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German Pages 268 Year 1993
W O L F G A N G SCHUR
Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht
Schriften zur Rechtstheorie Heft 161
Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht
Von Wolfgang Schur
Duncker & Humblot - Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schur, Wolfgang: Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht / von Wolfgang Schur. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 161) Zugl.: Glessen, Univ., Diss., 1992/93 ISBN 3-428-07919-1 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07919-1
Vorwort
Es ist ein alter Gedanke, daß die Leitbegriffe des Zivilrechts Grundbegriffe darstellen, denen eine Orientierungsfunktion fur das gesamte Recht zukommt. Zu diesen Grundbegriffen gehören die Begriffe Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis. Ihrer Herkunft nach sind dies Begriffe des Zivilrechts; in diesem Rechtsgebiet haben sie sich herausgebildet und wurden sie in langer historischer Tradition dogmatisch geformt. In Anknüpfung an ein wertorientiertes Rechtsverständnis gehen die folgenden Überlegungen diesen Grundlagen nach. Erst dieses Fundament erlaubt es, die ebenso grundlegende Bedeutung der untersuchten Begriffe fur die Dogmatik des öffentlichen Rechts aufzuzeigen. Dabei beschränkt sich die Untersuchung des öffentlich-rechtlichen Bereiches auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, wobei auch hier nur die Leitlinien entwickelt werden. Insgesamt möchte ich auf diese Weise - ohne daß dies die jeweilige Eigenart von bürgerlichem Recht und öffentlichem Recht in Frage stellen würde - zu einer beide Rechtsgebiete umfassenden Dogmatik beitragen. Zugleich soll damit auch das Gespräch zwischen den Disziplinen weitergeführt werden. Die hiermit vorgelegte Untersuchung ist im Wintersemester 1992/93 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität in Gießen als Dissertation angenommen worden. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Lehrer Herrn Prof. Dr. Jan Schapp. Er hat die Arbeit durch viele klärende Gespräche begleitet, in denen mir vor allem die lebendige Kraft einer zweitausendjährigen Dogmatik des Zivilrechts immer deutlicher geworden ist. Für diesen Zugang zum Recht schulde ich ihm besonderen Dank. Herrn Prof. Dr. Heinhard Steiger danke ich fur die wohlwollende Förderung meiner Studien des öffentlichen Rechts, insbesondere seine umfassende Bereitschaft zur Diskussion. Während der Abfassung der Arbeit hatte ich auch Gelegenheit, meine Überlegungen Herrn Prof. Dr. Wilhelm Henke vorzutragen. Sein Zuspruch war für mich Ermutigung, das einmal Begonnene fortzufuhren. Für viele lehrreiche Gespräche über Eigentum und Schuldverhältnis bin ich nicht zuletzt auch Herrn Richter Dr. Dietwin Johannes Steinbach zu Dank verpflichtet. Die Betreuung des Manuskripts lag über Jahre hinweg in den Händen von Frau Marlene Wallmann; an der Endbearbeitung haben auch Frau Petra Symosek und Herr Stefan Golia wesentlichen Anteil. Für ihre freundliche Unterstützung möchte ich ihnen auch an dieser Stelle danken.
6
Vorwort
Die Zeit, in der man an seiner ersten größeren wissenschaftlichen Arbeit schreibt, ist oftmals zugleich auch eine Zeit der Sorge und des Zweifeins. Dafür, daß in diesen Jahren vieles fur mich erträglich gewesen ist, bin ich meinen Eltern, meinem Bruder und meinen Freunden mehr als dankbar. Wolfgang Schur
Inhaltsverzeichnis Erster Teil
Das Recht als Anspruchs- und Wertsystem I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung bei Jan Schapp
13
1. Der Anspruch als rechtliche Entscheidung über Konflikte der Lebenswelt
14
2. Die Begründung der Konfliktsentscheidungen durch das Recht
17
II. Das System der Ansprüche
19
1. Die Begründung der Ansprüche als Grundlage des Anspruchssystems...
20
2. Das Anspruchssystem als Wertsystem
25
a) Das Wertsystem als rechtlich anerkanntes Gütersystem
25
b) Die Kritik an der Wertorientierung des Rechtssystems
29
aa) Die Kritik am Denken in Wertsystemen von Jan Schapp
29
bb) Die Kritik an der Weitbegründung des Rechts von Ernst-Wolfgang Böckenforde
35
III. Die Funktion des Rechtsverhältnisses im Anspruchs- und Wertsystem
Zweiter
43
Teil
Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht I. Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum 1. § 903 S. 1 BGB als Modell des Eigentums
50 50
2. Das Eigentum als dingliches Recht und als absolutes Recht...
52
3. Der Schrankenvorbehalt des Eigentums
58
4. Die geteilte Zuordnung der Sache am Beispiel des Grundpfandrechts ....
62
II. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhältnissen
65
1. Das Schuldverhältnis i.w.S. als Grund des schuldrechtlichen Anspruches
65
2. Das Delikt als Urtypus des Schuldverhältnisses
68
3. Der Schuldgedanke als Grund der Schuldverhältnisse
72
III. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht entwickelt am Beispiel des Eigentums
77
8
Inhaltsverzeichnis
1. Das absolute Recht als elementarer Baustein des Rechts
78
a) Zur Ausdifferenzierung von dinglichem und deliktischem Eigentumsschutz im römischen Recht
78
b) Die fundamentale Bedeutung des Habens im System des bürgerlichen Rechts
85
2. Das absolute Recht in konkreten Rechtsverhältnissen a) Das Eigentum als Rechtsverhältnis aus der Sicht der Literatur b) Das konkrete Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer als Anspruchsgrundlage 3. Zur Kritik des Habens
90 90 94 99
IV. Die zivilrechtliche Dogmatik als Ausgangspunkt für die Begründung der Lehre des öffentlichen Rechts
Dritter
102
Teil
Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung im öffentlichen Recht
106
1. Die Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts von Jan Schapp
106
2. Das Problem der Systembüdung fur die Ansprüche des öffentlichen Rechts
112
II. Die Begründung von Ansprüchen des Staates und des Burgers aus absoluten Rechten
115
1. Die Unterscheidung von absolutem Recht und Anspruch als Grundlage einer ö ffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik
115
2. Das absolute Recht als dogmatische Figur des öffentlichen Rechts
118
a) Das Freiheitsgrundrecht als absolutes Recht
118
b) Der absolut-rechtliche Charakter der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen
122
aa) Die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm als Konfliktsentscheidung und als absolutes Recht
122
bb) Die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm als absolutes Recht
125
cc) Das SpannungsVerhältnis zwischen Freiheitsgrundrecht und öffentlich-rechtlicher Befugnisnorm als absoluten Rechten und seine Auflösung
130
c) Die Bedeutung der Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht für die dogmatische Figur des absoluten Rechts
135
3. Das absolute Recht als Grundlage von öffentlich-rechtlichen Befugnissen und öffentlich-rechtlichen Ansprüchen
139
a) Die Unterscheidung von Begründungs-, Befugnis- und Anspruchsebene. Die Ausschließungsbefugnis als prinzipielle Konfliktsentscheidung 139
Inhaltsverzeichnis
b) Konkrete und prinzipielle Konfliktsentscheidung im Verhältnis von Eingriffsgesetzgebung und Freiheitsgrundrechten
143
aa) Das Gesetz als konkrete und prinzipielle Konfliktsentscheidung ..
143
bb) Wesentliche Konflikttypen des öffentlich-rechtlichen Eingriffsrechts
146
c) Die Unterscheidung verschiedener Ebenen des öffentlichen Rechts als Ausdruck verschiedener Allgemeinheitsstufen
151
aa) Zur Bedeutung der Unterscheidung von Begründungs-, Befugnisund Anspruchsebene
152
bb) Die Systemebene. Art. 2 Abs. 1 GG als Systementscheidung
158
4. Kritik der bisherigen Überlegungen zur dogmatischen Figur des absoluten Rechts im öffentlichen Recht
166
a) Wilhelm Henke, Klaus Stern und Michael Sachs
167
b) Georg Jellinek, Eberhard Grabitz
169
c) Jürgen Schwabe
173
III. Die Begründung von Ansprüchen des Staates und des Bürgers aus öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen
178
1. Das Rechtsverhältnis als dogmatische Figur der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik
178
2. Zur bisherigen Diskussion um das Rechtsverhältnis im öffentlichen Recht
181
a) Das allgemeine Rechtsverhältnis
181
aa) Allgemeines Rechtsverhältnis und allgemeines Gewaltverhältnis..
181
bb) Das allgemeine Rechtsverhältnis als Konstitutionsprinzip
188
b) Verwaltungsakt, Vertrag und Rechtsverhältnis
192
3. Die konkreten Rechtsverhältnisse als Begründungsrahmen für öffentlichrechtliche Ansprüche 200 a) Das konkrete Rechtsverhältnis als Begründungsrahmen entwickelt für den Eingriffsbereich
202
aa) Das Polizeirechtsverhältnis als Ordnungsrahmen zur Begründung subjektiver öffentlicher Rechte bei Hartmut Bauer 202 bb) Die methodisch-dogmatische Funktion des konkreten Rechtsverhältnisses als Begründungsrahmen
206
cc) Opportunitätsprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Polizeirechtsverhältnis
211
b) Zur besonderen Problematik des konkreten Rechtsverhältnisses im Leistungsbereich
213
4. Zur Rechtsnatur der Gleichheitsgrundrechte IV. Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik aus der Sicht der Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts 1. Zur Theorie der Grundrechte von Robert Alexy
217 218 220
10
Inhaltsverzeichnis
2. Eingriffs- und Schrankendenken, institutionelles Rechtsdenken und Anspruchsdenken
226
a) Das Ungenügen der Entgegensetzung Eingriffs- und Schrankendenken - institutionelles Rechtsdenken
226
aa) Die Schwächen des Eingriffs- und Schrankendenkens
228
bb) Die Schwächen des institutionellen Rechtsdenkens
233
b) Die philosophischen Grundlagen von Eingriffs- und Schrankendenken sowie institutionellem Rechtsdenken bei Kant und Hegel
239
aa) Die Grundlagen des Eingriffs- und Schrankendenkens in der Rechtslehre Kants
240
bb) Die Grundlagen des institutionellen Rechtsdenkens in der Rechtsphilosophie Hegels 243 3. Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens bei Carl Schmitt... 248
Schluß
Das Anspruchsdenken als personales Rechtsdenken
255
Literaturverzeichnis
257
Erster Teil
Das Recht als Anspruchs- und Wertsystem
In seiner Kommentierung zum Grundgesetz wird der Grundrechtsteil von Günter Dürig als ein "Wert- und Anspruchssystem" aufgefaßt. 1 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat diesen Gedanken vor allem unter dem Gesichtspunkt eines "Wertsystems" der Grundrechte aufgenommen.2 Damit konnte zugleich an Überlegungen der Weimarer Grundrechtsdiskussion angeknüpft werden.3 Auch in der Grundrechtsdiskussion der Gegenwart spielt der Gedanke eines Wertsystems der Grundrechte eine große Rolle. Über Bedeutung und Berechtigung dieses grundrechtstheoretischen Ansatzes ist bisher allerdings nur wenig Einigkeit erzielt worden. 4 Kaum Beachtung gefunden hat hingegen der zweite Aspekt der Formulierung Dilrigs , daß nämlich die Grundrechte auch ein Anspruchssystem darstellen. Den Zusammenhang zwischen Wert- und Anspruchssystem stellt Dürig sich dabei so vor, daß die Grundrechtswerte der "technische(n) Auflösung" in Ansprüche bedürfen. 5 Die konkrete Durchführung dieser Grundrechtskonzeption in den Kommentierungen Dürigs ist in der Literatur durchaus mit Recht kritisiert
1 Dürig y in: Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Rz. 5 f., 13, Art. 3 Abs. I Rz. 254, vgl. auch Art. 2 Abs. I Rz. 1 ff., 5 ff.; vgl. auch schon ders.y AöR 81 (1956), 117 (119 ff.). 2 Vgl. nur etwa BVerfGE 5, 85 (139); 7, 198 (205); 19, 394 (396); 21, 362 (372); 25, 167 (179); 30, 173 (193); 52, 131 (168); 52, 223 (247). 3 Insbesondere an das Grundrechtsverständnis von Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 264, für den die Grundrechte "ein Wert- oder Güter-, ein Kultursystem normieren". Vgl. zu den Ansätzen einer wertsystematischen Betrachtung der Grundrechte im übrigen Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 69 I 3 b. 4 Zur Kritik der grundrechtstheoretischen Wertargumentation vgl. vor allem Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 132 ff.; ders., Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre, S. 206 ff.; Goer lieh, Wertordnung und Grundgesetz; Denninger, JZ 1975, 545 ff.; ders., Staatsrecht, Bd. 1, S. 26 ff.; E.-W. Böckenßrde, NJW 1974, 1529 (1534); ders.y Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 67 ff.; ders. y Der Staat 29 (1990), 1 ff. Für ein wertorientiertes Grundrechtsverständnis vgl. zuletzt vor allem die modifizierte Fassung der Werttheorie als "Prinzipientheorie" bei Alexyy Theorie der Grundrechte, S. 125 ff., sowie Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 69 II (m.w.N. in Fn. 133). 5
Dürigy
in: Maunz-Dürigy
Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Rz. 6.
12
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Weitsystem
worden. 6 Dagegen ist der enorme positive Bedeutungsgehalt, der im Gedanken der Grundrechte als Wert- und Anspruchssystem liegt, noch nicht genügend herausgearbeitet worden. Vor allem die Bedeutung des Grundrechtsteils als eines Anspruchssystems ist bisher zu wenig beachtet und diskutiert worden. Im Vordergrund dieser Untersuchung steht deshalb das Verständnis der Grundrechte als Ansprüche. Auf dieser Grundlage läßt sich dann auch die Redeweise von den Grundrechten als Anspruchssystem und schließlich sogar die Bezeichnung als Wertsystem begründen. Nach unserer Auffassung ist es aber nicht sinnvoll, allein die Grundrechte als Anspruchs- und Wertsystem zu begreifen, man muß vielmehr das System des öffentlichen Rechts selbst in seinem Kern aus dieser Perspektive betrachten.7 In diesem System kommt dann den Grundrechten, aber auch dem Staat und seinen rechtlichen Positionen eine zentrale Bedeutung zu. Der Gedanke, daß sich das Recht als Anspruchs- und Wertsystem auffassen läßt, soll hier allerdings (im zweiten Teil) zunächst fur das Zivilrecht entwickelt werden. Erst im Anschluß daran erfolgt (im dritten Teil) auf dieser Grundlage eine ausfuhrlichere Darstellung des öffentlich-rechtlichen Anspruchs- und Wertsystems. Dieses Vorgehen bietet sich vor allem deshalb an, weil der Anspruch seiner Herkunft nach der zivilrechtlichen Dogmatik entstammt und dementsprechend hier auch größere Gewißheit über seinen Stellenwert herrscht als im Bereich des öffentlichen Rechts.8 Als Anspruchssystem ist das Zivilrecht unlängst von Jan Schopp zur Darstellung gebracht worden. 9 Unsere Überlegungen knüpfen an diesen Stand der Zivilrechtsdogmatik an. Theoretische Grundlage des von Schopp vorge6 Vgl. zum Gesichtspunkt der Geschlossenheit des Systems von Dürig vor allem Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 338 ff., im übrigen auch v. Mangolds/ Klein/Starck, GG, Art. 1 Rdz. 108. 7 Richtig insoweit die Kritik von Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 134 Fn. 17: "Von einem Wertsystem kann wohl auch deshalb schwerlich die Rede sein, weil Wertfixierungen, welche nur dem Individuum, nicht aber auch dem Staat gelten, auch in einer liberalen Verfassung nicht den Grad von Vollständigkeit und Geschlossenheit erreichen, der die Bezeichnung als System rechtfertigen könnte." (Hervorhebung durch Forsthoff.) 8 Zu einer klaren Herausarbeitung des Anspruchsbegriffes ist es durch die Schrift Windscheids, Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts, aus dem Jahre 1856 gekommen. Die darin zum Ausdruck kommende Hinwendung zum materiellen Recht war allerdings durch weit in die Geschichte des Zivilrechts zurückreichende Wandlungen des juristischen Denkens vorbereitet worden, vgl. dazu Coing , Zur Geschichte des Begriffs "subjektives Recht"; Georgiades, Die Anspruchskonkurrenz im Zivilrecht und im Zivilprozeßrecht, S. 27 f.; Dubischar> Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative, insbes. S. 108 ff. Zur Entdeckung des Anspruchs als zentraler dogmatischer Figur des bürgerlichen Rechts vgl. auch Schapp t Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 I. 9 Schappy Grundlagen des bürgerlichen Rechts, §§ 2 ff.; ders., Das Zivilrecht als Anspruchssystem, JuS 1992, 537 ff.
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung bei Jan Schapp
13
tragenen Anspruchssystems des Zivilrechts sind dessen Untersuchungen zur methodischen Bedeutung des Anspruchs. Zu Beginn unserer Arbeit soll daher (unter I) die von ihm im Anschluß an die Interessenjurisprudenz entwickelte Auffassung vom Anspruch als Konfliktsentscheidung erörtert werden. Damit ist ein methodisches Fundament gewonnen, auf dessen Grundlagen sodann (unter II) die Frage behandelt werden kann, wie die Ansprüche sich zu einem Anspruchssystem zusammenschließen. Das Anspruchssystem läßt sich unter bestimmten Aspekten auch als Wertsystem verstehen, so daß damit - in zunächst noch sehr allgemeiner Weise - eine theoretische Grundlage fur die Auffassung des Rechts als Anspruchs- und Wertsystem gewonnen ist. Nun gibt es in der Literatur aber durchaus auch andere Ansätze fur eine systematische Erfassung des Rechts durch die Dogmatik. Historisch tief verankert ist vor allem die Auffassung vom Recht als einem System der Rechtsverhältnisse. So messen etwa sowohl v. Savigny dem Rechtsverhältnis als auch Heck dem Lebensverhältnis eine zentrale Bedeutung fur die (zivilrechtliche) Rechtssystematik zu. Zum Abschluß dieses Kapitels soll daher (unter III) eine erste grobe Bestimmung der Funktion erfolgen, die dem Rechtsverhältnis fur die Auffassung des Rechts als Anspruchs- und Wertsystem zukommt.
I· Der Anspruch als Konfliktsentscheidung bei Jan Schapp Ein theoretisches Fundament des Anspruchsdenkens ist von Jan Schapp in seiner Schrift "Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung" erarbeitet worden. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Auffassung vom Anspruch als rechtlicher Entscheidung über Konflikte der Lebenswelt. Dieser Grundgedanke, der auch Ausgangspunkt der hier vorgelegten Abhandlung ist, soll zunächst (unter 1) dargestellt werden. Schapp hat seine Überlegungen zum Anspruch später unter verschiedenen Gesichtspunkten fortgeführt. 10 Große systematische Bedeutung hat vor allem der von ihm in der Schrift "Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre" entwickelte Gedanke der Begründung der Entscheidungen durch das Recht. Ihm gilt daher (unter 2) unsere besondere Aufmerksamkeit.
10 Vgl. vor allem Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 56 ff.; Grundlagen des bürgerlichen Rechts, §§ 1 ff.; JuS 1992, 537 ff.
14
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
1. Der Anspruch als rechtliche Entscheidung über Konflikte der Lebenswelt Schapp hat die Grundlagen für seine Konzeption zum Anspruch in Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Theorie des subjektiven Rechts entwickelt. Hier sieht er im wesentlichen zwei einander gegenüberstehende theoretische Grundpositionen, denen auch jeweils unterschiedliche Rechtsauffassungen zugrunde liegen. 11 Der sog. normative Ansatz begreift das subjektive Recht allein von der Norm her. Quelle der subjektiven Rechte ist damit die Rechtsordnung. Dem steht eine Ansicht gegenüber, nach der das subjektive Recht Ausdruck der material verstandenen Freiheit des Menschen ist. Das subjektive Recht ist hier in einer metaphysischen Konzeption des Rechts begründet. Schapp setzt für seinen Lösungsansatz zum Verständnis des subjektiven Rechts beim normativen Ansatz an und ergänzt ihn, indem er die Norm in ein Funktionsgefuge einfügt, um so die ausschließlich normativ bestimmte Perspektive zu erweitern. 12 Das Recht, so seine zentrale These, erfüllt eine Funktion, indem es Interessenkonflikte dadurch entscheidet, daß es Ansprüche gewährt oder versagt. 13 Die Norm habe gewissermaßen zwei Seiten.14 Auf der Außenseite entscheidet die Norm über Konflikte der sozialen Wirklichkeit - oder, wie später auch gesagt wird, der Lebenswelt15 -, auf der Innenseite des rechtstechnischen Raumes stellt sich die Entscheidung als Gewährung oder Versagung eines Anspruches dar. Die Schwäche des normativen Ansatzes liege darin, daß er nur die Innenseite der Norm in den Blick bekommt, ohne zu beachten, daß dem Gesetz eine zentrale Funktion für den Außenbereich zukommt. Im folgenden bemüht Schapp sich darum, das Funktionsgefuge von Lebenswelt und Recht näher zu umschreiben. Den dem Recht vorgegebenen Bereich der sozialen Wirklichkeit sieht er wesentlich geprägt durch den Konflikt verschiedener Interessen.16 Aus diesem Bereich greift er das sowohl für das Privatrecht als auch für das öffentliche Recht bedeutsame Wirtschaftsgefüge heraus, das er in seiner Bedeutung fur das Recht näher analysiert. Leitgedanke ist dabei die These, daß die Lebenswelt, für die exemplarisch der Bereich der Wirtschaft steht, in sich bereits eine Struktur trägt, an die das Recht mit seinen Entscheidungen anknüpft. 17 11
Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 9.
12
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 9, 14 ff.
13
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 14 ff.
14
Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 14.
15
Vgl. ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, passim, etwa S. 15 ff. 16 Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 60 ff., 64 ff. 17
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, insbes. S. 64 ff.
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung bei Jan Schapp
15
Schapp geht in seiner Untersuchung von einem auf Eigentum basierenden Wirtschaftssystem aus. 18 Dabei trennt er die Wirtschaftsstruktur methodisch von einer politischen Gesamtentscheidung (im Sinne Carl Schmitts). 19 Das erlaubt ihm eine Herausarbeitung der wirtschaftlichen Zusammenhänge, ohne einen unmittelbaren Rückgriff auf metaphysische Ansätze fur die Beschreibung des Wirtschaftsrahmens nehmen zu müssen.20 Dadurch wird also die funktionale Beschreibung einer auf Eigentum gegründeten Wirtschaftsstruktur ermöglicht. Im Mittelpunkt dieser Darstellung steht die instrumentale Rolle des Marktes. Den Wirtschaftsrahmen sieht Schapp durch den Zusammenhang von Erwerbsstreben, Arbeitsteilung und Tausch ausgefüllt. 21 Das Wirtschaftsgefuge wird aber nicht allein über die zweiseitige Austauschbeziehung erfaßt, als maßgebliches Strukturprinzip dient vielmehr der Markt. 2 2 Die zentrale Rolle, die der Markt im geschilderten Wirtschaftssystem einnimmt, beruht auf dem Gedanken, daß die freie Entfaltung der privaten Kräfte zu größter wirtschaftlicher Effektivität führt. 23 Damit ist nicht gemeint, daß der Markt eine sich selbst regulierende Ordnung garantiert. Die instrumentale Auffassung des Marktes soll vielmehr nur seine auf Effektivität ausgerichtete Funktionsweise zum Ausdruck bringen. Auch einen großen Teil des staatlichen Handelns sieht Schapp auf den Markt bezogen.24 Zum einen übernimmt der Staat eine Reihe von Aufgaben, die nur schwer von Privaten zu erbringen sind. Dann bedarf der Markt aber auch, um wirksam bleiben zu können, staatlicher Abstützung durch regulierende Mechanismen (wie etwa Wettbewerbsordnung und Konjunkturpolitik). Der Markt erweist sich danach also sowohl zur privaten als auch zur öffentlichen Seite hin als zentraler Strukturgedanke des auf Eigentum gegründeten Wirtschaftssystems. Aus diesem Wirtschaftsgefuge hebt Schapp nun das Eigentum und den Anspruch als zentrale Strukturelemente hervor. 25 Von besonderer Bedeutung ist es dabei, daß das Eigentum und der Anspruch hier als wirtschaftliche Gebilde aufgefaßt werden, die zunächst auch nur aus dem wirtschaftlichen Funktionszusammenhang heraus verständlich gemacht werden können.26 Das Eigentum wird innerhalb des Wirtschaftsgefüges als Zuordnung eines 18
Vgl. ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 18 ff.
19
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 19 f.
20
Vgl. ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 20 f.
21
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 31.
22
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 31 ff.
23
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 32. Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 32 ff.
24 25
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 36 ff.
26
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 39 ff., 41 ff.
16
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Wirtschaftsgutes zu einem Wirtschaftssubjekt begriffen. 27 Dabei ist auch der Begriff der Zuordnung in einem wirtschaftlichen Sinne gemeint. Er soll die Qualität der Beziehung zwischen dem Individuum und seinen Wirtschaftsgütern als einer Gehörensbeziehung zum Ausdruck bringen, die sich fur die Person als ein "Haben" von wirtschaftlichen Gütern darstellt. 28 Auch der Begriff des Anspruchs hat zunächst wirtschaftliche Bedeutung. Mit dem Anspruch wird ein großer Teil der Verschiebungen von Eigentum (im wirtschaftlichen Sinne) strukturiert, und zwar unter dem Gesichtspunkt von Berechtigung, Verpflichtung und Erfüllung. 29 Der wirtschaftliche Anspruch ist Ausdruck der Spannungsbeziehungen, die unter diesen Aspekten strukturiert sind. 30 Anspruch und Eigentum werden von Schapp auch als Vermögen charakterisiert. 31 Denn auch der Anspruch tendiert auf Zuordnung von (wirtschaftlichem) Eigentum und stellt in diesem Sinne einen Vermögenswert dar. Allerdings bringe die gemeinsame Bezeichnung beider Strukturelemente als Vermögen nicht mehr deren unterschiedliche Bedeutung im Wirtschaftsgefüge zum Ausdruck, sondern nur deren wirtschaftliche Fundierung. 32 Quelle der Vermögenswerte sei nicht selbst wieder das Vermögen, sondern es ist der Erwerbswille des einzelnen und seine Arbeitskraft, welche die Vermögenswerte schaffen. 33 Der wirtschaftliche Bereich erhält damit seine Konturen von einem Strukturteil her, der selbst nicht Wirtschaftsgut ist. 34 Auf der Grundlage der von ihm skizzierten Struktur des Wirtschaftsgefüges als eines Teilausschnittes der Lebenswelt stellt Schapp das subjektive private Recht im juristisch-technischen Sinne als Anspruch dar. 35 Seine zentrale These geht dahin, daß Anknüpfungspunkt für die gesetzlichen Konfliktsentscheidungen der in der Wirtschaftsstruktur vorfindliche Anspruch im wirtschaftlichen Sinne ist. Die Wirkung der Konfliktsentscheidung besteht in der Anerkennung eines wirtschaftlichen Anspruchs unter näher vom Recht bestimmten Voraussetzungen, die ihn zu einem rechtlichen Anspruch macht.36 Diese Möglichkeit des Rechts, mit seinen Konfliktsentscheidungen an die wirtschaftlichen Ansprüche anzuknüpfen, ergibt sich daraus, daß im Bereich 27
Ders. , Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 39 ff.
28
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 40.
29
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 41.
30
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 42. Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 43 ff.
31 32
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 43.
33
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 43 ff.
34
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 45.
35
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 60 ff. Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 64 ff.
36
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung bei Jan Schapp
17
der Wirtschaft Strukturen vorzufinden sind, in denen auch dem wirtschaftlichen Anspruch eine zentrale Bedeutung zukommt. Im einzelnen werden hier von Schapp folgende Zusammenhänge hervorgehoben. Im Wirtschaftsleben finden Vermögensverschiebungen aufgrund von Ansprüchen im wirtschaftlichen Sinne statt. Diese Vermögensverschiebungen sind der wesentliche Gegenstand von Konflikten. 37 Dabei begründet nicht bereits das Eigentum als solches Konflikte, sondern erst die Frage, wem von mehreren es zusteht.38 Der wirtschaftlich verstandene Anspruch steht also bereits in durch den Konflikt um Eigentum geprägten Lebenszusammenhängen. An sie knüpft das Recht an, indem es die Voraussetzungen formuliert, unter denen es für jemanden einen Anspruch gewähren will. Das Gesetz entscheidet die sich aus der Wirtschaftsstruktur ergebenden Konflikte also, indem es die Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung eines Anspruchs formuliert. Auch diese Voraussetzungen ergeben sich aus dem Zusammenhang, in dem der Konflikt steht.39 Die rechtlichen Konfliktsentscheidungen folgen damit "der harten Kontur der Spannungsbeziehungen des wirtschaftlichen Gefuges". 40 Das bedeutet allerdings nicht, daß das Recht sich in bereits fertiger Gestalt aus dem Konflikt ableiten ließe. Damit wäre die spezifische Leistung des Rechts verkannt, die darin liegt, den seiner Natur nach ungelösten Konflikt der Lebenswelt einer rechtlichen Klärung zuzuführen. 41 Der Vorgang der Anerkennung von Ansprüchen erfordert die Bewertung der Konflikte, die erst durch das Recht erfolgt. In der Herausarbeitung der dafür zu beachtenden Gesichtspunkte liegt die spezifische Leistung der juristischen Arbeit des Gesetzgebers und dann auch des Richters. 42 2. Die Begründung der Konfliktsentscheidungen durch das Recht In der weiteren Entwicklung seiner Überlegungen zum Anspruch hat Schapp die Auffassung vom Recht als Konfliktsentscheidung in eine umfassende Theorie der Rechtsgewinnung eingebettet, in deren Mittelpunkt das Verhältnis von Fall, Gesetz und richterlicher Entscheidung steht.43 Der 37
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 60.
38
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 60. Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 60 f.
39 40
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 64.
41
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 65.
42
Vgl. ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 49 ff., sowie auch ders. y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 53, ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 2, 3. 43 Schapp y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 6 ff. 2 Schur
18
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Fall - der konkrete Konflikt - ist, so Schapp, kein amorpher Rohsachverhalt, sondern Teil der Lebenswelt und damit immer schon sinnhaft konstituiert. 44 Die Erzählung eines jeden erlebten Falles trägt in sich eine innere Ordnung. 45 Sie beruht auf der Spannung des Falles, die dadurch zustande kommt, daß jemand gegen einen anderen einen Anspruch erhebt. 46 An diese innere Ordnung knüpft die juristische Bearbeitung des Falles an. Nur muß aber auch das Recht selbst als Teil der Lebenswelt begriffen werden, auch das Recht ist Moment des Falles. 47 Mit dem Fall wird damit die Lehre von den Vorgegebenheiten des Rechts fortentwickelt zur Auffassung einer Mitgegebenheit von Welt und Recht. 48 Im Fall ist die Einheit von Lebenswelt und Recht sinnfällig. Das geltende Recht beeinflußt zunächst die innere Struktur des Falles, dann aber fuhrt es den Fall auch einer Lösung zu, indem es ihn entscheidet.49 Wie entscheidet das Gesetz nun den Fall? Nach Auffassung von Schapp entscheidet das Gesetz selbst bereits den konkreten zukünftigen Einzelfall. 50 Im Gegensatz zum positivistisch geprägten Modell der Gesetzesanwendung, dem die Vorstellung vom Gesetz als einem Allgemeinen zugrunde liegt, unter das subsumiert wird, ist hier das Gesetz selbst schon das Besondere.51 Damit stellt sich das Problem, wie sich das Gesetz auf eine Vielzahl von Einzelfällen beziehen kann. 52 Das legt eine Untersuchung der Funktion des Tatbestandes des Gesetzes nahe. Bei unbefangener Betrachtungsweise läßt sich der Tatbestand eines Gesetzes als Beschreibung des Falles auffassen. 53 Tatsächlich wird aber im Tatbestand des Gesetzes - so eine der zentralen Thesen Schopps eine Begründung fur die Verhängung der Rechtsfolge gegeben.54 Der Gesetzgeber entwickelt mit den Voraussetzungen des Tatbestandes in ganz verkürzter Weise den Grund seiner Entscheidung. Praktisch wird nur der Rechtsgedanke formuliert, der fur eine Mehrzahl von Fällen in gleicher Weise gelten soll. 55 Mit Hilfe des Rechtsgedankens gelingt es dem Gesetzgeber, eine 44
Ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 15 ff., 21 ff.; vgl.
auch ders.y JuS 1992, 5 3 7 (538 f.). 45
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 15 f.
46
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 16. Ders. y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 17 ff.
47 48 49 50
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 26. Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 26. Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 6 ff., 31 ff.
51
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 7.
52
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 9.
53
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 48; ders.y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 2 (S. 5), II 4 (S. 12). 54 Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 47 ff.; ders.y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 2-4. 55 Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 50; ders.y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 2 (S. 5).
II. Das System der Ansprüche
19
Vielzahl von Fällen zu entscheiden und sie damit nicht nur zu einer Reihe von Fällen, sondern auch in Falltypen zusammenzufassen. 56 Die Anwendung des Gesetzes durch den Richter besteht nun darin, daß der Richter die im Gesetz für einen bestimmten Fall vorgetragenen Entscheidungsgründe im Hinblick auf den ihm zur Entscheidung vorliegenden Fall erwägt. 57 Der Richter tritt mit dem Gesetzgeber in ein Gespräch darüber, ob die Entscheidungsgründe des Gesetzgebers auch die Entscheidung fur den dem Richter vorliegenden Fall zu tragen vermögen. 58 Dieses Gespräch bleibt erforderlich, weil das Gesetz nicht entschieden hat, daß der dem Richter vorliegende Fall auch der durch das Gesetz entschiedene Fall ist. 59 Grundlage dieses Gesprächs ist, daß nicht nur der Gesetzgeber seine Entscheidungen im Hinblick auf bestimmte Lebenssituationen trifft, sondern auch die Entscheidung des Richters davon bestimmt ist, daß er in einer Lebenswelt mit Fällen steht.60 Erst dieser Zugang zu Fällen, an den die juristische Ausbildung anknüpft, ermöglicht es dem Richter, Fälle einer Entscheidung zuzuführen. In das Gespräch sind schließlich auch die Parteien miteinbezogen, auf dessen Grundlage der Richter seine Entscheidung dann begründen muß. 61 Erst diese Begründung macht deutlich, inwieweit dem Richter die Lösung des Falles gelungen ist. Daß mit dem Gedanken der rechtlichen Begründung von Konfliktsentscheidungen darüber hinaus die Grundlage fur eine systematische Erfassung der Ansprüche gegeben ist, soll im folgenden entwickelt werden.
Π . Das System der Ansprüche Auf der Grundlage des Gedankens der Begründung von Ansprüchen läßt sich für die Vielzahl der Ansprüche ein Ordnungszusammenhang ausmachen, in dem man das Anspruchssystem des Rechts erblicken kann (1). Dieses Anspruchssystem kann auf der Begründungsseite auch als Wertsystem im Sinne eines rechtlich anerkannten Gütersystems verstanden werden (2 a). Die Möglichkeit einer Wertbetrachtung des Rechts insbesondere unter wert56
Ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 50 ff.; zur Leitfunktion des Rechtsgedankens für die Bildung von Falltypen ders.y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 2, 3. 57 Ders., Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 62 ff.; ders.y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 3. 58 Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 65 ff.; vgl. auch ders.y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 Fn. 14. 59 Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 65; zur bedingten Entscheidung durch das Gesetz vgl. auch ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 4 (S. 11). 60 Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 66. 61
Ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 83.
20
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
systematischen Gesichtspunkten ist in der Literatur allerdings sehr umstritten. So ist etwa von Jan Schapp eine scharfe Kritik am Denken in Wertsystemen geübt worden. 62 Eine umfassende Kritik an der Wertbegründung des Rechts überhaupt hat unlängst Ernst-Wolfgang Böckenförde vorgetragen. 63 Zum Teil ist die Kritik an den durchaus sehr unterschiedlichen Ansätzen einer Wertbetrachtung des Rechts berechtigt. Dennoch läßt sich, wie wir meinen, die Auffassung des Anspruchssystems als Wertsystem begründen. Das setzt allerdings eine genauere Abgrenzung dieser Position von anderen wertsystematischen Ansätzen voraus, dann aber auch die Zurückweisung von nach unserer Auffassung ungerechtfertigten Einwänden. Beides erfolgt im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Kritik von Schapp und Böckenförde (2 b), deren kritische Stellungnahmen mit den von ihnen angesprochenen Problemkreisen im übrigen auch durchaus als repräsentativ für die Kritik der Literatur an der Wertbetrachtung des Rechts gelten können. 1. Die Begründung der Ansprüche als Grundlage des Anspruchssystems Der systematischen Betrachtung des Rechts stellt sich im Hinblick auf die Mannigfaltigkeit der Ansprüche die Aufgabe ihrer Ordnung. Das Problem der Systematisierung der Konfliktsentscheidungen des Rechts ist nicht neu. Bereits Philipp Heck, der neben v. Jhering als Begründer der lnteressenjurisprudenz gelten kann, stand vor der Frage, wie auf der Grundlage des methodischen Ansatzes zum Recht als Konfliktsentscheidung die Bildung eines rechtswissenschaftlichen Systems möglich ist. 64 Für die Antwort darauf geht Heck vom Begriff des Systems aus, als dessen inhaltlichen Kern er den Gedanken der Ordnung ansieht.65 Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet er ein in der Darstellung der Stoffbehandlung zum Ausdruck kommendes "äußeres System" von einem "inneren System" als dem "sachlichen Zusammenhang" der rechtswissenschaftlichen Arbeit, in dem sich die eigentliche "immanente Ordnung" abzeichnet.66 Als Elemente dieser immanenten Ordnung sieht er nicht etwa die einzelnen in Streit stehenden Interessen an, sondern die Konfliktsentscheidungen: Das innere System Hecks ist das "System der Konfliktsentscheidungen". 67
62
Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 118 ff.
63
Böckenförde
64
Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 139 ff.
y
Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts.
65
Ders., Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, S. 142.
66
Ders., Begriffsbüdung und lnteressenjurisprudenz, S. 142 f.
67
Ders.,
Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, S. 149 ff.
II. Das System der Ansprüche
21
Die Bildung dieses inneren Systems stellt Heck sich wie folgt vor. 6 8 Die verschiedenen Konfliktsentscheidungen stehen untereinander in einem Zusammenhang, der sich daraus ergibt, daß die Konfliktsentscheidungen sich "auf Teile des Lebens (beziehen), die durch die mannigfachen Zusammenhänge und Übereinstimmungen miteinander verbunden sind. " Die verschiedenen Konfliktsentscheidungen stehen deshalb zueinander in einem unterschiedlichen engeren oder auch weiteren Zusammenhang. Die Ermittlung der erheblichen Zusammenhänge einer Konfliktsentscheidung sei die Aufgabe der Normfindung. Dabei lassen sich, so Heck weiter, gemeinsame Elemente der Konfliktsentscheidungen herausarbeiten, die in Begriffen von zunehmender Allgemeinheit zusammengefaßt werden können. Dieser Vorgang der Klassifikation mache das innere System "in verschiedenem Grade" sichtbar. Grundlage dieses Systems sei die immanente Ordnung, die sich aus den Übereinstimmungen und Verschiedenheiten bei den Konfliktsentscheidungen ergibt. Heck versteht dieses System der Konfliktsentscheidungen als ein "immanentes System", d.h. als das Ergebnis der normativen Arbeit. 69 Die einzelnen Konfliktsentscheidungen und Konfliktsgruppen seien nichts weiter als die Normen und Normengruppen. 70 Dementsprechend ist das System, das sich aus der Ordnung der Konfliktsentscheidungen ergibt, für ihn auch kein von außen an das Recht herangetragenes System, sondern es ist aus dem Recht selbst entwickelt: "Es ist das bisher bestehende Rechtssystem, das nicht umgestoßen, sondern erklärt und begründet wird. " 7 1 Schon zu Lebzeiten Hecks ist die Befähigung der Interessenjurisprudenz zur Bildung eines rechtswissenschaftlichen Systems bezweifelt worden. 72 In neuerer Zeit hat vor allem Canaris das von Heck vorgetragene System der Konfliktsentscheidungen für nicht genügend gehalten.73 Im Mittelpunkt seiner Kritik steht der Vorwurf, daß die Interessenjurisprudenz den Gedanken der Einheit der Rechts vernachlässigt habe. Sowohl in der Bemerkung Hecks zum inneren Zusammenhang der Rechtsordnung mit der Lebensordnung, als auch in dem Gedanken der Bildung abstrakter Allgemeinbegriffe sieht Canaris keine tauglichen Ansatzpunkte für die Erfassung der "konkreten Sinneinheit
68 Ders., Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 149 f.; vgl. dazu auch die Darstellung von Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 56 f. 69
Ders.,
70
Ders.y
Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 151. Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, S. 153.
71
Ders.y Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, S. 153; zum induktiven Charakter der interessenjuristischen Systembildung vgl. auch ders.y S. 158, 160. 72 Vgl. nur etwa Kretschmar y JherJb. 67 (1917), 233 (291 ff.); Oertmann y Interesse und Begriff in der Rechtswissenschaft, S. 40 f. 73
CanariSy Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 35 ff.
22
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
des Rechts".74 Die Starke der lnteressenjurisprudenz habe in der Erörterung von Einzelproblemen gelegen, nicht in der Herausarbeitung der "großen Zusammenhänge".75 In methodischer Hinsicht kenne diese nur zwei Stufen, die der Rechtsgewinnung und die der obersten Rechtsweite wie Gerechtigkeit, Billigkeit und Rechtssicherheit. Die Bedeutung einer dazwischenliegenden Stufe "allgemeiner Rechtsprinzipien" und der "tragenden Grundgedanken eines Rechtsgebietes" habe die Interessenjurisprudenz nicht erkannt. 76 Insgesamt, urteilt Canaris , sage das interessenjuristische System von Konfliktsentscheidungen "über die Sinneinheit des Rechts so gut wie nichts aus". 77 Denn die tragenden Grundgedanken des Rechts seien mit den Konfliktsentscheidungen nicht identisch, sondern liegen diesen zugrunde. 78 Man würde sie im übrigen auch ihres rechtsethischen Gehalts berauben, wenn man sie auf bloße Konfliktsentscheidungen reduzierte. 79 Die Kritik von Canaris an einem System von Konfliktsentscheidungen, wie es Heck vorschwebte, ist durchaus berechtigt. Damit ist aber noch nicht geklärt, ob sich die verschiedenen Konfliktsentscheidungen des Rechts nicht doch zu einem tragfahigeren System zusammenschließen lassen, ob mit anderen Worten in den Konfliktsentscheidungen nicht dennoch ein tauglicher Ansatzpunkt für die systematische Erfassung des Rechts liegt. Dafür, das rechtswissenschaftliche System auf dem Gedanken der Konfliktsentscheidung aufzubauen, sprechen vor allem zwei der schon von Heck herausgestellten Gesichtspunkte. Mit der Konfliktsentscheidung wird von der zentralen Aufgabe des Rechts, über Konflikte der Lebenswelt zu entscheiden, ausgegangen. Dementsprechend bringt ein System der Konfliktsentscheidungen auch den Bezug des rechtswissenschaftlichen Systems zur Lebenswelt zum Ausdruck. Gleichwohl bleibt das System der Konfliktsentscheidungen aber das System des Rechts. Es versucht also nicht etwa zu einer Abbildung der Lebensverhältnisse zu gelangen. Seinen Ausgang nimmt es vielmehr bei der Mannigfaltigkeit der Konfliktsentscheidungen des Rechts. Damit geht es also um eine Systematisierung der rechtlichen Konfliktsentscheidungen. Insoweit ist das System der Konfliktsentscheidungen normatives System. Beide der soeben genannten Aspekte sind für die Ausrichtung des rechtswissenschaftlichen Systems von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Schlechthin unerläßlich ist dann aber in der Tat auch die Fähigkeit des rechtswissenschaftlichen Systems, die grundlegenden Prinzipien eines 7 4 75 7 6
Ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 36 f. Ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 38. Ders. y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 38.
77
Ders. y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 39.
78
Ders. y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 39.
7 9
Ders. y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 39.
. Das System der Ansprüche
23
Rechtsgebietes zum Ausdruck zu bringen. Einem System der Konfliktsentscheidungen müßte es also darum gehen, einen Zusammenhang zwischen diesen Prinzipien und den Konfliktsentscheidungen herzustellen. Für dieses Problem hat Canaris mit seiner Bemerkung, daß die tragenden Grundgedanken den Konfliktsentscheidungen zugrunde liegen, im Grunde schon die Lösung vorgezeichnet, ohne daß er selbst sich aber über Bedeutung und Tragweite seiner Feststellung völlig im klaren gewesen wäre. Auf der Basis der oben bereits vorgestellten methodisch vertieften Anspruchstheorie Schopps fällt die Verknüpfung der Konfliktsentscheidungen mit den grundlegenden Prinzipien nun leicht: Die Prinzipien sind Grundlage der Konfliktsentscheidungen. Als Tatbestand begründen die Prinzipien die Rechtsfolge der Konfliktsentscheidung. Mit der Aufdeckung dieses Zusammenhanges lassen sich die Konfliktsentscheidungen zu einem System zusammenschließen, das auch den grundlegenden Gedanken des Rechts gerecht wird. Wir bezeichnen dieses System der Konfliktsentscheidungen als das Anspruchssystem des Rechts. Das Anspruchssystem ordnet die Vielzahl der rechtlichen Konfliktsentscheidungen unter verschiedenen Aspekten. Zunächst einmal ist es ein System der Konfliktsentscheidungen, das die Anspruchsentscheidungen in den Mittelpunkt des Systems stellt und sie von den sonstigen Entscheidungen des Rechts unterscheidet. Dies entspricht der Auffassung, daß der Anspruch das zentrale Instrument der juristischen Arbeit ist. Damit werden die sonstigen Konfliktsentscheidungen des Rechts natürlich nicht bedeutungslos. Sie stellen Hilfsnormen für die Anspruchsentscheidungen dar, welche die Voraussetzungen einer solchen umfassenden Entscheidung über den Anspruch präzisieren. Die Hilfsnormen sind also den Anspruchsentscheidungen zugeordnet.80 Im Zivilrecht ist die Ordnung der Anspruchsvoraussetzungen auf der Grundlage der Unterscheidung von anspruchsbegründenden Voraussetzungen, anspruchshindernden und anspruchsvernichtenden Einwendungen sowie rechtshemmenden Einreden so weit verfeinert, daß man hier geradezu von einem "inneren System" der Ansprüche sprechen kann. 81 Grundlage des gewissermaßen "äußeren Systems" der Ansprüche, des eigentlichen Anspruchssystems, sind die Rechtsgedanken oder Prinzipien, mit denen das Recht die Anspruchsentscheidungen begründet. 82 Die Anzahl solcher grundlegenden Rechtsgedanken ist nicht, wie man wohl meinen könnte, unbegrenzt. Tatsächlich haben sich im Verlaufe der Rechtsgeschichte einige wenige große Rechtsgedanken herauskristallisiert, die als Begründungen für 80
Zum Verhältnis von Anspruchsnorm und Hilfsnorm vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 II; Medicus, AcP 174 (1974), 313 ff. 81 So Schapp, JuS 1992, 537 (539); ähnlich auch schon ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 1. 82 Vgl. dazu insgesamt Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV; ders., JuS 1992, 537 (539).
24
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wertsystem
Konfliktsentscheidungen dann auch eine Systematisierung der Ansprüche ermöglichen. Als solche grundlegenden Prinzipien lassen sich fur den Kernbereich des bürgerlichen Rechts das Eigentum und das Schuldverhältnis nennen. 83 Für große Teile des öffentlichen Rechts kann man hierzu vor allem die Grundrechte zählen. Weiter sind aber nicht nur die großen Rechtsgedanken selbst, mit deren Hilfe Ansprüche begründet werden, in ihrer Anzahl beschränkt, sondern auch die Techniken ihrer Handhabung durch die juristische Dogmatik. So werden im Zivilrecht die sog. dinglichen Ansprüche aus dem Eigentum als einem absoluten Recht begründet. Das als Prototyp des Rechtsverhältnisses verstandene Schuldverhältnis begründet demgegenüber den schuldrechtlichen Anspruch. Die zivilrechtlichen Anspruchsentscheidungen erfolgen also aus den leitenden Rechtsgedanken in ihrer Formung durch die dogmatischen Figuren des absoluten Rechts und des Rechtsverhältnisses. Nach unserer Auffassung gilt auch für das öffentliche Recht nichts anderes. Auch die öffentlich-rechtlichen Anspruchsentscheidungen erfolgen durch Begründung aus den absoluten Rechten und Rechtsverhältnissen des öffentlichen Rechts. Anders als für die zivilrechtliche Dogmatik, die sich mehr oder weniger ohnehin am Anspruch orientiert, liegt darin für das öffentliche Recht allerdings eine Umakzentuierung des dogmatischen Systems, ohne daß dadurch aber seine Eigenart verloren ginge. Die Erfassung auch des öffentlichen Rechts als Anspruchssystem gewährleistet nicht nur einen einheitlichen systematischen Ansatz für bürgerliches Recht und öffentliches Recht, sondern scheint uns fur die juristische Arbeit auch ein adäquateres Verständnis der Beziehung zwischen Staat und Bürger zu ermöglichen. Die Entfaltung der soeben umrissenen Gedanken zunächst für das Zivilrecht und sodann ihre Entwicklung für das öffentliche Recht steht im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Dementsprechend handelt der zweite Teil von der Begründung der Ansprüche im Zivilrecht, der dritte Teil von der Begründung der Ansprüche im öffentlichen Recht. Bevor die Darlegung sich der näheren Skizzierung des Anspruchssystems für Kernbereiche des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts zuwendet, soll jedoch ein Aspekt hervorgehoben und diskutiert werden, der auch erst ein volles Verständnis des Anspruchssystems ermöglicht: Das Anspruchssystem ist auch Wertsystem.
83
Vgl. auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV.
Π. Das System der Ansprüche
25
2. Das Anspruchssystem als Wertsystem a) Das Wertsystem
als rechtlich anerkanntes Gütersystem
Das Anspruchssystem wird auf der Grundlage des Gedankens der Begründung der Ansprüche gebildet. Die Begründung der Ansprüche erfolgt durch Prinzipien wie Eigentum, Schuldverhältnis oder den in den verschiedenen Grundrechten zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken. Diese Prinzipien oder Rechtsgedanken haben ihre Grundlage in der Lebenswelt. Damit sind nicht nur die Konfliktsentscheidungen auf die Lebenswelt bezogen, sondern auch die Begründungen fur diese Entscheidungen. Als Begründungen sind die Rechtsgedanken oder Prinzipien Ausdruck werthafter Momente der Lebenswirklichkeit. Insofern kann man von ihnen auch als Wertprinzipien sprechen. 84 Die Wertmomente der Lebenswelt ergeben sich zu einem großen Teil aus der Bewertung konkreter Gegenständlichkeiten von zeitlich-idealer Existenz, in denen man die Güter dieser Lebenswelt sehen kann. 85 Die rechtlichen Wertprinzipien repräsentieren damit die vom Recht anerkannten Güter der Lebenswelt.86 Auf der Begründungsseite stellt sich das Anspruchssystem deshalb als das vom Recht anerkannte Gütersystem dar, das man in seiner Begründungsfunktion für Ansprüche auch als Wert- oder Wertprinzipiensystem bezeichnen kann. Als der sich auf die Lebenswelt beziehende Ordnungszusammenhang des Rechts ist dieses System notwendig fragmentarisch. Von Canaris ist mit Recht auf die unterschiedlichen Blickwinkel hingewiesen worden, die sich daraus ergeben, ob man die Bildung des Rechtssystems auf Normen, Begriffe, Rechtsprinzipien, Rechtsinstitute oder Werte gründet. 87 Der Vorteil von Prinzipien gegenüber Begriffen liege darin, daß sie
84 Zum Wertprinzip vgl. auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 4, VI. 85 Zu Schuldverhältnis und Eigentum als Wertprinzipien und konkreten Gegenständlichkeiten vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 4, VI. 86 Zu diesem Zusammenhang von Gegenständlichkeit und Wertprinzip vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 4, VI. - Unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung von "Struktur und Wert", von "institutionellem und prinzipiellem Denken", deutet Behrends sowohl das römische Privatrecht als auch das geltende bürgerliche Recht, vgl. ders., SZ, Rom. Abt., 95 (1978), 187 ff., ders., in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, S. 138 ff. Behrends versteht das Institut aber als ein bloßes "rechtstechnisches, wertneutrales Begriffsgebilde" und betont dementsprechend vor allem die Unterscheidung von Institut und Prinzip, während es uns eher auf deren Zusammengehörigkeit ankommt. Dennoch ergeben sich wichtige Berührungspunkte mit dessen Analysen, die insbesondere darauf beruhen, daß auch Behrends die Unterscheidung von lebensweltlicher und rechtlicher Ebene zugrunde legt. 87
Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 48 ff.
26
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Wertungen explizit machen.88 Um diesen Wertungscharakter der Prinzipien zum Ausdruck zu bringen, bezeichnen wir sie auch als Wertprinzipien. Canaris macht weiter auf den Unterschied zwischen Wert und Prinzip aufmerksam. Das Prinzip, so sagt er, sei bereits eine Stufe weiter konkretisiert als der Wert. 8 9 Anders als der Wert weise das Prinzip doch schon immerhin die Richtung fur die Rechtsfolge. 90 Das ergibt sich unserer Auffassung nach auch daraus, daß die Wertprinzipien Rechtsprinzipien sind und die in ihnen liegenden Wertmomente deshalb auch schon immer in ihrer Formung durch das Recht erscheinen. Das Rechtsinstitut hingegen ist fur die Bildung des Rechtssystems nach Ansicht von Canaris weniger geeignet.91 Das begründet er vor allem damit, daß die Rechtsinstitute regelmäßig nicht auf einer einzigen Wertung, sondern auf der Verbindung mehrerer Rechtsgedanken beruhen. 92 Das ist durchaus richtig gesehen, allerdings kann man hier die Akzente auch anders setzen. Die Aufgabe des praktisch tätigen Juristen besteht vor allem in der Konkretisierung der Wertprinzipien fur den Einzelfall, um ihn so der rechtlichen Entscheidung zuzuführen. Bei dem Vorgang der Konkretisierung von Wertprinzipien sind unterschiedliche Momente zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang scheinen uns auch die rechtlich anerkannten Güter der Lebenswelt von Bedeutung zu sein. Die Wertprinzipien repräsentieren die vom Recht anerkannten Güter der Lebenswelt. Allerdings greift das Recht im Wertprinzip gewissermaßen nur die "Leitidee"93 dieser Güter heraus, während sie selbst als Güter der Lebenswelt durch eine Reihe weiterer, rechtlich unabgeklärter Wertmomente charakterisiert sind. Über das Wertprinzip werden aber auch diese Momente für die Rechtsgewinnung bedeutsam. Sie geben im Einzelfall den Rahmen fur die Konkretisierung der Wertprinzipien. Dieser durch die Wertprinzipien angedeutete Rahmen von Wertmomenten wird durch das Institut umrissen.94 Das Anspruchssystem ruht daher mit dem Gedanken der Begründung von Ansprüchen über die Wertprinzipien zugleich auf den Gütern der Lebenswelt. 88 Ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 50. Zum Prinzip als Ausdruck einer an Rechtswerten orientierten Betrachtungsweise vgl. auch LarenZy Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 474 ff., insbes. S. 481; ders.y Festschrift für Wüburg, 217 (222 ff.).
Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 51.
8 9
CanariSy
90
Ders.y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 52 (Fn. 147).
91
Ders. y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 50 f.
92
Ders. y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 50.
93
Der Begriff der "Leit-" oder auch "Wertidee" ("idée d'oeuvre") geht auf das institutionelle Rechtsdenken Haurious zurück, vgl. Die Theorie der Institution, S. 34 ff. 94 Die Auffassung der Rechtsgedanken oder Prinzipien als Grundlage der Institutionenbildung durchzieht das Werk von Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, siehe etwa S. 321 ff.
. Das System der Ansprüche
27
Den Zusammenhang von Wertprinzipien und lebensweltlichen Gütern kann man sich etwa am Beispiel des Eigentums vergegenwärtigen. Bereits oben ist darauf hingewiesen worden, daß Eigentum in der Lebenswelt zunächst als wirtschaftliches Eigentum auftaucht, an das die Entscheidungen des Rechts anknüpfen. Mit dem wirtschaftlichen Eigentum ist eine konkrete Gegenständlichkeit von räumlich-zeitlicher Existenz gegeben. Als wirtschaftliches Gut unterliegt das Eigentum der Bewertung durch die Wirtschaftssubjekte nach den von ihnen mit dem Gut verfolgten Zwecken. Ganz vereinfacht kann man davon ausgehen, daß Angebot und Nachfrage auf dem Markt den Preis eines Gutes bestimmen.95 Dieser ökonomische Wertbegriff im Sinne des Preises, der für eine Sache gefordert wird, ist ursprünglich offenbar eine der gebräuchlichsten Vorstellungen zu den Werten gewesen.96 Wie der Wirtschaftsbereich aber nur einen Ausschnitt aus der Lebenswelt darstellt, so ist auch das ökonomische Wertgefüge in die Gesamtheit der Wertbildungen im Bereich der Lebenswelt eingeordnet. Nicht nur der Wert der ökonomischen Güter, sondern die Werthaftigkeit der Güter der Lebenswelt insgesamt beruht also auf den Werteinschätzungen in der Lebenswelt.97 Die Lebenswelt ist insofern immer auch schon Weitweit. 98 Diese wenigen Bemerkungen zur Verankerung der Güter und Werte in der Lebenswelt können an dieser Stelle genügen. Das hier zugrunde gelegte Wertverständnis ist damit fur unsere Zwecke hinreichend umrissen. Für einen näheren Zugang zu dieser Weitweit dürfen wir auf die an der Lebenswelt orientierten Betrachtungen hinweisen, wie sie nicht nur von Wilhelm Dilthey ,99 sondern etwa auch von Wilhelm Schapp 100 vorgelegt worden sind.
95
Zum Markt als "Dialog über Werte" vgl. Fikentscher,
Wirtschaftsrecht, § 1 I 11.
96
Vgl. zum ökonomischen Wertbegriff etwa Hubig/Müller, Art. "Wert", oder auch C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 39 ff.; E.-W. Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 68. 97 Vgl. dazu auch etwa Starck, Festschrift fur W. Geiger, 40 (41), der mit Recht feststellt, daß der ökonomische Wert nur ein Beispiel fur die Wertbeurteilungen der Menschen darstellt. Im übrigen steht die Studie von Starck auch ansonsten dem hier vertretenen Wertverständnis sehr nahe. So geht auch Starck davon aus, daß der Formulierung des rechtlichen Tatbestandes eine Bewertung des Gesetzgebers zugrunde liegt (S. 41, vgl. auch S. 45). Dann wird von ihm auch deutlich zwischen Rechtswerten und sonstigen Werten unterschieden (S. 43), wobei die Rechtswerte als die vom Verfassungsgeber oder vom Gesetzgeber anerkannten Werte verstanden werden (S. 55). 98
Zum Begriff der Wertwelt vgl. Wilhelm Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. II: Wert, Werk und Eigentum, S. 3 ff. - Für ein wertorientiertes Verständnis der Lebenswelt in Form der "Sorge um die Bewahrung der Lebenswelt" vgl. jetzt auch die konzeptionellen Überlegungen zum Umweltrecht von Steiger, AöR 117 (1992), 100 (103 ff.). 99 Zur Herausbildung von Wert und Zweck in den geschichtlich-kulturellen Lebenszusammenhängen vgl. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 314 ff. Zu den Ansätzen einer Wertbetrachtung in der Philoso-
28
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Weitsystem
Die Orientierung des Rechtssystems an der Werthaftigkeit der Lebensgüter läßt sich weit in die Geschichte des Rechts zurückverfolgen. So basiert die Darstellung des römischen Zivilrechts im Institutionensystem des Gaius nicht von ungefähr auf dem Zentralbegriff der res und der daran anknüpfenden Unterscheidung von res corporalis und res incorporalis, in der die Unterscheidung von res und obligatio angelegt ist. 1 0 1 Im Verlaufe der historischen Entwicklung ist seitdem in unterschiedlichen Formulierungen (Eigen und Schuld, Haben und Bekommensollen) immer wieder die Unterscheidung von res und obligatio zum Ausgangspunkt der zivilrechtlichen Systembildung geworden. 1 0 2 Mit der Unterscheidung von Schuldverhältnis und Eigentum, von Schuldrecht und Sachenrecht, liegt sie auch dem System des geltenden bürgerlichen Rechts zugrunde. In Anknüpfung an diese Tradition ist das zivilrechtliche System zuletzt in aller Eindringlichkeit von Jan Schapp zur Darstellung gebracht worden. 103 Aber auch im öffentlichen Recht kann mit dem Verständnis des Rechts als eines Wertsystems im Sinne eines rechtlich anerkannten Gütersystems an ältere Überlegungen angeknüpft werden. So hat schon 1928 Rudolf Smend in seinem Werk "Verfassung und Verfassungsrecht" angenommen, daß die Grundrechte ein "Wert- oder Güter-, ein Kultursystem normieren". 104 Für ihn stellen die Grundrechte sich als in der geschichtlichen Entwicklung herausgebildete, von der Verfassung aufgenommene konkrete sachliche Kulturgüter dar. 1 0 5 Um ein Verständnis des öffentlichen Rechts als eines Wert- oder Rechtsgütersystems hat sich in neuerer Zeit vor allem Peter Häberle seit seiner grundlegenden Abhandlung über "Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz" bemüht. 106 Und phie Dilthey s und ihrem Umkreis vgl. die Darstellung bei Rennert, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 89 ff. 100
S. 3 ff.
Vgl. W. Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. I, S. 7 ff., Bd. II,
101
Vgl. Gaius, Institutionen, 2, §§ 12 ff. Siehe dazu vor allem die viel zu wenig beachtete Arbeit von Dubischar, Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative; zu Teilabschnitten dieser historischen Entwicklung etwa auch Coing , Zur Geschichte des Begriffs "subjektives Recht"; Fezer, Teilhabe und Verantwortung, insbes. § § 3 , 4 . 102
103 104
Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, §§ 2 ff.; ders. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 264.
y
JuS 1992, 537 ff.
105 vgl. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 96. Zu diesem Wertverständnis Smends vgl. auch Hollerbach, AöR 85 (1960), 241 (253 ff.); Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, S. 17 ff., 21. 106 vgl. auch die Bemerkung Häberles im Rahmen der Fortschreibung von 1982, a.a.O., S. 331, zum Zusammenhang von Wert- und Rechtsgüterdenken. Zum Wertverständnis der Grundrechte als schützenswerter Güter etwa auch Robbers, Zur Verteidigung einer Wertorientierung in der Rechtsdogmatik, S. 166; in diese Richtung geht wohl auch das Wertverständnis der Grundrechte als "normative Privilegierung bestimmter Güter oder Interessen" bei Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 155 ff.
29
. Das System der Ansprüche
dennoch, trotz dieser großen historischen Tradition stößt heute der Gedanke einer Wertorientierung des Rechtssystems auf z.T. heftige Ablehnung. Die Kritik tragt hier sehr unterschiedliche Gründe vor, die in mancher Hinsicht auch berechtigt sind. Diesen Einwänden wollen wir uns nun zuwenden. b) Die Kritik
an der Wertorientierung
des Rechtssystems
Ein Verständnis des Rechts auch als Wertsystem hat sich in jedem Falle mit zwei Problemkreisen auseinanderzusetzen: dem Systemgedanken und dem Wertgedanken. Dementsprechend kann man die kritischen Einwände danach unterscheiden, ob sie sich in erster Linie gegen das der Wertbetrachtung zugrunde liegende Systemverständnis richten oder aber gegen die Bedeutung des Wertgedankens fur die rechtssystematische Arbeit. In der Literatur geht die Erörterung beider Fragenkreise, wie sich auch im folgenden zeigen wird, häufig ineinander über. Dennoch lassen sich hier grobe Orientierungspunkte festmachen. So bezieht sich etwa die Kritik Jan Schopps vor allem auf einen bestimmten Systemgedanken, während Ernst-Wolfgang Böckenförde eher von einer Kritik des Wertdenkens ausgeht. Beide Positionen sollen im folgenden erörtert werden. aa) Die Kritik am Denken in Wertsystemen von Jan Schapp Bereits oben war darauf hingewiesen worden, daß Schapp die von ihm in seiner Schrift "Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung" entwickelte Konzeption zum Anspruch in Auseinandersetzung mit einem normativen und einem metaphysischen Verständnis des subjektiven Rechts entwickelt hat. Die Auffassung des Anspruchs als Konfliktsentscheidung stellt zunächst einmal eine Erweiterung der Perspektive des bloß normativen Ansatzes dar. Schapp hat den Anspruch aber weiter auch von dem metaphysischen Ansatz zum subjektiven Recht abgegrenzt. Seine Kritik an dieser Position geht dahin, daß sie das subjektive Recht als Teil eines Wertsystems versteht, das seinerseits mit dem Rechtssystem identifiziert wird. Der metaphysische Ansatz sieht - so die Darstellung Schapps - den eigentlichen Gehalt des subjektiven Rechts durch den Begriff der Freiheit umschrieben. 1 0 7 Das subjektive Recht erscheint hier als Ausdruck der Freiheit oder auch Personalität des Menschen. Dieses Verständnis des subjektiven Rechts hat zu zwei ganz gegensätzlichen Positionen geführt, denen nur gemeinsam ist, daß sie den Begriff des subjektiven Rechts mit dem Gedanken einer liberal verstandenen Freiheit identifizieren. Für die kritische Position liegt dem Begriff des subjektiven Rechts mit dem liberalen Freiheitsverständnis des 19.
107
Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 9, 118.
30
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Jahrhunderts ein überholtes Freiheitsverständnis zugrunde. 108 Die liberale Rechtssystematik und damit auch der Begriff des subjektiven Rechts sei, so heißt es hier, durch die gesellschaftspolitische Entwicklung unserer Zeit überholt. Die Rechtssystematik bedürfe daher insgesamt einer Revision oder müsse sogar durch eine andere Rechtssystematik ersetzt werden. Dagegen hält die andere Auffassung am subjektiven Recht als Ausdruck einer im liberalen Sinne verstandenen Freiheit fest. Im einzelnen bezieht Schapp sich hier auf Überlegungen von Coing , L. Raiser und Wieacker zu einer Ergänzung des Privatrechtssystems, während er für das öffentliche Recht vor allem die Kontroverse um das Verständnis der Grundrechte zwischen Hesse und Häberle einerseits sowie Forsthoff andererseits im Auge hat. 1 0 9 In dieser Diskussion schwingt die Entgegensetzung von institutionellem Rechtsdenken und Eingriffs· und Schrankendenken mit, auf die zurückzukommen sein wird. 1 1 0 Mit der Auffassung des Anspruchs als Konfliktsentscheidung verfügt Schapp über einen Standpunkt, der es ihm ermöglicht, das Ungenügen beider Positionen zum subjektiven Recht aufzuzeigen. Nicht nur legen beide Konzeptionen dem subjektiven Recht ein - wenn auch jeweils unterschiedliches Freiheitsverstandnis zugrunde. Gemeinsam liegt ihnen unausgesprochen auch die Überzeugung zugrunde, daß die Rechtsgebilde Konkretisierungen eines obersten Wertes sind, dem der Freiheit. 111 Nicht nur der Begriff des subjektiven Rechts, sondern sämtliche Begriffe des Rechts, das Rechtssystem insgesamt, werden in beiden Konzeptionen auf diesen obersten Wert bezogen und von ihm aus entworfen. 112 Für einen solchen Denkansatz bedeutet, wie Schapp feststellt, jede Veränderung des Freiheitsverständnisses zugleich auch eine Veränderung des obersten Wertes, die sich dann auch auf das Rechtssystem und seine Grundbegriffe auswirken muß. Der oberste Wert greife dann gewissermaßen unmittelbar durch das Recht durch. 113 Für eine Rechtssystematik ist dieser Denkansatz, wie Schapp mit Recht darlegt, zu undifferenziert. Das Rechtssystem werde hier von einem vorausgesetzten geistigen Wertsystem her konzipiert und schließlich mit diesem identifiziert. 114 Den geistigen Hintergrund dieses Denkansatzes, der das Rechtssystem als Wertsystem denkt, sieht Schapp zu einem wesentlichen Teil
108
Vgl. ders.. Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 118 f. 109 vgl. ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 23 f., 119, 123 ff., 132 ff., 138 ff., 192 ff. 110
Vgl. dazu auch ders.y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 59.
111
Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 120.
112
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 120. Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 24, 120.
113 114
Vgl. ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 120.
II. Das System der Ansprüche
31
in der philosophischen Tradition des Idealismus, dessen Systeme seit der Aufklärung vom Begriff der Freiheit her entworfen sind. 115 Im übrigen sei das Denken in einem Wertsystem nichts anderes als der naturrechtliche Ansatz ergänzt durch den Gedanken einer Wandelbarkeit des obersten Wertes. 116 Die Problematik dieser Auffassung liegt, wie Schapp deutlich macht, darin, daß der Versuch der Identifikation des Rechtssystems mit einem vorausgesetzten Wertsystem dem Recht keine Funktion mehr läßt. 1 1 7 Im Rahmen dieses Denkansatzes sei die Trennung des Wertbegriffes der Freiheit vom Begriff des subjektiven Rechts nicht mehr möglich. Damit könne auch die funktionale Bedeutung des subjektiven Rechts nicht mehr deutlich gemacht werden. Im Gegensatz dazu bleibt mit dem Verständnis des Anspruchs als Konfliktsentscheidung fur Schapp eine funktionale Betrachtung des Rechts möglich. Auf der Grundlage dieses Ansatzes läßt sich nicht nur der Begriff des subjektiven Rechts vom Wertgedanken der Freiheit methodisch abschichten, sondern das Rechtssystem und seine Begriffe lassen sich insgesamt unabhängig von einer zugrunde gelegten Freiheitsmetaphysik in ihrer Funktion untersuchen. 118 Die Rechtsgebilde müssen damit nicht mehr als unmittelbarer Ausdruck von Freiheit verstanden werden, sondern die Freiheitsproblematik erscheint als eine Frage, die an das Gesamtsystem gestellt werden muß, so wie es durch die politische Verfassung vorgegeben ist. 1 1 9 Auf der Grundlage der Auffassung des Anspruchs als Konfliktsentscheidung kann, wie bereits dargelegt, das Recht als Anspruchssystem verstanden werden, das in seinen Begründungen auch als Wertsystem gedeutet werden kann. Bei diesen Überlegungen haben wir uns vor allem auch auf das von Schapp dargestellte Anspruchssystem des Zivilrechts gestützt. Widerspricht die Deutung des Anspruchssystems als Wertsystem nicht der soeben dargestellten Kritik Schapps am Denken in Wertsystemen? Oder bleibt trotz dieser Kritik nicht doch ein - von Schapp allerdings nicht mehr näher ausgearbeitetes - Verständnis des Rechts als Wertsystem möglich? In jedem Falle halten wir fur eine Beantwortung dieser Frage noch eine genauere Bestimmung des von uns zugrunde gelegten Gedankens des Wertsystems fur erforderlich.
115
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 120.
116
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 121.
117
Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 24, 121.
118
Vgl. ders.y
Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 18 ff.,
122 f. 119 Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 21. Zum Freiheitsverständnis auf der Grundlage einer Anspruchskonzeption des Rechts vgl. jetzt im einzelnen ders., AcP 192 (1992), 355 ff.
32
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Die Kritik Schapps am Denken in Wertsystemen erweckt zunächst den Anschein, als ob damit kein Raum mehr fur den Gedanken einer Wertorientierung des Rechts sei. In diesem Sinne sind die Ausführungen Schapps etwa von Fezer verstanden worden. Fezer trägt zu der Anspruchskonzeption Schapps den Einwand vor, daß die Abschichtung der Freiheitsproblematik von der Rechtssystematik eine "Entethisierung des Rechts" bedeute und damit dessen Funktionen verkürze. 120 Es bestehe die Gefahr, daß "die Phänomene als Vorgegebenheiten das subjektive Recht seines Kerns berauben und nur noch die juristisch-technische Schale des Anspruchs bleibt". 121 Das Recht verliere so endgültig seine Eigenwertigkeit und Eigenständigkeit.122 Nach unserer Auffassung führt die Kritik Fezers nicht weiter. Im Grunde bedient auch er sich des von Schapp gerade für nicht ausreichend gehaltenen theoretischen Ansatzes, der das Rechtssystem mit einem auf dem Gedanken der Freiheit aufbauenden Wertsystem identifiziert. Das kommt etwa darin zum Ausdruck, daß auch für Fezer noch das subjektive Recht "ein Stück menschlicher Freiheit" darstellt. 123 Einer sinnvollen Auseinandersetzung mit der Problematik der Wertbetrachtung des Rechts darf es aber nicht mehr genügen, die Identifizierung des Rechtssystems mit einem geistigen Wertsystem für berechtigt oder für unberechtigt zu halten. Diese Konfrontation, in die sich nach unserer Einschätzung eine Reihe von Stellungnahmen zur Wertbetrachtung des Rechts einreihen, kann auf Dauer nur unfruchtbar sein. Hier gilt in der Tat "ein trockenes Versichern gerade so viel als ein anderes". 124 Eine sinnvollere Fragestellung müßte unserer Ansicht nach künftig viel mehr sein, ob und wie sich ein Wertverständnis des Rechts begründen läßt, das das Rechtssystem nicht zugleich einem vorausgesetzten Wertsystem ausliefert. Dazu muß man allerdings zunächst einmal volle Klarheit darüber erreichen, welches Systemverstandnis der Auffassung zugrunde liegt, die das Rechtssystem mit einem Wertsystem identifiziert. Dieses Systemverständnis scheint uns auch der eigentliche Angriffspunkt in der Kritik Schapps am Denken in Wertsystemen zu sein. Der geistige Hintergrund des von ihm abgelehnten Systemverständnisses ist von Schapp selbst namhaft gemacht worden: Dem Versuch, das Rechtssystem mit einem geistigen Wertsystem zu identifizieren, liegt ein hochidealistisches 120 121 122 123
Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 357. Ders., Teilhabe und Verantwortung, S. 357. Vgl. ders.y Teilhabe und Verantwortung, S. 357. Ders. y Teilhabe und Verantwortung, passim, vgl. etwa S. 2, 6, 205 ff.
124 Die Formulierung beruht auf einer Wendung Hegels in der Einleitung (S. 71) zur "Phänomenologie des Geistes". Sie ist in den letzten Jahren in kritischer Absicht von Spaemanriy Die Aktualität des Naturrechts, S. 62, und E.-W. Böckenförde y Zur Wertbegründung des Rechts, S. 86, gegen Versuche einer Wertbegründung des Rechts angeführt worden.
Π. Das System der Ansprüche
33
Systemdenken zugrunde. 125 Das System ruht hier auf einem obersten Wertbegriff, der gleichzeitig auch die Einheit dieses Systems gewährleistet. Sämtliche weiteren Begriffe des Systems sind in Abstufungen zu diesem höchsten Wert hin zugeordnet, von dem aus sich das System dann entfaltet. Seine wohl tiefste philosophische Begründung hat dieser Systemgedanke in der Philosophie des deutschen Idealismus gefunden als dem Versuch, "die Welt gleichsam aus einem Punkte" zu begreifen. 126 Dieser Systemgedanke liegt vor allem den formal-logischen Systemen zugrunde, wie sie das juristische Denken seit der Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts geprägt haben. Aber auch die modernen Bemühungen um einen teleologischen Systembegriff sind in diesen Gedankengängen noch verwurzelt. So gehen auch Canaris und Larenz - um hier nur die bekanntesten Vertreter dieses Systemverständnisses zu nennen von der Auffassung aus, daß die systembildenden Rechtsprinzipien "besondere Ausprägungen der Rechtsidee" sind. 127 Das Recht wird nicht nur "auf einige tragende Grundprinzipien" 128 zurückgeführt, sondern die Ordnung des Rechts erscheint insgesamt als "Emanation der Rechtsidee".129 Dieses idealistische Systemverständnis wird von Canaris auch deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn er folgendes festhält: "So wurzelt der Systemgedanke in der Tat mittelbar in der Rechtsidee (als dem Inbegriff der obersten Rechtswerte). Er ist dementsprechend jedem positiven Recht immanent, weil und sofern dieses deren Konkretisierung (in einer bestimmten historischen Form) darstellt (...)." 1 3 ° Die Notwendigkeit einer Identifizierung des Rechtssystems mit dem Wertsystem ergibt sich fur diesen Denkansatz daraus, daß entsprechend dem idealistischen Verständnis den Werten eine höhere Seinsweise zukommt als den Gebilden des Rechts. Wirklichkeit kommt dem Recht überhaupt nur zu, soweit sich in ihm das Sein der Werte niederschlägt. Für den idealistischen Denkansatz verläuft eine Linie, die nur vom Wert, von diesem aber unmittelbar zum Recht führt. Dementsprechend kann das Rechtssystem auch nur als Abbild des Wertsystems verstanden werden. Daß in diesem Abbildcharak-
125 Ygj Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 22 f., 120. 126 y g| Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 19. 127 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 474; vgl. auch ders., Richtiges Recht, S. 33 ff. (insbes. S. 42 ff.), sowie Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 18, 25. 128
Canaris
S. 46.
y
Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 13, ähnlich
129 ygj ^ e r s ^ Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 16 ff. 130
Ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 18.
3 Schur
34
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Weitsystem
ter des Rechts auch die Normativität des Rechts, seine "Eigenwertigkeit", verloren geht, wird dabei kaum noch als Problem empfunden. 131 Der von uns aus der Interessenjurisprudenz übernommene Gedanke des Rechts als Konfliktsentscheidung stellt demgegenüber die normative Funktion des Rechts in den Mittelpunkt. Das Recht fallt aus dieser Sicht Entscheidungen über Konflikte der Lebenswelt. Bei diesen Entscheidungen nimmt es in seinen Begründungen Wertmomente der Lebenswelt auf. Das hat man sich allerdings nicht so vorzustellen, daß diese Wertmomente auf die Begründungen des Rechts unmittelbar durchschlagen. Das Recht hat vielmehr die Möglichkeit, in selbständiger Weise Stellung zu nehmen zu der Vielzahl der in der Lebenswelt vorhandenen Wertmomente. Es kann einzelne Wertmomente herausheben und verstärken, andere auch vernachlässigen und damit zurückweisen. Anders als für den idealistischen Denkansatz bleibt daher für ein lebensweltliches Wertverständnis dem Recht eine eigene Funktion gegenüber der Wertwelt. Diese liegt darin, daß das Recht die Wertmomente der Lebenswelt erst gewichten und schließlich zur Anerkennung bringen muß. Die Gesamtheit dieser Bewertungen schließt sich, wie im einzelnen bereits dargelegt, zu einem Wertsystem des Rechts zusammen, dessen Funktion in der Begründung von Ansprüchen liegt. Dieses Wertsystem trägt, wie wir meinen, auch der Kritik Schapps am Denken in Wertsystemen Rechnung. Denn es stellt kein geistiges Wertsystem dar, das an das Recht herangetragen wird, sondern es ist - wie es auch schon dem Systemverständnis Hecks entsprach - das aus dem Recht und dem Rechtssystem selbst entwickelte Wertsystem. Anders als für das idealistische Systemverständnis wird das Recht hier nicht von einem einzigen obersten Wert beherrscht, sondern es stehen unter dem Gesichtspunkt der Begründung der Ansprüche eine Reihe großer Rechtsgedanken nebeneinander, die sich zum System des Rechts zusammenschließen.132 Der Weg zu diesem wertsystematischen Verständnis des Rechts ist im übrigen 131 Es ist denn auch kein Zufall, daß Canaris das System Hecks vor allem unter dem Gesichtspunkt der Einheit bemängelt hat und in diesem Zusammenhang auch dem Gedanken der Verankerung des Rechts in den Lebensverhältnissen nur wenig abgewinnen kann, vgl. ders., Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 37, 34 f. Da er entsprechend dem idealistischen Systemverständnis Lebensordnung und Rechtsordnung nur unter dem Gesichtspunkt der Identifizierung in ein Verhältnis zueinander setzen kann, glaubt er vor der Gefahr eines "den Rechtswert mißachtende(n) Soziologismus" warnen zu müssen, vgl. ders., a.a.O., S. 34. Nach unserer Auffassung stellen weder Soziologismus, noch Idealismus zureichende Alternativen dar, solange man das Recht jeweils nur als Abbild versteht. 132 Für die Wertwelt ist dieser Zusammenhang der Werte und alles Wertvollen von Wilhelm Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. II: Wert, Werk und Eigentum, S. 20, in eine Formulierung gefaßt worden, die zugleich auch die Eigenart des Wertreiches zum Ausdruck bringt: "Die Werte tragen sich gegenseitig. Man kann sich vielleicht von allen Werten keinen einzigen fortdenken, ohne daß die Wertwelt zusammenstürzt." Zum Recht als Synthese einer Gruppe von Werten vgl. auch Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 202.
. Das System der Ansprüche
35
auch von Schapp selbst gewiesen worden, wenn er das Zivilrecht nicht nur als Anspruchssystem begreift, sondern die Anspruchsbegründungen, auf denen dieses System aufbaut, auch als Wertprinzipien auffaßt. bb) Die Kritik an der Wertbegründung des Rechts durch Ernst-Wolfgang Böckenförde Im Mittelpunkt der Überlegungen von Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Abhandlung "Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts" steht die Frage nach der Wertbegründung des Rechts als einer rechtsphilosophischen Problemstellung.133 Es geht ihm also nicht - jedenfalls nicht in erster Linie - um eine rechtsmethodische Position der Begründung durch Werte. Er gesteht allerdings zu, daß für diese Frage zwischen rechtsphilosophischer Position und juristischer Methode ein enger Zusammenhang besteht. Die rechtsphilosophische Position der Wertbegründung des Rechts ist für Böckenförde durch die zentrale Aussage gekennzeichnet, daß "das positive Recht seine materiale Grundlage in Werten finde, die durch das Recht zu verwirklichen seien". 134 Die Rechtsordnung wird danach als Wert- oder Werteordnung verstanden und muß sich auch als solche darstellen. Böckenförde will in seinem Beitrag die Tragfähigkeit dieser Position untersuchen.135 Der von ihm dazu entwickelte Gedankengang soll im folgenden nicht in allen Einzelheiten betrachtet werden, wir greifen hier vielmehr nur einige der zentralen Kritikpunkte Bökkenfördes heraus, die auch für das von uns zugrunde gelegte wertsystematische Rechtsverständnis von Bedeutung sind. Böckenförde unterscheidet drei große Positionen philosophischen Wertdenkens: subjektives Wertdenken, objektives Wertdenken und die lebensweltlich orientierte Wertbetrachtung. 136 Sie zeichnen sich für ihn vor allem in der jeweiligen Herleitung und Begründung der Werte aus, weiter dann aber auch in der ihnen zugesprochenen Qualität und ihrer Ermittlung. 137 Als Vertreter der verschiedenen Richtungen nennt Böckenförde für das subjektive Wertdenken Max Weber y für das objektive Wertdenken vor allem Max Scheler und Nicolai Hartmann, für die lebensweltlich orientierte Wertbetrachtung Wilhelm Dilthey, 1 3 8 Die verschiedenen Denkansätze werden wie folgt charakterisiert: Im subjektiven Wertdenken beruhen die Werte auf Setzungen des Subjekts. Sie sind Ausdruck der Bewertungen der Individuen und damit letztlich nicht ra-
133
Böckenjörde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 67.
134
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 67. Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 68. Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 71 ff.
135 136 137
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 72.
138
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 71 ff.
36
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Weitsystem
tional begründbar. 139 Für das objektive Wertdenken hingegen sind die Werte Gegebenheiten von idealer Existenz. 140 Ihr Sein ist unabhängig vom Subjekt; dieses kann die Werte nur "erkennen". Dabei verweist Böckenförde vor allem auf "Wertschau" und "Werterleben" und damit auf "a-rationale" Erkenntnisweisen. 141 Das kann er auch deshalb tun, weil die platonische Ideenlehre von ihm aus diesem Denkansatz ausgeklammert wird. 1 4 2 Die lebensweltlich orientierte Wertbetrachtung sieht die Werte von den Individuen und der sie umgebenden Welt her. Die Werte sind hier geistig-kulturelle Objektivierungen, wie sie sich aus der geschichtlich gewordenen Lebenswelt ergeben. Dieses Wertdenken stellt fur Böckenförde "sozusagen eine Mitte zwischen wertsetzendem Subjektivismus und objektiv-universalem Idealismus" dar. 1 4 3 Böckenförde zieht aus dieser Darlegung der unterschiedlichen Richtungen des Wertdenkens verschiedene Schlußfolgerungen, welche fur ihn "ernste Zweifel an der Möglichkeit einer Wertbegründung des Rechts" begründen. 144 Die von ihm angesprochenen Probleme, die im übrigen allen Wertauffassungen gemeinsam sein sollen, betreffen "die Seinsweise der Werte" und "die Rang- und Stufenordnung der Werte". 145 Das Sein der Werte sieht Böckenförde dadurch bestimmt, daß sie nach Geltung streben. 146 Die Werte drängen nach Verwirklichung. Dieser "Aufforderungscharakter" der Werte begründet auch ihren "fordernden, antreibenden, ja aggressiven Charakter". 147 Die Werte ruhen nicht in sich, sondern bedürfen der ständigen Aktualisierung. Geschieht dies nicht, so verflüchtigen sie sich, werden unwirklich und sterben ab. 1 4 8 Das Problem der Aggressivität der Werte soll einen Moment genauer betrachtet werden. Böckenförde nimmt mit diesem Gedanken auf die außerordentlich einflußreiche Kritik des Wertdenkens durch Carl Schmitt Bezug, die dieser unter dem Titel "Die Tyrannei der Werte" veröffentlicht hat. 1 4 9 Schmitts zentraler Gedanke ist insoweit, daß der Setzung von Werten eine potentielle Aggressivität innewohnt, die zu nichts als einem "ewigen Kampf 139
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 72 f.
140
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 73 f.
141
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 73 f.
142
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 74.
143
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 74 f.
144
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechte, S. 81.
145
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 75 (Hervorhebungen von Böckenßrde). 146
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 75 f.
147
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechte, S. 76.
148
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechte, S. 76.
149 Auf die Kritik Schmitts zum Wertdenken hat sich zuletzt etwa auch Pawlowski, Methodenlehre fur Juristen, Rz. 851 f., bezogen.
. Das System der Ansprüche
37
der Werte und der Weltanschauungen" fuhrt. 150 Uns interessiert hier nicht - jedenfalls nicht sogleich -, ob Böckenförde (und auch Schmitt) mit diesen Thesen den verschiedenen Arten des Wertdenkens auch tatsachlich gerecht werden. Stattdessen fragen wir uns, worin denn die Bedeutung dieser Kritik am Wertdenken fur das Rechtsdenken besteht. Sowohl Böckenförde als auch Schmitt scheinen uns die Kritik am Wertdenken unmittelbar mit einer Kritik an der Wertbegründung des Rechts zu verknüpfen. Die Kritik am Wertdenken impliziert hier offenbar zugleich auch das Ungenügen einer Position, die Werte zum Ansatzpunkt der Rechtsbegründung nimmt. Im Grunde liegt damit auch dieser Kritik die bereits oben zurückgewiesene These der Identifizierung des Rechts mit einem vorausgesetzten Wertsystem zugrunde. Die Frage, die sich nach unserer Auffassung aus den Überlegungen Böckenfördes ergibt, müßte zunächst doch vielmehr sein, ob diese Gleichschaltung des Rechtsdenkens mit dem Wertdenken notwendige Folge aller dieser Wertauffassungen ist. Diese Frage ist, wie wir meinen, zu verneinen. Ihre Erörterung setzt aber voraus, daß man - anders als es bei Böckenförde geschieht - das Wertdenken von vorneherein in einem Bezug zum Rechtsdenken sieht. Bereits oben ist dargestellt worden, daß die Absorption des Rechtsdenkens durch das Wertdenken vor allem Folge eines idealistischen Wertverständnisses ist, das den Gegebenheiten und damit auch dem Recht überhaupt nur Wirklichkeit zumißt, soweit sich in ihm die Werte verwirklichen. Dem haben wir ein lebensweltliches Wertverständnis entgegengesetzt. Von erheblicher Bedeutung scheint uns nun zu sein, daß der von Böckenförde herausgestellte Aufforderungscharakter der Werte doch von grundlegend anderer Art ist, je nachdem, ob man von einem idealistischen oder aber einem lebensweltlich orientierten Wertverständnis ausgeht. In der Konsequenz des idealistischen Wertverständnisses liegt es in der Tat, daß die Werte auch für das Recht unbedingt verpflichtend sind. Dagegen kann die lebensweltlich orientierte Wertauffassung hier unterscheiden. Auch diesem Wertverständnis geht es, wie Böckenförde richtig sieht, 151 um die Herausarbeitung normativer Momente, die allerdings nur als Wertmomente der Lebenswelt begriffen werden. Anders als für das idealistische Wertverständnis bleibt für die lebensweltlich orientierte Wertauffassung dann aber die Möglichkeit der methodischen Trennung der als Wertwelt verstandenen Lebenswelt vom Recht, auch wenn letztlich beides ineinander verschlungen ist. Das liegt vor allem darin begründet, daß den Werten hier eben nicht zuallererst eine ideale Existenz zukommt, sondern sie als Momente der Lebenswelt auftauchen. Aus dieser Sicht hat auch der Gedanke des aggressiven Charakters der Werte seine - wenn auch beschränkte - Berechtigung. Der aggressive Cha150
Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 54, 55 ff.
151
Böckenförde,
Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 76 (mit Fn. 22).
38
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wertsystem
rakter der Werte betrifft ihren Aufforderungscharakter in der Lebenswelt. Hier können in der Tat oftmals unterschiedliche Werteinschätzungen aufeinanderprallen. Der Gedanke der Aggressivität der Werte verweist insoweit vor allem auf die Konfliktdimension der Lebenswelt. Dagegen bringt er nicht mehr die Funktion des Rechts zum Ausdruck, die darin liegt, über die Konflikte der Lebenswelt zu entscheiden. Das Recht knüpft bei diesen Entscheidungen an die in Streit stehenden Wertmomente der Lebenswelt an, indem es sie anerkennt oder aber auch zurückweist. Für das an der Lebenswelt orientierte Wertdenken bleibt dem Recht so durchaus noch die Möglichkeit einer solchen Bewertung der Wertmomente der Lebenswelt. Auf diese Weise gelangt es auch zu einem sinnvollen Verständnis für Leistung und Eigenart des Rechts im Ganzen der Lebenswelt. Wenn man so will, kommt den Werten erst mit ihrer Anerkennung durch das Recht im Streit der Werte eine friedensstiftende Funktion zu. Gleichzeitig tritt das Recht durch die Anerkennung von Werten aber auch der Gefahr ihrer Verflüchtigung entgegen. Als zweites zentrales Problem der verschiedenen Richtungen des Wertdenkens wird von Böckenförde die Rang- und Stufenordnung der Werte erörtert. 1 5 2 Die Vielzahl der nebeneinanderstehenden Wertforderungen, die sich nicht alle zugleich realisieren lassen, könnten nur durch eine Rang- und Stufenordnung der Werte praktisch handhabbar gemacht werden. 153 "Innerhalb der Werte", so Böckenförde, "muß es niedere und höhere Werte geben, die zueinander im Verhältnis der Vor- und Nachrangigkeit stehen".154 Die Konsequenz dieser Rang- und Stufenfolge der Werte sei - hier nimmt Böckenförde wiederum auf Überlegungen Schmitts Bezug -, daß jeder Wert abwägbar ist. 1 5 5 Im Bezugssystem der Werte kommt jedem Wert ein Stellenwert zu, der auch seine Höhe bei der Abwägung der Werte bestimmt. 156 Die höheren Werte setzen sich dabei gegenüber den niedrigeren Werten durch, die insoweit wertlos sind. Diese "Logik des Wertdenkens" führt schließlich dazu, daß der höchste Wert auch den höchsten Preis fordert. 157 Es kommt zur "Tyrannei der Werte", die, sofern es nicht mehrere Höchstwerte gibt, die Tyrannei des höchsten Wertes ist. 1 5 8 Für die Bestimmung des konkreten Stellenwertes eines Wertes gibt es, so Böckenförde weiter, schließlich auch keinen 152 153 154
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 76 ff. Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 76 f. Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 77.
155
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 78; vgl. auch Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 59. 156 Böckenförde y Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 78; Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 55. 157 Böckenförde y Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 78; Schmitt y Die Tyrannei der Werte, S. 60. 158 Vgl. Böckenfördey Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 78.
. Das System der Ansprüche
39
objektiver Erkenntnis zugänglichen Maßstab. 159 Die Losung von Wertkonflikten bleibe dem Wertfühlen und der Wertempfindung überlassen und damit letztlich kriterienlos. 160 Nach unserer Auffassung ist auch der Gedanke einer Rang- und Stufenordnung der Werte im wesentlichen nur für ein idealistisches Wertdenken von Bedeutung,161 nicht hingegen für ein lebensweltlich orientiertes Wertverständnis. Das wird deutlich, wenn man sich einmal fragt, was es denn bedeuten soll, daß die Rang- und Stufenordnung der Werte "für die praktische Handhabbarkeit jeder Wertbegründung unerläßlich (ist)". 1 6 2 Für eine Untersuchung zur Wertbegründung des Rechts liegt es jedenfalls nahe, die Frage der Praktikabilität der Begründungen durch Werte als Frage nach der praktischen Handhabbarkeit von rechtlichen Wertbegründungen zu stellen. So geht Böckenförde aber nicht vor. Stattdessen werden die verschiedenen philosophischen Denkansätze für sich genommen untersucht und kritisiert, weiter aus dieser Analyse aber auch Rückschlüsse auf das juristische Wertdenken gezogen. Dieses Vorgehen zeigt, wie sehr auch die Kritik Böckenfördes noch im Banne eines idealistischen Philosophieverständnisses steht. Denn allein in der Logik des idealistischen Wertverständnisses liegt es, daß das rechtliche Wertdenken keinen anderen Gesetzen folgt als das philosophische Wertdenken. Der Gedanke, das philosophische Wertdenken mit dem juristischen Wertdenken zu identifizieren, ist der idealistische Gedanke selbst. Ein an der Lebenswelt orientiertes Wertverständnis wird hingegen für die Frage der Wertbegründung des Rechts von vorneherein die Eigenart des Rechts selbst in dieser Lebenswelt berücksichtigen, die eben darin liegt, daß das Recht einerseits an die Wertstrukturen der Lebenswelt anknüpft, andererseits aber auch selbständig Stellung zu ihnen nehmen kann. Wertbegründung bedeutet dabei, daß das Recht seine Entscheidungen unter Aufnahme und Anerkennung von Wertmomenten der Lebenswelt begründet. In diesem Gedanken sind rechtsphilosophische und -methodische Position untrennbar miteinander verknüpft. Nicht zuletzt auch das Auseinanderreißen dieser beiden Perspektiven auf das Recht führt Böckenförde dazu, daß für die rechtsphilosophische Fragestellung kaum noch eine sinnvolle Antwort möglich bleibt.
159
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 78 ff.
160
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 81.
161
Vgl. dazu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 136 ff. Zur Kritik der These von der "Tyrannei der Werte" im übrigen auch Robbers, Zur Verteidigung einer Wertorientierung in der Rechtsdogmatik, S. 167, der in diesem Gedanken keine Konsequenz des Wertdenkens, sondern der Verabsolutierung von Werten sieht. 162 Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 78.
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1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Weitsystem
D e m rechtsmethodischen Gedanken der Begründung durch Werte soll an dieser Stelle noch etwas weiter nachgegangen werden. D i e Begründung der rechtlichen Entscheidungen erfolgt durch Wertprinzipien. Ob die verschiedenen Wertprinzipien dabei in einem Zusammenhang der Über- und Unterordnung stehen, ist in allererster Linie eine Frage des geltenden Rechts und nicht eines vorausgesetzten Wertsystems. D i e Frage, ob sich dem geltenden Recht eine Rang- und Stufenordnung der Wertprinzipien entnehmen läßt, würden wir allerdings eher skeptisch beurteilen. Für die Rechtsfindung ist die Frage der praktischen Handhabbarkeit von Werten allerdings auch keine Frage der Abwägung von Werten unter- und gegeneinander. Das Recht trifft vor allem die Entscheidungen für Fälle. Damit besteht die Aufgabe der Rechtsfindung zu einem wesentlichen Teil in der Erarbeitung begründeter Entscheidungen zu diesen Fällen. Für diese Begründungen werden nicht einfach Werte abgewogen, sondern die Wertprinzipien geben rechtliche Gründe, die für den zur Entscheidung anstehenden Fall erwogen werden müssen. M a n kann hier auch davon sprechen, daß die Wertprinzipien im Hinblick auf den zu entscheidenden Fall konkretisiert w e r d e n . 1 6 3
Wenn Böckenförde
hingegen
163 Kritisch zur Konkretisierung der als Prinzipien verstandenen Grundrechte allerdings Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (21, 22, 24 f.). Hier werden jedoch Interpretation und Konkretisierung des Rechts in einer Weise gegenübergestellt, die uns dem Charakter der Rechtsgewinnung als der schöpferischen Mitwirkung des Richters am Recht nicht gerecht zu werden scheint, vgl. dazu auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 3 a.E. - Die Kritik am Prinzipiencharakter der Grundrechte fuhrt Böckenförde schließlich auch zu der Entgegensetzung zweier unterschiedlicher Vorstellungen zur Bedeutung der Verfassung, vgl. ders., Der Staat 29 (1990), 1 (30 f.). Dem Verständnis der Grundrechte als subjektive Freiheitsrechte entspreche die Auffassung der Verfassung als einer Rahmenordnung, die mit den Abwehrpositionen "nur bestimmte Pflöcke ein(schlägt)". Das Verständnis der Grundrechte als Prinzipiennormen beinhalte dagegen die Auffassung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens ingesamt, die so eine "allseitig dirigierende Funktion" erhalte. Diese Entgegensetzung von Rahmen- und Grundordnung erscheint uns doch fraglich. Nach unserer Auffassung ergibt sich der Rahmencharakter der Grundrechte nicht aus ihrem Verständnis als Abwehrrechte, sondern aus der abschließenden Aufzählung der verschiedenen Grundrechte, die auch jeweils unterschiedlichen Teilausschnitten der Lebenswirklichkeit gelten. Als solche durch die Verfassung anerkannte Wertprinzipien kommt den Grundrechten freilich auch eine grundlegende Bedeutung zu. Dieser Prinzipiencharakter der Grundrechte fuhrt aber nicht notwendig zu einer allseitigen Durchdringung des Rechts durch die Grundrechte. Als Wertprinzipien begründen die Grundrechte zunächst einmal Abwehransprüche aus den Grundrechten, wie es auch dem herkömmlichen Grundrechts Verständnis entspricht. Inwieweit die Grundrechte darüber hinaus auch etwa Leistungsoder Schutzansprüche begründen können, ist nicht allein eine Frage des Prinzipiencharakters der Grundrechte, sondern hängt vor allem davon ab, inwieweit es der Grundrechtsdogmatik gelingt, hier zusätzliche Techniken fur die Begründung von Ansprüchen aus Wertprinzipien zu entwickeln. Im einzelnen sei hier zu unserem Verständnis der Grundrechte auf den 3. Teil verwiesen. - Sehr viel ausgewogener scheint uns in diesem Zusammenhang die in der (von Böckenförde betreuten) Dissertation Rennerts, Die "geisteswissenschaftliche Richtung" in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 311 ff., entwickelte Unterscheidung der Verfassung als Funktionensystem und als Wertsystem zu sein. Bezeichnenderweise werden hier Smend beide
II. Das System der Ansprüche
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zu meinen scheint, daß die praktische Handhabbarkeit der Werte nur so möglich ist, daß man Werte untereinander abwägt, geht er von einem Dualismus zwischen Wert und praktischer Situation, von Norm und Tatsache, aus, 164 dem jedenfalls auf der Grundlage eines an der Lebenswelt orientierten Wertverständnisses diese Bedeutung nicht zukommt. 165 Im weiteren Verlaufe seiner Kritik an der Wertbegründung des Rechts wendet Böckenförde sich erst jetzt - nach Darlegung "der allgemeinen philosophischen Problematik des Wertdenkens" 166 - der Frage der Rechtsbegründung durch Werte zu. Einer seiner wesentlichen Einwände gegen die Möglichkeit der Wertbegründung des Rechts beruht auf der Überlegung, daß das Wertdenken in erster Linie fur die Begründung ethisch-sittlichen Handelns des Individuums konzipiert worden sei, nicht dagegen als Begründung des Rechts. 167 Diese Eigenart des Wertdenkens schließe denn auch aus, "seine Erklärungen und Begründungsformen in den Rechtsbereich zu übertragen und auf die Rechtsbegründung anzuwenden."168 Böckenförde beruft sich in diesem Zusammenhang auf Überlegungen, die in der Heranziehung des Wertbegriffs fur die Rechtsbegründung die Tendenz zur Auflösung der Trennung von Recht und Moral sehen, eben eine Moralisierung des Rechts. 169 Mit seiner Kritik der Wertbegründung des Rechts wolle er zwar nicht einer Trennung von Recht und Sittlichkeit das Wort reden, wohl aber "die Besonderheit des Rechts innerhalb der sittlichen Ordnung geltend (machen)." 170 Der Gedanke der Wertbegründung des Rechts beinhaltet für Böckenförde, was jetzt auch deutlich ausgesprochen wird, eine Deutung des Rechts als Wertverwirklichung, die durch "einen simplen Übertragungsakt" der Werte in das Recht erfolgt. 171 Die an das Individuum als moralisches Subjekt gerichteten Anforderungen sittlichen Handelns träten dem einzelnen so in der Gestalt des Rechts
Deutungen der Verfassung zugeschrieben, der damit doch offenbar von einem Verständnis der Verfassung als Funktionen- und Wertsystem ausgeht. Dieses Verfassungsverständnis läßt sich ohne weiteres mit der Auffassung des öffentlichen Rechts als Anspruchs- und Wertsystem vereinbaren. 164 Vgl. dazu auch die Abhandlung von Luf Festschrift für Verdross, 127 (129, 133 ff.), nach der die Verwendung des Wertbegriffs mit der Trennung von Faktizität und Normativität, von Sein und Sollen, einher gehen soll. Auf diese Studie beruft sich ausdrücklich auch Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, Fn. 38, 40, 53. 165 vgl. dazu aus juristischer Sicht Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 21 ff. 166
Böckenförde,
167
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 81.
Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 81.
168
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 83.
169
Ders., Zur Kritik der Weitbegründung des Rechts, S. 82.
170
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 83.
1
er,
Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 8 .
42
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
entgegen. Das Ergebnis sei "nicht ein Schutz, sondern die Beschränkung sittlicher Freiheit durch das Recht". 172 Die weiteren der von Böckenförde vorgetragenen Einwände gegen eine Wertbegründung des Rechts beziehen sich darauf, daß das Wertdenken keine rationale und diskursfahige Argumentationsgrundlage biete. 173 Die Wertbegründung des Rechts sei letztlich eine irrationale. 174 Auch das lebensweltliche Wertdenken biete keinen Ausweg, weil die Werte hier "insgesamt dem geschichtlich-kulturellen Wandel anheim gegeben (sind)". 175 Die mangelnde Rationalität der Wertbegründung führe dazu, daß der Rückgriff auf Werte bei der Rechtsbegründung dem Eindringen nicht mehr kontrollierbarer subjektiver Meinungen und Anschauungen der an der Rechtsfindung Beteiligten sowie der in der Gesellschaft vorhandenen Tagesanschauungen Tür und Tor öffne. 176 Die Annahme, daß die Wertbegründung des Rechts nur durch "einen simplen Übertragungsakt" der Werte in das Recht erfolgen kann, bestimmt, wie im einzelnen bereits gezeigt, zu einem wesentlichen Teil die Kritik Böckenfördes an dieser Position. Dieser Gedanke einer unmittelbaren Übertragung der Werte auf das Recht hat aber auch nur vor dem Hintergrund einer bestimmten philosophischen Position seine Gültigkeit, nämlich einer Philosophie in der Tradition des Idealismus. Wenn man also bei der Frage nach der Wertbegründung des Rechts - sei es in affirmativer oder kritischer Weise - das Wertdenken mit dem Rechtsdenken identifiziert, so legt man immer schon diese philosophische Grundhaltung zugrunde. Damit wird auch die Kritik Böckenfördes noch an einem Denken, das die Werte durch einen "simplen Übertragungsakt" als Begründungen des Rechts qualifiziert, durch diesen philosophischen Hintergrund bestimmt. Für uns bezieht sich das Recht auf die Lebenswelt, indem es aus ihr Wertmomente herausgreift und anerkennt. Darin liegt auch keine Auflösung der Trennung von Recht und Sittlichkeit. Denn das Recht wird nicht mit der Sittlichkeit identifiziert, sondern es wird gerade die eigene Bedeutung des Rechts gegenüber den Wertstrukturen der Lebenswelt herausgehoben. Zugleich wird aber Wert darauf gelegt, daß das Recht, sofern es Entscheidungen trifft, diese aus einem sittlichen Grund heraus fällt, wie er durch die geschichtlich-kulturell geformte Lebenswelt vorgegeben ist. Böckenförde macht dazu allerdings geltend, daß der Verweis auf die Wertkonstellationen der Lebenswelt nicht genügen könne, weil diese dem geschichtlich-kulturellen Wandel unterliegen. 17 2
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 83.
173
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 84 ff.
17 4
Ders. y Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 84, 85.
175
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 87.
17 6
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 81, 87, 90.
ΙΠ. Das Rechtsverhältnis im Anspruchs- und Wertsystem
43
In ihnen zeige sich zwar ein objektives Element, "das aber seinerseits im Strom der Zeit und mit ihm fließt." 177 Wir sehen darin keinen zureichenden Einwand gegen die Wertbegründung des Rechts. Auch das Recht ist Teil der Lebenswelt und unterliegt damit ebenfalls dem Wandel der Zeit. Allerdings kommt dem Recht auch eine Funktion in und gegenüber der Lebenswelt zu. Es greift die Wertmomente aus ihr nicht nur heraus, sondern gibt ihnen durch seine Anerkennung auch eine eigene Normativität, die sie jedenfalls ein Stück weit dem Wandel der Lebenswelt entzieht. Die Stabilisierung der Wertmomente in der Lebenswelt ist nicht zuletzt auch eine kulturelle Leistung des Rechts selbst. Entsprechendes gilt im übrigen auch für die Frage der Rationalitat der Wertbegründung des Rechts. Mit der Aufnahme von Wertmomenten der Lebenswelt durch das Recht wird ein politischer Prozeß der Bestimmung rechtlicher Wertmaßstäbe zum Abschluß gebracht. Das Gesetz gibt nunmehr durch die Anerkennung von Wertprinzipien eine Grundlage für die Begründung juristischer Entscheidungen, die ihrerseits grundsätzlich keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Insoweit ist es auch hier erst das Recht selbst, das die Frage, ob ein Wertgesichtspunkt im konkreten Fall von Bedeutung ist, dem Streit entzieht. Dennoch können natürlich Reichweite und Bedeutung dieser Wertmaßstäbe für den Einzelfall sehr umstritten sein. Diese Fragen lassen sich aber nach den Regeln juristischer Kunst beurteilen. Sie zeigen für die Rechtsfindung auch durchaus zureichende Maßstäbe auf, sofern man nur nicht aufgrund überzogener Rationalitätsanforderungen versucht, die juristische Entscheidungstätigkeit nach Art irgendeiner Mechanik zu begreifen. 178 Insgesamt scheint uns deshalb die Kritik Böckenfördes an der Wertbegründung des Rechts die Tragfähigkeit der hier vorgelegten Auffassung zur Wertorientierung des Rechts nicht zu beeinträchtigen. Wir sehen daher im Anspruchssystem auch das Wertsystem im Sinne des vom Recht anerkannten Gütersystems.
Π Ι . Die Funktion des Rechtsverhältnisses im Anspruchs- und Wertsystem Das Recht läßt sich - so unsere zentrale These - in Kernbereichen des bürgerlichen Rechts und des öffentlichen Rechts als Anspruchs- und Wertsystem begreifen. Nun sind allerdings auch durchaus andere Ansatzpunkte für eine systematische Betrachtung des Rechts durch die juristische Dogmatik denkbar. So ist vor noch nicht allzu langer Zeit von Norbert Achterberg in seinem 177
Ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 80. Zu dem hier zugrunde gelegten Rechtsgewinnungsmodell vgl. ausfuhrlich Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, insbes. S. 62 ff.; ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II, insbes. dort auch Fn. 14. 178
44
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Buch "Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung" eine theoretische Grundlegung vorgelegt worden, die im Rechtsverhältnis ein zentrales Strukturelement der Rechtsordnung sieht. Eine herausragende systematische Bedeutung kommt dem Rechtsverhältnis auch schon im "System des heutigen Römischen Rechts" bei v. Savigny z u . 1 7 9 Im Spätwerk Hecks schließlich tritt neben dem Gedanken eines Systems der Konfliktsentscheidungen in Umrissen auch die Auffassung hervor, daß es die Lebensverhältnisse sind, die eine systematische Erfassung des Rechts ermöglichen. 180 Das fuhrt uns zu der Frage, wieso wir das Recht nicht als System der Rechtsverhältnisse oder gar der Lebensverhältnisse verstehen. Ihre Beantwortung trägt zugleich auch zu einer weiteren Klärung unseres Verständnisses vom Recht als Anspruchs- und Wertsystem bei. Die Überlegungen zum Recht als Anspruchs- und Wertsystem beruhen auf dem Gedanken des Rechts als Konfliktsentscheidung. Für dieses System kommt dem Anspruch und den Wertprinzipien als Begründungsmomenten für die Ansprüche eine zentrale Funktion zu. Wie läßt sich auf dieser Grundlage nun die Funktion des Rechtsverhältnisses bestimmen? Wir setzen dazu zunächst noch einmal beim Anspruch an. Mit dem Anspruch entscheidet das Recht über Konflikte der Lebenswelt. Der Anspruch ist damit das eigentliche Ziel praktischer juristischer Arbeit, weil mit ihm der Fall zur Entscheidung gebracht wird. Wenn nun auch mit dem Anspruch die zentrale dogmatische Figur im Mittelpunkt der juristischen Dogmatik steht, so kann diese allein doch nicht genügen. Es ist nicht zu übersehen, daß der Anspruch selbst nur ein Moment des Konfliktes erfaßt, nämlich das Moment der Entscheidung des Konfliktes. Auf diese Weise ist der Fall zwar unter einem wesentlichen Aspekt getroffen, aber eben doch nur in seinem materiellrechtlichen Endpunkt. 181 Es ist der Fall schon im Zustande seiner Lösung, auf den der Anspruch schaut. Die Funktion des Rechtsverhältnisses liegt nun zu einem wesentlichen Teil darin, daß es die Perspektive auf den Fall erweitert. Das Rechtsverhältnis schaut auf den Fall als ein Konfliktverhältnis der Lebenswelt, das auf seine rechtliche Entscheidung noch hinzusteuert. Mit dem 17 9
v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, §§4, 52 ff.; vgl. dazu auch Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5 IV, V , und ausführlich zum "Wesen der Rechtsverhältnisse" bei v. Savigny jetzt Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, § 3 I. - Nur am Rande sei hier erwähnt, daß v. Savigny auf Anregungen von Friedrich Julius Stahl zum System des Rechts als einem Zusammenhang von Rechtsverhältnissen und Rechtsinstituten zurückgreifen konnte, wie dieser ihn in seinem Werk "Die Philosophie des Rechts nach geschichtÜcher Ansicht", Bd. 2, 1. Abt., S. 146, entwickelt hatte. Zum Systemverständnis des Rechts beider Denker vgl. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 46 ff., 57 ff. 180 Ygj 181
Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 149 ff., 158.
Ähnlich Neussel, Anspruch und Rechtsverhältnis, S. 8, der den Anspruch von Seiten des Rechts aus als den Endpunkt einer Entwicklung qualifiziert.
Π . Das Rechtsverhältnis im Anspruchs- und Wetsystem
45
Rechtsverhältnis zieht sich die dogmatische Arbeit zunächst einmal von der endgültigen Entscheidung des Konfliktes zurück und betrachtet stattdessen das rechtlich erfaßte Lebensverhältnis selbst, das vor allem durch das Moment des Konfliktes gekennzeichnet ist, weiter dann aber auch durch das ihm zugrunde liegende Moment der Ordnung als eines Wertzusammenhanges. Diese kurze Umschreibung des Rechtsverhältnisses bedarf nach mehreren Richtungen hin der Ergänzung. Das Rechtsverhältnis ist zuallererst Verhältnis, nämlich das Verhältnis oder die Beziehung der Konfliktparteien, so wie sie sich fur das Recht darstellt. Der Gedanke eines Verhältnisses zwischen den Konfliktparteien liegt nicht nur dem Begriff des Rechtsverhältnisses selbst, sondern auch dem Begriff des Anspruches zugrunde. Der Anspruch ist das Recht des Berechtigten, von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen (vgl. § 194 I BGB). Damit ist der Anspruch Ausdruck eines Verhältnisses zwischen den Konfliktparteien, wobei dieses Verhältnis allerdings nur unter dem Gesichtspunkt der Lösung des Konfliktverhältnisses, eben der Entscheidung, betrachtet wird. Wegen dieser im Anspruchsbegriff liegenden Konzentration des Rechtsverhältnisses auf die Entscheidungsperspektive bezeichnen wir den Anspruch als Rechtsverhältnis i.e.S., während wir fur die umfassendere rechtliche Perspektive auf das Lebensverhältnis genauer vom Rechtsverhältnis i.w.S. sprechen. 182 Ohne nähere Kennzeichnung wird von uns, sofern sich aus dem Kontext nichts anderes ergibt, der Begriff des Rechtsverhältnisses auch nur in diesem weiteren Sinne gebraucht. Eine nähere Bestimmung der Funktion des Rechtsverhältnisses ermöglicht vor allem eine Reflexion auf den Zusammenhang, in dem Rechtsverhältnis i.e.S. und Rechtsverhältnis i.w.S. stehen. Das Rechtverhältnis i.w.S. nimmt Bezug auf das Konfliktverhältnis der Lebenswelt, den "Fall". Das bedeutet allerdings nicht, daß das Rechtsverhältnis mit dem Konfliktverhältnis, so wie es in der Lebenswelt gegeben ist, identisch ist. Vielmehr wird das Konfliktverhältnis der Lebenswelt durch das Rechtsverhältnis immer schon aus der Perspektive des Rechts betrachtet. Das Rechtsverhältnis formt das Konfliktverhältnis bereits unter bestimmten Wertgesichtspunkten, indem es entschei182 So auch Schapp, JuS 1992, 537 (543 f.). Ähnlich unterscheidet auch v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. I, § 5 II, zwei Bedeutungen des Ausdrucks Rechtsverhältnis, nämlich einen enger und einen weiter gezogenen Begriff des Rechtsverhältnisses. Mit dem Begriff des Rechtsverhältnisses i.e.S. scheint auch v. Tuhr vor allem den Anspruch im Auge zu haben, wenn es bei ihm heißt, daß jedes subjektive Recht als Rechtsverhältnis bezeichnet werden kann. Vgl. zum Anspruch als Rechtsverhältnis weiter auch die Ausführungen von Neussel, Anspruch und Rechtsverhältnis, S. 7, 53 f., der annimmt, daß der Anspruch das Rechtsverhältnis konkretisiert, fixiert, verfestigt. Im übrigen entspricht die Unterscheidung von Rechtsverhältnis i.e. und i.w.S. der in der zivilrechtlichen Dogmatik geläufigen Unterscheidung von Schuldverhältnis i.e.S. (dem schuldrechtlichen Anspruch) und Schuldverhältnis i.w.S., vgl. dazu nur Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 2.
46
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
dungserhebliche Aspekte aus den Lebenszusammenhängen herausgreift, andere dagegen fur nicht beachtenswert hält. Auf diese Weise wird durch das Rechtsverhältnis i.w.S. die in der Gewährung des Anspruchs liegende Konfliktsentscheidung vorbereitet. Die Bedeutung des Rechtsverhältnisses i.w.S. als einer zentralen Figur der juristischen Dogmatik liegt vor allem in dieser Vorbereitung der Konfliktsentscheidung. Das Rechtsverhältnis faßt das Konfliktverhältnis der Lebenswelt in einen rechtlichen Rahmen, aus dem heraus die rechtliche Entscheidung zwischen den Konfliktparteien erfolgt. Diesen Zusammenhang kann man auch so ausdrücken, daß der Anspruch als Rechtsverhältnis i.e.S. aus dem Rechtsverhältnis i.w.S. folgt. Damit ist das Rechtsverhältnis eine dogmatische Figur, die sich in ihrer Funktion auf den Anspruch bezieht. Der Anspruch ist die rechtliche Entscheidung, die durch das Rechtsverhältnis vorbereitet wird. Die verschiedenen Anspruchsentscheidungen werden, wie bereits oben dargelegt, durch das Recht begründet. Diese Begründungen erfolgen durch Wertprinzipien, die dann fur den Einzel fall der Konkretisierung bedürfen. Der Anspruch wird damit durch das Rechtsverhältnis vorbereitet und durch Wertprinzipien begründet. In diesem Sinne sind also sowohl das Rechtsverhältnis, als auch die Wertprinzipien Grundlage der Anspruchsentscheidung. Lassen sich die unterschiedlichen Funktionen von Rechtsverhältnis und Wertprinzip für die Herausarbeitung der rechtlichen Konfliktsentscheidung noch genauer fassen? Für die Beantwortung dieser Frage gehen wir vom Wertprinzip aus. Die Wertprinzipien haben - wie der Anspruch und das Rechtsverhältnis - ihre Grundlage in der Lebenswelt. Im Kern beziehen sich die Wertprinzipien auf die Güter der Lebenswelt, die in ihrem Umkreis aber durch eine Reihe weiterer nur umrißhaft faßbarer, rechtlich unabgeklärter Wertmomente bestimmt sind. Ihre für das Recht relevante Kontur erhalten diese Wertzusammenhänge letztlich erst aus den Lebenszusammenhängen, in denen sie stehen. Dieser Lebenszusammenhang konkretisiert sich im Konfliktverhältnis. Zu den verschiedenen Konfliktverhältnissen der Lebenswelt nimmt der Gesetzgeber Stellung, indem er einen oder mehrere Wertgedanken aus ihnen aufnimmt und seiner Entscheidung zugrunde legt. Die Begründung der rechtlichen Entscheidungen folgt so der Struktur der Konfliktverhältnisse. Das Rechtsverhältnis ist in diesem Zusammenhang nicht nur der rechtliche Rahmen des Lebensverhältnisses für die Anspruchsentscheidung, sondern auch für ihre Begründung. Im Rechtsverhältnis wird gewissermaßen der gesamte rechtlich beachtliche Umkreis der Wertmomente eines Lebensverhältnisses zusammengefaßt und damit für den Einzelfall ein Begründungsrahmen gegeben, aus dem heraus die rechtliche Entscheidung erfolgt. 183 Als dieser 183
Der Gedanke, daß der Anspruch aus dem Rechtsverhältnis folgt, läßt sich ohne weiteres bis auf v. Savigny zurückfuhren, vgl. dazu weiter unten. Siehe im übrigen auch etwa Neussel, Anspruch und Rechtsverhältnis, S. 8, 33, 46. Als Begründungs-
Π . Das Rechtsverhältnis im Anspruchs- und Wertsystem
47
Begründungsrahmen ist das Rechtsverhältnis Vorentscheidung und damit auch Teil der Begründung fur die endgültige Entscheidung. Es ist aber weder endgültige Entscheidung noch abschließende Begründung. Im Rechtsverhältnis sind Elemente der Entscheidung und der Entscheidungsbegründung ineinander verschlungen. Es ist daher eine dogmatische "Mischfigur". Demgegenüber sind das Wertprinzip und der Anspruch dogmatische Figuren von reiner Gestalt. Der Anspruch ist nur Entscheidung, das Wertprinzip ist nur Begründung. In der Konfliktsentscheidung und ihrer Begründung können wir die beiden konstituierenden Momente des rechtlichen Systems in ihrer elementaren Funktion sehen. Deshalb fassen wir das Recht auch als Anspruchs- und Wertsystem auf, während das Rechtsverhältnis für uns nur eine, wenn auch ganz zentrale dogmatische Figur innerhalb dieses Systems darstellt. Auf der Grundlage dieser Skizze zur Funktion des Rechtsverhältnisses sollen die Ansätze bei v. Savigny zum Rechtsverhältnis und bei Heck zum Lebensverhältnis noch einmal genauer betrachtet werden. Im Vordergrund der Betrachtungen Hecks steht der bereits ausführlich gewürdigte Gedanke eines inneren Systems der Konfliktsentscheidungen. Daneben gibt es bei ihm aber auch Anklänge an den Gedanken eines Systems der Lebensverhältnisse. Das innere System ist, so scheint Heck zu meinen, bereits in den Lebenszusammenhängen gegeben, so daß man, um das System der Konfliktsentscheidungen zu gewinnen, nur das System der Lebensverhältnisse abzubilden braucht. 184 Dennoch hat Heck diesen Gedanken eines Systems der Lebensverhältnisse, der sich ohnehin nur in vagen Andeutungen findet, nicht weiter verfolgt, sondern stattdessen das System der Konfliktsentscheidungen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt. Ein ganz ähnliches Phänomen läßt sich auch bei v. Savigny beobachten. Ausgangspunkt seiner Darstellung zum "System des heutigen Römischen rahmen des Anspruchs ist das Rechtsverhältnis der Tatbestandsseite zuzuordnen, nicht der Rechtsfolgeseite. Ein Grund dafür, warum in der Literatur bisher nur so wenig Klarheit über das Rechtsverhältnis erzielt worden ist, liegt vor allem in der zu geringen Beachtung seiner Begründungsfunktion. Bezeichnend ist etwa die Darlegung bei v. Tuhr> Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. I, § 5, der den Begriff des Rechtsverhältnisses i.w.S. offenbar im zweifachen Sinne verwendet, einmal als "die Gesamtheit der Rechtsfolgen" (S. 125), das andere mal als "die Grundlage, den Boden, aus welchem in Folge weiterer Tatsachen einzelne Rechte erwachsen" (S. 129). Damit wird das Rechtsverhältnis sowohl der Tatbestandsseite, als auch der Rechtsfolgeseite zugeordnet. Schon im Ansatzpunkt wohl anders als hier auch Achterberg y Die Rechtsordnung als Rechts Verhältnisordnung, der in der Tendenz das Rechtsverhältnis eher der Rechtsfolgeseite zuordnet; so wohl auch Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I, für den das Rechtsverhältnis ein "Inbegriff von Rechten und Pflichten" ist. 184 Vgl. Heck y Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, S. 149 f. Siehe dazu die sehr bestimmte Deutung von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 57, und die etwas zurückhaltendere Darlegung bei Canaris y Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 34 f.
48
1. Teil: Das Recht als Anspruchs- und Wetsystem
Rechts" ist das Rechtsverhältnis.185 Gewissermaßen unter der Hand löst sich das Rechtsverhältnis bei ihm jedoch sogleich in ein Gegenüber subjektiver Rechte auf. 1 8 6 Immerhin sind beide Begriffe aber in ihrer Funktion noch durch den Gedanken miteinander verbunden, daß das Rechtsverhältnis die Grundlage der einzelnen subjektiven Rechte darstellt. 187 In der Literatur wird der Wechsel der Perspektive vom Rechtsverhältnis auf das subjektive Recht vor allem auf den Einfluß des Naturrechts sowie die kantische Freiheitsphilosophie zurückgeführt. 188 Einen wesentlichen Grund dafür, warum bei v. Savigny der Begriff des subjektiven Rechts eine Leitfiinktion für das juristische System übernimmt, dürfte aber noch in einer anderen Richtung liegen. Diese Akzentsetzungen finden sich wie gezeigt im übrigen in ähnlicher Weise bei Heck, wenn er eben nicht das Lebensverhältnis, sondern die Konfliktsentscheidung zum Ausgangspunkt des rechtlichen Systems nimmt. Daß das rechtliche System bei beiden mehr oder weniger bewußt vom Begriff des subjektiven Rechts bzw. der Konfliktsentscheidung her konzipiert ist, scheint uns nicht zuletzt darin begründet zu sein, daß sowohl v. Savigny als auch Heck das Gespür dafür hatten, daß das eigentliche Ziel der juristischen Arbeit die Entscheidung von Konflikten und damit der Anspruch ist. 1 8 9 Nur mit diesem Bezug auf die juristischen Entscheidungen ist letztlich auch der Sinn juristischer Dogmatik gewährleistet. 190 Ihr muß es deshalb vor allem darauf ankommen, die Erarbeitung begründeter Entscheidungen vorzubereiten. Das Rechtsverhältnis ist hier nur ein Schritt auf dem Weg der Dogmatik zur Bewältigung dieser Aufgabe. Unmittelbarer Ausdruck der Aufgabe selbst sind aber der Anspruch als Entscheidung und das Wertprinzip als Grund der Entscheidung. Die juristische Dogmatik hat deshalb das Recht in seinem Kern als Anspruchs- und Wertsystem zu begreifen. 185
Vgl. bereits oben Fn. 179.
186
So Coing , Zur Geschichte des Begriffs "subjektives Recht", S. 48 f.
187
v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S. 7: "Allein die genauere Betrachtung überzeugt uns, daß diese logische Form eines Urtheils nur durch das zufallige Bedürfniß hervorgerufen ist, und daß sie das Wesen der Sache nicht erschöpft, sondern selbst einer tieferen Grundlage bedarf. Diese nun finden wir in dem RechtsverhäUniß, von welchem jedes einzelne Recht nur eine besondere, durch Abstraction ausgeschiedene Seite darstellt, so daß selbst das Urtheil über das einzelne Recht nur insofern wahr und überzeugend seyn kann, als es von der Gesammtanschauung des Rechtsverhältnisses ausgeht." (Hervorhebung durch v. Savigny.) 188
Vgl. zum Einfluß des Naturrechts Coing , Zur Geschichte des Begriffs "subjektives Recht", S. 48; zum Einfluß der kantischen Philosophie Kiefiter, Rechtstheorie 10 (1979), 129 (140); ders., Festschrift fur Coing, Bd. I, 148 (176). 189 ygj d a z u auçh Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 130: "Die Antwort auf die dem Recht gestellte Frage ist das subjektive Recht, nicht das Rechtsverhältnis." 190
Zum Begriff der Dogmatik und ihrem Bezug zum Fall vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 5 (S. 17 ff.).; Henß, Obliegenheit und Pflicht im Bürgerlichen Recht, S. 74 ff.
Zweiter Teil
Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
Der Anspruch ist die zentrale dogmatische Figur des Zivilrechts. Der Rahmen des zivilrechtlichen Anspruchs- und Wertsystems wird durch die ganz im Zentrum des BGB stehende Unterscheidung von Schuldrecht und Sachenrecht abgesteckt. Das Schuldrecht ist vor allem das Recht der Schuldverhältnisse, während sich das Sachenrecht im wesentlichen als das Recht des Eigentums begreifen läßt. Eigentum und Schuldverhältnis geben als leitende Rechtsgedanken Begründungen fur unterschiedliche Arten von Ansprüchen. So folgt aus dem Eigentum der sog. dingliche Anspruch, während aus dem Schuldverhältnis der schuldrechtliche Anspruch begründet wird. Mit Schuldverhältnis und Eigentum haben wir aber nicht nur die zentralen Wertmomente des geltenden bürgerlichen Rechts vor uns, sondern auch die beiden grundlegenden Techniken der juristischen Dogmatik fur die Begründung von Ansprüchen. Die dinglichen Ansprüche folgen aus dem Eigentum als einem absoluten Recht. Der schuldrechtliche Anspruch wird aus dem Schuldverhältnis als einer besonderen Art des Rechtsverhältnisses begründet. Im folgenden soll zunächst gezeigt werden, wie sich aus den leitenden Rechtsgedanken in ihrer jeweiligen Formung durch die juristische Dogmatik die verschiedenen zivilrechtlichen Anspruchsentscheidungen begründen lassen. Dabei wenden wir uns (unter I) zunächst der Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum zu, danach (unter II) ihrer Begründung aus den Schuldverhältnissen. Unter systematischen Gesichtspunkten wird sodann (unter III) am Beispiel des Eigentums dem Verhältnis von Anspruch, absolutem Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht nachgegangen. Anhand dieser Leitbegriffe des bürgerlichen Rechts läßt sich dann auch die Dogmatik des öffentlichen Rechts erschließen. Im Vorgriff darauf werden (unter IV) die theoretischen Grundlagen fur die im 19. Jahrhundert erfolgte Herausbildung der Lehre des öffentlichen Rechts angedeutet, die nach dem Vorbild und in Orientierung an der zivilrechtlichen Dogmatik konzipiert worden ist.
4 Schur
50
2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
I· Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum 1. § 903 S. 1 BGB als Modell des Eigentums Nach § 903 S. 1 BGB kann der Eigentümer einer Sache mit ihr nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen. Diese Vorschrift gibt selbst noch keine Grundlage für konkrete Ansprüche aus dem Eigentum, das geschieht vielmehr erst in den §§ 985 und 1004 I BGB. Sie gibt aber auf einer prinzipiellen Ebene das Begründungsmodell für die Rechte des Eigentümers und damit auch für die aus dem Eigentum fließenden Ansprüche.1 Das Gesetz formuliert dazu in § 903 S. 1 BGB in sehr abstrakter Weise unterschiedliche Teilgesichtspunkte des Eigentums und gelangt damit zu einer rechtlichen Erfassung und Formung des lebensweltlichen Gebildes Eigentum. Zunächst einmal kann der Eigentümer mit der Sache nach Belieben verfahren, man bezeichnet dies als die Einwirkungsbefugnis des Eigentümers. Dann kann der Eigentümer auch andere von jeder Einwirkung ausschließen, ihm steht insoweit die Ausschließungsbefugnis zu. Diese Befugnisse, Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis, kann der Eigentümer aber nur ausüben, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen. Sie stehen also unter dem Vorbehalt der Einschränkung, insoweit spricht man auch von dem Schrankenvorbehalt des Eigentums.2 Bevor wir uns diesen verschiedenen Teilaspekten des Eigentums näher zuwenden, soll zunächst einmal der Frage nach Funktions- und Bedeutungsgehalt dieser Regelung nachgegangen werden. Der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift des § 903 S. 1 BGB zwar keine Definition für das Eigentum geben, wohl aber den wesentlichen Inhalt der dem Eigentümer zustehenden Rechte feststellen. 3 Es wäre aber ein Mißverständnis, wollte man danach die Bedeutung der Bestimmung auf ihren rein normativen Gehalt verkürzen. Erst einmal muß man für die Regelung des § 903 S. 1 BGB sehen, daß in unserer Lebenswirklichkeit Eigentum zunächst als wirtschaftliches Eigentum auftaucht und damit als vorrechtliche Gegebenheit. Seinen Sinn erfährt Eigentum daher zunächst aus den wirtschaftlichen Zusammenhängen, in denen es steht. Daran 1 Zum Modellcharakter des § 903 S. 1 BGB vgl. vor allem Schapp, Sachenrecht, § 1 III; ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 3. Ähnlich Erman-Hagen, Vor §903 Rdz. 2, §903 Rdz. 1, der annimmt, daß die Bestimmung versuche, die mögüchen Befugnisse des Eigentümers prinzipiell zu gruppieren, sowie AK-Ott, BGB, § 903 Rdz. 2, 12, wonach § 903 S. 1 BGB ein Strukturprinzip zum Ausdruck bringt. 2 Zur Terminologie vgl. Schapp, Sachenrecht, § 1; ähnlich Staudinger-Seiler, Rdz. 2 f. 3 Motive III, S. 262. Kritisch dazu Soergel-J.F. Baur, § 903 Rdz. 11 f.
§ 903
I. Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum
51
anknüpfend mag es aber auch schon in diesem vorrechtlichen Bereich eine Reihe sehr viel weitergehender Erwägungen zur Bedeutung des Eigentums geben, die auch durchaus miteinander konkurrieren können. Das spiegelt sich etwa in den philosophischen Lehren zur Begründung des Eigentums wider. Hier konkurriert vor allem die Vorstellung, daß Eigentum durch Arbeit gerechtfertigt ist, mit der Auffassung, daß Eigentum durch Ergreifung und Aneignung begründet wird. Die Arbeitstheorie begreift dabei - ohne daß das an dieser Stelle näher ausgeführt werden könnte - das Eigentum vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Schaffens durch die Person, während die Okkupationstheorie das Eigentum vor allem unter dem Gesichtspunkt der Herrschaft im Rahmen einer Gemeinschaft sieht.4 Von zentraler Bedeutung scheint uns nun zu sein, daß auch der Gesetzgeber an diese lebensweltlichen Zusammenhänge, an diese Wertwelt des Eigentums anknüpft und sie zur Grundlage für seine Entscheidungen macht. Dies geschieht zunächst einmal, indem er Eigentum als ein für das Recht geltendes Wertprinzip anerkennt. Das darf man sich allerdings nicht so vorstellen, als ob sich der Gesetzgeber nun einer der verschiedenen miteinander konkurrierenden Theorien zum Eigentum anschlösse. Vielmehr wird zunächst einfach nur die Werthaftigkeit des Eigentums selbst herausgegriffen und damit in nur ganz vager, noch unabgeklärter Weise für das Recht auf die lebensweltlichen Wertzusammenhänge Bezug genommen. Mit dem Wertprinzip des Eigentums begründet der Gesetzgeber dann in § 903 S. 1 BGB erste weitere rechtliche Entscheidungen prinzipieller Art. Aufgrund der Wertentscheidung zum Eigentum werden durch diese Bestimmung dem Eigentümer nun bestimmte rechtliche Befugnisse, nämlich Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis, eingeräumt.5 Mit diesen Befugnissen soll in § 903 S. 1 BGB aber nur eine modellhafte Skizze für das Eigentum gegeben werden. Die Bestimmung bringt vor allem zum Ausdruck, daß zum Eigentum als einem Rechtsgebilde wesensmäßig verschiedene subjektive Berechtigungen des Rechtsinhabers gehören. In § 903 S. 1 BGB erfolgt so aus dem Wertprinzip des Eigentums die Begründung rechtlichen Eigentums.
4 Für die Arbeitstheorie läßt sich vor allem Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, 2. Abh. §§ 27 ff., nennen, vgl. aber auch etwa die Untersuchungen von W. Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. II: Wert, Werk und Eigentum, S. 33 ff., und J. Schapp, Sein und Ort der Rechtsgebilde, S. 55 ff. Für die Okkupationstheorie ließe sich wohl etwa Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 249 ff. (insbes. S. 258 f.), anführen. Zu Arbeits- und Okkupationstheorie in der rechtsphilosophischen Diskussion um das Eigentum vgl. neuerdings die Untersuchung von Manfred Brocker, Arbeit und Eigentum. 5 Vgl. dazu auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 3 (S. 44, 45), für den beide Befugnisse - gewissermaßen als Rechtsfolgen - aus dem Eigentum folgen.
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2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
Die Konsequenzen aus dem Modell des Eigentums zieht der Gesetzgeber dann selbst in den §§ 985 und 1004 I BGB. Für die Fälle der Vorenthaltung des Besitzes und der Störung des Eigentums werden in diesen Bestimmungen "Ansprüche aus dem Eigentum" begründet. Das Wertprinzip des Eigentums ist damit sowohl Grundlage fur das in § 903 S. 1 BGB skizzierte Modell des Eigentums wie aber auch für die konkreten Ansprüche des Eigentümers. Im Hinblick auf diese Ansprüche liegt der Modellcharakter des durch § 903 S. 1 BGB skizzierten Eigentumsverständnisses darin, daß das Eigentum in seiner Begründungswirkung für die Rechte des Eigentümers in nur prinzipieller Weise umrissen ist. Das Modell beinhaltet aber zugleich, daß sich mit dem Wertprinzip des Eigentums auch für den konkreten Fall Ansprüche begründen lassen, ohne daß es dazu einer ausdrücklichen Normierung konkreter Anspruchsgrundlagen bedurft hätte. Mit dem Modell des Eigentums sind daher zugleich auch schon die Anspruchsentscheidungen des Rechts aus dem Wertprinzip des Eigentums vorgezeichnet. 2. Das Eigentum als dingliches Recht und als absolutes Recht Für eine weitere Analyse des Eigentumsmodells liegt es zunächst nahe, einen genaueren Blick auf die Befugnisse des Eigentümers zu werfen. Durch § 903 S. 1 BGB werden auf einer prinzipiellen Ebene die Rechte des Eigentümers begründet, also seine Einwirkungs- und seine Ausschließungsbefugnis. Lassen sich auch diese beiden Befugnisse noch in ein genauer faßbares Verhältnis zueinander bringen? Kann man nicht etwa sagen, die Einwirkungsbefugnis des Eigentümers sei auch der Grund seiner Ausschließungsbefugnis? Oder ist es vielleicht so, daß die Einwirkungsbefugnis lediglich ein Reflex der Ausschließungsbefugnis ist? Beide Auffassungen zum Verhältnis von Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis lassen sich auf historisch tiefverwurzelte Theorien zum Wesen des Eigentums zurückführen. Auf der Ebene der Dogmatik zum Eigentum kann man die unterschiedlichen Standpunkte anhand der Streitfrage festmachen, ob das Eigentum ein dingliches Recht oder aber ein absolutes Recht darstellt.6 Mit dem Problem des Verhältnisses von Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis ist daher die Frage gestellt, ob dem Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB ein Verständnis des Eigentums als dingliches Recht oder als absolutes Recht zugrunde liegt. Die beiden dogmatischen Ansätze knüpfen in jeweils unterschiedlicher Weise an die Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis an. Das soll im folgenden ganz kurz verdeutlicht werden.
6 Auch etwa die unlängst geführte Kontroverse zwischen Hadding, JZ 1986, 926 ff., und JZ 1987, 454 f., und Niehues, JZ 1987, 453 f., über Rechtsverhältnisse zwischen Person und Sache läßt sich unter diesem Gesichtspunkt deuten.
I. Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum
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Die Auffassung vom Eigentum als dinglichem Recht deutet das Eigentum auf der Grundlage der Beziehung zwischen dem Eigentümer und seiner Sache.7 Dementsprechend wird die Innehabung von Eigentum hier auch häufig als "Sachherrschaft" charakterisiert. Auf diese Weise wird mit der dogmatischen Figur des dinglichen Rechts das Eigentum von der Einwirkungsbefugnis her konzipiert. Die Ausschließungsbefugnis des Eigentümers kann dann nur noch etwas von der Einwirkungsbefugnis Abgeleitetes sein: Die Einwirkungsbefugnis ist der Grund der Ausschließungsbefiignis. Der theoretische Ansatz zum Eigentum als einem absoluten Recht stellt dagegen die Beziehung zwischen Eigentümer und potentiellem Störer in den Mittelpunkt der dogmatischen Konzeption.8 Das Eigentum ist hier vor allem durch die Absolutheit des dem Eigentümer gewährten Klageschutzes charakterisiert. Dieser Absolutheit des Eigentums entspricht die Ausschließungsbefugnis des Eigentümers, die sich dem Prinzip nach gegen jeden denkbaren Störer richtet. Die Einwirkungsbefugnis erscheint dann nur noch als ein durch die Ausschließungsbefugnis vermittelter Schutzbereich des Eigentümers: Die Einwirkungsbefugnis ist Reflex der Ausschließungsbefugnis. In der Kontroverse, ob das Eigentum ein absolutes oder aber ein dingliches Recht darstellt, schwingt auch eine unterschiedliche Haltung zur Funktion juristischer Begriffsbildung mit. Dabei geht es um die Frage, inwieweit die Begriffe der juristischen Dogmatik auch Ausdruck einer Wertorientierung des Rechts sind. Insbesondere die rein normativ orientierte Rechtstheorie lehnt eine solche Funktion juristischer Begriffsbildung ab. 9 Für die Erfassung des Eigentums wird hier scharf zwischen einer teleologischen und einer normativen Betrachtungsweise unterschieden.10 Der juristischen Dogmatik müsse es vor allem um die Analyse des Eigentums als eines Rechtsformbegriffes gehen, die Untersuchung des Eigentums als eines Rechtsinhaltsbegriffes sei hingegen gerade nicht ihre zentrale Aufgabe. 11 Adäquater Ausdruck der normativ ori7 So schon v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S. 367; wohl auch v. Tuhr y Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. I, § § 4 , 11 (S. 204); in der Tendenz auch etwa Wolff-Raiser, Sachenrecht, § 2 I (mit Anm. 1), vgl. auch § 5 1 II 1: "Es bestehen auch keine Bedenken, das Verhältnis zur Sache selbst als dingliches Recht aufzufassen." Weitere Nachweise bei Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, S. 65 Anm. 1. 8
So bereits Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, §§ 38, 43, 167; weiter Stauding er-Seufert, 11. Aufl., § 903 Rdz. 1; Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, insbes. § 18; Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, S. 68 ff., 76-78. 9 Siehe dazu vor allem die Untersuchungen von Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, und Aicher, Das Eigentum als subjektives Recht, sowie die Auseinandersetzung mit den Auffassungen von Aicher und Bucher bei Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 90 ff. 10 Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, § 18 I; ihm folgend Aicher y Das Eigentum als subjektives Recht, S. 15 f. 11
Vgl. Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, § 4 II.
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2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
entierten Eigentumsbetrachtung sei die dogmatische Figur des absoluten Rechts. Eine entsprechende Reflexion auf den Begriff des dinglichen Rechts findet sich nur selten. Die Einschätzung durch die Gegenposition, daß dem Begriff des dinglichen Rechts ein inhaltliches Eigentumsverständnis zugrunde liegt, scheint uns jedoch im wesentlichen zuzutreffen. Es liegt auf der Hand, daß ein Eigentumsverständnis, das von der Beziehung zwischen der Person und ihrer Sache ausgeht, damit auch die Werthaftigkeit dieser Beziehung in den Mittelpunkt ihrer Konzeption zum Eigentum stellt. Die Deutung des Eigentums nimmt daher hier ihren Ausgangspunkt bei der Einwirkungsbefugnis, während die Theorie zum absoluten Recht fur ihr Eigentumsverständnis an die Ausschließungsbefugnis anknüpft. Dabei erscheint die Ausschließungsbefugnis als bloßer struktureller Aspekt eines formalen Eigentumsbegriffes. Sie entfaltet ihre Wirkung aus lediglich normativen Gründen gegenüber jedermann, ohne daß damit zum Inhalt des Eigentums schon etwas ausgesagt wäre. Absolutes Recht und dingliches Recht sind beides Begriffe der juristischen Dogmatik, die für das Eigentum etwas Wesentliches zum Ausdruck bringen. Die ihnen zugrunde liegenden unterschiedlichen Konzeptionen führen jedoch in beiden Fällen zu Eigentumsmodellen, die im nur Bruchstückhaften verbleiben, weil sie jeweils einen bedeutsamen Aspekt verabsolutieren und so die Vielschichtigkeit des Gebildes Eigentum nicht mehr zu fassen bekommen. Der unzureichende theoretische Ansatz der normativen Theorie führt zu der verkürzten Vorstellung, daß mit dem Begriff des absoluten Rechts auch ein bloß normativer Gehalt des Eigentums zum Ausdruck gebracht werde. Diese Auffassung halten wir nicht für richtig. Sie scheint uns zu übersehen, daß auch der Begriff des absoluten Rechts sich nur von einem Wertverständnis des Eigentums her begründen läßt. Der Gedanke der Absolutheit des Klageschutzes kann nicht - wie die normative Theorie glauben machen will - auf eine bloße normative Anordnung zurückgeführt werden. Vielmehr bringt die Ausschließungsbefugnis eine rechtliche Entscheidung zum Eigentumswert zum Ausdruck. Diese Entscheidung beinhaltet zunächst, daß jeder andere die rechtliche Position des Eigentümers zu achten hat, und weiter dann, daß für den Fall der Störung dieser Position dem Eigentümer ein Anspruch auf Abwehr dieser Störung zusteht. Zweck der Ausschließungsbefugnis ist es damit, die Zuordnung einer bestimmten Sache zu einer Person im Verhältnis zu allen anderen Personen zu gewährleisten. Die Ausschließungsbefugnis ist dann aber nur Konsequenz des in der Anerkennung von Eigentum liegenden Prinzips der Zuteilung der Sachen durch das Recht. Sie übernimmt nicht selbst die Zuordnungsfunktion des Rechts, sondern sie gibt gewissermaßen nur das rechtliche Prinzip der Wiederherstellung der rechtlich anerkannten Zuordnung für den Fall ihrer Störung. Das Prinzip der Zuordnung selbst liegt der Ausschließungsbefugnis mit der rechtlichen Anerkennung des Eigentums als einem wertvollen Gut der Lebenswelt schon voraus. Es ist dieses Verhältnis zwi-
I. Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum
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sehen dem Eigentum als einem Wertprinzip und der aus ihm begründeten Ausschließungsbefugnis, das die normative Theorie zum absoluten Recht nicht mehr in den Blick bekommt. Im Begriff des dinglichen Rechts kommt hingegen die Werthaftigkeit selbst des Eigentums in nur verkürzter Weise zum Ausdruck. Die wesentliche Bedeutung des Eigentums erschöpft sich hier in der Beziehung zwischen dem Eigentümer und seiner Sache.12 Damit ist ganz zweifellos ein wichtiges Wertmoment im Hinblick auf Eigentum angesprochen, der Eigentumswert selbst ist damit aber keineswegs erschöpft. Ein wesentlicher Wertzusammenhang liegt - worauf die Theorie zum absoluten Recht berechtigterweise hindeutet - darin, daß dem Eigentümer eine Sache gegenüber allen anderen zugeordnet ist. Erst aus diesem auf der rechtlichen Anerkennung von Eigentum beruhenden Zuordnungsprinzip heraus kann das Recht die subjektive Berechtigung des Eigentümers an der Sache, also seine Einwirkungsbefugnis, begründen. Deshalb kann man auch nicht sagen, daß die Einwirkungsbefugnis Grund der Ausschließungsbefugnis sei. Vielmehr ist es so, daß Einwirkungsund Ausschließungsbefugnis jeweils selbständige rechtliche Teilaspekte des Eigentums darstellen, durch die für die juristische Dogmatik jeweils unterschiedliche Wertmomente des Eigentums formuliert werden. Mit Recht geht deshalb auch etwa Larenz davon aus, daß Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis "gleich notwendige Elemente des Eigentumsbegriffs" darstellen: "Das bedeutet", so Larenz weiter, "daß man nicht das eine allein auf das andere zurückführen, es damit zum Verschwinden bringen kann." 13 Die in Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis liegenden unterschiedlichen Aspekte des Eigentums kann man sich an dem von V/estermann in Anknüpfung an Wieacker für das Sachenrecht herausgearbeiteten Gedanken der Zuordnung noch weiter verdeutlichen.14 Das Sachenrecht ist für Westermann Güter zuordnendes Recht. Ausfluß seiner güterzuordnenden Funktion ist zum einen die Absolutheit des Klageschutzes und zum anderen die Unmittelbarkeit der Sachbeziehung.15 Westermann selbst sieht in diesen beiden Gesichtspunkten die Ansatzpunkte für die unterschiedlichen Theorien zur Erklärung des Wesens der dinglichen Rechte.16 Wir würden stattdessen eher sa12
Siehe dazu etwa auch die Kritik bei Dombois, ZStaatsw. 110 (1954), 239 (240).
13
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 254; im Ergebnis ähnlich Wieling, Sachenrecht, Bd. I, § 8 II 1 c (S. 261): "Negative und positive Befugnisse zusammen kennzeichnen erst das Eigentum". 14 Wieacker, DRW 1941, 49 (61); ders. y Zum System des deutschen Vermögensrechts; Westermann y Sachenrecht, § 2. Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung mit der Zuordnungslehre bei Eichler, Institutionen des Sachenrechts, Bd. I, S. 9 ff., 144 ff., sowie Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 45 ff. 15
Westermann, Sachenrecht, § 2 II.
16
Ders., Sachenrecht, § 2 I.
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2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
gen, daß nur der Ansatz bei der Sachbeziehung eine Erklärung zum Eigentum als dinglichem Recht darstellt, während der Ansatz zur Absolutheit des Klageschutzes sich auf das Eigentum als absolutes Recht bezieht. Für zutreffend halten wir aber den Gedanken Westermanns, daß Absolutheit des Klageschutzes und Unmittelbarkeit der Sachbeziehung nur "Ausflüsse der güterzuordnenden Funktion" des Sachenrechts sind. Der güterzuordnenden Funktion des Rechts entspricht die Anerkennung des Eigentums als eines rechtlichen Wertprinzips. Diese Anerkennung schlägt sich in der aus dem Eigentum folgenden Begründung von Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis nieder. Dabei knüpfen die beiden Befugnisse an die Zuordnungsfunktion des Rechts unter jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkten an. Die Einwirkungsbefugnis bezieht sich auf sie unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen dem Eigentümer und seiner Sache, die Ausschließungsbefugnis greift die Beziehung des Eigentümers zu allen anderen Personen heraus. Das Prinzip der Güterzuordnung selbst muß allerdings beide Momente beinhalten: Zuordnung bedeutet die Zuordnung einer Sache zu einer Person unter Ausschluß aller anderen Personen.17 Eine sinnvolle Verwirklichung der Zuordnungsfunktion des Rechts ist weder allein unter dem einen, noch allein unter dem anderen Aspekt möglich. Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis bedürfen daher der Begründung aus dem umfassenden Prinzip der in der Anerkennung von Eigentum liegenden rechtlichen Zuordnung von Gütern. Die perspektivische Verengung der beiden Deutungen zum Eigentum als dinglichem Recht und als absolutem Recht scheint uns nicht von ungefähr zu kommen. Letztlich verweisen sie wohl auf jeweils unterschiedliche Gedankenkreise zur Begründung von Privateigentum, die hier nur in aller Kürze umrissen werden sollen. Bereits oben ist daraufhingewiesen worden, daß sich in der Geschichte der Philosophie zwei große Grundpositionen zur Eigentumsbegründung herausgebildet haben. Für die Arbeitstheorie beruht der Wert des Eigentums auf der Bearbeitung der Sache durch die Person. Dem entspricht es, das Verhältnis zwischen dem Eigentümer und seiner Sache zur Grundlage auch der juristischen Dogmatik zum Eigentum zu machen und es deshalb als dingliches Recht zu begreifen. Für die Aneignungs- oder Okkupationstheorie setzt die Begründung von Eigentum hingegen bei der Ergreifung der Sache durch den einzelnen an. Zum Eigentum gehört hier dann aber weiter notwendig die Anerkennung der Inbesitznahme durch die Gemeinschaft. 18 Besser würde man daher nicht von der Aneignungs-, sondern der Anerkennungstheorie zum Eigentum sprechen. Beide Theorien scheinen uns 17
Vgl. zu diesem "Dreiecksverhältnis" auch Meier-Hayoz, Festschrift für Oftinger, 171 (172 ff.). 18 Bei Kant entspricht dem der Gedanke eines "a priori vereinigten Willens", der Grundlage für die Zuteilung des ursprünglich im Gesamtbesitz stehenden Bodens ist, vgl. Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 262 ff.
I. Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum
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nicht notwendig einander zu widersprechen. Insoweit soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß auch die Arbeit ihren Wert in erheblichem Maße aus ihrer gesellschaftlichen Anerkennung bezieht. Eine weitere Klärung des Zusammenhangs beider Begründungstheorien kann hier aber durchaus dahingestellt bleiben. Uns kommt es nur darauf an, anzudeuten, daß die Theorien zum Eigentum als dingliches und absolutes Recht sich in diesen Begründungsmustern zum Eigentum bewegen, ohne daß man jedoch sagen könnte, daß der Gesetzgeber des bürgerlichen Rechts sich mit der Anerkennung des Eigentums für einen der verschiedenen Begründungsansätze entschieden hätte. Das rechtfertigt es, für das Eigentumsmodell des Zivilrechts von einem Wertprinzip des Eigentums auszugehen, das den im Eigentum liegenden unterschiedlichen Wertmomenten gleichermaßen Rechnung trägt. Das Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB ist damit weder mit dem Begriff des dinglichen Rechts, noch dem Begriff des absoluten Rechts zureichend erfaßt. Beide dogmatischen Ansätze bedürfen der Ergänzung zur jeweils anderen Seite hin. So müßte eine adäquate Theorie zum Eigentum als dinglichem Recht den Eigentümer und seine Beziehung zur Sache auch in ein Verhältnis zum potentiellen Störer setzen. Dagegen mangelt es der Theorie vom Eigentum als absolutem Recht vor allem daran, daß sie im Verhältnis zwischen Eigentümer und potentiellem Störer die in der Ausschließungsbefugnis liegende Wertentscheidung zum Eigentum nicht genügend beachtet. Mit diesen Ergänzungen ließe sich sowohl auf dem Begriff des dinglichen Rechts als auch dem des absoluten Rechts die juristische Dogmatik zum Eigentum aufbauen. Dennoch bevorzugen wir im Verlaufe der weiteren Darlegung den Begriff des absoluten Rechts für das von uns zugrunde gelegte Eigentumsmodell des Zivilrechts. Ausschlaggebend dafür sind folgende Gründe: Der Begriff des absoluten Rechts gehört einer höheren Abstraktionsebene an als der Begriff des dinglichen Rechts, denn der Begriff der Dinglichkeit korrespondiert offenbar mit dem naturwissenschaftlich geprägten Sachbegriff, wie er § 90 BGB zugrunde liegt. Dagegen lassen sich als absolute Rechte neben dem Eigentum noch ohne weiteres eine Reihe weiterer Rechte (etwa Patent- und Urheberrechte) und Rechtsgüter (beispielsweise Leben und Gesundheit) auffassen. Damit zeigt sich schon im Begriff des absoluten Rechts, daß das Eigentumsmodell als Vorbild für ein Verständnis der sonstigen absoluten Rechte dienen kann. Dies scheint uns insbesondere für die Begründung der Ansprüche aus den verschiedenen absoluten Rechten zu gelten. Hier liegt dann auch ein zusätzlicher Grund dafür, den Begriff des absoluten Rechts zu bevorzugen. Bereits sprachlich verweist der Begriff unmittelbar auf den Gedanken der Absolutheit des Klageschutzes. Damit ist der Begriff des absoluten Rechts schon im Hinblick auf eine Anspruchskonzeption des Rechts formuliert. Unserem Interesse an der Begründung der Ansprüche trägt diese Begriffsbildung daher in besonderer Weise Rechnung.
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2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
3. Der Schrankenvorbehalt des Eigentums § 903 S. 1 BGB formuliert nicht nur die Befugnisse des Eigentümers, sondern stellt diese - in ebenso prinzipieller Weise - unter den Vorbehalt der Einschränkung. Aufgrund dieses Schrankenvorbehalts stehen dem Eigentümer die Befugnisse nur zu, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen. Auch der Schrankenvorbehalt stellt damit einen wesentlichen Bestandteil des zivilrechtlichen Eigentumsmodells dar. Man kann sogar sagen, daß die Anerkennung des Eigentums als absolutes Recht überhaupt nur denkbar ist, weil die Rechtsordnung es zugleich unter den Vorbehalt seiner Einschränkung stellt. Die dogmatische Figur des absoluten Rechts und der Schrankenvorbehalt stellen also einander ergänzende Techniken im Rahmen der Begründung von Ansprüchen dar. In bezug auf dieses Ergänzungsverhältnis wird im folgenden auch von Schrankendenken gesprochen. Wie der Gehalt der dogmatischen Figur des absoluten Rechts geht - was im einzelnen noch zu zeigen sein wird - auch die Bedeutung des Schrankenvorbehalts als eines rechtlichen Prinzips weit über den Bereich der Eigentumsdogmatik des Zivilrechts hinaus. Sie reicht hin bis etwa zum sog. Eingriffs- und Schrankendenken in der Theorie der Grundrechte. Diese grundsätzliche Bedeutung des Schrankendenkens beruht darauf, daß es ein theoretisches Modell dafür gibt, Rechte und gegenläufige Rechte oder rechtliche Interessen in ein Verhältnis zueinander zu setzen.19 In der Literatur herrscht ein alter Streit darüber, ob die Beschränkungen aufgrund des Schrankenvorbehalts an das Eigentum von außen herangetragen werden oder aber durch den Vorbehalt nur die dem Eigentum von vorneherein innewohnenden Grenzen bestimmt werden. Es stehen sich hier die "Außentheorie" und die "Innentheorie" gegenüber.20 In der Gegenüberstellung beider Theorien schwingt die Entgegensetzung von römisch-rechtlichem und deutsch-rechtlichem Eigentumsbegriff mit. 2 1 Die Vorstellung von einer äuße-
19 Vgl. zu diesem Verständnis der Funktion des Schrankendenkens auch die für die Grundrechte entwickelte Bedeutung des Verhältnisses von Tatbestand und Schranke als "Spiel von Grund und Gegengrund" bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 249 ff., insbes. S. 286, 290 ff. Ähnlich auch schon Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken, 405 (406 f.). 20 Zur "Außentheorie" vgl. schon die Andeutungen bei v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, S. 367; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, § 167 (S. 492); zuletzt etwa Wieling, Sachenrecht, Bd. I, § 8 II 2 c (S. 262); in der Tendenz wohl auch Staudinger-Seiler, § 903 Rdz. 8. Für die "Innentheorie" siehe die theoretische Grundlegung bei Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, § 6; im übrigen etwa Wolff-Raiser, Sachenrecht, §§51 II 2, 52 II; SoergelJ.F. Baur, § 903 Rdz. 15-20; AK -Ott, BGB, § 903 Rdz. 3. 21 Sehr deutlich etwa bei Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung, § 6 II 5 a. Vgl. dazu auch die weiteren Hinweise und Klarstellungen bei Kroe-
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ren Beschränkung des Eigentums knüpft dabei offenbar an die romanistische Auffassung vom Eigentum an, das seinem Begriff nach als ein absolutes und ausschließliches Recht erscheint. Dagegen beruht die Auffassung, daß die Schranken des Eigentums zu dessen Inhalt zu rechnen sind, auf dem Bild einer germanischen Lehre vom pflichtgebundenen konkreten Eigentum. Damit spiegelt sich in der Entgegensetzung beider Theorien auch die Frage nach einem individualistischen oder sozialgebundenen Eigentumsbegriff des bürgerlichen Rechts wider. 22 In gewisser Weise werden so auf der Ebene der Beschränkung des Eigentums die unterschiedlichen Ansätze zur Begründung von Eigentum durch Arbeit oder aber Anerkennung der Gemeinschaft fortgeführt und damit auch die Kontroverse zwischen dinglichem und absolutem Eigentumsverständnis. Beide Theorien greifen unserer Ansicht nach zu kurz. Sie geben vor allem keine zureichende Analyse der Funktion des Schranken Vorbehalts. Stattdessen zielen sie beide unmittelbar auf ein inhaltliches Eigentumsverständnis, für das der Schrankenvorbehalt entweder als wesentlich oder aber als unbeachtlich erscheint. Von einem solchen Ansatz aus läßt sich die Bedeutung des Schrankenvorbehalts für die juristische Dogmatik aber kaum noch aufklären. Dagegen erlaubt der Gedanke der Begründung der rechtlichen Entscheidungen aus dem Eigentum hier eine differenziertere Betrachtung. Ein zentraler Gesichtspunkt für das in § 903 S. 1 BGB formulierte Eigentumsmodell liegt darin, daß nach der Formulierung des Schrankenvorbehalts eine Vermutungsregel für die Unbeschränktheit des Eigentums besteht.23 Die Vermutung spricht dafür, daß der Eigentümer mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen kann. Es bedarf also der Begründung, daß ein Gesetz oder Rechte Dritter der Ausübung der Eigentümerbefugnisse entgegenstehen. Der Schrankenvorbehalt bringt damit zunächst einmal die grundsätzliche Entscheidung des Rechts zum Ausdruck, daß das Eigentum Beschränkungen unterliegt. Gleichzeitig wird durch die Formulierung des Verhältnisses von Eigentümerbefugnissen und ihrer Einschränkung als Regel und Ausnahme aber auch schon eine Gewichtung vorgenommen. Einerseits beinhaltet die Vermutungsregel eine Betonung der Eigentümerbefugnisse, durch die das Eigentum als absolutes Recht bestätigt wird. Andererseits liegt im Schrankenvorbehalt aber auch eine Relativierung schell, Festschrift fur Thieme, 34 ff., oder etwa auch Staudinger-Seiler, §§ 903 ff. Rdz. 55-57. 22 23
Ausfuhrlich dazu Kroeschell
y
Vorbem. zu
Festschrift für Thieme, 34 ff.
Vgl. Schapp, Sachenrecht, § 1 III. Als Vermutungsregel auf prinzipieller Ebene ist damit für die Anspruchsebene zugleich eine Regelung der Beweislast vorgezeichnet, so auch die h.L., vgl. etwa Erman-Hagen, § 903 Rdz. 1; Staudinger-Seiler, § 903 Rdz. 4; anders Soergel-J.F. Baur y § 903 Rdz. 14, der allerdings den Zusammenhang zwischen dem Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB und den konkreten Ansprüchen aus dem Eigentum nicht genügend beachtet.
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2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
des absolut-rechtlichen Charakters des Eigentums. Erst aus dieser Beschränkbarkeit des Eigentums ergibt sich genaugenommen der prinzipielle Charakter der in § 903 S. 1 BGB fur den Eigentümer formulierten Befugnisse, denn ohne den Schrankenvorbehalt läge die Annahme nahe, daß der Gesetzgeber hier definitive Befugnisse des Eigentümers formuliert hätte. Auch der Schrankenvorbehalt selbst ist allerdings mit der Möglichkeit der Einschränkung durch "Gesetz" oder aufgrund der "Rechte Dritter" in nur ganz prinzipieller Weise umrissen. Der Gesetzgeber gibt in § 903 S. 1 BGB demnach auch nur eine prinzipielle Bestimmung des Verhältnisses von Eigentum und Eigentumseinschränkung und damit das Modell des bürgerlichrechtlichen Eigentums. Die Erörterung des prinzipiellen Verhältnisses von Eigentum und Eigentumseinschränkung auf der Modellebene bedarf nun noch einer ergänzenden Darlegung fur die Anspruchsebene. Wie wirkt sich im Falle der Eigentumsstörung eine aufgrund des Schrankenvorbehalts bestehende gesetzliche Beschränkung der Eigentümerbefugnisse auf der Anspruchsebene aus? Wenn auch nach dem Eigentumsmodell durch das Schrankengesetz bereits die Befugnisse des Eigentümers beschränkt werden, so steht dem Eigentümer im Falle der Störung seines Eigentums dennoch dem Grunde nach zunächst einmal ein Anspruch auf Abwehr der Eigentumsstörung zu, der sich aus § 985 BGB oder aber § 1004 I BGB ergibt. In diesem Anspruch verwirklicht sich das durch das Eigentum als absolutes Recht begründete Prinzip der Absolutheit des Klageschutzes. Das der Ausfüllung des Schrankenvorbehalts dienende Gesetz wirkt sich also nicht so aus, daß es - wie man vielleicht annehmen könnte - bereits die Begründung des Eigentumsanspruches ausschließt. Vielmehr führt es erst zu einer Ausschließung des dem Grunde nach gegebenen Anspruches durch Begründung einer Verpflichtung des Eigentümers zur Duldung der Eigentumsstörung nach § 1004 I I BGB oder § 986 BGB. In diesem Zusammenspiel von Eigentumsgrund und Beschränkungsgrund spiegelt sich das Eigentumsmodell mit seiner Unterscheidung von absolutem Recht und Schranken vorbehält wider. 24 Das für die Modellebene bestehende Prinzip von Regel und Ausnahme wiederholt sich insofern auf der Anspruchsebene durch die Unterscheidung von Anspruchsbegründung und anspruchshindernder oder -vernichtender Einwendung. Auf dieser Grundlage läßt sich nun auch das Ungenügen von "Außen-" und "Innentheorie" zum Eigentum deutlich machen. Es resultiert daraus, daß in beiden Denkansätzen kein Raum für die Unterscheidung des Eigentums als Wertprinzip vom Eigentum als absolutes Recht und vom Eigentum als An24 Vgl. hierzu auch die von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff., für die Grundrechte entwickelte weite Tatbestandstheorie, die den definitiven grundrechtlichen Schutz als das Ergebnis eines Zusammenspiels von Grund und Gegengrund begreift.
I. Die Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum
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spruch ist. Aus unserer Sicht identifiziert die "Außentheorie" das Eigentum mit den Eigentümerbefugnissen, die "Innentheorie" hat dagegen im Grunde nur das Eigentum als Anspruch im Auge. Die Problematik dieser beiden Denkansätze liegt darin, daß das jeweilige materielle Eigentumsverständnis unmittelbar auf die Eigentumsdogmatik durchschlägt und damit allerdings eine differenziertere Analyse der Konfliktsentscheidungsfunktion des Eigentums erschwert. Das wird besonders deutlich an der "Innentheorie". Im Rahmen dieses theoretischen Ansatzes werden die Gründe fur die Anerkennung von den Gründen fur die Versagung des Anspruchs aus dem Eigentum nicht mehr klar getrennt. 25 Sie sind zusammengefaßt in der Vorstellung von einem in sich selbst begrenzten Eigentum. Dagegen scheint die "Außentheorie" auf den ersten Blick durch die klare Unterscheidung von Eigentum und Eigentumsbeschränkung ein zutreffenderes Bild des Eigentums zu zeichnen. Insbesondere findet hier eine klare Trennung beider Gesichtspunkte statt. Zweifelhaft ist bei diesem theoretischen Ansatz jedoch die Vorstellung, daß im Schrankenvorbehalt das Recht dem Eigentum als einer nichtrechtlichen Gegebenheit entgegentrete. Damit wird nicht mehr klar zwischen dem Eigentum als begründendem Wertprinzip und dem Eigentum als absolutem Recht unterschieden, es wird vielmehr das Wertverständnis des Eigentums mit der dogmatischen Figur gleichgesetzt. Außer Sicht gerät dabei allerdings, daß nicht erst durch den Schrankenvorbehalt, sondern bereits durch das Verständnis des Eigentums als absolutes Recht das Wertprinzip des Eigentums in seiner Formung durch das Recht erscheint. Absolutes Recht und Schrankenvorbehalt stellen zwar unterschiedliche, aber aufeinander bezogene dogmatische Ansatzpunkte fur die rechtliche Erfassung des Eigentumswertes dar. In der Innentheorie ist vor allem die Unterscheidung beider Gesichtspunkte nicht klar genug herausgearbeitet. Zutreffend scheint uns aber der Gedanke zu sein, daß beide Momente im Recht aufeinander bezogen sind und nicht das Recht dem Eigentum als einer nichtrechtlichen Gegebenheit gegenübersteht. Dem Recht vorgegeben ist nur das Eigentum als Wertmoment, nicht dagegen die Formulierung des Eigentumswertes als absolutes Recht. Man kann auch sagen, daß mit "Außen-" und "Innentheorie" ein abstraktes Eigentumsverständnis einem konkreten Eigentumsverständnis gegenübersteht. Da beide dieser Eigentumskonzeptionen nicht die im Eigentum als Wertprinzip liegende Begründungsfunktion des Rechts zu fassen bekommen, wird dadurch auch in beiden Fällen ein unzureichendes Bild des Verhältnisses von Eigentum und Recht gezeichnet. Die Außentheorie sieht nicht, daß auch in der Beschränkung von Eigentum eine Gestaltung und Konkretisierung des Eigentumswertes liegt. Das Eigentum als absolutes Recht bleibt hier immer das25 Vgl. auch die Kritik Alexys, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff., an der "Innentheorie" für die Grundrechte.
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selbe, es ändern sich lediglich die Beschränkungen des Eigentums. Die rechtlichen Schranken des Eigentums sind aus dieser Perspektive aber nichts dem Eigentum als solchem Zugehöriges. Klarer wird die Zusammengehörigkeit von Eigentum und Eigentumsbeschränkung durch die "Innentheorie" gesehen. Nicht mehr deutlich gemacht werden kann hier aber, daß auch die Beschränkung des Eigentums an Grenzen stößt. Denn von Gestaltung des Eigentums durch das Recht kann sinnvollerweise nur solange gesprochen werden, als in der Beschränkung von Eigentum noch eine Konkretisierung des Eigentumswertes erblickt werden kann, Eigentum als Wert also erhalten bleibt. 26 Durch den fehlenden Bezug beider Theorien zum Eigentumswert läßt sich das Recht auch nicht mehr sinnvoll auf den Wandel von Eigentum beziehen. Das abstrakte Eigentumsverständnis der "Außentheorie" geht von einem rein statischen Bild des Eigentums aus, das konkrete Eigentumsverständnis der "Innentheorie" kommt dagegen zu einer radikal-dynamischen Sicht auf das Eigentum. Im Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB sind aber beide Momente ineinander verschränkt. Mit der dogmatischen Figur des absoluten Rechts wird zwar ein geradezu archaisches Bild des Eigentums zugrunde gelegt, die Ausfüllung des Schrankenvorbehalts bindet das Eigentum jedoch in den Wandel der Zeit ein. Damit unterliegt der Eigentumswert selbst Wandlungen, als Wert aber erhält er sich. 4. Die geteilte Zuordnung der Sache am Beispiel des Grundpfandrechts Der Eigentümer hat die Möglichkeit, einzelne der im Eigentum enthaltenen Befugnisse herauszutrennen und auf einen anderen zu übertragen. Für den Erwerber dieser Befugnisse wird dadurch ein sog. beschränktes dingliches Recht begründet, das sich für den Eigentümer als "Belastung" seines Eigentums darstellt. 27 In Anknüpfung an Westermann kann man davon sprechen, daß eine solche Abspaltung einer Teilberechtigung zu einer doppelten
26 Vgl. dazu auch die Ausführungen in BVerfGE 24, 367 (389), die bezeichnenderweise dem "Lehrbuch des Sachenrechts" von Baur/Stürner als Motto vorangestellt sind: "Das Eigentum ist ein elementares Grundrecht, das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit steht. Ihm kommt im Gesamtgefüge der Grundrechte die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sicherzustellen und ihm damit eine eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. Die Garantie des Eigentums als Rechtseinrichtung dient der Sicherung dieses Grundrechts. Das Grundrecht des Einzelnen setzt das Rechtsinstitut 'Eigentum' voraus; es wäre nicht wirksam gewährleistet, wenn der Gesetzgeber an die Stelle des Privateigentums etwas setzen könnte, was den Namen 'Eigentum' nicht mehr verdient. " (Hervorhebung durch den Verf., W. S.) 27
Schapp, Sachenrecht, §§ 1 II 1 a, 15 I (S. 170).
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oder besser vielleicht noch geteilten Zuordnung der Sache fährt. 28 Die Vorstellung einer geteilten Zuordnung der Sache zwischen dem Eigentümer und dem Inhaber des beschränkten dinglichen Rechts wirft im Hinblick auf das Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB besondere Probleme auf. Da ihre Klärung aber auch erst zu einem vollständigen Bild dieses Modells fährt, soll die Vorstellung einer Teilung der Zuordnung im folgenden am Beispiel des Grundpfandrechts umrissen werden. Dabei können wir uns auf die Überlegungen von Jan Schapp "Zum Wesen des Grundpfandrechts" stützen.29 Wenn es sich bei dem Grundpfandrecht als einem beschränkten dinglichen Recht um aus dem Eigentum verselbständigte Eigentümerbefugnisse handelt, so kommt ihm dieselbe Rechtsnatur wie dem Eigentum zu. Das bedeutet, daß man sich auch das Grundpfandrecht nach dem Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB vorstellen muß. Auf dieser Grundlage bereitet es nur wenig Mühe, die danach zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber geteilte Einwirkungsbefugnis zu bestimmen.30 Zum Eigentümerbelieben gehört auch die Befugnis des Eigentümers, das Eigentum an einen anderen zu übertragen und den dafür erzielten Erlös zu behalten. Diese sog. Verwertungsbefugnis wird vom Eigentümer durch die Belastung seines Grundstückes mit einem Grundpfandrecht auf den Inhaber des Grundpfandrechtes übertragen. Durch den Eigentümer erfolgt aber immer nur eine partielle Übertragung der Verwertungsbefugnis. Auf der Seite des Grundpfandrechtsinhabers zeigt sich das daran, daß die ihm zustehende Verwertungsbefugnis ihrem Inhalt nach vor allem dadurch begrenzt ist, daß er den im Falle der Zwangsversteigerung an die Stelle des Eigentums tretenden Erlös nur zu einem bestimmten, dem Rang des Grundpfandrechts entsprechenden Betrag behalten darf. Dem Eigentümer verbleibt dagegen die Befugnis, einen in der Zwangsversteigerung nicht verbrauchten Betrag für sich selbst zu behalten. Auch steht ihm nach wie vor die Befugnis zu, sein Eigentum - wenn auch nur in dem mit dem Grundpfandrecht belasteten Zustand - zu veräußern. Auf diese Weise also fährt die Belastung des Grundstücks mit einem Grundpfandrecht zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber zu einer Aufteilung der in der Einwirkungsbefugnis des Eigentümers enthaltenen Verwertungsbefugnis. Im Gegensatz zu den Einwirkungsmöglichkeiten gestaltet sich die Abgrenzung der Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber jeweils zustehenden Ab-
28 Westermann, Sachenrecht, §§ 2 III 1, 127 II 2 ("doppelte Zuordnung"), §§ 121 I 1, 129 I 2 b ("geteilte Zuordnung"). 29 Schapp, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft, Freundesgabe für Söllner, 477 ff.; vgl. auch schon ders., Sachenrecht, § 20 I. 30 Vgl. dazu insgesamt Schapp, Zum Wesen des Grundpfandrechts, 477 (484-487); ders., Sachenrecht, § 20 I (S. 213).
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wehrmöglichkeiten schwieriger. 31 Dem Grundpfandrecht kommt als ein sog. beschranktes dingliches Recht ein absoluter Charakter zu. Es stellt wie das Eigentum ein absolutes Recht dar, das dem Berechtigten gegenüber jedermann die Abwehr von Störungen erlaubt. Diese Ausschließungsbefugnis des Grundpfandrechtsinhabers wirft im Verhältnis zum Eigentümer allerdings besondere Probleme auf, die daraus resultieren, daß nicht nur dem Grundpfandrechtsinhaber, sondern nach dem Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB nach wie vor auch dem Eigentümer noch die Ausschließungsbefugnis gegenüber jedermann zusteht. Das bedeutet für die Anspruchsebene, daß jede Ausübung von Eigentümerbefugnissen zunächst einmal als Störung des Eigentums begriffen wird, für die dem Eigentümer nach § 1004 I BGB ein Abwehranspruch zusteht. Auch die Ausübung der Verwertungsbefugnis durch den Grundpfandrechtsinhaber erscheint auf der Anspruchsebene dem Tatbestand nach deshalb als Eigentumsstörung. Dennoch muß der Grundpfandrechtsberechtigte vom Eigentümer natürlich die Ausübung seiner Befugnisse verlangen können. Die Durchsetzung seiner Verwertungsbefugnis geschieht wie folgt. Die Vorstellung des Grundpfandrechts als Abspaltung und Verselbständigung von Eigentümerbefugnissen erlaubt zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber zwar eine klare Abgrenzung der beiderseitigen Einwirkungsbefugnisse, nicht aber auch der Ausschließungsbefugnisse. Zu einer Abgrenzung dieser Befugnisse kommt es erst auf der Anspruchsebene, indem dem Grundpfandrechtsberechtigten gegenüber dem Eigentümer zur Verwirklichung seiner Ausschließungsbefugnis ein Anspruch auf Verwertung des Grundstücks zugebilligt wird. Dieser Anspruch wird gemeinhin als Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung formuliert. 32 Gegenüber dem Abwehranspruch des Eigentümers aus § 1004 I BGB begründet dieser Duldungsanspruch des Grundpfandrechtsinhabers eine Verpflichtung des Eigentümers, die Verwertung des Grundstücks nach § 1004 I I BGB zu dulden, und ermöglicht dem Grundpfandrechtsinhaber so die Ausübung seiner Befugnisse gegenüber dem Eigentümer. Der Duldungsanspruch ist damit Ausfluß der Ausschließungsbefugnis des Grundpfandrechtsinhabers, zugleich stellt er im Hinblick auf das Eigentum eine Konkretisierung seiner Schranken dar. Vor allem an diesem Anspruch wird die innere Verzahnung des Denkmodells Eigentum deutlich. Er zeigt, daß eine Abgrenzung der Abwehrmöglichkeiten zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber nach Maßgabe der 31 Ausführlich zu dieser Problematik Schapp, Zum Wesen des Grundpfandrechts, 477 (487-489); ders., Sachenrecht, § 20 I (S. 213 f.). 32 So etwa Baur/Starner, Sachenrecht, § 40 IV 3; Erman-Räfle, Vor § 1113 Rdz. 5; Staudinger-Scherübl, § 1147 Rdz. 22; anders auf der Grundlage der Lehre vom Grundpfandrecht als dinglichem Zahlungsanspruch allerdings E. Wolf, Sachenrecht, § 11 A II; ihm folgend MüKo-Eickmann, § 1147 Rdz. 2 ff.
Π. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhaltnissen
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Abgrenzung der beiderseitigen Einwirkungsbefugnisse erst auf der Anspruchsebene stattfindet. Die Belastung des Eigentums läßt sich in bezug auf die Einwirkungsbefugnis des Eigentümers also unmittelbar als geteilte Zuordnung der Sache begreifen, dagegen muß man in Hinblick auf die Ausschließungsbefugnis zunächst von einer doppelten Zuordnung der Sache ausgehen. Im Hinblick auf die Abwehrmöglichkeiten beider Rechtsinhaber realisiert sich die geteilte Zuordnung der Sache dann auf der Anspruchsebene. Auf dieses hier am Beispiel des Grundpfandrechts entwickelte Verhältnis von doppelter und geteilter Zuordnung der Sache wird im Rahmen unserer Überlegungen zum öffentlichen Recht zurückzukommen sein.
Π. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhältnissen 1. Das Schuldverhältnis i.w.S. als Grund des schuldrechtlichen Anspruches Nach § 241 S. 1 BGB ist der Gläubiger kraft des Schuldverhältnisses berechtigt, von dem Schuldner eine Leistung zu fordern. Schon die zentrale Stellung der Vorschrift am Anfang des Schuldrechts legt nahe, daß das Gesetz in ihr auch eine wesentliche Aussage zum Ausdruck gebracht sieht. Tatsächlich läßt sich dem Satz eine Erläuterung der Grundbegriffe des Schuldrechts entnehmen, nämlich der Begriffe "Gläubiger", "Schuldner", "Leistung" und "Schuldverhältnis".33 Dabei scheint uns der Begriff des Schuldverhältnisses die anderen Begriffe noch an Bedeutung zu überragen. Wir würden sogar sagen, daß sie alle auf den Begriff des Schuldverhältnisses bezogen sind und sich daher ihr ursprünglicher Sinn auch nur von ihm her erschließen läßt. Auch der Gesetzgeber scheint im Schuldverhältnis den tragenden systematischen Begriff für die Konzeption des Schuldrechts erblickt zu haben. Das kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß das zweite Buch des BGB als "Recht der Schuldverhältnisse" bezeichnet wird. Dementsprechend steht auch im Mittelpunkt unserer folgenden Überlegungen der Begriff des Schuldverhältnisses. Bei unbefangener Betrachtung des Wortlautes von § 241 S. 1 BGB scheint die Bestimmung zum Ausdruck zu bringen, daß die Leistungsberechtigung des Gläubigers aus dem Schuldverhältnis als ihrer Grundlage folgt. In der Literatur wird diese Funktion des Schuldverhältnisses als Grundlage für Leistungsrechte und dementsprechende -pflichten häufig mit bildhaften Formulierungen wie der umschrieben, daß das Schuldverhältnis "Quelle" von Ansprüchen sei. 34 Der von uns zugrunde gelegte methodische Ansatz erlaubt 33
Vgl. auch Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5 VI. Vgl. etwa Enneccer us/Lehmann y Recht der Schuldverhältnisse, § 1 II; Planck-Siber y Anm. I 1 vor § 241; E. Wolf y Festgabe für Herrfahrdt, 197 (198, 202); Palandt34
5 Schur
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es, diesem Bild einen tieferen Sinn zu geben: Aus dem Schuldverhältnis begründet das Recht das Entstehen der schuldrechtlichen Ansprüche. 35 Es ist im ursprünglichen Sinne des Wortes die "Anspruchsgrundlage", aus der heraus die Beurteilung der Ansprüche erfolgt. 36 Als dieser Grund von Ansprüchen kommt dem Schuldverhältnis eine ähnliche Funktion zu wie dem Eigentum.37 Sofern man den Zusammenhang von Schuldverhältnis und schuldrechtlichem Anspruch auch in § 241 S. 1 BGB zum Ausdruck gebracht sieht,38 kommt dieser Bestimmung damit für das Schuldrecht eine ähnliche Bedeutung zu wie der für das Sachenrecht zentralen Vorschrift des § 903 S. 1 BGB. Zweifel an der skizzierten Auslegung des § 241 S. 1 BGB könnten sich vor allem daraus ergeben, daß das BGB den Begriff des Schuldverhältnisses auch für den schuldrechtlichen Anspruch selbst verwendet. 39 In der zivilrechtlichen Dogmatik wird insoweit das Schuldverhältnis i.w.S. als Anspruchsgrundlage von dem Schuldverhältnis i.e.S. als dem schuldrechtlichen Anspruch unterschieden.40 Welche Gründe im einzelnen dafür sprechen mögen, in welchem Sinne die Bestimmung des § 241 S. 1 BGB den Begriff des Schuldverhältnisses meint, kann hier durchaus auf sich beruhen. Auch wenn man mit der überwiegenden Meinung im Schrifttum davon ausgeht, daß in der Vorschrift das Schuldverhältnis i.e.S. zu verstehen ist, 41 so stellt das die Bedeutung des
Heinrichs, Einl. v. § 241 Rdz. 2; Kress , Lehrbuch des Allgemeinen Schuldrechts, § 4, 3. Ablehnend zu dieser Vorstellung des Schuldverhältnisses allerdings etwa Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 2 I 3 b, wohl auch Staudinger-J. Schmidt, Einl. zu §§ 241 ff. Rdz. 167, und Larenz, Schuldrecht, Bd. I, § 2 V (mit Anm. 39); ders., JZ 1962, 105 (108). Siehe eingehend zu den verschiedenen Auffassungen zum Schuldverhältnis i.w.S. die Untersuchung von Henß, Obliegenheit und Pflicht im Bürgerlichen Recht, S. 101 ff. 35 36
Ebenso Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 1. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5 V (S. 85).
37 So Schapp y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 1; ähnlich Enneccerus /Lehmann, Recht der Schuld Verhältnisse, § 1 II. 38 Zu einer solchen Auslegung tendiert etwa Planck-Siber, Vorbem. zu Bd. II 1 Anm. I 1 a und II 2 a. Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 2 I 1 a, und EnneccerusLehmanny Recht der Schuldverhältnisse, § 1 II, scheinen annehmen zu wollen, daß der Ausdruck Schuldverhältnis in § 241 sowohl i. w. als auch i.e.S. (als schuldrechtlicher Anspruch) verstanden werden kann. 39 So etwa in den §§ 243 II, 362 I, 364 I, 397 I BGB. 40 Schapp y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 2; Medicus y Schuldrecht, Bd. I, § 1 III; UnYio-Kramer y Einl. zu Bd. 2, Rdz. 12; wohl auch Larenz, Schuldrecht, Bd. I, § 2 V. Zu den Gründen dieses Sprachgebrauchs vgl. Staudinger-J. Schmidty Einl. zu §§ 241 ff. Rdz. 159 ff. 41 So mit ausführlicher Begründung Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 2; auch BGHZ 10, 391 (395); Fikentscher t Schuldrecht, § 5 II 2; Erman-Sirp y Einl. § 241 Rdz. 13, § 241 Rdz. 1.
Π. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhltnissen
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Schuldverhältnisses als Anspruchsgrundlage doch nicht in Frage. Dieser Gedanke liegt auch dann noch dem System des Schuldrechts zugrunde. Das zeigt vor allem auch der Begriff des Schuldverhältnisses i.e.S. selbst, dem eine durchaus tiefere Bedeutung zukommt. Mit der Bezeichnung des schuldrechtlichen Anspruches als Schuldverhältnis wird zunächst einmal schon terminologisch seine Herkunft aus dem Schuldverhältnis i.w.S. zum Ausdruck gebracht. Die nähere Bestimmung als Schuldverhältnis im nur engeren Sinne weist dann darauf hin, daß mit dem schuldrechtlichen Anspruch nur ein Ausschnitt aus dem Schuldverhältnis als dem Beurteilungsrahmen für die rechtlichen Entscheidungen erfaßt ist. Der Begriff des Schuldverhältnisses i.e.S. faßt die rechtliche Konfliktsentscheidung allerdings aus einer etwas anderen Perspektive als der Begriff des schuldrechtlichen Anspruches. Der schuldrechtliche Anspruch sieht die Konfliktsentscheidung vor allem unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Berechtigung des Gläubigers, während sie im Begriff des Schuldverhältnisses i.e.S. - gewissermaßen in Fortsetzung der umfassenderen Perspektive des Schuldverhältnisses i.w.S. - als die durch Forderung und Verbindlichkeit charakterisierte Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner erscheint. 42 Im Begriff des Schuldverhältnisses hat das BGB eine Reihe durchaus unterschiedlicher Lebensverhältnisse unter dem Gedanken der Schuld zusammengefaßt. Ohne einen Blick auf diese Lebensverhältnisse läßt sich diese rechtliche Bewertung allerdings kaum verständlich machen. Im folgenden kommt es uns deshalb vor allem darauf an, eine Anschauung für den Begriff des Schuldverhältnisses zu gewinnen. Ein solches Bild eröffnet der Blick in die geschichtliche Entwicklung, die schließlich zur Herausbildung des Schuldverhältnisses als eines tragenden Begriffs der Dogmatik des bürgerlichen Rechts führt. 43 Der Gesetzgeber hat sich mit dem Schuldverhältnis auf den römisch-rechtlichen Begriff der obligatio bezogen,44 der auch seinem Wortsinn nach die Vorstellung der Gebundenheit des Schuldners an den Gläubiger zum Ausdruck bringt. 45 Das römische Recht kannte unterschiedliche Typen einer solchen Bindung zwischen Schuldner und Gläubiger. Die früheste Einteilung ist offenbar die zwischen Schuldverhältnissen aus Delikt und Schuldverhältnissen aus Vertrag. 46 Die Herausbildung des Gedankens der Gebundenheit im Be-
42 Zu dieser Erklärung für den Begriff des Schuldverhältnisses (i.e.S.) bereits die Motive, Bd. II, S. 1. 43
Siehe dazu vor allem Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5.
44
Motive, Bd. II, S. 1.
45
Zum Begriff der obligatio im römischen Recht vgl. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5 II. 46 Die Unterscheidung zwischen Obligationen aus Delikt und Vertrag liegt etwa dem Lehrbuch des Gaius, Institutionen, zugrunde, siehe 3, § 88. Zu der Unter-
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griff der obligatio zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit an der Entwicklung vom urtümlichen Delikt zur Deliktsobligation. Wir meinen sogar - ohne damit eine rechtshistorische These vertreten zu wollen -, daß in diesem Bedeutungswandel der gedankliche Kern der Vorstellung von der obligatio zum Ausdruck kommt. 47 Insoweit sehen wir im Delikt den Urtypus des Schuldverhältnisses. 2. Das Delikt als Urtypus des Schuldverhältnisses Das heutige Recht der unerlaubten Handlungen bringt eine lange historische Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluß. Die folgende Darstellung richtet ihren Blick auf die geschichtlichen Anfangspunkte in der Entwicklung des römischen Deliktsrechts. Sie versucht vor allem, die gedanklichen Grundlagen fur die Herausbildung der Vorstellung von der Obligation aus Delikt sichtbar zu machen, soweit sie denn fur uns erkennbar sind. Dabei stützen wir uns auf die gängigen Darstellungen in den Lehrbüchern zum römischen Recht, insbesondere aber auf die Forschungsergebnisse Max Käsers. 4* Am Beginn der Entwicklung des römischen Deliktsrechts steht die Selbsthilfe in Form der Rache.49 Wer ein Privatunrecht beging, verfiel aus seiner Tat der Rache des Verletzten. Die eigenmächtige und gewaltsame Verfolgung des Täters durch den Verletzten oder seine Familienangehörigen zur Rächung der Tat ist die urtümlichste und älteste Weise auf erlittenes Unrecht zu reagieren. 50 Zum Vollzug der Rache stand dem Verletzten im altrömischen Recht ein Zugriffsrecht auf den Körper des Täters zu. 5 1 Ziel dieser Zugriffsgewalt war zunächst offenbar immer die Tötung des Täters, die Person haftete für ihre Tat mit ihrem Leben. Erst allmählich veränderte sich die Weise, auf erlittenes Unrecht zu reagieren, es kommt zu Abmilderungen und Abstufungen.
Scheidung vgl. auch Käser, Das römische Privatrecht, Bd. I, § 122 1 1; Weiss, Institutionen des römischen Privatrechts, § 77, 1. 47
Zur Frage der Priorität der deliktischen oder der geschäftlichen Haftung sowie den Anfangen der Obligation vgl. nur Käser, Das römische Privatrecht, Bd. I, §§39 II (mit Anm. 5), 40 I 1, 147 (m.w.N. in Anm. 5). 48 Siehe hierzu Käser, Das römische Privatrecht, Bd. I, §§ 39 ff., 118, 142; ders., Das altrömische lus, § 20; dann aber etwa auch Liebs, Römisches Recht, S. 188 ff., 228 ff.; Honsell/Mayer-Maty/Selb, Römisches Recht, §§ 87 f., 92 f.; Weiss, Institutionen des römischen Privatrechts, §§ 74, 77, 112. 49 Vgl. die Schilderung v. Jherings, Geist des römischen Rechts, Bd. I, S. 118 ff., sowie Käser, Das altrömische lus, § 20. 50
Liebs, Römisches Recht, S. 189.
51
Käser, Das altrömische lus, S. 179.
Π. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhltnissen
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Zunächst wird das Tötungsrecht auf einige wenige bestimmte Taten begrenzt, im übrigen wird es durch das Talionsprinzip ersetzt. 52 Dann werden aber vor allem auch Möglichkeiten entwickelt, die Rache abzuwehren oder doch jedenfalls abzumildern, indem das Racherecht des Verletzten ablösbar gemacht wird. Das bedeutet, der Verletzte verzichtet auf seine Rache gegen die Hergabe einer Sachleistung. Derartige Sühneleistungen wurden durch Bitte um Verzeihung festgelegt oder aber auch durch freie Übereinkunft, durch Sühnevergleich.53 Die Annahme solcher Sühneleistungen zum Zwecke des Abkaufs der Rache und auch die Höhe des Lösegelds stand zunächst ganz im Belieben des Verletzten. Später greift hier der Staat ein - wie sich etwa aus dem Recht der Zwölf Tafeln ergibt - und legt berechenbare Bußsätze fur einzelne Taten fest. 54 Auch wenn der Verletzte die Geldbuße nicht annimmt, versagt ihm der Staat jetzt den Zugriff auf die Person des Täters, sofern dieser das Lösegeld nur anbietet. Die Möglichkeit der Ablösung von zugefügtem Unrecht durch Bußzahlung drängt das Racherecht insgesamt in den Hintergrund. Die Haftung aus Delikt bedeutet nunmehr, daß die Person des Täters einer gerichtlich durchsetzbaren Zugriffsgewalt des Verletzten unterworfen ist, von der er sich aber durch Ablösung befreien kann. Mit der Umformung des Gedankens der Haftung der Person einher geht auch eine differenziertere Betrachtung der Deliktstat selbst. Zu Beginn genügt fur die Begründung der Haftung allem Anschein nach die objektive Tatsache des kausalen Zusammenhangs. Die Tat wird dem Täter immer schon dann zugerechnet, wenn er die erfolgsbegründende Handlung in unmittelbarer oder doch sinnfälliger Weise gesetzt hat. 55 Die Haftung ist also weitgehend an das äußere Geschehen gebunden. Dabei spielte allerdings offenbar auch eine Rolle, daß üblicherweise der Begehung typischer Schadenstaten auch ein entsprechender Wille zugrunde liegt. 56 Erst allmählich gelangt das römische Recht zu einer differenzierteren Betrachtung durch Berücksichtigung der subjektiven Momente bei Begehung der Tat, eben des Verschuldens. Die Ausbildung der Verschuldenshaftung erfolgt zunächst anhand der beiden Grundtypen dolus und culpa, später werden in der Lehre weitere Unterscheidungen ent-
52
Vgl. Liebs, Römisches Recht, S. 215 ff.
53
Die Sühneleistung hieß "supplicium", was etymologisch mit placare (versöhnen) zusammenhängt, der Suhnevergleich selbst "pactum", was auf pax (Friede) verweist, so Liebs y Römisches Recht, S. 190. In neuerer Zeit hat W. Henke, Recht und Staat, § 24 (insbes. S. 209), seine Überlegungen zum Vertrag in diese historischen Zusammenhänge gestellt. 54
Vgl. LiebSy Römisches Recht, S. 216.
55
Käser y Das römische Privatrecht, Bd. I, § 118 II 1; Honsell/Mayer-Mafy/Selby Römisches Recht, § 93 I 2. 5 6
Käser y Das römische Privatrecht, Bd. I, §§ 41 I 2, 118 II 1.
70
. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im
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wickelt. 57 Allerdings gelangt das römische Recht noch nicht zu einer klaren begrifflichen Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld.58 Mit der hier in aller Kürze geschilderten Entwicklung der Deliktshaftung des römischen Rechts sind die ursprünglichen Lebenszusammenhänge angedeutet, auf die sich die Vorstellung vom Delikt als Schuldverhältnis gründet, v. Jhering hat angesichts der Herausbildung des Verschuldensmoments davon gesprochen, daß sich daran "der Fortschritt der Menschheit von wilder, blinder Leidenschaft und Rachsucht zur Mäßigung, Selbstbeherrschung, Gerechtigkeit" zeige. 59 Damit wird durch v. Jhering der Gedanke zum Ausdruck gebracht, daß in der Mäßigung und Milderung der Reaktion auf das Delikt ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung des Rechts liegt. Eine neue Stufe in diesem Prozeß dürfte das römische Recht erreicht haben, wenn auch im Falle der Zufugung von Unrecht der Täter nicht mehr der unkontrollierten Rache des Verletzten ausgeliefert wird, sondern auch der Täter dem Verletzten durch das Recht noch als Person miteinander verbunden bleibt. Grundlage dafür scheint uns der Gedanke der Schuld zu sein, der jedenfalls in ersten Umrissen bereits durch die klassische Jurisprudenz des römischen Privatrechts ausgebildet wird. Die Bewertung der Tat nach dem Maß der Schuld macht den Täter für begangenes Unrecht nunmehr zum Schuldner des Verletzten, der damit zu seinem Gläubiger wird. Die Veränderung des Charakters der Deliktshaftung durch den Schuldgedanken ist von Käser besonders eindringlich dargestellt worden. Aufgrund seiner vielfaltigen Forschungen zur Entwicklung des römischen Rechts gelangt er zu der Auffassung, daß die Vorstellung von der Obligation nicht von der Deliktshaftung ausgegangen sein könne, da sie zunächst primär nicht auf Ablösung, sondern auf Rache gerichtet gewesen sei. 60 Ursprünglich habe die Unrechtstat bewirkt, daß der Täter dem Verletzten verfiel, so daß dieser auf ihn greifen und sich seiner Person bemächtigen konnte. Bezüglich dieses "Herrschaftsrechts" spricht Käser davon, daß der Täter dem Verletzten geradezu "gehörte", die Person des Täters sei das "Haftungseigentum" des Verletzten gewesen.61 Dieser Vorstellung vom Haftungseigentum habe sich der Schuldgedanke in gewisser Weise entgegengesetzt, weil dieser voraussetzt, daß der Täter dem Verletzten nicht schon durch seine Tat gehört. 62 Erst mit der Ablösung durch Sühneleistung sei Raum gewesen für den Begriff der 57
Käser, Das römische Privatrecht, Bd. I, § 118 II 2-4, III.
58
Käser, Das römische Privatrecht, Bd. I, § 118 I, II 5.
59
v. Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, S. 4.
60
Käser, Das altrömische lus, S. 190.
61
Käser, Das altrömische lus, S. 179, 180.
62
Käser, Das altrömische lus, S. 190. Vgl. zu diesem Wandel im Bewußtsein der römischen Juristen auch die kurze Darstellung bei Honsell/Mayer-Mafy/Selb, Römisches Recht, § 87, und Larenz, Schuldrecht, Bd. I, § 2 IV.
II. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhältnissen
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obligatio. Durch die Möglichkeit der Sühneleistung habe das Recht an der Person des Täters einen pfandartigen Charakter bekommen. Obligari habe ursprünglich nichts anderes als pfandweise Bindung, Vergeiselung bedeutet. Verpfandung sei ursprünglich die Ablösung einer ablösbaren Gewalt gewesen. Erst die Übertragung des Gedankens der Haftungslösung vom Pfandbegriff auf die Deliktshaftung habe zur Annahme eines Sollens des Deliktstäters gefuhrt, das diesen verpflichtet. Damit sei der Weg dafür frei geworden, den Obligationsbegriff auf die Deliktshaftung anzuwenden.63 Sicherlich ließe sich bei dieser Deutung der Herausbildung der Deliktsobligation einiges noch anders akzentuieren. So scheint es etwa, daß Käser mit dem Gedanken des Sollens doch offenbar eher die einzelne Verpflichtung zur Leistung im Auge hat, nicht dagegen das umfassende Verhältnis der Gebundenheit des Täters an den Verletzten. Den fur uns entscheidenden Gedanken hat Käser aber klar herausgearbeitet, indem er zeigt, daß die Obligation voraussetzt, daß der Täter dem Verletzten nicht schon durch seine Tat gehört. 64 Damit liegt der Deliktsobligation die Vorstellung zugrunde, daß sich auch im Falle der Zufugung von Unrecht Täter und Verletzter noch als Personen einander gegenüberstehen. Dagegen findet sich im Gedanken des Haftungseigentums noch gar kein Raum fur diese Vorstellung. Die Annahme, daß jemand durch seine Tat einem anderen gehört, kann fur uns heute doch nur als Mißachtung des Täters als Person verstanden werden. Auch wenn dies aus Sicht der Moderne alles nur noch in Umrissen zu fassen ist, so liegt dennoch die Vermutung nahe, daß die Herausbildung des Gedankens der Deliktsobligation nicht zuletzt auch eine Aufwertung des römisch-rechtlichen Verständnisses vom Menschen als einer Person beinhaltet. Eine entscheidende Rolle scheint hierbei dem Schuldgedanken zuzukommen, der offenbar auch erst die Vorstellung einer personalen Gebundenheit zwischen Täter und Verletztem ermöglicht. Mit dem Gedanken der Schuld verdrängt das Recht die Rache und ersetzt sie durch die Vorstellung einer rechtlichen Gebundenheit des Schuldners. In diesem Sinn der obligatio als "Schuldband"65 erblicken wir den Bedeutungskern des Schuldverhältnisses als einer personalen Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner. 66 Die Intensität dieser personalen Beziehung ist allerdings nur vor dem geschichtlich-kul63
Siehe dazu insgesamt Käser, Das altrömische lus, S. 189 f.
64
Vgl. Käser, Das altrömische lus, S. 189: "Solange der Haftende aus seiner Tat der sofortigen vollstreckenden Handanlegung des Verletzten unterworfen ist, läßt das Haftungseigentum der freien Pflicht keinen Raum. Seitdem er aber vor Gericht dem Kläger als freier und gleichberechtigter Gegner gegenübersteht, auf den der Verfolger vorläufig nicht greifen darf, kann sich der Pflichtgedanke entwickeln." 65
Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5 II (S. 77). Zum Schuldverhältnis als personaler Beziehung Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 2. 66
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2. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im Zivilrecht
turellen Hintergrund der Verdrängung und Umformung der Rache als eines existentiellen Konflikts auf Leben und Tod verständlich zu machen. Das fuhrt uns zu der Auffassung, im Delikt den Urtypus der verschiedenen Schuldverhältnisse des bürgerlichen Rechts zu sehen. 3. Der Schuldgedanke als Grund der Schuldverhältnisse Das bürgerliche Recht kennt eine Reihe unterschiedlicher Arten von Schuldverhältnissen i.w.S. Nach dem Grund ihres Entstehens wird in der Lehre zumeist zwischen Schuldverhältnissen aus Vertrag und solchen aus Gesetz unterschieden.67 Das vertragliche Schuldverhältnis wird durch Schuldvertrag begründet, gesetzliche Schuldverhältnisse entstehen vor allem aus unerlaubter Handlung, aus ungerechtfertigter Bereicherung oder aber auch aus Geschäftsführung ohne Auftrag. 68 Indes ist diese Unterscheidung nicht überzubewerten. Wir begnügen uns hier mit dem Hinweis darauf, daß auch das vertragliche Schuldverhältnis ja nicht nur durch vertragliche Übereinkunft entsteht, sondern die Anerkennung des Vertrages durch die Rechtsordnung hinzukommen muß. Aber auch die gesetzlichen Schuldverhältnisse beruhen nicht allein auf gesetzlicher Anordnung, vielmehr knüpft der Gesetzgeber auch mit ihrer Bewertung als Schuldverhältnisse an die dem Recht vorausliegenden Lebenszusammenhänge an. 6 9 Das führt uns zu der Frage, wie es dem Gesetzgeber möglich ist, unterschiedliche Lebensverhältnisse als Schuldverhältnisse aufzufassen. Schon dem Wortsinn nach ist es offenbar der Gedanke der Schuld, der eine solche Bewertung ermöglicht. Das Wertmoment der Schuld stellt also den verschiedenen Lebensverhältnissen gemeinsamen Grund für ihre rechtliche Anerkennung als Schuldverhältnisse dar. Ein tieferer Zugang zum Schuldverhältnis i.w.S. erfordert demnach auch ein Verständnis dafür, was als Schuld in Lebensverhältnissen wie etwa Delikt und Vertrag gilt. Wenigstens einige grobe Orientierungspunkte sollen hierzu aus der Sicht des bürgerlichen Rechts angedeutet werden. 70 Dabei wird nicht verkannt, daß dem Zivilrecht im Vergleich zum Strafrecht ein objektivierter Maßstab der Schuld zugrunde liegt. Damit knüpft aber auch das Zivilrecht an die Überlegungen dazu an, was Schuld in ihrem Kern ausmachen mag.
67 68 69 70
Vgl. Larenz, Schuldrecht, Bd. I, § 1; Medic us, Schuldrecht, Bd. I, § 2 I. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, S. 60. Vgl. dazu insgesamt Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, S. 60 f.
Vgl. zu einer solchen "Schuldbetrachtung" auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 2.
Π. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhltnissen
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Schuld bedeutet nach herkömmlicher Auffassung Vorwerfbarkeit. Der Bundesgerichtshof in Strafsachen hat dies in einer Leitentscheidung wie folgt formuliert: "Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich fur das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich fur das Recht hätte entscheiden können."71 Bedeutet Schuld danach im Kern Vorwerfbarkeit, so muß auch der Schuldner des bürgerlichen Rechts sich einem solchen Vorwurf ausgesetzt sehen. Worauf beruht nun aber der Vorwurf, an den das Zivilrecht sein Schuldurteil, d.h. die Bewertung als Schuldverhältnis, knüpft? Mit besonderer Deutlichkeit läßt sich dieser Grund des zivilrechtlichen Schuldvorwurfes am Delikt, aber auch am Vertrag aufzeigen. Eine Schuldbetrachtung fur diese beiden Regelungsbereiche genügt auch für unsere Zwecke, weil es uns nur darauf ankommt, einen Grundgedanken der Schuldbewertung des bürgerlichen Rechts herauszuarbeiten. Das Deliktsrecht, um damit zu beginnen, ist Recht der unerlaubten Handlungen, d.h. an bestimmte menschliche Handlungen knüpft das Recht die Rechtsfolge der Verpflichtung zum Schadensersatz. Ein großer Kreis dieser unerlaubten Handlungen wird mit Hilfe unterschiedlicher Techniken durch die zentralen Vorschriften der §§ 823 I, 823 I I und 826 BGB bestimmt, unter denen der auch an erster Stelle stehenden Bestimmung des § 823 I BGB wiederum eine herausgehobene Bedeutung zuzukommen scheint, weshalb wir uns auch auf sie beschränken. Voraussetzung für eine Schadensersatzpflicht ist nach dieser Vorschrift die Verletzung eines der dort genannten Rechte oder Rechtsgüter. Das ihnen gemeinsame Merkmal ist, daß sie gegen jedermann geschützt sind, also absoluten Schutz genießen. Der Bestimmung liegt damit eine dem Grundsatz nach sehr einfache Technik für die Feststellung der unerlaubten Handlungen zugrunde: Jede Verletzung der absolut geschützten Sphäre des Rechts oder Rechtsgutes gilt als unerlaubt im Sinne objektiv-tatbestandsmäßigen Verhaltens, wobei Einzelheiten und Korrekturen dieser dem Tatbestandsmodell des § 823 I BGB zugrunde liegenden Indikationstechnik hier außer Betracht bleiben können.72 Schon jetzt ist sichtbar, daß Grundlage des deliktischen Schuldvorwurfes offenbar die Verletzung der absolut geschützten Rechtsposition eines anderen ist. 73 Schuld kann sich allerdings immer nur auf eine menschliche Handlung beziehen. Der Schuldvorwurf knüpft deshalb bei genauerer Betrachtung nicht an den in der Rechtsgutsverletzung liegenden Verletzungserfolg an, sondern 71
BGHSt (GS) 2, 194 (200).
72
Zu den unterschiedlichen Techniken im System des Deliktsrechts im einzelnen Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 6. 73 Zum "Schutz des anderen" als Grund des Deliktsrechts siehe Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 6 I.
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. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im
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dieser dient nur der Bestimmung der entsprechenden Verletzungshandlung,74 die schließlich als schuldhaft bewertet wird. Darin kommt ein zentraler Unterschied zwischen dem Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB und dem Tatbestandsmodell des § 823 I BGB zum Ausdruck. Beide Modelle bauen auf dem Gedanken der Absolutheit des Klageschutzes auf. Die Bewertung der deliktischen Handlungen ist aber ganz durch den Gedanken der Schuld bestimmt. Aus diesem Grunde werden diese Handlungen bereits auf der Tatbestandsebene vom Gesetzgeber als Verletzungshandiungen bewertet und nicht als bloße "Eingriffe". Man sieht hier, wie die Vorstellung des absoluten Klageschutzes durch den Schuldgedanken überlagert und umgeformt wird. Eine Schuldbetrachtung zum Vertrag kann zunächst an den Begriff der Verletzung anknüpfen. Sinnfällig ist dies, wenn einer der Vertragspartner die von ihm versprochene Leistung nicht erbringt. Er verletzt dann gegenüber dem anderen Vertragspartner seine Verpflichtung zur Leistung. Im Unterschied zum Delikt knüpft der Schuldvorwurf hier also nicht an die Verletzung des Rechtsgutes eines anderen an, sondern an die Verletzung der gegenüber dem Vertragspartner bestehenden Pflicht. Auf diese Weise läßt sich nun zwar das Verschulden im Hinblick auf die Verletzung vertraglicher Pflichten erklären, noch keine zureichende Begründung ist jedoch dafür gegeben, warum schon durch den Abschluß eines Vertrages ein Schuldverhältnis entsteht. Eine mögliche Anwort hierauf könnte darin liegen, daß die Vertragspartner durch den Vertrag gegenseitig Vertrauen in Anspruch nehmen und dieses Vertrauen auch Grundlage für eine Bewertung des Vertrages als Verhältnis personaler Gebundenheit, eben als Schuldverhältnis ist. 75 Wir versuchen hier aber noch weitere Perspektiven aufzuzeigen. Wenn das Schuldverhältnis eine personale Beziehung der Gebundenheit darstellt, dann muß eine zivilrechtliche Schuldbetrachtung auch an diese Beziehung der beiden Personen zueinander anknüpfen. Gerade das bürgerliche Recht, das das Verhältnis der Bürger zueinander regelt, gibt ein sehr viel klareres und vielleicht auch ursprünglicheres Bild der Schuld als des "Schuldigwerdens am anderen". 76 Dagegen bekommt das Strafrecht Schuld zumeist nur noch in vermittelter Weise als Schuldurteil des Richters über die Schuld des Täters zu fassen. Dieses Problem ist vor allem von Arthur Kaufmann angesprochen worden. Auf der Grundlage einer metaphysischen Be74 Zur Unterscheidung von Verletzungshandlung und Verletzungserfolg im Begriff der Rechtsgutsverletzung im einzelnen Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, §6111. 75
Vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, §§ 2 IV 2 (S. 38), 8 II (S.
153). 76
Zum "Schuldigwerden an Anderen" vgl. die existentiale Schuldanalyse bei Heidegger, Sein und Zeit, § 58 (S. 282). Die philosophischen Untersuchungen Heideggers zur Schuld sind unlängst für das Strafrecht von Grasnick, Über Schuld, Strafe und Sprache, S. 136 ff., insbes. S. 166 ff., fruchtbar gemacht worden.
Π. Die Begründung von Ansprüchen aus den Schuldverhltnissen
75
gründung von Schuld meint Kaufmann, daß ein Schuldurteil im Grunde immer nur durch das eigene Gewissen des Schuldigen selbst erfolgen könne. Daß die durch Gesetzgeber und Richter repräsentierte Gemeinschaft das Schuldurteil fälle, begründet er zuletzt damit, daß der Richter den Täter stellvertretend in innerer Verbundenheit richte, so als ob er es selbst wäre. 77 Mit dem Gedanken der inneren Verbundenheit scheint uns auch bei Kaufmann ein zwischenmenschliches Moment von Schuld angedeutet zu sein. 78 Noch deutlicher scheint uns dieses Moment im Begriff des "Schuldvorwurfes" hervorzutreten. Im Begriff des "Vorwurfes" schwingt mit, daß einer dem anderen etwas vorwirft. Dem anderen wird seine Tat vorgeworfen, er wird dazu aufgerufen, sich für sie zu verantworten. Dieser Schuldvorwurf zielt vor allem darauf, daß sich der Handelnde mit der von ihm begangenen Tat als Person identifiziert, er die Tat auf sich nehmen möge. 79 Im Schuldurteil sind damit zwei Momente miteinander verknüpft: Der Gedanke der Freiheit der Handlung und der Gedanke der Gebundenheit der Handlung. Schuld kann den Handelnden nur treffen, indem wir ihn uns als aus freiem Willen Handelnden vorstellen. Schuldig kann dieser Wille aber auch nur sein, indem wir ihn gegenüber dem anderen für gebunden halten - sei es als sittlich gebunden, sei es als rechtlich gebunden. Dementsprechend ist auch in der strafrechtlichen Lehre weithin anerkannt, daß der Schuldvorwurf an den Willen anknüpft, daß Schuld Willensschuld ist. 80 Der Gesichtspunkt der Bindung des freien Willens gegenüber dem anderen scheint uns eine weitere fruchtbare Perspektive auf das Recht der Schuldverhältnisse zu eröffnen. Hier liegt nun nicht nur die Schuld als Grund des deliktischen Schuldverhältnisses auf der Hand. Der Schuldvorwurf beruht hier darauf, daß der mit freiem Willen Handelnde in die Freiheitssphäre seines Mit77
Kaufmann (unter Hinweis auf Jaspers), Das Schuldprinzip, S. 198 f.
78
Dafür spricht auch der Hinweis auf Jaspers, in dessen Philosophie der Kommunikation dem Dialog eine zentrale Bedeutung zukommt. Für einen Zugang zur Schuld im Gespräch über die Geschichte des Angeklagten vgl. Grasnick, Uber Schuld, Strafe und Sprache, insbes. S. 136 ff., aber auch etwa Haft, Der Schulddialog. 79 Zum Aspekt des "Selbstbezug des Handelnden" zu seiner Tat als Grundlage von Schuld siehe die Bemerkungen aus philosophischer Sicht von Honnefeläer, Art. "Schuld", Sp. 1059 ff. 80 So vor allem die auf Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, S. 11, zurückgehende herrschende "normative Schuldlehre", aber auch die finale Handlungslehre von Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 121. Vgl. dazu nur Jescheck y Lehrbuch des Strafrechts, §§ 22 IV 3 a, 38 II 3 u. 4, sowie Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 149 ff. Für das Zivilrecht so schon im Jahre 1867 v. Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, S. 41: "Nicht das äussere Thun verpflichtet, sondern die Handlung, d.h. die Causalität der That im menschlichen Willen, und auch nicht die Handlung schlechthin, sondern nur, wenn sie sich dem Willen zum Vorwurf anrechnen lässt."
76
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menschen eingedrungen ist und diese dadurch verletzt hat. Dem mit freien Willen handelnden Menschen trifft für diese Handlung aber auch Verantwortung. Er hat sich selbst durch seine unerlaubte Handlung gebunden, sich dem anderen verbindlich gemacht.81 Die Freiheit des Willens ist damit nicht nur Grundlage der deliktischen Haftung, sondern auch für die Bewertung der unerlaubten Handlung als Schuldverhältnis i.w.S. Ebenso ermöglicht diese Vorstellung auch eine tiefere Begründung der Auffassung des Vertrages als Schuldverhältnis. Für den einzelnen ist der Vertrag das zentrale Instrument der Bindung seines freien Willens gegenüber einem anderen zur Verfolgung eigener Zwecke. Der Abschluß eines Vertrages führt zu einem Schuldverhältnis, weil der freie Wille der Vertragspartner sich in ihm bindet. 82 Die Notwendigkeit einer solchen Gebundenheit des Willens der Vertragsparteien erklärt sich nicht zuletzt auch aus der zivilrechtlichen Unterscheidung von Verpflichtung und Erfüllung. Der Schuldvertrag begründet ein Schuldverhältnis, weil die Parteien sich in ihm die Leistungen erst einander versprechen und sich dadurch gegenüber dem anderen in ihrem Willen binden.83 Der Vertragswille ist also gebunden, weil der Schuldvertrag gedanklich immer noch der Erfüllung bedarf. Dieser "Wille im Vertrag" 84 ist nicht nur zentrales Anliegen der Rechtsgeschäftslehre, sondern in ihm kommt auch das für das Zivilrecht grundlegende Prinzip der Privatautonomie zum Ausdruck. Insoweit soll hier nur angedeutet werden, daß der Begriff der "Autonomie" auf die Moralphilosophie Kants verweist, deren zentrales Anliegen darin liegt, Freiheit und Bindung des Willens im vernünftigen Willen zusammenzudenken. Insgesamt könnte man vielleicht sagen, daß im Schuldverhältnis Lebensverhältnisse unter dem Gesichtspunkt der Bindung in Freiheit bewertet werden. 85 Die Begründung der schuldrechtlichen Ansprüche aus den Schuldver81
Zur vernunftrechtlichen Konzeption des Delikts rechts als Abgrenzung von Freiheits- und Verantwortungsbereichen Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 6 IV, V. 82 Der Gedanke des Vertrages als Abgrenzung von Freiheitssphären ermöglicht allerdings keine differenziertere Analyse des Schuldvertragsrechts. Auf der sehr hohen Abstraktionsebene der Begründung des Schuldverhältnisses durch Vertrag hat er aber doch seine Berechtigung. Vgl. dazu auch Schapp, AcP 192 (1992), 355 (375 f.). 83 Auch bei v. Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, S. 46, findet sich für den Fall des Verzugs die Vorstellung, daß die Schuld für die darin liegende Nichterfüllung der Leistungspflicht auf das Vertragsversprechen zurückgeht: "Die culpa springt hier auf den Moment des Abschlusses des Contractes zurück." 84
Vgl. zu dieser Formulierung Schapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre,
S. 64. 85 Von Hattenhauer y Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 5 IV, ist ein solches Verständnis des Schuldverhältnisses wohl mit Recht auf Kant zurückgeführt worden. Die Verbindlichkeitslehre Kants lebte - so seine Darstellung - von der in Freiheit handelnden Person. Die obligatio war rechtmäßig verlagerte Freiheit. Diese Verbindlichkeiten wurden von Kant insgesamt unter dem Begriff des "persönlichen Rechts" zu-
ΠΙ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
77
hältnissen scheint damit auf den ersten Blick anderen Gesichtspunkten zu folgen als die Begründung der Ansprüche aus dem Eigentum. Allerdings liegt wohl auch dem Eigentumsmodell der Gedanke der Abgrenzung von Freiheit und Bindung zugrunde. Nur knüpft es dazu aber nicht an die Freiheit des Willens an, sondern es geht vom Eigentum selbst und seinen Schranken aus. Das Anliegen in der Begründung der Ansprüche mag aber ein ähnliches sein.
ΙΠ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht entwickelt am Beispiel des Eigentums Mit der Begründung der Ansprüche aus dem Eigentum und der Ansprüche aus den Schuldverhältnissen ist der Kernbereich des bürgerlich-rechtlichen Anspruchs- und Wertsystems umrissen. Dabei erwies sich fur die Ansprüche aus dem Eigentum die Vorstellung des absoluten Rechts als von zentraler Bedeutung. Hingegen stand fur die Ansprüche aus den Schuldverhältnissen das auf dem Gedanken der Schuld beruhende personale Verhältnis der Gebundenheit zwischen Gläubiger und Schuldner im Vordergrund. Der Gedanke eines personalen Rechtsverhältnisses läßt sich am Beispiel des Schuldverhältnisses besonders anschaulich machen. Das bedeutet aber nicht, daß nur die Schuldverhältnisse personale Verhältnisse wären, vielmehr scheint uns darin der Charakter des Rechtsverhältnisses selbst als eines Leitbegriffes juristischer Dogmatik zum Ausdruck zu kommen. Die bereits im ersten Teil entwickelte Skizze zur Funktion des Rechtsverhältnisses soll nun dahingehend ergänzt werden, daß sich die Ansprüche des bürgerlichen Rechts aus den Rechtsverhältnissen als personalen Verhältnissen begründen. Damit stellt sich nach dem Stand der bisherigen Darstellung vor allem die Frage, wie sich der Gedanke der Begründung von Ansprüchen aus Rechtsverhältnissen zu der Vorstellung der Begründung von Ansprüchen aus absoluten Rechten verhält. Ihr wird im folgenden in zwei Schritten nachgegangen. Zunächst soll (unter 1) am Beispiel des Eigentums der Versuch unternommen werden, die grundlegende Bedeutung der dogmatischen Figur des absoluten Rechts im Anspruchsund Wertsystem des bürgerlichen Rechts herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt steht dabei die These, daß wir im Begriff des absoluten Rechts einen elementaren Baustein des Rechts vor uns haben. Im Anschluß daran bemühen wir uns (unter 2) darum, das Rechtsverhältnis in der Begründung der Ansprüche aus den absoluten Rechten sichtbar zu machen. Ausgangspunkt dafür ist das absolute Recht in konkreten Rechtsverhältnissen. Dieses konkrete Rechtsver-
sammengefaßt. Hattenhauer bewertet diesen Vorgang wie folgt: "Unter dem Gebot der Freiheit wurde aus dem Recht der Fessel, dem Obligationenrecht, das persönliche Recht der Freiheit."
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hältnis wird genauer als Anspruchsgrundlage im Verhältnis zwischen Eigentümer und Störer bestimmt. 1. Das absolute Recht als elementarer Baustein des Rechts a) Zur Ausdifferenzierung von dinglichem und deliktischem Eigentumsschutz im römischen Recht Zentraler Gegenstand des bürgerlichen Rechts ist das Eigentum. Dem Schutz des Eigentums dienen zum einen die sog. dinglichen Ansprüche aus dem Eigentum als einem absoluten Recht, weiter dann aber auch die schuldrechtlichen Ansprüche wie beispielsweise die deliktischen Ansprüche aus dem Schuldverhältnis der unerlaubten Handlung. Da es der Untersuchung vor allem auch um die unterschiedliche Art der Begründung von Ansprüchen geht, wird ihr im folgenden zunächst anhand der Herausbildung der Unterscheidung von dinglichem und deliktischem Eigentumsschutz im römischen Recht nachgegangen. Erhellend für die Ausdifferenzierung des römisch-rechtlichen Eigentumsschutzes sind wiederum die Forschungsergebnisse Max Käsers, insbesondere seine Studien zum altrömischen Eigentum.86 Käser unterscheidet drei Stufen in der Entwicklung des römischen Eigentums.87 Auf der ersten und primitivsten Stufe ist Eigentum nur die bloße tatsächliche Gewalt über die Sache, es entspricht also noch dem Besitz. Auf der zweiten Stufe hat sich das Eigentum schon zu einem Recht entwickelt, das aber nur beinhaltet, daß jemand in einem Rechtsstreit einem konkreten Gegner gegenüber besser zum Haben der Sache berechtigt ist als dieser. Einem Dritten kann dann durchaus noch ein besseres Recht zum Haben zustehen, das dann ebenso Eigentum ist. Dieses relative Eigentum entwickelt sich auf der dritten Stufe zum absoluten Eigentum, das nach Auffassung von Käser dem klassischen und modernen Eigentumsbegriff entspricht. Eigentümer ist jetzt nur noch deijenige, der das beste Recht an der Sache hat, das - so die Formulierung Käsers - "demzufolge gegen jedermann wirkt". 88 Wie kommt es nun zu diesen verschiedenen Stadien in der Entwicklung des Eigentumsbegriffes? Käser hatte zunächst angenommen, daß der Ursprung 86 Siehe vor allem Käser, Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht; ders., Neue Studien zum altrömischen Eigentum, SZ 68 (1951), 131 ff.; ders., Über "relatives Eigentum" im altrömischen Recht, SZ 102 (1985), 1 ff.; ders., Zur "legis actio sacramento in rem", SZ 104 (1987), 53 ff., sowie dessen Lehrbücher Römisches Privatrecht, Bd. I, §§ 31 f., Römisches Zivilprozeßrecht, §§ 12, 14. 87
Siehe nur Käser, SZ 68 (1951), 131 (131).
88
Ders., SZ 68 (1951), 131 (131).
ΠΙ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
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des römisch-rechtlichen Vindikationsverfahrens in keinem tieferen Zusammenhang mit dem Deliktsverfahren, vor allem also der Diebstahlsverfolgung, stand.89 Diese These hat er dann später einer gründlichen Revision unterzogen. 90 Einzelne Fragen wurden von ihm auch danach noch in wechselndem Sinne beurteilt. 91 Seinen späteren Überlegungen zufolge beruht die Herausbildung des relativen Eigentumsbegriffes wesentlich auf dem Zusammenhang der Sachverfolgung mit dem Deliktsverfahren. Käser arbeitet hier genaugenommen mehrere unterschiedliche, wenn auch miteinander verbundene Stränge der ursprünglichen Verknüpfung der Vindikation mit dem Deliktsverfahren heraus. Bereits auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe wurde - so Käser - die Herrschaft über die Sache nicht mehr allein als faktische Gegebenheit begriffen. Es entwickelte sich vielmehr allmählich die Vorstellung, daß Sachen einer Person oder Personengruppe auch rechtlich zugehören. 92 Diese Entwicklung wird offenbar als erstes in den Fällen von Diebstahl und Raub sichtbar. Die durch ein solches Delikt erlangte bloße faktische Sachherrschaft hält das Rechtsbewußtsein für ungerecht. Da man aber noch kein Recht zum Haben als solches kennt, steht dem Bestohlenen oder Beraubten auch keine Möglichkeit zur Verfügung, die Sache als solche mit Hilfe von "Eigentumsrechten" zu verfolgen. Stattdessen verfolgt man den Täter im Deliktsverfahren. Verläuft dieses Verfahren erfolgreich, so gestattet man dem Verfolger auch, die Sache wieder an sich zu nehmen. Die SachVerfolgung ist auf diese Weise unauflöslich mit der Deliktsverfolgung verbunden.93 Zunächst ist es bloße faktische Übung, daß der Beeinträchtigte die Sache wieder an sich bringen kann. In der rechtlichen Duldung der Ergreifung im Anschluß an die Deliktsverfolgung kommt aber immerhin doch schon zum Ausdruck, daß die Sache zum Beeinträchtigten "gehört". Später verdichtet sich dann die Zugriffsbefugnis aus faktischer Übung zum Recht über die Sache, das in seiner Ausübung aber an die Deliktsverfolgung gebunden bleibt. 94 Der zweite Strang, mit dem Käser die ursprüngliche Verknüpfung der Sach- mit der Deliktsverfolgung begründet, betrifft die Anfange des Vindikationsverfahrens selbst, also den Prätendentenstreit, so wie er uns vor allem in den "Institutionen" des Gaius geschildert wird. 9 5 Die Einsetzung des Verfahrens geschieht danach wie folgt. Zunächst ergreift der Kläger den 89
Ders., Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht, § 9 (insbes. S. 69).
90
Den entscheidenden Einschnitt stellt hier die Studie in SZ 68 (1951), 131 ff., dar.
91
So Käser in SZ 102 (1985), 1 (insbes. 13 f.), sowie in SZ 104 (1987), 53 ff.
92
Ders., SZ 68 (1951), 131 (135 f.). Ders., SZ 68 (1951), 131 (136).
93 94
Ders. y SZ 68 (1951), 131 (139).
95
Siehe Gaius, Institutionen, 4, § 16.
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Streitgegenstand, berührt ihn mit einem Stab und spricht eine bestimmte Formel, mit der er sein Eigentum an ihm behauptet. Danach verfahrt der Beklagte in gleicher Weise. Mit viel Einfühlungsvermögen hat Käser diesen Vorgang als "stilisierten Kampf um den Gegenstand" gedeutet.96 Jede der beiden Parteien vollziehe mit ihrer Eigentumsbehauptung ein vindicare, die Anlegung des Stabes drücke dabei einen förmlichen Bemächtigungsakt aus. 97 Dieses Ritual formalisiere das dem Deliktsprozeß regelmäßig vorangegangene tatsächliche Geschehen, nämlich das Zugreifen auf die Sache und ihr gewaltsames Fortzerren von beiden Seiten.98 Dem Vindikationsverfahren liegen aber, so vermutet Käser, noch weitere deliktische Ursprünge zugrunde. Die richterliche Streitentscheidung über das Eigentum im förmlichen Vindikationsverfahren habe zunächst auch immer einen Deliktsvorwurf gegen den im Prozeß Unterlegenen impliziert. 99 Die Feststellung des Rechts zum Haben der Sache durch den Richter war danach offenbar überhaupt nur unter der Voraussetzung möglich, daß einer der beiden Parteien eine Unrechtstat nachgewiesen werden konnte. Verlor der Beklagte den Vindikationsprozeß, so wurde er auch als Deliktstäter angesehen, der dem Kläger die Sache gestohlen, geraubt oder doch jedenfalls mit Wissen um ihre Entwendung durch Delikt besessen hatte und der durch sein Vindizieren dieses Unrecht auch noch bekräftigt hatte. Die Vorstellung ist also so, daß jeder unrechtmäßigen Vindikation auch ein Delikt zugrunde liegt. 1 0 0 Die Entscheidung im Vindikationsverfahren beinhaltet damit ursprünglich zugleich auch den Vorwurf, der Unterlegene habe sich die Sache durch Delikt angeeignet. Im Laufe der Zeit verflüchtigen sich dann diese Vorstellungen. Man wird sich dessen bewußt, daß nicht jeder Besitzer einer Sache, die man durch Delikt verloren hat, sogleich als Dieb oder Räuber behandelt werden kann. 101 Der redliche Erwerber wird nun von der Deliktsverfolgung ausgenommen, gleichzeitig aber am Ziel der Sachverfolgung festgehalten. Zu diesem Zwecke ergänzt man das Vindikationsverfahren um den sog. Gewährenzug. Dem Beklagten wird jetzt der Nachweis gestattet, daß er die Sache ohne Unrecht erworben habe. Auf Frage des Klägers muß der Beklagte jetzt den Grund seines Habens angeben, also den konkreten Manzipationsvorgang bezeichnen und
96 Käser y Römisches Privatrecht, Bd. I, § 32 III 1; ders., Römisches Zivilprozeßrecht, § 14 III 2. 97 Ders., Römisches Zivilprozeßrecht, § 14 III 2. 98 Ders.y SZ 68 (1951), 131 (140). 9 9
Ders.y S Z 6 8 ( 1 9 5 1 ) , 131 ( 1 4 0 f.).
100
Vor allem diese Auffassung des iniuria vindicare als iniuria-Delikt hat Käser später, insbes. in SZ 102 (1985), 1 (13 f.), relativiert. 10 1
Ders.y S Z 6 8 ( 1 9 5 1 ) , 131 (141 f.).
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vor allem auch den Veräußerer nennen. 102 Sofern der Beklagte seinen Veräußerer beibringt, entfallt der Diebstahlsverdacht gegen ihn, es sei denn, ihm wird nachgewiesen, daß er um die deliktische Herkunft der Sache wußte. Der Kläger kann dann gegen den Veräußerer vorgehen, der ebenso auf seinen Vormann greifen kann. Erst beim letzten Veräußerer, der keinen weiteren Vormann mehr herbeibringen kann, bleibt dann der Deliktsvorwurf hängen. Der Kläger kann diesen aus Delikt verfolgen, im übrigen kann er die Sache an sich nehmen. Sach- und Deliktsverfolgung bleiben hier zwar noch miteinander verbunden, sind verfahrensmäßig aber schon weitgehend auseinandergetreten. Die Ergänzung um den Gewährenzug hat dabei unterschiedliche Funktionen. Vor allem kann der Beklagte, auch wenn er den Vindikationsprozeß verliert, sich selbst vom Deliktsvorwurf befreien. In diesem Moment muß sich auch die Vorstellung verflüchtigen, daß die unberechtigte Vindikation ein Delikt am Gegner sei. Gleichzeitig eröffnet der Gewährenzug aber die Möglichkeit der Verfolgung des wahren Deliktstäters. Ob der Kläger aber gegen denjenigen, der sich im Gewährenzug als Deliktstäter erweist, auch mit der Deliktsklage vorgeht, bleibt in dessen Belieben gestellt.103 Auch darin kann man eine Lockerung des Zusammenhangs von Delikts- und Sachverfolgung erblicken. Während zuvor der Zugriff auf die Sache nur dann möglich war, wenn auch das Delikt des Besitzers feststand, steht im Mittelpunkt des jetzigen Verfahrens der förmliche Zugriff auf die Sache. 104 Die Ermittlung des Deliktstäters erscheint jetzt nur noch als bloße Nebenfolge. Von der Verknüpfung der Sach- mit der Deliktsverfolgung in diesem Verfahren zeugt aber noch vor allem die Beweislastverteilung zu Lasten des Beklagten. Der Beklagte ist immer noch durch die bloße Tatsache seines Besitzes dem Verdacht des unrechtmäßigen (deliktischen) Besitzes ausgesetzt und hat daher den Grund seiner Vindikation anzugeben.105 Die Rechtsposition des Klägers wird dagegen erst an zweiter Stelle und offenbar nur in ganz oberflächlicher Weise geprüft. Eine Gleichordnung der beiden Streitparteien erfolgt erst ganz allmählich. Jetzt wird auch die Rechtsposition des Klägers genauer geprüft, insbesondere wird dem Beklagten gestattet, den Kläger dazu aufzufordern, seinerseits den Grund seines Vindizierens zu nennen. 106 Damit verändert sich auch das Vindikationsverfahren, die funktionelle Verknüpfung von Sach- und Deliktsverfolgung verliert sich mit der Zeit. 1 0 7 102 103
Ders., SZ 68 (1951), 131 (142). Ders., SZ 68 (1951), 131 (145).
104
Ders., SZ 68 (1951), 131 (145).
105
Ders., SZ 68 (1951), 131 (142, 144). Ders., SZ 68 (1951), 131 (146). Ders., SZ 68 (1951), 131 (145).
106 107
6 Schur
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In dem um den Gewährenzug ergänzten Vindikationsverfahren lassen sich die ersten Anzeichen für den Übergang von einem relativen zu einem absoluten Eigentumsbegriff entdecken. Um dies zu sehen, bedarf es allerdings eines genaueren Blickes auf die Hintergründe des Gewährenzuges. Das Verfahren, daß der Beklagte sich bei der Vindikation auf die Gewährschaft seines Vormannes stützen konnte, ist offenbar auf die Veräußerung durch Manzipation beschränkt gewesen.108 Denn nur bei der Manzipation hatte der Erwerber das Recht, den Veräußerer als seinen auctor in den Prozeß hineinzuziehen, um so die Sache gegen den Vindikationskläger zu verteidigen. Für den Fall, daß der Veräußerer diese Hilfe verweigerte oder sie erfolglos blieb, haftete er dem Erwerber auf den doppelten Kaufpreis. 109 Die mit dem Manzipationskauf verbundene Auktoritätshaftung trug auf diese Weise dazu bei, das Verfahren des Gewährenzuges abzustützen. Der noch relative Eigentumsbegriff spiegelt sich auch im Verhältnis zwischen Erwerber und Veräußerer beim Manzipationskauf wider: Der Erwerber der Sache ist von der Gewährschaft seines Vormannes abhängig. Will der Erwerber im Prozeß sein Eigentum behaupten, so muß er nachweisen, daß er und auch seine Vormänner die Sache durch wirksame Veräußerung erworben haben. Neben dieser relativen Eigentumsstellung durch derivativen Erwerb kannte das Recht aber auch schon vereinzelte Tatbestände einer absolut gesicherten Rechtsstellung. So galt etwa aufgrund der usus-auctoritas-Regel der Zwölf Tafeln, daß die "relative" Unsicherheit des erworbenen Eigentums nur zwei Jahre bei Grundstücken und ein Jahr bei sonstigen Gegenständen andauerte. 110 Nach Ablauf dieser Zeitspanne mußte der Besitzer seinen Erwerbsgrund nicht mehr nachweisen. Ein bisher besser Berechtigter hatte sich seines Rechtes verschwiegen, wie Käser sagt. 111 Der Besitzer hatte nun eine gegenüber jedermann gesicherte Rechtsposition erlangt, eben eine "absolut" gesicherte Stellung. 112 Neben dem Ablauf der Usukapionsfrist gewährten auch die verschiedenen Tatbestände des originären Erwerbs eine absolut gesicherte Rechtsposition: Okkupation herrenloser Sachen, Fruchtziehung, Verbindung, Vermischung und Verarbeitung. Den Abschluß der Entwicklung vom relativen zum absoluten Eigentumsbegriff bringt schließlich die Verdrängung der legis actio sacramento in rem durch die actio in rem per sponsionem. Die Durchführung des Vindikationsprozesses mittels des Sponsionsverfahrens sieht im groben wie folgt 108
Ders., SZ 68 (1951), 131 (147). Ders. y Römisches Privatrecht, Bd. I, § 32 III 2; ders.y Römisches Zivilprozeßrecht, § 14 III 4. 109
110 111 112
Vgl. ders.y SZ 68 (1951), 131 (156). Ders.y SZ 68 (1951), 131 (156). Ders. y Römisches Privatrecht, Bd. I, § 32 V a.
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aus. 113 Der Kläger läßt sich vom Beklagten eine Geldleistung versprechen für den Fall, daß die Sache dem Kläger gehört. Wenn dieser Geldbetrag eingeklagt wird, muß der Richter in diesem Prozeß nun mittelbar auch über die Eigentumsfrage entscheiden. Verliert der Beklagte diesen Prozeß, so hatte er dem Kläger auch - aufgrund eines weiteren Versprechens - die Sache herauszugeben. Der Grund für die Einführung dieses Sponsionsverfahrens liegt, wie Ka~ ser n4 sehr überzeugend dargelegt hat, in dem Wandel des Eigentumsverständnisses. Der Prätendentenstreit im Sakramentsverfahren ist wesentlich dadurch bestimmt, daß beide Parteien behaupten, die Sache gehöre ihnen. Dem Sponsionsverfahren liegt dagegen nur noch die einseitige Eigentumsbehauptung durch den Kläger zugrunde. Die Beweislast für das Eigentum wird damit jetzt auf den Kläger verschoben. 115 Das entspricht der Vorstellung vom Eigentum als einer sich gegenüber jedermann behauptenden Rechtsstellung. Die Herausbildung dieses Verfahrens liegt in der Konsequenz der Entwicklung eines absoluten Eigentums, das nicht nur gegenüber jedermann gesichert ist, sondern auch gegenüber jedermann eine klagebegründende Position gibt. Wenn wir anhand der Forschungen Käsers die historische Entwicklung der Sachverfolgung, von der wir hier nur einige wenige Bruchstücke eines erheblich komplexeren Geschehens herausgegriffen haben, an uns vorbeiziehen lassen, so läßt sich - trotz der Unsicherheit und der Vermutungen bezüglich einzelner Vorgänge - im Hinblick auf den Schutz des Eigentums im großen und ganzen doch folgendes festhalten. In ältester Zeit des römischen Rechts stellt die Deliktsverfolgung offenbar das einzige, jedenfalls wesentliche Instrumentarium zur Bewältigung der Konflikte um Sachen - im heutigen Sinne Eigentumskonflikte - unter den Rechtsgenossen dar. Die Verfolgung einer Sache ist zunächst unmittelbar an die Verfolgung des Delikts geknüpft. Auch die Einrichtung eines eigenständigen Sachverfolgungsverfahrens ist zunächst offenbar dem Deliktsgeschehen nachgebildet. Die weitere Entwicklung des Rechts beruht vor allem darauf, für das Verfahren der Sachverfolgung den Deliktsvorwurf immer stärker in den Hintergrund zu drängen, bis er sich schließlich weitgehend verflüchtigt. Ein wesentlicher Schritt ist hier die Ergänzung des Vindikationsverfahrens um den Gewährenzug, mit dem die Verknüpfung von Deliktsvorwurf und Sachherausgabe allmählich gelockert wird. Mit der Herausbildung des absoluten Eigentumsbegriffes tritt dann die einstmalige deliktische Grundlage der Sachverfolgung endgültig in den Hintergrund. Offenbar wird das absolute Eigentum zunächst als klageabwehrende 113
Vgl. nur ders.y Römisches Privatrecht (Kurzlehrbuch), § 27 I 6 a.
114
Ders.y Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht, §§ 33 f. (insbes. S. 285, 292 f.). 115
Ders.y Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht, S. 292.
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Verteidigungsposition. Erst mit der Einführung des Sponsionsverfahrens gibt das Eigentum auch eine klagebegründende Rechtsstellung gegenüber jedermann. Damit wird der Umriß einer Klage aus dem Eigentum als einem absoluten Recht erkennbar. Die Abschichtung des dinglichen Eigentumsschutzes von der Deliktsverfolgung ist insgesamt gesehen ein Schritt hin zu mehr Rationalitat im Recht. Eine Gesellschaft, in der jeder Konflikt um Sachen mit dem scharfen Instrumentarium des Deliktes entschieden wird, droht irgendwann zu zerbrechen. Der Eigentumsschutz durch ein eigenständiges Sachverfolgungsverfahren stellt insofern eine Rechtsentwicklung dar, mit der die Austragung von Eigentumskonflikten von der Schärfe des Deliktsvorwurfes unabhängig gemacht wird. 1 1 6 Seinen Abschluß findet dieser Entwicklungsprozeß in dem absoluten Eigentumsverständnis, das dem Rechtsinhaber eine gegenüber jedermann wirkende Rechtsposition gibt. Im absoluten Recht des Eigentums haben wir damit schon das reife Produkt einer hochentwickelten Rechtskultur vor uns, das die Schärfe und Maßlosigkeit der archaischen Deliktsverfolgung zurückdrängt. Es steht zu vermuten, daß mit der Abschichtung eines eigenständigen Sachverfolgungsverfahrens von der Deliktsverfolgung auch der Raum dafür frei wird, das Delikt differenzierter zu konturieren. Insofern hatten wir oben bereits dargelegt, daß auch das Delikt selbst durch den Gedanken der Schuld in seiner archaischen Schärfe abgemildert wird, indem die Rache durch die personale Beziehung der Deliktsobligation verdrängt wird. Im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung ist es so zu einer Trennung des Eigentumsschutzes in deliktischen und dinglichen Schutz gekommen, wie sie dem bürgerlichen Recht auch heute noch zugrunde liegt. 1 1 7 Der einstmals aus der Deliktsverfolgung entwickelte absolute Eigentumsbegriff begründet aber nicht nur den dinglichen Eigentumsschutz - so wie wir ihn anhand der Bestimmung des § 903 S. 1 BGB entwickelt haben -, sondern er bleibt auch vor allem in der zentralen Vorschrift des § 823 I BGB Grundlage des deliktischen Eigentumsschutzes. Im Rahmen dieser Bestimmung wird - wie wir bereits oben gezeigt haben - der Schuldvorwurf an die Verletzung der absolut geschützten Rechtsposition des Eigentümers geknüpft. Auf diese Weise sind im deliktischen Schuldverhältnis der Schuldgedanke und die Vorstellung des absoluten Rechts untrennbar miteinander verknüpft. Genauer noch wird man sagen können, daß der auf dem Schutz des absoluten Rechts aufbauende 116
Dieser Aspekt wird auch von Liebs, Römisches Recht, S. 179, betont, ähnlich wohl auch die Auffassung von Söllner, Einfuhrung in die römische Rechtsgeschichte, § 9 11 1.2. 117 Vgl. dazu jetzt auch die Schrift von D. J. Steinbach, Der Eigentums freiheitsanspruch nach § 1004 im System der Ansprüche zum Schutz des Eigentums, in der die verschiedenen Eigentumskonzeptionen der modernen Dogmatik zur Abgrenzung von schuldrechtlichem und dinglichem Eigentumsschutz einer tiefdringenden Analyse unterzogen werden.
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deliktische Eigentumsschutz durch den Schuldgedanken überlagert wird. Diese Überlagerung des Eigentums durch den Schuldgedanken scheint uns nun nicht nur fur das Schuldverhältnis aus Delikt, sondern in gewisser Weise fur das Recht der Schuldverhältnisse überhaupt von fundamentaler Bedeutung zu sein. Das Eigentum und sein Schutz als absolutes Recht ist auch Grundlage der rechtlichen Anerkennung der verschiedenen Schuldverhältnisse. Aus diesem Grunde erblicken wir im Eigentum als absolutem Recht einen elementaren Baustein des bürgerlichen Rechts. Diesem Gedanken soll im folgenden anhand des Verhältnisses von Schuldrecht und Sachenrecht noch etwas weiter nachgegegangen werden. b) Die fundamentale Bedeutung des Habens im System des bürgerlichen Rechts Aus dem Eigentum fließt nicht nur der sog. dingliche Anspruch, sondern es ist auch Grundlage der verschiedenen Schuldverhältnisse des bürgerlichen Rechts und gibt damit mittelbar auch eine Begründung für die schuldrechtlichen Ansprüche. Die fundamentale Bedeutung, die damit dem Eigentum zukommt, entspricht einer historisch tiefverwurzelten Auffassung, für die das bürgerliche Recht auf dem Gedanken des Habens aufbaut. 118 Dem "Haben" wird gemeinhin der Gedanke des "Bekommensollens" gegenübergestellt, wobei man sich dabei offenbar vorstellt, daß damit in irgendeiner Weise auch der Unterschied zwischen Schuld- und Sachenrecht zum Ausdruck gebracht ist. 1 1 9 Schon in dieser Gegenüberstellung von Haben und Bekommensollen kommt die grundlegende Bedeutung des Sachenrechts für das Schuldrecht zum Ausdruck. Das Bekommensollen ist doch offenbar auf das Haben bezogen, denn das Haben ist das Ergebnis des Bekommene. Man kann auch sagen, das Bekommensollen ist relativ zum Haben. Damit bringt der Begriff des Habens einen sehr viel grundlegenderen Gedanken zum Ausdruck als der Begriff des Bekommensollens. Dementsprechend läßt sich auch in der Geschichte des Zivilrechts verfolgen, wie der Gedanke des Habens die systematische Konzeption der verschiedenen zivilrechtlichen Entwürfe beherrscht und damit auch das Verhältnis von Schuld- und Sachenrecht bestimmt. Wir greifen hier einige wenige Orientierungspunkte heraus. Ein, wenn nicht sogar der zentrale Begriff des römisch-rechtlichen Zivilrechtssystems, wie es uns in der Darstellung der "Institutionen" des
118 Auch etymologisch beinhaltet der Begriff "Eigentum" die Bedeutung von "Haben", vgl. Calliess, Eigentum als Institution, S. 58, 106; Schwab, Art. "Eigentum", S. 65. 119 Die Unterscheidung von "Haben" und "Bekommensollen" durchzieht etwa die Arbeit von Dubischar, Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative.
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Gaius vorliegt, ist der Begriff der "res". 120 Die res ist bei Gaius dann weiter unterteilt in res corporales und res incorporai es, 1 2 1 in der die Unterscheidung von Eigentum und Schuldverhältnis angelegt ist. Wenn man im Begriff der res den Gedanken des Habens zum Ausdruck gebracht sieht, so ist mit der Auffassung der Obligation als res incorporalis das Schuldrecht im Sachenrecht verankert. Mit dem Begriff der res wird bei Gaius also nicht nur das Sachenrecht selbst, sondern auch das Schuldrecht vom Begriff der Sache und damit dem Gedanken des Habens her gedeutet. Aus der Rechtslehre des Mittelalters lassen sich unterschiedliche Entwicklungslinien herausheben. In der Institutionenparaphrase des Theophilus kommt es der Sache nach zu einer Ausgliederung der Obligation aus dem Bereich der res. 1 2 2 Dominium und obligatio stehen hier als gleichwertige Grundbegriffe nebeneinander. In dem schon an der Grenze zur Neuzeit stehenden System des Donellus kommt dann aber wieder die grundlegende Bedeutung des Habens zum Vorschein. Systematischer Oberbegriff ist fur Donellus das "quod nostrum est" und damit im Grunde wieder die res. Das "quod nostrum est" wird dann von ihm weiter unterteilt in die zwei Arten des "quod vere et proprie nostrum est" und des "quod nobis debetur". 123 Ahnlich wie im Begriff der res incorporalis wird damit die Obligation vom Haben her verstanden. Diese grundlegende Bedeutung des Habens bleibt auch in den Systementwürfen des Vernunftrechts erhalten. Das zeigt auch gerade die Rechtslehre Kants zum Privatrecht. 124 Kant entwickelt das gesamte Privatrecht aus dem Gedanken "des äußeren Mein und Dein", das er in drei Bereiche unterteilt: den der Sachenrechte, der persönlichen Rechte und der dinglich-persönlichen Rechte. 125 Dabei entwickelt er unter dem Begriff des persönlichen Rechts vor allem seine Vertragslehre, so daß dieser Bereich in etwa dem Bereich der Obligation, also dem Schuldrecht, entspricht. 126 Durch das Verständnis des 120
Vgl. dazu auch die Studie von Kreller y SZ 66 (1948), 572 ff. Gaius, Institutionen, 2, §§ 12-14. 122 ygi dazu die Darstellungen bei Dubischar, Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative, S. 26 ff.; Fezer y Teilhabe und Verantwortung, § 4 A I. 121
123
"Id quod nostrum cuiusque est, duplex est. Est enim, quod vere et proprie nostrum sit, est etiam, quod nobis debeatur." (Zitiert nach Fezer, Teilhabe und Verantwortung, S. 168.) Zum System des Donellus auch Coingy Zur Geschichte des Begriffs "subjektives Recht", S. 42 ff., sowie Dubischar, Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative, S. 48 ff. 124 Genannt werden könnte hier aber auch die Rechtsphilosophie Hegels, die den Vertrag erst im Anschluß und auf der Grundlage des Eigentums entwickelt, vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 41 ff., 71 ff. 125
Kant y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 245 ff., 259 f.
126
Ders.y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 271 ff.
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Privatrechts als Sphäre des äußeren Mein und Dein wird auch dieser Bereich von Kant noch in das Haben eingebettet. Weiter macht dies auch die Bestimmung des persönlichen Rechts als "Besitz der Willkür eines Anderen" 127 deutlich. Im Rahmen der Begründung des äußeren Mein und Dein kommt dann auch dem Begriff des Habens selbst eine zentrale Rolle zu. 1 2 8 Mit der Einschätzung der grundlegenden Bedeutung des Habens einher geht auch der weite Eigentumsbegriff des Naturrechts. 129 So werden vor allem bei Locke unter dem Begriff des Eigentums Leben, Freiheit und Vermögen zusammengefaßt. 130 In mancher Hinsicht hat sich dieser weite Eigentumsbegriff bis heute hin durchgehalten. So gilt etwa als Eigentum i.S.d. Art. 14 GG nicht nur das zivilrechtliche Eigentum, sondern auch die Forderung und weiter noch sämtliche zivilrechtliche Vermögenswerte Rechte und Güter. 131 Im übrigen lassen sich - wie im dritten Teil ausführlich gezeigt werden soll - die Freiheitsgrundrechte insgesamt als absolute Rechte nach dem Modell des Eigentums deuten. Entsprechend der fundamentalen Bedeutung des Habens basieren nicht nur die zivilrechtlichen Systementwürfe, sondern auch die Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts auf der Vorordnung des Sachenrechts vor dem Schuldrecht und stehen damit in der Tradition der römisch-rechtlichen Vorstellung eines weiten Sachbegriffs. 132 Erst das BGB ordnet das Schuldrecht dem Sachenrecht vor. Wie kommt es zu dieser Umorientierung? Unsere These ist, daß die Verschiebung des Zivilrechtssystems mit der Entwicklung der Lehre Windscheids vom Anspruch verknüpft ist. Der Anspruch ist das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (vgl. § 194 I BGB). Mit dieser Umschreibung des Anspruchs als Verlangenkönnen scheint plötzlich das Bekommensollen zum tragenden Pfeiler des Systems zu werden. Entsprechend der Bedeutung des Anspruchs rückt jetzt auch das Recht des Bekommensollens, nämlich das Schuldrecht, an die erste Stelle. Der Gedanke des Bekommensollens erscheint jetzt also in zweifa127
Ders. y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 271.
128
Ders.y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 252 ff. Vgl. dazu auch Brokker> Kants Besitzlehre, S. 71 ff., sowie Kaulbach, Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants, S. 83 ff., 114 ff. 129
Vgl. dazu Dubischar y Grundbegriffe des Rechts, § 21, 2.
130
Locke y Zwei Abhandlungen über die Regierung, 2. Abh., § 123 a.E.; siehe dazu auch AK-Rittstieg, GG, Art. 14/15 Rdz. 62. 131 Vgl. Pieroth/Schlinky Grundrechte - Staatsrecht II, Rdz. 999; v. Mänch-Bryde Grundgesetz-Kommentar, Art. 14 Rdz. 11 ff. 132 Zu nennen wäre hier etwa das österreichische ABGB von 1811 oder auch der code civile von 1804. Vgl. zu diesen systematischen Entsprechungen Hausmaninger/Selb, Römisches Privatrecht, S. 111 f.; sowie Dubischar y Grundbegriffe des Rechts, § 21, 2.
t
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eher Weise: einmal in der mehr technischen Bedeutung des Anspruchs, das andere Mal in der substantielleren Bedeutung des Schuldverhältnisses. Beide Momente sind im BGB ineinander verschränkt. Dementsprechend meint der Begriff des Schuldverhältnisses nicht nur das Schuldverhältnis i.w.S., sondern auch das Schuldverhältnis i.e.S. und damit den schuldrechtlichen Anspruch. Es ist denn wohl auch kein Zufall, daß das Schuldrecht bei genauerem Hinsehen nicht nur ein Recht der Schuldverhältnisse, sondern darüber hinaus auch eine Art allgemeines Anspruchsrecht gibt, das - wenn auch mit Einschränkungen - seine entsprechende Anwendung auf die im Sachenrecht geregelten Ansprüche findet. 133 Man kann die Vorordnung des Schuldrechts vor dem Sachenrecht im BGB also als eine Konsequenz des zivilrechtlichen Anspruchsdenkens ansehen. Das bedeutet allerdings nicht, daß damit zugleich auch die fundamentale Bedeutung des Habens fur das bürgerliche Recht verlorengegangen wäre. 1 3 4 Daß im Aufbau des BGB das Eigentum (hinter das Schuldverhältnis) an die zweite Stelle gerückt ist, stellt die elementare Bedeutung des Habens als Grundlage des Bekommensollens nicht in Frage. Sie wird vielmehr durch die mehr technische Bedeutung des Anspruchs als Bekommensollen nur verdeckt. Die inhaltliche Fundierung des bürgerlichen Rechts im Haben zeigt sich aber wieder, wenn man die Schuldverhältnisse i.w.S. selbst in den Blick nimmt, deren Begründung ohne den Gedanken des Eigentums kaum verständlich zu machen ist. Dazu heben wir hier nur einige wenige Gesichtspunkte hervor. Der Schuldgedanke macht es möglich, eine Reihe unterschiedlicher Lebensverhältnisse unter dem Begriff des Schuldverhältnisses zusammenzufassen. Bereits oben hatten wir allerdings auch dargelegt, daß etwa in der Vorschrift des § 823 I BGB die Absolutheit des Eigentums Grundlage für die Bestimmung des Kreises unerlaubter Handlungen ist und damit auch fur die Begründung des Schuldverhältnisses aus Delikt. In durchaus vergleichbarer Weise ist das Eigentum aber auch Grundlage für die wichtigsten weiteren Arten von Schuldverhältnissen. Der schuldrechtliche Vertrag ist in der weit überwiegenden Zahl der Fälle Austauschverhältnis, d.h. die Vertragspartner
133 Zur Anwendbarkeit der schuldrechtlichen Vorschriften und auch der schuldrechtlichen Terminologie auf den dinglichen Anspruch vgl. nur Schapp, Sachenrecht, § 7 (S. 49); ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 2 (S. 43 f.). 134 Dieses Fundierungsverhältnis des Schuldrechts im Sachenrecht gerät mit dem von Dubischar (in: AK, BGB, vor §§ 241 ff. Rdz. 14) geprägten Wort der "Verschuldrechtlichung der Vermögensverfassung" nur allzu leicht aus dem Blick. Das beruht nicht zuletzt darauf, daß - im Anschluß an v. Savigny - die tief verankerte Vorstellung vorherrscht, Schuldrecht und Sachenrecht seien als gleichrangige und selbständige, als sich selbst genügende Teile des bürgerlichen Rechts zu verstehen. Ausführlich zum Hintergrund dieser Konzeption des Verhältnisses von Schuldrecht und Sachenrecht, Wxegand, AcP 190 (1990), 112 ff.
Ι . Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
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versprechen einander Vermögenswerte Leistungen. Im Fall des Kaufvertrages werden so Ansprüche auf Eigentum begründet. Auch die Vielzahl der weiteren Schuldverträge, die nicht auf die Übertragung von Sacheigentum oder von Teilberechtigungen aus ihm gerichtet sind, hat in ihrer weit überwiegenden Masse doch jedenfalls den Austausch von Vermögen zum Gegenstand, sei es in der Form der Herstellung von Werken, der Leistung von Diensten oder sonstigen Handlungen.135 Diese Bedeutung des Vertrages als Austausch von Eigentum und Vermögen hat dazu gefuhrt, daß in der Literatur die Verbindlichkeit des schuldrechtlichen Vertrages mit der Gegenseitigkeit der Leistungen begründet oder auch auf das Äquivalenzprinzip gestützt wird. 1 3 6 Dementsprechend ist das Eigentum auch als Fundament des Vertrages bezeichnet worden. 137 Mit der Leistungskondiktion bezieht sich dann auch das Bereicherungsrecht in einer Vielzahl von Fällen auf den Austausch von Leistungen, dessen Zweck nicht erreicht worden ist. 1 3 8 Weiter knüpft dann aber auch die Eingriffskondiktion mit dem von Wilburg entwickelten Gedanken der Rechtsfortwirkung eines Rechtes des Bereicherungsgläubigers an den Zuweisungsgehalt der absoluten Rechte und damit in erster Linie an das Eigentum an. 1 3 9 Insgesamt kann man also sagen, daß das Eigentum auch die Begründung der schuldrechtlichen Ansprüche mitträgt. Die Herausbildung des Anspruches für das bürgerliche Recht hat nun neben der Vorordnung des Schuldrechts vor das Sachenrecht zu einer zweiten, vielleicht noch sehr viel bedeutsameren Umorientierung geführt. Mit dem Anspruch als Ausdruck des Bekommensollens rückt nicht nur das Schuldrecht an die erste Stelle, darüber hinaus wird zudem das Sachenrecht dem Schuldrecht - als dem Recht des Bekommensollens - nachgebildet. Das zeigt sich vor allem daran, daß auch im Sachenrecht der Schutz des Eigentums und der aus ihm abgeleiteten Rechte, im übrigen aber auch der Schutz des Besitzes, durch den Anspruch erfolgt. Im Falle der Beeinträchtigung seiner Rechtsposition muß der Eigentümer also einen Anspruch gegen den Störer verfolgen, den sog. dinglichen Anspruch. Dagegen wurde im römischen Recht noch auf die actio in rem hin der Streit um das Gehören der Sache durch Feststellungsurteil
135 Zu den verschiedenen Arten der Erfüllung schuldrechtlicher Verträge vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 4 IV. 136 y g i ψ Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. I; J. Schapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre, S. 5 f., 59, 64; auch Larenz y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 2 V; Soergel-M. Wotf y Vor. § 145 Rdz. 25. 137 138
Schapp, Grundfragen der Rechtsgeschäftslehre, S. 6.
Zum Rechtsgedanken der Leistungskondiktion im einzelnen Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 5 II. 139 Wilburg y Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung, S. 27 ff.; vgl. dazu auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 5 III.
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entschieden, ohne daß hierbei das Verhältnis der beiden Streitparteien eine Rolle gespielt hätte. 140 Die dogmatische Figur des dinglichen Anspruchs legt fast zwangsläufig auch eine veränderte Sicht auf das Eigentum selbst nahe. Denn der dingliche Anspruch zielt - als Anspruch - auf das Verhältnis des Bekommensollens zwischen Eigentümer und Störer. Daraus ergibt sich für uns die Frage, wie das Eigentum als Anspruch gedacht werden kann. Die Antwort darauf, die in der bisherigen Untersuchung im wesentlichen gegeben wurde, lautete, daß das Eigentum als absolutes Recht fur den Fall der Störung Ansprüche begründet. Wenn wir nun aber auf das Schuldrecht schauen, so sehen wir, daß hier nicht nur der Anspruch, sondern auch die Anspruchsgrundlage, das Schuldverhältnis i.w.S., bereits personales Rechtsverhältnis ist, aus dem heraus die Konfliktsentscheidung begründet wird. Nach unserer Auffassung legt es das Anspruchsdenken nahe, ebenso auch das Eigentum in seiner Funktion als Anspruchsgrundlage als personales Rechtsverhältnis zu begreifen, aus dem der dingliche Anspruch als Konfliktsentscheidung zwischen Eigentümer und Störer folgt. In abgeschwächter Weise denken wir damit das Eigentum als Eigentumsverhältnis nach dem Vorbild der Obligation. 141 Dieser Gedanke soll im folgenden ein wenig genauer erörtert werden. 2. Das absolute Recht in konkreten Rechtsverhältnissen a) Das Eigentum als Rechtsverhältnis
aus der Sicht der Literatur
Die Vorstellung des Eigentums als eines personalen Rechtsverhältnisses zwischen den Menschen läßt sich weit durch die Geschichte zurückverfolgen. Ein Teil der Geschichte des Eigentums ist unter diesem Gesichtspunkt unlängst von Damian Hecker 142 zur Darstellung gebracht worden. In kritischer Auseinandersetzung mit den viel beachteten Thesen Willoweits 143 zur Eigentumslehre im Mittelalter legt Hecker dar, daß der Sprachgebrauch der Begriffe "dominium", "proprietas" und "eigen" (im übrigen auch der Ausdruck "gewere") im wesentlichen auf die rechtliche Zuordnungsfunktion konkreten Eigentums verweist. 144 Diese die Sicht des Mittelalters noch beherrschende 140 Vgl. Käser, Das römische Privatrecht, Bd. I, §§ 7 I 2, 32 III 1, V 2, 103 I; Schapp, JuS 1992, 537 (540 f.). 141 Eine alte Formulierung der Natur- und Vernunftrechtslehre lautet denn bezeichnenderweise auch "lus et obligatio sunt correlata", vgl. Dubischar y Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sogenannte absolute und relative, S. 96 ff. 142
Eigentum als Sachherrschaft.
143
Historisches Jahrbuch 94 (1974), 131 ff.
144
Hecker, Eigentum als Sachherrschaft, §§ 2, 3.
ΠΙ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
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"rechtsrelationale" Auffassung des Eigentums als Regelung von Rechtsbeziehungen durch Zuordnung sei erst in der Moderne durch das Verständnis des Eigentums als "Sachherrschaft" verdrängt worden. Eine wesentliche Ursache dafür sei vor allem der Wandel im Verständnis der Natur gewesen.145 Die moderne Dogmatik schließlich sehe im Eigentum nur noch das Herrschaftsrecht der Person und ihres Willens über die willenlosen Objekte der Natur. 1 4 6 Diese unserer Ansicht nach mit Recht von Hecker kritisierte Vorstellung des Eigentums als bloßer Willensherrschaft ist eng verknüpft mit der im 19. Jahrhundert von Windscheid entwickelten Konzeption des subjektiven Rechts als von der Rechtsordnung verliehener "Willensmacht".147 Es ist denn wohl auch kein Wunder, daß neuere Betrachtungen zur zivilrechtlichen Dogmatik des Eigentums auf die Unzulänglichkeiten aufmerksam machen, die darin liegen, das Eigentum allein vom Begriff des subjektiven Rechts her zu erfassen. Der Charakter des Eigentums als subjektives Recht - so heißt es - genüge nicht für eine umfassende Betrachtung des Eigentums.148 Es sei daher notwendig, auch das Eigentum als Rechtsverhältnis entsprechend dem Schuldverhältnis zu konstruieren, eben als Eigentumsverhältnis.149 Um eine solche rechtsverhältnistheoretische Betrachtung des Eigentums als eines absoluten Rechts haben sich Karl Larenz und zuletzt vor allem Norbert Achterberg bemüht. Geistige Grundlage des bürgerlichen Rechts ist für Larenz der Begriff der Person im ethischen Sinne, wie er vor allem in der Philosophie Kants entwikkelt worden ist. 1 5 0 Aus diesem "ethischen Personalismus" folgert Larenz, "daß jeder Mensch gegenüber jedem anderen ein Recht darauf hat, von ihm als Person geachtet, in seinem Dasein (Leben, Körper, Gesundheit) und einem ihm eigenen Bereich nicht verletzt zu werden, und daß jeder jedem anderen in entsprechender Weise verpflichtet ist." 1 5 1 Dieses Verhältnis wechselseitiger Achtung bezeichnet Larenz als das "rechtliche Grundverhältnis". Es sei nicht nur ein Grundprinzip "richtigen Rechts" und dementsprechend Grundlage des Zusammenlebens in einer Rechtsgemeinschaft, sondern auch die Grundlage eines jeden einzelnen Rechtsverhältnisses.152 Das "rechtliche Grundverhält145
Hecker, Eigentum als Sachherrschaft, §§ 16, 17.
146
Hecker, Eigentum als Sachherrschaft, § 25 III. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, § 37, 2.
147 148
So Sontis, Festschrift für Larenz, 981 (996 ff.); Georgiades, Festgabe für Sontis, 149 (151, 159 ff.). 149 Sontis, Festschrift für Larenz, 981 (997); Georgiades, Festgabe fur Sontis, 149 (160 ff.). 150
Larenz y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 2 I.
151
Ders., Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 2 I (S. 34).
152
Ders. y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 2 I (S. 34 f.).
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nis" könne gleichsam als Modellvorstellung fur alle Rechtsverhältnisse dienen. 1 5 3 Nach dem Modell des Verhältnisses wechselseitiger Achtung wird von Larenz auch das Eigentum als Rechtsverhältnis begriffen. Das Eigentum sei - wie etwa auch das Persönlichkeitsrecht - ein Rechtsverhältnis, das einer Person ein Recht im Verhältnis zu allen anderen gewähre. 154 Der Kern dieses Rechtsverhältnisses sei ein Freiraum, den die Rechtsordnung einer bestimmten Person gewährleiste, indem sie alle anderen davon ausschließe. Vor allem in dieser Ausschließungsfunktion des Eigentums komme zum Ausdruck, daß es ein Rechtsverhältnis des Eigentümers nicht nur zur Sache, sondern - wie jedes Rechtsverhältnis - zu anderen Personen sei. 1 5 5 Allerdings sieht Larenz im Eigentum nicht wie im Schuldverhältnis ein Verhältnis zwischen bestimmten Personen, sondern nur ein solches zwischen dem Eigentümer und allen anderen. 1 5 6 Das "gleichsam latente Rechtsverhältnis 'zu allen'" konkretisiere sich zu einem bestimmten Rechtsverhältnis zu einem bestimmten anderen, wenn dieser den Eigentümer in seinem Recht verletze. 157 Dieses Rechtsverhältnis sei der Anspruch des Eigentümers. 158 Die Konkretisierung des allgemeinen Rechtsverhältnisses zu einem bestimmten Rechtsverhältnis könne aber auch schon dadurch erfolgen, daß dieser andere dem Eigentümer dessen Recht bestreitet. 159 Unter dem Gesichtspunkt der Konkretisierung eines "allgemeinen" Rechtsverhältnisses zu einem bestimmten "konkreten Störverhältnis" sind auch von Achterberg nach dem Vorbild des Eigentums die absoluten Rechte gedeutet worden. Achterberg sieht im Rechtsverhältnis eine Ordnungskategorie zur Erfassung der gesamten Rechtsordnung.160 Auf dieser Grundlage stellt er sich die Frage, wie die absoluten Rechte in die Theorie der Rechtsverhältnisse zu integrieren sind. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist "Die rechtsverhältnistheoretische Deutung absoluter Rechte". 161 Absolute Rechte zeichnen sich für Achterberg entsprechend der Regelung des § 903 S. 1 BGB dadurch aus, daß sie gegenüber jedermann wirken. 162 153
Ders., Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 1 (S. 194).
154
Ders.y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 195).
155
Ders. y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 2 II d (S. 39).
156
Ders.y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 195 f.). Ders.y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 196).
157 158
Ders. y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 196).
159
Ders.y AllgemeinerTeü des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 196).
160
Achterberg y Die Rechtsordnung als Rechts verhältnisordnung.
161
So der Titel des Aufsatzes von Achterberg in der Gedächtnisschrift für Küchenhoff, 13 ff. 162 Achterberg, Gedächtnisschrift für Küchenhoff, 13 (18).
ΠΙ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
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Ihre Funktion liegt - wie bei Larenz - darin, daß sie dem Rechtsinhaber ein bestimmtes Gut im Verhältnis zu allen anderen zuordnen, die von diesem Recht ausgeschlossen und dazu verpflichtet sind, dem Rechtsinhaber dieses Recht zu belassen und es nicht zu beeinträchtigen. Verstoßt jemand gegen diese Pflicht, so könne der Rechtsinhaber von ihm Beseitigung, gegebenenfalls Unterlassen und bei schuldhafter Verletzung auch Schadensersatz verlangen. Demgegenüber richten sich die relativen Rechte von vornherein nur gegen bestimmte einzelne Personen. 163 Der Inhaber des absoluten Rechts steht fur Achterberg in einem Rechtsverhältnis zu allen anderen als den potentiellen Rechtsverletzern oder Störern. 164 Das absolute Recht sei ein Bezugspunkt für die Begründung "multipolarer Rechtsverhältnisse".165 Das zentrale Problem liegt für Achterberg darin, wie sich dieses "multipolare Rechtsverhältnis" im aktuellen Störfall auswirkt, der seinerseits zu einem bestimmten Rechtsverhältnis zwischen Rechtsinhaber und Störer führe. 166 Durch den Störfall - so seine Lösung - konkretisiere sich das "multipolare Rechtsverhältnis" zu einem "bipolaren Rechtsverhältnis", dem "konkreten Störverhältnis". 167 Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Rechtsverhältnissen bestehe darin, daß die das Rechtsverhältnis gestaltenden Normen sich bei nur latenter Störung im "multipolaren Rechtsverhältnis" lediglich teildeterminierend auswirken, während sie bei aktueller Störung zu einer Volldetermination des "bipolaren Rechtsverhältnisses" führten. 168 Der unterschiedliche Abstraktionsgrad der durch die absoluten Rechte gestifteten "multipolaren" und "bipolaren" Rechtsverhältnisse führt Achterberg schließlich zu der Unterscheidung von abstraktem und konkretem Rechtsverhältnis. Das abstrakte Rechtsverhältnis könne als "Rahmenrechtsverhältnis" begriffen werden, "welches das durch die Störung konkretisierte Rechtsverhältnis und die daraus folgenden Rechte und Pflichten umgibt." 169 Diese Kennzeichnung ermögliche einerseits die Vorstellung, daß die durch das absolute Recht vermittelte Beziehung selbst bereits ein Rechtsverhältnis darstelle, andererseits aber noch keine konkreten Ansprüche bestehen. Der Begriff des "Rahmenrechtsverhältnisses" deute so darauf hin, daß das abstrakte Rechtsverhältnis durch die Störung zum konkreten Rechtsverhältnis "umgeformt wird". Wenn auch die hier dargestellten Überlegungen von Larenz und Achterberg in ihrem theoretischen Ansatz durchaus sehr unterschiedlich gelagert sind, so 163 164
So insgesamt ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 18. Ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 18.
165
Ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 19.
166
Ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 19.
167
Ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 21 ff.
168
Ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 22.
169
Ders., Gedächtnisschrift für Küchenhoff, S. 25.
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lassen sich doch auch wichtige Gemeinsamkeiten herausstellen. Ein gemeinsames Grundanliegen scheint uns in dem Versuch zu liegen, das nach dem Vorbild des Eigentums gedachte absolute Recht in eine umfassende Konzeption des Rechts zu integrieren, die auf dem Begriff des Rechtsverhältnisses aufbaut. Dabei ist der Begriff des Rechtsverhältnisses bei Larenz deutlich ethisch fundiert, während er bei Achterberg eher nur normativ orientiert zu sein scheint, wenn hier auch Bezüge zu soziologischen, systemtheoretischen oder gar demokratietheoretischen Ansätzen bestehen oder herstellbar sein mögen. 1 7 0 In der inhaltlichen Durchführung der Rechtsbetrachtung auf der Grundlage der jeweiligen Theorie des Rechtsverhältnisses lassen sich deshalb auch durchaus wesentliche Unterschiede erkennen. In vergleichbarer Weise wird aber in beiden Theorien dem Begriff des Rechtsverhältnisses eine zentrale Ordnungs- und Orientierungsfunktion zugesprochen. Dabei scheint Prüfstein einer jeden Rechtsverhältniskonzeption der Begriff des absoluten Rechts zu sein. Die Vorstellung des absoluten Rechts widerstrebt offenbar dem Gedanken des Rechtsverhältnisses. Die beiden Begriffe und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen stoßen einander ab. Die Problematik spiegelt sich bei Larenz und Achterberg vor allem in der Annahme eines allgemeinen, abstrakten oder latenten Rechtsverhältnisses gegenüber jedermann wider, das sich zu einem besonderen oder konkreten Rechtsverhältnis umformt. Sie ist für die Überlegungen zum Eigentumsverhältnis auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil sich hier die Schwierigkeit zeigt, die Theorie zum Rechtsverhältnis mit der Theorie zum subjektiven Recht zu vereinbaren, die herkömmlicherweise als grundlegender Ansatz für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts gilt. Die Auffassungen, daß das Eigentum einerseits als absolutes Recht ein subjektives Recht darstellt, andererseits aber auch Rechtsverhältnis sein soll, sind nur schwer miteinander verträglich. Eine Lösung dieser Problematik kann nach unserer Überzeugung nur auf der Grundlage einer klaren Vorstellung über die Funktion des Rechtsverhältnisses für die juristische Dogmatik erfolgen. Ein Versuch dazu ist der Gedanke des konkreten Rechtsverhältnisses zwischen Eigentümer und Störer als Anspruchsgrundlage. b) Das konkrete Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer als Anspruchsgrundlage Die bereits im ersten Teil entwickelte und im zweiten Teil am Beispiel des Schuldverhältnisses zur Anschauung gebrachte These ging dahin, daß aus dem Rechtsverhältnis Ansprüche folgen, die sich selbst wieder als Rechtsverhältnisse i.e.S. begreifen lassen. Die dogmatische Figur des Rechtsverhältnisses 170 Ygi dazu vor allem Ächterberg, nung, S. 26 ff., 98 ff.
Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisord-
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ist damit auf eine Anspruchskonzeption des Rechts bezogen. Das Rechtsverhältnis ist die Anspruchsgrundlage, aus der heraus die Beurteilung von Ansprüchen erfolgt. Als diese Anspruchsgrundlage gibt es einen Begründungsrahmen fur die Entscheidung von Konflikten. Nach unserer Auffassung liegt auch die Funktion eines "Eigentumsverhältnisses" darin, daß es Grundlage fur die Gewährung von Ansprüchen im Verhältnis zwischen Eigentümer und Störer ist. Dieses "Eigentumsverhältnis" bedarf nach mehreren Seiten hin der Abgrenzung und Erläuterung. Als Anspruchsgrundlage ist das Eigentumsverhältnis konkretes Rechtsverhältnis i.w.S. Dieses konkrete Rechtsverhältnis ist scharf von dem aus ihm folgenden Anspruch als dem Rechtsverhältnis i.e.S. zu unterscheiden. Den zentralen Orientierungspunkt fur die Betrachtung zum Eigentumsverhältnis sehen wir damit in der Begründungsbeziehung zwischen konkretem Rechtsverhältnis i.w.S. und dem aus ihm fließenden Anspruch. Dieses Rechtsverhältnis i.w.S. wird von Ächterberg - durchaus zutreffend - als konkretes Störverhältnis bezeichnet.171 Im Hinblick auf dieses konkrete Rechtsverhältnis haben sowohl Achterberg als auch Larenz aber vor allem die Beziehung zu einem von ihnen angenommenen abstrakten Rechtsverhältnis im Auge. Die Beziehung des konkreten Störverhältnisses zum Anspruch als der Entscheidung über den sich aus der Störung ergebenden Konflikt wird bei Achterberg nur angedeutet, sie steht jedenfalls nicht im Mittelpunkt seiner Konzeption. Bei Larenz schließlich werden Rechtsverhältnis i.w.S. und der aus ihm folgende Anspruch kaum noch voneinander unterschieden. Anspruch und konkretes Rechtsverhältnis i.w.S. scheinen von ihm im Begriff des konkreten Rechtsverhältnisses zusammengefaßt zu sein. Die Fixierung auf den Zusammenhang von abstraktem und konkretem Rechtsverhältnis hat eine genauere Bestimmung der Bedeutung des Eigentumsverhältnisses erschwert. Erst die Konzentration auf den Anspruch und seine Begründung aus dem konkreten Rechtsverhältnis ermöglicht auch hier eine tiefdringendere Aufhellung der Funktion des Rechtsverhältnisses als einer Leitfigur der juristischen Dogmatik. Ein wesentlicher Grund für die noch nicht genügende Beachtung des Rechtsverhältnisses in seiner Funktion als Anspruchsgrundlage liegt darin, daß die Ebene des konkreten Rechtsverhältnisses zwischen Eigentümer und Störer selbst keiner genaueren Analyse mehr unterzogen wird. Das konkrete Störverhältnis wird vielmehr - mehr oder weniger bewußt - weitgehend mit dem Anspruch auf Abwehr der Störung identifiziert. So schimmert vor allem bei Larenz die Annahme durch, daß das Eigentum sich durch die Störung zum Rechtsverhältnis des Anspruches
171
Achterberg, Gedächtnisschrift für Küchenhoff, 13 (21).
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konkretisiere. 172 Das im Eigentum liegende allgemeine Rechtsverhältnis gegenüber jedermann konkretisiert sich in der Vorstellung von Larenz also unmittelbar zum besonderen Anspruch des Eigentümers gegenüber dem Störer. Mit dem Überspringen des konkreten Störverhältnisses als Anspruchsgrundlage scheint sich uns Larenz allerdings eine Reihe von Perspektiven abzuschneiden, die im folgenden kurz angedeutet werden sollen. Im Gedanken des konkreten Störverhältnisses i.w.S. als Anspruchsgrundlage besteht vor allem die Möglichkeit einer differenzierteren Betrachtung der mit dem Anspruch erfolgenden Konfliktsentscheidung. Der durch die Störung ausgelöste Konflikt zwischen Eigentümer und Störer läßt sich so aus dem konkreten Verhältnis beider Personen zueinander beurteilen. In diesem Sinne ist auch das konkrete Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer personales Rechtsverhältnis. Aus dem konkreten Rechtsverhältnis heraus läßt sich nicht nur die Entscheidung über den dem Eigentümer gegen den Störer zustehenden Anspruch fassen. Es trägt vielmehr auch der Position des Störers Rechnung, und zwar dadurch, daß in ihm auch die Verpflichtung des Eigentümers zur Duldung der Störung und der dementsprechende Anspruch des Störers begründet werden kann. Das Ungenügen der Vorstellung eines unmittelbaren Durchschlagens vom allgemeinen Rechtsverhältnis zum Anspruch liegt insoweit vor allem darin, daß sich aus dem allgemeinen Rechtsverhältnis der Achtung des Eigentums die Gegenposition des konkreten Störers im Hinblick auf die Anspruchsentscheidung nicht mehr zureichend erfassen läßt. Dennoch besteht aber auch aus unserer Sicht für die enge Verknüpfung von konkretem Rechtsverhältnis und Abwehranspruch des Eigentümers eine tiefe Berechtigung, die im Gedanken des absoluten Rechts selbst liegt. Als absolutes Recht begründet das Eigentum gegen jeden bestimmten Störer einen Anspruch des Eigentümers auf Abwehr dieser Störung. Dies ist die Absolutheit des dem Eigentümer gewährten Klageschutzes. Nur liegt in diesem Anspruch des Eigentümers nicht auch schon notwendig die Entscheidung des Konfliktes zwischen Eigentümer und Störer. Vielmehr verbleibt dem Störer die Möglichkeit, einen eigenen Anspruch gegen den Eigentümer anzuführen, der den Eigentümer zur Duldung verpflichtet und damit gewissermaßen den Anspruch des Eigentümers auf Abwehr dieser Störung zurückschlägt. Erst dieser Duldungsanspruch des Störers, in dem sich der Schrankenvorbehalt des Eigentums konkretisiert, führt dann zu einer abschließenden Konfliktsentscheidung zwischen Eigentümer und Störer. Auf dieser Grundlage unserer bereits oben ausführlich entwickelten Analyse des § 903 S. 1 BGB zugrundeliegenden Modells läßt sich nun auch das 172 vgl. Larenz y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 196).
ΠΙ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
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konkrete Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer näher bestimmen. Zunächst zeigt sich, daß die Vorstellung der Absolutheit des Klageschutzes fur das konkrete Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer eine fur die absoluten Rechte eigentümliche und typische Vorprägung des Rechtsverhältnisses als Abwehrrechtsverhältnis beinhaltet. Das bedeutet, daß jedes durch die Störung von Eigentum gestiftete konkrete Rechtsverhältnis durch den Gedanken der Abwehr dieser Störung strukturiert ist. Das konkrete Rechtsverhältnis selbst kann dann aber auch durch weitere hinzukommende Momente gekennzeichnet sein, welche die Störung zu begründen vermögen. In diesem Fall wird die Struktur des konkreten Rechtsverhältnisses als Abwehrrechtsverhältnis gewissermaßen zurückgedrängt. Die zentrale Bedeutung des konkreten Rechtsverhältnisses als Anspruchsgrundlage zwischen Eigentümer und Störer liegt somit darin, daß es einen Rahmen darstellt, der einerseits als Abwehrrechtsverhältnis strukturiert ist, aber dennoch auch die davon abweichenden Begründungsmomente aufzunehmen vermag. Im konkreten Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer konkretisiert sich also in jedem Falle die Absolutheit des Eigentums, darüber hinaus kann in ihm aber auch der Schrankenvorbehalt des Eigentums zur Konkretisierung gelangen. Wenn man einmal unter diesem Aspekt die Überlegungen von Larenz und Achterberg zum Verhältnis von abstraktem und konkretem Eigentumsverhältnis betrachtet, so liegt eine Schwäche ihres theoretischen Ansatzes darin, daß sich in ihm nur der Gedanke der Absolutheit der absoluten Rechte niederschlägt, während fur den Schrankenvorbehalt der absoluten Rechte kein Raum in ihrer Konzeption des Rechtsverhältnisses bleibt. Ohne eine Einbeziehung des Schrankenvorbehalts gelangt man aber auch nur zu einem unzureichenden Bild über Bedeutung und Wirkungsweise der absoluten Rechte. Der Gedanke eines konkreten Rechtsverhältnisses i.w.S. zwischen Eigentümer und Störer versucht, diesem Zusammenhang von absolutem Recht und Schrankenvorbehalt Rechnung zu tragen. Mit dem Begriff des konkreten Rechtsverhältnisses als "Rahmenrechtsverhältnis" 173 kommt allerdings auch Achterberg dieser Vorstellung sehr nahe. Der Gedanke des konkreten Rechtsverhältnisses als Anspruchsgrundlage beinhaltet nun noch keine abschließende Antwort auf die Frage, ob das Eigentum als absolutes Recht nicht bereits ein allgemeines Rechtsverhältnis gegenüber jedermann darstellt. Ohne hierzu eine abschließende Stellungnahme abzugeben, sollen hier aber Gründe angeführt werden, die jedenfalls doch eine gewisse Skepsis gegenüber dieser Vorstellung nahelegen. Soeben war gezeigt worden, daß der Gedanke eines allgemeinen Rechtsverhältnisses der Achtung des Eigentums als Grundlage für die verschiedenen Anspruchsentscheidungen im Verhältnis zwischen Eigentümer und Störer nicht genügt. Mit 173
Achterberg, Gedächtnisschrift fur Küchenhoff, 13 (25).
7 Schur
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dem im Eigentum liegenden allgemeinen Rechtsverhältnis läßt sich nur die Absolutheit des Eigentums zum Ausdruck bringen. Wenn man die Bedeutung des Rechtsverhältnisses fur die juristische Dogmatik allerdings in erster Linie darin sieht, daß es die rechtliche Grundlage fur die im Anspruch liegenden Entscheidungen darstellt, so scheint es uns näher zu liegen, fur das Eigentum den Begriff des Rechtsverhältnisses auf das konkrete Verhältnis zwischen Eigentümer und Störer zu beschränken. Im Gedanken der Absolutheit des Eigentums läge dann gewissermaßen nur eine Vorstufe fur dieses Rechtsverhältnis. 174 In der Vorstellung eines im Eigentum liegenden allgemeinen Rechtsverhältnisses scheint uns auch eine so hohe Abstraktion angelegt zu sein, daß ihr präziser Bedeutungsgehalt kaum noch zu fassen ist. Ausgehend vom Gedanken, daß danach jedermann das Eigentum zu achten hat, lassen sich mit dem Begriff des allgemeinen Rechtsverhältnisses nach unserer Auffassung zumindest zwei ganz verschiedene Sinnschichten verknüpfen. Achtung kann einmal die Achtung von bestimmtem Eigentum sein. Die Nichtbeachtung dieser "Achtungspflicht" stellt eine Störung des Eigentums dar, die einen Abwehranspruch des Eigentümers begründet. Mit dem Begriff der Achtung werden also gewissermaßen Verhaltensanforderungen für jedermann umschrieben, bei deren Nichtbeachtung ein Verhalten als Störung des Eigentums qualifiziert werden kann. 175 Achtung kann aber auch die Achtung im Sinne einer Anerkennung der Absolutheit des Eigentums sein. Dieser Sinn des Wortes Achtung wird vor allem durch die von Larenz vorgenommene Verknüpfung zwischen rechtlichem Grundverhältnis und dem allgemeinen Rechtsverhältnis des Eigentums nahegelegt. Die Bedeutung dieser Achtung scheint uns über den Bereich des durch § 903 S. 1 BGB umrissenen Eigentumsmodells weit hinauszugehen. Mit dem Begriff der Achtung von Eigentum wird auf diese Weise versucht, das Konstitutionsprinzip des Eigentums selbst zum Ausdruck zu bringen. Es ist hier die wechselseitige Anerkennung, durch die das Eigentum als absolut geschütztes Recht begründet wird. Der Gedanke der wechselseitigen Anerkennung der absoluten Rechte hat auf einer sehr hohen prinzipiellen Ebene durchaus seine Berechtigung. 176 Er vermag aber nur die Absolutheit
174 So auch Schapp, JuS 1992, 537 (544). Im übrigen deutet aber auch die sich etwa bei Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 12 I (S. 196), findende Annahme eines "latenten Rechtsverhältnisses" auf diese Bedeutung hin. Ist ein latentes Rechtsverhältnis bereits ein Rechtsverhältnis oder wird es erst zu einem solchen und stellt damit die Vorstufe eines Rechtsverhältnisses dar? 175 Diese Bedeutung der "Achtungspflichten" entspricht in etwa dem Sinn der schuldrechtlichen Sorgfaltspflichten. Zur Funktion dieser Sorgfaltspflichten vgl. Henß y Obliegenheit und Pflicht im Bürgerlichen Recht, S. 85 ff.; Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 7 I (S. 126). 176 vgl. unten zum "allgemeinen Rechtsverhältnis" als Konstitutionsprinzip 3. Teil III 2 a bb.
ΠΙ. Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Zivilrecht
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des Eigentums zu begründen, nicht aber notwendig auch ein im absoluten Recht selbst liegendes Rechtsverhältnis gegenüber jedermann. Im Hintergrund dieser Diskussion um das Verständnis der Absolutheit des Eigentums als Rechtsverhältnis steht eine sehr tiefgründige Problematik, nämlich die Unterscheidung von Rechtsstellung und Rechtsverhältnis. Begründet das Eigentum des bürgerlichen Rechts einen rechtlichen Status des einzelnen oder stellt es eine bloße rechtliche Regelung der Menschen untereinander im Hinblick auf Sachen dar? Wir haben im Verlauf unserer Überlegungen zum Eigentum immer wieder dargelegt, daß das absolute Recht eine dogmatische Figur darstellt, in der das Recht die im Eigentum liegenden Wertmomente anerkennt. In diesem Verständnis des Eigentums als subjektivem Recht scheint uns auch mitzuschwingen, daß die Anerkennung des Eigentums durch die Rechtsordnung der Konstituierung der Rechtsstellung des einzelnen dient, wenn auch diese Rechtsstellung immer schon im Hinblick auf die Rechte und die Rechtsstellung der Mitmenschen formuliert ist. Deshalb sehen wir im Eigentum als absolutem Recht eher einen Ausdruck der Rechtsstellung des einzelnen Rechtsinhabers als ein Rechtsverhältnis zu allen anderen. 177 Dieser Perspektive haben wir vor allem durch den Gedanken der Begründung von Ansprüchen aus dem Eigentum als einem absoluten Recht versucht, Rechnung zu tragen. Er verweist auf die Rechtsstellung als dem Grund der Abwehransprüche aus dem Eigentum. Ein vollständiges Bild der Begründung der rechtlichen Entscheidungen über Eigentumskonflikte unter Beachtung der Rechtsstellung von Eigentümer und Störer ermöglicht aber erst die Vorstellung eines zwischen ihnen bestehenden konkreten Rechtsverhältnisses. Insofern kann man davon sprechen, daß es erst die Rechtsstellung im Rechtsverhältnis ist, aus der heraus das Recht seine Entscheidungen begründet. Als Momente der Begründung entfalten die absoluten Rechte ihre Wirkung in konkreten Rechtsverhältnissen.
3. Zur Kritik des Habens Das absolute Recht stellt einen elementaren Baustein des Rechts dar, in dem sich die Rechtsstellung des einzelnen ausdrückt, die fur den Fall ihrer Störung zur Begründung konkreter Rechtsverhältnisse fuhrt. Zum Abschluß der Betrachtung zum Zivilrecht wollen wir uns an dieser Stelle mit einem denkbaren Einwand gegen die am Beispiel des Eigentums entwickelte These zur elementaren Bedeutung des absoluten Rechts auseinandersetzen. Es ist dies die Kritik am Eigentum als Ausdruck des Habens, die nicht nur das Ei177 Dagegen scheint Larenz annehmen zu wollen, daß das Eigentum als absolutes Recht Rechtsstellung und Rechtsverhältnis zugleich ist, vgl. ders., Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, §§ 12 I (S. 195 f.) u. III (S. 207).
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gentum, sondern auch die nach dem Vorbild des Eigentums gedeutete dogmatische Figur des absoluten Rechts betrifft. Dabei soll hier weder versucht werden, Argumente fur eine normativ-rechtliche Begründung des Privateigentums zusammenzutragen, noch kann hier eine umfassende philosophische Rechtfertigung des Eigentums in Angriff genommen werden. Aus der Kritik des Eigentums als Ausdruck des Habens greifen wir vielmehr nur einen fur uns zentralen Aspekt heraus, auf dessen Grundlage wir in aller Kürze Umrisse der dem Recht zugrunde liegenden philosophisch-anthropologischen Perspektiven andeuten, in denen auch die dogmatische Figur des absoluten Rechts ihren Grund findet. Es gibt eine lange historische Tradition der Kritik am Privateigentum. 178 Sie reicht - um nur einige wenige Stationen herauszugreifen - von Piatons Ablehnung des Eigentums fur die Wächter im "Staat", über die Utopien von Campanella und Morus zur Kritik von Marx am Privateigentum als einem Mittel der Unterdrückung und Ausbeutung. Im Bewußtsein unserer Gesellschaft, in der dem Eigentum tatsächlich eine zentrale Bedeutung zukommt, ist auch diese Kritik am Privateigentum lebendig; sie ist ein Teil unserer Kultur. Von Erich Fromm ist dieses Unbehagen in die fur viele Menschen greifbare Antithetik von "Haben oder Sein" gebracht worden. Das Eigentum - so der Grundgedanke Fromms, aber auch schon Piatons - fuhrt zu einer Existenzweise des Habens, welche die Seele verdirbt. 179 Demgegenüber gilt es zu einer Lebenshaltung der selbsttätigen Entfaltung der inneren menschlichen Kräfte zu gelangen, zur Existenzweise des Seins. 180 Wir lassen diese Thesen - ohne uns mit den Untersuchungen Fromms weiter auseinanderzusetzen - zunächst für sich stehen und stellen dieser Perspektive eine andere gegenüber. In der Rechtsphilosophie Hegels etwa oder auch in der Tradition der Rechtsphänomenologie tritt die Antithetik von Haben und Sein zurück zugunsten einer Deutung auch des Eigentums als Ausdruck des Seins. Für Hegel gibt sich die Person eine äußere Sphäre des Daseins, indem sie ihren vernünftigen Willen in die Sache legt. 1 8 1 Auch im Ei-
178
Große Teile davon sind zur Darstellung gebracht worden von Künzli, Mein und Dein. Zur Ideengeschichte der Eigentumsfeindschaft. 17 9 Fromm, Haben oder Sein, S. 73 ff. Vgl. auch die schöne Formulierung Piatons, Der Staat, 416 e, zur Erziehung der Wächer: "(...) Gold und Silber aber, muß man ihnen sagen, haben sie immer in ihrer Seele, göttliches und von den Göttern gegebenes, menschliches brauchen sie nicht noch außerdem (...)." 180 181
Fromm, Haben oder Sein, S. 88 ff.
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§41 ff. Vgl. dazu auch die Deutung der Eigentumstheorie Hegels durch J. Ritter, Person und Eigentum, in: ders., Metaphysik und Politik, S. 256 ff.
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gentum liegt damit ein Dasein der Person als Vernunft. 182 In den in der Tradition der Phänomenologie stehenden Untersuchungen Wilhelm Schopps entsteht Eigentum durch das Schaffen von Werken. 183 Diese Werke stehen als "Wozudinge" in einem durch das Schaffen des Ich gestifteten Wert- und Sinnzusammenhang.184 Sie sind das "Spiegelbild des Ich". 1 8 5 Die Frage, welche dieser beiden Perspektiven ihre größere Berechtigung hat, können und wollen wir hier nicht entscheiden. Für den hier zugrunde gelegten theoretischen Ansatz der Unterscheidung von Lebenswelt und Recht scheint uns das auch nicht notwendig zu sein. Auf dieser Grundlage läßt sich im Hinblick auf beide Positionen die zentrale Bedeutung der dogmatischen Figur des absoluten Rechts rechtfertigen. Das liegt fur ein Verständnis auch des Eigentums als Ausdruck der Person oder Persönlichkeit auf der Hand. Diese Vorstellung macht vor allem die existentielle Konfliktdimension deutlich, die im Streit um das Haben liegt, der mehr oder weniger einen großen Teil der zivilrechtlichen Prozesse beherrscht. Sie gibt eine Erklärung dafür, daß es den am Rechtsstreit Beteiligten häufig nicht einfach nur um das Streitobjekt geht, sondern um die Selbstbehauptung der Person. 186 Insoweit beinhaltet der Streit um das Haben auch den Streit um das Sein der Person. Aber auch mit der Entgegensetzung von Haben und Sein behält die als Ausdruck des Habens verstandene dogmatische Figur des absoluten Rechts ihre Berechtigung, die eben in dieser Unterscheidung liegt. Ohne daß wir damit meinen, dem Anliegen dieser Position in jeder Hinsicht gerecht zu werden, kann man fur die Rechtsdogmatik auch gerade der Trennung von Sein und Haben eine zentrale Bedeutung zumessen. Das Recht muß nicht in jeder Hinsicht dem Sein der Lebenswelt folgen, es verfugt in begrenztem Maße auch über die Möglichkeit, seine eigenen Formen und Strukturen auszubilden. Insofern könnte man im Haben auch eine tiefgründige Technik des Rechts der Bewältigung von Konflikten sehen. Die Bedeutung dieser Technik läge vor allem darin, daß der Streit um das Haben danach die Möglichkeit einer Abtrennung dieses Streites vom Sein der Person bietet, die auch schon eine erste Mäßigung und damit Bewältigung der Konfliktsituation beinhaltet. Der Kern des Seins wird gewissermaßen durch die Hülle des Habens dem Streit gedanklich entzogen. Das Haben dient so dem Schutze des Seins. Damit ste182 y g j Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 44: "(...) ich gebe dem Lebendigen als mein Eigentum eine andere Seele, als es hatte; ich gebe ihm meine Seele." 183
W. Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. II, S. 33 ff.
184
W: Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. II, S. 47 ff.; ders., In Geschichten verstrickt, S. 11 ff. 185 W. Schapp, Die Neue Wissenschaft vom Recht, Bd. II, S. 52. 186 So der zentrale Gedanke der Schrift v. Jherings, Der Kampf ums Recht. Vgl. auch Larenz y Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, § 2 II a.
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hen hier zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen des Habens nebeneinander: das Haben als Sein und das Haben als Schutz des Seins. Nur aus dieser Mehrdeutigkeit des Habens sind auch die absoluten Rechte zu verstehen.
IV. Die zivilrechtliche Dogmatik als Ausgangspunkt für die Begründung der Lehre des öffentlichen Rechts In dem hier dargelegten Sinne stellen Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis die Leitbegriffe der Dogmatik des Zivilrechts dar. Wie im folgenden gezeigt werden soll, läßt sich anhand dieser Leitbegriffe aber auch die Dogmatik des öffentlichen Rechts erschließen. Mit der Orientierung des öffentlichen Rechts an den ihrer Herkunft nach dem Zivilrecht entstammenden Begriffen des Anspruchs, des absoluten Rechts und des Rechtsverhältnisses gehen wir auf die Grundlagen in der Herausbildung der Dogmatik des öffentlichen Rechts zurück. Für die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwikkelte Konzeption des öffentlichen Rechts stellt die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht einen ihrer Eckpfeiler dar. In der gegenwärtigen Dogmatik des öffentlichen Rechts gehört diese Lehre zu einem ihrer Grundprobleme. 187 Sie ist - wie unlängst Hartmut Bauer 188 eindringlich gezeigt hat - in steter Orientierung an der Begrifflichkeit des Zivilrechts nach dem Vorbild der Lehre vom subjektiven privaten Recht konzipiert worden. Ganz besonders sinnfällig ist diese Herkunft der Lehre des subjektiven öffentlichen Rechts bei v. Gerber und Laband. Beide waren in ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung zunächst dem Zivilrecht zugewandt, bevor sie mit ihren grundlegenden Arbeiten dem öffentlichen Recht den Weg bereiteten. 189 Geistige Grundlage ihrer Konzeption des öffentlichen Rechts war dabei die Überzeugung, daß die dogmatischen Leitbegriffe des Zivilrechts ihrer Natur nach für die juristische Dogmatik von allgemeiner Bedeutung sind und sich dementsprechend in einer der Eigenart dieses Rechtsgebietes angemessenen Weise auf das öffentliche Recht übertragen lassen.190
187 Ygj ^azu zuletzt die ausfuhrliche Darstellung von Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht. 188
Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 73
ff. 189 Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 217 f.; Grimm, Art. "Öffentliches Recht II", Sp. 1207 f.; Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 74; außerdem die Untersuchung von Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, die im Untertitel lautet "Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft". 190 Vgl. v. Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 30: "(...) die ganze Summe allgemeiner juristischer Begriffe, welche im Privatrecht in ihrer Einfachheit und ursprünglichen Reinheit zergliedert werden, braucht auch das Staatsrecht, und zwar in ganz gleicher Weise." Ders. y a.a.O., S. 24: "Es mag schon jetzt ausgesprochen wer-
I V . Das Zivilrecht als Ausgangspunkt des öffentlichen Rechts
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Den hier angedeuteten Verbindungslinien zwischen öffentlich-rechtlicher und zivilrechtlicher Dogmatik wird heute nur noch selten größere Bedeutung zugemessen. Gelegentlich scheint hier auch die Auffassung vorzuherrschen, daß die Ursachen einer Reihe der Probleme des öffentlichen Rechts gerade in seiner entwicklungsgeschichtlich bedingten Orientierung an der Dogmatik des Zivilrechts liegen, so daß es darauf ankommen müsse, das öffentliche Recht von allen zivilrechtlichen Begriffen und Vorstellungen zu befreien. 191 Stattdessen könnte es demgegenüber zunächst einmal näher liegen, den Gedanken der Orientierung des öffentlichen Rechts an der Dogmatik des Zivilrechts auf seine heutige Tragfähigkeit zu untersuchen. Das bedeutet allerdings, daß man sich zunächst Gewißheit über den gegenwärtigen Stand der Zivilrechtsdogmatik verschafft, um im Anschluß daran sich Rechenschaft über die Bedeutung ihrer Leitbegriffe fur die Dogmatik des öffentlichen Rechts zu geben. Dieser Versuch ist hier unternommen worden. Dementsprechend ist von uns anhand der Leitbegriffe Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis zunächst der Kernbereich des zivilrechtlichen Anspruchs- und Wertsystems entwickelt worden. Ähnlich dem Zivilrecht läßt sich nach unserer Auffassung auch das öffentliche Recht als Anspruchs- und Wertsystem begreifen. Am Leitfaden des Gedankens der Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche sollen seine Umrisse im folgenden sichtbar gemacht werden.
den, daß mir der einzige Weg einer sicheren Begründung des positiven Staatsrechts in seiner formellen Wiederannäherung an das Privatrecht zu liegen scheint (...)·" Bei Labandy Staatsrecht, Bd. I, S. VII, heißt es: "Endlich ergibt sich, daß auf dem Gebiete des Staatsrechts zahlreiche Begriffe wiederkehren, welche ihre wissenschaftliche Feststellung und Durchbildung zwar auf dem Gebiete des Privatrechts gefunden haben, welche ihrem Wesen nach aber nicht Begriffe des Privatrechts, sondern allgemeine Begriffe sind. Nur müssen sie allerdings von den spezifischen privatrechtlichen Merkmalen gereinigt werden." Vgl. im übrigen auch etwa Fleiner, Uber die Umbildung zivilrechtlicher Institute durch das öffentliche Recht. In der gegenwärtigen Grundrechtsdiskussion findet sich die Überzeugung von einer allgemeinen Bedeutung der dogmatischen Begriffe des Zivilrechts etwa auch bei Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 65 II. 191 Vgl. die Kritik von E.-W. Böckenförde > Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 218 mit Fn. 34.
Dritter
Teil
Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Die herkömmliche Dogmatik des öffentlichen Rechts ist keine auf den Anspruch zugeschnittene Dogmatik. Das Versvaltungsrecht baut vielmehr auf dem Verwaltungsakt auf. Das Verfassungsrecht ist vor allem von der beherrschenden Bedeutung der Grundrechte geprägt. Im Mittelpunkt der Grundrechtsdogmatik stehen allerdings eher die unterschiedlichen Funktions- und Bedeutungsgehalte der Grundrechte; der Anspruch aus dem Grundrecht ist auch hier zumeist nur von untergeordneter Bedeutung. Damit zerfallt die Dogmatik des öffentlichen Rechts heute in zwei weithin unverbunden nebeneinanderstehende Teilgebiete.1 Denn für die auf dem Verwaltungsakt beruhende Dogmatik des Verwaltungsrechts und die durch die Grundrechtstheorien beherrschte Dogmatik des Verfassungsrechts gibt es keine gemeinsame Grundlage. Was beide in der herkömmlichen Dogmatik des öffentlichen Rechts miteinander verbindet, ist nur noch das öffentlich-rechtliche Gesetz selbst, das - aus zumeist nicht weiter geklärten Gründen - in viel stärkerem Maße im Mittelpunkt der öffentlich-rechtlichen Dogmatik steht als die zivilrechtlichen Regelungen fur die des bürgerlichen Rechts. Auch das öffentliche Recht läßt sich wie das Zivilrecht als Anspruchs- und Wertsystem begreifen. Der folgenden Darlegung geht es vor allem um die Grundlagen einer solchen Anspruchsdogmatik des öffentlichen Rechts. Mit der Orientierung des öffentlichen Rechts am Anspruch wird zunächst einmal der schon lange von Wilhelm Henke 1 angemahnte Schritt von der actio zum materiellen Recht vollzogen, wie ihn Windscheid fur das Zivilrecht getan 1 Auch Bauer y Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 130, konstatiert fur die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht "eine kategoriale 'Spaltung'". Die aus den Grundrechten verselbständigten verfassungsrechtlichen subjektiven Rechte stünden mehr oder weniger unverbunden neben den subjektiven Rechten des Verwaltungsrechts. Dieser Dualismus von Grundrechtslehre und verwaltungsrechtlicher Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht musse durch einen konzeptionellen Neuansatz überwunden werden, der die verfassungsrechtlichen und die verwaltungsrechtlichen subjektiven öffentlichen Rechte gleichermaßen einbeziehe, vgl. Bauer y a.a.O., S. 163. 2 Vgl. W. Henke y Das subjektive öffentliche Recht, § 2; ders. auch W D S t R L 28, 149 (163).
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ie Begründung von Ansprüchen
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hat.3 Eine öffentlich-rechtliche Anspruchsdogmatik schafft dann aber auch die Grundlage für eine Dogmatik des öffentlichen Rechts, die Verfassungs- und Verwaltungsrecht gleichermaßen umfaßt. Im Rahmen einer solchen öffentlichrechtlichen Anspruchsdogmatik kommt selbstverständlich auch den herkömmlichen Leitbegriffen der öffentlich-rechtlichen Dogmatik, also dem Verwaltungsakt und den Grundrechten, eine zentrale Bedeutung zu. Diese Orientierungspunkte gehen der öffentlich-rechtlichen Dogmatik also nicht etwa verloren. Dennoch scheinen in der öffentlich-rechtlichen Literatur tiefgreifende Vorbehalte dagegen zu bestehen, das öffentliche Recht als Anspruchsdogmatik zu begreifen. 4 Es entspricht offenbar einer unter Juristen überhaupt tiefverwurzelten Auffassung, das Anspruchsdenken für eine spezifisch zivilrechtliche Methode zu halten. Daß entgegen diesen Vorstellungen auch für das öffentliche Recht dem Anspruch eine zentrale dogmatische Funktion zukommt, ist ausführlich von Jan Schapp begründet worden. Schapp hat in seinem Buch "Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung" eine Anspruchstheorie vorgelegt, die für Zivilrecht und öffentliches Recht gleichermaßen gilt. Bereits die vorherigen Darlegungen basieren ganz wesentlich auf dem von Schapp herausgearbeiteten Verständnis der Funktion des Anspruchs für die juristische Dogmatik, das in seinen Grundzügen auch schon oben dargestellt wurde. Im folgenden soll daher zunächst nur noch einmal die spezifisch öffentlich-rechtliche Problemstellung in der Anspruchstheorie Schopps zur Darstellung gebracht und diskutiert werden (I). Dabei geht es vor allem um die Funktion des Anspruches als Konfliktsentscheidung im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Auf der Grundlage dieses Ansatzes wird sodann der Versuch unternommen, unter dem Gesichtspunkt der Begründung von Ansprüchen weitere Strukturteile des öffentlichen Rechts herauszuarbeiten, um so einer öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik festere Kontur zu geben. Als zentrale dogmatische Figur für die Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche von Staat und Bürger bietet sich hier zunächst das absolute Recht an (II). Sowohl die Freiheitsgrundrechte als auch die einzelnen, auf öffentlich-rechtlichem Gesetz beruhenden staatlichen Positionen lassen sich als absolute Rechte begreifen, die für den Fall ihrer Verletzung Abwehransprüche begründen. Mit der dogmatischen Figur des absoluten Rechts lassen sich für eine Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts vor 3 Vgl. Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts. Zur Entdeckung des Anspruchs als der zentralen dogmatischen Figur des bürgerlichen Rechts vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 1 m.w.N. 4
Vgl. nur etwa Ridder y Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 87, der befürchtet, daß "dem Eindringen eines am Zivilrecht orientierten Anspruchsdenkens in die Grundrechtslehre Vorschub geleistet werden kann." Ähnlich ders., a.a.O., S. 106.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
allem die Probleme bewältigen, die herkömmlicherweise dem Bereich staatlicher Eingriffe zugeordnet werden. Sie gibt damit - in ähnlicher Weise wie für das Zivilrecht - die Basis des öffentlich-rechtlichen Anspruchssystems. Es gibt nun aber eine Reihe von Problemkreisen, in denen die Leistungsfähigkeit der dogmatischen Figur des absoluten Rechts für die Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche überfordert ist. Hier kann aber die dogmatische Figur des Rechtsverhältnisses Grundlage für die Begründung von Ansprüchen sein. Die konkreten Rechtsverhältnisse des öffentlichen Rechts vermögen einen Begründungsrahmen für die Ansprüche von Staat und Bürger zu geben (III). Die Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts erlaubt schließlich eine Auseinandersetzung mit zentralen Denkansätzen der Grundrechtsdogmatik, die nicht nur die Grundlagen des öffentlichen Rechts, sondern des Rechts überhaupt berührt (IV).
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung im öffentlichen Recht 1. Die Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts von Jan Schapp Der zentrale Gedanke der Anspruchskonzeption Schapps ist die - zunächst für das Zivilrecht entwickelte - Auffassung vom Anspruch als rechtlicher Entscheidung über Konflikte der Lebenswelt.5 Das Recht entscheidet Konflikte, indem es die Voraussetzungen normiert, unter denen es vor allem wirtschaftliche Ansprüche anerkennt, und damit rechtliche Ansprüche begründet. Schapp legt nun weiter dar, daß die Auffassung vom Recht als Konfliktsentscheidung nicht nur für das Verhältnis der Bürger untereinander, also für das Zivilrecht, sondern auch für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat und damit für das öffentliche Recht gilt. 6 Auch das öffentliche Recht entscheidet Konflikte mit der Folge der Gewährung von Ansprüchen. Diese Sichtweise der Funktion des öffentlichen Rechts als Konfliktsentscheidung im Verhältnis zwischen Staat und Bürger spielt in der herkömmlichen Theorie des öffentlichen Rechts allerdings keine zentrale Rolle. Die traditionelle Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht beinhaltet nur eine Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten des einzelnen. Den staatlichen Positionen wird dagegen in diesem Zusammenhang üblicherweise die Qualifizierung als subjektive öffentliche Rechte, insbesondere also als Ansprüche, versagt.7 Dementsprechend steht im Mittelpunkt der Überlegungen 5
Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 60 ff.
6
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 152 ff.
7 Zu den Gründen für diese Auffassung vgl. ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 155 f.
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung im öffentlichen Recht
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in der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht auch gar nicht so sehr der Anspruch, also das subjektive öffentliche Recht, sondern das öffentlich-rechtliche Gesetz selbst, das diese subjektiven öffentlichen Rechte gewährt. Damit einher geht zumeist eine Betrachtung des öffentlichen Rechts vor allem unter dem Gesichtspunkt der Verhaltenslenkung durch den Staat, während die Funktion des öffentlich-rechtlichen Gesetzes als Konfliktsentscheidung nahezu völlig außer Blickweite gerät. Die Wurzeln dieser Sichtweise reichen, wie Schapp im einzelnen darlegt, bis hin zu den grundlegenden Konzeptionen Georg Jellineks zu einem System der subjektiven öffentlichen Rechte und Otto Mayers zur Systematik des Verwaltungsrechts zurück und prägen im wesentlichen auch heute noch die öffentlich-rechtliche Dogmatik.8 Den Grund dafür, daß die öffentlich-rechtliche Norm eine so beherrschende Stellung im öffentlichen Recht, insbesondere in der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht einnimmt, sieht Schapp vor allem darin, daß das öffentliche Recht auf dem Gedanken der Souveränität aufgebaut ist. 9 Der normative Ansatz der öffentlich-rechtlichen Dogmatik sei durch eine idealistische Überhöhung des Souveränitätsgedankens bestimmt. Das zeige etwa eine genauere Analyse des Prinzips des gesetzmäßigen Zwanges. 10 In dem Prinzip des gesetzlichen Zwanges sind, so Schapp, zwei ganz unterschiedliche Momente zu einer Einheit verschmolzen, in der die Struktur des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger kaum noch zum Vorschein kommt. Das eine Moment ist, daß der Staat öffentliche Aufgaben wahrnimmt, das andere Moment liegt darin, daß über diese staatliche Aufgabenwahrnehmung durch das Recht entschieden wird. Beide Momente, staatliche Aufgabenwahrnehmung und rechtliche Entscheidung darüber, sind zu dem einheitlichen Prinzip des gesetzmäßigen Zwanges zusammengefaßt. Der Ansatz des öffentlichen Rechts bei dem Gedanken der Souveränität legt nun aber in untergründiger Weise nahe, das staatliche Handeln ausschließlich als Ausübung von staatlicher Gewalt, also von Zwang, zu begreifen, der durch das Recht dann gebändigt wird. Das Recht ist damit in seiner Funktion auf die bloße Abwehr staatlicher Betätigung beschränkt. Es wird dann überhaupt nur noch dem Bürger, der Person, zugesprochen, während die Positionen des Staates - aufgrund seiner Souveränität - als allein aus sich heraus begründet erscheinen.11 Schapp setzt diesem Ansatz des öffentlichen Rechts nun die Auffassung entgegen, daß auch die Positionen des Staates als rechtliche Positionen begrif8
Vgl. ders.. Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 144 ff., 155
9
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 144, 152.
10
Ders. y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 152 f.
11
Vgl. ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 156.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprchen im öffentlichen Recht
fen werden müssen, daß also auch der Staat die von ihm verfolgten öffentlichen Interessen nur mit Hilfe von Ansprüchen durchsetzen kann. 12 Die Aufgabe des öffentlichen Rechts liegt damit - wie im Privatrecht - in der Entscheidung von Konflikten, und zwar über die Berechtigung der Aufgabenwahrnehmung durch den Staat im Verhältnis zum Bürger. Staat und Bürger sind insoweit gleichgeordnete Konfliktparteien, deren Interessen das Recht durch Gewährung oder Versagung von Ansprüchen abgrenzt. 13 Die Bedeutung einer solchen Anspruchskonzeption für das öffentliche Recht liegt - wie Schapp mit aller Deutlichkeit darlegt - zunächst einmal darin, daß dieser theoretische Ansatz es der öffentlich-rechtlichen Dogmatik erlaubt, sich von ihrer - zu Recht oft gerügten - all zu einseitigen Orientierung am prozessualen Rechtsschutzsystem zu lösen und stattdessen den Anschluß an die materielle Interessenebene zu gewinnen, die dem staatlichen Handeln zugrunde liegt und sein Wirkungsfeld bestimmt.14 Das Zivilrecht hat diesen Schritt der Entwicklung des materiellen Rechts als Grundlage des Prozeßrechts endgültig mit der Entdeckung des Anspruchs durch Windscheid getan. Dagegen ist das öffentliche Recht in der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, dann aber vor allem auch in der Lehre vom Verwaltungsakt weitgehend in der Orientierung am Prozeßrecht verharrt. Die Zielsetzung einer Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts liegt also darin, zunächst einmal die materiell-rechtlichen Grundlagen dieses Rechtsgebietes in den 12 Vgl. im einzelnen ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 154 ff. Die Auffassung, daß auch dem Staat subjektive öffentliche Rechte zukommen, wird in der neueren Lehre des öffentlichen Rechts zunehmend anerkannt, vgl. Erichs en, in: Erichsen/Martens f Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 II 5 e; W Henke, DÖV 1980, 621 (622 ff.); Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 172 ff.; ders., DVB1. 1986, 208 (209 ff.); Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 232 ff.; wohl auch Martens, KritV 1986, 104 (116 f.), und Scherzberg, DVB1. 1988, 129 (131). Für eine Beschränkung des subjektiven öffentlichen Rechts auf die Rechte des Bürgers aber Bleckmann, DVB1. 1986, 666 f. (dazu die Erwiderung von Bauer, DVB1. 1986, 667 f.); Krebs, Festschrift für Menger, 191 (207 ff.). Für Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 157, hat der Staat nicht subjektive Rechte, sondern "Kompetenzen, Pflichten und Verantwortungen". Die Begriffe der Kompetenz und des subjektiven Rechts scheinen uns allerdings unterschiedlichen Ebenen anzugehören. Der Begriff der Kompetenz umschreibt die Zuständigkeit des Staates zum Handeln. Er drückt damit in erster Linie ein Organisationsprinzip des Staates selbst aus: Die Kompetenz ist das Mittel, die einzelnen Ämter und Behörden an ihre Aufgaben zu binden, vgl. Rudolf\ in: Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 56 IV 1. Das subjektive Recht ist dagegen Ausdruck der Berechtigung staatlichen Handelns im Verhältnis zum Bürger (und ggf. auch im Verhältnis staatlicher Rechtssubjekte zueinander). Zum im übrigen durchaus ungeklärten Verhältnis von "subjektivem Recht" und "Kompetenz" vgl. nur Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 64 ff.; Bauer, Die Bundestreue, S. 282 ff. (m.w.N. S. 285 Fn. 165). 13 14
Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 152 f.
Ders., Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 154 ff.; skeptisch insoweit allerdings Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 66 ff. (insbes. Fn. 170, 175).
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung im öffentlichen Recht
109
Vordergrund der rechtsdogmatischen Arbeit zu rücken. Denn dem Prozeßrecht kann - trotz aller Eigenständigkeit - auch im öffentlichen Recht nur eine dienende Funktion im Hinblick auf die Entscheidungen des materiellen Rechts zukommen. Die öffentlich-rechtliche Anspruchskonzeption kommt damit wie bereits angedeutet zu einer anderen Akzentuierung der Funktion des öffentlich-rechtlichen Gesetzes und damit des öffentlichen Rechts selbst. Das öffentliche Recht ist mit dem im wesentlichen prozessual verstandenen Gesichtspunkt der Abwehr von staatlicher Betätigimg in keiner Weise zureichend erfaßt, vielmehr kommt den öffentlich-rechtlichen Normen eine eigentümliche Doppelfunktion zu, bei der materielle und prozessuale Elemente ineinander verschlungen sind. Auch das öffentlich-rechtliche Gesetz ist rechtliche Entscheidung über konkrete Sachkonflikte im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Der Staat und sein Handeln steht damit wie der Bürger unter dem Recht. 15 Weiter ist das öffentlich-rechtliche Gesetz dann aber nicht nur Konfliktsentscheidung, sondern es konturiert auch erst die staatlichen Positionen, die in Streit stehen. Der Staat hat ja im wesentlichen überhaupt nur die Möglichkeit, durch Gesetz zu agieren, und auf diese Weise seine öffentlichen Aufgaben zu erfüllen. Das öffentlich-rechtliche Gesetz ist also auch endgültiger Ausdruck der Willensbildung des Staates. Bei der Setzung von Recht lassen sich für das öffentliche Recht demnach zwei ganz unterschiedliche Aspekte voneinander unterscheiden. Im Gesetz legt der Gesetzgeber zunächst die von ihm verfolgten öffentlichen Aufgaben fest, des weiteren entscheidet er dann aber auch - gewissermaßen in eigener Sache - über die Berechtigung dieses staatlichen Handelns im Verhältnis zu den privaten Interessen der Bürger. 16 Das öffentlich-rechtliche Gesetz ist also die Art und Weise, wie der Staat sein Handeln bestimmt, zugleich will es aber immer auch zulässiges und in diesem Sinne rechtmäßiges Handeln sein. Eine vergleichbare Doppelfunktion wie der Gesetzgebung kommt auch dem Verwaltungshandeln zu. Die Verwaltung wird in weiten Bereichen auf der Grundlage gesetzlicher Ermächtigungen durch Verwaltungsakt tätig. Auch im Handeln durch Verwaltungsakt lassen sich zwei Momente voneinander trennen. Zum einen verfolgt die Behörde hierbei materiellrechtliche Ansprüche gegen den Bürger und nimmt auf diese Weise öffentliche Aufgaben wahr. Mit dem Instrument des Verwaltungsakts ist der Verwaltung aber zugleich 15 Vgl. dazu auch Schenke y Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 236: "Der Sinn der Bejahung subjektiver staatlicher Rechte, wie überhaupt der staatlichen Rechtsfähigkeit, liegt (...) in erster Linie darin, die Rechtsmacht des Staates als eine rechtlich verfaßte zu begreifen und, insoweit durchaus übereinstimmend mit der Teleologie der subjektiven öffentlichen Rechte des Bürgers, ein zusätzliches Fundament zu schaffen, um das Verhältnis zwischen Staat und Bürger zu verrechtlichen (...)·" 16
Schapp y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 4 1 f.
110
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
auch die Möglichkeit gegeben, ihre Ansprüche selbst in vollstreckbarer Weise durchzusetzen.17 Auch auf der Ebene des Verwaltungsrechts entscheidet der Staat also - hier die jeweilige Behörde - jedenfalls vorläufig zugleich auch über die Berechtigung des in Frage stehenden staatlichen Handelns. Diese Janusköpfigkeit allen staatlichen Handelns - sei es Verwaltung, sei es Gesetzgebung - gibt den eigentlichen Grund dafür, daß das öffentliche Recht zumeist vom Rechtsschutzsystem her konzipiert wird. Im Zivilprozeß ist es so, daß deijenige Klage erheben muß, der eigene Ansprüche durchsetzen will. Anders dagegen im öffentlichen Recht: Die Möglichkeit des Staates, vorläufig verbindliche Entscheidungen in eigener Sache zu fällen, fuhrt im Vergleich zum Zivilrecht zu einer Vertauschung der Rollen der beiden Konfliktparteien. Im Verwaltungsprozeß ist es der Bürger, der gegen staatliches Handeln Klage erheben muß, um die Durchsetzung staatlicher Ansprüche mit Hilfe von eigenen Ansprüchen abzuwehren.18 Diese Vertauschung der Parteirollen im Verwaltungsrechtsstreit hat in der Theorie des öffentlichen Rechts dazu geführt, daß fast überhaupt nur noch der Gesichtspunkt der Abwehr staatlicher Betätigung thematisiert wird, während der dem Rechtsschutz vorgelagerte Vorgang der Verfolgung von Ansprüchen durch den Staat nahezu völlig außer Blick geraten ist. 19 Sowohl in der Tätigkeit des Gesetzgebers als auch dem Handeln der Verwaltung sind also materielle und prozessuale Momente miteinander verbunden. Dennoch läßt sich beides unterscheiden. Die Verwaltung erhebt - unter Berufung auf gesetzliche Entscheidungen - öffentlich-rechtliche Ansprüche, die sie zugleich in vollstreckbarer Weise durch Verwaltungsakt festsetzt. Mit der Aufstellung der öffentlich-rechtlichen Normen durch den Gesetzgeber werden die staatlichen Aufgaben festgelegt. Auch dies geschieht in einer Weise, die zu ersten Konsequenzen für den öffentlich-rechtlichen Konflikt führt. Die öffentlich-rechtlichen Gesetze sind in ihren Entscheidungen zwar grundsätzlich nicht selbst vollstreckbar (vollstreckt werden vielmehr erst die auf der Grundlage dieser Gesetze durch die Verwaltung erhobenen Ansprüche), aber sie sind doch verbindlich, auch wenn Rechtsfolgen aus den Gesetzen zumeist erst durch weitere staatliche Tätigkeit ausgelöst werden. Die öffentlich-rechtliche Norm ist damit nicht nur die Art, wie der Staat überhaupt agiert, sondern wie er zugleich auch verbindlich, eben in rechtsverbindlicher Weise, handelt.
17 Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 159; ähnlich W. Henke, DÖV 1980, 621 (629). 18 Zur Verknüpfung einer öffentlich-rechtlichen Anspruchskonzeption mit dem Prozeßrecht vgl. eingehend W. Henke, DÖV 1980, 621 (628 ff.). 19 Vgl. dazu Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 158 und auch S. 175 ff.
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung im öffentlichen Recht
111
In der den Staatsfunktionen der Gesetzgebung und der Verwaltung gegebenen Möglichkeit, in rechtsverbindlicher Weise zu handeln, liegt der sachliche Kern des üblicherweise zwischen Staat und Bürger angenommenen Verhältnisses der Uber- und Unterordnung. Die Überordnung des Staates über den Bürger liegt darin, daß der Staat seine Rechte selbst in verbindlicher Weise festsetzen kann. 20 In anderer Weise wäre die Organisation der Staatstätigkeit auch kaum denkbar. 21 Die Unterordnung des Bürgers kommt im wesentlichen darin zum Ausdruck, daß die Festsetzungen des Staates für ihn gelten, es sei denn, er wehrt sich gegen sie. Diese Möglichkeit des Bürgers, die Richtigkeit einer staatlichen Entscheidung anzuzweifeln und im Rechtsstreit überprüfen zu lassen, macht deutlich, daß das Handeln des Staates zwar für den Bürger verbindliches Handeln ist, aber doch nur vorläufig verbindliches Handeln. Der Bürger kann die Richtigkeit und damit auch Verbindlichkeit der staatlichen Entscheidung im Prozeß immer in Frage stellen. Im Prozeß sind der Staat sei es als Gesetzgeber, sei es als Verwaltungsbehörde - und der Bürger wieder Gleichgeordnete unter dem Recht und gegebenenfalls unter dem Verfassungsrecht. 22 Es handelt sich dann um einen Konflikt, in dem um das Bestehen materieller Positionen gestritten wird, um öffentlich-rechtliche Ansprüche. Für eine Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts hat Schapp einige Einzelfälle erörtert, in denen zwischen Staat und Bürger öffentlich-rechtliche Anspruchsbeziehungen bestehen. Dabei hat er im Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürger vor allem den staatlichen Anspruch auf Zahlung von Steuern näher dargelegt, dann aber auch eine Reihe weiterer Ansprüche des Staates gegen den Bürger im Bereich der sog. Eingriffsverwaltung. 23 Als Ansprüche des Bürgers gegen den Staat werden die öffentlich-rechtlichen Entschädigungsansprüche herausgehoben.24 Für den Bereich des Verfassungsrechts steht im Mittelpunkt der Darlegungen Schapps eine ausführliche Begründung der Abwehransprüche des Bürgers gegen den Staat aus dem Grundrecht. 25 Hier wird jetzt auch das Verfassungsgesetz als Konfliktsentscheidung verstanden zwischen öffentlich-rechtlichem Gesetzgeber und wirtschaftlichem Eigentümer im Hinblick auf die Richtigkeit der Rechtssetzung.26 Soweit der Gesetzgeber seine Rechtsschöpfungsfunktion verfehlt hat, stehe dem wirt-
20
Henkey
Vgl. ders.. Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 158; W. DÖV 1980, 621 (628).
21
Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 158.
22
Vgl. W. Henkey DÖV 1980, 621 (630). Vgl. Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 173 ff. Vgl. ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 179 f.
23 24 25
Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 181 ff.
26
Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 181, 187 ff.
112
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
schaftlichen Eigentümer ein Anspruch aus dem Grundrecht gegen den öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber auf Aufhebung des Gesetzes zu. 2 7 2. Das Problem der Systembildung für die Ansprüche des öffentlichen Rechts Für die von Schapp entwickelte öffentlich-rechtliche Anspruchskonzeption ergibt sich vor allem das Problem, wie sich eine Systematisierung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche erreichen läßt, die Grundlage für eine Anspruchsdogmatik des öffentlichen Rechts sein könnte. Schapp selbst scheint diese Frage eher skeptisch beurteilt zu haben. Nach seiner Auffassung müßte einem System der öffentlich-rechtlichen Ansprüche wohl ein System der öffentlichen Aufgaben zugrunde liegen. Ein solches System hält er mit guten Gründen - ebenso wie etwa ein System der Lebensverhältnisse für das Zivilrecht - für nicht möglich.28 Der entscheidende Grund dafür, warum Schapp in seiner Darlegung der öffentlich-rechtlichen Anspruchskonzeption zu keiner weiteren Systematisierung der Ansprüche gelangt ist, liegt nach unserer Auffassung aber noch in einer anderen Richtung. Schapp beschränkt sich im wesentlichen darauf, den öffentlich-rechtlichen Anspruch als Strukturteil des Wirtschaftsgefüges darzustellen. Entsprechend dem Gesamtansatz der Arbeit wird dabei der öffentlichrechtliche Anspruch den wirtschaftlichen Spannungsbeziehungen zwischen Staat und Bürger nachgezeichnet. Nun weist allerdings nicht jeder Anspruch, insbesondere nicht im öffentlichen Recht, klare wirtschaftliche Konturen auf, so daß dieser Ansatz allein noch keine hinreichende Grundlage für eine Systematisierung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche bietet. Für die Aufgabe einer Systematisierung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche hat man sich unserer Einschätzung nach zunächst einmal Klarheit darüber zu verschaffen, ob man die öffentlich-rechtliche Anspruchsdogmatik dem Schuldrecht oder aber dem Sachenrecht nachbildet.29 Dem Gedanken von Schapp y den öffentlich-rechtlichen Anspruch den wirtschaftlichen Spannungsbeziehungen zwischen Staat und Bürger nachzuzeichnen, scheint uns eine vornehmlich schuldrechtliche Perspektive zugrunde zu liegen, wie überhaupt die
27
Ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 188.
28
Vgl. ders.y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 153, auch S. 172. 29 Die Frage, ob man das öffentliche Recht vom Schuldrecht oder aber vom Sachenrecht her konzipiert, scheint uns nicht nur für eine Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts, sondern für die Strukturbildung im öffentlichen Recht überhaupt von schlechthin zentraler Bedeutung zu sein. Diese Problemstellung hat vor allem die Schrift von W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, vgl. etwa S. 101, 109, 119, mitbestimmt.
I. Der Anspruch als Konfliktsentscheidung im öffentlichen Recht
113
Anspruchstheorie Schapps in seiner Schrift "Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung" im wesentlichen vom schuldrechtlichen Anspruch her konzipiert ist. Das ergibt sich vor allem daraus, daß im Mittelpunkt dieser Anspruchskonzeption der durch das Recht anerkannte wirtschaftliche Anspruch steht, der etwa vom wirtschaftlichen Eigentum scharf unterschieden wird. Als wirtschaftlicher Anspruch läßt sich im engeren Sinne aber nur der schuldrechtliche Anspruch begründen, denn nur er läßt sich als unmittelbarer Ausdruck einer wirtschaftlichen Spannungsbeziehung begreifen. Dagegen kann der dingliche Anspruch doch wohl eher nur als rechtliche Nachbildung des schuldrechtlichen Anspruches aufgefaßt werden. Auf der wirtschaftlichen Ebene wird durch den dinglichen Anspruch weniger der Streit um einen wirtschaftlichen Anspruch entschieden als vielmehr der Konflikt um das wirtschaftliche Eigentum selbst. Dieser Konflikt um wirtschaftliches Eigentum sowie seine Entscheidung durch den dinglichen Anspruch läßt sich allein mit dem Gedanken der rechtlichen Anerkennung von wirtschaftlichen Ansprüchen nicht mehr in seiner ganzen Tragweite erfassen. Hier scheint dann auch der tiefere Grund dafür zu liegen, warum Schapp fur seine öffentlich-rechtliche Anspruchskonzeption keine weiteren Strukturen hat auffinden können. Eine Reihe von Konflikten des öffentlichen Rechts läßt sich unserer Auffassung nach eher den Konflikten um wirtschaftliches Eigentum als denen um wirtschaftliche Ansprüche vergleichen. Fur eine Systematisierung der öffentlichrechtlichen Ansprüche kann daher eine bloße schuldrechtliche Perspektive auf das öffentliche Recht nicht genügen. Eine öffentlich-rechtliche Anspruchsdogmatik bedarf zumindest der Ergänzung durch eine sachenrechtliche Perspektive auf das öffentliche Recht. Ein konzeptioneller Ansatzpunkt, der es erlaubt, eine öffentlich-rechtliche Anspruchstheorie sowohl vom Blickwinkel des Schuldrechts als auch dem des Sachenrechts her zu entwickeln, liegt in dem Gedanken der Begründung von Ansprüchen. In seinen späteren Schriften hat Schapp den Gesichtspunkt der rechtlichen Anerkennung eines wirtschaftlichen Anspruchs in diesen weiteren Zusammenhang der Begründung von Ansprüchen gestellt und auf seiner Grundlage das Anspruchssystem des bürgerlichen Rechts entwickelt, wie es oben in seinen Grundzügen auch schon dargestellt wurde. Der Gedanke der Begründung von Ansprüchen erlaubt im Hinblick auf das zivilrechtliche Anspruchssystem vor allem eine scharfe Unterscheidung von schuldrechtlichem und dinglichem Anspruch. Dann stellt er den Anspruch selbst aber auch in größere Zusammenhänge, wie sie etwa mit dem Eigentum oder dem Schuldverhältnis gegeben sind, aus denen heraus die Konfliktsentscheidung schließlich erfolgt. Diese weiträumigen Perspektiven, die der Gedanke der Begründung von Ansprüchen ermöglicht, geben nach unserer Auffassung auch die Grundlage fur eine Systematisierung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche. Nicht anders als das zivilrechtliche Anspruchssystem beruht auch das öffent-
8 Schur
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
lich-rechtliche Anspruchssystem auf den unterschiedlichen Arten ihrer Begründung. 30 Unter dem Gesichtspunkt der Begründung von Ansprüchen lassen sich fur das öffentliche Recht zunächst einmal die Ansprüche des Bürgers aus dem Grundrecht fassen, und hier insbesondere die sog. Abwehransprüche. Als Begründungsmomente beinhalten die Grundrechte materielle Positionen des Bürgers gegenüber dem Staat. Dagegen resultieren die staatlichen Ansprüche gegen den Bürger in aller Regel aus dem einzelnen öffentlich-rechtlichen Gesetz, der staatliche Anspruch bedarf insoweit einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Wie die Grundrechte geben also auch die öffentlich-rechtlichen Gesetze Begründungsmomente. Die öffentlich-rechtlichen Gesetze beinhalten damit materielle Positionen des Staates gegenüber dem Bürger. Diese durch öffentlich-rechtliches Gesetz begründeten materiellen Positionen des Staates stehen in einem bestandigen Spannungsverhältnis zu den materiellen Grundrechtspositionen des Bürgers. Die Aufgabe der Anspruchsdogmatik des öffentlichen Rechts könnte man zunächst darin erblicken, sowohl die materiellen Positionen des Bürgers als auch die materiellen Positionen des Staates zu entwickeln und in ein Verhältnis zueinander zu setzen. In der Tat ruht unter materiellen Gesichtspunkten das öffentliche Recht auf diesen zwei Säulen, den materiellen Positionen des Staates einerseits und den materiellen Positionen des Bürgers andererseits. Die Schwierigkeit fur die Dogmatik des öffentlichen Rechts liegt nun darin, daß sich eine dieser beiden Säulen einer festen Zementierung entzieht: Die Positionen des Staates entziehen sich einer scharfen Konturierung, weil das - wie Schapp mit Recht bemerkt hat - bedeuten müßte, die staatlichen Aufgaben selbst zu beschreiben. Die Umrisse der anderen Säule, nämlich der Positionen des Bürgers gegenüber dem Staat, lassen sich hingegen - wie auch der Stand der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik zeigt - doch mit einiger Schärfe und Präzision aufzeigen. Es liegt damit nahe, die Anspruchsdogmatik des öffentlichen Rechts von den Grundrechtspositionen des Bürgers her zu entwickeln, um in dieses Gefuge dann die allein aus sich heraus nicht konturierbaren staatlichen Positionen zu integrieren. Den konzeptionellen Ansatzpunkt fur die auf den Grundrechtspositionen des Bürgers aufbauende Anspruchsdogmatik des öffentlichen Rechts erblicken wir in der dogmatischen Figur des absoluten Rechts. Als absolute Rechte lassen sich die Grundrechtspositionen des Bürgers begreifen und in bezug auf sie dann in einem gewissen Sinne auch die durch das einzelne Gesetz konturierten staatlichen Positionen. Ziel der folgenden Darlegung ist es zunächst, den Gedanken der Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche von Bürger und 30 Zur Bildung des zivilrechtlichen Anspruchssystems auf der Begründungsseite vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 IV 4.
Π. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
115
Staat aus absoluten Rechten näher zu umreißen und auch in ein Verhältnis zu dem bisherigen Gerüst der Dogmatik des öffentlichen Rechts zu setzen (II). Das absolute Recht ist seiner Herkunft nach eine dogmatische Figur des Sachenrechts. Daß wir das absolute Recht als elementaren Baustein der Anspruchsdogmatik des öffentlichen Rechts ansehen und nicht etwa den (schuldrechtlich verstandenen) Anspruch, beinhaltet also eine sachenrechtliche Perspektive auf das öffentliche Recht. Wie im Zivilrecht gibt damit auch im öffentlichen Recht der sachenrechtliche Ansatz das Fundament der Anspruchsdogmatik. Im Zivilrecht baut dann aber weiter auf das Sachenrecht das Schuldrecht mit seiner dogmatischen Figur des Schuldverhältnisses auf. Auch für die öffentlich-rechtliche Anspruchsdogmatik halten wir eine solche Ergänzung der sachenrechtlichen durch die schuldrechtliche Perspektive für sinnvoll. Denn mit der dogmatischen Figur des absoluten Rechts lassen sich gewissermaßen nur die Eckpunkte der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik festmachen. Die über diese Punkte hinausgehenden Problembereiche bedürfen anderer Lösungstechniken juristischer Dogmatik. Hier bietet sich vor allem das Rechtsverhältnis an. Mit dem Rechtsverhältnis wird das jeweilige konkrete Verhältnis zwischen Staat und Bürger zum Anknüpfungspunkt für die Entscheidung eines Konfliktes genommen. Das öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis ist damit eine weitere dogmatische Figur, die der Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient (III).
Π. Die Begründung von Ansprüchen des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten 1. Die Unterscheidung von absolutem Recht und Anspruch als Grundlage einer öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik Mit der dogmatischen Figur des absoluten Rechts lassen sich vor allem Abwehransprüche begründen, also Ansprüche auf Beseitigung von Beeinträchtigungen und Ansprüche auf Unterlassung künftiger Beeinträchtigungen.31 Aus diesem Grunde wird der Gedanke der Begründung von Ansprüchen zunächst für diesen Bereich der Grundrechte als Abwehrrechte entwickelt, der nach unserer Auffassung auch den Kernbereich einer öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik ausmacht. Dabei konzentrieren wir uns auf die sog. Frei-
31 Auf der Grundlage der dogmatischen Figur des absoluten Rechts bedarf es für die Rechtfertigung von Beseitigungs- und Unterlassungsansprüchen keiner weiteren Begründung mehr, das Entstehen dieser Ansprüche im Falle der Beeinträchtigung oder der zu erwartenden Beeinträchtigung des absoluten Rechts ist hier unproblematisch. Vgl. auch W. Henke, Festschrift für W . Weber, 495 (503).
116
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
heitsgrundrechte. Inwiefern auch die Gleichheitsgrundrechte Abwehransprüche begründen, kann erst im Anschluß daran erörtert werden. 32 Das Freiheitsgrundrecht in seiner Funktion als Abwehrrecht läßt sich nun nicht allein aus sich heraus verständlich machen. Ein vollständiges Bild des Bereiches von Eingriffen in Freiheitspositionen des Bürgers und der Funktion des Grundrechts in diesem Bereich setzt auch eine zureichende Qualifizierung der hier in Frage stehenden staatlichen Positionen durch die öffentlich-rechtliche Dogmatik voraus. Dafür bietet sich nach unserer Auffassung ebenfalls die dogmatische Figur des absoluten Rechts an. Grundlage einer öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik sind damit fur uns das Freiheitsgrundrecht als absolutes Recht und das öffentlich-rechtliche Eingriffsgesetz selbst, das wir ebenfalls als absolutes Recht begreifen. Diese absoluten Rechte, die absoluten Rechte des Bürgers und die absoluten Rechte des Staates, begründen auch die jeweiligen öffentlich-rechtlichen Ansprüche von Bürger und Staat. Die Freiheitsgrundrechte sind absolute Rechte, die im Falle der widerrechtlichen Störung Ansprüche gegen den Staat begründen. Diese Abwehransprüche aus dem Grundrecht sind von dem Grundrecht selbst als einem absoluten Recht zu unterscheiden. Der Grundrechtsanspruch ist - wie man in Anlehnung an eine Formulierung v. Savignys* 3 sagen könnte - das Grundrecht im Zustande seiner Verteidigung. Auch eine Vielzahl von Ansprüchen des Staates gegen den Bürger resultiert aus Positionen, die sich als absolute Rechte begreifen lassen. Die Verfolgung von Ansprüchen des Staates im Eingriffsbereich geschieht nahezu ausschließlich durch Handeln der Verwaltungsbehörden, insoweit wird zumeist von "Eingriffsverwaltung" gesprochen. Sämtliches Handeln ist hier an den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gebunden. Von dessen beiden Ausprägungen ist vor allem das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes von schlechthin zentraler Bedeutung. Dieses Prinzip besagt, daß jedes Handeln der Verwaltung in diesem Bereich einer Ermächtigungsgrundlage durch Gesetz bedarf. Diese Ermächtigungsgrundlagen, die man auch als "Befugnisnormen" 34 bezeichnen kann, geben nach unserer Auffassung die Begründung für die Ansprüche der Verwaltung. 35 Man würde das Prinzip des Vorbehalts des 32
Vgl. unten III 4. System des heutigen Römischen Rechts, Bd. V , S. 2: "Indem wir ein Recht in der besonderen Beziehung auf die Verletzung desselben betrachten, erscheint es uns in einer neuen Gestalt, im Zustand der Verteidigung." 33
34
Die Rede von "Befugnisnormen" oder staatlichen "Eingriffsbeftignissen" ist in der Dogmatik des öffentlichen Rechts durchaus üblich, insbesondere im Polizeirecht, vgl. nur etwa Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Rdz. 139 ff. 35 Vgl. dazu auch Ossenbähl, in: Erichs en/M art ens, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 5 I (S. 64): "Das Gesetz schafft im Rahmen des sog. Gesetzesvorbehalts die rechtliche Grundlage für administrative Eingriffe in den Rechtskreis des Bürgers (Eingriffsermächtigung). (...) Es bildet - in der Terminologie des Zivilrechts gesprochen -
Π. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
117
Gesetzes jedoch mißverstehen, wenn man es ausschließlich unter dem formalen Gesichtspunkt der Bindung der Verwaltung an die Gesetze betrachtete. Das öffentlich-rechtliche Gesetz ist nicht nur das technische Mittel, mit dem der parlamentarische Gesetzgeber die Abhängigkeit der Verwaltung von seinen Entscheidungen sicherstellt, sondern es ist auch Bestimmung und Ausdruck der staatlichen Zwecke, die verfolgt werden. Die Bindung der Verwaltung an diese Gesetze hat damit auch die Funktion, durch den im Gesetz ausgedruckten Zweck das Handeln der Verwaltung in einem materiellen Sinne zu rechtfertigen und in diesem Sinne zu begründen. Die öffentlich-rechtlichen Eingriffsgesetze geben also inhaltliche Begründungsmomente fur die staatlichen Ansprüche, insofern lassen sie sich als absolute Rechte begreifen. Nach unserer bisherigen Darstellung lassen sich im Eingriffsbereich folgende Gesichtspunkte unterscheiden: zunächst das Grundrecht als absolutes Recht, dann der Abwehranspruch aus dem Grundrecht, weiter die öffentlichrechtliche Befugnisnorm als absolutes Recht und schließlich der staatliche Anspruch aus dem öffentlich-rechtlichen Gesetz. Wie sind diese einzelnen Bausteine, aus denen sich nach unserer Auffassung das Grundgerüst der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik zusammensetzt, aufeinander bezogen? Nach der Funktion der einzelnen Strukturteile liegt es nahe, das Grundrecht und das öffentlich-rechtliche Gesetz der gleichen Ebene zuzuordnen. Als absolute Rechte geben beide Begründungsmomente und konstituieren so eine Ebene der Begründungen, die Begründungsebene. Bei den Ansprüchen aus dem Grundrecht und aus dem öffentlich-rechtlichen Gesetz handelt es sich dann um die aus den Begründungen gewonnenen konkreten Entscheidungen. Im Hinblick auf diese Entscheidungen kann man von einer Anspruchsebene sprechen. Das öffentliche Recht läßt sich damit in zunächst noch sehr grober Weise durch die Unterscheidung von Begründungsebene und Anspruchsebene strukturieren. Zur Erhellung der Bedeutung, die in dieser Unterscheidung liegt, mag hier der Hinweis darauf genügen, daß wir darin im Kern auch die Unterscheidung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht zum Ausdruck gebracht sehen. Das Verfassungsrecht läßt sich zum großen Teil unter dem Gesichtspunkt der Begründung von Entscheidungen begreifen, das Verwaltungsrecht ist dagegen im wesentlichen das Recht der öffentlich-rechtlichen Ansprüche. Die folgende Darlegung versucht eine Reihe von Fragen und Einwänden, die unsere knappe Skizze zur Begründung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche aus absoluten Rechten aufwirft, zu erörtern, um so auch das Gerüst der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik deutlicher hervortreten zu lassen. Hier lassen sich im wesentlichen zwei Problemkreise voneinander trennen. die Anspruchsgrundlage im Verhältnis zwischen Hoheitsträger und Bürger." (Hervorhebung von Ossenbühl.)
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Von grundlegender Bedeutung ist zunächst die Frage, was uns dazu berechtigt, erst das Freiheitsgrundrecht und Hann aber auch die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm als absolutes Recht aufzufassen (2 a, 2 b). Eng verknüpft mit dieser Frage ist das Problem, ob der Begriff des absoluten Rechts nicht überhaupt nur ein Begriff der zivilrechtlichen Dogmatik ist, dem für das öffentliche Recht keine Bedeutung zukommen kann. Für eine Lösung dieses Problems dürfte eine Besinnung auf die Funktion der Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht hilfreich sein (2 c). Ein zweiter Problemkreis betrifft das bisher nur kurz umrissene Verhältnis von Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Hier könnte vor allem die Auffassung, daß das Verfassungsrecht im wesentlichen Begründungsmomente für Entscheidungen gibt, zu Mißverständnissen Anlaß geben. Auch die Normen des Grundgesetzes sind unmittelbar geltendes Recht und stellen in diesem Sinne Entscheidungen dar. Eine nähere Bestimmung der Funktion des Verfassungsrechts und damit auch seines Verhältnisses zum Verwaltungsrecht erfordert daher nach unserer Auffassung eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie in einer Begründung zugleich auch eine Entscheidung liegen kann (3). Erst im Anschluß an die Darstellung unserer Vorstellungen zur Begründung öffentlich-rechtlicher Ansprüche aus absoluten Rechten setzen wir uns mit den bisherigen Überlegungen in der öffentlich-rechtlichen Literatur zum absoluten Recht auseinander (4). 2. Das absolute Recht als dogmatische Figur des öffentlichen Rechts a) Das Freiheitsgrundrecht
als absolutes Recht
Was ist ein absolutes Recht und welche Bedeutung hat es für die Dogmatik des öffentlichen Rechts? Im zweiten Teil unserer Untersuchung haben wir für das Zivilrecht unser Verständnis vom Eigentum als einem absoluten Recht dargelegt. Als absolute Rechte kann man solche Rechte bezeichnen, die sich in ähnlicher Weise umschreiben lassen wie für das Zivilrecht das Eigentum. Nach § 903 S. 1 BGB kann der Eigentümer einer Sache mit ihr nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Damit ist das Eigentum in ganz prinzipieller Weise durch zwei Befugnisse umschrieben, die Einwirkungs- und die Ausschließungsbefugnis. Als absolutes Recht läßt sich nun zunächst einmal jedes Recht begreifen, das sich nach dem Vorbild des Eigentums mit den Kategorien der Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis sinnvoll umschreiben läßt. Für ein absolutes Recht sind aber noch weitere Momente charakteristisch. Das absolute Recht ist - wie wir bereits oben dargelegt haben - eine Figur der juristischen Dogmatik, deren Zweck es ist, ein Wertprinzip für die juristische Arbeit handhabbar zu machen. Das geschieht auf zweierlei Weise. Zunächst einmal liegt jedem absoluten Recht ein be-
Π. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
119
stimmtes Wertprinzip (wie etwa das Eigentum) zugrunde, das mit dem jeweiligen absoluten Recht als Begründungsmoment durch die Rechtsordnung anerkannt ist. Dieses Wertprinzip stellt zugleich den Grund fur die dem jeweiligen Inhaber des absoluten Rechts eingeräumten Befugnisse dar. Das bedeutet, daß das Wertprinzip auch der Begründung von Ansprüchen aus dem jeweiligen absoluten Recht dient, denn in der Ausschließungsbefugnis sind ja nur - wenn auch in sehr prinzipieller Weise - die dem Rechtsinhaber zustehenden Abwehransprüche fur den Fall der Störung des Rechts zusammengefaßt. Zur dogmatischen Figur des absoluten Rechts gehört dann aber weiter auch die Möglichkeit einer Berücksichtigung anderer Rechte. Hierzu hat die Dogmatik vor allem die Technik des Schrankendenkens entwickelt. Zu ihrem Verständnis muß man sich vor allem klarmachen, daß ein wesentlicher Teil juristischer Arbeit darin liegt, unterschiedliche Wertprinzipien nach den Mitteln, die die juristische Dogmatik zur Verfugung stellt, aufeinander abzustimmen. So stellt sich auch im Hinblick auf das einem absoluten Recht zugrunde liegende Wertprinzip häufig die Aufgabe, dieses Wertprinzip mit anderen Wertprinzipien verträglich zu machen. Das ist die notwendige Konsequenz dessen, daß das Recht eine Reihe verschiedener Wertprinzipien anerkennt und diese nach ihrem Charakter als Prinzipien notwendig auch gleichen Rang beanspruchen können. Die juristische Technik, das in einem absoluten Recht ausgedrückte Wertprinzip mit gegenläufigen Wertprinzipien abzustimmen, liegt in erster Linie darin, den Schutz eines absoluten Rechts unter den Vorbehalt der Beachtung dieser Wertprinzipien zu stellen. Dabei hat der Gesetzgeber eine Reihe von Möglichkeiten, auf der Seite eines solchen Schrankenvorbehalts bereits Gewichtungen vorzunehmen. Das hier noch einmal kurz umrissene Modell des absoluten Rechts läßt sich nun vor allem auch fur die Grundrechte fruchtbar machen.36 Nach wie vor haben wir dabei zunächst nur die Freiheitsgrundrechte im Auge. Die Grundrechte geben fur den Fall des widerrechtlichen staatlichen Eingriffs in den durch ein Grundrecht geschützten Freiheitsbereich Abwehransprüche gegen den Staat. Diese Ansprüche lassen sich für eine prinzipielle Betrachtung zu einer entsprechenden Ausschließungsbefugnis zusammenfassen. Ein jedes Freiheitsgrundrecht kann also so gedacht werden, daß dem jeweiligen Grundrechtsinhaber eine Ausschließungsbefugnis gegen den Staat zukommt.
36 Für ein Verständnis der Freiheitsgrundrechte als durch Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis charakterisierte Rechte vgl. bereits die erste Auflage des Werkes von Hans J. Wolff y Verwaltungsrecht, Bd. I, § 43 I a 1. Zu den Überlegungen über das absolute Recht aus der Sicht der Lehre des öffentlichen Rechts siehe im einzelnen unten 4.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Nach unserer bisherigen Darlegung bedarf eine solche Befugnis der Begründung durch ein Wertprinzip, das dann auch bereits der Anerkennung des jeweiligen Grundrechts als eines absoluten Rechts zugrunde liegt. Diese Wertprinzipien liegen für die einzelnen Freiheitsgrundrechte auf der Hand, wie man schon daran sieht, daß das Wertprinzip in der Regel auch der näheren Bezeichnung des jeweiligen Freiheitsgrundrechts dient. So spricht man etwa - um nur einige Grundrechte aufzuzählen - von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, von Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Berufsfreiheit oder auch von Garantie des Eigentums und des Erbrechts. Mit allen diesen Benennungen der Grundrechte ist bereits der Kern der Sache, der das jeweilige Grundrecht dient, zum Ausdruck gebracht. 37 Dieser sachliche Kern eines jedes Freiheitsgrundrechts verweist auf das Wertprinzip, mit dem der Verfassungsgesetzgeber auch die Ausschließungsbefugnis des Grundrechtsinhabers gegen den Staat begründet. In der Literatur des öffentlichen Rechts ist die Bedeutung dieses Sachkerns eines jeden Grundrechts für die Konstituierung der jeweiligen Grundrechtsposition des Bürgers auch durchaus anerkannt. Insbesondere Friedrich Müller hat in einer Reihe von Studien einzelne Grundrechte unter dem Gesichtspunkt ihrer sachspezifischen Reichweite analysiert. 38 Auch in der üblichen Grundrechtstechnik des Eingriffs- und Schrankendenkens spielt der sachliche Kern eines Grundrechts eine zentrale Rolle für die Bestimmung des Schutzbereiches dieses Grundrechtes. Mit dem Begriff des Schutzbereiches wird zumeist der Lebensbereich bezeichnet, für den das Grundrecht Schutz gegen staatliche Eingriffe bietet. 39 Der jeweilige Lebensbereich - oder auch das jeweilige Lebensgut - bringt zugleich auch immer das Wertprinzip zum Ausdruck und damit auch den Grund für die Anerkennung des Lebensausschnittes als Rechtsposition, eben als absolut geschütztes Recht. Nun bringt das Wertprinzip und auch die dogmatische Figur des absoluten Rechts den geschützten Freiheitsbereich nur in sehr vager und auch noch unabgeklärter Weise zum Ausdruck. In der Literatur wird deshalb die Frage des Schutzbereiches hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt einer präzisen Beschreibung und Begrenzung des Schutzbereiches der verschiedenen Grundrechte erörtert. Solche Umgren37 Vgl. auch Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 65 IV 2 c (S. 565): "Die Grundrechte zeigen schon durch ihre Wortfassung in aller Deutlichkeit, wo der Schwerpunkt der mit ihnen begründeten Berechtigungen zu suchen ist. In oft traditionsreichen und klangvollen Formulierungen stehen die Rechte, die der Bürger haben, die Freiheiten, die er besitzen soll, in ihrem gegenständlichen Bezug durchweg im Vordergrund (...)." 38
Vgl. vor allem "Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts"; "Die Positivität der Grundrechte" und die Begründung des dabei zugrunde gelegten theoretischen Konzepts in "Strukturierende Rechtslehre". 39
Vgl. Pieroth/Schlink,
Grundrechte - Staatsrecht II, Rz. 229.
Π. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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zungen des Schutzbereiches sind das Ergebnis weiterer juristischer Arbeit im Detail. In unserem Zusammenhang kommt es nur darauf an, daß der Schutzbereich seine Begründung durch ein Wertprinzip erfahrt, das wir fur die juristische Arbeit mit dem Begriff des absoluten Rechts in eine Form juristischer Dogmatik fassen. Auch das Grundrecht kann also als absolutes Recht begriffen werden, dem jeweils ein Wertprinzip zugrunde liegt, das dann auch Grundlage der entsprechenden Ausschließungsbefugnis ist. Läßt sich im Hinblick auf die Freiheitsgrundrechte auch von einer Einwirkungsbefugnis des Grundrechtsinhabers sprechen? Der Begriff der Einwirkungsbefugnis ist offenbar ganz im Hinblick auf das Eigentum gebildet. Denn vor allem hier läßt sich dem Rechtssubjekt ein Einwirkungsobjekt gegenüberstellen. Dagegen bestehen in bezug auf Gesundheit, Name, Ehre, Glaube, Gewissen usw. Schwierigkeiten, diese als Einwirkungsobjekte aufzufassen. Dementsprechend unterscheidet die zivilrechtliche Literatur hier zunächst auch scharf zwischen diesen Rechtsgütern und dem Eigentum als einem Recht. Als unterscheidendes Merkmal wird zumeist die grundsätzliche Ùbertragbarkeit der Rechte genannt.40 Mit diesem mehr rechtlichen Aspekt wird allerdings der gemeinsame Zweck von (im Sinne dieser Unterscheidung) Rechten und Rechtsgütern verdeckt. Nicht nur etwa der Name oder die Ehre, sondern auch das Eigentum ist ein werthaftes Gut der Lebenswelt. Soweit diese Lebensgüter auch durch das Recht anerkannt sind, kann man jedes von ihnen auch als Rechtsgut bezeichnen.41 Angesichts der gemeinsamen Funktion dieser Lebensgüter liegt es nahe, auch im Hinblick auf die nicht objekthaften Lebensgüter in einem weiteren Sinne von der Befugnis zur Einwirkung zu sprechen. Die Einwirkungsbefugnis umschreibt hier den prinzipiellen Freiheitsbereich im Hinblick auf ein bestimmtes Lebensgut, mit dem der Rechtsinhaber also nach Belieben verfahren kann. 42 40
Vgl. nur Larenz, Schuldrecht, Bd. II, § 72 I a: "Es entspricht aber nicht der Sachlage, z.B. den Namen oder, sofern man ein Recht auf die Ehre anerkennt (...), die Ehre, d.h. die soziale Geltung eines Menschen, als Gegenstand einer ihm eingeräumten Herrschaft anzusehen, da sie dem Träger nicht, wie eine Sache oder auch ein Immaterialgut, verfugbar sind." 41 Vgl. zu diesem weiten Begriff des Rechtsgutes Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 6 Fn. 4. 42 Im bürgerlichen Recht geht die Bedeutung der Einwirkungsbefugnis über den hier für das öffentliche Recht dargelegten Sinn hinaus. In der Einwirkungsbefugnis sind eine Reihe einzelner Verfahrensweisen in prinzipieller Weise zusammengefaßt, die sich für das Sachenrecht noch weiter in ebenfalls prinzipieller Weise unterscheiden lassen. So wird auf der Seite der Einwirkungsbefugnis etwa die Befugnis zur Übertragung der Sache von der Befugnis zur Verwertung der Sache unterschieden. Diese Unterscheidungen sind vor allem für das Verhältnis von Eigentum und beschränktem dinglichem Recht von großer Bedeutung. Für das öffentliche Recht dürften diese an den Begriff der Einwirkungsbefugnis anknüpfenden Verästelungen aber keine größere Bedeutung haben.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Die Literatur des öffentlichen Rechts steht dem Begriff der Einwirkungsbefugnis im Bereich der Grundrechte allerdings größtenteils ablehnend gegenüber. Bei Schwabtf 43 findet sich etwa folgender Einwand: "Beten, reden, sich versammeln, einem Verein beitreten u.a. haben - im Gegensatz zum KinderErziehen oder Eigentümer-Sein in der Regel mit 'einwirken* so wenig zu tun wie mit 'Beherrschung1, Begriffe, die beide ihre Abkunft von der Dogmatik des BGB-Eigentums nicht verleugnen können. Es handelt sich hier schlicht um die Befugnis zu einem Handeln, d.h. zu einem Tun oder Lassen (...)·" Diese Position steht ganz im Banne der Vorstellung eines notwendigen Einwirkungsobjektes fur die Einwirkungsbefugnis. Sie basiert auf dem Gedanken der Beherrschung von Sachen durch die Person und damit auf einem untergründig naturwissenschaftlich geprägtem Weltbild, wie es im Sachbegriff selbst (als einem körperlichen Gegenstand, vgl. § 90 BGB) auch zum Ausdruck kommt. Als Sachen lassen sich die Lebensgüter aber auch unabhängig von ihrer Objekthaftigkeit bezeichnen. Sachen sind nach diesem Verständnis dann die Güter, die Anlaß zu Streit geben können.44 Dementsprechend kann man in einer rechtlichen Befugnis auf solche Güter bezogene Handlungsmöglichkeiten sehen.45 Diese sachbezogenen Handlungsmöglichkeiten meinen wir, wenn wir für die Grundrechte den Begriff der Einwirkungsbefugnis gebrauchen. b) Der absolut-rechtliche Charakter der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen aa) Die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm als Konfliktsentscheidung und als absolutes Recht Das Verständnis des Grundrechts als absolutes Recht im dargelegten Sinne mag noch einige Zustimmung finden können. Daß wir aber auch das öffentlich-rechtliche Gesetz als Befugnisnorm unter den Begriff des absoluten Rechts fassen, wird doch einige Verwunderung hervorrufen und möglicherweise auch etwas befremdlich erscheinen. Es ist deshalb notwendig, sich folgende Grundgedanken noch einmal deutlich vor Augen zu führen. Der Begriff des absoluten Rechts ist ein Begriff der juristischen Dogmatik. Wie alle rechtsdogmatischen Begriffe erfüllt er fur die juristische Arbeit spezifische 43
Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, § 4 I (S. 37).
44
Zu diesem Begriff der "Sache" W. Henke, Recht und Staat, § 15, und ausfuhrlicher weiter unten. 45 Für unzureichend halten die Kritik an der Einwirkungsbefugnis im Begriff des subjektiven Grundrechts auch Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 65 IV 2 c (S. 563 ff.). Stattdessen sprechen sie von einem "strukturell abgegrenzte(n) Begriff von Freiheit als eines besonderen Schutzgegenstandes von Abwehrrechten", vgl. dies., a.a.O., § 66 II 2 a.
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Aufgaben. Ganz allgemein liegt die Funktion solcher Begriffe darin, Hilfsmittel bei der Entscheidung von Konflikten zu sein. Das können sie allerdings nur deshalb sein, weil jeder sinnvollen juristischen Begriffsbildung ein Moment der Fallbewertung zugrunde liegt. 46 Der Zweck eines dogmatischen Begriffs ist es also nicht etwa, in möglichst naturgetreuer Weise die Lebenswirklichkeit eines Fallgeschehens zur Beschreibung zu bringen, sondern es wird mit ihm die Lebenswirklichkeit fur die Entscheidung des Falles durch Herausgreifen bestimmter Momente aus ihr verfügbar gemacht.47 Die dogmatischen Begriffe bringen die Lebenswirklichkeit also bereits in einer juristisch vorgeformten Weise so auf den Begriff, daß sie selbst schon in ganz abstrakter Weise 48 Ausdruck von Begründungs- oder Wertmomenten sind und damit beträchtliche Leit- und Orientierungsfunktion fur die juristische Arbeit entfalten. 49 Von diesem Ansatz her zur Bedeutung dogmatischer Begriffe hat auch der Sinn der Auffassung der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen als absolute Rechte seine Rechtfertigung zu finden. Ziel der Darlegung muß es damit vor allem sein, die Prägekraft, die fur die Dogmatik von dem Verständnis der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen als absolute Rechte ausgeht, deutlich zu machen. In der Verwendung des Begriffes absolutes Recht fur die einzelne öffentlich-rechtliche Befugnis- oder Eingriffsnorm kommt vor allem zum Ausdruck, daß auch dem Staat eigene materielle Positionen zukommen, die denen des einzelnen Bürgers durchaus vergleichbar sind. Auf diese Weise rückt also der Charakter der öffentlich-rechtlichen Gesetze als subjektiver Berechtigungen ins Zentrum der öffentlich-rechtlichen Dogmatik. Keinesfalls wird mit der Bezeichnung der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen als absolute Rechte aber der Anspruch erhoben, daß damit Gehalt und Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Gesetzes vollständig ausgeschöpft wären. Das öffentlichrechtliche Gesetz ist ganz zweifellos eines der zentralen Strukturmittel des öffentlichen Rechts und seiner Dogmatik. Dementsprechend gibt es auch eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Ansätze zum Bedeutungsgehalt des öf-
46
Dazu ausfuhrlich
Henßy
Obliegenheit und Pflicht im Bürgerlichen Recht, S. 74
ff. 47
Zur Herausarbeitung von Wertmomenten des Falles im Lebenssachverhalt vgl. Schapp y Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 I (S. 29). 48 Dieser Abstraktionsgrad dogmatischer Leitbegriffe bedingt ihren hohen technischen Charakter, der sie gegenüber Wandlungen der Lebenswirklichkeit auch relativ indifferent macht. Vgl. dazu Nierwetberg, Rechtswissenschaftlicher Begriff und soziale Wirklichkeit, S. 172 ff. Das bedeutet allerdings nicht, daß die dogmatischen Begriffe überhaupt nur technischen Charakter hätten, "technisch" sind sie - soweit man das denn trennen kann - nur in ihrer Funktion, nicht in ihrer Begründung. 49
Henßy
Vgl. Schapp y Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 98 ff., sowie Obliegenheit und Pflicht im Bürgerlichen Recht, S. 78 f.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
fentlich-rechtlichen Gesetzes.50 Diese sind zum Teil miteinander vereinbar, zum Teil schließen sie sich aber auch gegenseitig aus. Im Hinblick auf die konkrete juristische Arbeit haben diese theoretischen Ansätze bisher allerdings doch weniger Ertrag eingebracht, als man meinen könnte. Der Dogmatik des öffentlichen Rechts kann es daher nicht mehr genügen, auch weiterhin das öffentlich-rechtliche Gesetz als solches in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen zu stellen. Sie muß ihm vielmehr eine oder auch verschiedene tragende Funktionen in dieser Dogmatik zuweisen, die es auch in eine Beziehung zu den sonstigen dogmatischen Leitbegriffen stellt. Die hier entwickelte Lösung dieser Problematik liegt zunächst einmal darin, daß wir das öffentlich-rechtliche Gesetz als Konfliktsentscheidung auffassen und damit in eine Dogmatik der öffentlich-rechtlichen Ansprüche einordnen. Das öffentlich-rechtliche Gesetz ist dann aber weiter nicht nur rechtliche Konfliktsentscheidung, sondern zugleich auch Bestimmung der staatlichen Position selbst, die wir als absolutes Recht auffassen. Diese beiden Momente sind in der öffentlich-rechtlichen Befugnisnorm miteinander verschmolzen: die rechtliche Konfliktsentscheidung und die staatliche subjektive Berechtigung, das absolute Recht. Daß diese beiden Momente nur so schwer sichtbar zu machen sind, beruht darauf, daß der Staat im wesentlichen überhaupt nur die Möglichkeit hat, seinen Willen durch das Recht zu bestimmen. Genaugenommen ist es also erst diese Perspektive, die mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringt, daß das öffentlich-rechtliche Gesetz subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Elemente in sich birgt. Als Konfliktsentscheidung ist es Ausdruck der objektiven Rechtsordnung, als absolutes Recht ist es durch den Staat selbst geschaffene - subjektive Berechtigung, die freilich beansprucht, in Einklang mit der objektiven Rechtsordnung zu stehen. Diese Unterscheidung der beiden Funktionsgehalte des öffentlich-rechtlichen Gesetzes einmal als Konfliktsentscheidung und zum anderen als subjektive Berechtigung hat einerseits im Hinblick auf die Grundrechte, weiter dann aber auch für das Verhältnis zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht durchgreifende Konsequenzen, deren Darstellung das Gerüst der öffentlichrechtlichen Anspruchsdogmatik deutlicher hervortreten läßt. Ein zentraler Baustein dieses Gerüstes ist das Verständnis der öffentlich-rechtlichen Befugnisnorm als eines absoluten Rechtes. Da sich der Funktionsgehalt des öffentlich-rechtlichen Gesetzes aber nicht darin erschöpft, absolutes Recht zu sein, wird hier - aus einer solchen umfassenderen Perspektive - nur der absolutrechtliche Charakter der öffentlich-rechtlichen Gesetze dargelegt. Andere Funktionen des öffentlich-rechtlichen Gesetzes sind damit, um es noch einmal 50
Siehe zur historischen Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Gesetzesbegriffs vor allem die Untersuchungen von E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Jesch, Gesetz und Verwaltung, sowie Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes.
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zu wiederholen, also nicht ausgeschlossen. Insbesondere verkennen wir nicht, daß das öffentlich-rechtliche Gesetz auch starke schuldrechtsähnliche Züge tragt, auf die zurückzukommen sein wird. bb) Die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm als absolutes Recht Der Sinn, in dem das öffentlich-rechtliche Gesetz als ein absolutes Recht aufgefaßt werden soll, ist folgender. Nach dem fur das Eigentum sowie die Grundrechte zugrunde gelegten Modell liegen dem absoluten Recht in der Lebenswelt fundierte Gegebenheiten zugrunde, an die das Recht anknüpft, indem es das dabei aus seiner Sicht fur die juristische Arbeit beachtliche Wertmoment hervorhebt und damit als Grundlage einer absolut geschützten Rechtsposition anerkennt, die das Recht dann weiter durch die Einwirkungsund Ausschließungsbefugnis des Rechtsinhabers umreißt. Auch die öffentlichrechtlichen Befugnisnormen lassen sich nach diesem Vorbild als absolute Rechte auffassen. Dabei haben wir allerdings nicht die öffentlich-rechtlichen Eingriffsgesetze in ihrer Gesamtheit vor Augen, sondern die einzelne öffentlich-rechtliche Ermächtigungsgrundlage, die sich im Verhältnis zwischen Bürger und Staat als umfassende Konfliktsentscheidung darstellt. 51 Auf der Seite des Staates gibt es damit so viele absolut geschützte Rechtspositionen, wie es umfassende Konfliktsentscheidungen durch Gesetz gibt. Einem jeden einzelnen dieser öffentlich-rechtlichen Gesetze liegt nun ein bestimmter Zweck zugrunde. Hier genügt es allerdings nicht, nur auf die vermeintlich bloß rechtlichen Zwecke zu schauen. Man muß sich vielmehr klarmachen, daß der Wirkungsraum des öffentlichen Rechts im weitesten Sinne im Bereich des politischen Lebens liegt. Dieser politische Bereich ist dann auch der eigentliche Ort, innerhalb dessen das öffentlich-rechtliche Gesetz seine Funktion entfaltet. Oben ist dieser Sachverhalt unter etwas anderem Gesichtspunkt bereits dadurch gekennzeichnet worden, daß der Staat durch Gesetz öffentliche Aufgaben wahrnimmt. Wenn man die öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen einmal genauer unter dem Gesichtspunkt ihrer Zwecke betrachtet, so wird auch ihr absolut-rechtlicher Charakter sichtbar. Die Verfolgung von Zwecken durch öffentlich-rechtliches Gesetz bedeutet zunächst einmal, daß der Staat auf diese Weise als Rechtssubjekt handelt. Nimmt der Staat öffentliche Aufgaben wahr, so macht er also - insoweit wie jeder Bürger - eigene materielle Position geltend, wenn 51 In einem gewissen Sinne lassen sich auch die sog. Hilfsnormen, die es im öffentlichen Recht genauso wie im bürgerlichen Recht gibt, als Konfliktsentscheidungen begreifen, bei denen es sich dann aber nur um Teilentscheidungen im Rahmen einer umfassenderen Konfliktsentscheidung handelt, die erst dann ihrerseits die Rechtsfolgen der Begründung einer Befugnis oder eines Anspruchs herbeiführt. Zu den Hilfsnormen als Teilentscheidungen vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § § 2 II 2 , 9 11.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
dies auch im öffentlichen Interesse geschieht. Weiter ist es nach unserer verfassungsrechtlichen Ordnung so, daß jedes öffentlich-rechtliche Gesetz der Begründung durch den parlamentarischen Gesetzgeber bedarf. Jeder konkrete Zweck, den der Staat mit einem Gesetz verfolgt, bedarf demnach der Begründung. Dabei spielt es keine Rolle, daß der Gesetzgeber - jedenfalls dem Prinzip nach - jeden vernünftigen Grund fur seine Zwecksetzungen anfuhren kann. Häufig werden sich allerdings der Zweck eines Gesetzes und die Gründe fur diese Zwecke nicht genau voneinander unterscheiden lassen, beides wird zumeist ineinanderfließen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn der Zweck ist in gewisser Weise immer schon Ausdruck von Gründen. Man kann auch sagen, der Zweck ist der Grund in seiner subjektiv-rechtlichen Gestalt. Prinzipiell lassen sich hier aber doch der Zweck eines Gesetzes und die ihm zugrunde liegenden Gründe voneinander trennen. 52 Damit kehrt auch hier die Doppelfiinktion des öffentlich-rechtlichen Gesetzes wieder: Als Konfliktsentscheidung bedarf das öffentlich-rechtliche Gesetz der Begründung, als subjektive Berechtigung ist es Ausdruck der Zwecksetzungen des Staates. Im Hinblick auf den absolut-rechtlichen Charakter der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen spiegelt sich in dieser Unterscheidung die von Begründungsmoment und Einwirkungsbefugnis. Wie unschwer zu sehen ist, entsprechen dabei die Gründe des Gesetzes, die auch die Zwecksetzungen des Staates tragen, den Begründungsmomenten, die fur die Anerkennung als absolut geschützte Rechtsposition konstitutiv sind, während die Zwecke des öffentlich-rechtlichen Gesetzes auf die staatliche Einwirkungsbefugnis verweisen, die dieses begründet. Diese Feststellung, daß in den Zwecken des öffentlich-rechtlichen Gesetzes die Einwirkungsbefugnis des Staates zum Vorschein kommt, bedarf noch einer genaueren Begründung. Die Einwirkungsbefugnis bringt in prinzipieller Weise zum Ausdruck, daß der Rechtsinhaber mit der Sache nach Belieben verfahren kann. Für die Grundrechte haben wir das so ausgedrückt, daß dem Bürger eine gegenüber dem Staat geschützte Sphäre konkreter Handlungsmöglichkeiten zusteht, die man auch als Freiheiten auffassen kann. Nun läßt sich aber im Hinblick auf staatliches Handeln weder von Verfahrenkönnen-nach-Belieben, noch von Freiheitsbetätigung sprechen. Allerdings scheint uns in diesen Formulierungen auch noch keine abschließende Bestimmung der Einwirkungsbefugnis zu liegen. Offenbar umreißen sie die Einwirkungsbefugnis doch bereits unter dem jeweiligen Zweck, den die subjektive Berechtigung für den Berechtigten hat. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die subjektive Berechtigung, die das öffentlich-rechtliche Gesetz fur den Staat begründet, durchaus mit der Einwirkungsbefugnis des Eigentümers oder des Grundrechtsinhabers vergleichen. Daß diese Entsprechung nicht sofort erkennbar ist, hat seine Ursache 52 Zur Unterscheidung von Grund und Zweck auch Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, § 3 III 1 (S. 94).
Π. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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nicht nur darin, daß schon das öffentlich-rechtliche Gesetz kaum unter dem Gesichtspunkt subjektiver staatlicher Zwecke betrachtet wird. Auch im Hinblick auf die Einwirkungsbefugnis des Eigentümers oder des Grundrechtsinhabers ist der Zweck der subjektiven Berechtigung nur schwer auszumachen. Das liegt vor allem daran, daß die Einwirkungsbefugnis hier in ganz formaler, nicht mehr spezifizierter Weise umschrieben ist. Für das Eigentum etwa wird der Zweck der subjektiven Berechtigimg nur unter dem Gesichtspunkt des Beliebens betrachtet, daß der materielle Kern dieses Beliebens zumeist in der Nutzung der Sache liegen wird, 53 ist dagegen nicht mehr zum Ausdruck gebracht. Das Recht erreicht auf diese Weise, daß die materielle Zweckbestimmung der subjektiven Berechtigung im konkreten Einzelfall dem jeweiligen Berechtigten überlassen bleibt. Der Staat dagegen handelt anders als der einzelne nicht nach Belieben. Die ihm aufgrund Gesetzes zustehenden subjektiven Berechtigungen sind ihrem Zweck nach deshalb auch immer schon materiell bestimmt. Daß im Einzelfall etwa der Verwaltung Spielraum bleiben kann, diese Zwecke auszufüllen, ändert nichts an dem Prinzip der materiellen Festlegung der staatlichen Positionen. In dieser unterschiedlichen Art, den Zweckgehalt der Einwirkungsbefugnis des Bürgers einerseits und des Staates andererseits zu fassen, kommt auch durchaus ein jeweils unterschiedlicher Bedeutungsgehalt dieser Befugnisse zum Ausdruck. Allerdings scheint uns dieser bereits in der Unterscheidung von staatlichen und individuellen Positionen angelegt zu sein. Diese Unterscheidung legt den Akzent vor allem darauf, daß die Funktion, die in der dogmatischen Figur des absoluten Rechts liegt, für das Individuum eine andere ist als für den Staat. Wenn man es einmal sehr prinzipiell formulieren will, so ist für den Bürger das absolute Recht Mittel zur Verwirklichung von Freiheit, für den Staat ist es dagegen Mittel zur Ausübung von Herrschaft. Diese jeweils unterschiedliche Funktion des absoluten Rechts schließt es aber nicht aus, unter dogmatischen Gesichtspunkten sowohl Positionen des Individuums als auch Positionen des Staates unter den Begriff des absoluten Rechts zu fassen. Dementsprechend beinhalten die durch Gesetz begründeten subjektiven Berechtigungen des Staates in der Verfolgung bestimmter öffentlicher Zwecke zum Ausdruck kommende Einwirkungsbefugnisse. Zur Verdeutlichung der Auffassung, daß sich die Verfolgung staatlicher Zwecke durch das einzelne öffentlich-rechtliche Gesetz als Ausübung von Einwirkungsbefugnissen darstellt, mag auch der Hinweis auf folgende Zusammenhänge nützlich sein, die wir bereits oben kurz angedeutet haben. In der Literatur wird das Eigentum häufig unter dem Gesichtspunkt der Sachherrschaft charakterisiert. Dieser Gedanke bezieht sich in erster Linie auf das Verhältnis zwischen Person und "ihrer" Sache und bringt damit allerdings nur 53
Vgl. dazu auch Schapp, Sachenrecht, § 1 II 1 vor a.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
einen Teilaspekt des Gesamtphänomens Eigentum zum Ausdruck, den die Dogmatik mit der Einwirkungsbefugnis aus dem Eigentum im Auge hat. Wir halten den Gedanken der Sachherrschaft also im wesentlichen fur einen Ansatz zur Einwirkungsbefugnis. Wenn man sich nun einmal von der dem BGB in § 90 zugrunde liegenden naturwissenschaftlichen Verengung des Sachbegriffs löst, so eröffnet sich bereits ein umfassenderes Verständnis des Begriffs der Sachherrschaft. Wilhelm Henke hat gezeigt, daß der Begriff "Sache" etymologisch im Zusammenhang mit "Streit" auftaucht; "Sache" war einmal alles, was Anlaß zum Streit geben konnte.54 In diesem Sinne verstehen wir alle diejenigen Güter als Sachen, um die Konflikte entstehen, die dann der rechtlichen Entscheidung bedürfen. Auf der Grundlage dieser Auffassung lassen sich ohne weiteres auch die Einwirkungsbefugnisse aller anderen absoluten Rechte und insbesondere auch der absoluten Rechte des Staates unter dem Gesichtspunkt der "Sachherrschaft" betrachten. Das Problem der Ausübung von Herrschaft ist seit jeher von zentraler Bedeutung fur die Lehren zum Staat. Der bloße Gedanke der Herrschaftsausübung durch den Staat scheint uns aber zu hoch angesetzt zu sein, als daß sich allein mit ihm die Fragen des öffentlichen Rechts und seiner Dogmatik bewältigen ließen. Der Ansatz zum absolut-rechtlichen Charakter der öffentlichrechtlichen Gesetze füllt nun nicht nur Funktionsgehalte innerhalb der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik aus, sondern gibt auch die Verbindungslinien von den dogmatischen Figuren zu den zentralen materiellen Prinzipien, auf die das öffentliche Recht aufbaut. Das Verständnis der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen als absolute Rechte bringt zunächst einmal mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck, daß auch staatliche Herrschaft immer Ausübung von rechtlichen Befugnissen ist, daß also auch alles staatliche Handeln der Beurteilung durch das Recht unterliegt. Das ist notwendige Konsequenz der bereits oben dargelegten Auffassung, daß sich das öffentliche Recht auf Staat und Bürger als Gleichgeordnete bezieht. Weiter ermöglicht dieser Ansatz dann aber auch eine differenziertere Betrachtung "der Herrschaft des Staates". Die Ausübung von Einwirkungsbefugnissen durch den Staat hatten wir zunächst unter dem Aspekt der Verfolgung öffentlicher Zwecke betrachtet. In unserem Zusammenhang bedeutet das, daß Herrschaft kein Phänomen ist, das in ganz allgemeiner Weise den Staat charakterisieren könnte, sondern das Handeln des Staates läßt sich immer nur als schon konkrete, sach- und zweckbezogene Herrschaftsausübung begreifen. Die Ausübung solcher Herrschaft erfolgt dann auch nicht - wie etwa der Dezisionismus Carl Schmitts Glauben machen will - einfach aus dem Nichts. 55
54
Henke, Recht und Staat, § 15 (insbes. S. 115 f.).
55
Zu Schmitt vgl. unten IV 3.
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Vielmehr bedarf jeder konkrete Herrschaftsakt des Staates der Begründung. Die verfassungsrechtlichen Regelungen, die das parlamentarische Regierungssystem betreffen, dienen vor allem diesem Zweck, den gesellschaftlichen und staatlichen Prozeß der Willensbildung im Sinne der Suche nach solchen Entscheidungsgründen zu gewährleisten. - Wir belassen es bei diesen wenigen Andeutungen zum Gedanken der Herrschaft aus der Sicht unseres Verständnisses vom absoluten Recht. Sie dürften hinreichend deutlich gemacht haben, daß die Auffassung vom absolut-rechtlichen Charakter der öffentlich-rechtlichen Gesetze nicht nur im Einklang mit den Leitgedanken des öffentlichen Rechts steht, sondern auch eine differenziertere Analyse ihres Sachgehalts fur die Dogmatik des öffentlichen Rechts ermöglicht. Die bisherige Darlegung konzentrierte sich auf die Einwirkungsbefiignis, die das öffentlich-rechtliche Gesetz begründet, nahm aber auch schon ganz allgemein die Funktion der absoluten Rechte des Staates in den Blick. Wir wenden uns nun der staatlichen Ausschließungsbefugnis zu, die ebenfalls durch das öffentlich-rechtliche Gesetz begründet wird. Hier liegen wesentliche Zusammenhänge bereits auf der Hand. Mit der Ausschließungsbefugnis sind auf prinzipieller Ebene die Ansprüche auf Abwehr von Störungen zusammengefaßt, die dem Schutz des absoluten Rechts dienen. Nach den obigen Ausführungen zum Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes gibt das öffentlichrechtliche Gesetz den Verwaltungsbehörden für eine Vielzahl konkreter Fälle die Ermächtigungsgrundlage zur Verfolgung öffentlich-rechtlicher Ansprüche durch Verwaltungsakt. Als eine solche Ermächtigungsgrundlage ist das öffentlich-rechtliche Gesetz also immer schon Grundlage für ein Bündel öffentlich-rechtlicher Ansprüche, in deren Zusammenfassung die durch dieses öffentlich-rechtliche Gesetz begründete Ausschließungsbefugnis zum Ausdruck kommt. Genaugenommen ist mit dem Gedanken der Ermächtigungsgrundlage durch Gesetz allerdings nur der Befugnischarakter des Gesetzes begründet. Was berechtigt uns dazu, diese Befugnis als Ausschließungsbefugnis, d.h. als Zusammenfassung von Abwehransprüchen des Staates zu begreifen? Entspricht es nicht vielmehr herkömmlicher Vorstellung, das belastende öffentlich-rechtliche Gesetz als Eingriff durch den Staat zu betrachten? Wie verhält sich der Gedanke des staatlichen Eingriffs aufgrund Gesetzes in die durch die Grundrechte geschützten Freiheitsbereiche zu dem hier verfolgten Ansatz der Begründung von staatlichen Abwehransprüchen durch öffentlich-rechtliches Gesetz? Ist der Eingriff in eine fremde Rechtsposition nicht etwas anderes als die Abwehr zum Schutze einer eigenen Rechtsposition? Die Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen bedürfen der Berücksichtigung größerer Zusammenhänge. Die staatliche Aussschließungsbefugnis läßt sich nicht mehr allein aus sich heraus verständlich machen. Ihre Bedeutung kann nur aus ihrem Funktionsfeld erschlossen werden. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, daß die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm immer schon in einem Spannungsverhält-
Schur
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nis zu den Freiheitsgrundrechten steht. Damit stellt sich hier die Frage nach dem Verhältnis eines absoluten Rechts zu einem anderen absoluten Recht. cc) Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsgrundrecht und öffentlichrechtlicher Befugnisnorm als absoluten Rechten und seine Auflösung Als absolutes Recht deuten wir das Freiheitsgrundrecht des Bürgers, dann aber auch die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm. Jedes belastende öffentlichrechtliche Gesetz zielt auf eine Beschränkung des Freiheitsbereiches des Bürgers. Bürger und Gesetzgeber stehen damit auf einer prinzipiellen Ebene immer schon in einem Konfliktverhältnis, das darauf beruht, daß das Recht jedem von ihnen in bezug auf ein und dieselbe Sache eine absolut geschützte Rechtsposition zuweist. Solche Rechtspositionen liegen fur den Bürger in den einzelnen Grundrechten, der Gesetzgeber kann von Verfassungs wegen seine absolut geschützten Rechtspositionen - unter bestimmten Voraussetzungen selbst bestimmen. Da die Freiheitsgrundrechte in ihrer Gesamtheit prinzipiell gegen jede staatliche Beeinträchtigung Schutz gewähren, 56 fuhrt die Setzung einer jeden belastenden öffentlich-rechtlichen Norm dazu, daß sich Befugnisse des Bürgers und Befugnisse des Staates in bezug auf die in Streit stehende Sache überschneiden. Der Staat weist sich selbst durch öffentlich-rechtliches Gesetz eine Rechtsposition zu, von der der Bürger behaupten kann, daß sie ihm zugewiesen sei. So steht ein absolutes Recht gegen ein anderes. Jede der beiden absolut geschützten Rechtspositionen stellt auf der prinzipiellen Ebene für die andere eine Beeinträchtigung dar, da sie Befugnisse beinhaltet, die - immer noch auf der prinzipiellen Ebene - der anderen Rechtsposition zugewiesen sind und zu deren Schutz jedem der beiden Rechtsinhaber die Ausschließungsbefugnis zusteht. Die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm ist damit auch schon auf der prinzipiellen Ebene Einwirkung auf den Freiheitsbereich des Bürgers. Andererseits beinhaltet der dem Bürger immer schon zustehende prinzipielle Freiheitsbereich auch die Möglichkeit von Einwirkungen auf die Rechtspositionen des Staates, zu deren Schutz das öffentlich-rechtliche Gesetz eine Ausschließungsbefugnis beinhaltet. Mit der Terminologie des Zivilrechts kann man das auch so umschreiben, daß die Gesetze fur die Freiheitsgrundrechte eine Belastung darstellen. Die absoluten Rechte des Staates lassen
56 Dieser Schutz ist subsidiär durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet. Der einzelne hat damit aus den Grundrechten einen Anspruch darauf, "durch die Staatsgewalt nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist", vgl. BVerfGE 9, 83 (88); 19, 206 (215); 29, 402 (408). In der Literatur wird insoweit aus Art. 2 Abs. 1 GG ein "subjektives Recht auf Gesetzmäßigkeit des Eingriffs" hergeleitet, vgl. Dürig, in: Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Abs. I Rdz. 26; v. Münch-1. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Rdz. 23.
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sich im Hinblick auf die Freiheitsgrundrechte also gewissermaßen als beschränkte dingliche Rechte verstehen.57 Das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen den Positionen des Bürgers und denen des Staates wird im konkreten Fall der Störung durch Gewährung eines Anspruchs zugunsten einer der beiden Parteien entschieden. Die Auflösung eines solches Spannungsverhältnisses zwischen zwei absoluten Rechten hat J. Schapp fur das Zivilrecht anhand des bereits oben dargestellten Verhältnisses zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber erörtert. 58 Hier steht dem Grundpfandrechtsinhaber gegen den Eigentümer ein Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung zu, dem eine Duldungsverpflichtung des Eigentümers entspricht. Im Ergebnis fuhrt dieser Anspruch zur Realisierung des Pfandrechts, seiner dogmatischen Funktion nach ist er aber Abwehranspruch und damit Ausfluß der absolut geschützten Rechtsposition des Grundpfandrechtsinhabers. Sowohl das Eigentum als auch das Grundpfandrecht sind absolute Rechte, die jeweils eine Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis fur den Rechtsinhaber begründen. Für das Eigentum ergibt sich das bereits aus § 903 S. 1 BGB. Das Grundpfandrecht stellt als beschränktes dingliches Recht eine Abspaltung und Verselbständigung eines Teils der Eigentümerbefugnisse dar, der dann - wie das Eigentum selbst - eine absolut geschützte Rechtsposition begründet. Auf der prinzipiellen Ebene der Befugnisse sind damit die Befugnisse des Eigentümers und die des Grundpfandrechtsinhabers klar voneinander abgegrenzt: Dem Grundpfandrechtsinhaber steht ein bestimmter Teil der Befugnisse des Eigentümers zu. Bei der Ausübung oder Verwirklichung dieser Befugnisse durch den Grundpfandrechtsinhaber bedarf es aber einer Abgrenzung der jeweils absolut geschützten Rechtspositionen, die durch Gewährung des Anspruchs auf Duldung der Zwangsvollstreckung erfolgt. Das ist deshalb erforderlich, weil das Eigentum als absolutes Recht nach wie vor für den Fall der Ausübung von Eigentümerbefugnissen nach § 1004 I BGB Ansprüche auf Abwehr dieser Störung des Eigentums begründet, und zwar gegen jeden Dritten, also auch gegen den Grundpfandrechtsinhaber. Diese Abwehransprüche des Eigentümers sind nur dann ausgeschlossen, wenn der Eigentümer nach § 1004 I I BGB zur Duldung der Beeinträchtigung verpflichtet ist. Da die Ausübung der dem Grundpfandrechtsinhaber zugewiesenen Eigentümerbefugnisse zunächst als Störung erscheint, bedeutet das, daß es für den Grundpfandrechtsinhaber zur Realisierung seines Pfandrechts eines Anspru57 Wie die beschränkten dinglichen Rechte des bürgerlichen Rechts fuhren auch die absoluten Rechte des Staates immer nur zur Abtrennung von Teilkomplexen aus dem durch die einzelnen Grundrechte geschützten Bereich. In dieser Beschränktheit der öffentlich-rechtlichen Gesetze liegt eine der ganz großen Wertentscheidungen des öffentlichen Rechts. 58 Schapp y Zum Wesen des Grundpfandrechts, vgl. dazu oben 2. Teil I 4.
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ches gegen den Eigentümer bedarf, der eine Duldungsverpflichtung i.S. von § 1004 I I BGB begründet und damit den Abwehranspruch des Eigentümers "zurückschlägt". Auf diese Weise wird die bisher nur prinzipielle Abgrenzung der Eigentümerbefugnisse zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber auch auf der Anspruchsebene verwirklicht. Der Anspruch des Grundpfandrechtsinhabers folgt dabei aus der absolut geschützten Rechtsposition, die das Grundpfandrecht darstellt und dient der Verteidigung dieser Rechtsposition. Als Verteidigungsmittel im Verhältnis zum Eigentümer nimmt der aus dem Grundpfandrecht fließende Abwehranspruch die Gestalt eines Duldungsanspruchs an. In durchaus vergleichbarer Weise stellt sich das Verhältnis zwischen Grundrechtsinhaber und Gesetzgeber dar. 59 Auch das öffentlich-rechtliche Gesetz begründet für den Staat gegen den Bürger einen Abwehranspruch, der auf Duldung staatlicher Maßnahmen gerichtet ist. Diese Ansprüche kann man als Duldungsansprüche oder sogar als Eingriffsansprüche bezeichnen. Dem Verhältnis zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber entspricht der Grundstruktur nach das zwischen Grundrechtsinhaber und Gesetzgeber. Es bestehen allerdings auch gewichtige Unterschiede, auf die wir zunächst unser Augenmerk richten. Im Grundpfandrecht als einem beschränkten dinglichen Recht sind bestimmte, klar umrissene Befugnisse des Eigentümers abgespalten und als eigene absolute Rechtsposition verselbständigt. Auf der Anspruchsebene werden die Rechtspositionen des Eigentümers und des Grundpfandrechtsinhabers dann dadurch voneinander abgegrenzt, daß dem Grundpfandrechtsinhaber aufgrund der ihm gegen den Eigentümer zustehenden Befugnisse ein Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung gegeben wird. Das Verhältnis zwischen Grundrechtsinhaber und Gesetzgeber weist kompliziertere Strukturen auf. Denn hier herrscht bereits auf der prinzipiellen Ebene der Abgrenzung der Befugnisse ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Staat und Bürger, das wir oben als "Überschneidung" von Befugnissen charakterisiert haben. Diese Problematik beruht darauf, daß der Gesetzgeber - anders als der Grundpfandrechtsinhaber - seine absolut geschützte Position durch Gesetz selbst bestimmen kann. Nun steht allerdings nicht jeder Akt der Normsetzung in Einklang mit der Verfassung insbesondere den Grundrechtsgehalten. Die Möglichkeit verfassungswidriger Gesetze führt dazu, daß bereits auf der prinzipiellen Ebene der Abgrenzung der Befugnisse Unsicherheit darüber besteht, ob diese Abgrenzung, die der Gesetzgeber selbst und damit gewissermaßen auch in eigener Sache vornimmt, gelungen ist.
59 Für eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat nach dem Vorbild des Verhältnisses zwischen Eigentümer und Störer jetzt auch Schapp, AcP 192 (1992), 355 (384, 388 f.).
. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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Ist diese Abgrenzung gelungen, so stellt sich das Verhältnis im wesentlichen wie das zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber dar. Dann nämlich erhält der Staat dadurch eine absolut geschützte Rechtsposition, daß ursprünglich dem Bürger zustehende Befugnisse verselbständigt und nunmehr dem Staat zugewiesen sind. Diese Zuweisung stellt auch eine endgültige dar, weil die Abgrenzung der Befugnisse gelungen und das Gesetz insoweit verfassungsgemäß ist. Die Abgrenzung der Befugnisse ist jetzt Grundlage der Abgrenzung der Rechtspositionen auf der Anspruchsebene. Da die Freiheitsgrundrechte aber nach wie vor fur jede Störung in ihrem Bereich einen Abwehranspruch gegen den Staat begründen, bedarf es auch hier wieder eines Anspruches, und zwar des Staates, der den Bürger dazu verpflichtet, den in der Ausübung der staatlichen Befugnisse liegenden Eingriff zu dulden.60 Auch dieser Eingriffs- oder Duldungsanspruch des Staates gegen den Bürger dient der Verteidigung der staatlichen Rechtspositionen, die im Ergebnis zu ihrer Realisierung führt. Anders stellt sich das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Bürger dann dar, wenn die Abgrenzung der Befugnisse durch Gesetz mißlungen ist, dieses also verfassungswidrig ist. Äußerlich sind auch jetzt noch dem Staat Teilbefugnisse des Bürgers zugewiesen. Da die Abgrenzung aber mißlungen ist, kann sie keine endgültige sein. Vielmehr steht auf der prinzipiellen Ebene bereits fest, daß der Staat Befugnisse in Anspruch nimmt, die nicht ihm, sondern dem Bürger zustehen. Man kann das auch so formulieren, daß der Staat sich hier durch Gesetz Befugnisse angemaßt hat. Zu welchen Konsequenzen führt diese Situation nun auf der Anspruchsebene? Hier muß man zunächst einmal sehen, daß ein verfassungswidriges Gesetz doch seine Gültigkeit hat, solange es nicht für nichtig erklärt worden ist. Es gibt dem Staat also die Möglichkeit, Ansprüche aufgrund Gesetzes zu verfolgen und dann aber auch selbst in vollstreckungsfahiger Weise festzusetzen. Diese prozessuale Uberordnung des Staates bei der Verfolgung der öffentlich-rechtlichen Ansprüche bedeutet, daß auf der Anspruchsebene das Problem der richtigen Befugnisabgrenzung durch Gesetz und damit auch die seiner Verfassungsmäßigkeit zunächst überhaupt nicht in Frage steht. Das Gesetz hat zunächst einmal Geltung als richtige Abgrenzung von Befugnissen. Deshalb bedarf es zunächst keiner Prüfung dieser Frage, sie steht vielmehr erst im Mittelpunkt des verwaltungsrechtlichen Prozesses, in dem grundsätzlich der Bürger die Rolle des Klägers übernehmen muß. In diesem Prozeß wird dann darüber gestritten, ob der Bürger gegen den Staat einen Abwehranspruch aus dem Grundrecht hat.
60 Zu einer solchen Ausübung der staatlichen Befugnisse kommt es dann, wenn der einzelne in dem durch die Eingriffsnorm umschriebenen Bereich handelt und diesen damit gewissermaßen beeinträchtigt, so daß ein Konfliktfall eintritt.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Für einen solchen Rechtsstreit zwischen Staat und Bürger ist folgendes zu berücksichtigen. Auf der Anspruchsebene hat der Staat die Möglichkeit den aus dem Gesetz fließenden Anspruch auf Duldung des Eingriffs in den Freiheitsbereich des Bürgers zu verfolgen. Zweck dieses Anspruches ist es, den in allen Fällen der Störung an sich gegebenen Abwehranspruch des Grundrechtsinhabers auszuschließen. Der Abwehranspruch des Grundrechtsinhabers gibt diesem nun zunächst die Möglichkeit, den Staat in den Prozeß hineinzuziehen. In diesem Prozeß wird sodann festgestellt, ob dem Staat der von ihm verfolgte Duldungsanspruch zusteht und damit ein Abwehranspruch des Grundrechtsinhabers ausgeschlossen ist oder aber der Duldungsanspruch dem Staat nicht zusteht und damit der Abwehranspruch des Grundrechtsinhabers auch nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr gegeben ist. Was man sich hierbei einmal mit aller Deutlichkeit vor Augen halten muß, ist, daß dem Staat, solange die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nicht ausdrücklich festgestellt ist, immer nur Positionen latenter Unsicherheit zustehen. Das öffentliche Recht verfügt dann über eine Reihe von Mechanismen diese Bestandsunsicherheit der staatlichen Positionen hintanzuhalten. Die Möglichkeit des Staates, mit Hilfe des Verwaltungsaktes seine Positionen immer schon selbst vollstrecken zu können, ist eine der wichtigsten Techniken hierfür. Die Darlegung zeigt, daß es nicht genügen kann, nur die Grundrechte als absolute Rechte aufzufassen, daß es zur Herstellung eines Funktionszusammenhangs zwischen Grundrecht und öffentlich-rechtlichem Gesetz vielmehr auch der Herausarbeitung des absolut-rechtlichen Charakters dieser Gesetze bedarf. Dabei ist zuletzt auch deutlich geworden, daß die dem Bürger aufgrund seiner absoluten Rechte zustehenden Befugnisse unter dem Vorbehalt ihrer Zuweisung an den Staat durch öffentlich-rechtliches Gesetz stehen. Jedes belastende öffentlich-rechtliche Gesetz nimmt also einen Teil der an sich dem Bürger zustehenden Befugnisse für öffentliche Zwecke in Anspruch. Für das Verhältnis zwischen Eigentümer und Grundpfandrechtsinhaber spricht man insoweit von einer "geteilten Zuordnung der Sache".61 Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Grundrechtsinhaber und Gesetzgeber kann man vom Sozialbezug individueller Freiheit sprechen.62
61 62
Vgl. bereits oben 2. Teil I 4 mit Nachweisen.
Vgl. dazu die grundlegende Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 4, 7 (15 f.): "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." Die Analyse dieser Rechtsprechung zur Sozialbindung der Freiheit durch Steiger, Institutionalisierung der Freiheit?, 91 (92 ff.), mündet keineswegs zufallig nicht nur in eine Theorie zum Verhältnis von Institution und Freiheit, sondern auch zum Rechtsverhältnis. Vgl. ders., a.a.O., S. 104: "Dem BVerfG ist insoweit zuzustimmen, als
II. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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c) Die Bedeutung der Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem filr die dogmatische Figur des absoluten Rechts Die bisherige Darlegung entwickelte ein Verständnis des Grundrechts und der einzelnen öffentlich-rechtlichen Befugnisnorm als absoluter Rechte. Das absolute Recht ist eine tiefverwurzelte Figur der Dogmatik des Zivilrechts. Daß dem absoluten Recht auch in der Dogmatik des öffentlichen Rechts ein ähnlich bedeutsamer Platz zukommt, stellt eine der zentralen Thesen unserer Untersuchung dar. Die Gründe fur diese Auffassung ergeben sich aus dem Gesamtansatz der Arbeit und seiner Durchführung. Die Einfuhrung einer ihrer Herkunft nach zivilrechtlichen dogmatischen Figur fordert dabei aber auch zu einer ausdrücklichen Behandlung der Frage auf, in welchem Sinne das absolute Recht dogmatische Figur des Zivilrechts ist und in welchem Sinne eine solche des öffentlichen Rechts. Es geht also an dieser Stelle darum, was den zivilrechtlichen Charakter eines absoluten Rechts ausmacht und was seinen öffentlich-rechtlichen Charakter. Anders ausgedrückt: Welche Bedeutung hat die Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht fur die dogmatische Figur des absoluten Rechts? Ausgangspunkt fur die Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist fur uns auch hier wieder die Unterscheidung von Lebenswelt und Recht. Grundlage des Rechts und seiner Entscheidungen sind die Vorgänge der Lebenswelt. Einen der zentralen Bereiche dieser Lebenswelt stellt - vor allem fur das Zivilrecht, aber auch fur das öffentliche Recht - der Bereich der Wirtschaft dar. 63 Die Struktur dieses Bereiches basiert in erheblichem Maße auf dem Eigentum als einer wirtschaftlichen Gegebenheit. Das wirtschaftliche Eigentum ist Anknüpfungspunkt sowohl fur die Entscheidungen des Zivilrechts als auch des öffentlichen Rechts. Für das Zivilrecht stellt insoweit § 903 S. 1 BGB die zentrale Regelung dar. Der zivilrechtliche Gesetzgeber knüpft mit dieser Bestimmung an das wirtschaftliche Phänomen Eigentum an, indem er mit der umfassenden rechtlichen Befugnis zur Einwirkung auf die Sache die Verfolgung eigener wirtschaftlicher Zwecke durch den Eigentümer anerkennt. Mit der Formulierung des Verfahrenkönnens-nach-Belieben umschreibt das Recht die Befugnis des Eigentümers weitgehend formal. Darin kommt zum Ausdruck, daß die Zwecke, die der Eigentümer mit einer Sache verfolgen will, prinzipiell in sein Belieben gestellt sind. Gleichwohl stellt sich natürlich jede Ausübung des rechtlichen Beliebens i.S. von § 903 S. 1 BGB auf der Ebene der Lebenswelt als Verfolgung bestimmter Zwecke dar, auch wenn sich diese häufig nicht eindeutig festmachen lassen. Wenn man es schon im Hinblick auf sich individuelles freiheitliches Handeln in einem sozialen Kontext, rechtlich gesehen in Rechtsverhältnissen vollzieht. " 63 Vgl. Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 31 ff., und bereits oben 1. Teil I 1.
Recht
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
das Recht in sehr prinzipieller Weise formulieren will, so liegt in der Ausübung rechtlichen Beliebens die Inanspruchnahme von wirtschaftlicher Eigentumsfreiheit. 64 Das gilt nun aber nicht nur für die Ausübung zivilrechtlichen Beliebens, sondern auch für die Ausübung öffentlich-rechtlichen Beliebens. Auch das Handeln im Bereich des durch das Eigentumsgrundrecht geschützten öffentlich-rechtlichen Beliebens stellt sich in der Lebenswelt als Inanspruchnahme wirtschaftlicher Eigentumsfreiheit dar. Damit verweist sowohl das zivilrechtliche Belieben als auch das öffentlich-rechtliche Belieben in bezug auf das Eigentum auf den Wirtschaftsbereich und ganz allgemein auf die subjektiven Zwecksetzungen des einzelnen in der Lebenswelt.65 Zivilrecht und öffentliches Recht beziehen sich gleichermaßen auf die dem Recht insgesamt vorgeordnete Lebenswelt.66 Die Anknüpfung an diese Lebenswelt erfolgt aber jeweils anhand unterschiedlicher Leitgesichtspunkte. Zivilrecht und öffentliches Recht stellen unterschiedliche Konzeptionen der Bewältigung von Konflikten dar. Das Verhältnis von wirtschaftlicher Eigentumsfreiheit, zivilrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Belieben läßt sich besonders gut an dem Beispiel des Bau eines Eigenheimes deutlich machen, weil hier eine ganze Reihe unterschiedlicher zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Aspekte ineinander verzahnt sind. Zunächst einmal stellt die Bebauung eines Grundstücks die Inanspruchnahme wirtschaftlicher Eigentumsfreiheit dar. In der Regel wird man auch davon sprechen können, daß damit wirtschaftliche Zwecke verfolgt werden. Bei dem Bau des Eigenheimes können sich für den Eigentümer nun verschiedene Probleme stellen. Zunächst einmal hat der Bauherr die Interessen seiner Nachbarn zu beachten. Diese Fragen sind ursprünglich zivilrechtlich geregelt, und zwar vor allem in den §§ 903 ff. BGB. So darf der Eigentümer bei der Bebauung seines Grundstücks dieses z.B. nicht so weit vertiefen, daß der Boden des Nachbargrundstückes die erforderliche Stütze verliert, § 909 BGB. Dann kann es aber auch sein, daß der Bauherr sich seiner Rechtsposition erwehren muß. Der Nachbar oder auch ein sonstiger Dritter beansprucht etwa das Bauland als sein Eigentum und hat es unter Umständen auch bereits in Besitz genommen. Auch diese Konflikte sind nach den Regelungen des bürgerlichen Rechts zu entscheiden.67 Für den Bauherrn können aber auch 64 Zur Ausübung der Eigentumsfreiheit als positiver Freiheit jetzt eingehend Schapp, AcP 192 (1992), 355 (372 ff.). 65
Anders als der einzelne handelt der Staat nicht nach Belieben, aber auch er verfolgt durch die ihm zustehenden Rechte für den Bereich der Lebenswelt eigene, im öffentlichen Interesse stehende Zwecke. 66 Vgl. auch Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 17: "Das Wirtschaftsgefüge ist die gemeinsame Basis von Privatrecht und öffentlichem Recht, die beide ihre Konfliktsentscheidungsfunktion nur im Hinblick auf unterschiedliche Teile des einheitliches Gefüges wahrnehmen." 67 Die Verteilung der Parteirollen im Prozeß kann dabei durchaus sehr unterschiedlich sein. Je nach Situation kann dem Eigentümer sowohl die Rolle des Klägers
II. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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noch eine Reihe weiterer durchaus andersartiger Probleme auftreten. So benötigt der Bauherr für sein Vorhaben eine Baugenehmigung. Im Rahmen der Erteilung dieser Genehmigung prüft die Bauaufsichtsbehörde, ob die bauliche Anlage den öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht, also vor allem denen der Bauordnung und des Baugesetzbuches. So kann sich für den Bauherrn etwa die Frage stellen, ob er das Haus dreigeschossig errichten darf oder ob nur zwei Geschosse zulässig sind. Im Unterschied zu den Konflikten des Zivilrechts geht es hier nicht um die Abgrenzung individueller Interessen, sondern um die von individuellen und öffentlichen Interessen.68 Das öffentliche Recht entscheidet damit Konflikte, in denen prinzipiell auch die Allgemeinheit betroffen ist. In welchem Sinne läßt sich nun davon sprechen, daß der Eigentümer bei der Bebauung seines Grundstückes nicht nur wirtschaftliche Zwecke verfolgt, sondern auch zivilrechtliche und öffentlich-rechtliche Eigentumsfreiheit in Anspruch nimmt? Daß der Eigentümer durch die Bebauung seines Grundstükkes mit der Sache nach Belieben verfahrt, läßt sich sinnvoll sowohl im Hinblick auf § 903 S. 1 BGB als auch im Hinblick auf Art. 14 GG sagen. Was macht dieses Belieben jeweils zu zivilrechtlichem oder zu öffentlich-rechtlichem Belieben? Die Antwort darauf ist, daß § 903 S. 1 BGB den wirtschaftlichen Eigentümer offenbar in anderen Spannungsbeziehungen sieht als Art. 14 GG. Der zivilrechtliche Kern der Vorschrift des § 903 S. 1 BGB scheint uns ganz wesentlich darin zu liegen, daß der Eigentümer hier in seinem Verhältnis zu allen anderen einzelnen Wirtschaftssubjekten gesehen wird. § 903 S. 1 BGB umschreibt das Verhältnis des Eigentümers zu jedem denkbaren privaten Störer. Dagegen ist Art. 14 GG eine Vorschrift, die sich gegen konkrete staatliche Beeinträchtigungen richtet. Der spezifisch öffentlich-rechtliche Gehalt der Vorschrift liegt also darin, daß der Eigentümer in seinem Verhältnis zum Staat gesehen wird und dementsprechend seine individuellen Interessen gegebenenfalls in eine Beziehung zu den öffentlichen Interessen gesetzt werden. Art. 14 GG umschreibt damit das Verhältnis des Eigentümers zu jeder denkbaren öffentlich-rechtlichen Störung durch den Staat. Der Gedanke der potentiellen Störung ermöglicht es, den Schutz, den das Recht dem wirtschaftlichen Handeln des Eigentümers gewährt, genauer zu betrachten. Soweit der Eigentümer sich bei der Verfolgung seiner wirtschaftlichen Zwecke gegen andere Wirtschaftssubjekte - mit Hilfe von aus dem Eigentum begründeten Abwehransprüchen - zur Wehr zu setzen vermag, kann als auch die des Beklagten zufallen. Dagegen ist das gesamte öffentliche Recht darauf aufgebaut, daß grundsätzlich der Bürger Klage gegen den Staat erheben muß. 68
Zum öffentlich-rechtlichen Gesetz als Konfliktsentscheidung zwischen privaten und öffentlichen Interessen Schapp t Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 17 f., 152 ff.; weiter ders., Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, S. 30 ff., 34 ff., 37 ff. und öfter.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
man davon sprechen, daß er zivilrechtliche Eigentumsfreiheit wahrnimmt. Soweit er sich hingegen dabei gegen Störungen von Seiten des Staates verteidigen kann, wird man von der Wahrnehmung öffentlich-rechtlicher Eigentumsfreiheit sprechen. Die wirtschaftliche Freiheit des Eigentümers wird also jeweils mit den Mitteln den Zivilrechts oder des öffentlichen Rechts gewährleistet.69 Ob zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Eigentumsfreiheit in Anspruch genommen wird, hängt demnach von der Situation der Eigentumsstörung ab: Das Belieben des wirtschaftlichen Eigentümers steht in jeweils unterschiedlichen Konfliktsituationen. Die Bestimmung der Konfliktsituation ist dabei selbst schon eine Frage juristisch-dogmatischer Wertungsarbeit. Daß ein wirtschaftlicher Konflikt ein solcher des Zivilrechts oder des öffentlichen Rechts ist, beinhaltet bereits eine erste juristische Bewertung dieses Konfliktes. Mit der Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht stellt die juristische Dogmatik unterschiedliche Leitkonzeptionen für die Entscheidung von Konflikten zur Verfügung. Die Einordnung in eine dieser Leitkonzeptionen ermöglicht dabei nicht nur einen ersten groben Überblick über den Konflikt selbst, sondern sie stellt den Konflikt der Lebenswelt auch immer schon in große prinzipielle Zusammenhänge des Rechts. Mit diesen Zusammenhängen kann sich die juristische Arbeit an rechtlichen Prinzipien orientieren, aus denen heraus der Konflikt schließlich entscheidbar wird. 7 0 Leitprinzipien in diesem Sinne sind für das Zivilrecht etwa der Gedanke der Privatautonomie, für das öffentliche Recht kann man hier etwa auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns oder auch die Notwendigkeit der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze verweisen. 71 Der Gedanke der Privatautonomie bedeutet für das Zivilrecht etwa, daß der Eigentümer sich bei der Ausübung der Befugnisse aus seinem absQluten Recht gegebenenfalls vertragliche Rechte entgegenhalten lassen muß, also etwa ein schuldrechtliches Besitzrecht i.S. von § 986 I 1 BGB. Die Prinzipien des öffentlichen Rechts zielen vor allem darauf ab, daß die Befugnisse des Grundrechtsinhabers nur mit bestimmten Mitteln eingeschränkt werden, in der Regel dem öffentlich-rechtlichen Gesetz, und dies auch nur bei entsprechender Gewichtung der Zwecke geschieht. Insgesamt wird man wohl sagen müssen, daß das öf69 Zu diesem zivilrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Schutz der "positiven Eigentumsfreiheit" durch die "negative Eigentumsfreiheit" ausfuhrlich Schapp, AcP 192 (1992), 355 (372 ff.). 70 Diese Orientierungsfunktion der Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht wird in dem Vorschlag Bullingers, Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 75 ff., diese Unterscheidung zugunsten eines "Gemeinrechts" aufzugeben, nicht genügend berücksichtigt. 71 Zur Privatautonomie als Prinzip des bürgerlichen Rechts und dem "gesetzlichen Zwang" als Prinzip des öffentlichen Rechts, vgl. Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 1 (S. 3).
Π. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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feniliche Recht nur über sehr viel pauschalere Prinzipien der Konfliktsentscheidung verfugt als das Zivilrecht. Der Zweck unserer Darstellung, zu zeigen, wie sich die Unterscheidung von Zivilrecht und öffentlichem Recht auf die dogmatische Figur des absoluten Rechts bezieht, dürfte damit erreicht sein. Weiterreichende Thesen zum Verhältnis von Zivilrecht und öffentlichem Recht sind dazu nicht notwendig. Hier kann man wesentliche Teile des Zivilrechts als althergebrachtes Weistum ansehen,72 das auch dem öffentlichen Recht vorausgeht und ihm seine Grundlage gibt. Dafür spricht vor allem die lange historische Entwicklung des Zivilrechts und seiner Prinzipien, aufgrund deren diese Rechtsmaterie heute in sehr viel reiferer Gestalt vor uns steht als das im wesentlichen auf der Grundlage des neuzeitlichen Staatsverständnisses ausgebildete öffentliche Recht. 73 Andererseits bedarf das Zivilrecht der Gegenwart in vielen Bereichen der Abstützung und Gewährleistung durch öffentlich-rechtliches Gesetz.74 Darin kommt ein gewisser Vorrang des öffentlichen Rechts zum Ausdruck. Diese unterschiedlichen Akzentuierungen zeigen, wie schwierig heute eine genauere inhaltliche Bestimmung des Verhältnisses von Zivilrecht und öffentlichem Recht ist. Das legt die Auffassung nahe, daß ein zeitgemäßes Verständnis zum Verhältnis von Zivilrecht und öffentlichem Recht einer differenzierten Analyse bedarf, die vor allem auch das komplexe Geflecht gegenseitiger Ergänzung und Durchdringung beider Rechtsbereiche berücksichtigt. 3. Das absolute Recht als Grundlage von öffentlich-rechtlichen Befugnissen und öffentlich-rechtlichen Ansprüchen a) Die Unterscheidung von Begründungs-, Befugnis- und Anspruchsebene. Die Ausschließungsbefugnis als prinzipielle Konßiktsentscheidung Die dogmatische Figur des absoluten Rechts dient der Begründung von Ansprüchen. Dementsprechend hatte die Darstellung ihren Ausgangspunkt bei 72
Zum Recht in Gestalt des "Weistums" vgl. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, S. 12 ff., und zuletzt W. Henke, Recht und Staat, § 57. Man wird sagen können, daß dieser Charakter des Rechts als "seit jeher Gültiges" auch heute noch das bürgerliche Recht in seinem Grundzug bestimmt. Dagegen scheint uns das öffentliche Recht ganz wesentlich auf dem modernen Gedanken der Rechtsetzung durch den Staat zu beruhen. 73 Zur Herausbildung der scharfen Unterscheidung und Trennung von privatem und öffentlichem Recht vgl. Stolleis, Art. "Öffentliches Recht I" (insbes. Sp. 1195 f.); Grimm, Art. "Öffentliches Recht II" (insbes. Sp. 1202 f.); ders., Zur politischen Funktion der Trennung von öffentlichem und privatem Recht in Deutschland; Bullinger , Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 37 ff. 74 Vgl. nur Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 1 II 1 (S. 3).
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
der Unterscheidung von absolutem Recht und Anspruch genommen, die das Fundament der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik darstellt. Auf systematischer Ebene fuhrt sie zur Unterscheidung von Begründungs- und Anspruchsebene.75 Soweit die absoluten Rechte von Bürger und Staat Begründungsmomente geben, konstituieren sie eine Ebene der Begründungen. Im Hinblick auf die aus diesen Begründungen gewonnenen Entscheidungen läßt sich davon eine Ebene der Ansprüche unterscheiden. Im Anschluß an diese Unterscheidung geht es im folgenden um eine vertiefte Analyse des Systems des öffentlichen Rechts. Mit der Unterscheidung von Begründungs- und Anspruchsebene sind die äußersten Eckpunkte des öffentlich-rechtlichen Anspruchssystems gekennzeichnet. Der Anspruch ist die konkrete juristische Entscheidung eines Konfliktes, die Begründung ist letzter und unmittelbarster Ausdruck der Bewertung dieses Konfliktes durch den Gesetzgeber. Im Hinblick auf den Anspruch und seine Begründung läßt sich auch das öffentliche Recht damit als Anspruchs· und Wertsystem begreifen. 76 Eine genauere Betrachtung der dogmatischen Figur des absoluten Rechts erlaubt es nun, in das durch Begründungs- und Anspruchsebene konturierte Gerüst des öffentliche Rechts eine weitere Ebene einzufügen, deren systematischer Stellenwert gar nicht hoch genug angesetzt werden kann. Es handelt sich dabei um die Ebene der Befugnisse aus dem absoluten Recht, um die Befugnisebene. Das absolute Recht ist eine durch Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis gekennzeichnete Rechtsposition. Mit diesen Befugnissen sind die Rechte des Rechtsinhabers eines solchen absoluten Rechts in ganz prinzipieller Weise umrissen. Eine Vorstellung von diesem prinzipiellen Charakter der Befugnis ist für ein Verständnis der Befugnisebene von schlechthin zentraler Bedeutung. Einer Anspruchsdogmatik muß es vor allem auf das Verhältnis von Befugnis und Anspruch ankommen.77 Dementsprechend steht im Mittelpunkt unseres Interesses der prinzipielle Charakter der Ausschließungsbefiignis. 78 Die 75
Vgl. dazu bereits oben II 1.
76
Vgl. schon oben 1. Teil.
77
Die Notwendigkeit einer Reflexion auf das Verhältnis von Befugnis und Anspruch für das öffentliche Recht ergibt sich auch daraus, daß etwa in der Untersuchung von Schwabe y Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 37 ff., dieses Verhältnis unklar bleibt. Das liegt zunächst daran, daß Schwabe mit der Befugnis offenbar überhaupt nur die Einwirkungsbefugnis im Auge hat, während er der Ausschließungsbefugnis und ihrer Unterscheidung vom Anspruch keine weiterreichende Bedeutung zumißt, vgl. ders.y a.a.O., S. 21 f. Von der Einwirkungsbefugnis her läßt sich natürlich nur mit Mühe ein Verhältnis zum Anspruch herstellen. Zu Schwabes Überlegungen im einzelnen vgl. unten 4 c. 78 Zur Ausschließungsbefugnis und ihrem Verhältnis zum Anspruch vgl. vor allem die Überlegungen von Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechts-
. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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Ausschließungsbefugnis ist scharf von dem aus dem absoluten Recht begründeten Abwehranspruch zu unterscheiden. Dennoch gibt es zwischen beiden auch Gemeinsamkeiten, auf die wir zunächst unser Augenmerk richten. Sowohl der Abwehranspruch als auch die Ausschließungsbefugnis stellen subjektive Berechtigungen dar, die durch das im absoluten Recht anerkannte Wertprinzip begründet werden. Damit haben beide eine gemeinsame Grundlage. Die Ausschließungsbefugnis ist wie der Abwehranspruch auch durch das Wertprinzip begründete Entscheidung. Im Unterschied zum Anspruch, der die Entscheidung eines konkreten Konfliktes darstellt, beinhaltet die Ausschließungsbefugnis nur die prinzipielle Entscheidung von Konflikten um das absolute Recht. Für den Fall der Störung begründet das absolute Recht einen Abwehranspruch gegen den Störer. Demgegenüber bringt die Ausschließungsbefugnis die nur dem Grundsatz nach erfolgte Entscheidung des Rechts zum Ausdruck, daß dem Berechtigten fur den Fall der Störung ein Abwehranspruch gegen den Störer zusteht. Anspruch und Ausschließungsbefugnis stellen damit Entscheidungen unterschiedlicher Abstraktionsstufen dar. Der Anspruch gehört der niedrigsten Abstraktionsstufe an. Er ist das rechtliche Instrument der Entscheidung eines konkreten Konfliktes. Die Ausschließungsbefugnis ist einer höheren Abstraktionsstufe zuzuordnen.79 Sie ist nicht Entscheidung konkreter Konflikte, sondern Entscheidung sämtlicher denkbaren Konflikte, die in der Störung des absoluten Rechts liegen. Solch eine Entscheidung kann sie aber nur sein, weil sie im Unterschied zum Anspruch noch keine endgültige Entscheidung darstellt, sondern nur eine prinzipielle Entscheidung. Daß die Ausschließungsbefugnis eine nur prinzipielle Entscheidung darstellt, bedeutet folgendes. Eine endgültige und abschließende Entscheidung sämtlicher denkbaren Fälle der Störung des jeweiligen absoluten Rechts durch die Ausschließungsbefugnis müßte bedeuten, daß damit zugleich auch immer schon jeder konkrete Störungsfall entschieden wäre. Diese Bedeutung hat die Ausschließungsbefugnis nicht. 80 Ihr Sinn ist es vielmehr nur, zum Ausdruck zu bringen, daß die konkreten Fälle der Störung dem Grundsatz nach durch das Recht so entschieden sind, daß der Berechtigte Unterlassung und Beseitigung der Störung verlangen kann. Die Betonung liegt hier darauf, daß die Ausschließungsbefugnis nur eine grundsätzliche Entscheidung beinhaltet. Mit dem absoluten Recht anerkennt die Rechtsordnung eine Position, die zwar gewinnung, S. 114 ff.; ders., Sachenrecht, §§ 1 I, 20 I; ders., Zum Wesen des Grundpfandrechts, 477 (487 ff.); ders., Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 3. 79 Diesen höheren Abstraktionsgrad der Ausschließungsbefugnis hat Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 115 Fn. 29, in die Formuüerung gefaßt, daß die Ausschließungsbefugnis "die gattungsmäßige Zusammenfassung der Ansprüche" ist. 80
Vgl. bereits oben die Analyse des zivilrechtlichen Eigentumsmodells 2. Teil I 3.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
prinzipiell gegen jede Störung geschützt ist. Im konkreten Fall der Störung ist aber immer die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß über den Schrankenvorbehalt des absoluten Rechts für die Störung Gründe angeführt werden, die so schwer wiegen, daß die Gewährung eines Abwehranspruches versagt werden muß. Die Ausschließungsbefugnis sieht von solchen Fragen des konkreten Falles ab. Damit erweist sie sich ihrem Charakter nach als prinzipielle Konfliktsentscheidung. Als prinzipielle Konfliktsentscheidung werden mit der Begründung der Ausschließungsbefugnis durch das absolute Recht denkbare Konflikte nur unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Störung dieses Rechtes beurteilt und entschieden. Der ebenfalls durch das absolute Recht begründete Abwehranspruch entscheidet dagegen über den mit einer konkreten Störung gegebenen Konflikt. Unter diesem Gesichtspunkt kann man auch davon sprechen, daß sich in dem Abwehranspruch die Ausschließungsbefiignis konkretisiert. 81 Ihrem Charakter als prinzipielle Konfliktsentscheidung entspricht es, daß die Befugnis den Begründungsmomenten näher steht als der Anspruch. Zwar begründet sich auch der Anspruch aus dem absoluten Recht, aber doch nur unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten des Störungsfalles. Sehr viel stärker ist dagegen die Befugnis Ausdruck des im absoluten Recht anerkannten Wertprinzips. Man kann hier sagen, daß mit dem Rückzug vom Fall nicht nur der Abstraktionsgrad, sondern auch die Nähe zum Wertprinzip zunimmt. 82 Das zeigt sich nicht zuletzt auch darin, daß das absolute Recht, mit dem die Rechtsordnung das zugrunde liegende Wertprinzip anerkennt, wesentlich dadurch bestimmt ist, daß es für den Rechtsinhaber Einwirkungs- und Ausschließungsbefugnis begründet. Die Nähe der Befugnis zum Wertprinzip spiegelt sich auch im Verhältnis der verschiedenen Ebenen des öffentlichen Rechts zueinander wider. Begründungs- und Anspruchsebene lassen sich ohne weiteres klar voneinander trennen. Dagegen kommt es - gerade im öffentlichen Recht - zu einer sehr innigen Verzahnung von Begründungs- und Befugnisebene. Der Bezug der verschiedenen Ebenen zueinander wird im folgenden einer genaueren Betrachtung anhand des Verhältnisses von Eingriffsgesetzgebung und Freiheitsgrundrechten unterzogen. Dreh- und Angelpunkt ist dafür das Verständnis der Befugnis als prinzipielle Konfliktsentscheidung.
81 Schapp, Zum Wesen des Grundpfandrechts, 477 (487 f.). Gegen diese Vorstellung im Bereich der Grundrechte Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 21 f. Das subjektive negatorische Grundrecht bestehe vielmehr aus einem "Bündel von Ansprüchen, in der grundrechtlich geschützten Sphäre nicht beeinträchtigt zu werden." 82 Zum Orientierungswert der obersten Begriffe der juristischen Dogmatik für die Fallösung vgl. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, S. 98 ff.
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b) Konkrete und prinzipielle Konfliktsentscheidung im Verhältnis Eingriffsgesetzgebung und Freiheitsgrundrechten Die Unterscheidung von Begründungs-, Befugnis- und Anspruchsebene ist von erheblicher Bedeutung fur eine differenziertere Analyse des Verhältnisses von Eingriffsgesetzgebung und Freiheitsgrundrechten. Insbesondere der Unterscheidung von Befugnis- und Anspruchsebene kommt fur das öffentliche Recht eine schlechthin zentrale Rolle zu. aa) Das Gesetz als konkrete und prinzipielle Konfliktsentscheidung Ausgangspunkt unserer Betrachtung ist die einzelne öffentlich-rechtliche Befugnisnorm. Diese läßt sich als absolutes Recht begreifen. Der Ansatz beim absoluten Recht impliziert, daß zwei Konfliktebenen voneinander zu unterscheiden sind: die Befugnisebene und die Anspruchsebene. Für beide Ebenen hat das Gesetz Entscheidungscharakter. Es ist Entscheidung auf der Befugnisebene und zugleich auch Entscheidung auf der Anspruchsebene. Zunächst zur Entscheidung auf der Befugnisebene. Die Setzung einer öffentlich-rechtlichen Befugnisnorm bedeutet, daß der Staat sich selbst eine als absolutes Recht begreifbare rechtliche Position verschafft. Das öffentlich-rechtliche Gesetz beinhaltet damit auch eine prinzipielle Entscheidung über dem Staat zustehende Befugnisse. Auf der Anspruchsebene ist das öffentlich-rechtliche Gesetz dann zugleich aber auch konkrete Konfliktsentscheidung. Entsprechend seinem Charakter als absolutes Recht entscheidet es den Konflikt, indem es fur den Fall der Störung Abwehransprüche des Staates begründet. Der doppelte Entscheidungscharakter des öffentlich-rechtlichen Gesetzes wird deutlicher, wenn man sich einmal die unterschiedlichen Konfliktsituationen und die jeweiligen Konfliktparteien vergegenwärtigt. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht die öffentlich-rechtliche Befugnisnorm und damit der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber. Die Entscheidungstätigkeit des öffentlich-rechtlichen Gesetzgebers liegt einmal darin, daß er einen konkreten Konflikt zwischen Verwaltung und einzelnem Bürger entscheidet. Für den Bereich der Eingriffsverwaltung bedeutet das, daß der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber den Konflikt durch Begründung eines öffentlich-rechtlichen Anspruches zugunsten der Verwaltung entscheidet. Legt man den Akzent auf die unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen staatlichen Gewalten, so wird der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber hier als neutrale konfliktsentscheidende Instanz tätig. Die Neutralität des Gesetzgebers ist dadurch abgesichert, daß auch der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber selbst mit seinen Entscheidungen in einem latenten Konfliktverhältnis zum Bürger und seinen Rechten steht.83 Dieser Konflikt zwischen öffentlich-rechtlichem Gesetzgeber und Bürger ist durch den
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Verfassungsgesetzgeber entschieden. Anders als der Konflikt zwischen Verwaltung und Bürger ist dieser Konflikt aber prinzipieller Art. Dementsprechend wird er durch den Verfassungsgesetzgeber auch nur in einer prinzipiellen Weise entschieden, nämlich nicht durch Gewährung eines Anspruches, sondern durch Gewährung einer Befugnis. Dabei ist folgendes zu beachten. Die Eigenart dieses Konfliktes liegt darin, daß der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber als konfliktsentscheidende Instanz selbst Konfliktpartei ist. Im öffentlich-rechtlichen Gesetz liegt ja nicht nur eine konkrete Konfliktsentscheidung, sondern auch eine prinzipielle Konfliktsentscheidung. Angesichts des absolut-rechtlichen Charakters des öffentlich-rechtlichen Gesetzes stellt diese prinzipielle Konfliktsentscheidung des öffentlich-rechtlichen Gesetzgebers die Begründung einer staatlichen Befugnis dar. Der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber trifft damit seine Entscheidungen immer auch schon im Hinblick auf den Verfassungsgesetzgeber, dessen Entscheidungen ebenfalls in prinzipieller Weise durch Gewährung von Befugnissen erfolgen. Das Verhältnis von gesetzlicher und verfassungsgesetzlicher Konfliktsentscheidung ist leichter verständlich zu machen, wenn man die Freiheitsgrundrechte in die Überlegungen miteinbezieht. Als absolutes Recht gibt auch das Grundrecht dem Bürger Befugnisse und Ansprüche. Mit jedem belastenden öffentlich-rechtlichen Gesetz verschafft sich der Staat nun nicht nur ein absolutes Recht, sondern zugleich auch Befugnisse, die mit Teilen der dem Grundrechtssubjekt zugewiesenen Befugnisse konkurrieren. Das ergibt sich daraus, daß die Freiheitsgrundrechte prinzipiell gegen jede staatliche Beeinträchtigung Schutz gewähren. 84 Indem der Staat sich also durch Gesetz Befugnisse zuweist, behauptet er Befugnisse für sich, die prinzipiell auch dem Bürger zugewiesen sind. Für diesen Bereich überschneiden sich demnach die Befugnisse von Staat und Bürger. Wie dieses sich aus der Überschneidung von Befugnissen ergebende Spannungsverhältnis zwischen den absoluten Rechten von Staat und Bürger auf der Anspruchsebene aufgelöst wird, ist im einzelnen bereits oben dargelegt worden. 85 Die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Befugnisnorm liegt dann weiter darin, daß der Staat mit ihr nicht nur Befugnisse behauptet, sondern zugleich auch über die Berechtigung dieser Behauptung entscheidet. Dabei muß man sehen, daß der Staat mit dem Mittel des öffentlich-rechtlichen Gesetzes überhaupt nur die Möglichkeit hat, sich auf Befugnisse zu berufen, indem er
83 84 85
Zu dieser "Janusköpfigkeit" der Gesetzgebung vgl. bereits oben I 1. Vgl. oben 2 b cc. Vgl. oben 2 b cc.
Π. Ansprüche des Staates und des Brgers aus absoluten Rechten
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zugleich ihre Berechtigung anfuhrt. 86 Im Verhältnis zu den Grundrechtssubjekten ist das öffentlich-rechtliche Gesetz damit Behauptung und zugleich Abgrenzung von Befugnissen. Wenn man nun die Entscheidungstätigkeit des Verfassungsgesetzgebers in den Blick nimmt, so liegt diese in der Beurteilung, ob dem Gesetzgeber die Abgrenzung der Befugnisse von Staat und Bürger gelungen ist oder nicht. Ist das Gesetz verfassungsgemaß und damit die Abgrenzung der Befugnisse gelungen, so ist die Behauptung der Befugnisse durch den Gesetzgeber begründet. Die verfassungsrechtliche Entscheidung stellt damit gewissermaßen die Bestätigung oder auch Anerkennung der bereits durch den öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber behaupteten Befugnis dar, die - soweit sie reicht - die entsprechenden Befugnisse aus den Grundrechten verdrängt. Ist hingegen die Abgrenzung mißlungen und damit das Gesetz verfassungswidrig, kann man davon sprechen, daß sich der Staat - zu Unrecht - Befugnisse angemaßt hat. In diesem Fall geht die verfassungsrechtliche Entscheidung dahin, die in Streit stehenden Befugnisse aus den Grundrechten zu bestätigen. Insgesamt lassen sich damit fur den öffentlich-rechtlichen Konflikt drei Entscheidungen voneinander unterscheiden. Der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber entscheidet über den Konflikt zwischen Verwaltung und Bürger durch Begründung eines öffentlich-rechtlichen Anspruches. Weiter trifft er dann aber zugleich auch eine Entscheidung in eigener Sache, nämlich im Konflikt zwischen Gesetzgeber und Grundrechtssubjekt, durch Begründung staatlicher Befugnisse. Die Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers ist schließlich die Entscheidung über die Richtigkeit oder auch nur Vertretbarkeit der in eigener Sache erfolgenden gesetzlichen Entscheidung, mit der die durch Gesetz begründete Befugnis anerkannt oder als Anmaßung zurückgewiesen wird. Die durch Gesetz erfolgende Entscheidung beinhaltet dabei - wie gezeigt eine zweifache Entscheidung, sie ist Entscheidung auf der Anspruchsebene und auf der Befugnisebene. Die beiden Entscheidungen sind aber durchaus miteinander verknüpft. Ihr Gegenstand ist derselbe Konflikt, sie bewerten ihn lediglich unter unterschiedlichen Gesichtspunkten.87 Wir machen uns das einmal an einem sehr einfachen Beispiel klar. Der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber möge durch Gesetz festgelegt haben, daß Bauvorhaben im Außenbereich unzulässig sind, sofern sie den Darstellungen des Flächennutzungsplanes widersprechen (vgl. § 35 I I I BauGB). Diese Regelung stellt zunächst einmal eine prinzipielle Entscheidung dar, und zwar im Verhältnis des Gesetzgebers 86
Vgl. Schapp, Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre. S. 42. Bereits zur Bewertung gehört auch, daß der Konflikt einmal als prinzipieller, das andere Mal als konkreter Konflikt betrachtet wird. An der Identität des Konfliktes ändert sich dadurch nichts. 87
10 Schur
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
zu sämtlichen Eigentümern im Außenbereich. Anspruchsentscheidung ist sie erst im Verhältnis zwischen der Verwaltung und einem konkreten Grundstückseigentümer, der beabsichtigt oder auch schon begonnen hat, sein im Außenbereich gelegenes Grundstück zu bebauen. Als Anspruchsentscheidung liegen dem öffentlich-rechtlichen Gesetz dabei durchaus andere Erwägungen zugrunde als der prinzipiellen Entscheidung auf der Befugnisebene. Der durch den Anspruch entschiedene Konflikt stellt sich vornehmlich als ein Sachkonflikt dar, d.h. als ein Konflikt, bei dem konkrete Sachinteressen in Streit stehen. In dem obigen Beispielsfall ist das etwa das Interesse des Eigentümers an der Bebauung seines Grundstückes im Außenbereich sowie das Interesse der Verwaltung, an dem bereits vorhandenen Flächennutzungsplan festzuhalten. Der durch die Befugnis entschiedene Konflikt ist eher ein solcher rechtsprinzipieller Art. Der Gesetzgeber muß hier - im Hinblick auf den Sachkonflikt - die prinzipiellen Gründe, die für die Befugnisse des Bürgers als Grundrechtsinhaber sprechen, mit den für die staatlichen Befugnisse anzuführenden Gründen abwägen. Der Natur als prinzipieller Konflikt entspricht es, daß dabei - wenn auch im Hinblick auf den Sachkonflikt - nur Erwägungen prinzipieller Art erfolgen. In dem obigen Beispiel wären etwa die Bedeutung des Eigentums und des Flächennutzungsplans für den Sachkonflikt in ein Verhältnis zu setzen. Beim Gesetzgebungsakt kommt es sowohl auf die sachliche als auch auf die prinzipielle Richtigkeit der Entscheidungen an. Die sachliche Entscheidung wird auf der Anspruchsebene gefällt, die prinzipielle Entscheidung auf der Befugnisebene. Ist die Entscheidung sachlich falsch, so kann das die Entscheidung auch als prinzipielle fehlerhaft machen. Ist die Entscheidung in prinzipieller Hinsicht falsch, so setzt sich auf der Befugnisebene die im Grundrecht liegende prinzipielle Entscheidung gegen die gesetzliche Entscheidung durch, indem das Grundrecht auf der Ebene des Sachkonflikts Abwehransprüche begründet. bb) Wesentliche Konflikttypen des öffentlich-rechtlichen Eingriffsrechts Um die systematische Bedeutung der Verzahnung von Befugnis- und Anspruchsebene einschätzen zu können, ist es sinnvoll, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen. Es liegt nahe, dazu die wesentlichen Konflikttypen des öffentlich-rechtlichen Eingriffsrechts herauszugreifen und ihre Behandlung darzulegen. Nach unserer Auffassung sind hier im wesentlichen folgende Fallgruppen zu unterscheiden: (1) Die Verwaltung verfolgt einen Anspruch gegen den Bürger. Für den Anspruch ist eine gesetzliche Grundlage vorhanden, deren Voraussetzungen auch vorliegen. Das Gesetz selbst weist keine Mängel auf.
II. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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(2) Die Verwaltung verfolgt einen Anspruch gegen den Bürger. Für den Anspruch ist eine gesetzliche Grundlage vorhanden, deren Voraussetzungen auch vorliegen. Das Gesetz weist aber Mängel auf. Solche Mängel können vor allem sein (a) spezifische Grundrechtsverletzungen (b) sonstige verfassungsrechtliche Mängel wie etwa die Nichtbeachtung von Kompetenzvorschriften. (3) Die Verwaltung verfolgt einen Anspruch gegen den Bürger. Es ist keine gesetzliche Grundlage für einen solchen Anspruch vorhanden. (4) Die Verwaltung verfolgt einen Anspruch gegen den Bürger. Für den Anspruch ist auch eine gesetzliche Grundlage vorhanden, ohne daß aber deren Voraussetzungen gegeben sind. Zu (1): Die Verfolgung eines Anspruches gegen den Bürger durch die Verwaltungsbehörde erfolgt in aller Regel mit dem prozessualen Instrument des Verwaltungsaktes. Der in dieser Form verfolgte öffentlich-rechtliche Anspruch der Verwaltung stellt die Störung eines oder mehrerer Freiheitsgrundrechte des Bürgers dar. Für den Fall einer solchen Störung begründet das Grundrecht als absolutes Recht an sich einen Abwehranspruch gegen die Verwaltung, der auf Abwehr der Störung gerichtet ist. Der Abwehranspruch ist aber ausgeschlossen, sofern der Grundrechtsinhaber zur Duldung der Störung, die in der Verfolgung des Anspruches durch Verwaltungsakt liegt, verpflichtet ist. Zur Störung berechtigt ist die Verwaltung, wenn ihr ein entsprechender Duldungsanspruch zusteht. Dieser Duldungsanspruch wird durch Gesetz begründet. In der obigen Fallgruppe 1 kann die Verwaltung daher den aus fehlerfreier gesetzlicher Grundlage hergeleiteten Anspruch gegen den Bürger durchsetzen. Zu (2): Wenn das Gesetz rechtliche Mängel aufweist, so fehlt es auch an einer tauglichen Begründung für den Duldungs- oder Eingriffsanspruch der Verwaltung. Der Gesetzgeber hat sich gegenüber den Grundrechtssubjekten Befugnisse angemaßt, die ihm nicht zustehen. Das hat zur Folge, daß die Verwaltung zur in der Anspruchsverfolgung durch Verwaltungsakt liegenden Störung nicht berechtigt ist. Sie kann daher durch den aus dem absoluten Grundrecht begründeten Anspruch abgewehrt werden. Auf die Art des dem öffentlich-rechtlichen Gesetzes innewohnenden rechtlichen Mangels (vgl. die unterschiedlichen Fälle 2a und 2b) kommt es dabei im übrigen nicht an, weil jeder verfassungsrechtliche Fehler die Befugnisse der Grundrechtssubjekte (zumindest die aus Art. 2 Abs. 1 GG) berührt. Zu (3): Mangels gesetzlicher Grundlage besteht der von der Verwaltung verfolgte Anspruch nicht. Die in der Anspruchsverfolgung liegende Störung durch die Verwaltung kann durch einen sich aus dem absoluten Grundrecht herleitenden Anspruch abgewehrt werden. Der Fall ist deshalb von besonde-
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3. Teil: Die Begründung von Ansprchen im öffentlichen Recht
rem Interesse, weil er zeigt, daß im Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürger Ansprüche vorliegen können, ohne daß überhaupt irgendeine Entscheidung des öffentlich-rechtlichen Gesetzgebers vorliegt. Die Entscheidung des Konfliktes erfolgt hier allein aus dem Grundrecht, da die den Grundrechtssubjekten zustehenden Befugnisse eben nur durch öffentlich-rechtliches Gesetz verkürzt werden dürfen. Damit stellt sich auch der Charakter der gesetzlichen Konfliktsentscheidung selbst noch einmal in einem neuen Lichte dar. Auf der Ebene der Befugnisse haben, wie der obige Fall sehr deutlich zeigt, auch die Freiheitsgrundrechte den Charakter prinzipieller Entscheidungen.88 Nicht nur das öffentlich-rechtliche Gesetz, sondern auch das Grundrecht kann also als Konfliktsentscheidung verstanden werden. Das Verhältnis beider Konfliktsentscheidungen zueinander ist dadurch gekennzeichnet, daß dem Bürger eine Reihe von abschließend aufgezählten Grundrechtspositionen zusteht, die wir als absolute Rechte deuten. Dagegen verfugt der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber über keine vorgegebenen Positionen. Es ist gerade seine Aufgabe, sich durch Gesetz solche als absolute Rechte begreifbare Positionen zu verschaffen. Diese Positionen bedürfen der Begründung durch öffentliche Interessen, dann aber auch der Beachtung der bereits vorhandenen Positionen, die mit den Grundrechten gegeben sind. In der Notwendigkeit für den öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber, die vorgegebenen Grundrechtspositionen zu beachten, kommt ein zentrales Strukturprinzip des öffentlichen Rechts zum Ausdruck: Konfliktsentscheidungen des Gesetzgebers erfolgen immer schon in den Entscheidungszusammenhängen, die die Grundrechte begründen. Als prinzipielle Konfliktsentscheidungen geben die absoluten Grundrechte einen groben Entscheidungsrahmen vor, den der Gesetzgeber auszufüllen hat. Die Grundrechte konturieren also den rechtlichen Bereich der Entscheidungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Überschreitet der öffentlich-rechtliche Gesetzgeber diesen Entscheidungsrahmen, so schlagen die prinzipiellen Grundrechtsentscheidungen im konkreten Störungsfall auf die Anspruchsebene durch, indem das absolute Grundrecht Abwehransprüche begründet. Zu (4): Der Fall, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für einen von der Verwaltung verfolgten Anspruch nicht gegeben sind, steht dem Fall (vgl. Fall 3), daß für einen solchen Anspruch überhaupt keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, gleich. 89 Auch eine solche Anspruchsverfolgung kann der be88 Demgemäß sieht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Grundrechte nicht nur unter dem Gesichtspunkt der NWertordnung", sondern auch als "V/ciientscheidungen", vgl. etwa BVerfGE 10, 59 (66); 14, 263 (277, 279); 26, 265 (272); ähnlich BVerfGE 30, 173 (188), 35, 78 (112). 89 So wohl auch W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 110.
. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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troffene Bürger also durch den sich aus einem Grundrecht ergebenden Abwehranspruch verhindern. Auch dieser Fall ist fur die Systematik des öffentlichen Rechts sehr aufschlußreich, wie ein Vergleich mit der entsprechenden Situation im Zivilrecht zeigt. Deijenige, der im nach bürgerlichem Recht zu beurteilenden Konflikt einen Anspruch verfolgt, also der Kläger, hat auch die Voraussetzungen dieses Anspruches, die anspruchsbegründenden Tatsachen, darzulegen und im Streitfalle dann zu beweisen. Gelingt dem Kläger dies nicht, so wird seine Klage zurückgewiesen. Insgesamt ist im zivilrechtlichen Konflikt die rechtliche Verfolgung eines Anspruches grundsätzlich überhaupt nur möglich bei gleichzeitiger Feststellung des Bestehens der ihn begründenden Voraussetzungen. Anders stellt sich der versvaltungsrechtliche Konflikt dar. Mit dem Verwaltungsakt verfugt die jeweilige Verwaltungsbehörde über ein vollstreckungsrechtliches Instrument, das die Fronten des verwaltungsrechtlichen Konfliktes im grundsätzlichen verkehrt. 90 Der Verwaltungsakt gibt der Behörde die Möglichkeit, nicht nur einen eigenen Anspruch geltend zu machen, sondern ihn zugleich auch zu vollstrecken und damit durchzusetzen. Das bedeutet, daß die Verwaltung durch den Erlaß eines Verwaltungsaktes eine Rechtsposition zu erlangen vermag, die - bis zur Grenze der Nichtigkeit des Verwaltungsaktes - allein auf den von ihr selbst angeführten Gründen fur den Anspruch beruht, der dem Verwaltungsakt zugrunde liegt. Der Verwaltungsakt ist demnach ein Mittel, das es dem Staat erlaubt, Ansprüche zu verfolgen, ohne sich dabei zunächst vor einer dritten Instanz rechtfertigen zu müssen. Aufgrund der Rechtswirkungen, die der Verwaltungsakt entfaltet, ist es der Bürger, der den öffentlich-rechtlichen Konflikt vor Gericht und damit vor eine dritte Instanz bringt. Anders als im Zivilrecht initiiert also diejenige Partei den Prozeß, die der Anspruchsverfolgung ausgesetzt ist. Das ist eine wesentliche Folge des prozessualen Vorsprungs, den der Verwaltungsakt der Verwaltung für die staatliche Anspruchsverfolgung verschafft, und durch den der Bürger von vorneherein in die Rolle des Klägers gedrängt wird. Für den Verlauf des Prozesses selbst hat das erhebliche Konsequenzen. Auch hier ist es jetzt nicht etwa so, daß die Verwaltung den von ihr verfolgten Anspruch materiell begründen müßte. Über dessen Begründung wird vielmehr aus nur sehr verschobener Perspektive gestritten. Der öffentlich-rechtliche Konflikt ist dadurch bestimmt, daß der Bürger den Staat vor Gericht bringt. Dazu kann sich der Bürger aber nicht einfach 90
Eine weitere Möglichkeit des Staates, die zur Verkehrung der Fronten im öffentlichen Recht führt, liegt im Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Eingehend hierzu Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 175 ff., sowie W. Henke, DÖV 1980, 621 (630 f.).
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
darauf berufen, daß die öffentlich-rechtliche Anspruchsverfolgung durch die Behörde unbegründet sei. Stattdessen muß er einen sich aus der Verletzung seiner Rechte ergebenden eigenen Anspruch auf Abwehr der öffentlich-rechtlichen Störung darlegen, die in der Verfolgung des Anspruches mittels Verwaltungsaktes durch die Verwaltung liegt. Solche Abwehransprüche lassen sich in allererster Linie auf die Grundrechte als absolute Rechte stützen.91 Darin liegt eine in ihrer systematisch-praktischen Bedeutung gar nicht zu unterschätzende Funktion der Freiheitsgrundrechte: Mit Hilfe des Anspruches aus dem Grundrecht hat der Bürger zunächst einmal die Möglichkeit, den Staat überhaupt in den Prozeß hineinzuziehen. Das gelegentlich etwas belächelte Bild vom absoluten Recht, das ein "Bündel von Ansprüchen" enthält, bringt diese Funktion der Grundrechte in einer durchaus sehr treffenden Weise zum Ausdruck. Die Grundrechte geben die prinzipielle Möglichkeit, jeden öffentlich-rechtlichen Konflikt im Eingriffsbereich vor Gericht zu bringen. Im Prozeß selbst verschafft der Abwehranspruch aus dem Grundrecht dem Bürger auch die Möglichkeit, über die Begründung des Anspruches der Verwaltung zu streiten. Diese Möglichkeit ist allerdings durch die Verschiebung der Parteirollen begrenzt. Da nämlich der Bürger klagt, muß er in erster Linie seinen eigenen Anspruch auf Abwehr der öffentlich-rechtlichen Störung begründen. Ein solcher Anspruch kann jedoch nur dann gegeben sein, wenn es keine hinreichende Begründung für den von der Verwaltung verfolgten Anspruch gibt. An diesem Punkt wird im verwaltungsrechtlichen Prozeß also um die materielle Begründung des staatlichen Anspruches gestritten. Zweifelsfragen gehen hier aber - wie sonst auch - zu Lasten des Klägers und damit des Bürgers. Die verwaltungsrechtliche Prozeßsituation zieht damit sehr bedeutsame Konsequenzen nach sich. Sie führt dazu, daß der Staat für die von ihm 91
An dieser Stelle auch ein Wort zu den sog. verwaltungsrechtlichen subjektiven öffentlichen Rechten: Für die praktische Rechtsanwendung mögen diese von durchaus zentraler Bedeutung sein, ihr Stellenwert im System des öffentlichen Rechts ist freilich geringer. Die durch einfaches Gesetz begründeten öffentlich-rechtlichen Ansprüche des Bürgers können weiter reichen als die durch die Grundrechte begründeten Ansprüche. Dieser Fall ist unproblematisch. Im einfachgesetzlichen öffentlich-rechtlichen Anspruch kann aber auch eine Verkürzung der Begründungswirkung der Grundrechte liegen. In diesem Fall wirkt sich das einfachrechtliche Gesetz als Beeinträchtigung der Freiheitsgrundrechte aus, gegen die die Grundrechte prinzipiellen Schutz gewähren. Da im Konfliktfall nicht ohne weiteres klar ist, ob die das verwaltungsrechtliche subjektive öffentliche Recht begründende Norm das Grundrecht zulässigerweise verkürzt, bedeutet das im Ergebnis, daß hinter jedem einfachgesetzlichen subjektiven öffentlichen Recht ein Anspruch aus dem Grundrecht steht, der den Rechtsstreit dirigiert. Die verbreitete Vorstellung - vgl. etwa Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig y Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. IV Rdz. 127 -, daß die subjektiven Rechte des einzelnen primär aus dem einfachen Recht zu begrtinden sind, ist angesichts dieser Verzahnung von einfachrechtlichem Anspruch und Grundrechtsanspruch mehr als zweifelhaft. Ahnlich wie hier auch die Auffassung von Bauer, AöR 113 (1988), 582 (613).
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verfolgten Ansprüche keine materielle Begründungslast trägt. Es muß im Prozeß vielmehr gezeigt werden, daß die fur die staatliche Anspruchsverfolgung gegebenen Gründe nicht genügen. Die Verschiebung der Begründungslast zugunsten der Ansprüche des Staates bestimmt in einem erheblichen Maße den spezifischen Charakter des öffentlichen Rechts. Sie stellt die materielle Grundlage fur das prozessuale Instrument des Verwaltungsaktes dar. In beidem zusammen kommt, wenn man so will, die Überordnung des Staates über den Bürger zum Ausdruck. 92 Für die Bewältigung der öffentlichen Aufgaben durch den Staat dürften beide Momente schlechthin unverzichtbar sein. Zum Abschluß der Betrachtung der verschiedenen Konflikttypen des öffentlich-rechtlichen Eingriffsrechts verdient folgendes noch einmal festgehalten zu werden. Der konkrete öffentlich-rechtliche Konflikt wird durch die von Seiten der Behörde erfolgende Anspruchsverfolgung ausgelöst, der der Bürger - ebenfalls durch Verfolgung eines Anspruches - im Prozeß entgegentritt. Im Verwaltungsprozeß wird dann über den Anspruch des Bürgers und mittelbar auch über den Anspruch der Verwaltung entschieden. Anfangs- und Endpunkt des konkreten öffentlich-rechtlichen Konfliktes ist damit - ähnlich wie im Zivilprozeß - der Anspruch. Das öffentliche Recht kennt zwar Verfahren prinzipieller Art - etwa die abstrakte Normenkontrolle -, in denen allein die prinzipiellen Konfliktsentscheidungen des öffentlich-rechtlichen Gesetzgebers erörtert werden. Für den konkreten Konflikt des öffentlichen Rechts zwischen Verwaltung und Bürger sind diese prinzipiellen Konfliktsentscheidungen aber nur von mittelbarer Bedeutung. Im Zentrum dieses Konfliktes stehen nicht die Befugnisse von Staat und Bürger, sondern ihre Ansprüche. c) Die Unterscheidung verschiedener Ebenen des öffentlichen als Ausdruck verschiedener Allgemeinheitsstufen
Rechts
Die herkömmliche Dogmatik des öffentlichen Rechts ist in sehr untergründiger Weise durch den Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem bestimmt. Dies allein spricht zunächst allerdings weder für, noch gegen diese Dogmatik. Von einer dogmatischen Konzeption wird man jedoch erwarten können, daß sie dogmatische Gebilde und Begriffe zur Verfugung stellt, die auf diese Konzeption bezogen sind und in ihrem Rahmen auch eine entsprechende Bedeutung und Funktion haben. Die Gebilde und Begriffe der her92 Zum Verwaltungsakt als Ausdruck rechtlicher Überordnung des Staates im Verhältnis zum Bürger vgl. W. Henke, DÖV 1980, 621 (628). Dazu auch Martens, KritV 1986, 104 (107 ff., 117 ff., 129), für den der umfassende Gerichtsschutz der Ansprüche des Bürgers einen "Gewichtsverlust" des Verwaltungsaktes beinhaltet, der nicht erst mit Beginn des Prozesses, sondern schon von Beginn des Verwaltungshandelns an zu einer Gleichordnung des Bürgers gegenüber der Verwaltung führt.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
kömmlichen Dogmatik des öffentlichen Rechts erfüllen ihre Aufgabe unter dem Gesichtspunkt des Gegensatzes von Allgemeinem und Besonderem in nur noch sehr begrenztem Maße. Mit dem Verwaltungsakt hat die öffentlichrechtliche Dogmatik zwar ein Mittel zur Erfassung der konkreten rechtlichen Einzelfallregelung. Und ursprünglich hatte sie mit dem öffentlich-rechtlichen Gesetz auch eine dogmatische Figur, die das Allgemeine repräsentierte. 93 Indes ist die Geschichte des öffentlich-rechtlichen Gesetzes u.a. zu einer solchen von der Auflösung seines allgemeinen Charakters geworden. 94 Das hat dazu gefuhrt, daß das öffentliche Recht zwar nach wie vor unterschwellig durch den Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem bestimmt ist, daß andererseits die juristische Dogmatik angesichts der Auflösung der Konturen des öffentlich-rechtlichen Gesetzesbegriffes über keine Mittel mehr verfügt, diesen Gegensatz in dogmatische Formen zu fassen und ihn damit letztlich auch zu bewältigen. aa) Zur Bedeutung der Unterscheidung von Begründungs-, Befugnis- und Anspruchsebene Dem bisher dargelegten Gerüst der öffentlich-rechtlichen Anspruchsdogmatik liegt die Unterscheidung von Begründungs-, Befugnis- und Anspruchsebene zugrunde. Diese vom absoluten Recht her entwickelten Unterscheidungen vermögen eine Grundlage dafür zu geben, den Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem fur das öffentliche Recht in dogmatisch bewährter Weise zu verarbeiten. Der Begründungsebene, die man auch als Ebene der rechtlich anerkannten Wertprinzipien bezeichnen kann, kommt dabei die höchste Allgemeinheitsstufe zu, die Anspruchsebene stellt die niedrigste Allgemeinheitsstufe, die konkreteste Stufe dar. Die Befugnisebene ist in ihrem Allgemeinheitsgrad eine Zwischenstufe. Ein Teil der Problematik der bisherigen öffentlichrechtlichen Dogmatik liegt u.a. auch darin, daß hier solche Zwischenstufen fehlen und sich damit insbesondere systematische Probleme des öffentlichen Rechts entweder der juristischen Erörterung ganz entziehen oder aber nicht in den Griff zu bekommen sind. Die Bedeutung der Befugnisebene als Zwischenstufe liegt zunächst einmal darin, daß sie es erlaubt, das Verfassungsrecht nicht nur unter dem Gesichtspunkt prinzipieller Begründungen, sondern auch unter dem der Entscheidung zu sehen. Die Bindungskraft der Verfassung beruht nicht zuletzt darauf, daß ihr auch dieser Charakter als Entscheidung zukommt. Weiter erlaubt es die 93 Vgl. dazu vor allem Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 49 ff., 71 ff., 109 ff., 195 ff. 94 Zur "inhaltlichen Entleerung des Gesetzesbegriffs" vgl. E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, dort das Nachwort über "Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt", insbes. S. 377 f., 381 f.
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Befugnisebene dann aber auch, einen Zusammenhang zwischen verfassungsrechtlicher Begründung einerseits und verfassungsrechtlicher sowie verwaltungsrechtlicher Entscheidung andererseits herzustellen, der auch der jeweiligen Eigenart von Verfassungs- und Verwaltungsrecht gerecht wird. Die hiermit angerissene Perspektive zum Zusammenhang von Verfassungsund Verwaltungsrecht ergibt sich aus dem bereits in bezug auf Gesetzgebung und Grundrechte dargestellten Verhältnis von prinzipieller und konkreter Konfliktsentscheidung. Danach begründen die als absolute Rechte verstandenen Freiheitsgrundrechte sowie die einzelnen belastenden öffentlich-rechtlichen Gesetze als prinzipielle Konfliktsentscheidungen Befugnisse und als konkrete Konfliktsentscheidungen Ansprüche. Die sich aus den absoluten Rechten ergebenen Befugnisse stellen subjektive Berechtigungen des Verfassungsrechts dar, die sich aus ihnen herleitenden Ansprüche sind solche des Verwaltungsrechts. Die Unterscheidung der Konfliktsentscheidungen nach ihrer prinzipiellen und konkreten Natur erlaubt es dabei, Verfassungs- und Verwaltungsrecht jeweils unter dem Gesichtspunkt ihrer Entscheidungsfunktion zu betrachten. Die beiden Entscheidungen werden aber nicht einfach nebeneinandergestellt, sondern mit dem Begriffspaar konkret-prinzipiell wird zugleich ein einsichtiger Zusammenhang zwischen verfassungsrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Entscheidung hergestellt. Dieser Zusammenhang besteht darin, daß die konkrete Anspruchsentscheidung einerseits in ihrer Begründung vom Verfassungsrecht abhängig ist. Diese Abhängigkeit beinhaltet aber andererseits keine vollständige Determination des Verwaltungsrechts durch das Verfassungsrecht. Vielmehr sind die verwaltungsrechtlichen Entscheidungen durch das Verfassungsrecht eben nur unter sehr prinzipiellen Gesichtspunkten bestimmt, während Sachaspekte konkreter Art gerade den verwaltungsrechtlichen Charakter der Konfliktsentscheidungen ausmachen. Der damit umrissene Zusammenhang des Verhältnisses von Verfassungs- und Verwaltungsrecht trägt zum einen dem Gedanken der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens Rechnung, zum anderen gibt er aber auch dem bekannten Wort vom "Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" 95 eine tiefere Bedeutung. Die Notwendigkeit, den Bezug zwischen verwaltungsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Konfliktsentscheidung anhand ihres Charakters als konkrete und prinzipielle Konfliktsentscheidungen herzustellen, verdeutlicht auch folgende Überlegung. Wollte man bereits das Verfassungsrecht als Ebene konkreter Konfliktsentscheidungen verstehen, so müßte etwa der aus dem Grundrecht resultierende Abwehranspruch zunächst einmal auch der verfassungsrechtlichen Ebene zugeordnet werden. Damit käme man allerdings nur zu einem Rechtsschutz gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber. 95
Werner,
DVB1. 1959, 527 (527).
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Der öffentlich-rechtliche Konflikt, auf den auch die Abwehransprüche aus den Grundrechten in allererster Linie bezogen sind, wird nach unserer Auffassung aber im wesentlichen durch die Tätigkeit der Verwaltung ausgelöst, nicht durch die des Gesetzgebers. Nur im Hinblick auf das Handeln der Verwaltung kann - jedenfalls dem Grundsatz nach - auch die Tätigkeit des Gesetzgebers selbst umstritten sein. Dieser prinzipielle Streit, fur den als solchen üblicherweise auch gar kein hinreichender Anlaß besteht, ist dann in den konkreten Konflikt miteinzubeziehen. Weiter läßt sich mit dem Ansatz zum Verfassungsrecht als konkreter Konfliktsentscheidung auch nur schwer ein Verhältnis zwischen verfassungsrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Entscheidung herstellen. Es stellt sich dann die Frage: Wie bestimmt eine Anspruchsentscheidung eine andere? Nach unserer Auffassung kann eine Entscheidung nur dann Vorgabe fur eine andere sein, wenn ihr auch ein prinzipiellerer Charakter zukommt und damit die beiden Entscheidungen verschiedene Abstraktionsebenen betreffen. Im Verhältnis zwischen prinzipieller verfassungsrechtlicher und konkreter verwaltungsrechtlicher Konfliktsentscheidung ist das der Fall. Im übrigen wäre eine Anspruchskonzeption des Verfassungsrechts zwar wohl fur die Grundrechte vorstellbar, dagegen wohl kaum in bezug auf die öffentlich-rechtlichen Gesetze. Eine Anspruchskonzeption des Verfassungsrechts könnte damit nur zu einem Bruch des Verfassungsrechts zwischen Grundrechten und öffentlich-rechtlichen Gesetzen fuhren. Im Hinblick auf die öffentlich-rechtlichen Gesetze nämlich müßte der Gedanke konkreter Konfliktsentscheidungen durch das Verfassungsrecht doch bedeuten, daß dem öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber Ansprüche gegen den Bürger auf Befolgung der von ihm erlassenen Gesetze zustehen. Diese Konsequenz würde allerdings - mit Recht - niemand ziehen wollen. Eine adäquate Bestimmung der Verpflichtungskraft des öffentlich-rechtlichen Gesetzes für den Bürger (im übrigen aber auch der Grundrechte für den Gesetzgeber) ermöglicht auch hier die dogmatische Figur des absoluten Rechts. Das absolute Recht schafft als solches keine Verbindlichkeiten, es besteht nicht etwa aus einer Vielzahl von Ansprüchen gegenüber jedermann. Aber es beinhaltet doch ein Gebot, das Recht zu beachten,96 das erst für den Fall seiner Verletzung dann zu Ansprüchen führt. Auch die öffentlich-rechtlichen Gesetze erfordern nur die Beachtung der Bürger. Erst für den Fall ihrer Verletzung, gelegentlich auch schon für den Fall der Gefährdung, resultieren aus ihnen Abwehransprüche des Staates. Das Verhältnis von prinzipieller und konkreter Konfliktsentscheidung gibt gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen Allgemeinheitsstufen des öffent96 Zu diesem "Gebot", das absolute Recht zu achten, vgl. auch Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 2 V 3 (S. 46).
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liehen Rechts Anlaß zur Erörterung einer Problematik, die wir trotz ihrer zentralen systematischen Bedeutung fur dieses Rechtsgebiet bisher zurückgestellt haben und deren nunmehrige Behandlung zugleich eine Ergänzung zu den oben aufgeführten wesentlichen Konflikttypen des öffentlichen Eingriffsrechts darstellt. Es handelt sich dabei um die Frage nach dem Eingriffscharakter des öffentlich-rechtlichen Gesetzes. Kann im öffentlich-rechtlichen Gesetz selbst schon eine Störung des Grundrechts liegen mit der Folge eventueller Abwehransprüche des betroffenen Grundrechtsinhabers gegen den öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber? In der Literatur wird das zumeist - wenn auch mit Einschränkungen - bejaht, ohne daß allerdings die Grundlagen dieser Auffassung deutlich herausgearbeitet würden. 97 Für die Verfassungsbeschwerde geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, daß der Grundrechtsinhaber dann zur Beschwerde gegen ein Gesetz befugt ist, wenn dieses ihn selbst, gegenwärtig und vor allem auch unmittelbar betrifft. 98 Der dogmatische Stellenwert dieser Voraussetzungen ist freilich nicht ganz klar. Häufig hat es den Anschein, als ob mit diesen Erfordernissen die Frage nach dem Eingriffscharakter des öffentlich-rechtlichen Gesetzes im wesentlichen fur eine Problematik des Verfassungsprozeßrechts gehalten wird. 9 9 Nur gelegentlich wird mit der notwendigen Deutlichkeit gesehen, daß es sich dabei primär um eine Frage des materiellen Rechts handelt, an deren Behandlung die verfassungsprozeßrechtlichen Überlegungen dann anknüpfen können. 1 0 0 Die bisherige Darlegung erlaubt es, im Hinblick auf die Vorstellung vom Eingriff durch öffentlich-rechtliches Gesetz auch den materiellrechtlichen 97
Vgl. die wenigen Bemerkungen bei Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 51 f.; aus föhrlicher Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 25 ff. m.w.N. 98 St. Rspr. BVerfGE 1, 97 (101 f.); 72, 39 (43 f.). 99 Insbesondere die Rechtsprechung scheint das Unmittelbarkeitskriterium gelegentlich für ein verfassungsprozessuales Erfordernis zu halten, vgl. etwa BVerfGE 70, 35 (51): "Der Begriff der unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit ist (...) ein Begriff des Verfassungsprozeßrechts. Er ist im Lichte der Funktion dieser Verfahrensordnung zu erfassen. Daß ein Vollzugsakt erforderlich ist, um fur einzelne Adressaten der Norm individuell bestimmte Rechtsfolgen eintreten zu lassen, ist lediglich Anzeichen fur ein denkbares Fehlen der unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit durch die Norm. Ob es ausschlaggebend ist, bedarf in jedem Fall der Überprüfung anhand des Verfassungsprozeßrechts." Ähnlich BVerfGE 68, 319 (325); 73, 40 (68); kritisch dazu mit Recht Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdz. 232. Auch die Begründung des Erfordernisses der Unmittelbarkeit mit dem Gedanken der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und dem des Rechtschutzbedürfnisses (so etwas BVerfGE 43, 291 (368)) erweckt diesen Anschein, so auch Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 52 Fn. 136. 100 Richtig insoweit Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 51 f.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 26; vgl. auch v. d. Hövel, Zulässigkeits- und Zulassungsprobleme der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, S. 98 ff., und H. Klein, Festschrift für Zeidler, 1325 (1332 f.).
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Problemhorizont genauer zu umreißen. Ausgangspunkt ist dabei wiederum die bereits unter verschiedenen Aspekten vorgetragene Auffassung, daß das öffentlich-rechtliche Gesetz prinzipielle Konfliktsentscheidungen trifft und damit Befugnisse begründet. Als prinzipielle Konfliktsentscheidung steht jedes belastende öffentlich-rechtliche Gesetz zwar in einem Konfliktverhältnis zu den sich aus den Freiheitsgrundrechten ergebenen Befugnissen. Entsprechend dem prinzipiellen Charakter der gesetzlichen Konfliktsstörung läßt sich die in der Begründung der staatlichen Befugnisse liegende Beeinträchtigung der Grundrechtsbefugnisse aber auch nur als prinzipieller Konflikt begreifen. Die Begründung staatlicher Befugnisse durch den öffentlich-rechtlichen Gesetzgeber kann insoweit auch nur allgemeinen Störungscharakter haben, sie stellt gewissermaßen die Vorstufe zum Eingriff dar. Zu einer konkreten Störung fuhrt dann erst die Geltendmachung von Ansprüchen durch die Verwaltung. 101 Über diesen konkreten Konflikt wird dann auch in konkreter Weise durch Gewährung eines öffentlich-rechtlichen Anspruches im Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürger entschieden. Die Schwierigkeit, die das öffentlich-rechtliche Gesetz aufwirft, liegt nun darin, daß es Fälle gibt, in denen die Begründung einer Befugnis durch den Staat im Hinblick auf die betroffenen Grundrechtsbefugnisse als Störung einen solchen Intensitätsgrad erreicht, daß der prinzipielle Konflikt sich an die Grenze zum konkreten Konflikt hin bewegt oder sie sogar überschreitet. Ganz grob kann man diese Fälle so charakterisieren, daß hier der durch das öffentlich-rechtliche Gesetz entschiedene Konflikt ausnahmsweise von der prinzipiellen Befugnisebene unmittelbar auf die konkrete Anspruchsebene durchschlägt. Bei näherer Betrachtung lassen sich nach ihrem Störungsgrad hier zwei große Fallgruppen voneinander unterscheiden. Die erste Fallgruppe ist dadurch gekennzeichnet, daß dem öffentlich-rechtlichen Gesetz nicht nur ein allgemeiner, sondern zugleich ein konkreter Störungscharakter innewohnt. Die Bestimmung des Störungsgrades kann hier anhand der geläufigen Formel von der eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit erfolgen, die auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegt. Man muß sich dabei nur darüber im klaren sein, daß diese Merkmale die Betrachtung bereits auf der materiellen Ebene anleiten. Von ausschlaggebender Bedeutung ist für den hier aufgeworfenen Problemkreis das Merkmal der Unmittelbarkeit. Eine unmittelbare Betroffenheit des Grundrechts durch ein 101 Dieser Unterschied zwischen konkreter und nur abstrakter Beeinträchtigung wird auch von Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdz. 230, angedeutet: "Das BVerfG vermeidet es mit dem Erfordernis der Unmittelbarkeit, eine Normenkontrolle unter Loslösung von der konkreten Anwendung der betreffenden Norm im Einzelfall und ohne Vorklärung der Tatsachen und Rechtsfragen durch die zuständigen Gerichte vorzunehmen."
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öffentlich-rechtliches Gesetz liegt vor, wenn dieses Gesetz konkrete Wirkung entfaltet, ohne daß ein Vollzugsakt erforderlich wäre (und auch nicht ergangen ist oder ergehen wird). 1 0 2 Ein Beispiel stellt etwa die durch Gesetz erfolgende Änderung von Amtsbezeichnungen dar. 1 0 3 Geläufig ist hier die sehr treffende Bezeichnung dieser Normen als "self-executing". 104 Sie macht vor allem deutlich, daß es sich hier um Gesetze handelt, die ihrer Art nach nicht nur prinzipielle, sondern bereits auch konkrete Entscheidungen beinhalten. Es handelt sich hier um Konflikte, in denen prinzipielle und konkrete Ebene untrennbar ineinander verschränkt sind. Entsprechend dem konkreten Störungscharakter des öffentlich-rechtlichen Gesetzes hat in diesen Fällen der Grundrechtsbetroffene die Möglichkeit, sich mit Hilfe von Abwehransprüchen aus dem Grundrecht gegen das Gesetz selbst zur Wehr zu setzen. Eine zweite Fallgruppe, in der trotz fehlender unmittelbarer Wirkung eines öffentlich-rechtlichen Gesetzes eine konkrete Betroffenheit der Grundrechte des Bürgers durch die Norm bejaht wird, ist dadurch bestimmt, daß - wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat - "das Gesetz die Normadressaten bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder schon jetzt zu Dispositionen veranlaßt, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen können". 105 Im Unterschied zu der ersten Fallgruppe handelt es sich bei diesen Fällen mangels Unmittelbarkeit um keine konkreten Störungen, andererseits aber auch nicht mehr um bloße Beeinträchtigungen auf prinzipieller Ebene. Am ehesten wird man ihnen wohl gerecht, wenn man sie als konkrete Gefährdungen begreift. Sie sollten entsprechend der zivilrechtlichen Dogmatik zu den absoluten Rechten behandelt werden, bei denen vorbeugender Rechtsschutz durch einen Anspruch auf Unterlassung konkreter Beeinträchtigungen in Frage kommt. 106 Die Begründung des Abwehranspruchs kann man hier als Vorwirkung des absoluten Rechts begreifen. Insgesamt läßt sich die Frage nach dem Eingriffs- oder Störungsgrad eines öffentlich-rechtlichen Gesetzes nur von Fall zu Fall beantworten. Das Beziehungsgefüge von Befugnis- und Anspruchsebene macht aber deutlich, daß im Normalfall dem belastenden öffentlich-rechtlichen Gesetz als prinzipieller Konfliktsentscheidung auch nur prinzipieller Störungscharakter zukommt. Diese Sicht des öffentlich-rechtlichen Gesetzes entspricht auch der üblichen
102 Vgl. BVerfGE 1, 97 (102 f.); 2, 292 (295); 16, 147 (158 f.); 59, 1 (17 f.); 74, 69 (74). 103 BVerfGE 38, 1 (8). 104 105
Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, Rdz. 585. BVerfGE 65, 1 (37); 75, 78 (95).
106 Auch Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 142, bejaht fur diese Fallgruppe vorbeugenden Rechtsschutz.
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Einschätzung des Nichtjuristen, fur den ein verfassungswidriges Gesetz als solches in aller Regel eben auch noch keinen Anlaß zu einem Streit "mit dem Staat" bietet. Wohl kann ein solches Gesetz auch als prinzipielle Regelung in der politischen Sphäre umstritten sein. Diesen prinzipiellen Konflikten trägt das Grundgesetz etwa durch die abstrakte Normenkontrolle oder auch das Organstreitverfahren Rechnung. Für den Bürger hingegen ist das öffentlichrechtliche Gesetz nur im Ausnahmefall unmittelbar angreifbar. Als ein solcher wird er auch in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts behandelt. bb) Die Systemebene. Art. 2 Abs. 1 GG als Systementscheidung Begründungs-, Befugnis- und Anspruchsebene sind systematische Unterscheidungen, die sich aus der dogmatischen Figur des absoluten Rechts ergeben. Sie stellen gewissermaßen Fortführungen des Ansatzes zum absoluten Recht dar. Das einzelne absolute Recht steht im System des öffentlichen Rechts nicht alleine da, neben ihm gibt es eine Reihe anderer absoluter Rechte. Auf diesen größeren Zusammenhang und Verbund der absoluten Rechte soll im folgenden ein kurzer Blick geworfen werden. Im Mittelpunkt der bisherigen Darlegung stand die einzelne öffentlichrechtliche Befugnisnorm und das einzelne Freiheitsgrundrecht als absolute Rechte. Der Verbund der absoluten Rechte stellt sich auf beiden Seiten, der des Staates und der des Bürgers, jeweils anders dar. Der Bürger verfügt über eine Reihe abschließend aufgezählter absoluter Rechte, die Freiheitsgrundrechte. Für den Staat gibt es hingegen keine feststehenden Rechtspositionen. Er muß zur Verfolgung der öffentlichen Aufgaben durch die Setzung von Normen stets von neuem Rechtspositionen erst erzeugen, denen dann ebenfalls ein absolut-rechtlicher Charakter zukommt. Ein großer Teil der Funktion von Gesetzgebung liegt also in der Bestimmung absoluter Rechte des Staates. Die Frage nach der materiellen Grundlage dieser Fähigkeit des Staates, Recht zu setzen und damit eigene absolute Rechte zu konturieren, soll zunächst noch einmal zurückgestellt werden. Für den Augenblick genügt die Unterscheidung von Einzelgesetz und Rechtsetzungsgewalt.107 Sie korrespondiert der Unterscheidung von einzelnem Freiheitsgrundrecht und der Gesamtheit dieser Grundrechte. Der Verbund der Freiheitsgrundrechte sowie die Gesamtheit der öffentlich-rechtlichen Befugnisnormen machen also jeweils die Gesamtposition von Bürger und Staat aus. Wegen der konstituierenden Funktion dieser Gesamtheit für das öffentliche Recht fassen wir sie unter den Begriff der Sy107 Stattdessen könnte man auch von der Unterscheidung zwischen Befugnisnorm und Gesetzgebungsbefugnis sprechen. Genaugenommen müssen damit noch einmal konkrete Befugnisse des Staates von seinen prinzipiellen Befugnissen unterschieden werden. Zu den prinzipiellen Befugnissen des Staates vgl. W. Henke, Recht und Staat, § 59 (S. 611 f.). Durchaus treffend werden sie neuerdings von Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, § 3 III (S. 89), als "Grundbefugnisse" bezeichnet.
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stemebene. Die Systemebene ist die Ebene, mit der das Recht Staat und Bürger als Konfliktsubjekte anerkennt und ihnen ihre Rechtsstellung in prinzipiellster Weise zuteilt. 108 Der Gesetzgeber hat das Recht und die Aufgabe, die erforderlichen absoluten Rechte festzulegen, die Freiheitsgrundrechte hingegen sind in ihrer Anzahl genau bestimmt. Das scheinbare Mißverhältnis wird aber durch die weite Auslegung, die Art. 2 Abs. 1 GG durch herrschende Praxis und Lehre erfahrt, ausgeglichen. Mit dieser Interpretation ist die Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG zur tragenden Systementscheidung des öffentlichen Rechts geworden. 1 0 9 Die Bestimmung des Schutzbereiches von Art. 2 Abs. 1 GG und damit auch der Sinn- und Funktionsgehalt dieser Vorschrift ist seit jeher umstritten. Die enge Auslegung sieht durch die Bestimmung nur den "Kernbereich des Persönlichen" geschützt (sog. Persönlichkeitskerntheorie). 110 Durchgesetzt hat sich aber vor allem unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine weite Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG, die durch die Bestimmung die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne geschützt sieht. 111 Aus unserer Sicht ist diese Kontroverse wie folgt zu bewerten: Die Persönlichkeitskerntheorie versteht das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG als ein absolutes Recht wie jedes andere Freiheitsgrundrecht. Als ein absolutes Grundrecht wie jedes andere muß ihm ein festumrissenes Wertprinzip zugrunde liegen. Der Gedanke vom "Kernbereich des Persönlichen" stellt den Versuch dar, dem Art. 2 Abs. 1 GG eine solche festumrissene Kontur zu geben. 1 1 2 Die Problematik des Ansatzes der h.M. liegt denn vor allem auch 108
Die Gleichheitsgrundrechte, die für diese Systemebene vermißt werden könnten, begründen nach unserer Auffassung nicht schon aus sich heraus Rechtspositionen und konstituieren daher auch nicht die Rechtsstellung des Bürgers, vgl. dazu unten III 4. Sofern man allerdings auch in den Gleichheitsgrundrechten die Rechtsstellung des Bürgers konstituiert sieht, müßten diese wie die Freiheitsgrundrechte als absolute Rechte aufgefaßt werden, die auf der Seite des Bürgers der Systemebene zuzurechnen wären. 109 Zu dieser prinzipiellen Bedeutung von Art. 2 Abs. 1 GG vgl. auch die Hinweise bei Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 198. 110 So vor allem Peters, Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung; ders., Festschrift für Laun, 669 (673); vgl. zuletzt auch die abweichende Meinung des Richters Grimm, BVerfGE 80, 137 (164 ff.), in der eine vermittelnde Position formuliert wird, die Art. 2 Abs. 1 GG als "Auffanggrundrecht für 'konstuierende Elemente der Persönlichkeit'" versteht. 111 St. Rspr. seit BVerfGE 6, 32 (40 ff.); zuletzt etwa BVerfGE 80, 137 (152 ff.); so auch die ganz h.L. vgl. nur v. Münch-1. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Rdz. 17 m.w.N. 112 Auch wenn die abweichende Meinung des Richters Grimm, BVerfGE 80, 137 (164 ff.), nicht der Persönlichkeitskerntheorie im engeren Sinne zuzurechnen ist, so ist dieses Bestreben hier doch ganz besonders deutlich zu erkennen, vgl. a.a.O., etwa 5. 165, wo darauf abgestellt wird, ob ein Verhalten "eine gesteigerte, dem Schutzgut
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3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
darin, daß mit der weiten Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG der Charakter der Bestimmung als genauer bestimmter Wertentscheidung zu verschwimmen droht. Aufgrund der Ausweitung des Schutzbereiches von Art. 2 Abs. 1 GG sind die Konturen des dem absoluten Recht typischerweise zugrunde liegenden Wertprinzips nur noch mit einigen Schwierigkeiten auszumachen. Der Versuch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, den Schutzbereich der Bestimmung durch die Unterscheidung verschiedener Sphären schärfer zu konturieren, stellt einen Versuch dar, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. 113 In ihrer weiten Auslegung hat die Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 GG allerdings einen zentralen Platz unter den Grundrechten erlangt. Sie stellt nunmehr die leitende systematische Entscheidung fur das öffentliche Recht dar. Zunächst einmal wird Art. 2 Abs. 1 GG wie jedes andere Freiheitsgrundrecht auch als Abwehrrecht und damit als absolutes Recht gedeutet. Anders als die sonstigen Freiheitsgrundrechte wird es dabei aber nicht als absolutes Recht mit festumrissenem Schutzbereich verstanden, sondern als absolutes Recht im umfassenden Sinne. Die Verfassung begründet mit den verschiedenen Freiheitsgrundrechten danach nicht nur eine Reihe konkreter absoluter Rechte, sondern mit Art. 2 Abs. 1 GG gewissermaßen auch ein prinzipielles absolutes Recht. Die h.L. bringt das mit Bezeichnungen wie "Muttergrundrecht", "Hauptfreiheitsrecht", "der oberste Wert" u.ä. zum Ausdruck. 114 Der prinzipielle Charakter der Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 GG in ihrer weiten Auslegung kommt in zwei wesentlichen Entscheidungen zum Ausdruck, die zugleich auch die zentralen Wertentscheidungen des öffentlichen Rechts darstellen. Der erste zentrale Gedanke liegt darin, daß die Bestimmung umfassenden Rechtsschutz gegen Beeinträchtigungen durch den Staat gewährt. Der zentrale Wertaspekt, auf dem sie beruht, ist damit das Prinzip des Schutzes der Person. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet diesen Schutz durch das "Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit" und bringt die Wertorientierung der Freiheit gegenüber dem Staat zum Ausdruck. Durch diese Wertentscheidung wird die Person als Rechtssubjekt des öffentlichen Rechts anerkannt. Die Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG geht zugleich aber auch vom Staat als Rechtssubjekt des öffentlichen Rechts aus. Das kommt im Schrankenvorbehalt darin zum Ausdruck, daß die Handlungsfreiheit unter dem Vorbehalt der "verfassungsmäßigen Ordnung" steht. Art. 2 Abs. 1 GG der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitz^)", weiter S. 166, wo das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG als "konkrete (s) FreiheitsrechtO" bezeichnet wird. (Hervorhebung durch den Verf., W. S.) 113 BVerfGE 6, 32 (41); 38, 312 (320). Inwieweit diese Rspr. allerdings noch weiterverfolgt wird, ist unklar, vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, Rdz. 434 f. 114
Vgl. v. Münch-l. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Rz. 3.
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formuliert auf diese Weise das prinzipielle Konfliktverhältnis zwischen Staat und Bürger als den Rechtssubjekten des öffentlichen Rechts. Dies geschieht aber nicht, ohne auch schon für dieses Verhältnis die leitenden Wertgesichtspunkte herauszuheben. Diese wollen wir uns im folgenden noch weiter verdeutlichen. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger wird durch den Schrankenvorbehalt in Art. 2 Abs. 1 GG in einer sehr prinzipiellen Weise gewichtet. Dieses Gewicht der Vorschrift kann man sich an zwei zentralen Fällen klarmachen, die übrigens auch über die Reichweite des sog. Schrankenmodells, mit dem wir uns später ausführlicher auseinandersetzen,115 einigen Aufschluß geben. Art. 2 Abs. 1 GG steht neben den "Rechten anderer" und dem "Sittengesetz" vor allem unter dem Vorbehalt der "verfassungsmäßigen Ordnung". Die weite Auslegung auch dieses Begriffes als "die gesamte der Verfassung gemäße Ordnung" 116 hat die Konsequenz, daß die Verfolgung von Eingriffen durch die Verwaltung, für die keine oder keine hinreichende rechtliche Grundlage besteht, durch das Grundrecht abgewehrt werden kann. Für diese Fälle gibt Art. 2 Abs. 1 GG also nicht nur eine prinzipielle, sondern bereits eine konkrete Entscheidung. Unter dem Stichwort "Vorbehalt des Gesetzes" spielt diese Wertentscheidung für die Freiheit eine zentrale Rolle für große Teile des Verwaltungsrechts. Für die Fälle, in denen die allgemeine Handlungsfreiheit durch die verfassungsmäßige Ordnung - also vor allem durch Gesetz - eingeschränkt wird, kehrt sich die Bewertung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger um. Art. 2 Abs. 1 GG begründet jetzt zwar immer noch prinzipiellen Rechtsschutz, die Gewichtung des Konfliktes ist jetzt aber zugunsten des Staates verschoben. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei dem sog. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu, wie eine genauere Analyse seiner Funktion im Verhältnis der Gesetzgebung zu dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit zeigt. Wenn ein das Grundrecht einschränkendes Gesetz vorliegt, so ist dieses nach herrschender Praxis und Lehre daraufhin zu untersuchen, ob es verhältnismäßig im weiteren Sinne ist. 1 1 7 Die Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit stellen dabei Anforderungen an das staatliche Handeln dar. 1 1 8 Eine weiterreichende Bedeutung kommt erst dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu. Nach weithin üblicher Auffassung soll hier zu 115 116
Unten IV 2. BVerfGE 6, 32 (38); 72, 200 (245).
117 Vgl. BVerfGE 7, 377 (407 ff.); 19, 330 (337); 30, 292 (316); v. Münch-L v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Vorb. Art. 1-19 Rdz. 55. 118 Grundrechte - Staatsrecht II, So deutlich herausgearbeitet bei Pieroth/Schlink, Rdz. 318 ff.
1 Schur
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prüfen sein, ob die Beeinträchtigung, die ein Eingriff fur einen einzelnen bedeutet, und der mit der Beeinträchtigung verfolgte Zweck in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.119 Die Prüfung wird damit unter dem Gesichtspunkt der Bewertung eines Zweck-Mittel-Verhältnisses gesehen. Diese Sicht des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im engeren Sinne mag zwar nicht ganz unrichtig sein, sie ist aber doch dazu angetan, eine genauere Analyse des Kriteriums und seiner Bedeutung zu verdecken. Die Vorstellung eines angemessenen Verhältnisses zwischen Zweck und Mittel suggeriert, daß es sich dabei um gleichartige Größen handelt, die sich dann auch in ein Verhältnis der Gewichtung zueinander setzen lassen. Ein solcher Gedanke könnte allerdings nur wenig sinnvoll sein. Man kann wohl Mittel miteinander vergleichen, man kann auch Zwecke oder - wie wir sagen würden - Gründe gegeneinander abwägen und schließlich auch die Relation eines Mittels zu einem Zweck herstellen. Man kann Zwecke und Mittel aber nicht gegeneinander abwägen, weil es sich dabei um nicht miteinander vergleichbare Größen handelt. 120 Die Vorstellung von der Bewertung eines Zweck-Mittel-Verhältnisses kann denn auch nur eine sehr abgekürzte Redeweise dafür sein, daß unterschiedliche Zwecke gegeneinander abzuwägen sind. Und wenn man versucht, es noch genauer zu formulieren, so sind es nicht die Zwecke, die gegeneinander abgewogen werden, sondern die den jeweiligen Zwecken zugrunde liegenden Gründe. Daß es hier um die Abwägung von Zwecken oder genauer von Gründen geht, wird deutlich, wenn man sich das "Mittel" einmal genauer anschaut. Als Mittel wird hier der staatliche Eingriff gesehen, der den Freiheitsbereich des einzelnen beeinträchtigt. In der Tat stellt sich aus der Sicht des Staates die Verkürzung des individuellen Freiheitsbereiches als ein Mittel dar, das öffentlichen Zwecken dient. Aber auch ajuf der Seite des Bürgers findet sich eine entsprechende Zweck-Mittel-Relation. Hier dient die Aufrechterhaltung des durch das Grundrecht begründeten Freiheitsbereiches den Zwecken des Individuums. Bürger und Staat streiten also aus unterschiedlichen Interessen um die gleiche Sache. Der Staat begehrt, was immer schon der Bürger für sein eigen hält. Jede durch Gesetz begründete Beeinträchtigung stellt dabei ein Mittel dar, das öffentliche Zwecke auf Kosten individueller Zwecke fordert. Das öffentlichen Zwecken dienende Mittel des belastenden Gesetzes beinhaltet demnach zugleich auch immer die Beeinträchtigung individueller Zwecke. Das Mittel des staatlichen Eingriffs muß daher auf die zu119 So etwa Wittig, DÖV 1968, 817 (817); Gentz, NJW 1968, 1600 (1604); v. Mänch-1. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Vorb. Art. 1-19 Rdz. 55; vgl. auch Pieroth/Schlinky Grundrechte - Staatsrecht II, Rdz. 328. 120 Kritisch zur "Zweck-Mittel-Formel" Jakobs, DVB1. 1985, 97 (97); auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdz. 72, sowie Gröschner y Das Überwachungsrechtsverhältnis, § 3 III 2 (S. 104 f.).
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gründe liegenden rechtlich anerkannten individuellen und öffentlichen Interessen bezogen werden. Die unterschiedlichen Interessen von Staat und Bürger sind also durch den Eingriff miteinander verknüpft. Dementsprechend können sinnvollerweise auch nur die Gründe für diese Interessen, so wie sie sich im konkreten Fall der Verfolgung eines bestimmten staatlichen Mittels darstellen, gegeneinander abgewogen werden. 121 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne beinhaltet danach also, daß der mit einem bestimmten Eingriff verfolgte Zweck in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck zu stehen hat, dem das betroffene Grundrecht dient. Diese Präzisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes macht vor allem deutlich, daß die Bestimmung der Verhältnismäßigkeit nur im Hinblick auf die Gründe für das konkrete Verhältnis zwischen Staat und Bürger erfolgen kann. Gründe lassen sich nicht als solche gewichten, sondern können nur im Hinblick auf konkrete Sachfragen erwogen werden. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist damit Ausdruck des unmittelbaren Zugriffs auf das konkrete Konfliktverhältnis zwischen Staat und Bürger zum Zwecke seiner Entscheidung. 122 Der Gedanke der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne als Beurteilung einer Zweck-Mittel-Relation verdeckt dagegen eher diese eigentlichen Wertungsgrundlagen der verfassungsrechtlichen Entscheidung. Für die Entscheidung des konkreten Konfliktverhältnisses zwischen Staat und Bürger gibt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darüber hinaus auch schon eine grobe Orientierung. Entgegen den häufig anzutreffenden Formulierungen in der Literatur des öffentlichen Rechts meint dieser Grundsatz nämlich nicht, 121 Im Hinblick auf die Gründe für diese Interessen kann man auch davon sprechen, daß hier das Verhältnis der betroffenen Rechtsgüter betrachtet wird, vgl. etwa Hesses Gedanken der Optimierung verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdz. 72; ähnlich Grabitz, AöR 98 (1973), 568 (576); Jakobs, DVB1. 1985, 97 (98). Zu den Gütern als Grundlage der rechtlichen Begründungen bereits oben 1. Teil II 2 a. 122 So auch Grabitz, AöR 98 (1973), 568 (576): "Wann eine Maßnahme verhältnismäßig ist, läßt sich abstrakt noch weniger sagen, als das fur ihre Erforderlichkeit möglich ist. Das hat seinen Grund in der logischen Struktur eines Verfassungsprinzips von der Art des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Es bedarf der Konkretisierung, die sich stets im Hinblick auf einen Sachverhalt vollzieht und demgemäß durch die seiner Eigenart entsprechenden Sachstrukturen bestimmt wird." Ebenso geht offenbar das Bundesverfassungsgericht in aller Regel davon aus, daß sich nur für den Einzelfall eine Gewichtung der widerstreitenden verfassungsrechtlich begründeten Interessen vornehmen läßt, vgl. BVerfGE 28, 243 (261); 35, 202 (225); 51, 324 (345 f.); so auch Wendt, AöR 104 (1979), 414 (460 f.), und Scherzberg, Grundrechtsschutz und "Eingriffsintensität", S. 158 ff. (insbes. S. 164 dort m.w.N.). Dagegen scheint z.T. angenommen zu werden, es ginge hier um die Bestimmung des Bezugs eines Gutes zu einem anderen innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes, vgl. Sc h link, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 38; Jakobs, DVB1. 1985, 97 (100); in diese Richtung scheint auch die Kritik von E.-W. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (20 f.), zu gehen. Bei der Entscheidung von Grundrechtskonflikten geht es aber nicht um abstrakte Rangfragen, sondern um die konkrete Bedeutung von Rechtsgütern.
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daß die Angemessenheit der Relation zu überprüfen ist, vielmehr ist nur zu bewerten, ob die durch den Eingriff verfolgten und begründeten Zwecke außer Verhältnis zu den beeinträchtigten Zwecken stehen.123 Diese negative Fassung der Verhältnismaßigkeitsprüfung ist für ihr Verständnis von zentraler Bedeutung. Es handelt sich dabei um eine durchaus geläufige Technik des Rechts, die Beweislast für Entscheidungen durch Statuierung eines RegelAusnahme-Verhältnisses zu verschieben. Die negative Fassung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wirkt sich so aus, daß die Vermutung für die Verhältnismäßigkeit des öffentlich-rechtlichen Gesetzes spricht. 124 Unter staatsorganisatorischen Gründen ist das eine Konsequenz dessen, daß die hier erforderliche Abwägung zunächst dem Gesetzgeber zusteht und erst in zweiter Linie - unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gesetzgebers - der Verfassungsgerichtsbarkeit. Von ebenso zentraler Bedeutung ist aber die Frage der Rechtfertigung eines solchen Regel-AusnahmeVerhältnisses zugunsten des öffentlich-rechtlichen Schrankengesetzes im Verhältnis zum Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Ist nicht auch das Grundrecht ein absolutes Recht, für das als solches die Vermutung der Abwehr von Einschränkungen gilt? Eine Antwort ermöglicht auch hier die Unterscheidung der prinzipiellen Ebene von der Ebene der konkreten Konfliktsentscheidung. Auf der prinzipiellen Ebene begründet jedes absolute Recht eine Vermutung derart, daß Störungen abgewehrt werden können. Diese Störungsabwehr ist durch die Ausschließungsbefugnis angekündigt. Im Verhältnis zweier absoluter Rechte zueinander ist auf der prinzipiellen Ebene eine solche Vermutungswirkung für jedes der beiden Rechte noch vorstellbar, auf der Ebene der konkreten Konfliktsentscheidung lassen sich daraus allerdings keine Konsequenzen mehr ziehen: Die Vermutungen heben sich gegenseitig auf. Man könnte deshalb zunächst meinen, es läge auch im Verhältnis zwischen Eingriffsgesetz und Freiheitsgrundrecht nahe, auf eine Vermutungswirkung zu verzichten. Dagegen sprechen zum einen die bereits oben angeführten staatsorganisatorischen Gründe. Ein weiterer Grund ergibt sich aus dem 123 Vgl. etwa BVerfGE 16, 194 (202); 23, 127 (133 f.); 28, 264 (280). Siehe dazu auch die Analyse von Grabitz, AöR 98 (1973), 568 (576). 124 Diese Vermutung zugunsten der Ausgewogenheit der absoluten Rechte des Staates kann man als Ausprägung des Gedankens der Vernünftigkeit des Rechts sehen, vgl. dazu Kriele, Die vermutete Vernünftigkeit unseres Rechts, S. 56 ff.; ders., Theorie der Rechtsgewinnung, dort das Nachwort S. 330; auch Steiger, W D S t R L 45, 55 (75). Die Grundlagen dieser Auffassung reichen - wie auch Kriele zeigt - zumindest bis zu dem Worte Hegels von der MVernünftigkeit der Wirklichkeit", zu der auch das Recht zählt, möglicherweise darüber hinaus auch zur praktischen Philosophie des Aristoteles, vgl. dazu vor allem die verschiedenen Studien Joachim Ritters zu Aristoteles und Hegel in "Metaphysik und Politik". Dann hat der Gedanke der widerlegbaren Vernünftigkeit der Rechtsinstitutionen aber auch schon seine Bedeutung in der Kontroverse zwischen Hobbes und den englischen Juristen, insbesondere Coke und Haie, vgl. dazu Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates, dort insbesondere die im Anhang (S. 63 ff.) abgedruckten Überlegungen Haies.
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unterschiedlichen Charakter der absoluten Rechte des Staates im Vergleich zu den absoluten Grundrechten. Die einzelnen Freiheitsgrundrechte sind als sachbezogene Komplexe formuliert, die eine Vielzahl von Betätigungsmöglichkeiten in diesem Umkreis schützen. Im Vergleich dazu muß die einzelne öffentlich-rechtliche Befugnisnorm als punktuelle Regelung einer Sachfrage begriffen werden, die der Staat von Fall zu Fall als absolut geschützte Rechtspositionen begründet. In diesem Charakter des öffentlich-rechtlichen Gesetzes als Teilbereichsregelung liegt ein erster Versuch, die Ausgewogenheit der öffentlich-rechtlichen Eingriffsgesetzgebung abzusichern. 125 Ein weiterer Grund fur die Vermutungswirkung der staatlichen absoluten Rechte liegt dann in der Vorgegebenheit der Grundrechte als absolute Rechte. Die Grundrechte stellen Rechtspositionen dar, die den staatlichen Befugnissen vorausliegen und dementsprechend bei jeder Tätigkeit des Staates mitgegeben sind. Es besteht gewissermaßen der Vorrang der immer schon durch die Grundrechte begründeten Rechtspositionen gegenüber den noch zu begründenden Rechtspositionen des Staates, der sich darin äußert, daß der Gesetzgeber sich immer schon im Werthorizont der Grundrechte bewegt. Dieser Vorrang der Grundrechte gegenüber der Gesetzgebung wird in gewisser Weise dadurch ausgeglichen, daß dem Gesetzgeber bei der Abwägung zwischen den durch das Grundrecht begründeten und den für das Gesetz begründbaren Interessen der Vorrang der Entscheidung zugebilligt wird. Die darin liegende Vermutung zugunsten der Ausgewogenheit der öffentlichrechtlichen Schrankengesetze ist nicht nur eine wesentliche Funktionsbedingung von Gesetzgebung überhaupt; sie bringt auch die Dignität des Staates in der Ausübung von Gesetzgebung zum Ausdruck. 126 Der hier in seiner Bedeutungs- und Wirkungsweise kurz umrissene Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt für alle durch öffentlich-rechtliches Gesetz betroffenen Freiheitsgrundrechte. Eine Reihe von Grundrechten weisen allerdings qualifizierte Gesetzesvorbehalte auf, durch die das Verhältnis von Schrankengesetz und Grundrecht eine eigene Gewichtung erfahrt. Da Art. 2 125
Historisch hat sich im übrigen der Begriff des öffentlich-rechtlichen Gesetzes als Begründung fur "Eingriffe in Freiheit und Eigentum" auch in dieser Weise entwickelt, nämlich am jeweils einmaligen Akt der Zustimmung zur Steuererhebung durch die Stände, vgl. dazu Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 103 ff. 126
Dieses wertorientierte Verständnis auch des öffentlich-rechtlichen Gesetzes hat seine Grundlage in der Legitimation des parlamentarischen Gesetzgebers durch den politischen Akt der Wahl, mit dem sich das Gesetz auf die ethisch begründete Selbstbestimmung des einzelnen zurückfuhren läßt. Im übrigen aber steht dahinter die Problematik, wie der Staat als Person - und sei es auch "nur" als juristische Person - begriffen werden kann. Dem soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Die hier angesprochenen Zusammenhänge und Perspektiven sind ausführlich zur Darstellung gebracht worden von Schapp, AcP 192 (1992), 355 (362 f., 382 ff., 384 ff.).
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Abs. 1 GG aufgrund der weiten Auslegung des Begriffs der "verfassungsmäßigen Ordnung" keine solchen zusätzlichen Gewichtungen enthält, kann die Vorschrift damit auch auf der Schrankenebene als prototypisch gelten. Art. 2 Abs. 1 GG stellt damit insgesamt die leitende Entscheidung im Verhältnis zwischen Staat und Bürger dar. Zunächst einmal werden durch sie beide Konfliktparteien als Konfliktsubjekte des öffentlichen Rechts anerkannt. Weiter werden für dieses Verhältnis zugleich auch schon die zentralen Wertgesichtspunkte herausgestellt. Die eine zentrale Entscheidung liegt dabei darin, daß Beeinträchtigungen durch Verwaltungshandeln, für die keine gesetzliche Grundlage besteht, abgewehrt werden können. Darin kommt die Wertorientierung der Grundrechte am Schutz der Person zum Ausdruck, die in ihrer freien Entfaltung nicht ohne rechtlichen Grund beeinträchtigt werden soll. Die zweite große Entscheidung liegt darin, daß für die auf gesetzlicher Grundlage erfolgenden Eingriffe zwar Rechtsschutz gegeben ist, daß aber eine Vermutung zugunsten der Ausgewogenheit der Gesetze besteht. Dies ist die Konsequenz eines wertorientierten Verständnisses auch des öffentlich-rechtlichen Gesetzes, das letztlich ebenfalls seine Grundlage in der Wertorientierung der Verfassung an der Person findet. Art. 2 Abs. 1 GG basiert insoweit auf dem Gedanken der freien Entfaltung der Persönlichkeit im Recht. 4. Kritik der bisherigen Überlegungen zur dogmatischen Figur des absoluten Rechts im öffentlichen Recht Nachdem wir nun unter verschiedenen Gesichtspunkten unsere Auffassung zur Bedeutung des absoluten Rechts als einer dogmatischen Figur des öffentlichen Rechts dargelegt haben, wollen wir uns auf dieser Grundlage mit den wichtigsten Überlegungen in der Literatur auseinandersetzen, die sich mit den öffentlich-rechtlichen absoluten Rechten beschäftigen. Was hier zunächst auffällt, ist, daß es bisher im wesentlichen überhaupt nur die Fragestellung gegeben hat, ob sich die Grundrechte als absolute Rechte begreifen lassen. Eine systematische Konzeption, die versucht, auch die staatlichen Positionen mit der dogmatischen Figur des absoluten Rechts zu erfassen, ist bislang noch nicht vorgelegt worden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Es entspricht vielmehr der Fixierung der herrschenden Lehre auf die subjektiven öffentlichen Rechte des einzelnen, die den subjektiven Rechten des Staates nur wenig Beachtung schenkt. Ihre Anerkennung beginnt auch nur langsam, sich in der Literatur durchzusetzen.127 Der bisherigen Darlegung ging es deshalb vor allem auch darum, die systematische Bedeutung für die Konzeption des
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Siehe dazu auch die Kontroverse zwischen Bauer, DVB1. 1986, 208 ff., und DVB1. 1986, 667 f., einerseits und Bleckmann, DVB1. 1986, 666 f., andererseits, im übrigen die Nachweise oben I 1 Fn. 12.
. Ansprüche des Staates und des Bürgers aus absoluten Rechten
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öffentlichen Rechts aufzuzeigen, die der Annahme subjektiver öffentlicher Rechte des Staates zukommt. a) Wilhelm Henke, Klaus Stern und Michael Sachs Die hier vorgetragenen Überlegungen zu den absoluten Rechten des öffentlichen Rechts sind in vielerlei Hinsicht den verschiedenen Studien von Wilhelm Henke verpflichtet. Henke hat aufgrund seiner Forschungen zum subjektiven öffentlichen Recht schon vor Jahren die Bedeutung der dogmatischen Figur des absoluten Rechts auch für das öffentliche Recht erkannt. 128 Dementsprechend hat er in einem bahnbrechenden Aufsatz von 1984 den Versuch einer systematischen Darstellung der Grundrechte als absolute Rechte unternommen. 129 In jüngster Zeit hat Henke sodann - auch in Fortführung seiner Überlegungen zum öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnis130 - die verfassungsrechtliche Beziehung zwischen Staat und Bürger in einer groben Skizze als ein Verhältnis charakterisiert, in dem die Positionen beider Seiten durch die Zuweisung absoluter Rechte bestimmt sind. 131 Es ist diese nach unserer Auffassung für die Dogmatik des öffentlichen Rechts so bedeutsame Fragestellung, die von uns aufgenommen und in den systematischen Zusammenhang einer Anspruchskonzeption des öffentlichen Rechts gerückt wurde.
128
Vgl. zuerst W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, §§ 17, 18; sodann ders., Festschrift für W. Weber, 495 (498 ff.); ders., DÖV 1980, 621 (622 ff.); ders. y JZ 1992, 541 (544 f.). 129 W. Henke, DÖV 1984, 1 ff. Zu den Grundrechten als absoluten Rechten vgl. auch Pietzcker, Festschrift für Bachof, 131 (144), sowie Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 62 ff. - In Anknüpfung an Überlegungen Henkes hat unlängst Rolf Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, insbes. § 6 I 2, klare dogmatische und systematische Perspektiven für ein Verständnis der Freiheitsgrundrechte als absolute Rechte entwickelt. Eine umfassende Auseinandersetzung - vor allem auch mit der Freiheitskonzeption des öffentlichen Rechts durch Gröschner - war hier nicht mehr möglich. Nur soviel: Ebenso wie der hier verfolgte theoretische Ansatz stellt Gröschner die Unterscheidung von absolutem und relativem Charakter der Grundrechte, von Ausschließungsbefugnis und Abwehranspruch in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, für die auch er an die Dogmatik des Zivilrechts anknüpft. Anders als hier geht er dabei aber nicht vom Eigentumsmodell des § 903 S. 1 BGB aus, weü er darin die Gefahr einer "Verdinglichung der absoluten Rechte" (S. 217) sieht. Stattdessen setzt Gröschner beim quasi-negatorischen Schutz der "sonstigen Rechte" i.S.v. § 823 I BGB an. Der Gedanke der Absolutheit der Grundrechte ist von diesem Ausgangspunkt her aber nur sehr schwer deutlich zu machen. Das liegt vor allem daran, daß auch das Tatbestandsmodell des § 823 I BGB an ein Verständnis der absoluten Rechte anknüpft, wie es durch § 903 S. 1 BGB prototypisch für das Eigentum formuliert wird. Damit scheint uns auch für eine Deutung der sonstigen absoluten Rechte eine Auseinandersetzung mit diesem Modell des Eigentums unverzichtbar zu sein. 130 131
Vgl. dazu unten III 2 a. W. Henke, Recht und Staat, § 59 (insbes. S. 612 ff.).
168
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Denn erst aus diesem Zusammenhang heraus lassen sich auch die näheren Umrisse dogmatischer Leitfiguren wie des absoluten Rechts entwickeln. Ein Verständnis der Grundrechte nach dem Vorbild der zivilrechtlichen absoluten Rechte steht auch im Mittelpunkt des 1988 erschienenen Werkes von Klaus Stern und Michael Sachs über "Allgemeine Lehren der Grundrechte". 132 Zu der in diesem Buch auf der Grundlage einer beeindruckenden Auswertung des Schrifttums vorgetragenen Strukturanalyse des subjektiven Grundrechts als Abwehrrecht finden sich eine Reihe von Übereinstimmungen mit unseren Überlegungen zum absoluten Recht des öffentlichen Rechts. 133 Es sollen deshalb nur einige voneinander abweichende Ansatzpunkte in beiden Konzeptionen hervorgehoben werden. Zunächst einmal beschränken auch Stern und Sachs sich auf die Darstellung der Grundrechtsgehalte, die Frage nach einer entsprechenden dogmatischen Erfassung der staatlichen Positionen wird auch hier nicht aufgeworfen. Auch in der Analyse des subjektiven Grundrechtsgehaltes finden sich dann durchaus andere Akzentsetzungen. Subjektives Grundrecht ist fur Stern und Sachs in erster Linie das Grundrecht als "Abwehrrecht", das scharf von den negatorischen Grundrechtsansprüchen unterschieden wird. 1 3 4 Das entspricht der hier zugrunde gelegten Unterscheidung des Grundrechts als absolutes Recht und als Anspruch. Allerdings ist der Begriff des Grundrechts als "Abwehrrecht" (fur das Grundrecht als absolutes Recht) von Stern und Sachs unglücklich gewählt. 135 Wie beide selbst sehen, bezog sich der Begriff des Abwehrrechts seit jeher eher auf den Abwehranspruch aus dem Grundrecht und nicht auf die absolut geschützte Grundrechtsposition. 136 Damit ist im Grunde vorgezeichnet, daß der Begriff des Abwehrrechts auch weiterhin auf das Grundrecht als Anspruch und allenfalls daneben auf das Grundrecht als absolutes Recht verwandt wird. Dem insofern zweifelhaften Sprachgebrauch von Stern und Sachs liegt eine durchaus tiefere Ursache zugrunde. In ihrer Darstellung der Grundrechte wird der Bedeutung des Anspruches zu wenig Beachtung geschenkt. Es ist zwar richtig, daß das Grundrecht als Rechtsposition das "Primäre" gegenüber dem Anspruch als dem "Sekundären" ist. Dennoch hat auch der Anspruch eine zentrale Funktion innerhalb der Lehre von den Grundrechten: Auch in der Grundrechtsdogmatik ist der Anspruch als Konfliktsentscheidung Zielpunkt der juristischen Tätigkeit. Dementsprechend kommt gerade der Unterscheidung, dann aber auch dem Begründungsverhältnis von absolutem Recht und 132
Stern/Sachs,
133
Vgl. insbesondere dies., Staatsrecht, Bd. I I I / l , §§ 65, 66.
134
Vgl. dies., Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 65 IV 2 c (S. 565 ff.).
135
Staatsrecht, Bd. III/l.
Kritisch zur darin liegenden Zurückweisung des Begriffs "absolutes Recht" für die Grundrechte auch Gröschner, Das Überwachungs rechts Verhältnis, § 6 I 2 c (S. 221 f.). 136 Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 65 IV 2 c (S. 568).
. Ansprüche des Staates und des Brgers aus absoluten Rechten
169
Anspruch eine zentrale Bedeutung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Systematik zu. Bei Stern und Sachs ist diese Systematik im Grunde nur auf der Ebene der Grundrechte als absolute Rechte ausgearbeitet, der systematischen Bedeutung des Anspruchsbereiches wird hingegen zu wenig Beachtung geschenkt. Dem entspricht es, daß der Begriff des Abwehrrechtes allein dem Grundrecht als absolutem Recht vorbehalten wird, während der Grundrechtsanspruch aufgrund seiner nur "dienenden Funktion" 137 von lediglich untergeordneter Bedeutung sein soll. Die Problematik spiegelt sich bei Stern und Sachs auch in der Bestimmung des Begriffs des subjektiven Grundrechts wider. In Anlehnung an den Rahmenbegriff des subjektiven Rechts von Larenz wird von ihnen das subjektive Grundrecht definiert als "jede einer Person aufgrund einer Grundrechtsbestimmung des Grundrechts zukommende oder gebührende Position." 138 Dieser Begriff ist - wie sie selbst zugeben - weitgehend inhaltsleer. Vor allem aber bringt er nicht die unterschiedliche Funktion des subjektiven Grundrechts als Begründung und Entscheidung zum Ausdruck. Die systematische Bedeutung, die in der Unterscheidung von Anspruch und absolutem Recht liegt, wird so durch einen nichtssagenden Begriff des subjektiven Grundrechts verdeckt. b) Georg Jellinek, Eberhard Grabitz Wie auch bei Stern und Sachs anklingt, läßt sich die Auffassung, daß sich die Freiheitsgrundrechte als absolute Rechte verstehen lassen, ohne weiteres bis auf die Statuslehre Georg Jellineks zurückverfolgen. Bekanntlich unterscheidet Jellinek in seinem "System der subjektiven öffentlichen Rechte" vier Status, nämlich den passiven, den negativen, den positiven und den aktiven Status. 139 Dabei scheinen uns positiver und aktiver Status dem negativen Status nachgebildet zu sein, in dem wir insoweit auch den Kern der Statuslehre Jellineks sehen. 140 Bei der Vorstellung subjektiver öffentlicher Rechte des negativen Status ist Jellinek sich weitgehend im klaren darüber gewesen, daß er diese in Parallele zu den zivilrechtlichen Ansprüchen aus dem dinglichen Recht entwickelte141: "Gleichwie dem dinglichen Rechte die negative Pflicht 137
Dies, , Staats recht, Bd. I I I / l , § 65 IV 2 c (Fn. 386).
138
Dies. y Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 65 III 2 b, 3.
139
Jellineky System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 86 f. 140 y gi ^azu a u c j 1 Schapp y Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 147, der dem positiven und dem aktiven Status in der Lehre Jellineks Annexfunktionen zuschreibt. 141 Suhr y EuGRZ 1984, 529 (532 ff.), sieht einen zentralen Mangel im Fundament der Grundrechtsdogmatik gerade darin, daß die Lehre vom negativen Status nach dem Vorbild des zivilrechtlichen Sacheigentums konzipiert wurde. Das Menschenmodell des zivilrechtlichen Sacheigentümers sei zum "Inbegriff und Paradigma des freien
170
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
der eventuell mit dem Berechtigten in Berührung kommenden Personen entspricht, diesen nicht zu stören, so entspricht dem negativen Status die analoge Pflicht samtlicher mit dem Individuum in Verkehr tretenden Behörden. Es ist ein absoluter, von jeder Behörde zu respektierender Status ( . . . ) . Das Gebot stets und nur gesetzmässig zu handeln, ergeht an alle Behörden, daher ist allen gegenüber die freie Betätigung der Persönlichkeit geschützt. Namentlich durch diesen Anspruch des Individuums, die Anerkennung und demgemäss Unterlassung und Beseitigung von Störungen seines negativen Status verlangen zu können, wird er zu einem rechtlichen Status erhoben, sowie das dingliche Recht zu einem solchen wird auch durch den Anspruch des Berechtigten gegen andere auf NichtStörung.
142
Eines der zentralen Probleme der Statuslehre Jellineks liegt darin, daß dem negativen Status keine materiale Substanz zugesprochen w i r d . 1 4 3 Der Inhalt des negativen Status erscheint deshalb als allein durch die Gesetze bestimmt. Freiheiten sind durch den negativen Status "nur innerhalb der gesetzlichen Schranken anerkannt". 1 4 4 Jellinek stellt fest: "Alle Freiheit ist einfach Freiheit
Menschen der bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassungsanthropologie überhaupt geworden". Die im Sacheigentum liegende Eingriffsfreiheit sei aber nicht in der Lage, die ungeheure Erweiterung der Freiheit im Verhältnis der Menschen zueinander ("Die Freiheit der Menschen durch die Menschen") zu erfassen. Die Schwäche dieser Kritik liegt darin, daß Suhr das von ihm zugrunde gelegte Eigentumsmodell des bürgerlichen Rechts selbst keiner genaueren Analyse mehr unterzieht und damit auch dessen soziale Dimension nicht sieht. Nur selten findet man in der Lehre des öffentlichen Rechts allerdings ein so klares Bewußtsein der Bedeutung der zivilrechtlichen Dogmatik für das öffentliche Recht (vgl. a.a.O., S. 541). 142 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 105. Vgl. zu dieser Passage auch Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 7. Im übrigen wird zu dieser Stelle von Stern/Sachs, Staatsrecht, Bd. I I I / l , § 64 II 6 a (S. 427 f.), mit Recht eingewandt, daß ihr eine nicht ganz klare Auffassung zum Verhältnis von rechtlichem Status und Anspruch zugrunde liegt. Aus dem Gesamtzusammenhang der Erörterungen Jellineks ergibt sich aber, daß für diesen der Status Grundlage der Ansprüche ist, vgl. ders., a.a.O., etwa S. 86, 106; siehe dazu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 236. 143 Sehr deutlich tritt diese Problematik auch in der Lehre Rupps zu den subjektiven öffentlichen Rechten hervor, die unter Bezugnahme auf die Gedankengänge Jellineks entwickelt wird, vgl. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, S. 161. Rupp bestimmt - in Auseinandersetzung mit der zivilrechtlichen Eigentumsdogmatik - den Status als "Rechtsboden subjektiver Reaktionsrechte" ( Der kategorische Imperativ, S. 152 ff.
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
241
nunft - der "Formel der Autonomie" zu: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." 114 Kant stellt sich hier vor, daß der moralisch handelnde Wille nicht einfach nur dem Gesetz unterworfen ist, sondern daß er zugleich als selbstgesetzgebend betrachtet werden muß. 1 1 5 Der Grund des moralischen Handelns liegt damit in der Autonomie des Willens. Als ein Wesen, das fähig ist, sich selbst allgemeine Gesetze zu geben, handelt der Mensch nicht nur moralisch, sondern auch in Freiheit. 116 Der frei handelnde Mensch ist nicht nur Teil der Sinnenwelt, sondern darüber hinaus zugleich der Verstandeswelt zugehörig. 1 1 7 Freiheit wird dem Menschen also als intelligiblem Wesen zugesprochen. Die Begründung und Entfaltung dieses moralischen Freiheitsbegriffes steht ganz im Zentrum der praktischen Philosophie Kants. In seiner Rechtslehre wird von Kant nun neben diesen moralischen Freiheitsbegriff ein rechtlicher Freiheitsbegriff gestellt. 118 Am deutlichsten tritt dieser Freiheitsbegriff bei der Bestimmung des Rechtsbegriffs hervor: "Das Recht ist (...) der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." 119 Die Funktion des Rechts wird damit von der "Freiheit der Willkür" 1 2 0 her bestimmt. Die Willkürfreiheit ist scharf von der moralischen Freiheit zu unterscheiden. Anders als der rein vernunftbestimmte Wille ist die Willkür des Menschen zwar nicht wie beim Tier durch sinnliche Antriebe bestimmt, wohl aber "affiziert". 121 Sie ist deshalb nicht reine Vernunft, "kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden." 122 Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von dem "Vermögen, nach Belieben zu thun oder zu lassen."123 Diese Umschreibung der Willkür bringt besonders deutlich zum Ausdruck, daß die Willkürfreiheit 114
Kant y Kritik der praktischen Vernunft, § 7.
115
Vgl. Kanty Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, S. 431 f.
116 Vgl. Kanty Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, S. 446 ff.; ders.y Kritik der praktischen Vernunft, AA Bd. V , S. 28 ff. 1 1 7 Kanty Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA Bd. IV, S. 45 ff. 118
Vgl. zu diesen beiden Freiheitsbegriffen Kants auch Schapp, Grundlagen des bürgeriichen Rechts, § 1 III (S. 25), und ausführlich jetzt ders.y AcP 192 (1992), 355 (359 ff.). Zur Bedeutung der verschiedenen Freiheitsbegriffe für die Rechtslehre Kants siehe auch den Überblick bei Kähly Eigentumsordnung als Freiheitsordnung, S. 41 ff. 1 1 9
Kanty Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 230.
120
Ders.y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 216.
121
Ders. y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI, S. 213.
122
Ders. y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 213.
123
Ders. y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 213. - Zu einer genaueren Bestimmung des Begriffs der Willkür vgl. vor allem Becky Kants "Kritik der praktischen Vernunft", S. 169 ff. 16 Schur
242
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
durch kein inhaltliches Maß bestimmt ist. Aus diesem Grunde kann die Willkür einer Person auch mit der Willkür anderer kollidieren. Dieses Problem des Verhältnisses der Willkür auf die Willkür des anderen ist es, welches Kant in seinem Rechtsbegriff vor Augen hat. Das Recht selbst ist dann auch schon die Lösung des Problems. Es ist der "Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen" vereinbar ist. Das Recht ist also Abgrenzung der unterschiedlichen Sphären von Willkürfreiheit. Dementsprechend tritt jetzt fur die Rechtsbetrachtung der Begriff der Freiheit als der "Unabhängigkeit von eines andern nötigender Willkür" 1 2 4 in den Vordergrund. Mit dem Problem der Abgrenzung unterschiedlicher Willkürsphären hat Kant aus unserer Sicht seiner Rechtslehre einen konflikttheoretischen Ansatz zugrunde gelegt. Damit ist gemeint, daß das Recht von ihm aus seiner Funktion für den Konflikt zwischen der Willkür des einen mit der Willkür des anderen gesehen wird. Ein vergleichbarer konflikttheoretischer Ansatz liegt, wie bereits gezeigt, auch dem Eingriffs- und Schrankendenken zugrunde. Ahnlich wie das Eingriffs- und Schrankendenken geht auch schon Kant von der Vorstellung aus, daß das Recht gewissermaßen nur von außen an die Willkürfreiheit als deren Schranke herangetragen wird. Das ergibt sich daraus, daß das Recht bei Kant unmittelbar mit der Befugnis zum Zwang verbunden ist. 1 2 5 Der rechtliche Zwang ist aber immer äußerer Zwang. Denn im Recht geht es immer nur um die Abgrenzung von äußerlichen Handlungen, nicht um die innere Bestimmung der Handlungen selbst. 126 Wie auch das Schrankenmodell geht Kant damit von einem dem Individuum überlassenen Bereich willkürlicher Selbstbestimmung aus, der nur für den Konfliktfall der von außen an diesen Bereich herangetragenen Regelung durch das Recht bedarf. Das Ungenügen des Eingriffs- und Schrankendenkens liegt vor allem in der unzureichenden Berücksichtigung der materialen Grundlagen von Konfliktsentscheidungen. Diese Schwäche liegt in ähnlicher Weise auch schon der Rechtslehre Kants zugrunde. Denn auch er gibt für das von ihm herausgearbeitete Konfliktmodell nur einen im Bereich des Prinzipiellen verbleibenden Maßstab. Das Recht muß nach der Begriffsbestimmung Kants die Bedingungen dafür geben, daß die verschiedenen Willkürsphären "nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden" können. Damit ist das Recht - soviel wird man jedenfalls sagen können - Ausdruck der praktischen Vernunft. 127 Die schwierige Frage, inwieweit das Recht darüber hinaus 124
Ders., Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 237.
125
Ders., Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 231 ff.
126
Vgl. ders.y Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. V I , S. 218 ff., 231. 127 ygj dazu und auch zu einer näheren Bestimmung der "juridischen Gesetzgebung der Vernunft" vor allem Höffe y Kant, S. 210 ff.; Kauibach, Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants, passim, etwa S. 49 ff., 55 ff., 138 ff.; Kersting y Wohlgeord-
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
243
auch Ausdruck moralischer Maßstabe ist, kann hier durchaus dahingestellt bleiben. Von Bedeutung ist fur uns in diesem Zusammenhang lediglich, daß Kant mit dem Maßstab der "allgemeinen Gesetze der Freiheit" - der im Bereich der Ethik seine Entsprechung im kategorischen Imperativ findet - fur die Begründung des Rechtszwanges auf ein formales Prinzip zurückgreift. Auf diese Weise bringt Kant vor allem - mehr aber auch nicht - den Gedanken der Vernünftigkeit rechtlicher Konfliktsentscheidungen zum Ausdruck. Der Problematik der Anwendbarkeit des formalen Prinzips der allgemeine Gesetze gebenden Vernunft soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Wohl wird aber darauf aufmerksam gemacht, daß der Rechtsanwendung ein solches formales Prinzip allein nicht genügen kann. Vielmehr bedarf es auch schon auf einer "mittleren Abstraktionsebene" der Umsetzung eines solchen Prinzips fur die unterschiedlichen Konflikttypen. 128 Die dazu erforderliche Einbindung dieses Prinzips in die gewachsene Kultur des Rechts fehlt bei Kant. Wenn man es einmal schon aus dem Blickwinkel der Rechtsphilosophie Hegels formulieren will, so liegt die grundsätzliche Schwäche des konflikttheoretischen Ansatzes von Kant darin, daß dieser der Bedeutung, die den unterschiedlichen Formen und Gliederungen der Vernunft zukommt, nicht weiter nachgegangen ist und wohl auch glaubte, dem nicht nachgehen zu müssen. Dieses Ungenügen haftet auch heute noch dem Eingriffs- und Schrankendenken an. bb) Die Grundlagen des institutionellen Rechtsdenkens in der Rechtsphilosophie Hegels Als geistige Grundlage des institutionellen Rechtsdenkens kann die Rechtsphilosophie Hegels gelten. Schon aus Anlage und Struktur der "Grundlinien der Philosophie des Rechts" lassen sich hier einige Gesichtspunkte von zentraler Bedeutung herausarbeiten. 129 Ähnlich wie in der "Phänomenologie des Geistes" will Hegel auch in seiner Rechtsphilosophie die verschiedenen Erscheinungsformen der Vernunft zur Darstellung bringen, und zwar genauer die verschiedenen Erscheinungsformen der Vernunft im Recht. 130 Die Rechtsphilosophie hat, wie Hegel formuliert, "die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstande."131 Ihr Thema sind also die Wirklichkeit gewordenen Gestalten, die im Begriff des Rechts liegen. Nänete Freiheit, S. 26 ff.; sowie auch Dreier, Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants, 286 (289 ff.); ders., Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Hegels, 316 (333 f.). 128 Ygj ^azu a u c j 1 Schapp, Grundlagen des bürgerlichen Rechts, § 12 II 2 a a.E. 129 ygj ^azu Dreier, Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Hegels, 316 (326 ff.); Liebrucks, Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel; Peperzak, Zur Hegeischen Ethik. 130
Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 30.
131
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 1.
244
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
her sieht Hegel den "Boden des Rechts" durch ein geistiges Prinzip bestimmt, den freien Willen. 1 3 2 Das Recht ist deshalb seiner Idee nach "Dasein des freien Willens" 133 oder, wie Hegel auch sagt, "das Reich der verwirklichten Freiheit". 134 Insgesamt läßt sich die Rechtsphilosophie Hegels als Betrachtung der verschiedenen Stufen in der Entwicklung des Freiheitsbegriffes verstehen: Sie ist "Phänomenologie der Freiheit". 135 Den Stufengang der Entwicklung zum "Dasein des freien Willens" entwikkelt Hegel in drei Schritten. 136 Der freie Wille ist zunächst unmittelbarer oder natürlicher Wille. 1 3 7 Er ist Wille der Person, die sich im Eigentum eine äußere Sphäre der Freiheit gibt. 1 3 8 Hegel bezeichnet dies als "die Sphäre des formellen und abstrakten Rechts". 139 Auf der zweiten Stufe ist der Wille reflektierender Wille. 1 4 0 Dieser schafft sich eine innere Sphäre der Freiheit, die Hegel die Sphäre der Moralität nennt. 141 Die beiden Sphären des abstrakten Rechts und der Moralität stellen fur Hegel aber nur Abstraktionen dar, die ihre Einheit und Wirklichkeit erst auf der dritten Stufe des wahrhaft freien Willens finden, in der Sphäre der Sittlichkeit. 142 Als vernünftige Institutionen der Sittlichkeit nennt Hegel die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat. 143 Sie erscheinen einerseits dem einzelnen gegenüber als "sittliche Mächte", denen er unterworfen ist, andererseits sind sie aber nicht einfach nur ein Fremdes, sondern zugleich auch Ausdruck des menschlichen Selbstbewußtseins.144 Dabei kommt der Institution des Staates eine überragende Be-
132
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4. Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 29. 134 Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 29. - Man halte etwa auch folgende Passage bei Häberle y Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 225, dagegen: "Die Freiheit ist keine vom Recht ausgesparte, außerhalb des Rechts bestehende Freiheit sondern sie ist Freiheit innerhalb des Rechts. Das Recht ist ein Recht der Freiheit, in der Freiheit und ein Recht fur die Freiheit." Im übrigen hat Häberle die philosophischen Grundlagen seines institutionellen Grundrechtsverständnisses - wenn man einmal vom Hinweis auf Hegel in Fn. 254 absieht - nicht ausdrücklich thematisiert. Das Hegel'sehe Gedankengut erscheint bei ihm vor allem in der Vermittlung durch die Schriften E. Kaufmanns. 133
135 Vgl. dazu ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 30, sowie Illing Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit. 136 137 138 139 140 141 142 143
Siehe die Einteilung bei Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 33. Ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 11. Ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 41 ff. Ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 33. Ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 14, 21. Vgl. ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 33. Ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 33, § 141. Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 33, 157.
y
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
245
deutung zu. Erst im Staat gewinnt die Freiheit ihre höchste Gestalt: "Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee" 145 und damit auch "die Wirklichkeit der konkreten Freiheit". 146 Für die hier verfolgten Zwecke genügt dieser Überblick über das der Rechtsphilosophie Hegels zugrunde liegende Systemgebäude. Der eigentlich institutionelle Ansatz Hegels ergibt sich, wie unschwer zu sehen ist, aus seiner Konzeption der Sphäre der Sittlichkeit. Für das Verständnis dieses Denkansatzes scheinen uns vor allem zwei Momente von Bedeutung zu sein. Zum einen ist zu bemerken, daß es sich bei den von Hegel als vernünftig und wirklich verstandenen Institutionen um geschichtlich vermittelte "Lebensordnungen" handelt. 147 Auch die Sittlichkeit der Institutionen ist Ausdruck des historischen Stufenganges der Freiheit, innerhalb dessen abstraktes Recht und Moralität doch wohl immerhin Vorstufen der Sittlichkeit darstellen. 148 Hegel sieht die Institutionen damit in ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheit. Sein institutionelles Rechtsdenken trägt die Vernunft der Institutionen also nicht erst an die Wirklichkeit heran, sondern sucht sie aus der historisch-kulturell begründeten Wirklichkeit selbst zu entwickeln. 149 Zum anderen ist der institutionelle Denkansatz Hegels dadurch gekennzeichnet, daß er in den Institutionen die eigentliche und auch höchste Wirklichkeit des Rechts sieht. Erst auf der Stufe der Sittlichkeit ist das Recht für Hegel "Reich der verwirklichten Freiheit". Das institutionelle Rechtsdenken Hegels macht also vor allem die sittliche Begründung des Rechts bewußt. Dabei sieht er zunächst auch sehr deutlich, daß das Recht sich in unterschiedlichen Institutionen ausformt, daß es also auf einer Vielfalt konkreter sittlicher Grundlagen beruht. Das entspricht auch dem Ansatz seiner Rechtsphilosophie als der Suche nach den unterschiedlichen Formen der Vernunft im Recht. Ein zeitgemäßes institutionelles Rechtsdenken hat vor allem diesen Gedanken der Vielfalt vernünftiger Institutionen weiter zu verfolgen. Bei Hegel selbst tritt freilich dieser Gedanke zugunsten einer Hypostasierung der Institution des Staates wieder in den Hintergrund. Familie und bürgerliche Gesellschaft er-
144 Ders. y Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 142 ff., insbes. §§ 145, 147. Vgl. dazu auch Peperzak, Hegels Pflichten- und Tugendlehre, Hegel-Studien 17 (1982), 97 (101). 145
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257.
146
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 260. 147 Das macht vor allem Riedel, Dialektik in Institutionen, deutlich. Von "Lebensordnungen" spricht in diesem Zusammenhang llting, Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit, 225 (225, 227). 148 149
Vgl. Riedel, Dialektik in Institutionen, 40 (47).
Ähnlich auch die Charakterisierung des institutionellen Rechtsdenkens Hegels bei v. Bogdandy, Hegels Theorie des Gesetzes, S. 149.
246
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
scheinen jetzt nur noch als die notwendigen Durchgangsstadien, die schließlich zur Herausbildung des modernen Staates fuhren. Diese Institutionen sind damit im Kern ihres sittlichen Eigenwertes beraubt: Sie sind im Staat als der "Wirklichkeit der sittlichen Idee" aufgehoben. Diese Wendung im institutionellen Rechtsdenken Hegels hat durchaus tiefere Ursachen. Vor allem die Bedeutung der dialektischen Methode für seine Philosophie ist hier nicht zu unterschätzen. Ihre Anwendung auf die Betrachtung des Rechts führt zu einer tiefgreifenden Schwäche der Rechtsphilosophie Hegels: Dem institutionellen Rechtsdenken Hegels fehlt der Gedanke der Konfliktbezogenheit des Rechts auf die Lebenswirklichkeit. 150 Mit großer Deutlichkeit zeigt sich das an den End- und Übergangspunkten der verschiedenen Entwicklungsstadien. So endet das abstrakte Recht im Unrecht, die Moralität mit der "Zweideutigkeit" des Gewissens und der Möglichkeit des Bösen. 151 In beiden Abschnitten wird auf diese Weise die Bedingtheit des jeweiligen Standpunktes deutlich gemacht, die schließlich auch zu seiner Negierung führt. Die Pointe der "Rechtsphilosophie" liegt nun darin, daß beide Standpunkte von Hegel als "Unwahrheit" begriffen werden. 152 Ihre "Wahrheit" erhalten das Abstrakt-rechtliche und das Moralische nur vom Sittlichen her, in das sie zu integrieren sind. 153 Für sich genommen kommt beiden Momenten keine Wirklichkeit zu: "Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zum Träger und zur Grundlage haben ( . . . ) . " 1 5 4 Damit wird von Hegel die Konflikthaftigkeit der Wirklichkeit an einer entscheidenden Stelle ausgeblendet. Das Unrecht und das Böse erscheinen als durch das Sittliche aufgehoben. Daß dem sittlich begründeten Recht eine Funktion für den Konflikt im Recht zukommen könnte, liegt jenseits der philosophischen Überlegungen Hegels. Für ihn kommt diesen Konflikten keine eigene Wirklichkeit zu. 1 5 5
150 ygj a u c j 1 Feststellung v. Bogdandys, Hegels Theorie des Gesetzes, S. 92: "Es fehlt in Hegels Werk eine ausgearbeitete Konflikttheorie. " 151
Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 82 ff., 139 f. 152 Ygj ) Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 33. 153
Ders. y Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 33, 141.
154
Ders.y Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 141.
155
Sehr erhellend ist dafür im übrigen auch die Polemik Hegels gegen den kantischen Begriff der Willkürfreiheit, vgl. ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 14, 29. Auch Hegel kennt die Freiheit des Willens, die Willkür ist. Dieser Standpunkt enthalte aber nur "eine negative Bestimmung, die der Beschränkung (...)·" (Hervorhebung von Hegel.) Die Essenz des Rechts liegt für Hegel aber nicht in seiner beschränkenden Wirkung, sondern darin, daß es Ausdruck "der verwirklichten Freiheit" ist. Hier sieht man, wie die unterschiedlichen Akzentuierungen des Verhältnisses von Freiheit und Recht die rechtsphilosophische Gesamtkonzeption beider Denker bestimmt. Kant legt in seiner Rechtslehre den Akzent auf die Willkürfreiheit und dementsprechend auch auf die beschränkende Wirkung des Rechts. Damit gelangt er für das Recht zu einem konflikttheoretischen Ansatz. Hegel legt den Schwerpunkt auf
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
247
Die unzureichende Berücksichtigung der Konfliktdimension zeigt sich in der Rechtsphilosophie Hegels schließlich auch an seinem Staatsverständnis. Der Staat ist "die Wirklichkeit der sittlichen Idee". Er ist "die Wirklichkeit des substantiellen Allgemeinen" 156 , dem auch der einzelne Mensch seine Existenz als ein vernünftiges Wesen verdankt. 157 Die Aufgabe des einzelnen ist es deshalb, die allgemeine Sache zu seiner eigenen besonderen Sache zu machen 158 : "(...) die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu fuhren ( . . . ) . " 1 5 9 Mit dem Gedanken, daß der Staat höchster Trager und letzte Grundlage der Sittlichkeit ist, bleibt in der Rechtsphilosophie Hegels kein Raum mehr für Konflikte zwischen Individuum und Staat. Der Staat wird nicht als eine unter einer Vielzahl vernünftiger Institutionen begriffen, sondern auch als die Einheit dieser Ordnungen. Im Bereich der Sittlichkeit des Staates kann es damit keine Konflikte mehr geben. Daß nicht nur das Individuum, sondern auch der Staat und sein Handeln in die Vielzahl vernünftiger Institutionen eingebunden ist und - wie das Individuum - diese Vernunft auch verfehlen kann, ist für Hegel kein Thema des Rechts mehr. 160 Vielmehr verliert sich diese Frage für ihn im Horizont der Weltgeschichte, die zugleich auch das Weltgericht ist. 1 6 1 Die darin liegende Verflüchtigung der Konfliktdimension des Rechts ist auch heute noch eine Schwäche des institutionellen Rechtsdenkens.
die sittlich-vernünftige Freiheit und versteht auch das Recht als deren Ausdruck. Damit gelangt er für das Recht zu einem institutionellen Ansatz. Angesichts der klaren Prioritäten, die beide Denker in ihren rechtsphilosophischen Konzeptionen setzen, kommt es bei keinem von ihnen zu einer echten Verknüpfung beider Momente, obwohl in beiden Rechtstheorien Ansatzpunkte für den jeweils anderen Standpunkt vorhanden sind. - Zum Verhältnis der rechtsphilosophischen Konzeption Kants und Hegels vgl. vor allem auch Dreier, Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Hegels, 316 (328 ff.), sowie die abgewogene Darstellung zum Rechtsbegriff beider Denker von Folkers, ARSP 71 (1985), 246 ff. 156
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 157.
157
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 257 f.; ders. y Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I, S. 111 f. 158
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 261.
159
Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258.
160
Mit Recht ist in der Literatur bemerkt worden, daß Hegel als Grundlage seines institutionellen Rechtsdenkens zwar die Kategorie der Intersubjektivität vorschwebte, er sie aber in ihrer Durchführung verfehlte. So vor allem Theunissen, Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts, sowie Hösle, Hegels System, Bd. 2, S. 474 f., dem es insgesamt um eine Erneuerung des objektiven Idealismus Hegels auf der Basis eines intersubjektivitätstheoretischen Ansatzes geht. 161 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu § 259, §§ 341 ff.
248
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
3. Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens bei Carl Schmitt Im konkreten Ordnungsdenken von Carl Schmitt kann man die tiefere geistige Grundlage fur sein institutionelles Grundrechtsverständnis sehen. 162 Dieser Verbindungslinie wird hier nicht weiter nachgegangen. Der Hinweis macht aber deutlich, in welchem Bereich Zusammenhänge zwischen Grundrechtsdogmatik und konkretem Ordnungsdenken zu suchen sind. Stattdessen soll im folgenden zu den rechtsmethodischen Gehalten dieser Position Stellung genommen werden. 163 Die Auseinandersetzung mit dem konkreten Ordnungsdenken Schmitts stellt damit zum Abschluß unserer Untersuchung einen letzten Versuch dar, die Bedeutung des institutionellen Denkansatzes fur die juristische Dogmatik näher zu umreißen. Schmitt hat seine Überlegungen zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken in den größeren Zusammenhang der Unterscheidung von drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens gestellt, dessen Vergegenwärtigung fur das Verständnis seiner Position unerläßlich ist. Als juristische Denktypen werden von Schmitt herausgestellt das Regeln- oder Gesetzesdenken, das Entscheidungsdenken und das konkrete Ordnungsdenken.164 Das rechtswissenschaftliche Denken arbeite zwar immer sowohl mit Regeln als auch mit Entscheidungen sowie Ordnungen und Gestaltungen. Die "letzte, rechtswissenschaftlich gefaßte Vorstellung" sei aber immer nur eines: "entweder eine Norm (im Sinne von Regel und Gesetz), oder eine Dezision, oder eine konkrete Ordnung." 165 Alle drei Denkarten werden von Schmitt als juristische Denktypen verstanden. Jeder der verschiedenen Denkansätze nehme - mit dem Begriff der Norm, der Dezision oder der konkreten Ordnung - fur sich in Anspruch, Sinn und Kern des Rechts zu erfassen. 166 Schmitt bestimmt den jeweiligen Denktypus vor allem durch Abgrenzung zu den anderen Denktypen. Mit dem Regeln- oder Gesetzesdenken hat er einen abstrakten Normativismus vor Augen, fur den sich das Recht auf "einen bloßen Inbegriff oder eine bloße Summe von Regeln und Gesetzen" beschränkt. 167 In diesem Denkansatz reduziere sich alles Recht und alle Ord-
162 Vgl. dazu die Hinweise Schmitts in der Vorbemerkung zur zweiten Auflage seiner Schrift "Politische Theologie". 163 Zu den rechtsmethodischen und ^ c h -philosophischen Aspekten des konkreten Ordnungsdenkens vgl. vor allem den Überblick bei E.-W. Böckenförde, Art. "Ordnungsdenken, konkretes". 164
Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 8.
165
Ders.y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 7 (Hervorhebung von Schmitt). 166 Ders. y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 11. 167
Ders. y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 12.
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
249
nung auf bloße Gesetzesregeln.168 Dagegen fasse das konkrete Ordnungsdenken das Recht "von einem selbständigen Begriff 'Ordnung' " 1 6 9 , nämlich von den konkreten Ordnungen der Wirklichkeit her. 1 7 0 Dementsprechend wird das Recht dann nur als "ein Bestandteil und ein Mittel der Ordnung" aufgefaßt. 171 Den normativ-rechtlichen Regelungen kommt hier eine lediglich beschränkte und von der Ordnung abgeleitete Funktion zu: "Die Norm oder Regel schafft nicht die Ordnung; sie hat vielmehr nur auf dem Boden und dem Rahmen einer gegebenen Ordnung eine gewisse regulierende Funktion mit einem relativ kleinen Maß in sich selbständigen, von der Lage der Sache unabhängigen Geltens." 172 Das Recht hat also die Aufgabe, der Ordnung zu dienen. 173 Die konkrete Ordnung widerstehe damit "jedem Versuch restloser Normierung und Regelung". 174 Gesetzgeber und Richter müßten sich daher den "konkreten Ordnungsvorstellungen der konkreten Institution" unterwerfen, wenn sie diese nicht zerstören wollen. 175 Die dritte Art juristischen Denkens, das Entscheidungsdenken, von Schmitt auch Dezisionismus genannt, beruht auf der Vorstellung "souveräner Entscheidungen", die "aus einem normativen Nichts" entspringen. 176 Die Recht schaffende Entscheidung wird hier also nicht als "Ausfluß einer vorausgesetzten Ordnung" begriffen, 177 ihr letzter Geltungsgrund soll vielmehr in ihr selbst liegen. Die dezisionistische Entscheidung sei nicht etwa Wiederherstellung einer bereits vorhandenen Ordnung, sondern erst Herstellung im Sinne der Begründung einer normativen Ordnung. 178 Schmitt hat dabei den Übergang von einem "anarchischen Zustand völliger Unordnung" zu einem "staatlichen Zustand der Ruhe, Sicherheit und Ordnung" vor Augen. 179 Seine klassische Formulierung habe dieser Dezisionismus in der Staatslehre von Hobbes gefunden. 180 In dessen Gedankengebäude sei der Staat die Macht, sämtliche vorhandenen Ordnungen zu beseitigen und "von einer tabula rasa
168 ygj ders., über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 12. 169
Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 12. 170 Ygj ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 43. 171
Ders., Über die drei Arten des rechts wissenschaftlichen Denkens, S. 13.
17 2
Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 13. 173 Ygj ^ers. ^ ü b e r d j e drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 20.
17 4
Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 20. 175 Ygj ders. y über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 20 f. 17 6
Ders., Über die drei Arten des rechts wissenschaftlichen Denkens, S. 28.
177
Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 25.
178
Vgl. ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 28. Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 28. Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 27.
17 9 180
250
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
her, aus einem Nichts an Ordnung und Gemeinschaft" die neue staatliche Ordnung zu konstruieren. 181 In der Entwicklung der deutschen Rechtswissenschaft habe, so Schmitt weiter, das konkrete "Ordnungs- und Gemeinschaftsdenken" niemals aufgehört. 1 8 2 Von ihm wird in diesem Zusammenhang vor allem die Bedeutung der Rechts- und Staatsphilosophie Hegels hervorgehoben, in der das konkrete Ordnungsdenken "mit einer unmittelbaren Gewalt" zur Entfaltung gekommen sei. 1 8 3 Als Beispiel dafür wird das Staatsverständnis Hegels genannt. Der Staat sei hier "die konkrete Ordnung der Ordnungen, die Institution der Institutionen."184 Im übrigen habe sich die "fortwährende Kraft des konkreten Ordnungsdenkens" auch in der Zeit des Positivismus behauptet.185 Für die eigene, gegenwärtige Lage konstatiert Schmitt einen "gewaltigen Anlauf zum konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken",186 das die Möglichkeit biete, der konkreten Wirklichkeit der durch die "nationalsozialistische Bewegung" 187 neu geschaffenen Lebensverhältnisse unmittelbar gerecht zu werden. 1 8 8 Die Darstellung der drei Typen rechtswissenschaftlichen Denkens durch Schmitt beruht auf einer Entgegensetzung einzelner Gesichtspunkte juristischen Denkens, mit der die Eigenart dieses Denkens im Kern verfehlt wird. Die Verabsolutierung dieser einzelnen Gesichtspunkte führt dazu, daß Schmitt drei "juristische" Denkarten präsentiert, denen allesamt ein unzureichendes Verständnis des Rechts zugrunde liegt. Das Ungenügen des abstrakten Normativismus ist dabei von Schmitt selbst herausgearbeitet worden. Diesem juristischen Denkansatz fehlt vor allem ein Verständnis für den sozialen Bezug des Rechts. Insbesondere die Interessenjurisprudenz hat dieser Schwäche des abstrakt-normativen Ansatzes Rechnung getragen. Mit dem Gedanken der Konfliktsentscheidung durch das Recht hat sie die verengte Blickrichtung des abstrakt-normativen Denkansatzes erweitert, indem sie die Norm in die ihr zugrunde liegenden Interessenzusammenhänge einfügt. Ebenso liegt aber auch dem konkreten Ordnungsdenken ein unzureichendes Rechtsverständnis zugrunde, das von Schmitt auch unumwunden zur Darstellung gebracht wird. Das Recht ist für das konkrete Ordnungsdenken lediglich ein Mittel der Ordnung. Damit ist dem Recht seine eigenständige Bedeutung 181 182
Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 41. Ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 42.
183
Ders.y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 45.
184
Ders. y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 47.
185
Ders.y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 50. Ders.y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 58.
186 187
Ders.y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 65.
188
Ders. y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 62.
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
251
genommen. 189 Man kann Schmitt durchaus zugeben, daß die konkreten Ordnungen der Lebenswirklichkeit den normativen Regelungen des Rechts vorgegeben sind. Zu bestreiten ist aber, daß das Verhältnis zwischen konkreter Ordnung und Recht das von Schmitt angenommene der Instrumentarisierung des Rechts zugunsten der Ordnung ist. Dem Recht kommt gegenüber der konkreten Ordnung vielmehr eine eigene Funktion zu. Es nimmt mit seinen Entscheidungen die bereits vorhandene konkrete Ordnung nicht einfach nur auf, sondern es bezieht in selbständiger Weise auch Stellung zu ihr, und zwar ohne diese Ordnung dadurch sogleich zu zerstören. Diese Möglichkeit des Rechts zu einer normativen Bewertung der vorgegebenen konkreten Ordnung liegt vor allem darin begründet, daß die Ordnungen unserer Lebenswirklichkeit sehr viel weniger fest umrissen sind, als Schmitt glauben machen will. Zu einem bedeutsamen Teil ist das Recht - wie Häberle im Hinblick auf die Institutionen durchaus richtig gesehen hat - erst Bestimmung, Ausgestaltung und Konturierung der konkreten Ordnung, indem es etwa einzelne der in ihr vorhandenen Momente herausgreift und akzentuiert, andere hingegen vernachlässigt. Dieser Funktion des Rechts wird der von Schmitt dargestellte Automatismus von der Ordnung zum Recht in keiner Weise gerecht. Daß das Recht fur das konkrete Ordnungsdenken keine eigenständige Funktion mehr hat, wird zum Ende der Abhandlung Schmitts "Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" noch unter einem anderen Gesichtspunkt deutlich. In den Vordergrund tritt nun nämlich der Gedanke der Herausbildung neuer Lebensordnungen durch den Nationalsozialismus.190 Angesichts der nicht mehr feststellbaren eigenständigen Funktion des Rechts im konkreten Ordnungsdenken ist das Recht diesem Wandel der Ordnungen hilflos ausgeliefert: Mit der Ordnung muß sich auch das Recht verändern. 191 Im übrigen stößt die konkrete Ordnung - worauf der Gedanke ihrer Zerstörung durch das Recht hindeutet - das Recht von sich ab. Das konkrete Ordnungsdenken Schmitts ist damit im Kern ein a-normatives Denken, fur das die Bezeichung als juristischer Denktypus kaum gerechtfertigt ist. Entsprechendes gilt auch fur den dezisionistischen Denkansatz. Nach den Ausführungen Schmitts ist das Entscheidungsdenken im Kern kein juristischer, sondern ein politischer Denkansatz.192 Die Entscheidung ist hier nicht 189 y g j dazu auch Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 141; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 293 f. 190 191
Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 62 ff.
Kritisch dazu auch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 295 ff.; Schapp, Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, S. 141 f. 192 Vgl. dazu Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 322, der feststellt, daß (u.a.) auch Schmitt zu denjenigen gehört, die "das Politische mehr oder weniger unmittelbar, insbesondere ohne dazwischen tretende juristische Wertung in Recht überfuhren."
252
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
die Entscheidung aus dem Recht, sondern die Entscheidung, die das Recht erst herbeifuhrt. Diese beiden Ebenen werden von Schmitt allerdings nicht nur nicht klar voneinander getrennt, sondern mit der Frage nach dem "letzten Rechtsgrund aller rechtlichen Geltungen"193 bewußt ineinander verschränkt. Im Rahmen dieses Denkansatzes haben damit alle Entscheidungen den Charakter "souveräner" Entscheidungen "aus einem normativen Nichts". Auch das dezisionistische Denken ist daher im Kern ein a-normatives Denken, fur das die Bezeichnung als juristischer Denktypus ebenfalls kaum gerechtfertigt sein dürfte. Zu Beginn seiner Darlegungen zur Verknüpfung von Dezisionismus und Normativismus wird der dezisionistische Denkansatz von Schmitt mit dem Denken in Konfliktsentscheidungen identifiziert. Wegen ihrer Bedeutung sei diese Passage hier ausfuhrlich zitiert: "Der dezisionistische Typus ist unter den Juristen deshalb besonders verbreitet, weil der Rechtsunterricht und eine der Rechtspraxis unmittelbar dienende Rechtswissenschaft die Neigung haben, alle Rechtsfragen nur unter dem Gesichtspunkt eines Konfliktfalles zu sehen und sich als bloße Vorbereiter derrichterlichen Konfliktsentscheidung zu betätigen. Eine bestimmte Methode der Examens Vorbereitung und der juristischen Prüfungen vergröbert das dann noch zu einer rohen Abfragbarkeit und Promptheit der Fall-Entscheidung und ihrer normativistischen "Begründung" aus dem Wortlaut einer geschriebenen Normierung. Auf solche Weise orientiert sich das juristische Denken ausschließlich am Kollisions- oder Konflikts fall. Es wird von der Vorstellung beherrscht, daß ein Konflikt oder eine Interessenkollision, also eine konkrete Unordnung y erst durch eine Entscheidung überwunden und in Ordnung gebracht wird. Die Normen und Regeln, mit denen es die rechtswissenschaftliche Begründung der Entscheidung zu tun hat, werden dadurch bloße Gesichtspunkte für Streitentscheidungen, rechtswissenschaftliches Belegmaterial für richterliche Entscheidungsgründe. Es gibt dann eigentlich keine systematische Rechtswissenschaft mehr; jedes rechtswissenschaftliche Argument ist nichts als ein potentieller Entscheidungsgrund, der auf einen Streitfall wartet." 1 9 4
In dieser Passage kommt nicht nur eine Aversion gegen das Denken in Konfliktsentscheidungen zum Ausdruck, die nach unserer Auffassung auf einer Fehleinschätzung dieses Denkansatzes beruht, sondern mit dieser Kritik werden zugleich auch die eigentlichen Grundlagen juristischen Denkens verkannt. Im Gegensatz zu Schmitt halten wir die Auffassung vom Recht als Konfliktsentscheidung für eine tiefbegründete juristische Denkart, die dem Wesen und der Eigenart der Jurisprudenz als einer praktischen Disziplin auch gerecht wird. Dementsprechend stand im Mittelpunkt unserer Betrachtung der Anspruch als Konfliktsentscheidung. Das Anspruchsdenken ist aber kein bloßes dezisionistisches Denken. Es ist nur für die Isolierung einzelner Gesichts193 194
Schmitt y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 25.
Ders.y Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 29 f. (Hervorhebungen von Schmitt).
I V . Theoretische Ansätze der Grundrechtsdogmatik
253
punkte in den Überlegungen Schmitts selbst bezeichnend, daß das Denken in Konfliktsentscheidungen von ihm einem dezisionistischen Denktypus zugeordnet und letztlich mit diesem identifiziert wird. Das Anspruchsdenken verknüpft vielmehr alle drei von Schmitt genannten Momente juristischen Denkens - die Norm, die Entscheidung und die konkrete Ordnung - zu einer Einheit. Zunächst einmal ist das Anspruchsdenken normatives Entscheidungsdenken: Es versteht das Recht als Konfliktsentscheidung. Dann ist sich das Anspruchsdenken aber durchaus auch der institutionellen Grundlagen des Rechts bewußt. Diesem Gesichtspunkt des juristischen Denkens trägt es vor allem durch den Gedanken der Begründung rechtlicher Entscheidungen Rechnung. Die Begründungen des Rechts erfolgen unter Verweis auf konkrete Lebensverhältnisse, die durch das Recht als Rechtsverhältnisse anerkannt sind. Zentrale Begründungsmomente im Rahmen dieser Rechtsverhältnisse sind die Rechtsgüter als die rechtlich anerkannten Güter der Lebenswirklichkeit. Im Hinblick auf die Begründungsfunktion dieser Rechtsgüter fur Anspruchsentscheidungen läßt sich das Recht als Anspruchs- und Wertsystem begreifen. Die in den verschiedenen Rechtsgütern liegenden Begründungen für Konfliktsentscheidungen verbürgen also auch einen systematischen Zusammenhang des Rechts. Da auch die Rechtsgüter nur in konkreten Rechtsverhältnissen ihre Begründungswirkung entfalten, wird die Einheit des Anspruchs- und Wertsystems durch den Begriff des Rechtsverhältnisses gestiftet. Ausdruck der Einheit dieses Systems ist damit der Leitgedanke, daß aus Rechtsverhältnissen begründete Anspruchsentscheidungen erfolgen. Wir sprechen hier sehr bewußt von Entscheidungen des Rechts aus Rechtsverhältnissen und nicht von solchen, die "Ausfluß einer vorausgesetzten Ordnung" sind. Der Gedanke der Ordnung ist bei Schmitt nicht nur a-normativ bestimmt, sondern auch mit der Vorstellung der "Überpersönlichkeit" der konkreten Ordnungen verbunden. 195 Im konkreten Ordnungsdenken ist damit das Individuum der konkreten Ordnung der Gemeinschaft bewußt untergeordnet. Das kommt im Denken Schmitts dann vor allem auch darin zum Ausdruck, daß die Freiheit eben kein Institut ist. 1 9 6 Im Rechtsverhältnis hingegen tritt dem einzelnen die Institution nicht als überpersonale Ordnung entgegen, sondern als Manifestation intersubjektiver Lebenszusammenhänge. Das Rechtsverhältnis ist auch so mehr als die bloße Willensbeziehung von Individuen. Es ist Ausdruck eines Lebenszusammenhanges im Verhältnis von Person zu Person. In diesem Sinne sind die konkreten Rechtsverhältnisse personale Verhältnisse. 195
Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 12.
196
Schmitt, Verfassungslehre, S. 171; ders., Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, S. 166, 167 ff.; ders., Grundrechte und Grundpflichten, S. 208. 1 Schur
254
3. Teil: Die Begründung von Ansprüchen im öffentlichen Recht
Insgesamt sind im Anspruchsdenken auf die dargelegte Weise sämtliche der von Schmitt herausgestellten Momente juristischen Denkens zu einem Verbund zusammengeschlossen. Nach unserer Auffassung kann auch nur ein Denken, das zu einer Einbeziehung aller dieser verschiedenen Momente kommt und damit auch erst der Komplexität des modernen Rechts gerecht wird, als ein zeitgemäßes juristisches Denken gelten. Insofern sind die von Schmitt genannten drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens tatsächlich nur defizitäre Gestalten juristischen Denkens, die im schlimmsten Falle Entartungen darstellen 197, - wie das konkrete Ordnungsdenken dann schließlich auch gezeigt hat.
197 vgl. auch H. Hofmann , Legitimität gegen Legalität, S. 177.
Schluß
Das Anspruchsdenken als personales Rechtsdenken
Nach einem Wort von Helmut Coing ist das Recht, so wie es heute vor uns steht, "technisch kompliziert, kaum übersehbar in seinen Einzelheiten und doch von wenigen großen ethischen Gedanken beherrscht". 1 Einige wenige dieser großen Leitgedanken im Bereich des bürgerlichen Rechts und des öffentlichen Rechts waren Gegenstand unserer Untersuchung, die ihren Ausgangspunkt bei den Begriffen des Anspruchs, des absoluten Rechts und des Rechtsverhältnisses nahm. Wenn man nach dem geistigen Zentrum der an diesen Leitbegriffen orientierten juristischen Dogmatik suchen wollte, so müßte dieses im Begriff der Person liegen. Das absolute Recht ist Ausdruck einer Rechtsstellung der Person. Das Rechtsverhältnis ist der die Rechtsstellung von Person zu Person umfassende Begründungsrahmen, aus dem heraus der Anspruch schließlich die Entscheidung des Rechts im Konflikt der Person zur anderen Person darstellt. Das Denken in Ansprüchen baut in dieser Weise mit der dogmatischen Figur des Anspruchs selbst, weiter dann aber auch mit den auf seine Begründung bezogenen Begriffen des absoluten Rechts und des Rechtsverhältnisses auf dem Begriff der Person und ihrem Verhältnis zum anderen auf. Insoweit ist das Anspruchsdenken personales Rechtsdenken.2 Für das Zivilrecht, das die Beziehungen der Bürger untereinander betrifft, mag diese Sicht unmittelbar einleuchten. Ob dies auch für das öffentliche Recht gilt, ist eine der Grundfragen dieses Rechtsgebietes. Es ist die Frage, ob sich auch der Staat als Person begreifen läßt.3 Seit der berühmten Besprechung von Maurenbrechers "Staatsrecht" durch Albrecht im Jahre 1837 wird der Staat in der Lehre des öffentlichen Rechts als juristische Person verstanden.4 Daran haben auch Versuche, den Staat unter Hervorhebung seines
1
Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 358. Zu den Grundlagen für eine die Beziehung von Person zu Person in den Mittelpunkt stellende Jurisprudenz siehe W. Henke, Recht und Staat, §§10 ff. 3 Vgl. dazu jetzt auch Schapp, AcP 192 (1992), 355 (385 f.). 2
4
Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts; ausfuhrlich zum Verständnis des Staates als juristische Person E.-W. Böckenförde, Festschrift für Wolff, 269 (273 ff. m.w.N.).
256
Schluß: Das Anspnichsdenken als personales Rechtsdenken
Organisationscharakters als "Anstalt"5 zu begreifen, nur wenig ändern können. Die tieferen Gründe fur ein Verständnis des Staates als juristische Person sind freilich nur schwer zu fassen. Man mag sich hier vielleicht darauf zurückziehen können, daß der Staat eben nur Person im Rechtssinne sei. Uns genügt das nicht. Weiter trägt hier vielleicht schon der Gedanke, daß die Persönlichkeit des Staates, die auch Grundlage fur sein Verständnis als juristische Person ist, sich aus der Personalität seiner Bürger ableitet.6 Damit wäre man auf die Personalität der natürlichen Person selbst verwiesen. Einer der sich im Laufe der Geschichte herausgebildeten zentralen Gedanken scheint hier zu sein, daß die Person der Vernunft iahig ist. Die Suche nach den Grundlagen fur das Verständnis des Staates als juristische Person fuhrt so zu der Frage, ob das öffentliche Recht auf dem Gedanken der Vernunft des Staates aufbaut oder aber auf dem Gedanken der Gewaltausübung durch den Staat. Der hier vorgelegten Untersuchung ging es auch darum, die Reichhaltigkeit der Perspektiven eines am Gedanken der Vernunft des Staates orientierten Verständnisses des öffentlichen Rechts aufzuzeigen. Erschöpfende Antworten auf die Frage nach dem personalen Charakter des Staates konnten damit nicht gegeben werden. Das liegt vielleicht aber auch daran, daß der Zugang zum Staat wie auch zur Person nicht allein über den Weg des Rechts erfolgt.
5 So E.-W. Böckenförde y Festschrift fur Wolff, 269 (292 ff., 294 ff.); vgl. andererseits aber auch seine Überlegungen in "Der Staat als sittlicher Staat". 6 Vgl. dazu Hattenhauer y Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, § 2 III (S. 24). Zu einer "person-orientierten Staatslehre", welche die Beziehung "personaler Teilhabe" im Verhältnis zwischen Bürger und Staat in den Mittelpunkt stellt, vgl. Denninger y Rechtsperson und Solidarität, S. 280 ff.
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