist für Hamann genauso zweifelhaft in seinen Erkenntnissen, wie das Handlesen, da in beiden Fällen versucht wird, aus einem 391 392 393 394 395 396
Vgl. Hamann: Brocken, S. 408–409. ZH I, S. 297. ZH V, S. 326. Terestchenko: Amour et désespoir, S. 124. Terestchenko: Amour et désespoir, S. 124. ZH I, S. 437.
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kleinen Teil auf ein größeres Ganzes zu schließen. Wenn das Ergebnis »schlechter als den Athenienser ihr Altar« ist, so wird die Philosophier ihrem Erklärungsanspruch nicht gerecht.397 Entsprechend setzt Hamann den philosophischen Bemühungen die Einfalt entgegen, ohne diese jedoch mit Unwissenheit oder gar einem Verzicht auf Wissensbestrebungen zu identifizieren: Dem unwißenden oder Ungläubigen kommt alles übertrieben vor, was aus der größten Einfalt flüßet und mit derselben bestehen kann; der Weise, der Gott fürchtet und Gott zu gefallen sucht, erreicht auch das: nil admirari, das der Welt= und Schulmann affectirt.398
Einfalt ist für Hamann eine seelische Grundhaltung, die dem Gläubigen eigen ist und sein Verhältnis zu Gott prägt, ein kindliches Vertrauen,399 das allen Bemühungen des Verstandes, Erkenntnis zu gewinnen, vorhergeht. Er betont, dass die Unwissenheit, die er im Kind repräsentiert sieht, nicht zu verwechseln ist mit Dummheit oder gar einem Überwiegen einer tierischen Beschränkung im Menschen: »Ein Kind, das nichts weiß, ist deswegen kein Narr, noch Thier sondern bleibt immer ein Mensch in spe.«400 Dort, wo Hamann die Philosophie der Theologie untergeordnet wissen möchte, denkt er also durchaus in einem orthodoxen Sinne. Das gilt auch für die Wichtigkeit, die er der Offenbarung beimisst, womit er sich gegen die Vertreter einer natürlichen Religion wendet. Gemäß der protestantischen ›sola scriptura‹-Lehre bedarf es vor allem der Offenbarung: Es ist eine grosse Wohlthat Gottes/ dass er uns sein h. Wort gegeben hat […] weil wir ohne dieses Licht nicht können fortkomen/ sondern in lauter Finsterniß des Verstandes und Blindheit des Herzens stecken/ und uns nicht im geringsten helffen können. Dieses wollen die verblendeten Fanatischen Schwarm=Geister nicht erkennen/ sondern halten die h. Schrifft gering/ verachten dieselbige/ und wollen eine viel herrlichere Weise/ Gott und sein Geheimniß zu erkennen/ aus sich selbst/ aus der Natur und Englischen Erscheinungen lernen/ verführen sich aber damit auffs schändlichste/ und häuffen einen Irrthum mit dem andern.401
397 Hamann erwähnt unmittelbar vor der zitierten Passage Chrysostomos’ Predigten über die Unbegreiflichkeit Gottes. Vgl. ZH I, S. 437. 398 ZH I, S. 358. 399 Vgl. Gerd Heinz-Mohr: Art. »Einfalt.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hg. von Joachim Ritter. Basel 1972, Sp. 394–395, hier Sp. 394–395. Bei Hamann ist der kindliche Charakter dieses Vertrauens allerdings nicht naiv im Sinne eines Verzichts auf Denkbemühungen, sondern eine bewusst eingenommene Haltung, die sich aus dem Zweifel an der Stärke menschlichen Erkennens ergibt. In diesem Sinn muss m. E. Hamanns Forderung verstanden werden, dass wir von Kindern lernen müssen. Vgl. ZH I, S. 277, S. 347. 400 ZH V, S. 266. 401 Colberg: Platonisch=hermetisches Christenthum, Teil 2, S. 4.
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Andererseits muss an dieser Stelle betont werden, dass auch Hamann wiederholt vom ›inneren Menschen‹ spricht,402 ohne damit jedoch eine Ablösung des Menschen von seiner sinnlichen Natur zu verbinden, wie sie Colberg bei den ›platonischen Christen‹ kritisiert.403 Für einen genauere Bestimmung von Hamanns ›innerem Menschen‹ ist eine Kontrastierung mit Augustinus sinnvoll. Hamann identifiziert den inneren Menschen nicht, wie Augustinus, mit den »im menschlichen Geist schon immer vorhandenen ewigen und unbezweifelbaren Wahrheiten.«404 Der innere Mensch, den »kein Aug sieht und kein Ohr hört, und keine Elle ausmißet«405, ist für Hamann ein der äußeren sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglicher Bereich der Innerlichkeit, der aber nicht mit einer Sphäre reiner Geistigkeit identisch ist. Das Konzept des ›inneren Menschen‹ hat für Hamann also keine erkenntnistheoretische Funktion, sondern bezeichnet einen innerpsychischen Bereich, in dem der Einzelne für sich seinen Glauben lebt: Ich predige nicht in Gesellschaften, weder Catheder noch Kanzel würden meiner Länge etwas hinzufügen. Eine Lilie im Thal und den Geruch des Erkenntnisses verborgen auszuduften, wird immer der Stolz seyn, der im Grund des Herzens und dem innern Menschen am meisten glühen soll.406
Es geht um einen privaten Bereich, um eine seelische Tiefe, welche das Individuum in sich erfährt, wenn es sich gedanklich aus seinen sozialen Bindungen für einen Moment herauslöst. Der ›innere Mensch‹ kann so für Hamann durchaus eine innere Ebene im Sinne Augustinus’ sein, auf welcher sich vor allem der Gottesbezug realisiert407. Diese Innerlichkeit aber muss bei Hamann als eine ›psychische Sinnlichkeit‹ verstanden werden, nicht als eine Ebene ›reinen‹ Denkens.
7.9
Glaube und Wissen
Hamann lässt sich nicht ganz und gar auf eine orthodoxe Position ein. Colberg verurteilt die Bemühungen um das Wissen, als »Curiosität dasjenige zu wissen/ das uns Gott nicht geoffenbaret hat«408 Im Hinblick auf Hamanns Interessen402 Vgl. ZH I, S. 344, S. 426. 403 Siehe Kap. 7.7. S. 76. 404 Jörn Müller: »Glücklich ist, wer Gott hat«: Beatitudo beim frühen Augustinus. In: Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perspektiven.Hg. von Jörg Disse u. Bernd Goebel. Frankfurt a.M. 2010, S. 38. 405 ZH I, S. 426. 406 ZH I, S. 344. 407 Vgl. Müller: Beatitudo beim frühen Augustinus, S. 39. 408 Colberg: Platonisch=hermetisches Christenthum, S. 5.
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Anthropologie bei Hamann
vielfalt und seine Beschäftigung mit den verschiedensten Gebieten zeitgenössischen Wissens wäre eine solche Haltung geradezu absurd.409 Was Hamann viel eher verurteilt, sind Versuche des Menschen, über sich und andere zu urteilen, weil er darin eine Anmaßung sieht: Ich untersage mir so viel ich kann die Erkenntnis des Guten und Bösen als eine verbotene Frucht. Was ich und andere für die beste Seite ansehen, kann es vielleicht nicht seyn. Ist etwas guts geschehen, so muß es das Auge des Richters und nicht der Partheyen dafür erkennen, und die Ehre des Urhebers kommt nicht dem Werkzeug zu, als in so fern es in seinen Händen gewesen und noch ist. Ist etwas böses geschehen; so thut mirs leyd von Herzen, und eben derselbe der Richter ist, giebt den Sachwalter ab, den wir für einen mitleidigen Hohepriester erkennen.410
Nicht Gott gemäß zu handeln, heißt nach dieser Passage, seine eigene Urteilskompetenz als zu hoch anzusehen, sich also etwas anzumaßen, was nicht im Rahmen menschlicher Fähigkeiten liegt, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Einzelne als ›Werkzeug‹ nicht selbst die Ursache seiner guten Taten ist. Andererseits gibt es auch bei Hamann eine Verurteilung zeitgenössischer Wissenschaft, vor allem der Astronomie: [A]uch lässt es sich kaum zusammenreimen, dass unsre heutigen Weisen in himmlischen Entdeckungen so durchdringend und zuverlässig, hingegen in ihren häußlichen Angelegenheiten so benebelt sind. Sobald aber nur der mathematische Beobachtungsgeist aus den ätherischen Sphären sich zum Horizont unsrer kleinen moralischen Dunstkugel herunterlassen wird; alsdenn wird die Hypothese eines einzigen Menschenpaars und der Wahn chinesischer und ägyptischer Zeitrechnungen für die gegenwärtige Gestalt unsrer Erde, im geometrischen Lichte erscheinen.411
Hamann stellt hier den ›himmlischen‹ und den ›häuslichen‹ Bereich als Betätigungsfeld menschlichen Denkens einander gegenüber und spricht letzterem die größere Relevanz zu. Das praktische Wissen, welches auf die Regelung menschlichen Zusammenlebens abzielt, ist wichtiger als die Naturbetrachtung. Hamann meint nun, dass jemand, der seine Wissensbestrebungen auf den irdischen Bereich konzentriert, zugleich auch der »Hypothese« eines monogenetischen Ursprungs der Menschheit zustimmen müsse. Das ist auf den ersten Blick nicht einsichtig, denn warum sollte ein Aufgeben astronomischer Forschungen
409 John Milbank sieht Hamann als einen radikal orthodoxen Denker, für den nur der Glaube als Erkenntnisquelle relevant sei. Ich kann seiner Argumentation jedoch nicht zustimmen, weil sie übersieht, dass zentrale Auffassungen Hamanns durch seine Auseinandersetzung mit und Aneignung von den unterschiedlichsten auch nicht religiösen Denkern entstanden sind. Siehe: John Milbank: Hamann und Jacobi. Propheten radikaler Orthodoxie. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit,« S. 217–241. 410 ZH II, S. 21. 411 N III, S. 28.
Hamanns Vorstellung von Frömmigkeit
103
quasi automatisch eine Bejahung des biblischen Ursprungs der Menschheit nach sich ziehen? Eine Möglichkeit wäre, Hamanns Andeutungen auf die seit dem 17. Jahrhundert geführte Debatte um eine mögliche ›Vielheit der Welten‹ zu beziehen, in deren Verlauf auch diskutiert wurde, ob es evtl. auf anderen Planeten Menschen gäbe, die nicht von Adam abstammten und die biblische Genealogie somit aufgegeben werden müsste.412 Hamann redet zuvor spöttisch von den »Offenbarungen eines Galilei, Kepler, Newton«413. Er besaß Galileis Sidereus Nuncius414 und damit eine Schrift, durch welche die Frage, ob es nur auf der Erde menschliches Leben gäbe, »unabweisbare sinnliche Anschaulichkeit, allgemeine Zugänglichkeit und ungeheure Aktualität«415 gewann. Dann ist jedoch noch nicht erklärt, warum aus Hamanns Sicht die Zeitrechnungen anderer Völker unsinnig wirken müssten, sobald man sich mit den »häuslichen Angelegenheiten« befasst. Informationen zur chinesischen Zeitrechnung konnte Hamann der Encyclopédie entnehmen.416 Fohi, der als Gründer des chinesischen Reichs und als erster Philosoph gilt, habe vor der Sintflut regiert, so dass die biblische und die chinesische Zeitrechnung unvereinbar seien. Da Erzählungen berichten, seine Mutter sei durch einen Regenbogen schwanger 412 Siehe dazu: Karl S. Guthke: Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science Fiction. Bern u. a. 1983, S. 47–250. 413 N III, S. 28. 414 Vgl. N V, S. 80. 415 Guthke: Der Mythos der Neuzeit, S. 90. 416 Vgl. Art. »Chinois.« In: Encyclopédie. Vol. 3, S. 342: »La chronologie Chinoise ne peut être incertaine, sans que la premiere origin de la philosophie chez les Chinois ne le soit aussi. Fohi est le fondateur de l’empire de la Chine, & passe pour son premier philosophe. Il regna en l’an 2954 avant la naissance de Jesus-Christ. […] en suivant le système du P. Petau, la naissance de Jesus-Christ tombe l’an du monde 3889, & le deluge l’an du monde 1656: d’ou il s’ensuit que Fohi a regné quelques siecles avant le deluge; & qu’il faut ou abandoner la chronologie des livres sacrés, ou celle des Chinois. Je ne crois pas qu’il y ait à choisir ni pour un Chrétien, ni pour un Européen sense, qui, lisant dans l’histoire de Fohi que sa mere en devint enceinte par l’arc-en-ciel, & une infinite de contes de cette force, ne peut guere regarder son regne comme une époque certaine, malgré le témoignage unanime d’une nation.« [Die chinesische Zeitrechnung kann nicht ungewiss sein, ohne dass es der erste Ursprung der Philosophie bei den Chinesen nicht auch wäre. Fohi ist der Gründer des chinesischen Reiches, und gilt als sein erster Philosoph. Er regierte im Jahr 2954 vor der Geburt Jesu Christi. […] Nach dem System des Vater Petau fällt die Geburt Jesu Christi in das Jahr 3889 der Welt und die Sintflut in das Jahr 1656: woraus folgt, dass Fohi einige Jahrhunderte vor der Sintflut regiert hat und dass man entweder die Zeitrechnung der heiligen Bücher oder die der Chinesen aufgeben muss. Ich glaube nicht, dass es hier etwas zu wählen gibt, weder für einen Christen noch für einen vernünftigen Europäer, der, wenn er in der Geschichtsschreibung über Fohi liest, dass seine Mutter durch einen Regenbogen mit ihm schwanger wurde, und eine endlose Anzahl solcher Erzählungen, seine Regierungszeit kaum als eine gewisse Epoche ansehen kann, trotz des einmütigen Zeugnisses einer Nation, Übers. A.K.].
104
Anthropologie bei Hamann
geworden, könne ein ›verständiger Europäer und ein Christ‹ die Regierungszeit Fohis nicht als gewiss ansehen. Über die ägyptische Zeitrechnung waren Hamann möglicherweise die Bemerkungen Newtons in The Chronology of ancient kingdoms amended (1728) bekannt.417 Newton meint, die Ägypter hätten ihre Monarchie aus Eitelkeit älter als die Welt dargestellt und unternimmt es daher, ihre Zeitrechnung zu korrigieren.418 In der Einleitung bemerkt er, dass auch die Zeitrechnungen der Griechen und Römer unzuverlässig seien. Ziel seiner Abhandlung ist es daher, »to make Chronology suit with the course of Nature, with Astronomy, with Sacred History, with Herodotus the Father of History, and with it-self.«419 Sowohl in der Encyclopédie als auch bei Newton wird das Problem der Zeitrechnung ausgehend von gewissen ›Vorentscheidungen‹ betrachtet. Die Bibel – die ja mit der Empfängnis Marias eine ähnlich ›unwahrscheinliche‹ Geschichte beinhaltet wie die Erzählungen über Fohi – auf der einen und Herodot auf der anderen Seite werden als verlässliche Quellen angesehen und nicht weiter in Frage gestellt. Man kann daher von einem eurozentrischen Denken sprechen, weil die für die europäische Kultur relevanten Texte, die Bibel und Herodot, als ein selbst nicht weiter hinterfragter Maßstab angenommen werden, um davon ausgehend die Texte anderer Kulturen zu beurteilen. Hamann erklärt nun, man müsse zu demselben Ergebnis kommen – nämlich dass die biblische Genealogie und Zeitrechnung die richtige seien – auch ohne Astronomie zu betreiben. Im Hinblick auf seine Bezeichnung der Erde als ›moralische Dunstkugel‹ kann man Hamann so lesen, dass die Annahme eines monogenetischen Ursprungs der Menschheit durch ein praktisches Interesse nahegelegt wird. Wenn Menschen auf der Erde gemeinsam leben wollen, müssen sie eine gemeinsame Auffassung von ihrem Ursprung teilen, weil es ihnen anders nicht möglich ist, gemeinsame Werte zu haben.
417 Die Biga verzeichnet »P.H. Hübner’s Auszug aus Is. Newtons Chronologie Mein. 741.« (N V, S. 59). Den Autor dieser zusammenfassenden Darstellung konnte ich nicht identifizieren. Daher beziehe ich mich hier auf den Newtonschen Text. 418 Isaac Newton: The chronology of ancient kingdoms amended. To which is prefix’d, A short chronicle from the first memory of things in Europe, to the conquest of Persia by Alexander the Great. By Sir Isaac Newton. London: printed for J. Tonson 1728, S. 191: »The Egyptians anciently boasted of a very great and lasting Empire under their kings […] and out of vanity have made this monarchy some thousands of years older than the world: let us now try to rectify the Chronology of Egypt, by comparing the affairs of Egypt with the synchronizing affairs of the Greeks and Hebrews.« 419 Newton: Chronology, S. 8.
II.
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Von ›Naturrecht bei Hamann‹ zu sprechen, wirkt auf den ersten Blick in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen lassen seine zurückweisenden Bemerkungen zu den zwei zentralen Grundtheoremen des säkularen Naturrechts im 17. Jahrhundert – d. h. dem Naturzustandstheorem und dem Gesellschaftsvertrag – vermuten, dass Hamann eventuell nur mit Interesse eine zeitgenössische Diskussion verfolgt, sich letztlich aber ablehnend dazu positioniert hat. Zum anderen stellt sich von vornherein die Frage, ob naturrechtliche Probleme, wenn sie auf ein für alle Menschen unabhängig von Zeit und Ort verbindliches Sollen zielen, in Hamanns Denken einen Platz haben können, welches so bewusst systematischem Denken einen Platz haben können. Wenn naturrechtliches Denken nach einem »System rechtlicher Normen, die für alle Menschen als Vernunftwesen […] überall und jederzeit verbindlich sind«420 fragt, wie verhält sich dazu nicht nur Hamanns bekannte Vernunftskepsis, sondern auch der individualistische Zug seines Denkens? Eric Achermann hat gezeigt, dass Hamann eine detaillierte Kenntnis der verschiedensten naturrechtlichen Positionen hatte und, vor allem in der Metakritik, dezidiert naturrechtliche Begriffe verwendet, um ein voluntaristisches und antiintellektualistisches Menschen- und Gottesbild zu entwerfen.421 Es ist nur konsequent, dass Hamann ein Interesse an naturrechtlichen Fragen hat: Denn gerade im Naturrecht werden ja Fragen nach dem Verhältnis von natürlicher und geoffenbarter Religion bzw. Werten, von göttlicher und menschlicher Setzung diskutiert. Als jemand, der intensiv an den geistigen Debatten seiner Zeit Anteil genommen hat, konnte Hamann diese Diskussion nicht einfach ignorieren. Daher ist zu vermuten, dass Hamanns Kritik an Mendelssohn in Golgotha und Scheblimini nicht mit einer Ablehnung naturrechtlichen Denkens zusammenfällt, sondern er eine andere, eigene Vorstellung von Naturrecht hatte. Im Folgenden soll diese These begründet werden, wobei zu klären ist, in welchen wis420 Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 35. 421 Achermann: Natur und Freiheit, S. 90–96.
106
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
sensgeschichtlichen Kontexten Hamanns Verständnis von Naturrecht und seine Aneignung naturrechtlicher Begriffe und Denkfiguren steht. Es wird auch darum gehen, Hamanns Polemik von grundsätzlichen Übereinstimmungen mit Mendelssohn zu differenzieren. Fernerhin ist in diesem Zusammenhang zu erörtern, welchen Stellenwert die Offenbarung darin hat und wie sich für Hamann das Verhältnis von Naturecht und biblischem Gebot darstellt. Schließlich muss das schon im Anthropologiekapitel gezeigte Spannungsverhältnis in Hamanns Denken berücksichtigt werden, welches einerseits die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung betont und verteidigt, andererseits aber dafür plädiert, sich in bestehende Ordnungen zu fügen. Einen ersten Ansatzpunkt liefert die zeitgenössische Rezeption von Golgotha und Scheblimini, nämlich Gottlieb Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts von 1785. Dieser Text ist interessant, weil Hamann dort explizit zu den wichtigsten naturrechtlichen Denkern der Gegenwart gerechnet wird.422 Hinzu kommt, dass er Aufschluss über die zeitgenössische Relevanz naturrechtlicher Fragestellungen und den aktuellen Stand der Diskussion gibt und dadurch das ideengeschichtliche Umfeld von Hamanns Schrift Golgotha und Scheblimini erhellt. Durch Herausarbeiten von Fragen und Differenzen gewinnt man einen Ausgangspunkt für eine kommentierende Lektüre von Golgotha und Scheblimini.
1.
Zum Stand der naturrechtlichen Diskussion um 1785
Hufeland veröffentlicht seinen Versuch mit der Absicht zur »Beförderung des Wohls der Menschheit durch Feststellung ihrer Rechte«423 beizutragen. Es seien einige Aspekte hervorgehoben, die als ›typisch‹ für den Philosophiebegriff der Aufklärung gelten können424 und es ermöglichen, Hamanns Verhältnis zu diesem Wissensbegriff an einem besonderen Beispiel zu studieren: 422 Vgl. Gottlieb Hufeland: Versuch über den Grundsatz des Naturrechts nebst einem Anhange. Leipzig 1785, S. 4–5: »Ich darf nur an das, was Feder, Hißmann, Mendelssohn, […] Hamann […] und andere in den letzten Jahren hierüber geschrieben haben, erinnern, um es einleuchtend zu machen, dass diese Wissenschaft zu unsern Zeiten ein vorzügliches gelehrtes Interesse gewonnen hat.« 423 Hufeland: Versuch über den Grundsatz, Vorrede, unpaginiert. 424 Werner Schneiders nennt als Begriffsbestimmung von Philosophie in der Aufklärung u. a. Philosophie als »Hoffnung auf Vernunft«, als »Erkenntnis des Nötigen und Nützlichen« und als »Lebensweisheit.« (Werner Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 58– 92, hier S. 58, 62 u. 73).
Zum Stand der naturrechtlichen Diskussion um 1785
107
Als praktische Wissenschaft, welche auf unmittelbar lebensrelevante rechtliche Fragen antwortet, sei das Naturrecht für jeden von Interesse: Schon die allgemeine Idee von derselben [d. h. der praktischen Wissenschaft Naturrecht, A.K.] führt ein Interesse bey sich, das keinen Menschen gleichgültig lassen kann; Sicherheit gegen Bedrückung und Ungerechtigkeit verspricht sie; eine Vormauer gegen Angriffe der Tyranney und der Gewaltthätigkeit will sie aufrichten; […] Ja, schon der Name, den sie an der Stirne trägt, verbreitet einen Glanz von Heiligkeit um sie herum, flößt allen ein Gefühl von Ehrfurcht gegen sie ein; denn der Begriff von Recht schließt immer Nebenbegriffe von Festigkeit, Unverletzlichkeit und Stärke ein; und wirklich ist wohl niemand, den der erste Gedanke: du verletzest die Rechte der Menschheit, nicht erschüttern, den nicht oft schon das dunkle Gefühl desselben von mancher That abhalten sollte.425
Das Naturrecht soll demnach die Aufgabe erfüllen, Verletzungen menschlicher Rechte sowohl auf staatlicher als auch individueller Ebene als Rechtsübertretungen bewusst zu machen und dadurch auch zu verhindern. Es geht, anders gesagt, um ein emanzipatorisches Interesse. Durch eine auf dem Konzept der Menschheit beruhenden Verständigungsbasis über Normen und Rechte sollen eben diese einforderbar werden. Aufgrund dieses lebensweltlichen Bezugs sei das Naturrecht »anziehender für jedermann als eine blos spekulative [Wissenschaft].«426 Das Ziel dabei sei es, »statt der endlosen Mannigfaltigkeit bürgerlicher Gesetze ihre Principien auf[zu] suchen.«427 Was sich sozialhistorisch als Kritik an der Unübersichtlichkeit moderner Staatlichkeit darstellt, hat philosophisch gesehen eine wichtige Implikation. Denn indem Hufeland von der »Wichtigkeit eines ursprünglichen vor jeder Gesetzgebung existierenden Rechts«428 spricht, bekundet er ein Misstrauen gegenüber voluntaristischen Rechtsbegründungen. Recht soll nicht als arbiträre Setzung eines einzelnen Subjekts verstanden werden, sondern sich auf objektive Verbindlichkeiten gründen. Schließlich differenziert Hufeland zwischen Recht und Moral und grenzt das Gebiet des Naturrechts auf Fragen des äußeren Rechts ein. Er betont, dass »wenigstens die mehresten das Naturrecht als die Lehre von den Zwangsrechten betrachten.«429 Dies sei umso wichtiger, da »einer der vornehmsten Einwürfe gegen die Existenz des Naturrechts eben darinn besteht, dass man glaubt, es gäbe keine Gränze zwischen Naturrecht und Moral im neuen Sinne.«430
425 426 427 428 429 430
Hufeland: Versuch über den Grundsatz, S. 6. Hufeland: Versuch über den Grundsatz, S. 6. Hufeland: Versuch über den Grundsatz, S. 8. Hufeland: Versuch über den Grundsatz, S. 10. Hufeland: Versuch über den Grundsatz, S. 28. Hufeland: Versuch über den Grundsatz, S. 28.
108
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Schaut man sich die genannten Aspekte an, ergeben sich mehrere Fragen, die im Folgenden an Hamanns Schriften gestellt werden sollen: 1.) Gibt es bei Hamann nun eine Vorstellung von Recht, an welchem alle Menschen teilhaben und das – vorläufig – als ein Naturrecht deshalb bezeichnet werden könnte, weil es nicht Ergebnis einer allein menschlichen Setzung ist und daher nicht mit dem positiven Recht identisch ist? 2.) Hamann nimmt in Golgotha und Scheblimini bekanntlich Anstoß am spekulativen Charakter ›des‹ bzw. einer Form von Naturrechtsdenken. Welche Alternative zur Rechtsbegründung setzt er dem aber entgegen? Mit welchen Argumenten weist er das Theorem des Naturzustands und dasjenige des Gesellschaftsvertrags zurück? Und: wie verbindet er seine anthropologische Betonung des Willens mit seinem Rechtsbegriff ? 3.) Differenziert Hamann Recht und Ethik? Oder stellt er einen engeren Zusammenhang zwischen beiden her?
2.
Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini
Vor allem die einleitenden Passagen von Golgotha und Scheblimini geben Aufschluss über Hamanns Position zum zeitgenössischen Naturrechtsdiskurs. In einem Punkt stimmt er mit Hufeland überein, nämlich hinsichtlich der Positionierung des Naturrechts innerhalb der Ordnung der Wissenschaften. Hufeland hatte die Wichtigkeit naturrechtlicher Fragen begründet mit dem Verweis auf den Vorrang der praktischen gegenüber den spekulativen Wissenschaften. Bei Hamann findet sich eine ähnliche, wenngleich zurückhaltend-ironisch formulierte Bewertung der Spekulation. Mendelssohn habe es in Jerusalem unternommen, den »speculativen Freunden des Naturrechts die ersten Grundsätze desselben zu erörtern.«431
2.1
Kritik an spekulativer Wissenschaft
Worauf es ankommt ist das jeweils genaue Verständnis von Spekulation bei Hamann. Klar ist, dass ›spekulativ‹ und ›praktisch‹ keine gleichwertigen oder sich sogar ergänzenden Zugangsweisen mehr bezeichnen wie etwa noch bei Leibniz.432 Ein Blick auf zeitgenössische wissenschaftstheoretische Abhandlun431 Johann Georg Hamann: Golgotha und Scheblimini. Erklärt von Lothar Schreiner. Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt. Bd. 7. Hg. v. Fritz Blanke u. Lothar Schreiner. Gütersloh: Bertelsmann 1956, S. 59. Nachfolgende Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe. 432 Sabrina Ebbersmeyer: Art. »Spekulation.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9, Sp. 1355–1372, hier Sp. 1363.
Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini
109
gen zeigt, dass Spekulation vor allem im Sinne einer theoretischen Zugangsweise verstanden wird. Tetens stellt die spekulative der beobachtenden Philosophie gegenüber, um dabei aber das Für und Wider beider Weltbetrachtungen zu erwägen.433 Bei Kant finden sich zwei Begriffsbestimmungen: Spekulation kann erstens in Gegenüberstellung zur Naturerkenntnis verstanden werden und zweitens in Abgrenzung zur praktischen Philosophie.434 In diesem zweiten Sinn wird die Spekulation als weniger wichtig bzw. sinnvoll erachtet. Die praktische Vernunft habe Vorrang gegenüber dem spekulativen Vernunftgebrauch, »weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist.«435 Ausgehend von der lebensweltlichen Orientierung der Wissenschaften komme der Spekulation eine geringere Bedeutung zu. Sinnvoll kann ein spekulativer Vernunftgebrauch nur sein, wenn er sich an den Zielsetzungen der praktischen Vernunft orientiert. Kants und auch Hufelands Äußerungen zum Thema ›Spekulation‹ stehen damit ganz in der Tradition derjenigen Neubestimmung des Zwecks von Wissenschaft, welche sich im 18. Jahrhundert durch Metaphysikkritik und Hinwendung zur sinnlichen Erfahrungs- und Lebenswelt des Menschen konstituiert. Die Frage ist nun, ob Hamanns Zurückweisung der Spekulation aus genau demselben Grund erfolgt, oder ob sich hier nicht noch andere, spezifische Motive für die Abwertung spekulativen Denkens finden. Bekannt ist folgende Passage aus dem Briefwechsel mit Jacobi: »Kein Genuß ergrübelt sich – und alle Dinge folglich auch das Ens entium ist zum Genuß da, und nicht zur Speculation.«436 Anders als Kant stellt Hamann hier nicht zwei verschiedene Erkenntnishaltungen einander gegenüber, sondern zwei Zugangsweisen zur Welt, nämlich Erkennen und Erleben. Es wird zu klären sein, ob diese grundlegende Opposition Folgen hat für Hamanns Verständnis von Naturrecht und Rechtsbegründung. Festzuhalten ist erst Mal, dass Hamann, indem er von den »speculativen Freunde[n] des Naturrechts« spricht, nicht ›das‹ Naturrecht überhaupt ablehnt, sondern nur insofern naturrechtliche Fragen mit einer ›spekulativen‹ Erkenntnishaltung verbunden werden. Ich möchte im folgenden Exkurs die These vertreten, dass Hamann, wenn er von ›Spekulation‹ und ›Buchstabenmännern‹ spricht, eine für ihn inakzeptable Abwendung des Denkens von lebensweltlichen und geschichtlichen Kontexten meint, seine diesbezügliche Kritik an Mendelssohn aber zumindest teilweise ungerechtfertigt ist.
433 434 435 436
Ebbersmeyer: »Spekulaltion«, Sp.1363. Ebbersmeyer: »Spekulation«, Sp. 1363–1364. Zit. nach: Ebbersmeyer: »Spekulaltion«, Sp.1365. ZH V, S. 265.
110 2.2
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Exkurs: Sprache, Schrift und Wissen bei Mendelssohn und Hamann
Im zweiten Teil von Jerusalem nimmt Mendelsohn selbst im Bezug auf den mit ›Buchstabenmenschen‹ verbundenen Vorwurf einer Entfernung des Denkens von sinnlich-praktischen Zusammenhängen eine kritische Perspektive ein. Konkret geht es dabei um das Verhältnis von Schrift- und Kulturentwicklung und insbesondere um die Beziehung zwischen Schriftformen und Religionsvorstellungen. Es ist daher sinnvoll, Mendelssohns Ausführungen mit Hamanns Position zu diesem Thema zu vergleichen und die Berechtigung seiner Vorwürfe zu prüfen. Mendelssohns Überlegung, dass die Veränderung, die in den verschiedenen Zeiten der Cultur mit den Schriftzeichen vorgegangen […] von jeher in den Revolutionen der menschlichen Erkenntnisse überhaupt, und insbesondere in den mannigfachen Änderungen ihrer Meinungen und Begriffe in Religionssachen sehr wichtigen Antheil437
gehabt habe, stellt erst einmal eine durchaus gängige Annahme dar. Interessant sind die Bewertungen, und diese fallen bei Mendelssohn durchaus nicht in Form eines Fortschrittsmodells aus. Zunächst stellt er fest, der Buchdruck habe einen derart prägenden Einfluss auf Wissensvermittlung und sozialen Umgang gewonnen, dass man sich die geistig-intellektuelle Entwicklung eines Menschen ohne Buch gar nicht mehr vorstellen könne: »Vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab, und wir können kaum begreifen, wie ein Erdensohn sich bilden, und vervollkommnen kann, ohne Buch.«438 Mendelssohn geht sogar noch weiter. Wenn gar das Wesen des neuzeitlichen Menschen vom Buchstaben abhängt, dann hat die Schrift- und Buchentwicklung den Menschen und seine Natur verändert. Diese Veränderung beurteilt er jedoch negativ, gipfelnd in der These, dass »der Mensch für den Menschen fast seinen Werth verloren«439 habe. Die ›socialitas‹ als Kennzeichen der menschlichen Natur, seine Wesensbestimmung als ›zoon politikon‹ wird also vermindert. Der Grund dafür liegt nach Mendelssohn darin, dass der Mensch zum Wissenserwerb keiner anderen Menschen mehr bedarf, sondern das, was er wissen möchte, durch Bücher erfahren kann: »Der Umgang des Weisen wird nicht gesucht; denn wir finden seine Weisheit in Schriften.«440 An die Stelle der persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen Wissen im Gespräch erworben und weitergegeben wurde, tritt die Vereinzelung des Menschen, welcher nun, herausgehoben aus seiner
437 438 439 440
Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 64. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 63. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 62. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 62.
Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini
111
sozialen Lebenswirklichkeit, um so entfernter von sinnlichen Zusammenhängen, um so abstrakter denkt. Wenn Hamann Mendelssohn nun vorwirft, sich als ›Buchstabenmensch‹ und als spekulativer Denker zu sehr von der historischen und sozialen Wirklichkeit zu entfernen, ist dies m. E. ungerechtfertigt. Mendelssohn müsste nach seinen eigenen Ausführungen als ›Kind seiner Zeit‹ verstanden werden, ohne dieser jedoch vollkommen affirmativ anzuhängen. Im Hinblick auf die Religionsvorstellungen ist für Mendelssohn keine Schriftform ideal. Seine anthropologische Betrachtung konstruiert weder ein Progressions- noch ein Verfallsmodell: Bilder und Bilderschrift führen zu Aberglauben und Götzendienst, und unsere alphabetische Schreiberey macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Erkenntniß der Dinge und ihrer Verhältnisse gar zu offen auf der Oberfläche aus, überhebt uns der Mühe des Eindringens und Forschens, und macht zwischen Lehr und Leben eine gar zu weite Trennung.441
Mendelssohns erster These, ›Bilder‹ begünstigten den Aberglauben, würde Hamann widersprechen. Die zweite These, der Mensch werde durch die alphabetische Schrift zu sehr zur ›Spekulation‹ veranlasst, zeigt hingegen, wie unzutreffend Hamanns Vorwurf ist. Ich möchte zunächst auf die erste These eingehen, da sich in der Auseinandersetzung um den Erkenntniswert bildhafter Sprache und ihr Verhältnis zur Religion unterschiedliche Grundauffassungen von Erkenntnis auf der einen und Religiosität auf der anderen zeigen. Mendelssohn bezeichnet die bildhafte Schrift, die Tiere als Zeichen für moralische Eigenschaften verwendet, auch als Hieroglyphen.442 Er knüpft damit an einen zeitgenössischen Diskussionszusammenhang an, der Hieroglyphen nicht mehr traditionell als Geheimzeichen, sondern als eine bildhafte Urform der Schrift versteht. Der einschlägige Artikel aus der Encyclopédie ist diesbezüglich aufschlussreich: Hieroglyphen werden dort definiert als »écriture en peinture,« konkretisierend als »premiere méthode qu’on a trouvée de peindre les idées par des figures.«443 Ähnlich heißt es bei Wolff:
441 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 95. 442 Vgl. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 77. 443 Art. »Hiéroglyphe.« In: Encyclopédie. Bd. 8, S. 205. [Schrift in Bildern; erste Methode, die man gefunden hatte, um Gedanken durch Figuren darzustellen].
112
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Etenim Hieroglyphicae dicta fuit veteribus ars significandi aliquid per sculptas rerum animaliumque figures: quibus adeo utebantur loco literarum. Ars ista olim Aegyptiis, Sinis aliisque gentibus usitata fuit; hodie autem non adeo frequens ejus usus est.444 Hieroglyphisch wurde bei den Alten die Kunst genannt, etwas durch gebildete Figuren von Dingen oder Lebewesen zu bezeichnen, derer sie sich eben anstelle von Buchstaben bedienten. Diese Kunst war einst bei den Ägyptern, Chinesen und anderen Völkern in Gebrauch; heute aber ist ihr Gebrauch nicht so häufig.
Die Hieroglyphen werden hier aus der metaphysischen Sphäre, der Transzendenz herausgelöst und vollständig in die Immanenz, den Bereich des Menschen verlagert. Entsprechend weisen auch die Artikel der Encyclopédie Momente der Anknüpfung an und der Umdeutung von der philosophischen Tradition auf. So wird Athanasius Kircher, der wohl letzte große Repräsentant der Auffassung, Hieroglyphen verbürgen ein heiliges Wissen445 kritisiert.446 Direkt angeknüpft wird hingegen an Clemens Alexandrinus’ Kategorisierung der bei den Ägyptern bekannten Schriftarten,447 nur eben unter anderen Vorzeichen. Während für Clemens die charakteristischerweise ›epistologisch‹ genannte Buchstabenschrift als die alltäglichste zuerst, die hieroglyphische hingegen als Innbegriff des Heiligen zuletzt erlernt wird, kehrt die Encyclopédie diese Entwicklung um. Die alphabetische Schrift ist die bedeutendere Errungenschaft im Bezug auf das Ideal des klaren und präzisen Ausdrucks und wird zuletzt erfunden, während die bildhaften Hieroglyphen einer supponierten ursprünglichen Einfachheit des menschlichen Verstandes entsprechen, welcher vom Sinnlich-Konkreten ausgeht und nur langsam die Fähigkeit zur Abstraktion erlernt. Epistemologischer Ausgangspunkt ist mit anderen Worten ein Progressionsmodell, innerhalb dessen ein anfänglicher Zustand der Unvollkommenheit nach und nach überwun444 Christiani Wolffii Psychologia Empirica. Edidit et curavit Joannes Ecole. Hildesheim 1968, § 151, S. 104, Übers. A.K. 445 Zu Kircher vgl. Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). Berlin: 1993, S. 258– 267. 446 Vgl. Art. »Hiéroglyphe,« S. 205: »Plusieurs anciens & presque tous les modernes ont cru que les prêtres d’Egypte inveterent les hiéroglyphs, afin de cacher au people les profonds secrets de leur science. Le P. Kircher en particulier a fait de cette erreur le fondement de son grand ouvrage dans lequel il n’a cessé de courir après l’ombre d’un songe.« [Einige der Alten und fast alle Modernen glaubten, dass die ägyptischen Priester die Hieroglyphen erfunden haben, um vor dem Volk die tiefen Geheimnisse ihres Wissens zu verbergen. Der Vater Kircher insbesondere hat aus diesem Irrtum die Grundlage seines großen Werkes gemacht, in welchem er nicht aufgehört hat, dem Schatten eines Traums hinterherzulaufen, Übers. A. K.]. 447 Vgl. dazu: Clemens Alexandrinus: Stromata Buch I–VI. Hg. von Otto Stählin. In 3. Aufl. hg. von Ludwig Früchtel. Berlin: 1966, Buch V, Kap. 20,3. In der Encyclopédie werden die Begriffe ›kuriologisch› und ›tropisch› zur Einteilung der Arten hieroglyphischer Schriften verwendet. Vgl. Art. »Hiéroglyphe,« S. 205–206.
Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini
113
den wird. Die Hieroglyphen sind eine »invention imparfaite, défectueuse, propre aux siècles d’ignorance«448 und werden durch die alphabetische Schrift ersetzt, welche den Vorteil der »plus grande clarté & la plus grande précision«449 besitzt. Mit dieser Entwicklungstheorie verbinden sich sowohl anthropologische Annahmen als auch solche, die die Konstitution des Heiligen in seinem Verhältnis zur Religion und Politik betreffen. Anlass zur Erfindung der ersten Schriftform ist »la pure nécessité«450, Zweck die »utilité publique«451. Im Zustand der Bedürftigkeit erfindet der Mensch bildhafte Zeichen als Mittel zur Ordnung seiner sozialen und politischen Angelegenheiten. Im Mittelpunkt steht dabei die Bekanntmachung der Gesetze sowie die Informierung der Öffentlichkeit: »En effet, ils employerent leurs hiéroglyphes à dévoiler nuement leurs loix, leurs réglemens, leurs usages, leur histoire, en un mot tout ce qui avoit rapport aux matieres civiles.«452 Auch in ihrer erweiterten symbolischen Form dienten die Hieroglyphen der Verbreitung des Wissens. Einem Prinzip der Offenheit entspricht die Verwendung allgemein bekannter, verständlicher Ausdrucksmittel: Cette écriture symbolique […] fut employée à instruire le peuple de toutes les vérités, de tous les avis, & de tous les travaux nécessaires. On eut donc soin dans les commencemens de n’employer que les figures, dont l’analogie étoit le plus à portée de tout le monde.453 Diese symbolische Schrift wurde dazu verwendet, um das Volk über alle Wahrheiten, alle Ankündigungen und alle notwendigen Arbeiten zu unterrichten. Man war also am Anfang darauf bedacht, nur Figuren zu verwenden, deren Analogie in der Reichweite eines jeden lag.
Wenngleich also an sich defizitär, erfüllen die Bildzeichen zumindest den Zweck, ein Gemeinwesen zu ordnen. Bei Mendelssohn hingegen sind sie Ursache einer »allgemeinen Verderbniß«454, die darin besteht, dass die als Zeichen verwendeten Tiere nun auch religiös verehrt werden: Daher wird man zuerst auch die Eigenschaften des Anbetungswürdigsten durch dergleichen Zeichen haben anzudeuten […] gesucht. In der Nothwendigkeit diese abge-
448 Art. »Hiéroglyphe,« S. 205. [unvollkommene, defizitäre Erfindung, die den Jahrhunderten des Unwissens eigen ist, Übers. A.K.]. 449 Art. »Ecriture.« In: Encyclopédie Bd. 5, S. 359. [größeren Klarheit und Präzision, Übers. A. K.]. 450 Art. »Hiéroglyphe,« S. 205. [die bloße Not, Übers. A.K.]. 451 Art. »Hiéroglyphe,« S. 205. [der öffentliche Nutzen, Übers. A.K.]. 452 Art. »Hiéroglyphe,« S. 205. [Tatsächlich verwendeten sie ihre Hieroglyphen, um ihre Gesetze, ihre Regeln, ihre Gewohnheiten, ihre Geschichte, mit einem Wort alles, was im Bezug zu den bürgerlichen Angelegenheiten steht, offen zu enthüllen, Übers. A.K.]. 453 Art. »Ecriture,« S. 359, Übers. A.K. 454 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 90.
114
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
zogensten Begriffe an sinnliche Dinge zu heften, und an solche sinnliche Dinge, die am wenigsten vieldeutig sind, wird man thierische Bilder haben wählen […] müssen.455
Die Eigenschaften Gottes durch Tiere zu bezeichnen, ist für Mendelssohn zwar verständlich, weil eben keine anderen eindeutigen und verständlichen Zeichen zur Verfügung standen, aber auch gefährlich, wenn in den Tierzeichen nicht mehr Gott, sondern die Tiere selbst verehrt werden. Im Anschluss an die philosophisch-anthropologische »Psychologisierung des Aberglaubens«456 erklärt er die Verehrung falscher Gottheiten durch Priesterbetrug457, eine in der Aufklärung verbreitete Vorstellung. Zudem sei Furcht die prägende Emotion bei der Entwicklung von Gottesvorstellungen.458 Für Hamann hingegen kommt den Bildzeichen ein ganz anderer, positiverer Stellenwert innerhalb der Genealogie der Schriftformen zu. Folgende Passage aus der Aesthetica in nuce bringt dies prägnant auf den Punkt: »Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glücksseeligkeit.«459 Wenn gilt, dass die Sinnlichkeit der Ausgangspunkt menschlichen Erkennens ist, so ist die Produktion von Bildern als erste spontane Reaktion des Menschen ihr angemessenster Ausdruck. Behauptet wird hier aber wesentlich mehr. Die Bilder als Ursprung menschlicher Zeichenproduktion enthalten nicht nur eine Fülle von Wissen – im Unterschied zu ihrer Bewertung als defizitär in der Encyclopédie –, sondern sind auch von unmittelbarer Relevanz in praktischer Hinsicht.460 Sie entspringen nicht der Notwendigkeit, sondern sind Anzeichen des Genusses, somit die erste mimetische Reaktion des Menschen auf die Schöpfung: Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerey, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse: 455 456 457 458
Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 90. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 154. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 152. Zur Furcht bei Spinoza und Hobbes vgl. Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 155. Mendelssohn schreibt, möglicherweise an diese Argumente anknüpfend: »Die Begriffe von der Gottheit, die in den Volksreligionen sich noch erhielten, waren von Aberglauben so entstellt, von Heucheley und Pfaffenlist so verderbt, dass man im Grunde zweifeln konnte, ob nicht Ohngötterey der menschlichen Glückseligkeit weniger schädlich, ob so zu sagen die Gottlosigkeit selbst nicht weniger gottlos sey, als eine solche Religion. Menschen, Thiere, Pflanzen, die schueßlichsten und verächtlichsten Dinge in der Natur wurden angebetet […] oder vielmehr als Gottheiten gefürchtet. Denn von der Gottheit hatten die öffentlichen Volksreligionen der damaligen Zeiten keinen andern Begriff, als von einem furchtbaren Wesen, das uns Erdbewohnern an Macht überlegen, leicht zum Zorne zu reitzen, und schwer zu versöhnen ist.« ( Jerusalem, Teil 2, S. 88–89). 459 Hamann: Aesthetica in nuce, S. 83. 460 Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung von ›Bildern› bei Hamann siehe: Hans Graubner: Erkenntnisbilder oder Bildersprache. Hamann und Hume. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit.« Hg. von Oswald Bayer. Tübingen: Attempto 1998, S. 135–155.
Naturrechtliche Aspekte in Golgotha und Scheblimini
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Tausch, – als Handel. Ein tieferer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre Bewegung, ein taumelnder Tanz. Sieben Tage im Stillschweigen des Nachsinns oder Erstaunens saßen sie; – - und thaten ihren Mund auf – zu geflügelten Sprüchen.461
Wichtig ist hier die Opposition zwischen ›Gartenbau‹ und ›Acker‹, insofern ersterer den ›status paradisi‹ evoziert als einen geschützten Bereich frei von jeglichem Mangel, wohingegen der ›Acker‹ in der topischen Tradition einen Zustand der Entbehrung und der Abkehr von einem positiven Ursprung bedeutet, in welchem der Mensch die Natur bearbeiten muss, diese also nicht mehr von sich aus gibt.462 Es fragt es sich jedoch, was mit dem Ausdruck ›Poesie‹ hier gemeint ist. Liest man ihn in seiner etymologischen Bedeutung – also hergeleitet vom griechischen Verb ποιειν, schaffen, verfertigen; dichten –, gelangt man zu einer weiteren impliziten Annahme über den Status von Sinnlichkeit innerhalb der psychischen Vermögen des Menschen. Die Sinnlichkeit beschränkt sich nämlich für Hamann nicht auf bloße Rezeptivität, sondern beinhaltet an sich schon Spontaneität463 und damit auch Freiheit. Die ersten Zeichen, die Hamann in Anlehnung an Johann Georg Wachter ›poetisch‹ oder ›kyriologisch‹ nennt,464 entspringen aus der ›delectatio‹,465 die ja nach Aristoteles unmittelbar mit der 461 Hamann: Aesthetica in nuce, S. 81. 462 Vgl. dazu die Beschreibung des goldenen im Kontrast zum silbernen Zeitalter bei Ovid: Metamorphosen, S. 13: »Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasetn, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschaar verletzt, alles von selbst.« Und: Ebd., S. 12: »Damals versenkte man zum ersten mal Samen der Ceres in langen Furchen, und die Pflugstiere stöhnten unter der Last des Joches.« 463 Vgl. dazu die ungewöhnliche, aber aufschlussreiche Verwendung des Reflexivpronomens: »Es werde Licht! hiemit fängt sich die Empfindung von der Gegenwart der Dinge an.« (Hamann: Aesthetica in nuce, S. 83; Hervorhebung A.K.). Zu empfinden heißt also nicht bloß, einfach passiv Eindrücke zu empfangen, sondern auch, diese in Aktivität umzusetzen. 464 Vgl. Hamann: Aesthetica in nuce, S. 87–89: »Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – und philosophisch oder charakteristisch seyn können.« 465 Hamann spricht von der »erste[n] Erscheinung und de[m] erste[n] Genuß der Natur« (Hamann: Aesthetica in nuce, S. 83). Wachter argumentiert im Bezug auf die mimetisch hervorgebrachten Zeichen, dass allein der durch die beobachtbare Übereinstimmung mit den Formen der Natur ausgelöste Gefallen ein hinreichender Grund für ihre Wertschätzung ist. Vgl. Johann Georg Wachter : Naturae et scripturae concordia. Lipsiae et Hafniae 1752: »Denique non semper aequum est quaerere, cui usu? cui bono? etiamsi forte inventum novum nullam habeat utilitatem, quam quod delectet. Quemadmodum enim in Tabulis pictis, ubi ars naturam imitatur, nemo utilitatem desiderat, sed gratiu et veritate imaginis contentus, in voluptate videndi acquiescit: ita in literis secundam naturam pictis, praeter illam delectationem, quae ex harmoniae sensu oritur, aliam utilitatem quaerere, aut, si desit, totam picturam, quamvis naturam conformem, contemnere, nescio injustum magis, an stupidum appellari debeat?« [Schließlich ist es nicht immer angemessen zu fragen: Wem nützt es? Wem kommt es zu Gute? Auch wenn die neue Erfindung zufällig keinen Nutzen hat, als zu gefallen. So wie nämlich auf Gemälden, wo die Kunst die Natur nachahmt, niemand einen Nutzen wünscht, sondern, durch Anmut und Wahrheit des Bildes zufrieden,
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Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
›μίμησις‹ (Nachahmung) verknüpft ist.466 An die Stelle der ›utilitas‹ tritt somit das zweckfreie, spontane sich Ausdrücken; die Annahme eines anfänglichen Mangels und Unwissens wird durch ursprünglichen Reichtum und Wissen ersetzt. Wird der Mensch der Encyclopédie zufolge von der Natur lediglich zum Ausdruck seiner ›conceptions grossiers‹467 veranlasst, so verfügt er für Hamann umgekehrt über eine ursprüngliche schöpferische, poetische Fähigkeit.468 Der springende Punkt dabei ist, dass er religiöses Empfinden mit der Wahrnehmung der Sinnlichkeit zusammendenkt und so bei gleichen sensualistischen Prämissen zu grundverschiedenen anthropologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen kommt.
sich mit der Lust anzuschauen begnügt: so weiß ich nicht, ob man es eher ungerecht oder dumm nennen müsste, bei Buchstaben, die nach der Natur gemalt sind, einen anderen Nutzen zu suchen außer jener Freude, die aus der Wahrnehmung der Harmonie entspringt, oder, wenn sie nicht da ist, das ganze Bild, wenngleich naturgemäß, zu verdammen, Übers. A.K.]. 466 Vgl. Aristoteles: De Poetica. In: The Works of Aristotle. Transl. into English under the Editorship of W.D. Ross. Bd. XI. Rhetorica. De Rhetorica ad Alexandrum. De Poetica. Oxford 1924, 1448b: »τό τε γὰρ μιμεῖσθαι σύμφυτον τοῖς ἀνθρώποις ἐκ παίδων ἐστὶ καὶ τούτῳ διαφέρουσι τῶν ἄλλων ζῴων ὅτι μιμητικώτατόν ἐστι καὶ τὰς μαθήσεις ποιεῖται διὰ μιμήσεως τὰς πρώτας, καὶ τὸ χαίρειν τοῖς μιμήμασι πάντας.« [Das Nachahmen ist den Menschen von Kind an natürlich und dadurch unterscheiden sie sich von den anderen Lebewesen, dass sie am meisten zur Nachahmung geneigt sind und zuerst durch Nachahmung lernen und sich immer an Nachahmungen freuen. Übers. A.K.]. 467 Damit einher geht die Annahme einer universell gleichen menschlichen Natur: »Les hiéroglyphes ont été d’usage chez toutes les nations pour conserver les pensées par des figures, & leur donner un être qui les transmit à la postérité. Un concours universel ne peut jamais être regardé comme une suite, soit de l’imitation, soit du hazard ou de quelque évenement imprévu. Il doit être sans-doute considéré comme la voix uniforme de la nature, parlant aux conceptions grossieres des humains.« (Art. »Hieroglyphe«, S. 205). [Die Hieroglyphen waren bei allen Nationen in Gebrauch, um Gedanken durch Figuren aufzubewahren und ihnen ein Sein zu geben, das sie an die Nachwelt übermittelt. Eine universelle Übereinstimmung kann niemals als eine Folge, sei es der Nachahmung, sei es des Zufalls oder irgendeines unvorhergesehenes Ereignisses angesehen werden. Sie muss zweifelsohne als die einförmige Stimme der Natur angesehen werden, welche zu den groben Vorstellungen der Menschen spricht. Übers. A.K.]. 468 Eine ähnliche Vorstellung von Poesie findet sich bei Lowth, dessen Kommentar über die Sprache des Alten Testaments Hamann bekannt war. Vgl. Robert Lowth: De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones Academicae Oxonii Habitae. 1753. Faksimilereprint der Erstausgabe. Mit einer Einleitung hg. von David A. Reibel. Routledge 1995, S. 20: »Nam cum sit facultas [i. e. die Poesie, A.K.] a natura profecta, praeceptis et legibus non nisi sero conformata, non aetatis alicujus aut gentis propria, sed universi humani generis; vehementioribus humanae mentis Affectibus necessario tribuenda est.« [Denn weil sie eine von der Natur hervorgebrachte Fähigkeit ist, die erst spät an Vorschriften und Gesetze angepasst wurde, keinem Zeitalter oder Volk eigentümlich, sondern dem gesamten menschlichen Geschlecht; so ist sie notwendig den heftigeren Affekten des menschlichen Gemüts zuzuschreiben. Übers. A.K.].
Naturzustand und Gesellschaftsvertrag
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Nun hat aber auch Mendelssohn bei seiner Erörterung der Frage, welches Zeichensystem im Hinblick auf Vermittlung richtiger ethischer und religiöser Werte am besten sei, ein bestimmtes Konzept von Nachahmung vor Augen. Gegenstand der Nachahmung ist für ihn jedoch nicht die Natur, weil sich darin anders als für Hamann Gott nicht zeige, sondern zeremonielle Handlungen: Die zur Glückseligkeit der Nation sowohl als der einzelnen Glieder derselben nützliche Wahrheiten sollten von allem Bildlichen äußerst entfernt seyn […] An Handlungen und Verrichtungen sollten sie gebunden seyn, und diese ihnen statt der Zeichen dienen, ohne welche sie sich nicht erhalten lassen. Die Handlungen der Menschen […] haben nichts Bleibendes, nichts Fortdaurendes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch oder Mißverstand zur Abgötterey führen kann. Sie haben aber auch den Vorrang vor Buchstabenzeichen, dass sie den Menschen nicht isoliren, nicht zum einsamen, über Schriften und Bücher brütenden Geschöpfe machen. Sie treiben vielmehr zum Umgange, zur Nachahmung und zum mündlichen lebendigen Unterricht.469
Mendelssohn und Hamann stehen sich in ihren Auffassungen darüber, wie Menschen Begriffe von Moral und Religion vermittelt werden (sollen) näher, als es Hamanns harsche Kritik vermuten lässt. Für beide wird das Sollen über eine göttliche Mitteilung und durch Nachahmung angeeignet und weitergegeben. Unterschiede bestehen hinsichtlich dessen, was Gegenstand der Nachahmung sein soll. Im Bezug auf den Begriff von Natur – und den des Naturzustands – bestehen indessen grundlegende Differenzen zwischen Hamann und Mendelssohn, welche wiederum in unterschiedlichen Auffassungen von Wissenschaft gründen.
3.
Naturzustand und Gesellschaftsvertrag
Zu Beginn von Golgotha und Scheblimini bekundet Hamann seine Unfähigkeit, mit zentralen naturrechtlichen Konzepten etwas anzufangen zu können: Herr Mendelssohn glaubt einen Stand der Natur, welchen er der Gesellschaft, wie die Dogmatiker einen Stand der Gnade, theils voraus- theils entgegen setzt. Ich gönne ihm und jedem Dogmatiker seine Überzeugung, wenn ich mir gleich weder einen rechten Begriff noch Gebrauch von dieser den meisten Buchstabenmännern unsers Jahrhunderts so geläufigen Hypothese zu machen fähig bin. Mit dem gesellschaftlichen Contract geht es mir nicht besser! 470
Der Stein des Anstoßes ist für Hamann der ›hypothetische‹ Charakter der Theoreme von Naturzustand und Gesellschaftsvertrag. Ein Denken, welches 469 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 2, S. 96. 470 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 57–58.
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Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
ausgehend von einem Gedankenexperiment zu Erkenntnissen über ethische und rechtliche Normen zu gelangen versucht, ist für ihn nicht akzeptabel. Welche wissensgeschichtlichen Voraussetzungen hat nun diese Position, der zufolge es anscheinend unangemessen ist, über rechtsphilosophische Fragen ausgehend von kontrafaktischen Annahmen nachzudenken? Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass sich Hamanns Skepsis gegenüber der Angemessenheit von Mendelssohns Methode sowohl aus einer metaphysikkritischen Haltung als auch aus einer Rezeption zeitgenössischer anthropologischer Literatur ergibt. In Hamanns Bibliothek befindet sich Isaak Iselins Über die Geschichte der Menschheit (1768). Ein Blick in den ersten Band ist aufschlussreich für die Begriffe ›Mensch‹ und ›Natur‹ bzw. ›Naturzustand‹, die parallel zueinander problematisiert und in Verbindung mit Anthropologie und Ethnologie neu verstanden werden. Für Iselin tritt der Begriff des Menschen mit einem methodischen Grundproblem auf: Ist aber der Mensch in der Natur derselbige, den wir in der Abstraction zu finden geglaubet haben, oder ist er ganz etwas anders? und wo sollen wir uns hinwenden, um diese Prüfung anzustellen? Sollen wir den wahren Menschen in den Wäldern von Nordamerica suchen? 471
Iselins Frage, ob zwischen dem Menschen »in der Natur« und »in der Abstraction« Deckungsgleichheit bestehe, ob man also auf dem Weg der empirischen Beobachtung und dem der theoretisch-metaphysischen Betrachtung zu dem selben Menschenbild komme, impliziert schon eine Vornetscheidung: Seine Formulierung ›geglaubt haben‹ deutet an, dass sich die Abstraktion als inadäquat erwiesen hat, weil sie der Vielfalt der historischen und ethnologischen Phänomene nicht gerecht werden konnte. Beibehalten wird dabei allerdings die – metaphysische – Prämisse eines wahren Menschen, der ›an sich‹ existiert und durch die Wahl der geeigneten Methode auch erkannt werden kann. Repräsentieren die Ureinwohner Nordamerikas dieses ›wahre‹ in seiner unverfälschten Natürlichkeit oder hat man es nicht mit einer besonderen historisch und räumlich spezifischen Erscheinung zu tun. Iselins Problemskizze ist hier aus zweierlei Gründen interessant: Denn die Schwierigkeit ein zuverlässiges, ›wahres‹ Wissen über den »Stand der Natur«472 zu erlangen, verweist darauf, dass Mitte des 18. Jahrhunderts mit Naturzustand nicht mehr unbedingt dasselbe gemeint ist wie bei Grotius und Pufendorf. War
471 Isaak Iselin: Über die Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Neue und verbesserte Auflage. Zürich 1768, S. 131. 472 Iselin: Über die Geschichte, S. 133.
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der ›Naturzustand‹ bei Pufendorf eine methodische Fiktion,473 so ist er bei Iselin anscheinend ein reales Phänomen, etwas, das sowohl in der Gegenwart als auch in der Geschichte mit Hilfe von Anthropologie und Ethnologie erforscht werden kann. Iselins Position, dass ›wir nur geglaubt haben, den wahren Menschen in der Abstraktion zu finden‹, weist wichtige Gemeinsamkeiten mit Hamann auf. Auch er stößt sich an der Vorstellung des Naturzustands dann, wenn damit eine durch Abstraktion von geschichtlichen und empirischen Lebensumständen gewonnene Hypothese gemeint ist.474 Mit der Veränderung des Begriffs Naturzustand geht nun auch eine Verschiebung des Erkenntnisinteresses einher. Ziel ist nicht oder nicht vorwiegend die Herleitung von Normen und ihre Plausibilisierung durch Hypothesenbildung, sondern die Deskription. Das Anliegen ist nicht, zuerst zu erfahren, was der Mensch tun soll, sondern wie er sich realhistorisch entwickelt hat. Dann allerdings ergibt sich die Frage, wie und auf welcher Ebene sich bei Iselin das deskriptive mit einem normativen Interesse verbindet – und dass eine solche Verbindung existiert, lässt allein schon die Rede vom ›wahren Menschen‹ vermuten. Iselins methodischer Ansatz liegt an der Schnittstelle von ›anthropologia physica‹ und ›anthropologia moralis‹. Es sei ungereimt, von einer »bloße[n] Empfindung des gegenwärtigen Zustandes«475 auszugehen, da diese niemals wirklich war.476 Auch bei der vermeintlich rein empirischen Beobachtung wird mit Abstraktionen gearbeitet, nämlich um den Übergang vom Menschen zum Tier zu erklären.477 Für Iselin nun ist eine Hypothese, welche den Menschen entwicklungsmäßig von einem tierischen Zustand aus verstehen möchte, nicht adäquat, wenn es um das wichtigste den Menschen auszeichnende Merkmal, nämlich seine Geselligkeit geht: Von geselligen Empfindungen würde ein solcher sich selbst überlassener Mensch höchstens einen dunklen Trieb fühlen […]. Schwach und dunkel würde dieser Trieb wol eine Anzahl Menschen, wie in eine Heerde zusammen drängen; er würde aber unter ihnen noch keine wahre Gesellschaft erzeugen, welche erst da statt hat, wo gemeinsame Absichten eine Vereinigung beseelen.478
Geht man von einem Menschen aus, dessen psychische Fähigkeiten auf die Sinne und den niedrigen Teil des Gedächtnisses beschränkt sind und der also lediglich 473 Hans Medick: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith. Göttingen 1973, S. 43. 474 Zu Hamanns Abstraktionskritik vgl. Aesthetica in nuce, S. 113. 475 Iselin: Über die Geschichte, S. 135. 476 Vgl. Iselin: Über die Geschichte, S. 142. 477 Zu Iselins konjekturaler Methode siehe Gisi: Einbildungskraft und Mythologie, S. 340–344. 478 Iselin: Über die Geschichte, S. 137.
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dazu in der Lage ist, Gegenwärtiges wahrzunehmen, versetzt man ihn hypothetisch in einen Zustand »thierischer Selbstgenugsamkeit«479. Geselligkeit kann auf dieser Ebene gar nicht entstehen, weil kein Mensch dem anderen nützlich oder hinderlich, sondern alle einander gleichgültig sind. Sprache als distinktive menschliche Fähigkeit wäre dann gänzlich unbrauchbar. Das für Hamanns Position Kennzeichnende ist nun, dass er sich die Abstraktionskritik zu eigen macht, aber nicht so weit gehen möchte, das ›specificum humanum‹ – Sprache und Geselligkeit – in den Horizont einer historischen Genese zu stellen. Die Sprache ist für ihn unmittelbarer Bestandteil der menschlichen Natur, die er ausgehend von der biblischen Überlieferung mit dem ›status integritatis‹ verbindet. Das bedeutet aber nicht, dass die Sprache etwas gänzlich Vorgegebenes wäre: Weil die Werkzeuge der Sprache wenigstens ein Geschenk der alma mater Natur sind, (mit der unsere strake Geister eine abgeschmacktere und lästerlichere Abgötterey treiben, als der Pöbel des Heidenthums und Papstthums,) und weil, der höchsten philosophischen Wahrscheinlichkeit gemäs, der Schöpfer dieser künstlichen Werkzeuge auch ihren Gebrauch hat einsetzen wollen und müssen: so ist allerdings der Ursprung der Sprache göttlich.480
Warum bezeichnet Hamann eben diese Werkzeuge als »künstliche«? Hätte er sie nicht folgerichtiger, weil von der Natur gegeben, als ›natürlich‹ bezeichnen müssen? Ein als Fußnote angeführtes Lactanzzitat verweist deutlich auf den Topos der Natur als ›ars dei‹: »Deus et mentis et vocis et linguis artifex.«481 An sich ist diese Formulierung ambigue, insofern als ›vox‹ sowohl ›Stimme‹, ›Sprache‹, ›Aussprache‹ als auch ›Wort‹ und ›lingua‹ sowohl ›Sprache‹ als auch ›Zunge‹ heißen kann. Im Zusammenhang mit Hamanns Rede von den Sprachwerkzeugen macht es mehr Sinn, ›vox‹ und ›lingua‹ mit ›Stimme‹ bzw. ›Zunge‹ zu übersetzen. Demnach teilt Gott dem Menschen über die Natur die notwendigen physischen Mittel zum Erwerb der Sprache mit. Es wird ihm also keine fertige Sprache gegeben, sondern nur die Voraussetzungen dafür, diese selbst durch Gebrauch zu schaffen. Diesen Gebrauch nun habe Gott erst »einsetzen wollen und müssen.«482 Der Akzent liegt hier deutlich auf der ›voluntas dei‹: Ein Willensakt Gottes ist der Auslöser die natürlich gegebenen Sprachwerkzeuge zu gebrauchen. Das zweite Lactanzzitat präzisiert diese Auffassung: »nunquam fuisse homines in terra, qui propter infantiam non loquerentur, intelliget, cui ratio non deest.«483 Wenn es niemals Menschen gegeben hat, die wegen Mangel an Sprachfähigkeit, nicht 479 480 481 482 483
Iselin: Über die Geschichte, S. 138. N III, S. 27. N III, S. 27. N III, S. 27. N III, S. 27.
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gesprochen hätten, ist der Mensch zu keinem Zeitpunkt gänzlich ohne Sprache, also stumm gewesen. Der ›Gebrauch‹ der Sprachwerkzeuge entwickelt sich nicht erst langsam, sondern ist unmittelbar mit der Existenz des Menschen verbunden. Ohne Sprache wäre der Mensch kein Mensch. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hamann durchaus eine Vorstellung von Naturzustand hat, welche aber durch seine Rezeption anthropologischer Literatur entscheidend verändert ist. Er lehnt nicht den Gedanken eines Naturzustandes schlechthin ab, sondern eine Methode, die Wirklichkeit erklärt ausgehend von Hypothesen, »die sich empirisch weder bestätigen noch widerlegen lassen.«484 Damit schließt er sich der antiintellektualistisch und metaphysikkritisch ausgerichteten Neubestimmung von Wissenschaft an, die sich seit dem 17. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus konstituierte.485 Der Naturzustand ist so bei Hamann keine »Konstruktion, die alle historische Wirklichkeit transzendiert«486, diese aber erklären soll, sondern wird zum einen mit dem ›status paradisi‹ verknüpft, zum anderen über die Parallele von Ontound Phylogenese in die raum-zeitliche Gegenwart hinein geholt. Beim Gesellschaftsvertrag wirkt Hamanns ablehnende Haltung indessen widersprüchlich. Denn im Ritter von Rosencreuz hatte Hamann den Ausdruck ganz selbstverständlich verwendet und sich demnach durchaus eine sinnvolle Vorstellung von seiner Bedeutung machen können: Selbst die Ungleichheit der Menschen und der gesellschaftliche Contract sind daher Folgen einer ursprünglichen Einsetzung; denn, nach der ältesten Urkunde, gab eine sehr frühzeitige Begebenheit (welche der Wiege des menschlichen Geschlechts so angemessen ist, dass die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung aller Zweifelsucht den Schlangenkopf zertritt und alle Fersenstiche der Spötterey lächerlich macht) bereits zur Unterwürfigkeit des Weibes unter den Willen des Mannes Anlaß – -487
Die Rede vom ›gesellschaftlichen Contract‹ macht also für Hamann nur im Zusammenhang mit einem hypothetischen Denken keinen Sinn. Was aber ist die Alternative, die er mit dem Begriff der ›ursprünglichen Einsetzung‹ vorschlägt? Mit ›Einsetzung‹ übersetzt Hamann den Begriff ›impositio‹, der »für den eigentlichen und ursprünglichen Benennungsakt«488 steht und in der naturrechtlichen Diskussion um die Konstituierung von Werten, vor allem bei Erhard Weigel, als »eine eigentliche creatio ex nihilo«489 verstanden wird. In welchem Sinn aber kann Hamann die Einsetzung als ›ursprünglich‹ begreifen? Offen-
484 485 486 487 488 489
Kondylis: Aufklärung, S. 231. Vgl. dazu: Kondylis: Aufklärung, S. 226–235, S. 291–298. Medick: Naturzustand und Naturgeschichte, S. 43. N III, S. 32. Achermann: Natur und Freiheit, S. 84–85. Achermann: Natur und Freiheit, S. 89.
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sichtlich geht es ihm um die Vorstellung eines ersten Setzungsaktes, welcher einen Teil der sozialen Lebenswirklichkeit der Menschen konstituiert – nämlich ihre Ungleichheit untereinander und den Sozialvertrag – und so die (allgemeine) Grundlage für alle weiteren (besonderen) Einsetzungen bildet. Wer aber ist das Subjekt dieser allerersten Einsetzung? Spricht Hamann hier implizit von einer göttlichen (und deshalb ursprünglichen) ›impositio‹, die für die menschlichen Setzungsakte Vorbild ist oder wird hier schon von menschlichen ›impositiones‹ geredet? Eine Antwort liefert der Bezug des Wörtchens ›daher‹: Hamann hatte zuvor den Leser aufgefordert, sich das erste Menschenpaar vorzustellen, das die Erfahrung einer vollkommenen göttlichen Gegenwart machen konnte. Die Stimme Gottes habe den Menschen ihre »politische[…] Bestimmung, die Erde zu bevölkern und zu beherrschen durchs Wort des Mundes«490 vermittelt. Er behauptet demnach eine unmittelbare Folgebeziehung zwischen dem biblischen Herrschaftsauftrag (Gen. 1, 28) und der »ursprünglichen Einsetzung« Genauer gesagt wird dasjenige, was als Konsequenz aus der ersten Einsetzung resultiert, ursächlich durch die Ermächtigung des Menschen zur Herrschaft bedingt. Demnach kann mit der »ursprünglichen Einsetzung« zweierlei gemeint sein: einerseits eine ursprüngliche göttliche Festlegung, die Menschen Macht verleiht, welche es mit sich bringt, dass die Menschen untereinander ungleich werden und zur Regelung ihres Zusammenlebens Verträge schließen müssen. Andererseits kann auch die erste Handlung gemeint sein, durch die der Mensch die ihm verliehene Machtfülle gebraucht, etwa die Benennung der Tiere durch Adam (Gen. 2, 20) und die anschließende Bezeichnung der Frau als »Männin«, (Gen. 2, 23), worin die ›erste‹ Form der Ungleichheit als hierarchische Ordnung der Geschlechter bereits angelegt ist. Geht es hier ›schon‹ um eine menschliche ›impositio‹, so widerspricht Hamann hier Mendelssohns Erklärung der Entstehung von Verträgen als biologischer Notwendigkeit: Schon der Vermehrungstrieb, wenn er nicht bloß viehischer Instinkt seyn soll, zwinget die Menschen […] zu einem gesellschaftlichen Vertrage, davon man sogar bey vielen Thieren etwas Analogisches findet.491
In beiden Fällen muss angenommen werden, dass die Ungleichheit der Menschen für Hamann weder eine naturhafte Notwendigkeit darstellt noch auf eine göttliche Absicht zurückgeführt werden kann. Sie ist vielmehr das Ergebnis menschlicher Festlegung und resultiert– unter anderem – aus gottgegebener
490 N III, S. 31. 491 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 55–56.
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»vollkommene[r] Machtfülle und Willensfreiheit«492. Diese Macht wird für Hamann nicht allen Menschen zuteil, sondern nur dem Mann, dem gegenüber die Frau ›unterwürfig‹ sein soll. Wenn er davon spricht, dass eine ›frühzeitige Begebenheit‹, wohl die Verführung Evas durch die Schlange (Gen. 3, 1–13), zu dieser ›Unterwürfigkeit‹ Anlass gab, heißt das im Zusammenhang der zitierten Passage nicht, dass er das hierarchische Verhältnis von Mann und Frau naturalisiert. Er bejaht es zwar, insofern er es als durch ein Ereignis legitimiert sieht. Die ›Unterwürfigkeit‹ ist aber dabei ein Produkt menschlicher Entscheidung. Sie ist weder gottgewollt noch liegt sie in einer supponierten ›Natur der Sache‹. Mit der Erklärung der Ungleichheit durch den Begriff der Einsetzung wendet sich Hamann schließlich gegen eine andere Erklärungsvariante, die von Rousseau zu Beginn seines Discours sur l’inégalité verwendet wird. Rousseau unterscheidet dort zwischen einer ›natürlichen‹ Ungleichheit, welche in der Verschiedenheit der körperlichen und geistigen Anlagen der Menschen besteht, und einer ›moralischen‹ Ungleichheit: »L’autre [sorte d’inégalité, A.K.] qu’on peut appeller inégalité morale, ou politique, parce qu’elle dépend d’une sorte de convention, et qu’elle est établie, ou du moins autorisée par le Consentement des Hommes.«493 Wenngleich Rousseau in demselben Text Kritik am Begriff der Konvention übt,494 verwendet er ihn hier ganz fraglos. So formuliert er an dieser Stelle eine verharmlosende Erklärung der Ungleichheit und Machtverhältnisse, indem er behauptet, dass sie durch eine Zustimmung aller Menschen gerechtfertigt sei. Hamanns Erklärung durch Einsetzung mutet demgegenüber wesentlich realistischer an. Ungleichheit als das Ergebnis einer Setzung lässt erkennen, dass Machtverhältnisse weder auf Zustimmung noch auf einer Einigung beruhen müssen, sondern dadurch entstehen können, dass einige Menschen von ihrer Freiheit zum letztlichen Nachteil anderer Gebrauch machen. Indem Hamann die Ungleichheit als von Menschen konstituiert darstellt, widerspricht er nicht nur Rousseaus Beschreibung religiöser Glaubensinhalte, sondern auch anderen zeitgenössischen Erklärungen. Während Rousseau zufolge die Religion 492 Achermann: Natur und Freiheit, S. 90. 493 Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Zweite, durchgesehene u. erweiterte Auflage. Paderborn u. a.: Schöningh 1984, S. 66, Hervorhebung A.K. [Die andere (Art der Ungleichheit) kann man moralische oder politische Ungleichheit nennen, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen etabliert oder zumindest autorisiert wird. Übers. A. K.]. 494 Eric Achermann: Imputatio, impositio und die Verbindlichkeit von Zeichen. Zum Topos der Sprachkonvention in naturrechtlicher Hinsicht. In: Philologie als Literatur- und Rechtswissenschaft. Germanistik und Romanistik 1730–1870. Hg. von Claudia Lieb und Christoph Strosetzki. Heidelberg: 2013, S. 13–15.
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lehre, dass Gott die Ungleichheit der Menschen direkt gewollt habe,495 führt der Abbé Talbert sie auf eine göttliche Entscheidung nach dem Sündenfall zurück.496 Hamann hingegen bezieht den göttlichen Willen lediglich auf die Vermittlung einer allgemeinen Herrschaftsbefugnis ohne konkrete inhaltliche Vorgaben. Religion kann in diesem Sinn nicht mehr als Legitimation für bestehende Machtverhältnisse herangezogen werden, da diese aus menschlichen Entscheidungen resultieren. Gott hat dem Menschen die Fähigkeit verliehen, seine Lebenswelt selbst zu gestalten und zu ordnen, so dass etwaige Übelstände auf menschliche Handlungen zurückgeführt werden müssen.
4.
Hamanns Auseinandersetzung mit Mendelssohns Jerusalem
Hinsichtlich dessen, was ein Staat tun soll, wozu er da ist und was wünschenswert für den Menschen ist, gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Hammann und Mendelssohn. Für beide ist Freiheit ein zentrales, wenn nicht gar das höchste Gut. Sie ist »das edelste Kleinod der menschlichen Glückseligkeit«497, wie Mendelssohn es formuliert. Ausgehend von dieser Annahme der Freiheit als höchstes Gut ziehen beide ähnliche Konsequenzen für die Rolle des Staates. Beide haben ein Ideal vor Augen, demzufolge sich der Staat als Autorität, als eine restriktive Instanz, die vornehmlich Zwang ausübt, zurückziehen soll, wenngleich die Gedankengänge und Begründungszusammenhänge sehr verschieden sind. Beide sprechen bei der Begründung der Moralität, der Möglichkeit geselligen Zusammenlebens, der Religion eine wichtige Bedeutung zu.
4.1
Pflicht und Recht
Die Differenzen beider Denker konturieren sich an den Begriffen Natur, Rechten und Pflichten. Mendelssohns Ausgangspunkt ist die Frage nach der Quelle von Verbindlichkeit überhaupt. Im Anschluss an die Naturzustandstheorien des 17. Jahrhunderts stellt auch er sich die Frage, wie sich Normen aus der Natur des Menschen herleiten lassen, um schließlich »die Normen von Recht und Politik 495 Rousseau: Discours sur l’inégalité, S. 72: »La Religion nous ordonne de croire que Dieu luimême ayant tiré les Hommes de l’état de Nature immédiatement après la création, ils sont inégaux parce qu’il a voulu qu’il le fussent.« [Die Religion befiehlt uns zu glauben, dass weil Gott selbst die Menschen unmittelbar nach der Schöpfung aus dem Naturzustand herausgeholt hat, sie ungleich sind, weil er wollte, dass sie es seien. Übers. A.K.]. 496 Vgl. den Kommentar von Heinrich Meier in Rousseau: Discours sur l’inégalité, Anm. 85 auf S. 72. 497 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 4.
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auf eine weltimmanent begründete […] Erfahrungsbasis zu stellen.«498 Dabei stellt er fest, dass Thomas Hobbes’ Ansatz zu einer Erklärung nicht ausreicht. Wenn man erklären möchte, wie Menschen untereinander Verträge schließen und diese dann auch einhalten (können), dürfe man nicht Angst allein als Hinderungsgrund für einen Vertragsbruch ansehen, auch nicht als eine religiös vermittelte Furcht.499 Es müsse vielmehr eine anthropologische Erklärung der Möglichkeit zwischenmenschlicher Verbindlichkeit geben: Sind die Menschen von Natur an keine Pflichten gebunden, so liegt ihnen auch nicht einmal die Pflicht ob, ihre Verträge zu halten. Findet im Stande der Natur keine andere Verpflichtung statt, als die sich auf Furcht und Ohnmacht gründet; so dauert die Gültigkeit der Verträge auch nur so lange, als sie von Furcht und Ohnmacht unterstützt wird.500
Anders gesagt, der Naturzustand darf nicht als ein vollkommen ›anarchischer‹ Zustand vorgestellt werden, sondern muss bereits eine Instanz enthalten, von der eine bindende, verpflichtende Wirkung ausgeht. Dabei versteht Mendelssohn unter Pflicht, wenngleich ohne dies explizit darzulegen, nicht etwas, das mir von außen vorgeschrieben wird oder mich wider Willen zwingt. Pflicht ist hier nichts, wozu der Mensch sich zwingen oder überwinden muss, sondern ergibt sich aus einer anthropologischen Grunddisposition. Mendelssohn zufolge sei das fundamental menschliche Streben nach Glückseligkeit ohne gute Taten gegenüber anderen Menschen nicht realisierbar: »Der Mensch kann ohne Wohlthun nicht glücklich seyn; […] Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beystand, […] durch thätige und leidende Verbindung mit seinen Nebenmenschen, vollkommen werden.«501 Glückseligkeit wird mit dem Streben nach Perfektionierung identifiziert und um letztere zu erreichen, muss ich anderen Gutes tun: »Besserseyn ist von Wohlwollen unzertrennlich.«502 Wenn wir anderen helfen, können wir »uns selbst und die Besserung unserer Kräfte dabey empfinden«503 und dadurch, so die Annahme, eben auch glücklicher werden. So gesehen erscheint die Pflicht zum Wohltun, die Mendelssohn als eine schon im Naturzustand existierende unvollkommene
498 Medick: Naturzustand, S. 37. 499 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 12: »Allein diese Furcht vor der Allmacht [Gottes], welche die Könige und Fürsten an gewisse Pflichten gegen ihre Unterthanen binden soll, kann doch auch im Stande der Natur für jeden einzelnen Menschen eine Quelle der Obliegenheiten werden, und so hätten wir abermals ein solennes Recht der Natur, das Hobbes doch nicht zugeben will.« 500 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 10–11. 501 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 33. 502 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 34. 503 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 21.
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Verpflichtung beschreibt, letztlich als eine Pflicht gegenüber mir selbst, motiviert durch mein menschliches und daher notwendiges Streben nach Glückseligkeit: Meine Pflicht wohlzuthun ist blos Gewissenspflicht, davon ich äusserlich niemanden Rechenschaft zu geben habe; so wie mein Recht auf anderer Wohlthun, blos ein Recht zu bitten ist, das abgewiesen werden kann. – Im Stande der Natur sind alle positiven Pflichten der Menschen gegeneinander blos unvollkommene Pflichten; so wie ihre positive Rechte auf einander blos unvollkommene Rechte, keine Pflichten, die erpresst werden können, keine Rechte, die Zwang erlauben. – Blos die Unterlassungspflichten und Rechte sind im Stande der Natur vollkommen.504
Damit stellt sich der Naturzustand bei Mendelssohn, entsprechend der seit dem 17. Jahrhundert vermittelten Diskussionstradition, dar als »ein Zustand der Maximierung individueller Rechte«505 zu denen auch das »Recht auf gewisse Mittel zur Glückseligkeit«506 gehört. Der Naturzustand wird also ausgehend vom Individuum und nicht ausgehend von einem immer schon Eingebundensein in einen sozialen Zusammenhang gedacht. Entsprechend dieser Fokussierung auf den Einzelnen als Träger von Rechten geht Mendelssohn davon aus, dass schon im Naturzustand, eine Form des Eigentums existiert: Die Güter, auf die der Mensch ein ausschließendes Recht hat, sind 1) seine eigenen Fähigkeiten; 2) was er durch dieselben hervorbringet, oder dessen Fortkommen er befördert […]; 3) Güter der Natur, die er mit den Produkten seines Fleißes so verbunden, dass sie von denselben ohne Zerstörung nicht mehr getrennt werden können, die er sich also zu eigen gemacht. Hierin besteht also sein natürliches Eigentum, und diese Güter sind auch im Stande der Natur, bevor noch irgendein Vertrag unter den Menschen statt gefunden, von der ursprünglichen Gemeinschaft der Güter ausgeschlossen. Die Menschen besitzen nämlich ursprünglich nur diejenigen Güter gemeinschaftlich, die von der Natur, ohne eines Menschen Fleiß und Beförderung hervorgebracht werden. Nicht alles Eigentum ist blos conventionell.507
Eigentum entsteht dieser Theorie zufolge also sobald der Mensch anfängt, die Güter der Natur zu bearbeiten; seine Arbeit beinhaltet immer auch ein sich zu Eigen machen der Natur. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt darin, dass aus einer menschlichen Anlage – dem Wunsch, glücklich zu sein durch Vervollkommnung seiner selbst – eine Verpflichtung hergeleitet werden soll. Es ist problematisch, in diesem Fall von einer Pflicht zu sprechen, da es eher den Eindruck macht, als müsse der Mensch einfach nur seiner Neigung nachgehen, um in einem Schritt sich und zugleich 504 505 506 507
Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 36. Medick: Naturzustand, S. 36. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 37. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 32–33.
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anderen Gutes zu tun. Die Stärke von Mendelssohns Ansatz hingegen ist es, Gründe zu liefern, warum es anthropologisch gesehen nicht sinnvoll, ja sogar kontraproduktiv ist, wenn der Staat Zwang ausübt: Der Mensch fühlt seinen Werth, wenn er Mildthätigkeit ausübt; wenn er anschauend wahrnimmt, wie er durch seine Gabe die Noth seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er giebt, weil er will. Giebt er aber, weil er muß, so fühlt er nur seine Fesseln.508
Aufgabe des Staates soll es vielmehr sein, »durch die Erziehung selbst«509 den Menschen zu sozialem Handeln zu motivieren, also ihm »solche Sitten und Gesinnungen einzuflößen, die von selbst zu gemeinnützigen Handlungen führen.«510 Ausgehend von Mendelssohns These einer natürlichen Veranlagung zum Wohltun im Menschen, soll der Staat nichts anderes tun, als eben diese Veranlagung zu fördern, so dass der Mensch das, was er im Sinne der Gemeinschaft tun soll, freiwillig tut. Eine Regierung ist umso besser, je mehr sie dieses Kriterium der Freiwilligkeit im Auge behält: Gesetze verändern keine Gesinnung, willkürliche Strafen und Belohnungen erzeugen keine Grundsätze, veredeln keine Sitten. […] Erkenntniß, Vernunftgründe, Ueberzeugung, diese allein bringen Grundsätze hervor, die durch ansehen und Beyspiel, in Sitten übergehen können. Und hier ist es, wo die Religion dem Staat zur Hülfe kommen […] soll.511
Mendelssohn spricht der Religion einen pädagogischen Wert zu. Während der Staat Zwang und physische Gewalt anwenden kann, wirkt die Religion durch Belehrung, Liebe und Wohltun auf den Menschen. Ziel ist es, dass der Mensch Gutes tut, weil er es als das moralisch Richtige erkennt, nicht weil er Angst vor Bestrafung oder eine Hoffnung auf Belohnung damit verbindet.
4.2
Hamanns sprachphilosophische Kritik
Was hat Hamann nun an Mendelssohns Ansatz auszusetzen? Hamann beginnt mit einem sprachphilosophischen Argument: Ohne aus Staat, Religion und Gewissensfreyheit drey moralische Wesen oder Personen zu dichten, deren unmoralische Mishelligkeit und Fehde desto mehr befremden muß, wenn das Sittliche sich auf Gesetze bezieht, die sich nicht einander widersprechen können, sind Staat, Religion und Gewissensfreyheit zuförderst drey Wörter, die dem
508 509 510 511
Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 23. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 20. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 20–21. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 24.
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ersten Anblick nach alles oder vielmehr nichts sagen, und sich daher zu andern Wörtern verhalten, wie die Unbestimmtheit des Menschen zur Bestimmtheit der Thiere.512
Hamann meint, dass dasjenige, was Mendelssohn als die »verschiedene[n] Verhältnisse des geselligen Menschen«513 unterschieden hatte, keine kontextunabhängige Bedeutung ›an sich‹ besitzt. Staat, Religion und Gewissensfreiheit können zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Auch das philosophische Sprechen greift nicht unmittelbar auf außersprachlich bestehende Entitäten zu, sondern bedient sich Zeichen, mit denen Menschen zwar selbstverständlich ›etwas‹ meinen, aber eben nicht notwendigerweise dieselben Sachverhalte. Mendelssohn hingegen setzt Hamann zufolge voraus, dass Wörter in ein und derselben Weise von allen verstanden werden, weil das, worauf sie sich beziehen, unabhängig vom Zugriff menschlichen Redens und Erkennens existiere. Es wäre sicher, wie Hamann einlenkend bemerkt, möglich, mit Hilfe einer »Worterklärung«514 Klarheiten zu schaffen. Es bleibt aber ein Problem für den Anspruch eines naturrechtlichen Ansatzes bestehen, da dieser ja allgemeingültige Rechtsnormen liefern soll. Ausgehend von Hamanns relativistischem Argument wäre es nur möglich, rechtliche Normen für eine spezifische Form von Gesellschaft zu begründen, nicht aber solche, die immer und überall für das menschliche Zusammenleben schlechthin gelten sollen. Hamann radikalisiert damit einen Ansatz, der schon im Naturrechtsdenken des 17. Jahrhunderts präsent ist. Ging es, etwa bei Pufendorf, darum, Recht und Ethik »aus der empirisch erfahrbaren Realität individuellen menschlichen Verhaltens«515 herzuleiten, so betont Hamann, dass eben diese empirisch erfahrbare Realität zu verschieden und zu vielfältig ist, als dass man für sie aus einer begrenzten Perspektive allgemeingültige Normen finden könnte.
4.3
Macht und Recht
Hamann nimmt zudem Anstoß an der begrifflichen Nähe von Macht und Recht, die sich in Mendelssohns Theorie findet: »Sind Macht und Recht auch schon im Stande der Natur heterogene Begriffe: so scheinen Vermögen, Mittel und Güter mit dem Begriffe der Macht gar zu nahe verwandt zu seyn, dass sie nicht bald auf Einerley hinauslaufen sollten.«516 512 513 514 515 516
Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 61. Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 3. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 62. Medick: Naturzustand, S. 41. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 63.
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Mendelssohn hatte Recht folgendermaßen definiert: »die Befugnis (das sittliche Vermögen) sich eines Dinges als Mittels zu seiner Glückseligkeit zu bedienen, heißt ein Recht.«517 Recht ist demnach einerseits die Erlaubnis, etwas zu tun, andererseits aber auch die reale Möglichkeit dazu. Denn Voraussetzung für ein Recht ist es nach der Definition ja, überhaupt ein ›Ding‹ zu haben, das ich als Mittel einsetzen kann, um meine Glückseligkeit zu befördern. Der Begriff des Rechts rückt so in die Nähe von Macht und Besitz. Gewiss liegt zwar der Grund für Mendelssohns Rechtsverständnis darin, dass er der Glückseligkeit einen hohen Stellenwert zuspricht und das menschliche Streben danach mit dem Rechtsbegriff verknüpfen möchte, durch seine Definition erscheinen aber diejenigen, die nichts oder wenig haben, als rechtlos. Hamann geht aber noch einen Schritt weiter, indem er die Behauptung, es gäbe ein Recht auf Mittel zur Glückseligkeit, in Zweifel zieht: Am allerwenigsten begreife ich, wie aus den drey vorausgeschickten Erklärungen von Recht, Sittlichem und Gütern der Schluß folge, dass der Mensch also ein Recht auf gewisse Güter oder Mittel habe; wenn man sich nicht willkührlich im Sinn ein Recht auf Glückseeligkeit zueignet, dessen Allgemeinheit doch eben so wenig behauptet werden kann, als ein allgemeines Recht auf göttliche Gesetzgebung oder unmittelbare Offenbarung.518
Wenn Recht, wie oben zitiert, die Erlaubnis meint, einen Gegenstand zu gebrauchen, um damit seine Glückseligkeit zu befördern, dann heißt das noch nicht, dass ich auch zugleich ein Recht darauf habe, entsprechende Gegenstände auch zu besitzen. Man müsste dann schon so weit gehen und behaupten, der Mensch sei nicht allein dazu berechtigt, bloß nach Glückseligkeit zu streben, sondern er habe auch ein Recht auf einen positiven Erfolg seines Strebens, was wiederum absurd wäre, da ein Recht ja immer auch etwas ist, das sich einfordern lässt.
4.4
Probleme der Gleichberechtigungsthese
Zudem lässt sich bei der Annahme einer völligen Gleichberechtigung im Naturzustand nicht ausmachen, auf wessen Seite genau das Recht ist: Wenn Ich ein Recht habe, mich eines Dinges als Mittels zur Glückseeligkeit zu bedienen, so hat jeder Mensch im Stande der Natur ein gleiches Recht; gleichwie der Soldat, während des Krieges, die Befugnis hat, den Feind umzubringen, und der Feind ihn. Oder sind die Gesetze der Weisheit und Güte so mannigfaltig, als mein und jedes andern 517 Mendelssohn: Jerusalem, Teil 1, S. 29. 518 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 63–64.
130
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Ich? Oder gehört auch das metaphysische Gesetz königlicher Selbst-und Eigenliebe zum Recht der Natur? 519
Hamann erwägt ironisch zwei Alternativen, indem er zunächst fragt, ob es genauso viele verschiedene Gesetze der Weisheit und Güte wie menschliche Individuen gibt, was natürlich absurd wäre, da Gesetze ja gerade dazu da sind, für alle in gleicher Weise zu gelten und so eine Basis der Verbindlichkeit zwischen verschiedenen Individuen zu schaffen. Die andere Möglichkeit wäre, auch die Selbst- und Eigenliebe als zum Naturrecht gehörend anzusehen. Hamanns Formulierung scheint es mir auszuschließen, dass hier von der Selbstliebe als Ausgangspunkt für die Nächstenliebe die Rede ist520. »Selbst- und Eigenliebe« scheint viel eher, als Übersetzung des französischen Begriffspaars ›amour de soimême‹ und ›amour propre‹, die negativ bewertete Fixierung auf die eigenen Interessen, den Eigennutz zu bezeichnen. Wenn meine Rechte im Naturzustand vornehmlich darin bestehen, es mir zu erlauben, Dinge zur Beförderung meiner Glückseligkeit zu verwenden und es meinem Gutdünken überlassen ist, ob und wie viel ich anderen abgebe, so erscheint es als vollkommen legitim, wenn ich meinem Eigeninteresse Priorität zukommen lasse, ohne dabei auch das Wohl anderer zu bedenken. In diesem Fall allerdings wäre menschliches Zusammenleben überhaupt nur schwer möglich. Wenn die Eigenliebe, wie La Rochefoucauld schreibt, »plus habile que le plus habile homme du monde«521 ist, müssen ihr Grenzen gesetzt werden, damit Menschen miteinander leben können: Il serait inutile de dire combien la société est nécessaire aux hommes: tous la desirent et tous la cherchent, mais peu se servent des moyens de la rendre agréable et de la faire durer. Chacun veut trouver son plaisir et ses avantages aux dépens des autres; on se préfère toujours à ceux avec qui on se propose de vivre, et on leur fait presque toujours sentir cette preference; c’est ce qui trouble et qui détruit la société. Il faudrait du moins savoir cacher ce désir de preference, puisqu’il est trop naturel en nous pour nous en pouvoir défaire; il faudrait faire son plaisir et celui des autres, ménager leur amourpropre et ne blesser jamais.522 Es wäre nutzlos zu sagen, wie sehr die Gesellschaft für die Menschen notwendig ist: alle begehren, alle suchen sie, aber wenige bedienen sich der Mittel, um sie angenehm und dauerhaft zu machen. Ein jeder möchte seine Freude und seine Vorteile auf Kosten der anderen finden; man zieht sich selbst immer denjenigen vor, mit denen man sich vorgenommen hat zu leben, und man lässt sie fast immer diesen Vorzug fühlen; das ist es, was die Gesellschaft durcheinander bringt und zerstört. Man sollte es zumindest verstehen, diesen Wunsch des Vorzugs zu verbergen, weil er uns allzu natürlich ist, als
519 520 521 522
Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 66. Vgl. den Kommentar in: Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 66, Anm. 19. La Rochefoucauld: Maximes, S. 44 [geschickter als der geschickteste Mensch der Welt]. La Rochefoucauld: Maximes, S. 163, Hervorhebung A.K..
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dass wir ihn loswerden könnten; man sollte sich selbst und anderen Freude bereiten, ihre Eigenliebe mäßigen und niemals verletzen.
Das menschliche Grundbedürfnis nach Gesellschaft macht es notwendig, vorsichtig mit der psychologischen Tatsache der Eigenliebe umzugehen, indem man bei seinen Handlungen berücksichtigt, dass auch jeder andere vor allem seinen eigenen Vorteil sucht, aber nicht das Gefühl haben möchte, dass man selbst dies auch tut. Jeder muss sich zu einem gewissen Grad verstellen, damit die Gesellschaft auch Bestand hat. Das Besondere an Hamanns Position ist es, einen Zustand, in dem jeder gemäß seiner Eigenliebe handelt und sich gar die Befugnis anmaßt, über rechtliche Streitfragen zu entscheiden, nicht als Naturzustand zu verstehen. Wenn »jeder sein unphilosophisches Ich zum Königlichen Schiedsrichter der Collisionsfälle aufrichten will«, ist »weder ein Stand der Natur noch der Gesellschaft möglich.«523 Das, was Hobbes Konsequenz des Naturzustandes, nämlich als Krieg aller gegen alle beschreibt, wäre für Hamann nicht ›Natur‹, sondern ›Unnatur‹, weil es eine Entfernung von oder besser gesagt eine Umkehrung dessen bedeutet, was Menschsein ausmacht. Das ›Gesetz der Selbst-und Eigenliebe‹ mag zwar eine psychologisch bedingte Notwendigkeit beschreiben,524 nämlich diejenige, dass Menschen zuallererst an sich denken; darum gehört es aber nicht zum Naturrecht, ist keine Norm, an die man sich halten soll. Andererseits ist Hamanns Einwand an dieser Stelle aus zwei Gründen nicht ganz verständlich. Zum einen hatte er ja in den Brocken die Selbstliebe als Voraussetzung der Nächstenliebe beschrieben. In diesem Sinn würde sie durchaus zum Naturrecht gehören, nämlich als eine psychologische Grundforderung, derzufolge ich andere nur dann lieben kann, wenn ich zuvor schon mich selbst liebe, d. h. annehme.
523 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 84. 524 So jedenfalls sieht La Rochefoucauld die Eigenliebe, nämlich als Teil der psychischen Grundkonstitution des Menschen, die allen altruistischen Motiven zum Trotz ein Eigenleben führt, so dass niemand sich ihr entziehen kann. Vgl. La Rochefoucauld: Maximes, S. 131: »Il [. l’amour-prôpre.] est dans tous les états de la vie, et dans toutes les conditions; il vit partout, et il vit de tout, il viet de rien; il s’accomode des choses, et de leur privation; il passe même dans le partie des gens qui lui font la guerre, il entre dans leurs desseins; et ce qui est admirable, il se hait lui-même avec eux, il conjure sa perte, il travaille meme à sa ruine. Enfin il ne se soucie que d’être, et pourvu qu’il soit, il veut bien être son ennemi.« [Sie (die Eigenliebe) ist in allen Lebenslagen, und in allen Ständen; sie lebt überall, und sie lebt von allem, sie lebt von nichts; sie passt sich den Dingen an, und ihrer Entbehrung; sie geht sogar zu der Partei der Leute über, die sie bekriegen, sie dringt in ihre Absichten ein; und was bewundernswert ist, sie hasst sich selbst mit ihnen, sie schwört ihren Untergang, sie arbeitet sogar ihrem Ruin zu. Schließlich ist sie nur darauf bedacht zu sein, und vorausgesetzt, dass sie ist, will sie durchaus ihr eigener Feind sein; (Übers. A.K.)].
132
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Zum anderen wirkt Hamanns Polemik im Kontext seines Denkens inkonsistent, wenn man bedenkt, dass er in den Philologischen Einfällen davon spricht, dass »jeder sein eigener Gesetzgeber« ist. Zu einer möglichen Erklärung kann man gelangen, wenn man einen weiteren Einwand Hamanns gegen Mendelssohn betrachtet. Hamann fragt, ob »nicht die Freyheit […] ein Schlachtopfer sittlicher Nothwendigkeit und des schrecklichen Muß nach den Gesetzen der Weisheit und Güte [wird], in denen also auch schon ein Zwangsrecht liegt.«525 Wie ist das zu verstehen, wenn man sich den Bereich des Moralischen nicht als vollkommen gesetzlos denken soll, als einen Bereich, in dem alle Entscheidungen der Willkür des Einzelnen überlassen sind? Wichtig für Hamann ist dabei die Frage nach der Konstituierung oder genauer gesagt nach dem konstituierenden Grund, dem Ursprung von Gesetzen. Deshalb hatte er zuvor schon gefragt: »Wo kommen aber die Gesetze der Weisheit und Güte her?«526 Meine These ist, dass Hamann unter ›Gesetz‹ nicht etwas verstehen möchte, dass immer schon gesetzt ist und eben durch dieses zeitlose Gesetztsein jeden zwingt, sondern er denkt ›Gesetz‹ ausgehend von einem Gesetzgeber, also auf eine personale und subjektbezogene Art und Weise. Um dies zu veranschaulichen, ist es sinnvoll, nochmals die oben bereits besprochene Passage aus den Philologischen Einfällen zu betrachten: Ohne die Freiheit böse zu seyn findet kein Verdienst und ohne die Freiheit gut zu seyn keine Zurechnung einiger Schuld, ja selbst keine Erkenntniß des Guten und Bösen statt. Die Freiheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr. Daher bestimmen weder Instinct noch Sensus communis den Menschen; weder Natur= noch Völkerrecht den Fürsten. Jeder ist sein eigener Gesetzgeber, aber zugleich der Erstgeborne und Nächste seiner Unterthanen.527
Gäbe es keine grundsätzliche und unhintergehbare Freiheit, das eine oder das andere, das Gute oder Böse zu tun, so wäre der Mensch kein sich selbst bestimmendes Wesen. Mit der ihm als Gnadengeschenk zukommenden Freiheit erwirbt er im selben Moment Rechte und Pflichten, das Recht, sich selbst aufgrund eigenen Wollens Gesetze zu geben und die Pflicht, sich anderen gegenüber gemäß des Gebotes der Nächstenliebe zu verhalten. Zwei Formulierungen machen deutlich, wie ernst es Hamann mit seiner individualistischen Deutung der Freiheit ist. In der Ablehnung von vermittelnden Instanzen wie Sensus communis einerseits und Natur- und Völkerrecht andererseits zeigt sich, dass Hamann Verpflichtung als etwas vom Einzelnen selbst Angenommenes verstehen 525 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 67. 526 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 63. 527 N III, S. 38.
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möchte. Nicht aufgrund einer allen Menschen gemeinsamen »Appellinstanz beim Urteilen,«528 welche gemeinsame Meinungen repräsentiert und vermittelt, wird der Einzelne zum Wollen von etwas Gutem bewegt, sondern erst aufgrund seines eigenen freien Wollens.
4.5
Gesetz
Dadurch wird der Gesetzesbegriff verändert: Hamann denkt ein ›Gesetz‹ zuallererst unter subjektivem Aspekt, nicht von seinem Gesetztsein, sondern genau umgekehrt von seinem Gesetztwerden ausgehend. Ein ›Gesetz‹ kann dann und nur dann sein, wenn es ein Subjekt gibt, welches es setzen will und das dann auch tut. Es gibt also kein Gesetz unabhängig von der vorgängigen und unabdingbaren Handlung der Einsetzung. Um die anthropologische Implikation in Hamanns Vorstellung von ›Gesetz‹ und ›Verpflichtung‹ noch deutlicher zu sehen, bietet es sich an, sein Verständnis mit demjenigen Kants zu kontrastieren, für den Zwang ein notwendiges Begriffsmerkmal von ›Pflicht‹ ist: Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein. Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, dass sie die Lust wohl anwandeln kann, das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen, doch zu übertreten und, selbst wenn sie es befolgen, es dennoch ungern (mit Widerstand ihrer Neigung) zu tun, als worin der Zwang eigentlich besteht. – Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, denn dadurch allein wird es möglich, jene Nötigung (selbst wenn sie eine äußere wäre) mit der Freiheit der Willkür zu vereinigen, wobei alsdann der Pflichtbegriff ein ethischer sein wird. Die Antriebe der Natur enthalten also Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen und (zum Teil mächtig) widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die Vernunft nicht erst künftig, sondern gleich jetzt (zugleich mit dem Gedanken) zu besiegen er sich vermögend urteilen muß: nämlich das zu können, was das Gesetz unbedingt befiehlt, das er tun soll.529
528 Astrid von der Lühe: Art. »Sensus Communis. III. Neuzeit.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel 1995, Sp.639–661, hier Sp. 639. 529 Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 379–380.
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Kant sichert die Freiheit des Menschen, indem er zwischen einer dem moralischen Sollen entgegenstehenden Natur und der Vernunft des Menschen unterscheidet, wobei die Befolgung dessen, was die Vernunft gebietet, als Freiheit im ›eigentlichen‹ Sinn angesehen wird. Hamann insistiert demgegenüber auf einer ursprünglichen Freiheit, die es dem Menschen erlaubt, Bindungen einzugehen. Oswald Bayer hat dies treffend formuliert: »Der Selbstverpflichtung auf ein anderes hin liegt prinzipiell die Selbstbestimmung voraus; sie macht jene erst möglich.«530 Einem subjektbezogenem Gesetzesbegriff entspricht es auch, dass Hamann fragt, woher denn eigentlich die Gesetze der Weisheit und Güte bei Mendelssohn kommen und so eine Erklärung ihres Ursprungs einfordert: Diese Gesetze nun, von welchen unser sittliches Vermögen und Unvermögen abhängt, werden als weltkundig und dem ganzen menschlichen Geschlecht offenbart, vorausgesetzt; oder besteht ihre Vollkommenheit, weil sie sich vermuthlich auf innere Gesinnungen beziehen, eben darinn, dass sie nicht nöthig haben geäussert zu werden, und man daher auch keinen speculativen Leser äusserlich davon Rechenschaft geben darf ? 531
Hamanns Formulierung ist in mehrfacher Hinsicht ironisch. Indem er die Gesetze als ›weltkundig‹ bezeichnet, spielt er auf die zeitgenössische Charakterisierung der Philosophie als Weltweisheit an. Impliziert wird so, dass jemand, der sich ›weltkundig‹ nennt, auch um diese Gesetze wissen muss. Ihre Existenz und ihr Inhalt gehören einfach mit zum Weltwissen dazu. Sind die Gesetze hingegen allen Menschen ›offenbart‹, handelt es sich um eine religiöse Mitteilung, also das Gegenteil eines philosophischen Erkenntniszugriffs. Wenn Hamann im nächsten Satz ironisch erwägt, dass die Gesetze eventuell es nicht nötig haben, geäußert zu werden, erklärt er die Mitteilung – welcher Art sie auch sein mag, als Offenbarung oder als Einsetzung – zu einem Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Gesetzen und die Erklärung zu einer Pflicht des Philosophen, der über die Gesetze sich zu äußern beabsichtigt. Der Sache nach wäre es natürlich auch möglich, die Mitteilung tatsächlich für unnötig zu halten, wenn man nämlich annimmt, das Wissen um die Gesetze gründe sich darauf, dass sie auf psychischer Ebene, gleichsam apriorisch, allen Menschen immer schon präsent seien und es so lediglich einer Vergegenwärtigung bedürfe. Wenn für Hamann bei der Konstituierung von Gesetzen der Aspekt der freien Anerkennung eine zentrale Rolle spielt, wird es verständlich, warum er Mendelssohn für eine Beschneidung der Freiheit kritisiert: »Ist es aber Weisheit und Güte, unser – ich weiß nicht: ob vollkommenes oder unvollkommenes? – Recht 530 Bayer: Zeitgenosse, S. 198. 531 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 67–68.
Hamanns Auseinandersetzung mit Mendelssohns Jerusalem
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auf Mittel der Glückseeligkeit, und das schmahle Vermögen unserer Habseeligkeit noch durch Gesetze zu beschneiden und zu verstümmeln?«532 Hamann meint hier wohl, dass abstrakte, unpersönliche Gesetze, über deren Herkunft – und damit auch über ihren Geltungsgrund – es unmöglich ist, etwas zu wissen, das für den Menschen Erstrebenswerte und ihm Gehörige kaputt machen, so als ob die Glieder seines Körpers funktionsbeinträchtigt wären. Dennoch verwundert sein Argument, weil er Mendelssohn mehrfach dafür kritisiert, den Menschen im Naturzustand zu einseitig als einen Inhaber von Rechten zu beschreiben und dabei die Begrenzung des Eigeninteresses durch Verpflichtungen zu wenig in seiner Theorie zu berücksichtigen.533
4.6
Gerechtigkeit
Eine nähere Erklärung bedarf auch Hamanns Kritik an Mendelssohns Begriff der Gerechtigkeit: Ist es Weisheit und Güte, einem jeden das Seinige zu geben und zu lassen? Freylich in dem einzigen Fall, wo es kein ander Recht zum Eigentum giebt, als die Weisheit und Güte des Gebers. Dieser Fall aber ist nur der einzige in seiner Art. Wie schickt sich nun ein Geschlechtswort für ein einzelnes Ding, das sich mit nichts schichtet, und mit nichts unter eine Rubricke zu bringen ist? 534
Warum meint Hamann, das Prinzip des suum cuique sei nur für einen Fall gültig? Meint er, nur der ›Geber‹, eventuell Gott,535 sei in der Lage dazu, gerechte Eigentumsverhältnisse zu konstituieren? Kommt also vielleicht nur Gott die Entscheidung zu, was denn für wen ›das Seinige‹ ist? Soll man ihn so verstehen, dass ein Gut, welches ich nicht von einem ›Geber‹ – mag damit nun Gott gemeint sein oder nicht – empfangen, sondern auf andere Art und Weise erworben habe, mit gleichem Recht auch anderen gehören könnte? Eine mögliche Erklärung wäre, die zitierte Passage zu lesen als Kritik an einem Verständnis von Gerechtigkeit, das im Grunde dazu dienen soll, dem Interesse des Menschen am Besitz eine ethisch-rechtliche Fundierung zu geben. Eine ähnliche, psychologisch formulierte, Kritik des Gerechtigkeitsbegriffs des ›suum cuique‹ findet sich bereits bei La Rochefoucauld in den Maximes supprimées seiner Reflexions ou Sentences et Maximes Morales. Dort heißt es über die Gerechtigkeit:
532 533 534 535
Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 67. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 66, 73, 79. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 71. Vgl. den Kommentar in Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 71.
136
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
La justice n’est qu’une vive appréhension qu’on ne nous ôte ce qui nous appartient; de là vient cette considération et ce respect pour tous les intérêts du prochain, et cette scrupuleuse application à ne lui faire aucun préjudice; cette craint retient l’homme dans les bornes des biens que la naissance, ou la fortune, lui ont donnés, et sans cette crainte il ferait des courses continuelles sur les autres.536 Die Gerechtigkeit ist bloß ein lebendiges Bewusstsein, dass man uns nehmen könnte, was uns gehört; daher kommt diese Rücksicht und dieser Respekt für alle Interessen des Nächsten, und dieser gewissenhafte Eifer, ihm keinen Schaden zuzufügen; diese Furcht hält den Menschen in den Schranken der Güter, welche die Geburt oder das Glück ihnen gegeben haben, und ohne diese Furcht würde er ständig Übergriffe auf die anderen machen.
Jedem das Seine zu lassen ist demnach nicht an sich gerecht, sondern eine Regelung, die aus der allgemeinen Verlustangst der Menschen um ihren Besitz entsteht und wäre so eher als ›praktisch sinnvoll‹ denn als ›gerecht‹ zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund könnte man Hamann so verstehen, dass es zwar in vielen Fällen sinnvoll und richtig sein mag, jedem das Seine zu lassen, dass dies aber nur dann als ›gerecht‹ bzw. als ›weise und gut‹ gelten kann, wenn der Geber selbst weise und gut ist, also einem Anderen etwas aus einer wohlwollenden Haltung heraus gibt oder lässt und nicht etwa, weil er fürchtet, selbst etwas verlieren zu können. Hamann schließt seine Kritik an Mendelssohn, indem er auf die immanente Problematik einer Begrifflichkeit verweist, die innerhalb des modernen Naturrechtsdenkens entwickelt wurde, nämlich der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Rechten bzw. Pflichten537: Bey vollkommenen Rechten tritt an die Stelle des sittlichen Vermögens physische Gewalt, und bey vollkommenen Pflichten die physische Nothwendigkeit mit Gewalt erpreßter Handlungen. Mit einer solchen Vollkommenheit bekommt das ganze speculative Recht der Natur einen Riß, und läuft in das höchste Unrecht über – bis an das Ende des, der aufhört.538
Hamann insistiert hier auf der Verschiedenheit von Naturrecht und positivem Recht, indem er ersteres in die Nähe der Ethik rückt. Das Naturrecht beinhaltet zwar Verbindlichkeiten, aber es geht dabei nicht um Handlungen, die mit Hilfe von Zwang eingefordert werden könnten.
536 La Rochefoucauld: Maximes, S. 134. 537 Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim u. a. 1971, S. 64. 538 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 76.
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie
5.
137
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie
Hamann liefert einen Theorieentwurf, der die Verhältnisse von Natur und Gesellschaft, Recht und Pflicht neu bedenkt. Interessant ist daran vor allem die Begrifflichkeit und das zusammengeführte Gedankengut: »Giebt es aber einen gesellschaftlichen Contract: so giebt es auch einen natürlichen, der ächter und älter seyn, und auf dessen Bedingungen der gesellschaftliche beruhen muß.«539 Aus der Hypothese vom Sozialvertrag als konstituierendem Moment der nach festen Regeln geordneten Gesellschaft folgt nicht selbstverständlich, dass es auch einen vorgängigen natürlichen Vertrag geben müsse, ist doch der Gesellschaftsvertrag im Naturrechtsdiskurs gerade ein Mittel, um einen als zum Teil anarchisch gedachten Zustand zu beenden. Es fragt sich daher, was Hamanns analoge Begriffskonstruktion leistet. Was folgt aus Hamanns neuer Begrifflichkeit für sein Verständnis von Naturrecht? Welche neuen Aspekte fügt die aus dem Naturrechtsdiskurs entnommene Begrifflichkeit einem christlichen Denkansatz hinzu?
5.1
Natur und Naturvertrag
Zunächst stellt Hamann das naturrechtliche Verständnis von ›Natur‹ auf eine andere Basis. Der Begriff hat auch bei Hamann die Bedeutung einer unbedingt verbindlichen Norm und Ordnung, die als Leitlinie für alle weiteren Ordnungen fungieren soll: Anders als im Naturrechtsdiskurs geht es aber nicht um eine methodisch begründete Fiktion540, sondern um ein Ereignis, das geschichtlich verortet und an eine Überlieferung gebunden ist, weil ›Natur‹ für Hamann »nicht nur die Sphäre des Möglichen und Notwendigen, sondern vor allem die Sphäre des Wirklichen«541 ist. Wichtig ist die Schlussfolgerung, die er aus seiner These vom Naturvertrag zieht: Dadurch wird nun alles natürliche Eigentum wiederum conventionell, und der Mensch im Stande der Natur von ihren Gesetzen abhängig, d.i. positiv verpflichtet eben denselben Gesetzen gemäß zu handeln, denen die ganze Natur und vornemlich des Menschen seine, die Erhaltung des Daseyns, und den Gebrauch aller dazu gehörigen Mittel und Güter zu verdanken hat.542
539 540 541 542
Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 77. Medick: Naturzustand, S. 43. Bayer: Zeitgenosse, S. 198. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 77–78.
138
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Hamann lehnt die Theorie des natürlichen Eigentums ab und scheint sich damit grundsätzlich gegen die Annahme zu wenden, man könne aus dem bloßen Wesen des Menschen bestimmte Rechte herleiten. Wenn es dann noch ein Naturrecht gibt, ist es, wie Arno Krieg es formuliert hat, »nicht mehr das Recht, das dem Menschen von Natur aus zukommt und auch nicht das Recht, das sich der Mensch über die Natur anmaßt, sondern das Recht, das die Natur dem Menschen vorgibt.«543 ›Natur‹ ist keine im Inneren des Menschen zu suchende Größe, sondern etwas, das ihm übergeordnet ist und ihm sein Sollen vorschreibt. Es lohnt sich, noch einen genaueren Blick auf Hamanns Formulierungen zu werfen. Was für Gesetze sind es, denen sich der Mensch für die ›Erhaltung seines Daseins‹ verpflichtet fühlen muss? Traditionell ist die Fähigkeit, die Natur einschließlich des Menschen zu erhalten etwas, das Gott als dem allmächtigen Schöpfer zugeschrieben wird, der theoretisch auch die Macht dazu hätte, alles Geschaffene zu vernichten. So heißt es bei Leibniz: »Or il est premierement tres manifeste que les substances créées dependent de Dieu qui les conserve et même qui les produit continuellement par une maniere d’emanation comme nous produisons nos pensées.«544 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch es nicht von sich allein vermag, seine Existenz zu erhalten, sondern auf die Macht Gottes angewiesen ist, die ihn erhält, sei es nun mittels einer direkten Mitwirkung oder sei es auf indirektem Wege durch entsprechende Gesetze. Da Hamann hier aber von ›Natur‹ und nicht von Gott spricht, geht es um einen anderen Zusammenhang.545 Seine These von der Verpflichtung des Menschen gegenüber der Natur steht dem stoischen ›oikeiosis‹-Gedanken sehr nah. Bei der ›oikeiosis‹ geht es um »ein unmittelbares praktisches Selbstverhältnis, ein Verhältnis der Selbstsorge, welches auf das Ziel der Existenzerhaltung gerichtet sein soll.«546 Der Mensch muss sich selbst als ein Lebewesen, welches Teil der Natur (ordnung) ist, kennenlernen und annehmen. Um sich zu erhalten, muss er seinen von Cicero ›principia naturalia‹ genannten Impulsen547 folgen und in diesem Sinne ›gemäß der Natur‹ leben. Da Hamann in einer späteren Passage von Golgotha und Scheblimini aus Ciceros De officiis zitiert, um seine Vorstellung von 543 Arno Krieg: Der Ursprung der Verlässlichkeit in der Kontroverse zwischen Hamann und Mendelssohn. In: Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit«. Hg. von Oswald Bayer. Tübingen 1998, S. 106–134, hier S. 118. 544 Leibniz: Discours de Métaphysique, S. 46 (Hervorhebung A.K.). [Aber es ist zuallererst sehr deutlich, dass die geschaffenen Substanzen von Gott abhängen, der sie erhält und der sie sogar kontinuierlich hervorbringt durch eine Art Emanation, so wie wir unsere Gedanken hervorbringen]. 545 Es ergibt keinen Sinn, den Naturvertrag mit Lothar Schreiner als den Bund Gottes mit den biblischen Vätern zu verstehen. Vgl. den Kommentar in: Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 77, Anm. 1 sowie S. 78. 546 Christoph Horn: Art. »Zueignung (Oikeiosis)«, Sp. 1403–1408, hier Sp. 1403. 547 Horn: Zueignung, Sp. 1403.
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie
139
Gesellschaft zu erläutern, erscheint dieser Text auch hier als aufschlussreiche Quelle. Ciceros Vorstellung von Naturgesetz beinhaltet nicht nur ein basales Erhaltungsstreben des Menschen als Individuum und als Gattungswesen,548 sondern auch ein Absehen davon, andere zu verletzen: Und auch, wenn die Natur dies vorschreibt, dass der Mensch will, es sei für den Mitmenschen – wer er auch immer sei, nur aus dem Grunde, weil er ein Mensch ist – gesorgt, so ist es notwendig gemäß derselben Natur, dass der Nutzen aller Gemeininteresse sei. Wenn dem so ist, dann stehen wir alle unter ein und demselben Gesetz der Natur (una continemur ommnes et eadem lege naturae), und wenn ebendies so ist, dann werden wir sicherlich durch das Gesetz der Natur gehindert, den Nächsten zu verletzen (certe violare alterum naturae lege prohibemur).549
Man muss hier den Bedeutungsumfang von ›continemur‹ beachten: Durch das Naturgesetz werden die Menschen untereinander ›verbunden‹, und so als einzelne Wesen und als Gesellschaftswesen ›erhalten‹, nicht zuletzt, indem mögliche egoistische und aggressive Neigungen ›gezügelt‹ werden. Ciceros Vermittlung von Eigeninteresse und Sozialität entspricht Hamanns Vorstellung einer wechselseitigen Implikation von Selbst- und Nächstenliebe. Mit Cicero kann er diese mit dem Naturbegriff verbinden und so ein Konzept von Naturzustand formulieren, in dem Eigen- und Fremdinteresse einander nicht entgegenstehen, sondern sich bedingen. Hamann findet einen der Frage nach bestimmten, dem Menschen zukommenden Rechten logisch noch vorgängigen Verpflichtungsgrund, indem er das bloße Dasein des Menschen als ein abhängiges Dasein beschreibt. Der Mensch erscheint in dieser Perspektive als ein Wesen, das nicht vornehmlich etwas hat – Rechte, Güter oder sogar sein Dasein – sondern als ein Wesen, dem etwas gegeben ist und so ursprünglich in einer Schuld steht. Dieses ursprüngliche verpflichtet Sein des Menschen ergibt sich daraus, dass er – denkt man Hamanns These weiter – streng genommen nie allein einer völlig ungeordneten Natur gegenübersteht, sondern sich immer schon in einem für ihn geordneten Zustand befindet. Hamann würde also die Position Grotius’, der »Menschsein als ein ImRecht-Sein« und das Naturrecht als »die Verfasstheit dieses Menschentums«550 gedacht hatte, ablehnen.
548 Marcus Tullius Cicero: De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Übers., kommentiert u. hg. von Heinz Gunermann. Durchgesehene u. erweiterte Ausgabe. Stuttgart 2003, S. 12–15. 549 Cicero: De officiis, S. 242–243. 550 Schneider: Justitia Universalis, S. 123.
140 5.2
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Natur als Verpflichtungsgrund
Der Umgang des Menschen mit den Dingen muss sich in einem gesetzlich abgesteckten Rahmen bewegen: Nicht ihm selbst, nicht ihm allein, sondern jenen Gesetzen der Weisheit und Güte, die uns in dem unermeßlichen Reiche der Natur vorleuchten, ist das sittliche Vermögen untergeordnet, sich der Dinge als Mittel zu bedienen, und alle Bedingungen, unter welchem das Prädicat der Glückseeligkeit dem Subject eines Pflichtträgers zukommt, sind ihm als solchen, und nicht als Rechthabenden, durch das Recht der Natur und das Gesetz ihrer Gerechtigkeit und seiner eigenen Vernunft gegeben.551
Welche Gesetze sind es, von denen Hamann hier spricht? Meines Erachtens liefert der Text keine notwendigen Hinweise darauf, sie mit den Geboten des Dekalogs zu identifizieren.552 Die zehn Gebote stellen Regeln für das Verhältnis zwischen Mensch und Gott und zwischen den Menschen untereinander auf. Wenn Hamann hingegen den Menschen »als Pflichtträger der Natur«553 bezeichnet, so geht es ihm um einen größeren Zusammenhang, nämlich um ethische Normen, die den Umgang des Menschen mit der Schöpfung betreffen und es ihm verbieten, »seiner usurpierenden Gewaltthätigkeit über die seiner Eitelkeit unterworfene Creatur wider ihren Willen«554 freien Lauf zu lassen. Oswald Bayer hat im Bezug auf diese Passage treffend davon gesprochen, dass Hamann »in eine Weite der Verantwortung [führt], die wohl keiner seiner Zeitgenossen wahrgenommen hat.«555 Wenn Hamann dem Menschen vorwirft, andere Geschöpfe »wider ihren Willen« zu unterwerfen, macht er deutlich, dass Rechte nicht allein dem Menschen zukommen, sondern jedes andere Geschöpf ebenfalls Rechte hat und nicht einfach als Ding oder Mittel zum Zweck angesehen werden darf.556 Diese Perspektive eines »Naturrecht[s] auch der nichtmenschlichen Mitgeschöpfe«557 ist in den zehn Geboten nicht angesprochen. Hamann denkt offenbar den stoischen ›oikeiosis‹-Gedanken weiter: In der Stoa beinhaltet die Selbstannahme des Menschen, der sich im Verlauf seiner Entwicklung als Teil der Natur und als vernunftbegabtes Wesen kennengelernt hat, auch »eine vernünftige Akzeptanz aller anderen Menschen.«558 Hamann geht nun einen Schritt weiter: Der Mensch soll nicht nur Seinesgleichen, sondern auch alle anderen Lebewesen anerkennen und entsprechend behandeln. 551 552 553 554 555 556 557 558
Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 79–80. Vgl. den Kommentar in: Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 79, Anm. 9. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 78. Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 78. Bayer: Zeitgenosse, S. 202. Zur Bedeutung des Pauluszitats vgl.: Bayer: Zeitgenosse, S. 203. Bayer: Zeitgenosse, S. 202. Horn: Zueignung, Sp. 1403.
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie
141
Dass Hamann, wie Bayer betont, eine neue Perspektive menschlicher Verantwortung eröffnet, lässt sich durch einen Vergleich mit Passagen aus Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768) belegen. Jerusalem (1709–1789) ist ein wichtiger Vertreter der Neologie in der Theologie der Aufklärung. Seine Betrachtungen, die in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erscheinen, wenden sich an Laien mit dem Ziel der »Aufklärung von Individuen über das, was sie glauben und hoffen dürfen.«559 Sowohl gegen Atheisten als auch Dogmatiker gerichtet, liegt der Schrift das Interesse zugrunde »aufzuzeigen, wie Religion in aller ›Simplicität‹ jenseits von Fanatismus und Gottlosigkeit gelebt werden kann.«560 Jerusalem und Hamann verbindet so eine gemeinsame Grundhaltung, nämlich die Wertschätzung des Laientums und die Überzeugung, dass alle Menschen von Natur aus ein Empfinden einfacher religiöser Wahrheiten haben. Jerusalem wirft der Theologie vor, »die Menschen den einfachen Religionswahrheiten zu entfremden.«561 Hamann bekennt freimütig, selbst kein Theologe, sondern Laie zu sein. An Herder schreibt er: »Ich bin weder Prediger noch θεοδοξος [Gottesgelehrter] von Profession, sondern sokratisch.«562 Auch Jerusalem meint, der Mensch solle nicht nur für seine eigene Glückseligkeit Sorge tragen, bezieht die weitere Verpflichtung aber nicht auf die ganze geschaffene Natur, sondern nur auf andere vernunftbegabte Wesen: Die übrige Natur ist so vollkommen, wie sie werden kann; an unseren vernünftigen Mitgeschöpfen können wir diese Liebe allein beweisen; seien sie also wohltätig wie Gott, mit der Weisheit wohltätig wie Er, so sind sie vollkommen, wie Gott vollkommen ist. Diese weise Wohltätigkeit ist das große Gesetz des Himmels und das einzige Gesetz hier auf der Erde.563
Jerusalem hatte zuvor davon gesprochen, dass aus der Betrachtung der göttlichen Vollkommenheit eine Liebe zum Guten hervorgehe. Diese Liebe bezieht er aber nicht, wie Hamann es tun würde, auf eine Pflicht, sorgsam mit allen Geschöpfen umzugehen. Es macht eher den Eindruck, die nicht mit Vernunft begabte Natur sei lediglich dazu da, dem Menschen seine hervorgehobene Stellung im Kosmos zu veranschaulichen:
559 Andreas Urs Sommer: Neologische Geschichtsphilosophie. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. In: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 9 (2002), S. 169–217, hier S. 180. 560 Sommer: Neologische Geschichtsphilosophie, S. 181. 561 Sommer: Neologische Geschichtsphilosophie, S. 180. 562 ZH III, S. 19. 563 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem: Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion. In: Klassiker des Protestantismus. Bd. VII: Das Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Wolfgang Philipp. Bremen 1963, S. 149.
142
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Aber der Mittelpunkt all dieser Vollkommenheit ist der Mensch. Denn der Mensch hat allein die ausgebreitete glückliche Fähigkeit, daß er sie erkennen, daß er sie ganz empfinden und zur Vermehrung seiner Glückseligkeit ganz brauchen kann. […] In seiner Vernunft trägt er das erhabene Bild seines Schöpfers selbst. Er soll ein Gott hier auf der Erde sein; er soll alles zu seiner Glückseligkeit beherrschen, aber er soll auch alles zur allgemeinen Glückseligkeit seiner vernünftigen Mitgeschöpfe anwenden; er hat die Fähigkeit, er hat in jedem Zustand das Vermögen hierzu; dies ist also sein großer Beruf, und wenn er diesen Erfüllt, so trägt er das Bild seines Schöpfers würdig.564
Da die anderen vernünftigen Wesen, von denen Jerusalem spricht, lediglich eine Hypothese der Vernunft sind, die sich zwischen Mensch und Gott eben noch weitere Grade der Vollkommenheit denken kann,565 ist die Pflicht, auch anderen Wesen wohlzutun, letztlich doch wieder nur eine zwischenmenschliche, die das Herrschaftsverhältnis, das dem Menschen hier zugesprochen wird, in keiner Weise relativiert. Alles, was nicht über Erkenntnisfähigkeit und Vernunft verfügt, ist in dieser Perspektive nur ein Mittel, ein bloßer Gegenstand. Jerusalem steigert die Vorstellung vom Menschen als Mittelpunkt des Kosmos dahingehend, dass erst der Mensch durch sein Erkennen die Ordnung der Natur konstituiert. Grundlage ist eine idealistische Perspektive, der zufolge die Ordnung des Seins kein Fundament auf der Ebene der Dinge besitzt, sondern erst durch den Zugriff des Bewusstseins entsteht: Ohne mich ist die ganze Natur tot, alle ihre Ordnung nichts besser als ein Chaos. Der Weinstock genießt sich selbst nicht; dem Seidenwurm ist sein Gewebe nichts als ein Grab; ohne mich liegt der Diamant ohne Wert unter den Kieseln. In mir vereinigt sich alles; durch mich wird alles Vernunft, alles Harmonie, alles erst wahre Schönheit.566
Hamann weist demgegenüber darauf hin, die Natur als solche verdiene Respekt und zwar unabhängig vom menschlichen Erkenntnis- und Handlungszugriff. Die Natur ist nicht erst dann schätzenswert, wenn es ein Bewusstsein gibt, welches in seinen Handlungen auch ein Selbstverhältnis herstellt, sich selbst genießt, wie Jerusalem es formuliert. Hamann vertritt eine realistische philosophische Haltung: Die Schöpfung hat einen immanenten Wert, welcher also nicht erst ein menschliches Bewusstsein benötigt. Er geht aber noch einen Schritt weiter und knüpft die Glückseligkeit an Bedingungen. Seine Formulierung lässt zwei Deutungen zu: In der ersten bestimmt das Recht der Natur, unter welchen Voraussetzungen ein Subjekt sich glückselig 564 Jerusalem: Betrachtungen, S. 149. 565 Vgl. Jerusalem: Betrachtungen, S. 145: »Da die Vernunft Gründe genug hat, noch unzählige höhere Klassen von vernünftigen Geschöpfen anzunehmen, die die Schrift unter dem allgemeinen Namen von Engeln zusammenfasst […] so können wir auch nicht bestimmen, was Gott diesen höheren und vollkommenen Wesen für Grade an Kräften hat anerschaffen können und wo überhaupt die mögliche Kraft aller endlichen Wesen aufhört.« 566 Jerusalem: Betrachtungen, S. 144.
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie
143
nennen darf. In der zweiten gibt das Naturrecht vor, unter welchen Voraussetzungen ein Subjekt nach Glückseligkeit streben darf. Hamanns oben diskutierte These, der Mensch sei sein eigener Gesetzgeber, steht damit in ganz anderem Licht. Die für Hamann spezifische Auffassung, dass »sich Abhängigkeit und Autonomie nicht aus, sondern ein[schließen]«567, findet sich auch bei Jerusalem, allerdings in einem anderen Bedeutungskontext: Ohne mich ist die Natur arm; ich schaffe ihr alle Augenblicke neue Gestalten, ich dringe in ihre innerste Werkstatt, ich entdecke ihre geheimsten Gesetze; […] meine Aussichten, meine Fähigkeiten, meine Triebe haben nirgends ihre Grenzen; es ist alles in mir ewig. Noch mehr, die Quelle meines Vergnügens und Mißvergnügens habe ich in mir selbst; ich bin mein eigener Gesetzgeber, mein eigener Richter; ich lobe und tadle und strafe und belohne mich selbst, und mein Beifall ist mir wichtiger als die Lobsprüche von tausend Schmeichlern.568
Während bei Jerusalem der Mensch aufgrund seiner Erkenntnisfähigkeit, seiner Intelligenz als ein völlig autonomes Wesen erscheint, sieht Hamann den Umstand, dass der Mensch besondere Fähigkeiten besitzt, als einen Verpflichtungsgrund. Nicht nur die Natur, sondern auch die Gesetze »seiner eigenen Vernunft« schränken ihn ein.
5.3
Naturrecht und Moralität
Hamann gelangt durch seine Auseinandersetzung mit Mendelssohns Naturrechtsverständnis schließlich dazu, seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen (Natur)recht und Moral darzulegen. Die begrifflich sehr dichte Formulierung macht es notwendig, diese Vorstellung ihrerseits zu kommentieren und zu erläutern. Hamann schreibt: »alle gesellschaftliche Verträge beruhen, nach dem Rechte der Natur, auf dem sittlichen Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen, und auf der sittlichen Nothwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen.«569 Zunächst stellt sich die Frage, wieso ›nach‹ dem Recht der Natur die sozialen Verträge auf einem sittlichen Vermögen und einer sittlichen Notwendigkeit beruhen. Welche Art von Folgebeziehung impliziert das ›nach‹? Ist hier von einer logischen Beziehung die Rede, derart, dass das Naturrecht eine bestimmte sittliche Begrifflichkeit voraussetzt oder diese – im Sinne einer Identifizierung von Naturrecht und Ethik – schon impliziert? Oder muss Hamanns Behauptung viel eher so verstanden werden, dass mit dem Naturrecht für die sozialen Verträge allererst ein bestimmter sittlicher Rahmen gestiftet wird? Stellt das Naturrecht also die 567 Bayer: Zeitgenosse, S. 132. 568 Jerusalem: Betrachtungen, S. 144. 569 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 85.
144
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
unerlässliche Bedingung dafür dar, dass Verträge unter menschlichen Individuen überhaupt zustande kommen können? Auf jeden Fall geht es um den Zusammenhang von Recht und Sittlichkeit. Versteht man ›sittlich‹ im modernen Sinn von ›ethisch‹ oder ›moralisch‹ lässt sich die Passage folgendermaßen lesen: Das Recht der Natur, das erst einmal jedem menschlichen Handeln vorhergeht, bewirkt, dass durch ein moralisches Vermögen – nämlich die Fähigkeit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden – und durch eine moralische Notwendigkeit Verträge geschlossen werden können, so dass ›durch sie‹ Recht im Sinne von sozial allgemein verbindlichen Handlungsnormen entstehen kann. Von ›Recht‹ ist hier in einer zweifachen Bedeutung die Rede: Einmal als ›Recht der Natur‹, welches die – wie auch immer genau zu verstehende – Grundlage sittlichen Handelns bildet. Sodann als dasjenige Recht, welches durch Verträge erst konstituiert wird. Recht meint also hier einerseits den Inbegriff von Moralität und zwar noch nicht so sehr in einem inhaltlichen Sinn, sonder eher als ihre Möglichkeitsbedingung; andererseits das positive Recht. In der ersten Bedeutung ist das Recht unabhängig von menschlichem Handeln anscheinend ›immer schon‹ vorhanden, wohingegen es in der zweiten Bedeutung ein Ergebnis menschlicher Festlegung und Setzung ist. ›Sittlich‹ kann auch noch in einem anderen Sinne verstanden werden: Denn die Fähigkeit des Menschen ›ja oder nein zu sagen‹, sich also zwischen zwei Alternativen zu entscheiden, scheint doch an sich noch keine genuin moralische Fähigkeit zu sein. Allenfalls kann eine notwendige Voraussetzung von Moralität gemeint sein, denn damit eine Handlung als moralische angesehen werden kann, muss der Handelnde ja dazu in der Lage sein, sich frei zwischen zwei Optionen zu entscheiden. Die eigentliche Moralität würde dann jedoch nicht im bloßen Entscheidungsakt liegen, sondern in dem Urteil des Handelnden, wodurch er das moralisch Gute vom moralisch Schlechten unterscheidet, und den Beweggründen, die seine Handlung auf ein Ziel hin ausrichten. Das bloße ›ja oder nein sagen‹ könnte allenfalls unter Bezugnahme auf eine Bibelstelle (Matth. 5, 37) als etwas an sich Sittliches verstanden werden.570 Gefordert wird hier anscheinend ein eindeutiges sich Entscheiden für eine von mehreren Möglichkeiten571 und vor allem die eindeutige, unmissverständliche Art und Weise die Entscheidung Anderen mitzuteilen. Das allerdings geht über das reine dazu in der Lage sein, ›ja oder nein‹ zu sagen, schon hinaus, weil hier ein bestimmter Umgang mit einer Fähigkeit gefordert wird.
570 Matth. 5, 37: »Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist von Übel.« 571 Zum Zusammenhang von Eindeutigkeit und göttlichem Wort vgl.: Bayer: Zeitgenosse, S. 128–129.
Hamanns eigener Entwurf einer naturrechtlichen Theorie
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Man kann nun auch gegen diese Lesart den Einwand erheben, sie sei doch recht formalistisch. Denn wenn ich auf eindeutige Weise ›ja oder nein‹ sage, dann sind damit die Motive meiner Entscheidung noch gar nicht in Betracht gezogen. Zu einem sinnvollen Verständnis der Passage kann man m. E. erst unter der Annahme gelangen, es gehe Hamann um etwas Grundlegendes, nämlich um die Begründung von Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit, die allen inhaltlichen Fragen danach, was moralisch und/oder rechtens ist, vorgeordnet werden muss. Ein gemeinsames Entscheiden von Individuen über die Gesellschaftsordnung, in der sie leben wollen, ist nur möglich, wenn man ethische Grundlinien voraussetzt, die Verbindlichkeit garantieren. Anderenfalls wäre die unvermeidliche Konsequenz, dass ein Einzelner allein über Gesetze entscheidet. Dieses ›anderenfalls‹ hatte Hamann zuvor schon konkretisiert: wenn jeder sein unphilosophisches Ich zum Königlichen Schiedsrichter der Collisionsfälle aufrichten will, weder ein Stand der Natur noch der Gesellschaft möglich ist; vielmehr in beyden Ständen die Entscheidung natürlichen oder verabredeten Gesetzen unter Einen allgemeinen Herrn und Erben anheim fallen muß: so lohnt es kaum, länger im speculativen und theoretischen Schutt des Eigentumsrecht zum Selbstgebrauch […] herumzuwühlen.572
Würde jeder über rechtliche Streitfälle allein entscheiden wollen, gäbe es keinen Natur- und keinen Gesellschaftszustand. Dass es letzteren nicht geben könnte, leuchtet von selbst ein, denn Gesellschaft im emphatischen Sinn existiert ja erst dann, wenn Einzelne sich auf gemeinsam zu befolgende Normen geeinigt, also ein Stück von ihrer Entscheidungsautonomie abgetreten haben. Interessant ist, dass es in einem solchen Fall für Hamann ›auch‹ keinen Naturzustand gäbe. Mit ›Naturzustand‹ meint Hamann also keinen – fiktiven oder in die Gegenwart projizierten – Zustand, in welchem Menschen ohne festgelegte rechtliche Normen gleichsam ›anarchisch‹ leben oder mal gelebt hätten,573 sondern er scheint mit dem Naturzustand bereits das Vorhandensein gewisser Normen zu verbinden. Menschen, die es sich regelmäßig anmaßen, selbst zu entscheiden, was Recht ist, ohne sich mit ihren Mitmenschen verständigen zu wollen, befinden sich
572 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 84–85. 573 Hobbes gibt zu, dass der als anarchisch gedachte Naturzustand wohl nicht in einer Frühzeit der Menschheit existierte, meint aber, dass die nicht zivilisierten Völker eben so leben würden. Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan. Ed. with an Introduction by C. B. Macpherson. London 1985, S. 187: »It may peradventure be thought, there was never such a time, nor condition of warre as this; and I believe it was never generally so, over all the world: but there are many places, where they live so now. For the savage people in many places of America, except the government of small Families, the concord whereof dependeth on narturall lust, have no government at all; and live at this day in that brutish manner, as I said before.« (Hervorhebung im Original).
146
Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
Hamann zufolge also keinesfalls in einem Naturzustand, sondern in einem Zustand der ›Unnatur‹. Von hieraus wird auch verständlicher, warum Hamann auf dem zunächst recht formalistisch wirkenden ›ja oder nein sagen‹ insistiert, denn damit ist bereits ein Prozess der Kommunikation impliziert. Ich handle oder entscheide nicht einfach selbst, sondern ich lege meine Meinung dar und gebe anderen die Möglichkeit, dies auch zu tun. Damit es nun Zuverlässigkeit geben kann, kommen weitere Kriterien hinzu: Das sittliche Vermögen Ja! oder Nein! Zu sagen gründet sich auf den natürlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache; die sittliche Nothwendigkeit, sein gegebenes Wort zu erfüllen, darauf, dass unsere innere Willenserklärung nicht anders als mündlich oder schriftlich oder thätlich geäußert, geoffenbart und erkannt werden kann, und unsere Worte, als die natürlichen Zeichen unserer Gesinnungen, gleich Thaten, gelten müssen.574
Auf den ersten Blick wirkt das völlig einsichtig und unproblematisch: Es ist unabdingbar, dass ich mein Wort halte, weil andere nur anhand der Zeichen, die ich zur Mitteilung verwende, wissen können, was ich denke. Verlässlichkeit kann es nur geben, wenn ich selbst ehrlich bin und unterstellen kann, dass andere es auch sind. Auf den zweiten Blick wirft die These, Worte seien ›natürliche Zeichen‹ von ›Gesinnungen‹, allerdings Fragen auf. Wenn die Grundlage der Verlässlichkeit in einem transparenten Verhältnis zwischen Gesprochenem und Gedachtem bestehet, wie soll dann der Erfahrungstatsache Rechnung getragen werden, dass Menschen sich eben oft gerade nicht demgemäß verhalten? Oder ist dies am Ende gar nicht beabsichtigt? Offenkundig gibt es für Hamann einen ›natürlichen‹ und einen ›unnatürlichen‹ Gebrauch von Worten: ›natürlich‹, wenn ich sie als Zeichen für das tatsächlich von mir gedachte und gewollte verwende, ›unnatürlich‹*, wenn ich lüge oder mich verstelle. An sich ist dies keine besonders bemerkenswerte Ansicht. Hamanns Unterscheidung entspricht genau dem, was auch Hobbes im Leviathan als ›use and abuse of speech‹ bezeichnet hatte,575 nur dass er mit dem Oppositionspaar ›natürlich‹/›unnatürlich‹ den normativen Aspekt stärker akzentuiert. Hinzu kommt, dass die Verurteilung des Lügens mit dem Verweis auf den natürlichen Zweck der Sprache eine lange christliche Tradition kennt.576
574 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 85–86. 575 Sprache ist für Hobbes da »to make known to others our wills, and purposes, that we may have the mutuall help of one another« (Leviathan, S. 102). Missbrauch von Sprache betreiben Menschen hingegen, »when by words, they declare that to be their will, which is not« (Leviathan, S. 102). 576 Vgl. dazu: Lutz Danneberg: Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert. Dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im
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Viel aufschlussreicher im Hinblick auf das, was Hamanns Rede von ›natürlichen Zeichen‹ motiviert haben könnte, ist eine Passage bei Wieland. Dort wird die Offenlegung des Inneren in der Rede als Kennzeichen menschlicher Kommunikation im prälapsarischen Zustand beschrieben: Die ersten Menschen haben bei ihren Reden keinen anderen Zweck haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kinder die angeschaffne Unschuld bewahrt hätten, so wäre ihre Rede nach ihrer wahren Bestimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre, und ein Mittel gewesen, Freundschaft und Zärtlichkeit unter den Menschen zu unterhalten. Jedermann weiß, dass die Sprache von den itzigen Menschen meistenteils gebraucht wird, andern zu sagen, was sie nicht denken.577
Worte als eine Art ›Fenster‹ zum Inneren, Gedachten zu gebrauchen ist demnach ein Kennzeichen menschlichen Verhaltens im ›status integritatis‹. Wenn Hamann nun ein solches Verhalten, das der ›angeschaffenen Unschuld‹ des Menschen entspricht, mit seinem Begriff von Naturrecht verbindet, behauptet er damit zugleich, dass es ein Recht, welches aus einer gemeinsamen Einigung der Menschen über die Leitlinien ihres Zusammenlebens entsteht, nur dann geben kann, wenn Menschen sich auf das ihnen eigentümliche Verhalten im ›status integritatis‹ besinnen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie das überhaupt möglich sein soll. Wielands Beschreibung der ›angeschaffenen Unschuld‹ wirkt so, als handle es sich dabei um eine dem Menschen bei seiner Schöpfung mitgegebene Notwendigkeit. Wenn die ersten Menschen »keinen anderen Zweck haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen«578, dann ist ihr Verhalten keine freie – und deshalb moralische – Entscheidung zugunsten des moralisch Richtigen, sondern etwas, das sich von selbst, ohne ihr Wollen aus ihrer Natur ergibt. Sie sind ehrlich, weil sie gar nicht dazu in der Lage sind, unehrlich zu sein. Sie handeln nicht aufgrund einer besseren Einsicht, sondern vermittels einer Notwendigkeit. Wie sollte es nun möglich sein, dass der Mensch im ›status corruptionis‹ zu einer so verstandenen Integrität seiner Natur zurückfindet? Es gibt in Hamanns Schriften Hinweise darauf, dass eine solche ›Rückkehr‹ gar nicht beabsichtigt ist. Hamanns These, der Mensch habe die Freiheit, böse zu sein, deutet den Sündenfall als ›felix culpa‹, nämlich dahingehend, dass der Mensch sich so Freiheit zu entscheiden erworben habe. Er ist nicht mehr durch
17. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 45–92, hier S. 90–91. 577 Christoph Martin Wieland: Abhandlung vom Naiven. In: Prosaische Jugendwerke. Abt. I, Bd. 4. Berlin 1916, S. 15–16. 578 Wieland: Abhandlung vom Naiven, S.15, Hervorhebung A.K.
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Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
die Notwendigkeit seiner Natur dazu gezwungen, ehrlich zu sein, sondern er besitzt die Fähigkeit, sich dazu zu entscheiden. Zentral für Hamanns Naturrechtsbegriff ist nun ein Detail: Wenn »Vernunft und Sprache« als »das innere und äußere Band aller Geselligkeit« getrennt werden, so folge daraus, dass »Glaube und Treue aufgehoben, Lüge und Trug, Schand und Laster zu Mitteln der Glückseligkeit gefirmelt und gestempelt«579 würden. Der Ausdruck ›Glaube und Treue‹ lässt sich m. E. in Bezug zu zwei rechtsphilosophischen Begriffen setzen, erstens zum naturrechtlichen Terminus ›imputatio‹, zweitens zu Ciceros Begriff der Gerechtigkeit. Eric Achermann hat gezeigt wie Hamann in seiner Metakritik Erhard Weigels Begriff der ›imputatio‹ – und den der ›impositio‹ – rezipiert hat.580 Vor allem ›imputatio‹ scheint mir auch in Golgotha und Scheblimini präsent zu sein. Einmal deshalb, weil ›imputatio‹ »der juristische Ausdruck für πιστις, für den Glauben, die Überzeugung«581 ist. Zudem, weil im Zusammenhang mit der ›imputatio‹ das zentrale Kriterium für Verbindlichkeit »in letzter Instanz einzig der Wille, die Intention des Setzenden«582 ist. Von hier aus wird einsichtig, was Hamann mit der ›Aufhebung von Glaube und Treue‹ im Sinn hat: Wenn sich Verträge auf den Willen beider Parteien gründen, den sie sprachlich veräußern, dann müssen sie sich wechselseitig unterstellen, dass das Gesagte mit dem Gewollten identisch ist. Die Vertragspartner müssen in der Lage sein, das Geäußerte dem jeweils Anderen als authentische Absicht zuzuschreiben. Geschieht das nicht, trennt man ›Vernunft‹ im Sinne von Denken und ›Sprache‹, entfällt damit zugleich die Möglichkeit von Verständigung und Einigung. Wenn es nicht mehr plausibel ist, sprachliche Äußerungen als Mitteilungen von vorhandenen Absichten (oder allgemein von Gedanken) zu verstehen, ist es sinnlos, den Versuch zu unternehmen, sich gegenseitig auf etwas zu einigen. Von der Quellenlage her wäre es auch plausibel, den Ausdruck »Glaube und Treue« mit Ciceros Definition der Gerechtigkeit in De officiis zu verbinden. Hamann zitiert ja die Behauptung Ciceros die ›fides‹ sei Grundlage der Gerechtigkeit. ›Glaube und Treue‹ wäre dann der Versuch, das Bedeutungsspektrum von ›fides‹ (Glaube, Vertrauen; Treue, Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit) durch ein Hendiadioyn wiederzugeben. Schließlich ist ›Glaube und Treue‹ auch eine Umschreibung für das Rechtsprinzip der Billigkeit, das ›ius aequum‹,583 das etymologisch von ›aequus‹ ausgeht.584 Daher erscheint es mir richtig, die Bedeutungen von ›aequitas‹ und ›ae579 580 581 582 583 584
Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 86, Hervorhebung A.K. Achermann: Natur und Freiheit, S. 89–90, S. 97, S. 99. Achermann: Natur und Freiheit, S. 99. Achermann: Imputatio, impositio, S. 30. Mauser: Billigkeit, S. 72. Max Rümelin: Die Billigkeit im Recht. Tübingen: Mohr 1921, Anm. 1, S. 3.
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quus‹ (gleich; wohlwollend, geneigt; zufrieden) hier mit einzubeziehen. Wenn also Vernunft und Sprache voneinander getrennt werden, gehen ›Glaube und Treue‹ im mehrfachem Sinn verloren. Die Menschen, die nicht gleichermaßen ehrlich zueinander sind, inderm sie sagen, was sie denken, begegnen einander nicht mehr wohlwollend und geneigt. Indem sie gegen die Goldene Regel verstoßen,585 verlieren sie die Möglichkeit, auf eine gleichberechtigte Art und Weise zusammenzuleben, so dass ein Zustand der Unzufriedenheit entstehen muss, der rechtliche Ungleichheit, nämlich durch die Herrschaft eines Einzelnen, notwendig macht.
5.4
Die Funktion des ›status integritatis‹
Wie verhält sich nun Hamanns Ansicht, eine Rückbesinnung auf den ›status integritatis‹ sei möglich, zur wiederholt bekundeten lutherischen Orientierung? 586 Luthers Naturrechtsverständnis geht aus von einer Opposition zwischen einem von Gott gesetzten Naturgesetz, welches dem Menschen im ›status integritatis‹ bekannt ist, und einem menschlichen Naturrecht, welches der Mensch, der nach dem Sündenfall unfähig dazu geworden ist, die göttlichen Gesetze zu erkennen, dazu verwendet, um geregelt zu leben.587 Das bedeutet aber auch, dass sich der Rechtsbegriff verändert. Ilting hat Luthers Position wie folgt zusammengefasst: Für die gefallene Kreatur tritt daher der Zwangs- und Sollenscharakter des Rechts entschieden in den Vordergrund […] Seine Aufgabe kann es nicht sein, den Menschen in ein rechtes Verhältnis zu Gott zu setzen, sondern nur darin bestehen, die weltlichen Dinge gut zu ordnen. Dazu aber bedurfte es keiner Offenbarung […] Ein christlicher Staat ist nach diesem Verständnis ein Unding. Nur mindert dies, gemäß Röm. 13, die Gehorsamspflicht des Christen gegenüber der weltlichen Obrigkeit nicht im mindesten.588
Hamanns Auffassung kann in diesem Zusammenhang verstanden werden als Versuch, einer von Luther ausgehenden Wandlung des (Natur-)Rechtsbegriffs zu widersprechen. Ilting zufolge hat Luther den Weg zu einer »Enttheologisierung des natürlichen und des positiven Rechts«589 bereitet, nicht zuletzt auch durch seine Auffassung, dass die göttliche Offenbarung für das diesseitige Leben nicht relevant sei: »Finge enim nullam esse vitam post hanc vitam. An non sequitur nos 585 Zur christlichen Auslegung der goldenen Regel als Billigkeit vgl. Mauser: Billigkeit, S. 76. Zur ethischen Bedeutung der goldenen Regel siehe Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 151–156. 586 Vgl. N III, S. 173; ZH VI, S. 466. 587 Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 69. 588 Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 69–70. 589 Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 70.
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Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
non opus habere Deo, non verbo eius? Nam hoc, quod in hac vita requirimus aut agimus, etiam sine verbo habere possumus.«590 Luther scheint hier gleichsam Grotius’ Überlegung, die Grundsätze des Naturrechts hätten auch ihre Geltung, wenn es Gott nicht gäbe, vorwegzunehmen.591 Zu dem, was wir in diesem Leben brauchen (›quod in hac vita requirimus‹) gehört zweifelsohne auch eine rechtliche Ordnung. Und diese können wir, so Luther, eben auch ohne das Wort Gottes haben. Wenn Hamann nun dem entgegen die Relevanz der Offenbarung für das weltliche Leben betont, dann steht dahinter nicht nur ein Interesse, die religiösen Aspekte wieder in die Rechtsdiskussion hinein zu holen, sondern vor allem auch, Argumente dafür zu finden, einen Staat nicht als Zwangsinstitution zu verstehen. Er versucht vielmehr, das Naturrecht so zu formulieren, dass es geradezu abwegig erscheint, den Zweck eines Staates vorwiegend in der Ausübung von Zwang zu sehen.
5.5
Naturrecht und Offenbarung
Hamann denkt den Naturrechtsbegriff mit der Vorstellung des ›status integritatis‹ zusammen und versteht das (für ein christliches Denken) problematische Verhältnis von ›Natur‹ und ›Offenbarung‹ neu, wodurch beides wenn nicht in Einklang gebracht, so doch miteinander vermittelt wird. Im Folgenden soll dies anhand des Zusammenhangs von Naturrechtsdiskussion und protestantischer Theologie und Ethik dargestellt werden. Dabei wird auch zu bedenken sein, wie sich für Hamann die naturrechtlichen Gesetze zum biblischen Gebot verhalten. Klaus Tanner hat in seiner Studie Der lange Schatten des Naturrechts das ambivalente Verhältnis der protestantischen Tradition zum Naturrechtsdiskurs dargestellt,592 das von rigorosen Ablehnungen bis zu Kompromisslösungen reicht. So stellt für Karl Barth die Suche nach naturrechtlichen Leitlinien menschlichen Zusammenlebens bereits eine Folgeerscheinung menschlicher Abwendung von Gott dar: Es gibt kein Naturrecht, das, als solches erkennbar, zugleich göttlichen Charakter trüge, göttliche Verbindlichkeit hätte … Es ist vielmehr selbst schon für des Menschen Sünde
590 Zit. nach Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 70. [Stelle dir nämlich vor, es gäbe kein Leben nach diesem Leben. Folgt es da nicht, dass wir Gott nicht brauchen, noch sein Wort? Denn das, was wir in diesem Leben brauchen oder zustande bringen, können wir auch ohne das Wort haben. (Übers. A.K.)]. 591 Zu Grotius siehe: Achermann: Worte und Werte, S. 94–95. 592 Klaus Tanner: Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung. Stuttgart, Berlin, Köln 1993.
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charakteristisch – eine von deren Auswirkungen -, wenn er ein solches ›Naturrecht‹ kennen, sich und andere an ihm ausrichten und messen zu sollen meint.593
Diese harsche Zurückweisung Barths bringt auf den Punkt, worin – unter anderem – das Problem besteht: Für ein christlich orientiertes Denken muss die Vorstellung von einem Recht, das ›als solches erkennbar‹, also den menschlichen Denkbemühungen ohne göttliche Vermittlung zugänglich sei, ein Skandalon darstellen. Barth lehnt nicht die Vorstellung ab, dass es ein Recht geben könne, welches aus menschlicher Perspektive per se Gültigkeit besitzt. Er lehnt es aber ab, diese Gültigkeit in einer nicht weiter hintergehbaren Konzeption von ›Natur‹ anzusetzen. Ein Naturrecht kann es für Barth nur geben, wenn es sich als ein von Gott gestiftetes Recht verstehen ließe, ungeachtet der Frage, ob dieses Recht eher als eine Einsicht des göttlichen Verstandes – der eine irrtumsfreie Einsicht in die ›Natur der Dinge‹ hätte – oder als eine Setzung des göttlichen Willens angesehen werden müsste. Auch Hamann hat die von Barth angesprochene Problematik für den Offenbarungsgedanken gesehen und dazu Stellung bezogen, nämlich in der Auseinandersetzung mit den Thesen Hermann Samuel Reimarus im sogenannten Fragmentenstreit. Reimarus setzt in seinem Religionsverständnis ›natürlich‹ und ›positiv‹ einander entgegen: »Das ›Natürliche‹ ist wesentlich dadurch bestimmt, dass es nicht ›positiv‹, nicht gesetzt, geworden und entstanden ist. Während das ›Positive‹ an einen bestimmten Ort, an eine bestimmte Zeit, an eine bestimmte Person gebunden ist, gilt das ›Natürliche‹ immer, überall und für jeden.«594 Bayer verweist darauf, dass diese Position auch von Kant geteilt wurde, in dessen Denken Offenbarung und Vernunft voneinander getrennt werden.595 Demgegenüber ist, wie Bayer betont, Hamanns Auffassung, es gäbe keine ewigen, sondern nur zeitliche Wahrheiten, durchaus singulär.596 Was heißt das nun für Hamanns Verständnis von Naturrecht und der Überzeugung, dieses Recht zumindest zum Teil als Offenbarung zu verstehen? Hamann versucht einerseits, die philosophischen Bemühungen seiner Zeitgenossen, die durch »Rückgang auf Allgemeinmenschliches […] die Geltungsansprüche positiver Bestimmungen zu schlichten und darin vernünftig zu sein beanspruch[en]«597 anzuerkennen, vermeidet dabei aber in der Suche nach Allgemeinem das Wirkliche aus dem Blick zu verlieren. Hamanns Grundauffassung könnte so formuliert werden: damit Normen, z. B. die des Rechts, allen gemeinsam und nicht bloß partikular, sondern für alle verbindlich sind, muss man 593 594 595 596 597
Zit. nach Tanner: Der lange Schatten des Naturrechts, S. 12, Hervorhebung A.K. Bayer: Zeitgenosse, S. 158. Bayer: Zeitgenosse, S. 159. Bayer: Zeitgenosse, S. 164–165. Bayer: Zeitgenosse, S. 165.
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Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
nicht notwendig, von einer Entstehung, von einem ›Geworden sein‹ absehen. Im Gegenteil: Die Fixierung in einem geschichtlichen Ereignis – und ein solches ist für Hamann die biblische Offenbarung – ermöglicht den abstrakten Bestimmungen einen Wirklichkeitsbezug und verhindert eine Unkenntnis von Wirklichem in der Philosophie. Ein Hauptargument, das Hamann in seiner Kritik an der natürlichen Religion vorbringt, bestimmt auch die an zeitgenössischen Naturrechtskonzeptionen. Genauso wie vom Christentum bloß »ein materielles Nichts oder ein geistiges Etwas, das im Grund […] auf Einerlei hinaus läuft«598 bliebe, so würde auch ein Naturrecht zu abstrakt, zu inhaltsleer sein, wenn man darauf insistierte, jegliches historische Gebundensein abzulehnen in der Auffassung, dass das Naturrecht eben nur dadurch ›vernünftig‹ sein könne. Wenn Hamann also den Offenbarungsgedanken unbedingt beibehalten möchte, dann ist darin keinesfalls nur eine Variante traditionellen Denkens zu sehen, sondern die Überzeugung, das Ablehnen von geschichtlich Gewordenem würde zu einem Verlust an Inhalt und vor allem auch an Plausibilität führen. Hinzu kommt, dass in der Diskussion um den Offenbarungsgedanken immer auch die Frage nach der Erkennbarkeit und dem Geltungsgrund von Werten eine Rolle spielt. Wie sehr die erkenntnistheoretische Problematik Hamann beschäftigt hat, zeigt ein Eintrag in seinen späten Studienheften aus dem Jahr 1784, genau dem Jahr also, in welchem Golgotha und Scheblimini erschienen ist. In dem Eintrag geht es um die Frage, auf welche Weise man zur Erkenntnis der Gerechtigkeit gelangen kann: Meditations philosophiques sur l’origine de la Justice ect. par M. le Chancelier d’Aguesseau. Tom I. Yverdon 1780. p. 376. gr. 12 […] Kann man nicht das Heiligtum der Gerechtigkeit anders als [durch] die Pforte der Selbstliebe eingehen? Ist es nicht erlaubt, sie zu studieren und an sich selbst zu betrachten, ihre Natur durch klare lichtvolle Begriffe zu entdecken, unabhängig von den Anlagen oder Bewegungen, welche mir meine Selbstliebe zu meinen wahren Glück eingiebt – Diesen letzten Punct muss ich und die folgenden Meditationen ergründen, um nichts wünschenswürdiges über die Materie zurück zu lassen, welche ich als den Grund aller meiner Pflicht, als den Schlüssel der ganzen Moral ect. ansehe. S. 289. 290 den 22. Junii 84.599
Zunächst stellt sich ein philologisches Problem: Aus dem Eintrag ist nicht ersichtlich, ob es sich um eine ganze oder partielle Übersetzung aus d’Aguesseaus Schrift oder um einen Kommentar Hamanns handelt. Die Seiten- und Bandangaben stimmen nicht. Die Meditations finden sich im 11. Band der Werke d’Aguesseaus. Dort findet sich nun ein Avertissement, in welchem über die Vorgehensweise d’Aguesseaus das konstatiert wird, was Hamann in seinem 598 Bayer: Zeitgenosse, S. 165. 599 N V, S. 366–367.
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Eintrag als Frage formuliert hat. D’Aguesseau habe einen neuen Erkenntnisweg eingeschlagen, in dem er über die Gerechtigkeit an sich, unabhängig von der Selbstliebe, nachgedacht habe: M. d’Aguesseau s’ouvre une nouvelle route pour pénétrer dans le sanctuaire de la justice. Il la contemple en ell-même, il étudie sa nature & ses caracteres essentielles, indépendamment des mouvemens qu’excite l’amour de soi-même, guide par la raison. Il la considere alors, moins comme la source de notre bonheur, que comme la regle de nos jugemens & de notre conduite.600 M. d’Aguesseau öffnet sich einen neuen Weg, um in das Heiligtum der Gerechtigkeit zu dringen. Er betrachtet sie an sich selbst, er studiert ihre Natur und ihre wesentlichen Merkmale, unabhängig von den Bewegungen, die die Eigenliebe hervorruft, von der Vernunft geleitet. Er betrachtet sie also, weniger als die Quelle unseres Glücks, sondern als die Regel unserer Urteile und unseres Verhaltens.
Was für Hamann ein Problem ist, wird hier als eine an sich nicht weiter problematische Methode dargestellt. In Hamanns Eintrag wird gefragt, ob ein Subjekt überhaupt dazu fähig ist, sich im Denken von seinen eigenen Interessen zu distanzieren. – ob der Mensch um die durch seine lebensweltliche Gebundenheit konstituierten Werte gleichsam eine Klammer setzen kann, um dann unabhängig über Wertbegriffe nachzudenken. Im Avertissement hingegen wird die epistemologische und anthropologische Möglichkeit eines solchen gedanklichen Heraustretens aus dem eigenen lebensweltlichen Kontext schon vorausgesetzt. Hamann scheint demnach Formulierungen der Passage übersetzt zu haben, um sich eine Notiz über ein erkenntnistheoretisches Problem zu machen. Dabei ist eine Auslassung wichtig: Im Avertissement wird die Möglichkeit einer Täuschung dadurch ausgeschlossen, dass sich d’Aguesseau von der Vernunft (»par la raison«) leiten lässt. In Hamanns Eintrag hingegen bleibt es offen, ob sich ein Subjekt auf eine Vernunft, die nicht an seine Lebenswelt gebunden wäre, verlassen könnte. Dadurch wird nun die Rolle der Selbstliebe problematisch: Im Avertissement heißt es, d’Aguesseau habe bewiesen, die Selbstliebe könne sich von der Vernunft leiten lassen, wodurch der Mensch seinen wahren, ›objektiven‹ Interessen folge.601 Indem er sich von seinen ›subjektiven‹ Interessen distanziert, welche einer 600 Oeuvres de M. le Chancelier d’Aguesseau. Tome Onziéme, Contenant les Méditations Philosophiques sur l’Origine de la Justice, & c. A Paris, chez les Libraires Associés. M.DCC. LXXIX, Avertissement, vij (Hervorhebungen A.K, um die von Hamann übersetzten Stellen zu kennzeichnen). 601 Oeuvres d’Aguesseau, Avertissement, iij: »M. le Chancelier d’Aguesseau démontre que la justice, qui a sa source hors de nous, est inseparable des varies interest de l’homme; que par sa nature, l’homme ne peut être injuste sans être malheureux, que l’amour de soi-même, lorsqu’il n’est point corrompu par des passions criminelles, le porte à l’observation de la justice, que s’il est naturel de s’aimer, le penchant éclairé et dirigé par la raison, doit conduire
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Hamanns Verhältnis zum Naturrecht
›schlechten‹ Selbstliebe, einem Egoismus entsprechen würden, kann er geistig auf eine objektive Wertordnung zugreifen, von der sich sowohl die Moral- als auch die Rechtsbegriffe herleiten. So heißt es über d’Aguesseau: »il entroit dans son plan de démontrer qu’indépendamment de nos intérêts & de nos opinions, il existe un ordre supérieur, regle éternelle de toutes les intelligences, fondement de tous les devoirs, modele de toutes les loix.«602 Bei d’Aguesseau steht fest, dass es unabhängig von dem jeweils partikularen und veränderlichen menschlichen Meinungswissen eine ewige Wertordnung gibt, an welcher der Mensch qua geistiges Wesen teilhaben kann. Damit sind die Existenz objektiver Werte und ihre Erkennbarkeit abgesichert. Genau diese Gewissheit ist jedoch in Hamanns Eintrag nicht mehr vorhanden: Eine objektive Wertordnung scheint durchaus angenommen zu werden, denn in dem Eintrag wird ja gefragt, ob es erlaubt sei, die Gerechtigkeit an sich zu betrachten, was voraussetzt, dass ein Begriff von Gerechtigkeit an sich existiert. Über die Erkennbarkeit ist aber damit nichts entschieden. Hamann meint nun, dass er »[d]iesen letzten Punct […] und die folgenden Meditationen ergründen« müsse. Der anschließende finale Nebensatz lässt jedoch Zweifel aufkommen, ob das im Eintrag genannte Ich tatsächlich mit der Ansicht Hamanns übereinstimmt.603 Denn die geforderte Vollständigkeit bei der Behandlung eines Themas entspricht weder Hamanns Schreibgewohnheiten noch seiner Erkenntnistheorie, welche sich grundsätzlich skeptisch verhält gegenüber dem Anspruch, etwas in Gänze erfassen zu können. Folgt man den Erläuterungen im Avertissement, lässt sich die Differenz zwischen d’Aguesseau und Hamann noch genauer erklären – sie ist begründet in gegensätzlichen Auffassungen über die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis. Eine ›richtige‹ Anwendung der Metaphysik ermögliche es, genaue und vollständige Begriffe von Dingen an sich zu erlangen und insbesondere diejenigen Wahrheiten einzusehen, die unabhängig vom menschlichen Erkenntniszugriff immer schon existieren:
à la vertu, et dès-lors, au vraie bonheur.« [M. le Chancellier d’Aguesseau beweist, dass die Gerechtigkeit, die ihre Quelle außer uns hat, untrennbar von den wahren Interessen des Menschen ist; dass nach seiner Natur der Mensch nicht ungerecht sein kann ohne unglücklich zu sein, dass die Selbstliebe, sofern sie nicht durch verbrecherische Leidenschaften verdorben ist, ihn zur Beachtung der Gerechtigkeit führt, dass wenn es natürlich ist sich selbst zu lieben, die aufgeklärte und von der Vernunft geleitete Neigung zur Tugend führen muss und von dort aus zum wahren Glück. Übers. A.K.]. 602 Oeuvres d’Aguesseau, Avertissement, viij. [Er begann mit seinem Plan zu beweisen, dass es unabhängig von unseren Interessen und unseren Meinungen eine höhere Ordnung gibt, ewige Regel aller Intelligenzen, Grundlage aller Pflichten, Modell aller Gesetze. Übers. A.K.]. 603 Das Zitat – falls es sich denn an dieser Stelle um eines handelt – konnte ich leider nicht identifizieren.
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Ce qui augmente encore l’utilité de l’Ouvrage de M. le Chancelier d’Aguesseau, c’est que la Métaphysique y remplit sa vraie destination. Cette science sublime, don’t le caractere propre est de nous donner l’idée précise, mais complette, de ce que chaque chose est en elle-même, de ne rien ajouter, de ne rien écarter, qui puisse faire confondre l’idée d’une chose avec l’idée d’une autre, de nous faire connoître sur-tout ces vérités sacrées qui existoient avant qu’il y eût des hommes pour les connoître, avant qu’il y eût des propositions pour les énoncer; cette Science est l’instrument le plus sûr qui nous ait été donné pour distinguer la vérité de l’erreur, le fantôme de la réalité, & pour prémunir notre raison contre les illusions des sens & les écarts de l’imagination.604 Was die Nützlichkeit des Werkes von M. le Chancellier d’Aguesseau noch erhöht ist, dass die Metaphysik dort ihre wahre Bestimmung erfüllt. Diese erhabene Wissenschaft, deren eigentümliches Merkmal es ist, uns die genaue, aber vollständige Idee davon zu geben, was jede Sache an sich selbst ist, nichts hinzuzufügen, nichts wegzulassen, was die Idee einer Sache mit der einer anderen durcheinander bringen könnte, uns vor allem die heiligen Wahrheiten erkennen zu lassen, die existierten, bevor es Menschen gab, um sie zu erkennen, bevor es Aussagen gab, um sie auszusprechen; diese Wissenschaft ist das sicherste Instrument, das uns gegeben ist, um die Wahrheit vom Irrtum zu unterscheiden, das Phantom von der Realität, und um unsere Vernunft zu wappnen gegen die Illusionen der Sinne und die Ausschweifungen der Einbildungskraft.
Wenn Hamann also Zweifel bezüglich der Möglichkeit eines interesselosen Erkennens, vor allem bei Wertbegriffen, äußert, dann zieht er damit zugleich die Leistungsfähigkeit einer Erkenntnismethode in Zweifel, die ihre Akzeptanz gerade durch Abgrenzung von der scholastischen Tradition der Metaphysik gewinnt.605 Die ›neue‹ Metaphysik wird ihrem Anspruch, besser zu sein als ihre scholastische Vorläuferin, nicht gerecht. Das Avertissement lässt die von Descartes ausgehende »nominalistische Kritik am Begriff der Wesenserkenntnis«606 unbeachtet und formuliert ein Konzept von Metaphysik, das demjenigen Arnold Geulincx nahe steht und zwar im Hinblick auf die These, die Metaphysik ermögliche die Erkenntnis ›jedes Dinges an sich‹. Für Geulincx erkennt die ›metaphysica vera‹, welche er von der zu überwindenden peripatetischen Metaphysik abgrenzt, die Dinge, wie sie an sich sind. Das gelingt, indem wir unsere Vorstellungen von den Dingen selbst abstrahieren, sowohl im sinnlichen als auch im intelligiblen Bereich.607 Den Inhalt metaphysischer Erkenntnis betreffend wird mit der Veranschlagung der ›verités sacrées‹ als bedeutendstem Gegenstand an 604 Oeuvres d’Aguesseau, Avertissement, xiv–xv. 605 D’Aguesseaus Methode wird positiv abgegrenzt von »cette aridité rebutante qui regne dans la Métaphysique des Ecoles« (Oeuvres d’Aguesseau, Avertissement, xij). [dieser abstoßenden Trockenheit, die in der Metaphysik der Schulen regiert. Übers. A.K.]. 606 Tilman Borsche: Art. »Metaphysik. VI. Neuzeit.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1976, Sp. 1238–1269, hier Sp. 1240. 607 Borsche: Art. »Metaphysik.,« Sp. 1244.
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Leibniz angeknüpft, für den Metaphysik »Sätze von Gott und der Seele«608 beinhaltet. Im Kontext der Auseinandersetzung um das, was ›gute‹ Metaphysik darstellt, wird Hamanns skeptische Position gegenüber d’Aguesseus Buch verständlich. Denn die antinominalistische Haltung verbunden mit einem profunden Misstrauen gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung (»les illusions des sens«) und vor allem das Insistieren auf dem vorsprachlichen Charakter der ›verités sacrées‹ muss Hamann zuwider sein. Nun spielt der Offenbarungsgedanke bei d’Aguesseau eine zentrale Rolle, was zur Frage führt, ob es für Hamann nicht naheliegender gewesen wäre, in ihm einen ›Verbündeten‹ bei der Verteidigung des Offenbarungskonzepts zu sehen und sich demgemäß eher auf seine Rechtsphilosophie zu stützen. Schaut man sich die zusammenfassende Darstellung im Avertissement an, wird allerdings schnell deutlich, dass d’Aguesseau eine Vorstellung von Offenbarung hat, die Hamann so nicht teilen kann: M. le Chancelier d’Aguesseau étoit convaincu que c’est dans la Divinité seule, que l’on trouve la source de l’obligation morale […] la connaissance du juste & de l’injuste étoit une révélation individuelle & universelle […] c’est au dedans de lui que l’homme doit chercher cette révélation.609 M. le Chancellier d’Aguesseau war davon überzeugt, dass man in der Gottheit allein die Quelle der moralischen Verpflichtung findet […] die Kenntnis des Gerechten und Ungerechten war eine individuelle und universelle Offenbarung […] in seinem Inneren muss der Mensch nach dieser Offenbarung suchen.
Hamann würde zustimmen, dass Gott der Grund für unsere Moralbegriffe ist. Ablehnen würde er hingegen d’Aguesseaus Vorstellung von der Art und Weise, wie diese Begriffe dem Menschen vermittelt werden. Wenn Gott sich dem Menschen in der Schrift, in der Natur und in der Geschichte offenbart, ist die Offenbarung eine Mitteilung und nicht etwas, das sich allein im Inneren des Menschen, in einem geistigen Bereich vollzieht. Hamann bindet, anders gesagt, den Offenbarungsgedanken an einen Prozess der Veräußerung, was d’Aguesseau nicht tut. Diese unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie sich das Wort Gottes für den Menschen vernehmen lässt, kann erklärt und ideengeschichtlich verortet werden, wenn man sie auf die Unterscheidung von äußerem und innerem Wort bezieht. Das innere Wort gehört keiner besonderen Sprache an,610 im Gegenteil, als etwas Invariantes wird es erst auf der Ebene der Sprache diversifiziert. Hierbei handelt es sich um mentale Konzepte, welche, so die Annahme, 608 Borsche: Art. »Metaphysik,« Sp. 1246. 609 Oeuvres d’Aguesseau, Avertissement, iij, Hervorhebung und Übers. A.K. 610 Stefan Meier-Oeser: Art. »Wort, inneres.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel. Basel 2005, Sp. 1037– 1050, hier Sp. 1037–1038.
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unabhängig von den verschiedenen Weisen der Versprachlichung, für alle Menschen dieselben sind. Im Avertissement werden ja die ›verités sacrées‹ ausdrücklich als im ontologischen Sinne präexistierend gegenüber jeglicher Sprache beschrieben. Indem Hamann diese Konzeption zurückweist, sagt er damit auch, dass wir in unserem Denken nicht über die Ebene des Partikularen – das etwa eine bestimmte Sprache oder ein bestimmter lebensweltlicher Kontext darstellt – hinausgelangen können. Da wir aber natürlich allgemeine Werte benötigen, müssen wir uns an das halten, was von Gott bereits in einer bestimmten Sprache offenbart worden ist und versuchen, es in unsere Sprache und Lebenswelt zu übersetzen. So heißt es in den Brocken: Wir haben ein groß Vorurtheil in Ansehung der Einschränkung, die wir von Gottes Wirkung und Einfluß blos auf das jüdische Volk machen. Er hat uns bloß an dem Exempel desselben die Verborgenheit, die Methode und die Gesetze seiner Weisheit und Liebe erklären wollen, sinnlich machen, und uns die Anwendung davon auf unser eigen Leben und auf andere Gegenstände, Völker und Begebenheiten überlassen.611
Hier wird deutlich, dass der Unterschied zwischen Hamann und d’Aguesseau nicht nur in verschiedenen erkenntnistheoretischen Positionen besteht, sondern dass es auch um verschiedene Auffassungen über den Inhalt der Offenbarung geht. Bei d’Aguesseau hat die Offenbarung einen unveränderlichen Inhalt, der ihren universellen Charakter ausmacht. Der Mensch als geistiges Wesen kann diesen Inhalt einsehen; deswegen ist die Offenbarung auch individuell. Bei Hamann hingegen kommt, mit dem Insistieren auf der Offenbarung als geschichtlichem Ereignis, eine Differenz ins Spiel. Sie beinhaltet keine immer gleich bleibenden Werte, sondern stellt eher einen gemeinsamen, für alle Menschen verfügbaren Bezugsrahmen dar, von dem ausgehend sie ihre Werte mithilfe der göttlichen Gesetze erst konstituieren müssen. Andererseits gibt es durchaus eine nicht unbedeutende Gemeinsamkeit zwischen Hamann und d’Aguesseau, die in einer emanzipatorischen Haltung besteht, – allerdings wird diese auf grundverschiedene Weisen realisiert. D’Aguesseau weigert sich, positiven Gesetzen und Befehlen bedingungslos zu gehorchen, deren ›Grund‹ man nicht einsehen kann.612 Gesetze sollen nicht einfach befehlen, sondern ihr Zweck und vor allem ihr Anspruch, gerecht zu sein, 611 Hamann: Brocken, S. 411. 612 Vgl.: Oeuvres d’Aguesseau, S. 3: »je sens en moi, & tous les hommes m’assurent qu’ils sentent aussi en eux, je ne scais quel esprit de révolte & d’indépendance, qui cherche toujours la raison du commandement ou du précepte, qui veut interroger le législateur & juger la loi même.« [Ich fühle in mir, und alle Menschen versichern mir, dass sie dies auch in sich fühlen, ich weiß nicht was für einen Geist des Widerstandes und der Unabhängigkeit, der immer den Grund des Befehls oder der Vorgabe sucht, der den Gesetzgeber befragen und das Gesetz selbst beurteilen möchte. (Übers. A.K.)].
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muss bewiesen werden, damit sie keine Mittel einer tyrannischen Herrschaft werden.613 Hamann hingegen meint zwar durchaus, man müsse den bestehenden Gesetzen gehorchen, besteht aber auf einer vorgängigen Selbstbestimmung des Menschen und artikuliert dementsprechend Widerspruch, wo er diese gefährdet sieht. Für ihn gibt es keinen abstrakten, aus seinen jeweiligen sozialen und historischen Zusammenhängen herausgehobenen ›Menschen vor dem Richter‹, der eine zuverlässige Urteilskompetenz über Wertfragen besitzt wie etwa bei Diderot,614 sondern nur den konkreten Einzelnen, dessen individuelle und beschränkte Vernunft ihn aber nichtsdestoweniger dazu berechtigt, gegen erfahrenes Unrecht Einspruch zu erheben. Das Verhältnis von Naturrecht und biblischem Gebot bei Hamann lässt sich nun näher bestimmen: Die Analysen zu Golgotha und Scheblimini haben gezeigt, dass ›Natur‹ bei Hamann ein weiter Begriff ist, der im Hinblick auf die Begründung von Moral und Recht mehrere inhaltliche Aspekte einschließt. ›Natur‹ ist zunächst derjenige geschaffene Zusammenhang, welcher das Dasein und das Sosein des Menschen konstituiert. Davon ausgehend gibt es Naturgesetze. In Anlehnung an den stoischen Begriff der ›oikeiosis‹ gibt es für Hamann eine primäre Verpflichtung des Menschen, seine Natur, im Verlauf der gattungsmäßigen und individuellen Entwicklung anzunehmen und dementsprechend für sich und sein Dasein zu sorgen, sich als Mensch zu erhalten. Unmittelbar auf diesem Gedanken basierend gibt es für Hamann Verpflichtungen auf einer zweiten Ebene, die eigentlich als moralisch-ethische Ebene bezeichnet werden kann. Der Mensch ist gehalten, mit dem Anerkennen seiner selbst als ein Naturwesen auch alle anderen Lebewesen anzuerkennen und entsprechend zu behandeln. An welcher Stelle sind für Hamann nun die biblischen Gebote, vor allem der Dekalog, zu verorten? Ausgehend von seinem umfassenden Begriff von ›Natur‹ und ›Naturrecht‹ kann er sich der patristischen und lutherischen Identifikation von Naturrecht und mosaischem Recht615 nicht anschließen. Wenn die biblische Überlieferung ein Beispiel für das Wirken Gottes darstellt, welches wir erst durch 613 Vgl.: Oeuvres d’Aguesseau, S. 3: »Que la loi soit sourde, si l’on veut, pour ne point entendre des murmures injustes & téméraires; mais elle ne doit pas être muette sur ses motifs, et si elle-même ne me prouve pas sa justice, je sens quem on esprit se révolte: je n’y reconnois plus une domination légitime, & peu s’en faut que je ne la prenne pour une tyrannie.« [Das Gesetz mag taub sein, wenn man so will, um keinesfalls ungerechtes und verwegenes Murren zu hören; aber es darf keinesfalls stumm im Bezug auf seine Motive sein, und wenn es selbst mir nicht seine Gerechtigkeit beweist, so fühle ich, dass mein Geist sich auflehnt: ich erkenne dort keine legitime Herrschaft mehr an und es fehlt wenig, dass ich es nicht für Tyrannei halte. (Übers. A.K.)]. 614 Siehe Kap. 4.3 Sensus Communis. 615 Zum Naturrecht in der Patristik und bei Luther siehe Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 52–56; S. 68–70.
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einen Prozess der Rezeption und Aneignung auf uns beziehen können, dann gilt dasselbe ebenso für die mosaischen Gesetze als Teil dieser Überlieferung. Es gibt demnach auch keine unmittelbare Übertragbarkeit der biblischen Gebote. Sie sollen zwar durchaus Universalität besitzen, aber nur, wenn man zugesteht, dass aus jeder neuen Bezugnahme auch eine Differenz resultiert. Die biblische Überlieferung gibt, anders gesagt, keine unveränderlichen, fraglos für alle Zeit und alle Menschen gültigen Werte vor, sondern sie ist für Hamann ein gemeinsamer Bezugstext, den wir erst zu unserer eigenen Zeit und Gesellschaft in Beziehung setzen müssen, um von dort ausgehend unsere Wertbegriffe zu konstituieren. Mit dieser Annahme einer hermeneutisch vermittelten Universalität der biblischen Überlieferung unterscheidet sich Hamann von Johann David Michaelis, für den die Relevanz des mosaischen Rechts in einem philosophischen und rechtshistorischen Interesse besteht. Das mosaische Recht wird in dieser Perspektive zu einem Recht unter vielen anderen, dessen Aktualität darin liegt, das Kontingente in den uns heute bekannten Rechtsordnungen erkennen zu können: Ein bloser Rechtsgelehrter kann damit zufrieden seyn/ dass er die Gesetze kennet/ die in seinem Lande gültig sind: allein wer über die Gesetze philosophiren, und, […] wer mit dem Auge eines Montesquieu die Gesetze ansehen will, dem ist es unentbehrlich, die Rechte anderer Völker zu kennen; je entfernter an Zeit und Himmelsstrich, besto besser. Wer weiter nichts als sein eigenes Vaterland, oder die ihm an Zeit und Lage nahen Länder und Völker kennet, dem kommt in den gesetzen manches als nothwendig vor, was doch bey andern Umständen anders seyn muß: das Willkührliche des Rechts, das nach jedem Himmelsstrich und nach hundert andern Umständen Veränderliche der gesetzgebenden Klugheit, fällt ihm nicht in die Augen.616
Eine Beschäftigung mit dem mosaischen Recht ist sinnvoll nicht ausgehend von dem Interesse, darin Leitlinien für unsere eigene Rechtspraxis zu finden, sondern um nicht in eine rechtspositivistische Haltung zu verfallen, welche die bestehenden Gesetze als eine Art Notwendigkeit auffassen würde. Das mosaische Recht ist seinem Inhalt nach nicht mehr verbindlich617; als das »älteste Recht der Kindheit der Völker«618 verhilft es uns zu einer Einsicht in die Genealogie unseres Rechts. 616 Johann David Michaelis: Mosaisches Recht. 1. Theil. Frankfurt am Mayn: bey Johann Gottlieb Garbe 1770, S. 2. 617 Vgl. Michaelis: Mosaisches Recht, S. 6. Michaelis räumt allerdings eine ›negative‹ Gültigkeit der mosaischen Gesetze ein, insofern sie aufzeigen, was »nicht sündlich sey« (S. 7). Es sei »nicht sündlich, wenn ein Gesetzgeber die Knechtschaft erlaubete, denn Moses hat sie geduldet« (S. 7). Damit wird Michaelis’ Position jedoch inkonsistent. Denn wer annimmt, dass sich Rechtsordnungen je nach Land und Zeit unterscheiden müssen, um angemessen zu sein, müsste ja auch zugeben, dass die ›Knechtschaft‹ einer anderen Zeit evtl. nicht mehr angemessen ist. 618 Michaelis: Mosaisches Recht, S. 3.
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Wenn Hamann nun die biblische Überlieferung als einen Bezugstext versteht, der uns zur Konstituierung von Werten eher anleiten als diese vorgeben soll, dann müssen die biblischen Gebote vom Naturrecht, wie Hamann es versteht, begrifflich unterschieden werden. Beides ist nicht miteinander identisch. Es handelt sich viel eher um zwei verschiedene, aber gleichsam relevante ›Quellen‹ bzw. Formen der göttlichen Offenbarung, an die sich der nach normativer Orientierung suchende Mensch halten soll. Von der ›Natur‹ lernt er, mit sich und anderen Lebewesen respektvoll umzugehen, wohingegen die Schrift es ihm ermöglicht, die göttliche Weisheit und Liebe kennenzulernen und von ihr ausgehend seine soziale und politische Existenz zu ordnen. Hamann hat so m. E. seine Lösung für ein Problem gefunden, welches auf eine äußerst komplexe und intensive Weise von John Selden erörtert wird. Selden (1584–1654) spielt in der Naturrechtsdiskussion des 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, weil er sich intensiv mit der jüdischen Rechtsgeschichte auseinandergesetzt hat und seiner Schrift De jure naturali et gentium juxta disciplinam Ebraeorum (1640) talmudische und biblische Texte im Hinblick auf Rechtsbegriffe betrachtet.619 Seldens Suche nach einer natürlichen Grundlage für Religion und Recht620 führt ihn dazu, eine Vermittlungsinstanz anzunehmen, die Aufschlüsse über das von Natur aus ›Rechte‹ zulässt.621 Diese Instanz sind die talmudischen Texte, in denen Gott den Menschen moralische Richtlinien vorgibt.622 Dabei stellt sich aber erneut ein Vermittlungsproblem, nämlich zwischen den zeitgenössischen Lesern und den historischen Texten. Selden muss sich fragen, wie es für den modernen Leser möglich sein kann, die Distanz zwischen seiner Gegenwart und dem biblischen Text zu überbrücken. Es muss sich eine Instanz »between nature and modern society« ausmachen lassen »that is neither so distant as Eden nor so proximate – and suspiciously biased and fanciful – as one’s own heart.«623 Wo Selden nun zurückgreift auf die stoische These, dass die Vorstellung von dem natürlich Rechten jedem Menschen durch seine ›recta ratio‹ gegeben sei,624 schlägt Hamann einen anderen Weg zur Lösung des Problems ein. Zum einen beseitigt er das Problem der Distanz des modernen Menschen zum ›status paradisi‹, indem er letzteren in der Gegenwart verortet. Zum anderen betont er die 619 Hamann besaß dieses sowie andere Werke Seldens. Vgl. N V, S. 48, 57 u. 80. 620 Reid Barbour: John Selden. Measures of the Holy Commonwealth in Seventeenth-Century England. Toronto u. a.: 2003, S. 186. 621 Barbour: John Selden, S. 214: »If nature is an intermediary between divine dispensations and human societies, those societies require intermediaries between themselves and nature.« 622 Barbour: John Selden, S. 214: »Selden’s intermediary point is nothing less than the Talmudic transmission of God’s dispensations of moral rules first to Adam and Eve, then again to Noah and his children.« 623 Barbour: John Selden, S. 215. 624 Barbour: John Selden, S. 215.
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Eigenständigkeit des Menschen bei der Konstituierung von Werten, einerseits durch Setzung, andererseits durch Auslegung und Aneignung der biblischen Überlieferung.
6.
Individuell und Allgemein bei Hamann
Vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen ist es möglich, ein wesentliches Spannungsverhältnis in Hamanns Denken näher zu betrachten. Dieses besteht nämlich zwischen zwei grundverschiedenen Perspektiven, aus denen Hamann sich rechtsphilosophischen Fragestellungen zuwendet. Es lässt sich vorläufig zwischen einer ›individuellen‹ und eine ›allgemeinen‹ Perspektive unterscheiden. Während die erste Perspektive die Freiheit des Einzelnen und seine Fähigkeit, selbst zu urteilen und sich selbst zu bestimmen hervorhebt und verteidigt, betont die zweite Perspektive die Wichtigkeit, sich an bestehende Gesetze zu halten und sich unter Umständen in existierende Formen von Herrschaft zu ergeben. Der erste Blickwinkel scheint, ausgehend von einem christlichem Ideal des Menschseins, die Frage zu beantworten, wie Zusammenleben sein sollte, wohingegen die zweite konservativistische und lutherische Argumente zusammenführt, um Möglichkeiten eines sinnvollen sich Verhaltens zur bestehenden Wirklichkeit zu entwerfen. Es wirkt widersprüchlich, dass Hamann einerseits das Individuum zu seinem eigenen Gesetzgeber ernennt, dass er in seiner Kritik an Mendelssohn die Freiheit nicht durch vorgängige Gesetze eingeschränkt wissen will, dass er schließlich gegen Kant und seine Trennung von privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft energisch seine eigene Freiheit, zu denken, geltend macht625 und dass er andererseits, vor allem im Kleinen Versuch, dafür plädiert, sich einer bestehenden Ordnung zu unterwerfen. Zu fragen ist nun: Wie verhalten sich die beiden Perspektiven zueinander? Wie sind sie jeweils motiviert? Und gibt es für Hamann ein Widerstandsrecht und falls ja, unter welchen Bedingungen? In einem der späten Briefe an Jacobi hat Hamann seine Position ausführlich dargelegt: Ich halte alle Regierungsformen für gleichgiltig, und bin gewiß dass alle Producte und Ungeheuer der Gesellschaft wieder Natur Producte eines höheren Willens sind, den wir anzubeten und nicht zu richten Gewissen und Noth und Klugheit verpflichtet. Der Theokratie geht es wie der Physiokratie; einerley Misverständnis und Misbrauch von ihren Tadlern u Bewunderern, Kunstrichtern u Lobrednern. Meine Zufriedenheit hängt 625 Vgl. dazu Oswald Bayers detaillierte Analyse der Hamannschen Kritik an Kants Aufklärungsbegriff in: Oswald Bayer: Umstrittene Freiheit. Theologisch-philosophische Kontroversen. Tübingen 1981, insbesondere S. 66–96.
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mit diesen Hypothesen meines Glauben sind meiner besten Erkenntnis zusammen, die jeder andere für Wahn halten mag. Hat der Hausvater mit dem Unkraute Geduld und Nachsicht: so mag ein jeder für seinen Acker und Garten sorgen. Ich habe keinen, und mag mir die Finger an Nesseln nicht verbrennen. Ich halte mich an die letzte Worte Davids, so wenig ich auch das Ende dieser Weissagung verstehe und absehe. Alle Monarchen sind in meinen Augen Schattenbilder der güldnen Zeit, wo Ein Hirt und Eine Heerde seyn wird, η καρδια και η ψυχη μια – απαντα κοινα [ein Herz und Seele – alles gemeinsam] wie in der ersten Kirche so im tausendjährigen Reich. Ich rede also von Zeiten in der Ferne und Weite, von Vergangenheit und Zukunft. […] Ein Republicaner liebe sein freyes Vaterland und der Unterthan eines Monarchen trage sein Joch ohne gegen den Stachel zu löcken – Jeder thue seinem Beruff Gnüge aus Liebe der offentl. Ordnung und allgemeinen Ruhe. Saltz in uns und Friede einander.626
Auffällig ist die Bezeichnung von Monarchen als ›Schattenbilder des goldenen Zeitalters‹. Hamann kombiniert hier den Topos der ›aurea aetas‹ mit der christlich-eschatologischen Erwartung des Gottesreiches auf Erden. Der Ausdruck ›Schattenbilder‹ evoziert Platons Höhlengleichnis. Die Menschen in der Höhle halten die Schatten für das Reale und verfallen so einer Täuschung, indem sie Dingen, die an sich keine Substanz haben, Bedeutung beimessen.627 Hamanns Formulierung könnte so eine Aufforderung sein, bestehende Herrschaftsformen, gemessen an der christlichen Verheißung des zukünftigen Reich Gottes, als weniger wichtig anzusehen und in diesem Gedanken Trost zu finden. Andererseits besitzt die Schattenmetapher aber auch eine appellative Funktion. In einem Schattenbild ist ja die schattenwerfende Figur noch erkennbar, wenngleich auf eine abgeschwächte, ungenauere Art und Weise. Die verschiedenen Monarchien dieser Welt wären so eine zwar ›schlechtere‹ Version dessen, worauf der Christ hofft, aber immerhin doch etwas, worin sich das Ideal erahnen lässt. Hamanns eigene Erfahrung politischer Ungerechtigkeit musste ihn nur allzu sensibel dafür machen, dass Herrscher und Beherrschte zumeist gerade nicht in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen, nicht ›ein Herz und eine Seele‹ sind.628 Dennoch sieht Hamann soziale Ordnungen, in denen es Unrecht, Leid und Zwang gibt, als Schattenbilder einer Zeit, in der es ›einen Hirten und eine Herde‹ gab und verfolgt damit zwei Intentionen. Zum einen geht es darum, das Übel – nämlich die Monarchen und ihre zum Teil ungerechte Herrschaftsweise – nicht als absolutes anzusehen, sondern als etwas weniger Gutes. Von der Sachlogik her entspricht die Implikation von ›Schattenbilder‹ der neuplatonischen Erklärung des ›Bösen‹,629 wenngleich Hamann natürlich keinesfalls die 626 ZH VII, S. 464, Hervorhebungen A.K. 627 Platon: Der Staat. Politeia. Griechisch-deutsch. Übers. von Rüdiger Rufener. Düsseldorf, Zürich 2000, 514 a-517 a, S. 566–573. 628 Vgl. dazu: Bayer: Umstrittene Freiheit, S. 84–88. 629 Ich setze ›das Böse‹ in Anführungszeichen, weil der griechische Ausdruck τα κακα nicht
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neuplatonischen metaphysischen Annahmen teilt. Für Plotin ist das ›Böse‹ nichts Eigenständiges, Positives, sondern ein Mangel, konkret ein Mangel an Sein: Nichtseiend sei dabei verstanden nicht als schlechthin nicht existierend, sondern lediglich als von Seienden unterschieden, […] so wie das Schattenbild vom Seienden verschieden ist, oder gar in noch höherem Grade nichtseiend.630
Im Bezug auf Hamanns Beschreibung des goldenen Zeitalters (η καρδια και η ψυχη μια) würde das heißen, es fehle innerhalb der weltlichen politischen Ordnungen an einer geistig-seelischen Einheit, die Herrschende und Beherrschte miteinander verbindet. Das lediglich ›schattenhafte‹ Vorhandensein einer solchen Einheit impliziert eine doppelte Aufforderung, nämlich zum einen an die Monarchen, sich als Hirten zu verstehen, die für ihre Untertanen sorgen und an die Untertanen, das ihrige zur gesellschaftlichen Harmonie beizutragen und in diesem Sinne μια καρδια και μια ψυχη zu sein. Mit ›Einheit‹ ist also im Hamannschen Text kein Verschwinden von Verschiedenheit, keine Aufhebung von Differenz und Individualität gemeint, sondern eher eine Form des Zusammenhalts, der in einer gemeinsamen Orientierung besteht. Besonders deutlich wird dies durch den Zusatz τα παντα κοινα (alles gemeinsam). Die als Ideal angesprochene seelische Einheit wird so als ein gleichberechtigtes Anteilhaben ausgelegt. Ein solches gemeinsames Anteilhaben wird auch von Luther beschrieben in seiner Erklärung, Christen bedürfen untereinander keiner Obrigkeit: Unter den Christen soll und kann keine Obrigkeit sein, sondern jeder ist zugleich dem andern untertan. […] Es gibt unter den Christen keinen, der über den andern stünde, als nur Christus selber und allein. Und was kann es da für eine Obrigkeit geben, wenn sie alle gleich sind und Recht, Macht, Gut und Ehre in einerlei Weise besitzen und wenn dazu keiner des andern Vorgesetzter zu sein begehrt, sondern jeder des andern Untergebener sein will? 631
An dieser Stelle wird das Reich Gottes, in dem Christus regiert, nicht als eine bessere Form von Obrigkeit verstanden wird, sondern als Abwesenheit von Obrigkeit. Der Zustand, in dem alle Menschen alles gemeinsam haben, ist ein herrschaftsfreier Zustand. Hamann erachtet ein solches Ideal einerseits für sinnvoll und akzeptiert andererseits doch die nicht diesem Ideal gemäße Wirklichkeit, was wiederum erklärungsbedürftige Voraussetzungen hat: Hamann primär das moralisch Schlechte meint, womit ein heutiger Leser ›Böses‹ zuallererst assoziiert, sondern sich auf Übel im Allgemeinen bezieht, zu denen moralisch Schlechtes unter anderem gehört, aber auch Deformationen in der Natur, Krankheiten etc. 630 Plotin: Woher kommt das Böse? (Περι του τινα και ποθεν τα κακα). In: Plotins Schriften. Bd. V. Übers. von Richard Harder. Hamburg 1960, S. 205. 631 Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit. Schriften zur Bewährung des Christen in der Welt. Neuüberarbeitet u. hg. von Wolfgang Metzger. Gütersloh 1978, S. 47–48.
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spricht von den ›Hypothesen seines Glaubens und seiner besten Erkenntnis‹; seine Haltung ist demnach nicht allein ein Annehmen von Glaubensinhalten, sondern auch das Ergebnis eigener Denkbemühungen. Zu Beginn der zitierten Briefstelle konstatiert er, alle Regierungsformen seien ihm »gleichgiltig« und er mithin die Frage nach der besten Regierungsform für unentscheidbar halte. Im Hinblick auf das Beste für den Menschen ist keine Regierungsform der anderen vorzuziehen. Sie sind im wörtlichen Sinne gleichgültig im Sinne von austauschbar; eine ist so gut oder schlecht wie die andere. Die Begründung Hamanns für diese Haltung, verdient es nun, genau analysiert zu werden, spielt sie doch auf eine bedeutende philosophische und theologische Diskussion an. Seine Rede von ›Ungeheuern der Gesellschaft wieder Natur‹ verweist auf die im 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Theodizeeproblem erörterte Frage, wie sich bei der Annahme eines gütigen und liebenden Gottes die Existenz von ›Ungeheuern‹ oder ›Monstern‹ erklären lasse, also von Lebewesen, die teilweise oder vollständig deformiert und daher nicht lebensfähig sind. Hamanns Formulierung zufolge gibt es ›Monster‹ oder ›Ungeheuer‹ auch auf der sozialen Ebene. Auch diese Abweichungen von der ›Natur‹ seien im göttlichen Willen begründet und eben deshalb zu akzeptieren, ja sogar gutzuheißen, wenn man ›anbeten‹ wörtlich versteht. Auf den ersten Blick erinnert dies an Leibniz, für den die Gottesliebe »une entiere satisfaction et acquiescence touchant ce qu’il fait«632 fordert. Hamanns Ausdruck beinhaltet aber durch die Doppelung von »Producte« etwas ungemein Beunruhigendes: Wenn »alle Producte und Ungeheuer der Gesellschaft wieder Natur« letztlich »Producte eines höhern Willens« sind, dann entsteht auf der innerweltlichen, sozialen Ebene niemals etwas unabhängig von diesem göttlichen Willen. Es gibt nichts, was konträr, nicht gewollt sein könnte. Der göttliche Wille bringt also notwendig auch das Widernatürliche hervor. Für die Vorstellung vom göttlichen Willen heißt das, dass er nicht an eine vorgängige Norm gebunden ist. Im Gegenteil, der göttliche Wille ›erzeugt‹ (producit) gleichsam regellos, unabhängig von »regles de bonté et de perfection«633 sowohl Natürliches als auch Unnatürliches, sowohl Gutes als auch Böses.634 Ganz anders als Leibniz, für den Gott überhaupt keine Welt geschaffen hätte, wenn es keine beste Welt gäbe,635 fordert Hamann dazu auf, auch das Schlechte als göttliche Absicht zu verstehen. Die Radikalität dieser Implikation zeigt ein Blick auf einige in der Theodizeedebatte verwendeten Argumente, die letztlich dazu dienen, die These zu be632 Leibniz: Discours de Métaphysique, S. 29 [eine vollständige Zufriedenheit und Zustimmung im Bezug auf das, was er tut, (Übers. A.K.)]. 633 Leibniz: Discours de Métaphysique, S. 26, [Regeln der Güte und der Vollkommenheit]. 634 Vgl. dazu auch Hamann: Brocken, S. 412: »Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse«. 635 Schmidt- Biggemann: Theodizee und Tatsachen, S. 91.
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streiten, Gott habe das Böse (im physischen und moralischen Sinn) positiv gewollt. Für Leibniz hat Gott das Böse lediglich zugelassen, nicht als solches bejaht und gewollt.636 Auch Schlechtes sei nicht sinnlos, weil es uns erlaubt, das Gute allererst wahrzunehmen.637 Bei Malebranche638 ist das Böse die zwar bedauerliche, aber notwendige Folge dessen, dass Gott seine Weisheit mehr liebe als seine Geschöpfe.639 Güte und Allmacht als klassische Attribute Gottes sind der Weisheit untergeordnet, denn »la raison universelle s’impose à Dieu même.«640 Wenn es Gott lediglich um seinen eigenen Ruhm zu tun ist,641 ändert auch die Realität von Leiden und Unvollkommenheit nichts an seiner (göttlichen) Perfektion. Terestchenko fasst dies folgendermaßen zusammen: Le mal, la souffrance, l’imperfection du monde n’entachent nullement la perfection divine qu’il contribuent au contraire à rendre davantage estimable et aimable, puisque aussi bien il convient davantage à Dieu d’agir par des voies générales, quoiqu’elles soient abstraites et indifférentes aux êtres singuliers, que par des volontés particulières qui le rendraient instable et changeant.642 Das Böse, das Leiden, die Unvollkommenheit der Welt beflecken keineswegs die göttliche Vollkommenheit; sie tragen im Gegenteil dazu bei, sie umso mehr schätzenswert und liebenswert zu machen, denn genau so gut kommt es Gott mehr zu, durch allge636 Vgl. Leibniz: Discours de Métaphysique, S. 34–35: »mais, si elle [une action] est mauvaise en elle même, et ne devient bonne que par accident, parce que la suite des choses […] corrige sa malignité, et en recompense le mal avec usure, en sorte qu’enfin, il se trouve plus de perfection dans toute la suite, que si tout le mal n’estoit pas arrivé, il faut dire que Dieu le permet, et non pas qu’il le veut, quoy qu’il y concoure à cause des lois de nature qu’il a establies, et parce qu’il en scait tirer un plus grand bien.« [aber, wenn sie (eine Handlung) an sich selbst schlecht ist und nur durch Zufall gut wird, weil die Folge der Dinge ihre Schlechtigkeit korrigiert, und ihr Übel mit Wucher entgilt, so das sich letztlich in der ganzen Folge mehr Vollkommenheit findet, als wenn das ganze Übel nicht geschehen wäre, so muss man sagen, dass Gott es erlaubt, und nicht, dass er es will, wenngleich er dabei mitwirkt aufgrund der Naturgesetze, die er etabliert hat und weil er daraus ein größeres Gut zu ziehen weiß. (Übers. A.K.)]. 637 Achermann: Worte und Werte, S. 144–145. 638 Nicolas Malebranche (1638–1715) vertritt eine Philosophie, der zufolge Gott die alleinige Ursache von allem und daher auch die einzige Instanz zur Erklärung der Welt ist. Die Theodizeefrage spielt eine wichtige Rolle in seinem Denken, das eine stark apologetisch christliche Intention hat. Im Traité de la nature et de la grâce (1680) erklärt er das Böse dadurch, dass Gott als perfektes Wesen immer die ›einfachsten Wege‹ wählt, um einen Zweck zu realisieren, was aber notwendig die Vernachlässigung des individuellen Falls beinhaltet. Dennoch insistiert Malebranche darauf, dass Gott geliebt werden muss und dies auch verdient. Als ihn Francois Lamy als Vertreter einer Doktrin des ›pur amour‹ versteht, wendet er sich jedoch im Traité de l’amour de Dieu (1697) radikal dagegen. Siehe: Terestchenko: Amour etdésespoir, S. 295–340. 639 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 302. 640 Terestchenko: Amour et désespoir, S.305, [die universelle Vernunft drängt sich selbst Gott auf. (Übers. A.K.)]. 641 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 297. 642 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 304.
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meine Wege zu handeln, wenngleich sie abstrakt und gleichgültig gegenüber den einzelnen Wesen sind, als durch besondere Willensentschlüsse, die ihn instabil und wankelmütig machen würden.
Malebranche nimmt jedoch keine Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber den in der Schöpfung vorhandenen Übeln ein, sondern erkennt sie an als »états de fait qui attestent la réalitité d’un mal absolu et qui […] mettent en cause la toutepuissance et la bonté de Dieu.«643 Daraus folgt, dass Gott und das Böse letztlich zusammenfallen,644 allerdings entgegen der ursprünglichen Absicht Malebranches, zu begründen, warum Gott immer noch liebenswert sei.645 In diesem historischen Zusammenhang wirkt nun Hamanns, wenngleich implizit formulierte These, dass Gott und das Böse zusammenfallen, umso drastischer. Denn in Verknüpfung mit seinem antiintellektualistischen Gottesbegriff liegt der Ursprung aller Arten von Übel im göttlichen Willen, deren unbestreitbare Realität nicht mehr zu erklären ist durch die Ohnmacht eines Gottes, der nicht anders kann, als den Gesetzen ›seiner‹ Vernunft zu folgen. Auf die Frage, wie dies für den Glauben überhaupt erträglich sein kann, hat Hamann zwei Antworten – und beide laufen darauf hinaus, die Berechtigung einer Theodizeefrage zu bestreiten. Die erste besteht in einem relativistischen Argument, welches ›gut‹ und ›böse‹ subjektbezogen als Werturteil des Menschen deutet.646 Die zweite bewertet die Frage als eine Form von Anmaßung, durch die übersehen wird, dass ›gut sein‹ allein Gott zukommt: Anstatt also zu fragen: Wo kommt das Böse her? Sollten wir die Frage vielmehr umkehren und uns wundern, dass endliche Geschöpfe fähig sind, gut und glücklich zu seyn. Hierinn besteht das wahre Geheimnis der göttlichen Weisheit, Liebe und Allmacht.647
Hamanns Auffassung von »Zufriedenheit« kann näher bestimmt werden als beruhend auf folgenden »Hypothesen«: Gott ist kein nach menschlichen moralischen Maßstäben vollkommenes Wesen. Dennoch ist er allein gut. Dem »Wechsellauf der Dinge«, dass dem Menschen in seinem Leben sowohl Gutes als auch Böses widerfährt, lässt sich, wie Hamann an die Fürstin Gallitzin schreibt, nur standhalten durch eine »willige Ergebung in den Gottlichen Willen der Vorsehung«, wozu konsequenterweise auch eine »muthige Verleugnung
643 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 335–336, [Tatsachen, welche die Realität eines absoluten Übels bestätigen und welche die Allmacht und die Güte Gottes in Frage stellen. (Übers. A.K.)]. 644 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 340. 645 Terestchenko: Amour et désespoir, S. 310–311. 646 Vgl.: »Gut und böse sind eigentlich allgemeine Begriffe, die nichts mehr als eine Beziehung unserer selbst auf andere Gegenstände […] anzeigen.« N I, S. 304. 647 N I, S. 305.
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unserer eigensinnigsten Schoosneigungen«648 gehört, eingeschlossen des Anspruchs, die göttlichen Entschlüsse mittels der eigenen Vernunft verstehen zu können.649 Zu einer derart ergebenen inneren Haltung sei man, um nochmals auf die bisher analysierte Briefstelle zurückzukommen, durch »Gewissen und Noth und Klugheit verpflichtet.« Von den hier aufgezählten Begründungen haben die ersten beiden einen zweifachen Sinn, einen religiösen und einen weltbezogenen. Das Gewissen kann zum einen das religiöse sein, das sich Gott gegenüber gebunden fühlt, zum anderen das in praktischer Absicht auf die Welt bezogene Gewissen, welches sich fragen muss, wie man bei einer religiösen Grundhaltung sinnvoll mit der Realität des Übels umgehen kann. Entsprechend bezeichnet ›Not‹ einmal die Angst, die ein Christ empfinden muss, wenn seine Welterfahrung die Inhalte seines Glaubens in Frage stellt und zudem die Notwendigkeit, einen geistigen Weg zu finden, um am Missverhältnis zwischen Glaube und Realität nicht zu verzweifeln. Mit ›Klugheit‹ bezieht sich Hamann schließlich auf die lebenspraktische Relevanz seiner Zufriedenheitshaltung. Warum ist es nun ›klug‹, schlechthin alles, was in der Welt passiert, als dem göttlichen Willen gemäß anzusehen? Hamann vertritt eine praktische Philosophie, die sich am Prinzip des ›suum cuique‹ orientiert. Zur Erläuterung seiner ›Hypothesen‹ wechselt er von einer theoretischen zu einer pragmatischen Perspektive: »Hat der Hausvater mit dem Unkraute Gedult und Nachsicht, so mag ein jeder für seinen Acker und Garten sorgen.« Jeder, scheint die Passage zu besagen, soll sich auf den eigenen Lebensbereich beschränken und dafür sorgen, dass in diesem unmittelbaren Umfeld alles in Ordnung ist. Bei genauerer Betrachtung ist hier jedoch wesentlich mehr impliziert. Mit ›Hausvater‹ bezieht sich Hamann auf ein Konzept, das von der griechischen Antike bis in die Frühe Neuzeit dazu diente, die politische und wirtschaftliche Grundorganisation einer feudalen Gesellschaft zu beschreiben und weltanschaulich zu legitimieren.650 Das Haus als die zentrale wirtschaftliche
648 ZH VII, S. 377. 649 Vgl. dazu auch folgende Passage aus einem Brief Hamanns an Steudel: »Das höchste Wesen ist im eigentlichsten Verstand ein Individuum das nach keinem andern Maasstab als den er selbst giebt und nicht nach willkührl. Voraussetzungen unsers Vorwitzes und naseweisen Unwissenheit gedacht oder eingebildet werden kann.« (ZH VII, S. 460). Zwischen Gott und Mensch besteht eine radikale Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit denkt Hamann aber nicht im klassisch philosophischen Sinn, demzufolge das ›ens entium‹ sich jenseits der Individualität befindet. In seinem individuellen, einzelnen Dasein ist Gott vielmehr den Menschen ähnlich, zwischen denen auch eine irreduzible Andersartigkeit besteht. 650 Zur Tradition und ihrer Vermittlung vgl.: Julius Hoffmann: Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand.« Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim, Berlin 1959, S. 5–33.
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Einheit bildet die Grundlage für das Leben im Staat,651 der aus dieser Perspektive als ein Zusammenschluss der einzelnen, für sich ökonomisch autarken Häuser erscheint. Bei Luther wird der Hausstand mit dem Ehestand identifiziert und ist einer der drei Stände, dem jeder Mensch angehören soll.652 Indem Hamann von ›Hausvater‹ spricht, denkt er Gesellschaft ausgehend von ihrer kleinsten Einheit bzw. ausgehend von der kleinsten Ebene, auf der es Autorität gibt. So ist der Hausvater in Zedlers Definition »derjenige, der keiner andern Potestät unterworffen, die Herrschaft in seinem Hause hat, ob er schon noch mit keine Kindern versehen.«653 Wenn ›schon‹ der Hausvater gegenüber allem, was in seinem wirtschaftlichen und persönlichen Bereich an Unordnung existiert, Nachsicht übt, anstelle mit harten Maßnahmen gegen jegliche Unordnung vorzugehen, dann soll auch jeder Einzelne, der natürlich nicht dieselben Machtbefugnisse wie der Hausvater hat, nach denselben Grundsätzen handeln, sprich in seinem Verantwortungsbereich nachsichtig handeln. Grund für diese Empfehlung ist einerseits die Hypothese, auch Übel seien in letzter Instanz gottgewollt und andererseits die durch Klugheit vermittelte Überlegung selbst keinen Schaden nehmen zu wollen. Im Folgesatz bezieht Hamann die über die Hausvatermetapher vermittelte Empfehlung der Nachsicht auf sich selbst: »Ich selbst habe keinen [Garten und Acker], und mag mir die Finger an Neßeln nicht verbrennen.« Hamann gibt erst mal zu, keinen dem ›Hausvater‹ entsprechenden ökonomischen Verantwortungsbereich zu haben. Beachtung verdient nun der Zusatz: Einerseits kann damit die Zufriedenheit gemeint sein, keine soziale Position innezuhaben, die mit ökonomisch-politischer Macht und Verantwortung verbunden ist, wodurch es auch notwendig wäre, zur Selbsterhaltung schließlich doch gegen Übelstände aktiv vorzugehen. Andererseits kann es auch um ein sich Zufriedengeben mit dem Eigenen gehen und um den Unwillen, die von anderen verursachten Übel zu bekämpfen. Für beide Lesarten ist es wichtig, die biblisch-metaphorische Bedeutung von ›Nesseln‹ zu Rate zu ziehen. Zedler fasst diese folgendermaßen zusammen: In der Heil. Schrift werden die Nesseln angeführet als ein Anzeigen 1) der Verwüstung, als Es. XXXIV, 13. da Gott der Herr denen Feinden der Kirche drohet, es sollen Dornen wachsen in ihren Palästen, Nesseln und Disteln in ihren Schlössern. Desgleichen wird Hos. IX, 6. dem Volck Israel unter andern Strafen mit angekündiget, dass Nesseln werden wachsen, wo jetzt ihr liebes Götzensilber stehet, und Dornen in ihren Hütten. […] 2) Der Faulheit; so sagt Salomo Sprichw. XXIV, 30. 31. Ich gieng vor dem Acker des
651 Hoffmann: Hausväterliteratur, S. 11–12. 652 Hoffmann: Hausväterliteratur, S. 37. 653 Zedler: Art. »Hauß=Vater.« In: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 12, Sp. 912.
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Faulen [….] und siehe da waren eitel Nesseln darauf […] 3) Der theuren Zeit, weil die Leute alsdenn vor Hunger Nesseln ausraufen, Hiob XXX, 4.654
Im Zusammenhang mit Hamann ist vor allem die erste Bedeutung ›Verwüstung‹ relevant. Die Nesseln auszureißen wäre gleichbedeutend mit religiösem Ungehorsam, da sie eigentlich, Formen des Unglaubens strafen sollen. Hamanns Weigerung, sich zu ›verbrennen‹ entspringt so nicht nur dem rein weltbezogenen Wunsch nach Selbstschutz, sondern ist zugleich eine Geste der Unterwerfung unter einen als absolute Autorität anerkannten göttlichen Willen.655 In dieselbe Richtung weist die Schlussbehauptung, die allerdings eine Konkretisierung beinhaltet. Jeder solle »seinem Beruff Gnüge« tun und zwar aus »Liebe der offentl. Ordnung.« Der Ausdruck ›Beruf‹ evoziert Luthers Begriff des Standes, zu dem die soziale Position eines Menschen, sein Alter, Geschlecht, und Familienstand gehören.656 Das »menschliche Ethos« folgt »aus dem Pflichtenkreis, den die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand mit sich br[ingt].«657 Die »mit dem Stand verknüpfte geordnete Betätigung des Christen«658 sagt ihm, was er tun soll, wozu er wörtlich berufen ist. An den Begriff des Berufs knüpft sich bei Hamann nun einerseits eine konservativistische Haltung, die ein sich Ergeben in eine bestehende Ordnung fordert, andererseits jedoch ein gegenläufiges Denken, welches eine noch genauer zu charakterisierende Form von Widerstand ermöglicht. In der zitierten Briefstelle wird überaus deutlich, dass der Christ auf keinen Fall dazu berufen ist, eine bestehende Ordnung zu ändern, weil es aus einer religiösen Perspektive keine Ordnung, keine Regierungsform gibt, welche anderen vorzuziehen wäre: »Der Theokratie geht es wie der Physiokratie; einerley Misverständnis und Misbrauch von ihren Tadlern u Bewunderern, Kunstrichtern u Lobrednern.« Es ist ganz egal, ob Herrschaft im Rekurs auf Gott oder über eine Vorstellung von Natur legitimiert wird, weil es unter jeder Regierungsform Übelstände gibt, die ihrerseits jedoch nicht bloß mit der jeweiligen Ordnung an sich zu tun haben und durch eine andere Ordnung behoben werden könnten, sondern von Gott gewollt sind. Mit ›Theokratie‹ und ›Physiokratie‹ verbinden sich indes im 17. und 18. Jahrhundert rechtsphilosophische Kontroversen, die Hamann im Blick zu haben scheint, wenn er von ›Tadlern und Bewunderern‹ spricht. Demnach ist zu klären, worin für Hamann der gemeinsame Irrtum besteht.
654 Zedler: Art. »Nessel.« In: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 23, Sp. 1930–1939, hier Sp. 1937. 655 Vgl. dazu auch Hamanns Bemerkung gegenüber Moser: »die Erhaltung des Unkrauts bis zur Erndte ist die beßte Theodicee des beßten Hausvaters.« (ZH III, S. XXIX). 656 Hoffmann: Hausväterliteratur, S. 35–36. 657 Hoffmann: Hausväterliteratur, S. 36. 658 Hoffmann: Hausväterliteratur, S. 36.
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›Theokratie‹ ist ursprünglich ein Neologismus von Josephus und dient dazu, die Staatsorganisation durch Moses zu charakterisieren. Moses habe die Herrschaft Gott anvertraut und deshalb die Staatsform zu einer Theokratie erklärt.659 Im 17. Jahrhundert wird der Begriff in der politischen Philosophie und der Exegese des Alten Testaments rezipiert, dabei aber verschieden verstanden und bewertet. Unterschiede bestehen bei der Frage, ob und wann das Volk Israel in seiner Geschichte unter einer Theokratie gelebt hat und wie sich die Theokratie zu anderen Staatsformen, vor allem zur Monarchie, verhält bzw. wie die Theokratie überhaupt zu menschlicher Herrschaftsausübung steht.660 Spinoza bezieht den Begriff Theokratie auf Moses und versteht darunter eine Zeit, in der bürgerliche Gesetze und Religionsvorschriften miteinander identisch sind.661 Baxter sieht in der Theokratie, die er als »christlichen Gottesstaat auf Erden«662 versteht, die ideale Staatsform, weil die Souveränität sowieso bei Gott, nicht beim Volk liege.663 Im 18. Jahrhundert entwickelt sich im Zusammenspiel mit der deistischen Philosophie ein negatives Verständnis von Theokratie, entweder als tyrannische Priesterherrschaft bei Reimarus und Voltaire oder als Despotismus eines grausamen Gottes bei D’Holbach.664 Bei Voltaire ist damit gar die geschichtsphilosophische These eines theokratischen Anfangsstadiums menschlicher Gesellschaften verbunden.665 In dem, Voltaires Ansicht darstellenden Artikel »Théocratie« der Encyclopédie666 wird in diesem Kontext eine Erklärung der Ursachen des Despotismus geliefert. Da die Menschen im Anfangsstadium ihrer Geschichte nur einen unvollkommenen Gottesbegriff haben, aber nur das höchste Wesen als ihren Herrscher ansehen wollen, lassen sie sich von Priestern täuschen und unterjochen. Dessen überdrüssig, wählen sie Könige als lebende Repräsentanten der Gottheit, machen aber den Fehler, ihre Macht nicht durch Gesetze einzuschränken. Letztlich behandeln sie die Könige wie Götter und werden selbst wie Sklaven behandelt.667 Der so entstehende Despotismus, wird er durch Priester 659 Wolfgang Hübner: Die verlorene Unschuld der Theokratie. In: Religionstheorie und Politische Theologie. Hg. von Jacob Taubes. Bd. 3: Theokratie. München 1987, S. S. 29–64, hier S. 38. 660 Siehe dazu Hübner: Die verlorene Unschuld, S. 43–55. 661 Hübner: Die verlorene Unschuld, S. 46. 662 Hübner: Die verlorene Unschuld, S. 50. 663 Hübner: Die verlorene Unschuld, S. 49. 664 Hübner: Die verlorene Unschuld, S. 56–57. 665 Bernhard Lang: Theokratie: Geschichte und Bedeutung eines Begriffs in Soziologie und Ethnologie. In: Religionstheorie und Politische Theologie. Hg. von Jacob Taubes. Bd. 3: Theokratie. München 1987, S. S. 11–28, hier. S.16. 666 Lang: Theokratie, S. 16, Anm. 20. 667 Vgl. Art. »Théocratie.« In: Encyclopédie Vol.16, S. 247–248: »Un auteur moderne a regardé la théocratie comme le premier des gouvernemens que toutes les nations aient adoptés; il prétend qu’à l’exemple de l’univers qui est gouverné par un seul Dieu, les hommes réunis en
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oder Könige ausgeübt, hat also seinen Ursprung in einer anfänglichen Unwissenheit und ›Unaufgeklärtheit‹ der Menschen, die ihre Herrschaftsform aufgrund von unvollkommenen religiösen Vorstellungen wählen, anstatt sie auf Natur und Vernunft zu gründen.668 Für Hamann nun liegt diesen so verschiedenen Auffassungen ein gemeinsamer Irrtum zugrunde. Diesen Irrtum beleuchtet seine These, dass »alle Producte und Ungeheuer der Gesellschaft« letztlich »Producte eines höheren Willens« seien. Wenn nämlich schlechthin alles, was an Herrschaftsformen entsteht, einer göttlichen Absicht entspricht, dann ist es gleichermaßen sinnlos, ein theokratisches Staatsideal vor Augen zu haben – geschweige denn eine Gesellschaft daran ausrichten zu wollen – oder die geschichtliche Abfolge von Herrschaftsformen über das (zunächst defizitäre) Wissen der Menschen zu erklären. Despotismus gibt es nicht deswegen, weil die unter einer solchen Herrschaft lebenden Völker in ihrer Geschichte noch nicht so weit fortgeschritten sind, um ihre natürlichen
société ne voulurent d’autre monarque que l’Être supreme. Comme l’homme n’avoit que des idées imparfaites & humaines de ce monarque céleste, on lui éleva un palais […], on lui donna des officiers & des ministres. […] Ces prêtres n’eurent point de peine à gouverner les hommes au nom des idoles muettes & inanimées, dont ils étoient les ministres. […] Les hommes fatigues du joug insupportable des ministres de la théocratie, voulurent avoir au milieu d’eux des symbols vivans de la Divinité, ils choisirent donc des rois, qui furent pour eux les representans du monarque invisible. Bientôt […] ils furent traits en dieux, & ils traitent en esclaves les hommes, qui, croyant être toujours soumis à l’Être supreme, oublièrent de restraindre par des lois salutaires le pouvoir don’t pouvoient abuser ses foibles images.« [Ein moderner Autor sah die Theokratie als erste der Regierungsformen an, die alle Nationen angenommen hätten; er behauptet, dass nach dem Vorbild eines von einem einzigen Gott regierten Universums die Menschen, in Gesellschaft vereinigt, keinen anderen Monarchen als das höchste Wesen wollten. Weil der Mensch nur unvollkommene und menschliche Vorstellungen von diesem himmlischen Monarchen hatte, errichtete man ihm einen Palast […], man gab ihm Kultdiener und Priester. […] Diese Priester hatten gar keine Schwierigkeit, die Menschen im Namen stummer und lebloser Götzen zu regieren, in deren Dienst sie standen. […] Die vom unerträglichen Joch der Priester der Theokratie erschöpften Menschen wollten in ihrer Mitte lebendige Symbole der Gottheit haben, sie wählten also Könige, welche für sie Repräsentanten des unsichtbaren Monarchen waren. Bald […] wurden sie wie Götter behandelt, und sie behandelten wie Sklaven die Menschen, die, weil sie immer glaubten, dem höchsten Wesen unterworfen zu sein, es vergaßen durch wohltuende Gesetze die Macht zu begrenzen, die durch deren schwache Abbilder missbraucht werden konnten. (Übers. A.K.)]. 668 Vgl. Art. »Théocratie,« S. 248: »C’est là, suivant l’auteur, la vraie source du despoitisme, c’està-dire de ce gouvernement arbitraire & tyranique sous lequel gémissent encore aujourd’hui les peoples de l’Asie, sans oser réclamer les droits de la nature & la raison, qui veulent que l’homme soit gouverné pour son bonheur.« [Dort liegt, dem Autor zufolge, die wahre Quelle des Despotismus, d. h. dieser willkürlichen und tyrannischen Regierung, unter der noch heute die Völker Asiens ächzen, ohne es zu wagen, das Recht der Natur und das Recht der Vernunft in Anspruch zu nehmen, welche wollen, dass der Mensch zu seinem Glück regiert werde. (Übers. A.K.)].
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Rechte zu reklamieren, sondern weil jeder Herrschaftsform ein göttlicher Plan zugrunde liegt. Hamann zufolge liegt ein ähnlicher Irrtum auch der ›Physiokratie‹ zugrunde. Ein Blick in die Biga zeigt Hamanns Interesse an den Thesen der Physiokraten: Neben einer umfangreichen Textsammlung669 besaß er eine Schrift Mercier de la Rivières (1719–1801),670 nämlich L’ordre naturel & essentiel des Societés politiques (1767).671 Mercier leitet aus der psychologischen Verfasstheit des Menschen seine Rechte ab. Die Gesellschaft sei dazu da, diese Rechte zu schützen672, wobei die soziale Ordnung als »Teil der allgemeinen Naturordnung«673 aufgefasst wird. Mercier sagt ausdrücklich, es gäbe nur eine Gesetzmäßigkeit in der Welt, nämlich eine physische. Zwischen Naturabläufen im engeren Sinn und menschlichen Handlungen besteht demnach kein wesentlicher Unterschied mehr, denn beide Bereiche unterliegen derselben kausalen Struktur: »Si quelqu’un faisoit difficulté de reconnoitre l’ordre naturel et essential de la société pour une branche de l’ordre physique, je le regarderois comme un aveugle volontaire, et je me garderois bien d’entreprendre de le guérir. En effet, c’est fermer les yeux à la lumière que de ne pas voir que l’institution de la société est le résultat d’une nécessité physique; qu’elle se forme par un concours de causes physiques; qu’elle est compose d’êtres physiques; qu’ainsi son ordre primitive & essential est physique; car c’est n’est que par les loix de l’ordre physique, que des causes ou des moyens physiques peuvent être lies à leurs effets physiques.«674 Wenn jemand Schwierigkeiten dabei machte, die natürliche und wesentliche Ordnung der Gesellschaft als einen Zweig der physischen Ordnung anzuerkennen, so sähe ich ihn als einen willentlichen Blinden an und ich hütete mich wohl davor, seine Heilung zu unternehmen. Tatsächlich heißt es die Augen zu verschließen, wenn man nicht sieht, dass die Einrichtung der Gesellschaft das Resultat einer physischen Notwendigkeit ist; dass sie sich durch ein Zusammenwirken von physischen Ursachen bildet; dass sie aus physischen Wesen besteht; dass also ihre grundlegende und wesentliche Ordnung physisch ist; denn nur durch die Gesetze der physischen Ordnung können physische Ursachen oder Mittel mit ihren physischen Wirkungen verbunden werden.
669 »Physiocratie, Recueil publié par du Pont, Tom. I–VI. Yverd. 768. 69.« (N V, S. 78). 670 Eine informative und umfassende Darstellung gibt Edmund Richner: Le Mercier de la Rivière. Ein Führer der physiokratischen Bewegung in Frankreich. (= Zürcher volkswissenschaftliche Forschungen. Bd. 19). Zürich 1931. 671 N V, S. 78. 672 Wilhelm Hasbach: Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von Francois Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie. In: Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen. Hg. von Gustav Schmoller. Bd. 10.2. Leipzig 1890, S. 60–61. 673 Hasbach: Die allgemeinen Grundlagen, S. 64. 674 Pierre-Paul Le Mercier de la Rivière: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques. Londres 1767, S. 38.
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Die Verwendung eines weiten Begriffs von ›Naturgesetz‹, welcher sowohl physische Prozesse als auch menschliche Handlungen umschließt, ist Mitte des 18. Jahrhunderts nicht gänzlich neu: Simone de Angelis hat eine solche Konzeption bei dem englischen Naturrechtsdenker Richard Cumberland im Werk De Legibus Naturae (1672) untersucht und gezeigt, dass sich sein Konzept von Naturgesetz aus Interesse an verschiedenen Wissenschaften (Physik, Medizin, Biologie u. a.) konstituiert.675 Ob bei Mercier ein ähnlich differenzierter Naturgesetzbegriff vorliegt, kann ich hier nicht entscheiden. Seine These, dass Gesellschaft aus einem Zusammenwirken physischer Ursachen (›concours des causes physiques‹) entstehe, deutet zumindest darauf hin, dass der Bereich des Physischen in sich ausdifferenziert ist und unterschiedliche Arten von Ursachen einschließt. Wichtig für den Zusammenhang bei Hamann ist der grundlegende Ansatz, von einem naturhaften Sein auf ein Sollen zu schließen. Das kommt sehr gut in einer Passage zum Ausdruck, welche als eine naturalistische Begründung von Werten gelesen werden könnte. Mercier de la Rivière bemerkt im Schlusskapitel, dass die menschliche Natur der Einführung einer idealen Ordnung keineswegs entgegenstehe, sondern sie begünstige. Leidenschaften und Bedürfnisse besäßen eine teleologische Struktur, indem sie dem Menschen von Gott als Mittel an die Hand gegeben seien, um eine Ordnung zu verwirklichen, die dem Ziel der Glückseligkeit am zuträglichsten ist: L’établissement de l’ordre naturel & essentiel des Sociétés ne demande point des hommes nouveaux, […]. Ne vous imaginez pas que pour parvenir à cet établissement, il faille commencer par l’anéantissement de nos passions: il n’appartient pas à l’humanité de les éteindre; mais elle peut les modifier, les diriger […] qouiqu’elles ne soient jamais affectées que de leur intérêt personnel, elles nous sont données cependant comme les moyens que la raison doit employer pour nous soumettre à un ordre immuable institute par l’Auteur de la nature pour gouverner les hommes tells qu’ils sont, pour faire servir à leur bonheur temporel […].676 Die Einrichtung der natürlichen und wesentlichen Ordnung der Gesellschaften verlangt gar keine neuen Menschen, […]. Glauben Sie nicht, dass man, um zu dieser Einrichtung zu gelangen, mit dem Vernichten unserer Leidenschaften beginnen müsse: Es kommt der Menschheit nicht zu, sie auszuschalten; aber sie kann sie verändern, dirigieren […] obwohl sie immer nur von ihrem persönlichen Interesse berührt werden, sind sie uns indessen als Mittel gegeben, welche die Vernunft gebrauchen muss, um uns einer un-
675 Simone de Angelis: Lex naturalis, Leges naturae, »Regeln der Moral.« Der Begriff des ›Naturgesetzes‹ und die Entstehung der modernen ›Wissenschaften vom Menschen‹ im naturrechtlichen Zeitalter. In: ›Natur‹, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer, Lucas Marco Gisi. Heidelberg 201, S. 47–70, insbes. S. 58–69. 676 Mercier de la Rivière: Ordre nature et essentiel, S. 435–436.
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veränderlichen Ordnung zu unterwerfen, die vom Urheber der Natur eingesetzt wurde, um die Menschen so, wie sie sind, zu regieren, um ihrem zeitlichen Glück zu dienen.
Dem naturhaften Sein des Menschen ist eine Ausrichtung auf das Sollen eingeschrieben. Damit die ideale Gesellschaftsform entsteht, bedarf es für die an sich egoistischen Bedürfnisse des Menschen lediglich eines regulierten Entfaltungsrahmens. Aus der psycho-physischen Grundstruktur des Menschen ergibt sich also wie von selbst die angemessenste Ordnung.677 Damit ist bei Mercier de la Rivière eine hedonistische und eudämonistische Moralphilosophie verbunden. Das wesentliche Merkmal der ›ordre naturel‹, welche die Gesellschaftsordnung zu verwirklichen hat, bestehe in der »liberté de jouir«678, deren Voraussetzung die Möglichkeit zur Verfügung über das Eigentum ist.679 Mit ›Natur‹ ist also kein Gegenpol zur ›Kultur‹ gemeint, kein primitiver Zustand, in den die Menschen zu ihrem Glück zurückkehren sollten. Im Gegenteil, das »freie Auswirken der Naturgesetzlichkeit führt zur Kultur.«680 Worin besteht nun für Hamann der Denkfehler, der den Theokratiekonzeptionen auf der einen und dem physiokratischen Denken eines Mercier de la Rivière gemeinsam ist? Im Hinblick auf die Physiokratie muss hier auf die Differenzen im Naturbegriff verwiesen werden. Hamann und Mercier de la Rivière verbinden mit ›Natur‹ zwar eine hedonistische Haltung, die sich auch aus der Anerkennung der psychischen Verfasstheit des Menschen ergibt, ansonsten sind ihre Naturbegriffe jedoch grundverschieden. Im Unterschied zu Hamanns ungeordneter, chaotischer Natur, denkt Mercier de la Rivière ›Natur‹ ausgehend vom ›ordo‹-Gedanken. Entsprechend identifiziert er das von Natur aus Notwendige mit dem Gerechten und formuliert so einen utilitaristisch anmutenden Rechtsbegriff.681 Demgegenüber versteht Hamann unter ›Natur‹ keineswegs eine notwendigerweise determinierende Instanz, welche den Menschen bestimmte Werte immer schon vorgeben würde. Bei all seiner Sympathie für primitivistische Vorstellungen, für ein Orientieren an den Leidenschaften, betont er doch, dass Werte ein Ergebnis einer gegenseitigen Auseinandersetzung zwischen Menschen sind und diese grundsätzlich die Freiheit haben, neue und andere Werte zu schaffen. Allgemein scheint es Hamann hier aber um etwas viel Grundsätzlicheres zu gehen. Woran er sich stört, sind nicht so sehr spezifische Inhalte, sondern die Art 677 Diese beste Ordnung ist für Mercier de la Rivière die absolute Monarchie. Dazu und zu seinem Begriff des legalen Despotismus siehe Folkert Hensmann: Staat und Absolutismus im Denken der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung von Quesnay bis Turgot. Frankfurt a. M. 1976, S. 175–200. 678 Mercier de la Rivière: Ordre nature et essentiel, S. 37. 679 Zur Funktion des Eigentums siehe Hasbach: Die allgemeinen Grundlagen, S. 61, S. 63–64. 680 Richner: Le Mercier de la Rivière, S. 149. 681 Richner: Le Mercier de la Rivière, S. 119.
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und Weise des Zugriffs auf die Frage, ob und wie eine gute soziale Ordnung entstehen kann. Hamanns ›Hausväterbeispiel‹ zeigt, dass er nicht von der Beschaffenheit einer sozialen Ordnung überhaupt ausgehen möchte, sondern von der Position des Einzelnen. Ihn interessiert nicht die Frage, welche Ordnung für den Menschen an sich wünschenswert ist und an welchem allgemeinen Prinzip sie orientiert sein muss,682 sondern wie der Einzelne unter Voraussetzung seiner Existenz in einer bereits vorgegebenen und als solcher nicht veränderbaren Ordnung sinnvoll handeln kann. Die Strukturen der Gesellschaft, in der ich lebe, kann ich als Ganzes nicht verändern, aber ich kann für meinen ›Acker und Garten sorgen‹, also den mich angehenden Teilbereich der Gesellschaft positiv gestalten und verändern. Aus dieser Perspektive wird verständlich, dass Hamann gegenüber der bestehenden sozialen und politischen Wirklichkeit keine ausnahmslos passive Haltung einzunehmen pflegt. Für ihn steht Widerstand in Form von Widerspruch durchaus im Einklang mit seiner Vorstellung vom ›Beruf‹ des Autors. Zu den Texten, in denen er auf diese Weise Widerstand übt, zählen Au Salomon de Prusse683 und seine in einem Brief an Krauss dargelegte Kritik an Kants Aufklärungsbegriff.684 Es ist bezeichnend, dass Hamann auch im Zusammenhang mit seiner Autorschaft von »einer höheren Hand« spricht, welche seinen »Beruff, ohne ihn selbst zu kennen, entwickeln wird.«685 Das Schreiben als solches entspricht einer göttlichen Intention und Lenkung, die jedoch Spielraum für die freie Entscheidung des Autors selbst lässt. Das schließt für Hamann die Ansicht ein, dass Aufklärung praktische Konsequenzen haben und sich mit der sozialpolitischen Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Unmittelbar mit dem Begriff des ›Berufs‹ ist eine weitere Variante des Spannungsverhältnisses zwischen einer ›individuellen‹ und einer ›allgemeinen‹ Perspektive verbunden: Es geht um das Konzept der Glückseligkeit in Golgotha und Scheblimini. Denn wie ist es zu verstehen, dass Hamann einerseits, wie Eric Achermann gezeigt hat, den Menschen dazu ermächtigt sieht, selbst Werte zu 682 Die Ansicht, dass es sich aufgrund der Verschiedenartigkeit der Menschen nicht entscheiden lasse, welche Regierungsform die schlechthin beste ist, teilen Hamann und Mendelssohn. Siehe Mendelssohn: Jerusalem, S. 21–22: »Im Grunde ist sie [d. h. die Frage nach der besten Regierungsform] zu unbestimmt, fast so wie jene medicinische Frage von gleicher Art: Welche Speise ist die gesundeste? Jede Complexion, jedes Clima, jedes Alter, Geschlecht, Lebensart u.f.w. erfordert eine andere Antwort. Eben so verhält es sich mit unserm politischphilosophischen Problem. Für jedes Volk, auf jeder Stufe der Cultur, auf welcher es stehet, ist eine andere Regierungsform die beste.« Hamann und Mendelssohn sind sich einig darüber, dass ein Denken, welches nach dem Menschen an sich fragt, der Vielgestaltigkeit menschlicher Lebensformen nicht gerecht werden kann. 683 Zu Hamanns Kritik an Friedrich II in diesem Text siehe Bayer: Zeitgenosse, S. 134–137. 684 Zu den politischen Bezügen siehe Bayer: Umstrittene Freiheit, S. 84–88. 685 ZH IV, S. 57.
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schaffen, weil er dadurch seine in einer vollkommenen Freiheit bestehende Gottesebenbildlichkeit realisiert,686 und dass er andererseits das menschliche Glücksstreben betont einschränkt. Hamann schreibt: Er [der Mensch] hat also weder ein physisches noch moralisches Vermögen zu einer anderen Glückseeligkeit, als die ihm zugedacht, und wozu er beruffen ist. Alle Mittel, deren er sich zur Erlangung einer ihm nicht gegebenen und beschärten Glückseeligkeit bedient, sind gehäufte Beleidigungen der Natur und entschiedene Ungerechtigeit. Jede Lüsternheit zum Besserseyn ist der Funke eines höllischen Aufruhrs.687
Die Textstelle enthält zwei Behauptungen: 1. Das »Vermögen« des Menschen beschränkt sich auf eine ihm bestimmte Glückseligkeit. 2. Versuche, dieses ihm Zugeteilte zu übersteigen, sind Verstöße gegen die Natur und daher ungerecht.688 Was meint Hamann mit dem »Vermögen« des Menschen zur Glückseligkeit? Worin besteht genau die Ungerechtigkeit seines Handelns? Handelt es sich dabei um ein bloß quantitatives Kriterium, so dass der Verstoß in einem mehr haben Wollen besteht? Oder liegt Hamanns Äußerung ein qualitatives Kriterium zugrunde, wonach der Verstoß in einem Streben nach ›falschen‹ Glücksgütern bestünde? Offensichtlich hat Hamanns Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines metaphysischen Zugangs zum Begriff der Gerechtigkeit ihn keineswegs daran gehindert, seinerseits einen Begriff von Gerechtigkeit zu haben. In der zitierten Passage bezieht sich Gerechtigkeit nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern hat eine ontologisch, ja kosmologische Bedeutung. Ein Ansatzpunkt findet sich im Schlusssatz: Wenn der Mensch danach strebt, ›besser‹ zu werden, sich selbst also zu vervollkommnen, verlangt er nach etwas, das über das ihm Gegebene hinausgeht. Die Ungerechtigkeit seines Strebens wäre dann in der Undankbarkeit zu suchen gegenüber der Natur, die ihn mit bestimmten, individuellen Anlagen und Fähigkeiten ausgestattet hat, ihm also ›seine‹ eigene Natur verliehen hat. So verstanden, tritt Hamann für eine bescheidene Haltung der Zufriedenheit und Dankbarkeit ein. Es ist indes noch genauer zu klären, worin für Hamann das Inakzeptable des Strebens, ›besser zu sein‹ besteht. Im Gespräch mit der Fürstin Gallitzin über religionsethische Fragen tadelt er ihr Bestreben nach Vollkommenheit und deutet es als Stolz.689 Obsessive Anstrengungen zur Selbstvervollkommnung 686 Achermann: Natur und Freiheit, S. 90; S. 96. 687 Hamann: Golgotha und Scheblimini, S. 80. 688 Arno Kriegs Lesart der Passage, der in seinem Begehren nicht eingeschränkte Mensch handele gegen sein eigenes Glück, ist zwar im Ganzen plausibel, erklärt aber nicht den Beug zur Natur und zur Frage der Gerechtigkeit. Vgl. Krieg: Der Ursprung der Verlässlichkeit, S. 115–116. 689 Ludwig Giesebrecht: Hamann und Franz von Sales. In: Damaris 3 (1862), S. 297–347, hier S. 306.
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kommen so der ›superbia‹ gleich. Für Augustinus macht der Stolze »sich selbst zur Mitte seines Lebens« und folglich wird »die objektive Ordnung missachtet«690. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass der Mensch nicht etwas aus sich machen solle, sehr wohl aber, dass es ihm nicht ansteht, das ihm Gegebene gewissermaßen überbieten zu wollen, indem er sich ausschließlich auf sich selbst und nicht auch auf Gott konzentriert. Die Pointe der Hamannschen Auffassung zeigt sich in Kontrast mit Kants These von der Pflicht zur eigenen Vollkommenheit. Für letzteren ist der Mensch gehalten, sich nicht nur als seelisch-leibliches Wesen zu vervollkommnen, d. h. seine Anlagen zu pflegen, sondern auch in Punkto Moral eine Verbesserung anzustreben: Sie [die moralische Vollkommenheit, A.K.] besteht erstlich, subjektiv, in der Lauterkeit [puritas moralis] der Pflichtgesinnung: da nämlich, auch ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten, das Gesetz für sich allein Triebfeder ist und die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht geschehen. […] Zweitens, objektiv, in Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die Vollkommenheit, d.i. seine ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst betrifft […] zu welchem Ziele aber hinzustreben beim Menschen immer nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur andern ist.691
Im Hinblick auf Hamanns Auffassung, der Mensch sei nur durch den Glauben gut, dieser aber nicht Gegenstand seines eigenen Wollens, wäre die Absicht, aus bloßer Pflicht handeln zu wollen, eine Anmaßung. Der Mensch würde damit seine psychische Natur, zu der eigene Interessen notwendig gehören, nicht akzeptieren und dadurch ›die‹ Natur beleidigen. Dabei ist indes Hamanns Verhältnis zum Problem der Glückseligkeit noch nicht hinreichend in den Blick genommen. Denn was wäre eigentlich so anstößig daran, möglichst glücklich sein zu wollen und den Wunsch zu haben, das eigene Glück zu erhöhen oder zumindest zu perpetuieren? ›Glückseligkeit‹ in der philosophischen Tradition der ›eudaimonia‹ meint keine bloß emotionale Befindlichkeit, sondern steht »für das Gedeihen und das Gelingen des Lebens im Ganzen«692. Der Fokus liegt nicht auf einzelnen Momenten und der Art und Weise, wie sie subjektiv erlebt werden, sondern auf der »Gesamtheit der Tätigkeitsvollzüge und Umstände eines ganzen Lebens,«693 welche aus einer übergeordneten, objektiven Perspektive bewertet werden sollen. 690 Urs Thurnherr: Art. »Stolz.« In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Hg. von Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1998, Sp. 201–208, hier Sp. 202. 691 Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 386–387. 692 Jörn Müller: »Glücklich ist, wer Gott hat«: Beatitudo beim frühen Augustinus. In: Gott und die Frage nach dem Glück. Anthropologische und ethische Perspektiven. Hg. von Jörg Disse u. Bernd Goebel. Frankfurt a.M. 2010, S. 14–59, hier S. 14. 693 Müller: Beatitudo beim frühen Augustinus, S. 15.
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Nach Hamann kann der Mensch zwar danach streben, einzelne Momente seines Lebens als glücklich zu erleben; aber er ist nicht in der Lage dazu, sein Leben als Ganzes über die ihm zugedachte Glückseligkeit hinaus zu ›verbessern‹ und dies soll er eben auch nicht wollen. In diesem Sinn nennt er die Glückseligkeit ein Vermögen und verwendet damit einen Begriff, der »die Möglichkeit (potentia) bezeichnet, etwas zu tun oder zu erleiden.«694 So gesehen ist der Mensch weder dazu fähig, selbst aktiv seine Glückseligkeit zu maximieren noch diese, etwa durch einen göttlichen Entschluss, zu erfahren. Dennoch bleibt an dieser Stelle ein Problem bestehen, auf welches Hamanns Überlegungen keine Antwort geben: Was jemandem genau an Glückseligkeit zugedacht ist, kann er aus seiner Perspektive, die notwendigerweise immer auf die Gegenwart und Vergangenheit beschränkt ist, gar nicht wissen. Niemand ist in der Lage, sein eigenes Leben als eine Ganzheit in den Blick zu nehmen. Und warum sollte er daher nicht danach streben, im Verhältnis zum schon Erlebten glücklicher zu sein bzw. es durch Bemühungen zu werden? 695
7.
Religion und Staat
Für Hamann ist Religion eine persönliche Angelegenheit, die mit dem Staat recht wenig, wenn nicht gar überhaupt nichts zu tun hat. Das impliziert ja seine These, dass die Regierungsformen im Hinblick auf die eschatologische Erwartung des Christen gleichgültig sind. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass Hamann – um es vorsichtig zu formulieren – stellenweise durchaus den Gedanken einer näheren Beziehung von Religion und Staat erwägt. Arno Krieg hat bemerkt, Hamann verstehe das Verhältnis von Staat und Kirche nicht als ein bezugloses Nebeneinander.696 Stefan Majetschak betont, für Hamann sei die Glückseligkeit nicht allein durch einen Zustand äußeren Friedens gewährt, sondern stehe auch in Beziehung zur Kirche.697
694 Achermann: Natur und Freiheit, S. 80. 695 Gerade Hamanns Insistieren auf dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen müsste ihn m. E. dazu geführt haben, diese Frage mehr zu berücksichtigen. 696 Krieg: Der Ursprung der Verlässlichkeit, S. 121: »Keine schiedlich-friedliche Trennung, sondern eine in der Schrift gegründete Zuordnung ist die Folge solcher Begründung der Geltungskraft der Verträge. Und die Pflicht gegen Gott ist nicht dadurch schon erfüllt, dass man die leidige Pflicht gegen den Kaiser hinter sich gebracht hat.« 697 Stefan Majetschak: »Das Gängelband der Sprache und Schrift.« Das Sprachthema in Johann Georg Hamanns Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn. In: Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten internationalen Hamann-Kolloquiums an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg 2002. Hg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M., Berlin 2005 S. 475–492, hier S. 480–481.
Religion und Staat
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Was sind also die Konsequenzen der Hamannschen Haltung im Hinblick auf das Verhältnis von Religion und Staat? Ein guter Ausgangspunkt ist Hamanns Ablehnung der religiösen Toleranz, weil hier gleichsam in nuce die Beziehung zwischen Religion und politischer Ordnung verhandelt wird. Das »erträumte oder erlogene Paradies sotadischer Toleranz« sei »nichts als ein todtes Salzmeer.«698 Wilhelm Schmidt-Biggemann hat ausgeführt, dass es eine Voraussetzung des modernen Toleranzgedankens ist, Religion auf Innerlichkeit festzulegen und der Verantwortung des Einzelnen zu überantworten.699 »Religion wurde […] zum Prototyp von Gesinnung, in der das Denken frei ist und das Handeln nur nach dem Gesetz sein musste. Religion war der Ort der Gedankenfreiheit.«700 Hamann scheint eine Freiheit des Denkens, deren Entsprechung eine Freiheit der Religionsausübung, auch im Sinne einer freien inhaltlichen Bestimmung der Religion, wäre, nicht zu bejahen. So heißt es, der Ritter von Rosencreuz kenne »kein Arkadien oder Eldorado […], wo man Gott seegnet, wie man will.«701 Der Ritter segnet »alle brünstige[n] Jünglinge und Greise, nicht nach eigener Willkühr der Andacht, sondern aus einer Litaney im höhern Chor.«702 Die Frage ist, wogegen Hamann hier polemisiert: Bestreitet er das Recht des Einzelnen, sein Religionsverständnis individuell zu gestalten oder geht es hier um etwas ganz anderes? Eine mögliche Erklärung für Hamanns Haltung findet sich, wenn man Schmidt-Biggemanns Erklärungen zu den Implikationen des Toleranzgedankens hinzuzieht. Religion wurde – als natürliche Religion – mit Ethik identifiziert und als Mittel zur Affirmation der politischen Ordnung verstanden.703 Hamann kann sich einem solchen Religionsverständnis nicht anschließen, was seine Kritik an der natürlichen Religion einerseits und sein gespanntes Verhältnis zur absolutistischen Herrschaft Friedrich des II andererseits zeigt. Gleichwohl scheint sein Ritter von Rosencreuz für mehr als die bloße Weigerung zu stehen, Religion in den Dienst staatlicher Autorität zu stellen. In der »Litaney im höhern Chor« 698 699 700 701 702 703
N III, S. 30. Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen, S. 169. Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen, S. 170. N III, S. 30. N III, S. 30. Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen, S. 172: »Wenn die Religion so durch den souveränen Staat in Dienst genommen werden konnte, dann war sie nützlich und folglich tolerabel. […] Die natürliche Religion, die zugleich vernünftige Religion war, wurde damit implizit zur Staatsraison. […] Die politische Funktion der Religion bestand in der Stabilisierung der politischen Verhältnisse; der gemeinsame Bereich von Religion und Politik war die Ethik. Aus politischen und religiösen Gründen zugleich verpflichtete sie – und diese Pflicht war zugleich die praktische Obligation der Innerlichkeit, die nicht mehr an positive Religion gebunden war Durch die Beschränkung der Religion auf die Innerlichkeit und die Dequalifikation aller religiösen Organisationen war zwischen natürlicher Religion und Ethik kein Unterschied mehr übrig.«
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klingt die utopische Vorstellung einer Gesellschaft an, welche nicht durch eine moderne stattliche Autorität organisiert wird, sondern ihren Zusammenhalt über gemeinsame Glaubensinhalte und religiöse Werte herstellt. Wenn diese Stelle als maßgeblich gelten kann, dann hat Hamann – gerade bei seiner (realistischen) Ergebenheit in die bestehende Ordnung – durchaus ein Ideal religiöser Gesellschaft in dem Sinne, wie sie Reid Barbour beschreibt: By the phrase ›religious society‹ I mean that the social unit in question subsumes all of its practises, habits of thought, customs, institutions, and history under a predominantly shared sense of divine dispensations and warrants […].704
Hamanns Freiheitsdenken findet demnach dort eine Grenze, wo er seine christlich-religiöse Weltanschauung gefährdet sieht. Wenngleich sein Verständnis vom Christentum auf einem emphatischen Freiheitsbegriff aufbaut, ist er nicht bereit, so weit zu gehen, diese Freiheit auch auf Formen und Inhalte von Religion überhaupt auszudehnen. Es ist naheliegend, hier zu fragen, ob es bei Hamann Ansätze zu einem konservativistischen Denken gibt. Ist nicht der Schluss des Kleines Versuchs mit Hamanns Aussage, sein Kopf ruhe »auf dem Küssen der Religion und Gesetze noch sanfter«705,ein durchaus konservatives Beharren auf der Priorität des Althergebrachten und der Bindung des Rechts an einen göttlichen Willen? 706 Könnte nicht die These vom Naturvertrag gelesen werden als eine konservative Auffassung von der »ontologischen Qualität«707 des Rechts? Und zeigt sich nicht in der Skepsis gegenüber der Urteilskompetenz des Einzelnen eine Nähe zur konservativen Verurteilung der individuellen Vernunft? 708 M. E. nach gibt es bei Hamann eine Tendenz zur Verwendung konservativistischer Argumente, wenn er den Anspruch der Religion, eine Orientierungsquelle für Werte zu sein, in Frage gestellt sieht. Dabei ist Hamann jedoch kein Befürworter eines konservativistischen Weltbildes. Denn dann könnte er Recht nicht als menschliche Setzung verstehen, sondern müsste argumentieren, dass auch Neues eigentlich nur eine »Wiederentdeckung des inzwischen irgendwie abhanden gekommenen ›wahren Sinnes‹ des Rechts«709 sei.
704 Barbour: John Selden, S. 4. Was Barbour hier so treffend mit Blick auf Selden formuliert, lässt sich als griffige Definition religiöser Gesellschaft auch auf Hamann beziehen. 705 N IV, S. 416. 706 Zu diesen Argumenten des Konservativismus siehe Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986, S. 66–67. 707 Kondylis: Konservativismus, S. 66. 708 Zum Vorrang der kollektiven gegenüber der individuellen Vernunft siehe: Kondylis: Konservativismus, S. 150–152. 709 Kondylis: Konservativismus, S. 67.
Fazit
Hamanns Denken weist eine Dialektik auf zwischen dem Insistieren auf Freiheit und der Sensibilität für Formen des ›gebunden Seins‹ und ›bestimmt Werdens‹. Sein Freiheitsbegriff beinhaltet pragmatische, theoretische und ideelle Aspekte. In pragmatischer Hinsicht müssen wir uns selbst und anderen unterstellen, frei zu sein, um moralische Urteile fällen zu können. Theoretisch gesehen ist Freiheit etwas, das der Mensch für Hamann potentialiter immer schon hat, nämlich als ein göttliches Geschenk, und als das Moment seiner Natur, welches seine spezifisch menschlichen Fähigkeiten erst ermöglicht. Auf der ideellen Ebene ist Freiheit schließlich das, was im Laufe der individuellen Entwicklung erst verwirklicht werden soll. Dabei ist Freiheit an eine psychologische Voraussetzung gebunden und zwar an die Selbstliebe. Hier wird ein innovativer Zug im Denken Hamanns deutlich, weil er den Begriff der Selbstliebe differenziert und seine moralphilosophisch negative Konnotation aufhebt. Es gibt einerseits die affektive Selbstliebe, welche auf die Erhaltung des Einzelnen ausgerichtet ist. Der Mensch liebt, was ihm gehört und ihm in seinem Leben nützlich ist. Andererseits gibt es die ideelle Selbstliebe, welche die Selbsterkenntnis voraussetzt. Indem ich mir bewusst werde, dass »ich« nur in einem sozialen Zusammenhang existiere, erkenne ich mich im anderen und liebe dementsprechend mich selbst und meinen Nächsten. Hamann argumentiert, dass die affektive Form der Selbstliebe die Grundlage für die zweite Form der Selbstliebe bildet, indem das spontane, vorreflexive Suchen nach Gesellschaft eben nicht bloß auf einen Nutzen abzielt, sondern auch Zuneigung und Liebe der Menschen zu ihresgleichen bewirkt. Damit wendet Hamann sich nicht nur gegen die negative Deutung des ›amour propre‹ in der französischen Moralphilosophie, sondern auch gegen die theologische Verurteilung des Selbstbezugs bei Luther, indem er betont, dass der ursprüngliche Selbstbezug des Menschen seiner Sozialität und seiner Moralität nicht etwa entgegensteht, sondern sie ermöglicht. Davon ausgehend formuliert Hamann eine Idealvorstellung von Gesellschaft, in der gleichberechtigte Individuen wechselseitig füreinander Verantwortung
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Fazit
tragen. Er individualisiert, wiederum entgegen der lutherischen Deutung, das biblische Privileg der Erstgeburt, indem er es jedem Einzelnen zuspricht. Nun gibt es gattungsbezogene, soziale und kulturelle Bedingungen, die den Menschen notwendigerweise prägen. Hamanns Strategie ist es, diese Bedingungen nicht als gegenläufig zur Freiheit zu verstehen, sondern eher als einen Rahmen, in dem sich Freiheit erst entfalten und auch bewähren muss. Die ›imbecillitas‹ des Menschen ist für ihn keine Privation, kein Mangel, der ihn schlimmstenfalls beklagenswerter als ein Tier machen müsste, sondern eine Chance, aus der letztlich Freude am Lernen hervorgeht. Dabei hält Hamann allerdings an der Auffassung gattungsbezogener Fähigkeiten fest, die keiner Entwicklung unterliegen, sondern schlechthin zum Menschen dazugehören wie der aufrechte Gang. Wenn aber jeder Mensch einer kulturellen und sozialen Prägung ausgesetzt ist, könnte dies ihn ja zum bloßen Produkt von Umwelteinwirkungen machen. Dem hält Hamann die Fähigkeit des Menschen entgegen, an seiner Formung aktiv Anteil zu nehmen, sich also zu dem, was ihn bestimmt, bewusst und intentional zu verhalten. Philosophisch untermauert wird dies durch Hamanns Aneignung der Humeschen Kausalitätskritik. Entsprechend hat Hamann einen sehr differenzierten Vernunftbegriff, weil er nicht nur nach dem Erkenntnispotential fragt, sondern vor allem auch nach der Entwicklung: Vernunft ist kein ab ovo vorhandenes Vermögen, das rein aus sich selbst heraus zu richtigen Erkenntnissen führt, sondern sinnlich und sozial bedingt, weil sie sich erst durch Erfahrung und Austausch voll entwickelt und zu dem wird, was sie dem Begriff nach ist. Für Hamann zeigt sich die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gerade auf der Ebene des Körperlichen und Emotionalen. Daher wendet er sich gegen Theorien vom Ursprung des Menschen aus bloßer Materie und konsequenterweise auch gegen die Annahme, dass anstelle Gottes eine »plastische Natur« die Lebewesen forme, da in beiden Fällen Gott aus dem Weltgeschehen ausgeschlossen und zumindest als ein persönlicher Gott auch überflüssig wird. Besonders wichtig ist seine Verknüpfung der erotischen Liebe mit einer Vorstellung von Ethik. Hamann verortet sein Ideal eines natürlichen Umgangs mit der eigenen Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit nicht nur im ›status integritatis‹, sondern sieht eine vergleichbare »Unschuld« und Unbefangenheit auch bei nicht zivilisierten Völkern und bei Kindern gegeben. Seine Kenntnisse zeitgenössischer anthropologischer Literatur, vor allem Iselins und Lafitaus, führen ihn dazu, die Entwicklung des Einzelnen und die der menschlichen Gattung parallel zueinander zu sehen und zu behaupten, dass der Mensch auch in der raum-zeitlichen Gegenwart noch Zugang zu seiner prälapsarischen Natur hat.
Fazit
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Hamanns Gottesbegriff ist geprägt von einem starken Bewusstsein der menschlichen Abhängigkeit: Zum einen ist Gutsein nur durch den von Gott gestifteten Glauben möglich. Zum anderen sollen innerweltliche Güter der Gottesliebe untergeordnet werden. Hamanns Argumentation weist Parallelen zu Augustinus Vorstellung der ›fruitio dei‹ auf, weil auch für Hamann erst das durch die Liebe zu Gott motivierte Handeln den Menschen zum Guten befähigt und es ihm ermöglicht, Glückseligkeit zu erreichen. Dabei grenzt Hamann sich deutlich gegen Theorien eines ›pur amour de Dieu‹ ab. Gott zu lieben, bedeutet nicht, die Hoffnung auf Gutes für sich selbst aufzugeben, weil Gott liebend und wohlwollend ist. Hamann verlagert die Gotteserfahrung in den Bereich des sinnlichen Erlebens. Gerade hier zeigt sich die Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dadurch distanziert er sich einerseits von Luther, für den der Leib als Inbegriff der sinnlichen Natur des Menschen gezwungen werden muss, um dem Glauben nicht zuwider zu sein, und andererseits von Aufklärungstheologen wie Spalding, für den Religion den Menschen durch Stärkung seiner Vernunft zur Vervollkommnung führen soll. Hamanns Liebesethik steht in ihrer Betonung von Freiheit und Genuss der Theologie des heiligen Francois de Sales nahe. Es gibt ein spezifisch naturrechtliches Denken bei Hamann, welches von der Annahme ausgeht, dass Menschen keines äußeren Zwangs bedürfen. Begründet wird dies durch eine Psychologie, der zufolge die Selbstliebe die Nächstenliebe miteinschließt, durch die anthropologisch fundierte Vorstellung des ›status integritatis‹ als in der Gegenwart erfahrbar und durch das Ideal einer herrschaftsfreien christlichen Gemeinschaft. Hamanns auf den ersten Blick ablehnende Haltung gilt nicht ›dem‹ Naturrecht schlechthin, sondern einem spekulativen Denken, das sich von lebensweltlichen und historischen Zusammenhängen abwendet. Seine diesbezügliche Kritik an Mendelssohn ist jedoch ungerechtfertigt, da auch Mendelssohn der Spekulation – wenn sie zu einer Vereinsamung des Menschen führt – kritisch gegenüber steht. Hamanns Polemik übersieht die Tatsache, dass er und Mendelssohn sich in grundlegenden Fragen einig sind: Für beide stellt Freiheit das höchste Gut dar, welches es gerade in der Organisation des menschlichen Zusammenlebens zu bewahren gilt. Ein Staat soll daher keine Zwangsinstitution darstellen. Für beide Denker werden dem Menschen Begriffe von Moral über die Religion und durch Nachahmung vermittelt, wobei Mendelssohn menschliche Handlungen als Gegenstand der Nachahmung ansieht, Hamann hingegen vor allem die Natur. Schließlich gehen beide davon aus, dass Menschen einander freiwillig Gutes tun, entweder um sich selbst zu vervollkommnen, wie Mendelssohn argumentiert, oder, wie Hamann betont, weil sie natürlicherweise die Nähe zu Ihresgleichen suchen.
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Unterschiede bestehen hingegen bei der Begründung von Recht und Verpflichtung in ihrem Verhältnis zum Individuum. Für Mendelssohn gibt es Gesetze, die eine objektive Geltung haben, während Hamann ›Gesetz‹ immer mit einer Einsetzung durch ein Subjekt und daher auch mit dem Moment der freien Anerkennung zusammen denkt. Mendelssohn geht in seiner Naturrechtskonzeption vom einzelnen Menschen aus, dem von Natur aus gewisse Rechte, vor allem das Eigentumsrecht auf die Produkte seiner Arbeit, zukommen. Hamann hingegen sieht den Einzelnen immer schon in einen sozialen und rechtlichen Zusammenhang eingebunden. Dieses ursprüngliche ›eingebunden sein‹ verdeutlicht die These vom Naturvertrag: Bevor der Mensch noch in der Lage ist, sich mit anderen bewusst und intentional über mögliche Formen des Zusammenlebens zu verständigen, ist er schon dazu verpflichtet, sich selbst als Lebewesen anzunehmen und zu erhalten, wobei ›Lebewesen‹ eben nicht das isolierte Individuum, sondern den wesentlich gesellschaftsbezogenen Menschen meint, welcher ohne andere gar nicht sein und werden kann, was er seinem Wesen nach ist. Dabei behält der Offenbarungsgedanke für Hamann seine Relevanz, nicht aufgrund einer traditionalistischen Haltung, sondern zum einen, weil er ein von Menschen selbst geschaffenes, weltliches Recht nicht mit Luther als ein aus der Not entstandenes Zwangsrecht ansehen möchte und zum anderen, weil er sich skeptisch zu der Möglichkeit eines reinen, interesselosen Erkennens von Werten verhält. Die biblische Offenbarung ist für Hamann nicht, wie etwa für John Selden, mit ›Natur‹ in eins zu setzen, sondern, zusammen mit der Schöpfung, eine Form der Offenbarung, die in jeder Zeit neu verstanden und angeeignet werden muss. In praktischer Hinsicht gibt es ein Spannungsverhältnis in Hamanns Denken, und zwar zwischen einem Insistieren auf dem Recht und der Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung auf der einen und einem sich Fügen in bestehende Ordnungen. Letzteres ist theologisch begründet durch die Vorstellung von einem Gott, der auch das Übel zugelassen und diese Zulassung gewollt hat, und ethisch durch ein sich beschränken auf den eigenen Lebensbereich, in welchem es allerdings auch immer möglich ist, Einspruch gegen Unrecht zu erheben.
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Namensregister
Achermann, Eric 105, 148, 175 Aguesseau, Henri François d’ 152–157 Angelis, Simone de 173 Aristoteles 37, 55, 91, 115 Augustinus 16, 18, 80, 84, 90, 101, 177, 183 Barbour, Reid 180 Barth, Karl 150–151 Baur, Wolfgang Dieter 46, 51–53 Bayer, Oswald 57, 75, 96, 134, 140–141, 151 Bayle, Pierre 62 Beetz, Manfred 13 Browne, Thomas 69–71 Buffon, George-Louis Leclerc de 23, 52, 54–55 Bucholz, Franz Caspar 58 Cicero 39–40, 138–139, 148 Claudius, Matthias 49 Clemens Alexandrinus 112 Colberg, Ehregott Daniel 98, 101 Cudworth, Ralph 61–62 Dalberg, Carl Theodor von 72–75, 77 Diderot, Denis 46–47, 49–51, 55, 158 Eberhardt, Johann August Epiktet 26–31 Fohi 103–104 Friedrich II 20 Galilei, Galilieo 103 Geulincx, Arnold 155
31
Goethe, Johann Wolfgang von Grotius, Hugo 118, 139, 150
9
Hartknoch, Johann Friedrich 77 Helvétius 10, 32–33, 38 Herder, Johann Gottfried 13, 24, 26, 33, 38, 52–53, 57, 63, 68, 72, 77, 141 Herodot 104 Hobbes, Thomas 125, 131, 146 d’Holbach, Paul Henri Thiry 10, 34, 50–51, 59–60, 170 Hufeland, Gottlieb 11, 106–109 Hume, David 41, 43, 182 Ilting, Karl-Heinz 149 Iselin, Isaak 68–69, 118–119, 182 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 141–143 Kant, Immanuel 13, 56–57, 76, 109, 133– 134, 151, 161, 175, 177 Kepler, Johannes 103 Kircher, Athanasius 112 Kondylis, Panajotis 14, 60 Krieg, Arno 138, 178 Lafitau, Joseph-Francois 69, 182 LaMettrie Julien Offray de 10, 58–59 La Rochefoucauld, Francois de 19–21, 130, 135 Lavater, Johann Caspar 9, 40, 53–54 Leibniz, Gottfried Wilhelm 52, 62, 72–73, 108, 138, 156, 164–165
196
Namensregister
Lindner, Johann Gotthelf 55, 78–79, 85, 89 Luther, Martin 23, 25, 26, 83–85, 92, 149– 150, 163, 168–169, 181, 183–184 Majetschak, Stefan 178 Malebranche, Nicolas 95, 165–166 Mauser, Wolfram 47 Mendelssohn, Moses 11–12, 105–106, 108–118, 122, 124–136, 143, 161, 183– 184 Mercier de la Rivière, Pierre-Paul le 172– 174 Michaelis, Johann David 159 Moscati, Pietro 35–38 Nero 49 Newton, Isaac Ovid
52, 103–104
52, 59
Paulus 9, 40–41, 71, 82, 85 Petron 46 Platon 162 Plotin 18, 163 Prasch, Ludwig 23
Protagoras 10 Pufendorf, Samuel
24, 118–119, 128
Rousseau, Jean-Jacques
123
Sales, (Saint) Francois de 11, 86–92, 183 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 179 Selden, John 160, 184 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, 3. Earl of 21, 24 Sokrates 26, 30–31 Spalding, Johann Joachim 79, 183 Starck, Johann August 28–30 Tanner, Klaus 150 Talbert, Abbé 124 Terstchenko, Michel Tertullian 44 Vollhardt, Friedrich
165
24
Wachter, Johann Georg 115 Weigel, Erhard 121, 148 Wieland, Christoph Martin 147 Wolff, Christian 79, 111